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German Pages 350 [342] Year 2014
Manfred Pfaffenthaler, Stefanie Lerch, Katharina Schwabl, Dagmar Probst (Hg.) Räume und Dinge
Manfred Pfaffenthaler, Stefanie Lerch, Katharina Schwabl, Dagmar Probst (Hg.)
Räume und Dinge Kulturwissenschaftliche Perspektiven
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Inhalt
Vorwort | 9 Perspektiven von Räumen und Dingen Einleitung
Manfred Pfaffenthaler | 11
V ERHANDLUNGSRÄUME Territorium, Bevölkerung und Identität Zur deutschsprachig-jüdischen Palästinareiseliteratur in den Jahren nach der Balfour-Deklaration
Patrizia Gruber | 21 Making Space for Judaism The Spatiality of Belief in Franz Rosenzweig’s Stern der Erlösung
Matthew Handelman | 45 Raumprojektion – Projektionsraum Bemerkungen zur Konstituierung des doppelten Raumes „Schweiz“
Florian Schmitz | 61 Wissen ist Macht. Ist Wissen Macht? Geiselnahme als Strategie zur Sicherung von Wissens- und Herrschaftsräumen in der Antike
Stefanie Lerch | 91
Ä STHETISCHE R ÄUME Raumstruktur und Raumsemantik in Ian McEwans Enduring Love
Johannes Wally | 113 Flüssige Mauern und explodierende Paläste Art und Funktion der Raumdarstellungen bei Nathalie Sarraute
Astrid Wlach | 131
Zur narratologischen Produktivität des Raums Raumsemantische Untersuchungen an Texten Joseph Roths
Lukas Waltl | 149 Der Einfluss des Deutschvenezianers Johann Carl Loth (1632–1698) auf die Barockmaler des zisalpinen Raumes
Dagmar Probst | 169
Ü BER R ÄUME
UND
D INGE
Die Dinge (in) der Literatur. Kartographie und Zimmerreise
Nils Kasper | 193 Die Ordnung der Dinge in der Kiste der Kaiserin Überlegungen zum Nachlass Elisabeths von Österreich (1837–1898)
Evelyn Knappitsch | 211 Das Bild in der visuellen Kommunikation Beginn einer Designdisziplin
Eva Klein | 219 Wie wir lernen, über Dinge zu sprechen, die nicht im Raum sind
Katharina Schwabl | 235
R ÄUMLICHE O RDNUNG
UND
O RDNUNG
DER
D INGE
Der urbane Raum zwischen Freiheit und Reglement Der Einfluss des Neoliberalismus auf partizipative Regierungstechniken in Graz
Claudia Rückert | 261 Wie der spatial turn Einzug ins Wohnzimmer erhält Theoretische Überlegungen zur Konstruktion und materiellen Verankerung von Wohnräumen
Anamaria Depner | 283
Vom Ort der Dinge Bruno Latours „räumliche Inskriptionen" am Beispiel des Zensus der späten Habsburgermonarchie
Wolfgang Göderle | 299 (Auto-)Mobile Räume und die Unordnung der Dinge im Unfall
Manfred Pfaffenthaler | 323 Autorinnen und Autoren | 343
V ORWORT
Die im Jahr 2012 durchgeführte internationale Graduiertentagung „Räume und Dinge. Aktuelle Konzepte der Kulturwissenschaften in Diskussion“ bot Anlass, die dort präsentierten Forschungsergebnisse in gesammelter Form herauszugeben. Der nun vorliegende Band ist erst durch die Unterstützung von engagierten Personen und fördernden Institutionen ermöglicht worden. Unser großer Dank gilt Frau Priv.-Doz. Dr. Petra Ernst-Kühr und Frau Mag. Petra Steinkellner für den konzeptionellen Gedankenaustausch, die organisatorische Hilfe sowie ihren motivierenden Zuspruch. Für inhaltliche Anregungen möchten wir uns bei Mag. Stefan Benedik und Mag. Nils Kasper bedanken. Frau Ulrike Freitag, Frau Mag. Amelie Stuart und Frau Mag. Dr. Anna Trattner haben mit großer Sorgfalt die Texte lektoriert und damit den HerausgeberInnen die Redaktion erleichtert. Unser Dank gilt zudem dem Dekanat der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität, dem Vizerektorat für Forschung und Nachwuchsförderung der Karl-Franzens-Universität und dem Kulturamt der Stadt Graz für die finanzielle Unterstützung. Besonders bedanken möchten wir uns bei Herrn O.Univ.-Prof. Dr. Dr.h.c. Helmut Konrad und Vizerektor Univ.-Prof. Dr. Peter Scherrer. Nicht zuletzt sei all unseren AutorInnen herzlich gedankt, die diesen Band mit ihren spannenden Beiträgen gefüllt und damit ermöglicht haben.
Die HerausgeberInnen
Perspektiven von Räumen und Dingen Einleitung M ANFRED P FAFFENTHALER (G RAZ ) Die „Perspektive ist nur eine Hierarchie der Wahrnehmung, und es gibt wahrscheinlich so viele Perspektiven wie Weltanschauungen, Kulturen und Lebensbedingungen.“ PAUL VIRILIO, Der negative Horizont, 21
P ERSPEKTIVEN Der hier zitierte Paul Virilio ist neben David Harvey einer der bekanntesten Vertreter jener, die ein Verschwinden des Raumes postulieren. Beide sehen in der Effizienzsteigerung moderner Verkehrs-, Kommunikations- und Informationstechnologien eine Verdichtung oder gar eine Annihilation des Raumes.1 Diesem Befund ist mittlerweile mehrfach widersprochen worden, da gerade durch die Ausweitung technischer Möglichkeiten neue Räume erschlossen bzw. hervorgebracht werden. Das Verschwinden des Raumes findet seine Entsprechung in der Theoriebildung, um auch hier gleichfalls wiedergefunden zu werden. Als Referenz für die Wiederentdeckung des Raumes wird oft Michel Foucaults Vortrag über „Andere Räume“ angeführt oder auf Edward Soja verwiesen, der sich bereits Ende der 1980er-Jahre für eine „Raumwende“ aussprach. In den unterschiedlichen Disziplinen beruft man sich seitdem auf jene, die mit dem Wieder-
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Paul VIRILIO, Fluchtgeschwindigkeiten: Essay, München/Wien 1996; David HARVEY, Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994, 48–78.
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aufleben der Raumdebatte als Vordenker neue Geltung erlangten – wie etwa Henri Lefebvre, Michel de Certeau oder Juri Lotman.2 Virilio begab sich Anfang der 1980er-Jahre auf die Suche nach dem „negativen Horizont“ und beschrieb dabei die Mühen („manchmal war es sogar unerträglich“), die es ihm bereitete, die negativen Formen, die „Antiformen“, in seinem Blickfeld zu erkennen.3 Dabei wollte er nichts Geringeres, als die Leere und das Abwesende erkunden, doch was er entdeckte, war der Raum zwischen den Dingen. Je entropischer die Anordnung der Dinge, desto reichhaltiger die Antiformen, die sie hervorbringen, so eine der Erkenntnisse seiner Suche. Virilios Definition ex negativo hilft an dieser Stelle zu den Dingen überzuleiten, sind doch die Dinge für die Konstitution von Räumen von zentraler Bedeutung. In ihrer „Raumsoziologie“ beschreibt etwa Martina Löw die „relationale (An-)Ordnung“ von „Menschen und sozialen Gütern“ – eben jene Dinge, die für uns Bedeutung haben – als wesentliches Element der Konstitution von sozialen Räumen.4 Dass die Anordnung der Dinge eines Akteurs bedarf, ist dabei naheliegend; dass die Dinge ihrerseits ein „Veto“ haben, ist dagegen Thema aktueller interdisziplinärer Diskussionen. Damit werden die Dinge aus dem Eck einer scheinbaren Passivität geholt und als „Konzentrate gesellschaftlicher Verhältnis-
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Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 317–329; Edward SOJA, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Sozial Theory, London/New York 1989; Henri LEFEBVRE, The Production of Space, Oxford 2001 (1974); Michel De CERTEAU, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988 (1980); Jurij M. LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Zur aktuellen Diskussion vgl. u. a.: Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt am Main 2006; Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Bernhard WALDENFELS, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main 2009; Stephan GÜNZEL (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010; Petra ERNST/Alexandra STROHMAIER (Hg.), Raum: Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften, Baden-Baden 2013.
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Paul VIRILIO, Der Negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit –Beschleunigung. München/Wien 1989 (1984), 11.
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Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 224.
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se“ anerkannt, deren „kultureller Sinn“ situativ und kontextabhängig ist.5 In der wissenschaftlichen Diskussion wie im alltäglichen Umgang mit ihnen erlangen die Dinge somit ihr Gewicht zurück, und hier wie dort können sie uns widerständig und tückisch entgegentreten.6 Ihre Zuspitzung findet die Diskussion um die Wirkmacht der Dinge bei Bruno Latour, wenn er die Dinge als „nichtmenschliche Akteure“ in eine erweiterte Handlungstheorie aufnimmt.7 Anstatt weiter den Horizont der Räume abzustecken und tiefer zu den Dingen vorzudringen – dies geschieht ohnedies in den jeweiligen Beiträgen –, soll hier kurz auf das Zustandekommen dieses Buches eingegangen werden. Dem Band ist eine Graduiertentagung an der Karl-Franzens-Universität Graz im Sommer 2012 vorangegangen, die sich zum Ziel setzte, eine möglichst breite und interdisziplinäre Diskussion anzuregen. Das Thema „Raum“ war dabei schnell gefunden, da Raumkonzepte in rezenten kulturwissenschaftlichen Arbeiten ohnehin omnipräsent sind. Doch auch die „Dinge“ drängten sich als Thema auf, da sie zunehmend in den Fokus kulturwissenschaftlichen Interesses rücken. Den „Raum“ zugunsten der „Dinge“ aufzugeben stellte dabei keine befriedigende Option dar, weshalb die Entscheidung für die Diskussion von „Räumen und Dingen“ neben- oder vielmehr miteinander fiel. Dabei sind Räume wie Dinge nicht nur jeweils für sich von Interesse, sondern vor allem auch in ihren Verhältnissen und Beziehungen zueinander; das Arrangement der hier versammelten Texte soll zur weiteren Diskussion dahingehend anregen. Im Aufbau des Bandes spiegelt sich aber auch, dass eine breitere Diskussion der „Dinge“, im Vergleich zur Diskussion des „Raumes“, durchaus noch Potential zum Aufholen hat. Wenn dieser Band als Anlass genommen wird dahingehend weiterzudenken, wäre das ein großer Gewinn.
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Gudrun M. KÖNIG, Das Veto der Dinge, in: Dies./Karin Priem/Rita Casale (Hg.), Die Materialität der Erziehung. Zur Kultur- und Sozialgeschichte pädagogischer Objekte (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 58 (2012)).
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Martin SCHARFE, Signatur der Dinge. Anmerkungen zu Körperwelt und objektiver Kultur, in: Gudrun M. König (Hg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005, 93–116.
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Bruno LATOUR, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main, 2007. Zur weiteren Diskussion vgl. u.a.: Bruno LATOUR, Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2002; Karl-Heinz KOHL, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003; Hartmut BÖHME, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006.
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A USBLICKE Die folgende Darstellung verweist auf den Aufbau des Bandes und bietet zugleich Ausblicke auf die einzelnen Beiträge. Der Band gliedert sich dabei in vier Abschnitte, die nicht nach der disziplinären Ausrichtung ihrer Beiträge geordnet sind, sondern nach dem Fokus ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung. Verhandlungsräume Patrizia Gruber folgt in ihrem Beitrag deutschsprachiger Reiseliteratur jüdischer Autoren, die nach der Balfour-Deklaration 1917 Palästina bereisten. Dabei zeigt sie zentrale Elemente eines Narratives, das, Homogenisierungstendenzen folgend, kritischen Beobachtungen nur einen peripheren Platz einräumte. Zentral dagegen war, dass das Land durch die landwirtschaftliche Kolonisationsarbeit gleichsam „erlöst“ werden sollte und sich die jüdische Identität im Bild des „Neuen Hebräers“ wiederfand. Der Beitrag von Matthew Handelman befasst sich mit der Metaphorik des Raumes in Franz Rosenzweigs Werk Stern der Erlösung. Handelman zeigt sehr anschaulich, wie darin religiöse Ideen mithilfe von räumlich-geometrischen Metaphern gleichsam vermessen werden. Darüber hinaus verweist er auf den zentralen Platz mathematischer Konzepte im Denken Rosenzweigs, wenn er etwa zeigt, wie durch die Unterscheidung von Punkt und Linie unterschiedliche Konzepte von Unendlichkeit und Ewigkeit im Christentum und Judentum verhandelt werden. Florian Schmitz stellt in seinem Beitrag dem, lange Zeit politisch heterogenen, Raum der Schweiz integrative Raumprojektionen gegenüber, wie sie sich in Reisebeschreibungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert finden. Die Ästhetik der Landschaft ist darin genauso ein zentraler Topos, wie die Erhabenheit der Berge und die Ursprünglichkeit der Natur. Dabei zeigt Schmitz auch, wie durch die Dynamik von Selbst- und Fremdzuschreibung die Schweiz zunehmend zum Projektionsraum und Sehnsuchtsort europäischer Intellektueller wurde, die damit ein Bild evozierten, dem auch die Schweiz allmählich zu entsprechen versuchte. Die Geiselnahme als Strategie zur Sicherung antiker Wissens- und Herrschaftsräume ist das Thema des Beitrages von Stefanie Lerch. Kinder von honorigen Persönlichkeiten, Fürsten und Königen wurden als Geisel genommen und dienten als Gewähr für die Einhaltung von Herrschaftsverträgen. Geiselschaft drückt auf den ersten Blick ein „Abhängigkeitsverhältnis auf Leben und Tod“ aus, doch geht die Autorin darüber hinaus und fragt danach, wie aus Geiseln treue Verbündetet wurden, indem sie die integrative Wirkung von Wissen untersucht.
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Ästhetische Räume Johannes Wally geht der Funktion von Räumen im Roman Enduring Love des britischen Schriftstellers Ian McEwan nach. Dabei analysiert Wally nicht nur die Struktur des Romans, wie sie sich in räumlichen Oppositionen und Grenzüberschreitungen äußert, sondern stellt auch grundlegende Überlegungen zur „Verlässlichkeit des Erzählers“ an. Astrid Wlach folgt in ihrem Beitrag dem Raumempfinden und Raumerleben der Figuren in den Erzähltexten der französischen Schriftstellerin Nathalie Sarraute. Dabei zeigt die Verfasserin, dass sich räumliche Strukturen in der Metaphorik von „Flüssigen Mauern und explodierenden Palästen“ buchstäblich auflösen. Die Unsicherheit, die dabei zurückbleibt, ist intendiert und Teil der Konzeption der Texte; sie dient letztlich der Überwindung von Automatismen in der LeserInnenschaft. Der Beitrag von Lukas Waltl fragt grundlegend nach der Rolle des Raums in Erzähltexten und bietet dabei einen fundierten Überblick über raumtheoretische Zugänge in der Narratologie. Wie ergiebig die Analyse der räumlichen Dimension in fiktionalen Texten letztlich sein kann, zeigt Waltl exemplarisch an Texten Joseph Roths. Das Formenrepertoire des in München geboren Barockmalers Carl Loth steht im Fokus der Analyse von Dagmar Probst. Ausgehend vom Atelier Loths in Venedig zeigt Probst seinen Einfluss auf die Barockmalerei nördlich der Alpen. Dabei beschreibt die Autorin das Atelier nicht nur als Ort, an dem Loth Zeit seines Lebens wirkte, sondern auch als Begegnungsort, an dem seine Schüler mit weiteren Künstlern und Kunstagenten in Kontakt kamen. Über Räume und Dinge Nils Kasper folgt in seinem Beitrag der Reise durch das Zimmer. Als literarisches Genre erreichte die „Zimmerreise“ im ausgehenden 18. und im frühen 19. Jahrhundert große Popularität. Kasper zeigt sehr anschaulich, wie dabei die kartographische Positionsbestimmung des Zimmers eine Selbstthematisierung des Schreibprozesses als „Schreibszene“ um 1800 überhaupt möglich und die verhandelten Texte im Hinblick auf die epistemischen Voraussetzungen kartographischen und literarischen Schreibens transparent werden lässt. Wo Reisen und Schreiben letztlich zusammenfallen, bleiben auch die Dinge im Zimmer in Unordnung, bis sie der Reisende schließlich erreicht. Am Beispiel des Nachlasses von Kaiserin Elisabeth von Österreich gibt Evelyn Knappitsch spannende Einblicke in die Persönlichkeit der populären Kai-
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serin. Eine besondere Rolle spielt dabei eine Kiste, deren Ordnung jene strenge Ordnung am Hofe kontrastiert, der sie zu entfliehen hoffte. Diese Kiste diente gleichsam als Medium, mit dessen Hilfe die Kaiserin versuchte, räumliche wie zeitliche Grenzen zu transzendieren. Eva Klein beschäftigt sich in Ihrem Artikel mit zweckgebundenen Dingen in der visuellen Kommunikation. Die wesentlichen soziokulturellen Neuerungen und Modernisierungsprozesse Ende des 19. Jahrhunderts werden als Voraussetzung für die Etablierung des Mediums Bild in der Werbung aufgezeigt, welches als solches zunehmend Platz im öffentlichen Raum einnimmt. Dabei werden bedeutende KünstlerInnen der Zeit zur Gestaltung von Plakaten herangezogen, was letztlich zur Konstituierung der Berufsgruppe der „GebrauchsgraphikerInnen“ in der Zwischenkriegszeit führt. In ihrem Beitrag stellt Katharina Schwabl die Frage, wie wir im Zuge der Aneignung sprachlichen Wissens lernen über Dinge zu sprechen, die nicht im Raum sind. Ausgehend von präverbaler Kommunikation, über Ein-Wort-Sätze, Sätze und schließlich (geschriebene) Texte, zeichnet sie einen Entwicklungsverlauf nach, der mit fortschreitendem Erwerb von Sprachstruktur zu immer größerer Unabhängigkeit von räumlicher, zeitlicher und sozialer Unmittelbarkeit führt. Sprache, vor allem in ihrer Funktion zur Darstellung von Dingen und Sachverhalten, dient als Schlüssel zur Eröffnung immer weiterer Räume. Räumliche Ordnung und Ordnung der Dinge Am Beispiel der Stadt Graz zeigt Claudia Rückert Aneignungspraktiken des öffentlichen Raumes im Spannungsfeld von neoliberaler Regierungstechnik und bürgerlicher Partizipation. Die Instrumentalisierung eines normierenden Kollektives im jeweiligen sozialem Raum ist nur eine Strategie einer solchen Regierungstechnik; das Ausgrenzen unliebsamer Themen und Verhaltensweisen, die vor dem Hintergrund eines Ästhetisierungsdispositives verhandelt werden, ist eine weitere. Besonders wichtig ist der Autorin hierbei, Ambivalenzen aufzuzeigen, die eine solche Regierungstechnik zwangsläufig mit sich bringt. Der Zusammenhang von Räumen, Dingen und Handlung ist Thema des Beitrags von Anamaria Depner. Es ist das Anliegen der Autorin, diesen Zusammenhang zu beschreiben und Regeln zu formulieren, die ihn operationalisierbar machen. Dies zeigt sie am Beispiel der Konstitution von Wohnräumen, die mitunter erst über die Aneignung der in ihnen platzierten Dinge Privatheit erzeugen. Wolfgang Göderle nähert sich in seinem Beitrag dem Zensus der späten Habsburgermonarchie indem er dem Konzept der „zirkulierenden Referenz“ von Bruno Latour folgt. Göderle geht es dabei um nicht weniger als um die „soziale
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Wirklichkeit“ hinter den Zahlen und um die Frage nach dem repräsentativen Potential des Zensus, wo doch die „soziale Wirklichkeit“ durch administrative Vorgaben bereits schematisiert zu sein scheint. Dabei dechiffriert er den Zensus als „Machttechnik des Räumlichen“, welche die „Wirklichkeit“ gleichsam kartographiert. Der Beitrag von Manfred Pfaffenthaler befasst sich mit Räumen, die sich besonders durch Mobilität konstituieren. Der Autor zeigt dabei etwa, wie die Entwicklung der geschlossenen Karosserie des Automobils Privatheit im „Innenraum“ erzeugte, was wiederum eine veränderte Interaktion mit dem öffentlichen Raum der Straße zur Folge hatte. Des Weiteren wird die Entstehung des europäischen Verkehrsnetzes vor dem Hintergrund von An- bzw. Ausschlussmöglichkeiten besprochen. Letztlich führt der Beitrag zum Unfall, wo die Dinge durcheinander kommen und die Frage nach der Ordnung der Dinge erneut gestellt werden muss.
L ITERATUR Hartmut BÖHME, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. Michel De CERTEAU, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988 (1980). Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Petra ERNST/Alexandra STROHMAIER (Hg.), Raum: Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften, Baden-Baden 2013. Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 317–329. Stephan GÜNZEL (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010. David HARVEY, Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994, 48–78. Karl-Heinz KOHL, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003. Gudrun M. KÖNIG, Das Veto der Dinge, in: Gudrun M. König/Karin Priem/Rita Casale (Hg.), Die Materialität der Erziehung. Zur Kultur- und Sozialgeschichte pädagogischer Objekte (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 58 (2012)).
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Bruno LATOUR, Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2002. Bruno LATOUR, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main, 2007. Henri LEFEBVRE, The Production of Space, Oxford 2001 (1974). Jurij M. LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Martin SCHARFE, Signatur der Dinge. Anmerkungen zu Körperwelt und objektiver Kultur, in: Gudrun M. König (Hg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005, 93–116. Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt am Main 2006. Edward SOJA, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Sozial Theory, London/New York 1989. Paul VIRILIO, Fluchtgeschwindigkeiten: Essay, München/Wien 1996. Paul VIRILIO, Der Negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung. München/Wien 1989 (1984). Bernhard WALDENFELS, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main 2009.
Territorium, Bevölkerung und Identität Zur deutschsprachig-jüdischen Palästinareiseliteratur in den Jahren nach der Balfour-Deklaration P ATRIZIA G RUBER (G RAZ )
Die deutschsprachige Palästinareiseliteratur und die Reiseberichte jüdischer Autoren erfüllten in den Jahren nach der Balfour-Deklaration1 die wichtige Funktion, ein zionistisch interessiertes Publikum über die nationale Aufbauarbeit in Palästina zu informieren und dafür zu gewinnen. Dabei traten inner-zionistische Auseinandersetzungen hinter das Ziel zurück, zentrale Elemente eines gemeinsamen Narrativs zu formulieren, auf die sich die verschiedenen zionistischen Fraktionen – wenn auch mit gewissen Abstrichen – einigen konnten. Kritische Beobachtungen und Betrachtungen jüdischer Reisender nahmen daher im Kontext der Palästinareiseliteratur dieser Jahre einen eher geringen Raum ein. Der vorliegende Beitrag macht es sich zur Aufgabe, zentrale Aspekte dieses Narrativs und einige der kritischen Einwände daran darzustellen.
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Am 2. November 1917 gab der britische Außenminister Arthur James Balfour in Form eines offiziellen Briefes Lionel Walter Rothschild die Zusage, dass Großbritannien der Gründung einer jüdischen „nationalen Heimstätte“ in Palästina „mit Wohlwollen“ gegenüberstehe, sofern die Rechte anderer nicht beeinträchtigt würden.
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„V OLK OHNE R AUM “ – „V OLK „L AND OHNE V OLK “
OHNE
L AND “ –
Der jüdische Historiker Hans Kohn – Mitglied des Brith Shalom 2 und in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Autor maßgeblicher politikwissenschaftlicher und geopolitischer Studien über den Vorderen Orient – veröffentlichte 1928 eine Geschichte der nationalen Bewegungen im Orient. Die Publikation erfolgte in jenem Verlag, in dem auch die Zeitschrift für Geopolitik des deutschen Geografen Karl Haushofer verlegt wurde. Die Veröffentlichung von Kohns Nationalismus-Studie wurde von Haushofer unterstützt 3 und durch ein Vorwort eingeleitet. Der Text dieses Vorworts ist aufschlussreich: Nur wer wie Hans Kohn „an beiden Erdräumen inneren Anteil habe, […] wer aus einem Lager stammt, das – janusköpfig – Orient und Okzident übersieht“ sei wahrhaft berufen, die Nationalbewegungen des Vorderen Orients „aus [s]einer Zwischenstellung heraus“ dem interessierten deutschen Publikum näher zu bringen. 4 „Mancher gute Deutsche“ würde es ihm – Haushofer – allerdings verargen, dass er gerade dieses Werk (i. e. eines jüdischen Autors) zum Druck empfohlen und mit einer Einführung versehen habe. 5 Gut möglich, dass die Leserschaft auch Haushofers vorsichtig positives Urteil über die „geopolitische“ Berechtigung des zionistischen Kolonisationswerks in Palästina nicht geteilt hätte, die im betreffenden Vorwort nicht abgedruckt wurde, sich allerdings noch im Nachlass von Hans Kohn befindet: „Es waere seltsam, ja unbegreiflich,“ heißt es dort, „dass es gerade fuer das ‚Volk ohne Raum‘ so schwer ist, gegen die Boden-Land-und-
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Dt. für „Bund des Friedens“; Intellektuellenvereinigung, die 1925 in Palästina gegründet wurde. Die Mitglieder des Brith Shalom (Arthur Ruppin, Hugo Bergmann, Gershom Scholem, Chaim Margaliot Kalvarisky, Georg Landauer, Henrietta Szold et. al.) traten für eine Verständigungspolitik in Palästina und für die sogenannte „binationale“ bzw. „Einstaatenlösung“ ein. Zur „Intellektuellenpolitik“ des Brith Shalom vgl.: Walter LAQUEUR, Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus Wien 1972, 268f.
3
Die Bekanntschaft von Kohn und Haushofer gehört zweifelsohne zu den brisanten wissenschaftlichen Verbindungen ihrer Zeit. Kohn publizierte in Haushofers Zeitschrift für Geopolitik, Haushofer wiederum empfahl Kohn für eine Professorenstelle an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Nach 1933 war die Zeitschrift für Geopolitik (nach wie vor von Haushofer redigiert) nationalsozialistisch ausgerichtet.
4
Hans KOHN, Geschichte der nationalen Bewegung im Orient (Geleitwort von Karl
5
Ebd.
Haushofer), Berlin 1928, IX.
T ERRITORIUM , B EVÖLKERUNG
UND I DENTITÄT
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Raum-Sehnsucht, den Inkarnationswunsch der Zionisten, eines ‚Volkes ohne Land‘, mit einer zweitausendjährigen Leidensgeschichte, gerecht zu sein.“6 Der nachfolgende Versuch Haushofers, antijüdische Ressentiments in Deutschland mit dem Verweis auf Raumnot und Enge zu erklären, lassen seine vorsichtig prozionistischen Andeutungen bereits in einem anderen Licht erscheinen. Etwas dunkel ist auch von „allzu nah gerückten Menschen“ die Rede, die in „erzwungener, unerwünschter Symbiose mit uns leben“7, wobei an dieser Stelle unklar bleibt, von welcher Seite, der jüdischen oder der deutschen, diese „symbiotische Nähe“ unerwünscht ist. Tatsächlich waren die problematischen Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschösterreich resp. in der ersten österreichischen und deutschen Republik unter den Bedingungen des verschärften Antisemitismus dafür verantwortlich, dass jüdische Schriftsteller8, die in diesen Jahren Palästina besuchten, ihren LeserInnen Palästina nicht nur als zionistisches Aufbauwerk, sondern auch als mögliche Aufbruchsdestination vor Augen führen wollten. Derartige Themenstellungen wurden nicht erst seit Theodor Herzls Der Judenstaat (1896), Altneuland (1902) oder Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie (1908) in publizistischer oder literarischer Form erörtert. Literarische und utopische „Staatsromane“9 hat es als Vorläufer schon im 19. Jahrhundert10 gegeben, ebenso eine jüdische Pilger-Reiseliteratur11, die von der im vorliegenden Beitrag 6
Leo Baeck Institute, Hans Kohn Collection 1866–1972. Series II: Materials relating to his professional experience, 1923–1967. Subseries II.1: Articles and books, 1923– 1967. Box 1, Folder 36 (1923–1934): http://www.archive.org/stream/hanskohn_03_ reel03#page/n389/mode/2up (30.05.2013).
7
Ebd.
8
Aus den Jahren direkt nach der Balfour-Deklaration liegen keine deutschsprachigen Palästina-Reisemonographien von jüdischen Autorinnen vor, sehr wohl jedoch Artikel resp. Artikelserien in jüdischen Periodika. In den Dreißigern publizierten Gabriele Tergit, Grete Fischer (pseud. Joseph Amiel) und Else Lasker-Schüler die Erfahrungen ihrer Palästina-Reisen resp. Aufenthalte in Form von Monografien.
9
Vgl. Jacob WETZLAR, Der Staatsroman bei den Juden, Bamberg 1917.
10 Vgl. hierzu Leah HADOMI, Jüdische Identität und der zionistische Utopieroman. Bulletin des Leo Baeck Institutes 86 (1990), 23–66. 11 Vgl. die umfassende Arbeit zur jüdischen Palästinareiseliteratur von: Wolf KAISER, Palästina – Erez Israel. Deutschsprachige Reisebeschreibungen jüdischer Autoren von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg, Hildesheim/Zürich/New York 1992. Der Autor behandelt einleitend auch die Palästinareiseliteratur früherer Jahrhunderte. Evgenia GRISHINAS 2012 veröffentlichte Dissertation Ein Land im Licht. Studien zur Palästina-Reiseliteratur (1918–1934) bringt demgegenüber wenig Neues,
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untersuchten Form einer politisierten jüdischen Palästinareiseliteratur im 20. Jahrhundert weitgehend abgelöst wurde. Dieser literarische Prozess spiegelt auch den Übergang von religiöser Praxis und jüdischer Philanthropie zu zionistischen Politikkonzepten wieder. Das Jahr 1925 stellte mit ca. 35.000 Einwandernden einen ersten Höhepunkt jüdischer Immigration in Palästina in den zwanziger Jahren dar12. Die Mitte des Jahrzehnts war auch eine Boom-Phase in Hinblick auf die Publikation von Reiseberichten jüdischer Autoren. Für die Zeit von der Balfour-Deklaration bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurden insgesamt etwa zwanzig Reisemonografien jüdischer Autoren in deutscher Sprache und eine nicht überschaubare Anzahl von Reiseeindrücken in Form von Artikeln oder Artikelserien in Zeitschriften veröffentlicht. Die zum überwiegenden Teil zionistisch orientierten Autoren, die in dieser Zeit Palästina bereisten, sahen sich – dem Narrativ des politischen Zionismus13 entsprechend – auch als Angehörige eines „Volkes ohne Land“, eines Volkes in Verbannung, in der Galuth14. Zumindest als Reisende konnten sie auf den biblischen Boden „zurückzukehren“, nach Kanaan, das im Alten Testament den Vorvätern versprochen worden war. Was die Reiseschriftsteller im Kontext der zionistischen Palästina-Aufbauarbeit wahrnahmen und notierten, entsprach in dieser Sichtweise einem durch Mythos und Historie verbürgten nationalen Auftrag 15 . Den Zusammenhang zwischen relienthält allerdings problematische Einschätzungen, welche die zionistische Rhetorik jüdischer AutorInnen in die Nähe des „Heimat und Bodenkult[es] des NS-Regimes“ rücken (155). 12 Zu den Ursachen, primären Herkunftsdestinationen (Osteuropa, speziell Polen) und weiteren Zahlen, vgl. Tom SEGEV, Es war einmal ein Palästina. Die Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005, 244f. Die Palästina-Immigration aus Österreich und Deutschland war in den zwanziger Jahren gering. So gibt etwa Wolfgang von Weisl für den Zeitraum April 1923 bis Juni 1925 603 deutsche ImmigrantInnen und 155 aus Österreich stammende an: Wolfgang von WEISL, Der Kampf um das heilige Land. Palästina von heute, Berlin 1925, 276. 13 Michael Brenner unterscheidet in diesem Zusammenhang „unterschiedliche Modelle“ der jüdischen Geschichtsschreibung, „Meisternarrative […], das emanzipatorische, das autonomistische, das zionistische und das postzionistische Narrativ.“ In: Jüdische Geschichte lesen. Texte zur jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben und kommentiert von Michael BRENNER/Anthony KAUDERS/ Gideon REUVENI/Nils RÖMER, München 2003, 13. 14 Hebr. Galuth: dt. „Verbannung“, „Exil“. 15 Zum Zusammenhang von Mythos, Religion und Nationsbildung vgl.: Shlomo SAND, Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit, Berlin 2012. Zum Verhältnis
T ERRITORIUM , B EVÖLKERUNG
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giöser Letztbegründung und nationalem Gründungspathos hat unter den Palästinareisenden keiner wirkungsvoller dargestellt als Felix Salten. Nach der mythohistorischen Lesart, die auch Salten zum Ausdruck brachte, wurde die jüdische Geschichte als nationale und territoriale mit der Zerstörung des sogenannten Zweiten Tempels durch die Römer (70 n. Chr.) unterbrochen16. Erst durch die zionistische Kolonisation im 19. Jahrhundert fände sie ihre legitime Fortsetzung: „Nun beginne ich den Sinn zu begreifen, den einzigen Sinn, den die Verwüstung Palästinas haben kann, und ich bin nicht mehr so entsetzt, bin gar nicht mehr so verzweifelt […]. Dieses Land ist niedergetreten, ausgeplündert, mißhandelt worden und es ist verschmachtet, als es sein Volk verloren hatte. […] Das Land lag da, es litt und es wartete. […] Aber neunzehnhundert Jahre sind keine zu lange Zeit für dieses Land.“17 Das Volk, 1.900 Jahre ohne Land, ohne nationales, umgrenztes Territorium, kommt in Saltens Version von Heimkehr in ein leeres Land, ein „Land ohne Volk“18. Von osmanischer Herrschaft befreit, sei es nichts mehr „als der leergeräumte Boden für eine Aufgabe“19.
von Zionismus, Säkularismus, Nation und Religion: Amnon RATZ-KRAKOTZKIN, Geschichte, Nationalismus, Eingedenken, in: Michael Brenner/David N. Myers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, 181–206; Zusätzlich: Rogers BRUBAKER, Nationalistische Mythen und eine postnationalistische Perspektive, in: Ebd., 217–227. 16 Nach der Eroberung Jerusalems durch die Römer, bei der gleichzeitig der herodianische Zweite Tempel zerstört wurde, zwangen die Römer den Großteil der jüdischen Bevölkerung in die Flucht. Die Tempelzerstörung gilt in der jüdischen Geschichtsschreibung als Beginn der Diaspora. 17 Felix SALTEN, Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt, Wien 1926, 40. 18 Die Formel vom „Volk ohne Land“, das in ein „Land ohne Volk“ kommt, hat in der kontroversen Diskussion um die zionistische Palästinakolonisation kontinuierlich eine Rolle gespielt. Sie wurde fälschlich Herzl bzw. dem Zionisten und Territorialisten Israel Zangwill zugeschrieben, stammt aber tatsächlich von einem britischen Philosemiten. Vgl. hierzu: Gudrun KRÄMER, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München 2006, hier 154f. und 197f. Siehe auch die Äußerung Hans Kohns im vorliegenden Beitrag (Seite 12). 19 Salten, Menschen, 38.
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K ARTOGRAPHIE
UND
D EMOGRAPHIE
Zu den Herrschaftstechniken der Nationsbildung gehören die Erstellung von Landkarten, die Herstellung nationaler Ikonographien und Symbole 20 und die Verfahren der Demographie. Demographen zählen allerdings nicht nur Köpfe, ihre Sorge gilt auch der Beschaffenheit des „Volkskörpers“, des body politic, dessen Eignung als „Körper der Nation“ permanent zu Disposition steht21. Die Demographie Palästinas, die Zahl der EinwohnerInnen und ihre nationale Zugehörigkeit beschäftigten auch die Palästinareiseliteratur. Kartographisches Material in den Reiseberichten, manchmal auch in einem eigenen Anhang, wurde von den Autoren eingesetzt, um die demographische Fassungskraft des Landes zu diskutieren. Ein- und Auswanderungsstatistiken erfüllten in Palästina im Dezennium nach dem Ersten Weltkrieg, das immer wieder demographische Rückschläge und Rückwanderungen zu verzeichnen hat, in der Auseinandersetzung um Erfolge und Misserfolge der Kolonisationsarbeit eine zentrale Funktion. 22 Der Auftrag des britischen Premierministers Lloyd George an Chaim Weizmann war, wie Richard Bermann und Arthur Rundt23 in ihrem Reisebericht vermerkten, auch an einen demographischen Wettlauf gekoppelt, wobei die Balfour-Deklaration – so Lloyd George – nur der „Start“ gewesen wäre: „Jetzt liegt es an euch, das Rennen zu gewinnen“. Die statistischen Zahlen gaben Bermann und Rundt jedoch Anlass zur Sorge: „Seit 1917 sind sechs Jahre vergangen und noch immer leben in Palästina neben fast 600.000 Mohammedanern, und 70.000 meist syrischen und arabischen Christen kaum mehr als 80.000 Juden. Wo bleibt
20 Benedict ANDERSON, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 2006, insbesondere 167f.: „Census, Map, Museum“. 21 Der paradigmatische „Körper“ der prästaatlichen jüdischen Gemeinschaft in Palästina ist der des Pioniers, des Chaluz, siehe weiter unten im vorliegenden Beitrag und Abb. 5. 22 Laut Gudrun Krämer verlief die jüdische Einwanderung in den Zwanzigern sehr ungleichmäßig (Geschichte, 229f.). Tom Segev charakterisiert die demographische Krise in der Mitte des Jahrzehnts folgendermaßen: „Ein Gefühl der Verzweiflung breitete sich im Land aus. Viele verließen Palästina. 1926 war die Zahl der Auswanderer halb so groß wie die der Einwanderer. 1927 übertraf die Zahl der EmigrantInnen die der ImmigrantInnen, und 1928 hielten sich die beiden die Waage. Insgesamt verließen in diesen drei Jahren 15000 Juden Palästina.“ (Segev, Palästina, 284). 23 Arthur RUNDT und Richard A. BERMANN, Palästina. Ein Reisebuch. Leipzig/ Wien/Zürich 1923.
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der Nachschub?“24 Leopold Weiss, vehementer Kritiker der zionistischen Politik in Palästina, konnte von seiner mehrwöchigen Palästinareise ein Jahr später 1924 allerdings berichten, dass aufgrund des Arbeitsmangels die Aufnahmekapazitäten Palästinas erschöpft wären und dass die englische Regierung die Ausgabe der Einwanderungszertifikate auf ein Minimum heruntergefahren habe, „da für die Einwanderer keine Arbeit im Lande vorhanden ist.“25 Die Wirtschaft des neuen Palästina war sowohl mit einer permanenten Mittelknappheit als auch mit einem Mangel an Arbeitsplätzen konfrontiert, was im Rahmen der zionistischen Palästinapolitik mit der sogenannten Kampagne zur „Eroberung“ der Arbeit (Kibbush HaAvoda) 26 beantwortet wurde. Der Wiener Journalist und Arzt Wolfgang von Weisl war mit Unterbrechungen ab 1921 in Palästina. Ab Mitte der zwanziger Jahre Mitglied der revisionistischen Fraktion innerhalb des Zionismus27, war er in Hinblick auf die territoriale Ausdehnung Palästinas und hinsichtlich demographischer und Einwanderungsfragen „Maximalist“: Er plädierte auch in den Jahren der Krise für Masseneinwanderung und erklärte die Rückwanderungszahlen in der Statistik durch Fehlinterpretationen arabischer Beamter, die Heimatbesuche und Passansuchen für zukünftige Auslandsreisen unter „Rückwanderung“ verbuchen würden28. Bei den übrigen Autoren, die Palästina in diesen Jahren bereisten, lässt sich hingegen eine gewisse Vorsicht in Hinblick auf jüdische Einwanderung konstatieren, die sich aus der allgemeinen Mittel- und Arbeitsknappheit im gesamten Jahrzehnt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erklären lässt. Allerdings finden sich in den Reiseberichten, beispielsweise bei Salten oder bei Bermann und Rundt, immer wieder mahnende und leidenschaftliche Aufrufe, durch finanzielle Unterstützung zum Aufbau bzw. zur Akquisition von Land beizutragen – gemäß der zionistischen 24 Ebd., 31. 25 Leopold WEISS, Unromantisches Morgenland. Aus dem Tagebuch einer Reise. Frankfurt am Main, 1924, 36. Leopold Weiss konvertierte 1926 in Deutschland zum Islam und publizierte ab diesem Zeitpunkt unter dem Namen Muhammad Asad. 26 Hebr. Kibbush HaAvoda: dt. „Eroberung der Arbeit“ verweist auf drei Bedeutungskomponenten, auf das Ideal der jüdischen Landarbeit, den Kampf um Lohn und Arbeitsbedingungen und die Strategie exklusiv jüdischer Arbeit im Kontext der Palästinakolonisation. Speziell durch letzteres kam es zu einer Segregation des Arbeitsmarktes. Vgl. auch die Erklärung bei: Uta KLEIN, Militär und Geschlecht in Israel, Frankfurt/New York 2001, 71,72 (unter Rekurs auf Gerson Shafir). 27 Diese wurde 1925 als Partei („Union der Zionisten-Revisionisten“) von Wladimir Zeev Jabotinsky gegründet, verließ allerdings aufgrund von Differenzen 1935 die Zionistische Weltorganisation. 28 Weisl, Kampf, 128.
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Forderung, die die „Erlösung des Bodens“29 mit der „Eroberung der Arbeit“ verband. Nicht nur die statistischen Angaben zu Ein- und Auswanderung, auch die territorialen Dimensionen in Hinblick auf die Aufnahmefähigkeit und mögliche Wirtschaftsleistung wurden innerhalb der zionistischen Bewegung und daher auch von den jüdischen Palästinareisenden diskutiert. Die durch die Abtrennung Transjordaniens 1922 neu geschaffene Situation wurde von den meisten Autoren unkommentiert hingenommen, mit der Ausnahme Wolfgang von Weisls, der am Anspruch auf die Gebiete jenseits des Jordans festhielt und die Enttäuschung über die britische Entscheidung in die Begriffe österreichischer territorialer Wahrnehmung übersetzte: Die „jüdischen Erwartungen“ wären empfindlich getroffen worden, denn „jenseits des Jordan – [ist] die Gegend fast menschenleer – und dabei schön und wasserreich und fruchtbar wie kaum ein anderes Stück Erde im vorderen Orient“30 und Palästina sei „durch die Abtrennung […] zu einem Staat von der Größe Niederösterreichs“31 geworden. Die in den Jahren nach der Balfour-Deklaration beliebten kartografischen Ansichten Palästinas, publiziert in den Schriften und Broschüren des Keren Kajemeth 32 , gaben über den faktischen jüdischen Bodenbesitz in Palästina Auskunft. Sie lenkten die Augen der BetrachterInnen auf den von der ICA/PICA33 und den vom Keren Kajemeth erworbenen Boden, während das Land ringsum als weiße Fläche erschien. Diese kartographischen Darstellungen wurden, je 29 Hebr. Ge’ulat HaAretz. „Erlösung“ hat hier eine religiöse und nationale Bedeutungskomponente; im Kontext der zionistischen Ökonomie der vorstaatlichen Periode wurde unter „erlösen“ darüber hinaus auch „auslösen“ bzw. Boden „freikaufen“ verstanden. Boden wurde dann als „erlöst“ angesehen, wenn er sich in jüdischem Besitz befand und von den arabischen Effendis „freigekauft“ worden war. 30 Weisl, Kampf, 72. 31 Ebd., 34. 32 Der Keren Kajemeth LeIsrael, dt. „Jüdischer Nationalfonds“, wurde 1901 im Auftrage Herzls gegründet, um Land für ImmigrantInnen zu erwerben. Die schon länger bestehenden Gründungen Rothschilds und der ICA (s. u.) werden in der Literatur und auch in den Reiseberichten immer wieder als „Rothschild-Gründungen“ bezeichnet. Wesentlich dabei ist, dass in den Reiseberichten die Beurteilung der älteren Siedlungen – durchaus in Übereinstimmung mit der zionistischen Literatur – aus verschiedenen Gründen, auf die später noch zurückzukommen sein wird, äußerst negativ ausfiel. 33 Die ICA (Jewish Colonization Assosziation, ab 1926 PICA) wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von Maurice de Hirsch als Aktiengesellschaft gegründet, mit dem Ziel Boden zu erwerben und ihn den jüdischen ImmigrantInnen, die vor allem aus Osteuropa stammten, als landwirtschaftlichen Besitz zu überlassen.
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nach den Bedürfnissen der Autoren leicht modifiziert, in der zeitgenössischen Reiseliteratur immer wieder verwendet. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen dabei vor allem die Besiedelungsdichte in der Jesreelebene34 und die Siedlungen entlang der Küste. Für das mental mapping, das vorgestellte Ausmaß des jüdischen Landbesitzes und der Besiedelungsdichte resp. die Art der Besiedelungsstruktur des Landes war dieser Fokus symbolisch bedeutsam als kartographische Abbreviatur der Botschaft einer schrittweisen Landgewinnung und der Urbarmachung von Wildnis und Öde. Abb. 1: „Das jüdische Siedlungswerk in Palästina“
„Das jüdische Siedlungswerk in Palästina“ in: W. von Weisl, Der Kampf um das heilige Land, Berlin 1926.
34 In den Reiseberichten und der Palästina-Literatur meist kurz Emek, hebr. für „Tal“.
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Abb. 2: „Palästina. Jüdischer Besitz“
„Palästina. Jüdischer Besitz“ in: A. Wiener, Kritische Reise durch Palästina, Berlin 1927.
Die Abbildungen 1 und 2 stammen aus Wolfgang von Weisls Der Kampf um das heilige Land (publiziert 1926) und der Kritische[n] Reise durch Palästina von Alfred Wiener35 aus dem Jahr 1927. Sie wurden ursprünglich vom Keren Kajemeth publiziert und von den Autoren leicht modifiziert wieder verwendet. Auf den ersten Blick scheint es, als habe sich der jüdische Bodenbesitz im Laufe eines Jahres verringert, tatsächlich handelt es sich jedoch um kleine graphische Eingriffe, die bei Weisl alle Teile des jüdischen Bodenbesitzes (Besitz des Keren Kajemeth und der PICA) als schwarz erscheinen lassen. Bei dem „Antizionisten“
35 Alfred Wiener, Arabist, hochrangiger Funktionär des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ab 1919, später Gründer und Direktor des bekannten Londoner Wiener Libraries, hatte Palästina schon vor seiner Reise 1927 mehrfach besucht. In seiner Kritischen Reise bezeichnete er sich selbst als „Anti-Zionisten“ und äußerte seine Kritik auch mithilfe von Statistiken und Karten. So verglich er beispielsweise Palästina in seinen ungefähren Dimensionen mit der Größe „Groß-Berlins“, um die Aufnahmekapazität Palästinas in Frage zu stellen (vgl. Wiener, Kritische Reise, 31f.).
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Wiener wurden die Besitzungen der PICA weiß mit schwarzer Umrandung, und nur der Besitz des Nationalfonds schwarz dargestellt, um die Kolonisationsarbeit und den jüdischen Landbesitz in seinen „wahren“, geringeren Dimensionen darzustellen und damit Palästinas demographische Aufnahmefähigkeit zur Diskussion zu stellen. Die Reisen der Schriftsteller und ihre organisatorische Durchführung waren auch Teil publizistischer und zionistischer „Öffentlichkeitsarbeit“ und gehörten in das Umfeld einer Unternehmung, die Michael Berkowitz als „nationalized tourism to Palestine“36 bezeichnet hat. Dazu gehörte auch die Planung des Reiseverlaufs und der Empfänge bei den Funktionären der örtlichen Institutionen resp. der Zionistischen Exekutive. Zumeist übernahmen Fahrer der Chauffeur-Kooperative, die zionistisch ausgebildet waren, die Funktion von Reiseleitern und waren somit wichtige Interpreten des Wahrgenommen. Eindrücklich wird dies von Otto Abeles, einem Wiener zionistischen Funktionär, der im politischen und publizistischen Umfeld Robert Strickers tätig war, bestätigt: „Chawer Grünfeld übernimmt die Führung. Nicht nur am Volant des Autos […]. Auch als Instruktor, Mentor, lebende Historie, vor allem aber, der beste, treueste Anwalt des neuen Jischub […]. Eine prächtige Gilde, die Chauffeure […], alle sind heißblütige, begeisterte Werber für Erez Israel.“37. In diesem Zusammenhang versuchten die Verfasser ebenfalls ihren symbolischen Beitrag zu leisten. Otto Abeles, unternahm seinen Besuch in Erez Israel laut eigener Auskunft auch mit der Absicht, dem Lesepublikum mit seiner Publikation die Diskrepanz „zwischen der Hingabe dieser werdenden jüdischen Bauern und den Bettelleistungen unserer ‚Zionisten‘ der Hinterländer für Bodenerwerb und Aufbaubudget“38 aufzuzeigen. Menachem Ussishkin, Vorsitzender des Keren Kajemeth, erklärt in Abeles‘ Text kurz und bündig die Strategie: „Man stelle uns innerhalb eines Jahres 800.000 Pfund Sterling zur Verfügung! Dann beherrschen wir den Bodenmarkt [und] siedeln die Immigranten der neuen Massenwanderung an.“39
36 Michael BERKOWITZ, Western Jewry and the Zionist project, 1914–1933, Cambridge 1997, hier 125f. 37 Otto ABELES, Besuch in Erez Israel, Wien/Leipzig 1926, 64, 65. Hebr. Chawer: dt. „Freund“, „Genosse“. 38 Ebd., 51. 39 Ebd., 91.
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E RLÖSUNG
DES
B ODENS – B EFREIUNG
DER
A RBEIT
Aus der Sicht der am zionistischen Narrativ orientierten Reiseliteratur wurde der Boden Palästinas durch die praktische Kolonisationsarbeit in den Kwuzoth „erlöst“ und damit als nationaler Bodenbesitz legitimiert. Das Land, das die Pioniere bebauten, wurde nicht nur als bloßer „Boden“ dargestellt, der kultiviert und bearbeitet werden musste, sondern auch als Ort der kollektiven, wenn auch nicht bewussten Erinnerung an die heroischen und tragischen Helden der biblischen Vorgeschichte: „Die Männer und Frauen von En Charod, die in hartem Ringen den einst so üppigen Boden wieder gewinnen, haben nicht Zeit und Muße, an Gideon und Saul zu denken; Gilboa ist ihnen die Grenze ihrer Gemarkung, der Emek, das hundertfache Schlachtfeld, der Boden, den sie im friedlichen Kampf zu erlösen haben, das Dorf Sunem drüben nicht die Quelle der tausendjährigen Erinnerung an die junge Magd Abisag, die dem greisen David diente, sondern Emekboden, der noch den Arabern gehört, demnächst aber in unsere Arbeitshände kommt. Sie haben nicht Zeit für sentimentale Regungen; aber Gideon und Saul, Gilboa und Sunem, die hundert Schlachten im Emek und die tausendjährigen Reminiszenzen sind ihnen irgendwie ins Blut übergegangen, leben in ihrem Unterbewußtsein und gehören zu den stärksten Quellen der Kraft und des Mutes, der Hingebung und Opferbereitschaft, die sie täglich, stündlich zu bewähren haben.“40 Die rhetorische Strategie, die hier bei Herrmann, aber auch bei Weisl, Salten oder Abeles zu finden ist, hatte zusätzlich eine eigentumsrechtliche Konnotation: Diejenigen, die den „einst so üppigen“ Boden vernachlässigt hatten – gemeint sind die arabischen Fellachen als Pächter und die abwesenden Grundherren, die Effendis –, verloren damit auch das im naturrechtlichen Sinn durch Arbeit begründete Anrecht auf Land. Dieses wird gleichsam Niemandsland (terra nullius) und damit ein umso legitimeres Ziel der jüdischen Kolonisation, die auch als Modernisierungsleistung des Westens im Orient gesehen wird. Hans Kohn hat auf die Schwierigkeit dieser Argumentation hingewiesen: Palästina sei kein „Land ohne Volk“ und man müsse es der „Erlösungssehnsucht“ des jüdischen Volkes zuschreiben, wenn „die Kunde, daß das Land nicht völlig wüst und öde war, daß seit dreizehn Jahrhunderten Araber dort lebten, eine vielleicht
40 Hugo HERRMANN, Eine werdende Welt. Reiseeindrücke aus Palästina, Prag 1925, 27. Hugo Herrmann gehörte zur Gruppe der Prager Zionisten um Felix Weltsch und Hugo Bergmann, war Mitherausgeber der Prager Zeitschrift Selbstwehr und ab 1922 Mitarbeiter des Keren Hajessod (dt. „Gründungsfonds“).
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ebenso lange Zeit, wie das jüdische Volk dort gelebt hatte, […] kaum in das jüdische Bewusstsein gedrungen war.“41 Hinsichtlich des Anteils von jüdischer und arabischer Arbeit war die Position der meisten Autoren klar. Sie stand im Einklang mit dem zionistischen Desiderat einer weitgehend autarken jüdischen Wirtschaftsleistung, autark meint in diesem Fall unabhängig von „billiger arabischer Arbeit“. Die arabische Arbeit, so berichteten die Autoren, wäre so billig, dass die jüdischen ArbeiterInnen nicht mithalten könnten. Alfred Wiener – in den zwanziger Jahren Antizionist – war aus Gründen wirtschaftlicher Rentabilität allerdings für den Einsatz arabischer ArbeiterInnen. Wurde etwa bei Salten, Bermann und Rundt, Herrmann oder Weisl die Beschäftigung arabischer Arbeitskräfte in den alten jüdischen Kolonien als Ausbeutung kritisiert, so verwies Wiener auf die Rentabilität durch den Einsatz billiger Arbeitskräfte, die auch die deutschen Templer-Kolonien kennzeichnen würde: „Die Kolonien der Deutschen im Lande […] beschäftigen nur arabische Arbeiter. Sie sind heute schuldenfrei und erfordern keine Zuschüsse mehr.“ 42 Während Alfred Wiener vorschlug, die vorhandene „billige Arbeitskraft“ im Land auch zum Aufbau der großen Industrie einzusetzen, verfolgten die übrigen Autoren in der Mehrzahl die offizielle Kibbusch-HaAwoda-Strategie. Hugo Herrmann sah in der Arbeitsorganisation in den alten Kolonien sogar die Ursache für die arabischen Aufstände zu Beginn des Jahrzehnts: „Der Jude als Plantagenherr, der Araber als Lohnkuli, das war das normale Verhältnis in diesen Kolonien; Sklaven aber haben die üble Gewohnheit, manchmal gegen ihre Herren zu rebellieren. Als die ersten jüdischen Kwuzoth43 sagten: Fort mit der arabischen Lohnarbeit – da schüttelten die Kenner der Verhältnisse den Kopf und unkten: Das heißt den Arabern den Kampf ansagen, das heißt sie in offene Feindschaft treiben. Aber siehe da! Der jüdische Arbeiter, der sein Feld selbst bearbeitet, und der arabisch Fellach, der nebenan dasselbe tat, verstanden sich viel besser als die Nabobs und die Kulis von Petach-Tikwah, Rechoboth oder Rischon.“44
41 Hans KOHN, Nationalismus und Imperialismus im Vorderen Orient, Frankfurt am Main 1931, 181. Die Formel vom „Land ohne Volk“ für „das Volk ohne Land“ schreibt Kohn hier übrigens Herzl zu. 42 Wiener, Reise, 59. 43 Hebr. Kwuzoth, Pl. für Kwuzah. Wörtlich: „Gemeinschaft“. In diesem Kontext: „Kollektiv“. 44 Herrmann, Welt, 39. Petah Tikwa, Rechovoth und Rischon LeZion wurden im 19. Jahrhundert von osteuropäischen ImmigrantInnen gegründet und schließlich von Edmond de Rothschild finanziell unterstützt.
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N EUE H EBRÄER Vermutlich ließe sich mit einigem Erkenntnisgewinn auch das fiktionale Setting der Palästinareiseliteratur untersuchen – nach Personeninventar und erzählten Orten, wie auch in Hinblick auf jene „anderen Orte“, die in den Texten zwar nicht dargestellt wurden, dafür aber kaum weniger präsent waren als die erzählten Räume Palästinas: Galizische Städte, jüdische Gemeinden in Osteuropa, Schtetl – ein Ineinander von „städtischen Slums, […] Trödelei, Talmud und Ghetto“45 – bilden in der Darstellung der Autoren den dunklen Hintergrund, von dem sich die Helden des Palästina-Aufbauwerks, die Chaluzim („Pioniere“) als „Helden der Kwuzah“46 umso strahlender abheben. Die Chaluzot47, die weiblichen Pioniere, wirken eher als stille Heldinnen des Aufbaus im Hintergrund. Zum fixen Personeninventar der Reiseberichte gehörten außerdem die britischen colonial clerks, die Beamten der Mandatarmacht, und die zionistischen Funktionäre der Jewish Agency. Die reisenden Schriftsteller fuhren mit den Automobilen der Chauffeurkooperative durch das Land. Deren zionistische Chauffeure gehörten zur gleichen heldenhaften Gruppe wie die Chaluzim und die Schomrim48, die auf Pferden mit geschulterten Karabinern die Siedlungen bewachten. Im Gegensatz dazu standen die „Anti-Helden“ des Palästina-Aufbaus. Diese fanden sich in den alten Kolonien, die noch arabische Arbeiter beschäftigten, und in Gestalt der strengreligiösen Juden am Kotel HaMa’arawi, der „Klagemauer“, wo sie sich mit ihrem „müßige[n] Jammer“ als „Feinde der Aufbauarbeit“ zu erkennen gaben49. Die Klagemauer wird als Ort jüdischer Identität und Religionsausübung von den Verfassern der Reiseberichte, etwa von Salten, Weisl oder Bermann und Rundt, in auffallender Art und Weise heruntergespielt: als Ort einer allzu „tränenreichen“ 50 jüdischen Vergangenheit, an die anzuknüpfen sich für die
45 Bermann/Rundt, Palästina, 27. 46 So auch der Titel eines bekannten Jugendbuches von Salo Böhm aus dem Jahr 1935. 47 Hebr. Plural von Chaluzah. 48 Hebr. HaSchomer (dt. „Wächter“) war eine jüdische Miliz in Palästina, die während der osmanischen Herrschaft zum Schutz des Jischuw, der jüdischen Bevölkerung in Palästina, gegründet worden war. 49 Salten, Menschen, 163, 164. 50 Diese in einigen Reiseberichten sehr ähnlich vorgebrachten Schilderungen können auf die Äußerungen des jüdischen Historikers Salo W. Baron bezogen werden, der eine Revision der „tränenreichen Theorie“ in der jüdischen Geschichtsschreibung angeregt hatte. Der Zionismus habe allerdings – so Baron – mit seiner Abwertung jüdischer Geschichte und Erfahrung in der Diaspora diese Revision entgegen seinen Absichten
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„neuen Hebräer“ nicht mehr lohnte. Diejenigen, die dort beteten, „Ghettojuden“, „Orthodoxe“, würden eine Tradition verkörpern, die unwirklicher wäre, als etwa die durch den Zionismus national kodierte Erinnerung an die Erzväter oder an die heldenhaften Figuren jüdischer und biblischer Historiographie. „Die Juden werden – und das sage nicht nur ich, sondern das sieht jeder der nach Palästina kommt – durch die Chaluzim repräsentiert“51. Identitätsäußerungen dieser Art hatten nicht nur einen deskriptiven, sondern zumeist auch einen normativen Charakter 52 . Der „neue Hebräer“ 53 wurde auf Plakaten, PalästinaPostkarten, durch professionelle Bildproduktionen – insbesondere in den dreißiger Jahren – zur Ikone jüdisch-maskuliner Kraftanstrengung. Während die photographischen Abbildungen in den Reiseberichten eine Geschichte von Kargheit, Armut, Essen in Gemeinschafträumen und landwirtschaftlicher Arbeit mit einfachen Gerätschaften erzählten, stellte es die manchmal pathetische Rhetorik der Texte anders dar. Das Ideal des „neuen Muskeljuden“ – davon geben die Texte auch bereitwillig Auskunft – war in der Realität nicht leicht zu erreichen: „Dieses ganze Aufbauwerk ist ein großes Auslesesieb, vielmehr ein ganzes System hintereinander angeordneter Siebe. Schon die Auswanderung selbst: nur wer sich […] als Arbeiter, soziales Element, verläßlicher Charakter bewährt hat, erhält vom Palästinaamt der Zionistischen Organisation das „Zertifikat“ […]. Im Lande selbst ist jede Arbeitsstelle eine Prüfung […]. Was aber durch all diese Prüfungen hindurchgegangen ist, ist geläutert. Palästina [ist] das Sammelbecken aller körperlich und seelisch stärksten Menschen […], die das Judentum heute aufzuweisen hat; nach der jahrtausendelangen Selektion nach unnormalen Merkmalen hin, nach der Anpassungsfähigkeit, Schlauheit, Findigkeit und Erniedrigung – endlich wieder die Auslese nach dem normalen Prinzip, nach der physischen und moralischen Kraft.“ 54 Hatte ein Chaluz die Verfahren der Auslese nicht verwirklicht. Vgl.: Salo BARON, Ghetto und Emanzipation, in: Michael Brenner/Anthony Kauders/Gideon Reuveni und Nils Römer (Hg), Jüdische Geschichte lesen, München 2003, 229–241, hier 230f. [gekürzter Wiederabdruck]. 51 Herrmann, Welt, 134. 52 Segev (Palästina, 270) stellt in dem „Der neue Mensch“ überschriebenen Abschnitt einleitend fest: „Von den Einwanderern, die in den zwanziger Jahren nach Palästina kamen, gingen rund 20 Prozent in die Landwirtschaft, insgesamt weniger als 20 000 Menschen. Davon ließen sich die meisten in bestehenden landwirtschaftlichen Siedlungen nieder. Nur wenige hundert widmeten sich dem Aufbau neuer landwirtschaftlicher Kollektive und Kibbuzim.“ 53 Vgl.: Doreet LeVITTE HARTEN/Yigal ZALMONA (Hg.), Die neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel, Berlin 2005. 54 Herrmann, Welt, 134.
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durchlaufen, dann konnte er jene Form von Männlichkeit repräsentieren, die im zionistischen und literarischen Kontext der Palästina-Aufbau-Literatur als „hegemonial“55 beschrieben wurde. Abb. 3: „Im Speisesaal einer kommunistischen Arbeitergruppe“
„Im Speisesaal einer kommunistischen Arbeitergruppe“, in: W. v. Weisl, Der Kampf um das heilige Land, Berlin 1926.
Abb. 4: „Pioniere an der syrischen Grenze“
„Pioniere an der syrischen Grenze“ in: W. v. Weisl, Der Kampf um das heilige Land, Berlin 1926.
55 Das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit” wurde von der australischen Soziologin Raewyn Connell entwickelt.
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Abb. 5: Otte Wallish, Jüdischer Nationalfonds
Otte Wallish, Jüdischer Nationalfonds, in: Die neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel, hg. von Doreet LeVitte Harten in Zusammenarbeit mit Yigal Zalmona, Berlin 2005.
Im Zusammenhang mit der Vorstellung einer „jüdischen Renaissance“ in Palästina tendierten manche Zionisten unabhängig von ihrer Ausrichtung dazu, den „Volkskörper“ auch mithilfe eugenischer, biologistischer resp. sozialdarwinistischer Begrifflichkeiten darzustellen. Die im antisemitischen Diskurs verfestigten Stereotypien sollten eben dadurch konterkariert werden – die Stereotypien von effeminierten, neurasthenischen, urbanen, intellektuellen, nicht in der „Produktion“, sondern in der Zirkulationssphäre des Kapitals (Händler, „Spekulanten“) beheimateten jüdischen Männern. 56 Mithilfe einer scharf gezogenen innerjüdischen Demarkationslinie zwischen Zionismus und orthodoxer Religiosität, zwischen West und Ost bzw. Okzident und Orient, wird dabei auch eine durchaus hierarchische Ordnung der „Männlichkeiten“ hergestellt. Richard Bermann war schon 1914 in Palästina gewesen, in seinem Reisebericht von 1923 berichtet er
56 Zur diskursiven Entstehungsgeschichte vgl. Klaus HÖDL, Zur Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997.
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von dieser früheren Palästinafahrt. Den Weg von Jericho und zum Jordan hatte er in schlechter Erinnerung, denn 1914 mussten die Wege noch in der Kutsche zurückgelegt werden: „Der Kutscher war das, was damals im Jahre 1914, der typische jüdische Einwohner von Jerusalem war: ein schmutziger alter Galizianer mit Pajes 57 . Wie er so neben seinem Pferd einherging, kläglich anzuschauen, Ahasvers Fluch auf der Stirn – kam uns eine andere Gruppe entgegen […]. Zwischen zwei blaugekleideten beduinischen Weibern, die zu Fuß gingen, ein wunderbarer Scheich auf einem herrlichen arabischen Pferd, ein schöner, wilder Kerl […], um das tätowierte Handgelenk einen Peitschenriemen gewickelt, ein Prachtexemplar böser Männlichkeit. […] Unser Wagen versperrte dem Beduinen den Weg. Da stieg er vom Pferd und führte es am Zügel. Als er aber an dem Kutscher vorbeikam, sah ich, wie er seine braune und blau tätowierte Hand ausstreckte, eine aristokratische Hand mit großen Silberringen, und den alten Juden beim Bart packte. Es spuckte ihm ins Gesicht und sagte nur ein Wort, aber so voll Verachtung: ‚Jehudi!‘ Ich gestehe und bezeuge, und deswegen wird dieses Buch geschrieben, daß es doch anders geworden ist in Palästina. […] Dem jungen Chaluzim spuckt kein Araber ins Gesicht. Das Gesicht sieht so aus, dass niemand hineinspuckt.“58 In den scharfen Abgrenzungsdiskurs mischen sich auch Argumente, die die ökonomische Organisation der älteren Einwandererkolonien aus den 1880er-Jahren betreffen, so etwa, wenn Richard Bermann im Hinblick auf diese Kolonien anmerkt: „Warum sind in dieser Herrlichkeit die Menschen nicht anders geworden? Ich sehe ein Brest-Litowsk, ein Dubno mit vielen Zitronen. Ich sehe in den Gärten arabische Fellachen arbeiten und alte Ghetto-Juden hinter Ladentischen. Ist das die verheißene Erlösung dieser Menschen, das Neue das andere?“59 Auch im Kontext der Hebräisierung wurden Vorbehalte formuliert, die schon am Ende des 19. Jahrhunderts und an der Wende zum zwanzigsten – zunächst durch die Antisemiten – ausgearbeitet worden waren: die Sprachkritik an der jiddischen Sprache und am Judendeutsch als „Mauscheln“60. Auf dem Weg zu den neuen Kolonien sieht Bermann einen Chaluz, der ihm als „junger schöner Gott“ erscheint, solange er nicht spricht: „das Hebräische verlassend [sagte er], in einem abscheulichen galizianischen Judendeutsch, er wolle ins Auto einsteigen und
57 Dt. „Schläfenlocken“ (auch: Beikeles). 58 Rundt/Bermann, Palästina, 72, 73. 59 Ebd., 55. 60 Paradigmatisch zu den Themen Sprachkritik resp. „Erfindung des Ostjuden”: Sander GILMAN, Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt am Main 1993, 190f.
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mitfahren nach Sichron Jakob […]. Man kann nicht schön sein und sagen: „jach“61, statt: „ich“.62 In diesem dichten Kontext von Männlichkeitskonzeptionen, Identitätsvorstellungen und Alteritätsdiskursen scheint es zunächst immer eine West-Ost-Blickrichtung zu geben, scheinen Prozesse der Alterisierung und Orientalisierung (worunter in diesem Kontext auch die Repräsentationen des „Ostjüdischen“ verstanden werden) zu überwiegen. Die Perspektive ist allerdings nicht immer so eindeutig, wie es zunächst erscheinen mag: Die Verfasser der Palästinareiseliteratur – am zionistischen Narrativ orientiert – sehen „die Ostjuden“ schließlich weniger mit ihren eigenen Augen als vielmehr mit jenen der politischen Gegner des Zionismus, die die entsprechenden antisemitischen Stereotypisierungen bereits im 19. Jahrhundert bereitgestellt hatten. Um der intrinsischen Ablehnung auch der eigenen jüdischen Zugehörigkeit, die daraus resultierte, zu entkommen, entwarfen sie den Chaluz-Muskeljuden (und sein verachtetes Gegenüber, den Ghetto-Juden) und wiederholten damit die Strategie der jüdischen Korporationen im 19. Jahrhundert: Ihre Mitglieder wurden „satisfaktionsfähig“, eine Strategie, die Daniel Boyarin zu der dialektischen und ironischen Beobachtung veranlasste, Zionismus wäre eine Art mimicry des Männlichkeitsideals der Umgebungs-gesellschaft. Der Widerstand gegen diese würde sich in den Heldenlegenden von „Bar Kochba, warrior Moses, and Maccabee“ ausdrücken, und der politische Zionismus hätte Ideale von Männlichkeit und Nation formuliert, die aus jüdischen Männern „men like all other men“ gemacht hätte und ihren Staat zu einer
61 Jidd. jach für dt. „ich“. 62 Rundt/Bermann, Palästina, 110. Der betreffende Abschnitt wurde von Bermann verfasst. Der Zusammenhang von „Männlichkeitsdiskurs“ und „Sprachkritik“ wird auch sehr deutlich dargestellt bei Uta KLEIN, Männlichkeit und Militär in Israel, in: transversal (1) 2007, 26–32, hier 27: „Die zionistische Bewegung wollte den neuen Juden schaffen. Ihn stellte sie sich als das Gegenbild zu den jüdischen Männern in der Diaspora vor, vor allem den jüdischen Männern in den osteuropäischen Shtetln. […] Sie wurden als schwach und ängstlich angesehen […]. Der Zionismus reagierte damit nämlich auf den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, der jüdische Männer als feige und passiv darstellte […]. Zusammengefaßt ist Zionismus in der historischen Perspektive ein Diskurs über Männlichkeit. Auch die Kolonisierung Palästinas war eng mit Maskulinisierung verbunden. Dazu gehörte die Transformation der Sprache, nämlich die Transformation des als weiblich empfundenen Jiddisch in das wiederbelebte Hebräisch.“
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„nation like all other nations“. In seinem Kern sei daher der Zionismus „assimilationist“63. Zwei Autoren, Eugen Hoeflich und Leopold Weiss, suchten in diesem Zusammenhang nach alternativen Lösungsstrategien, die sich u. a. auf Martin Buber berufen konnten64. Bei beiden Autoren finden sich weder verklärte Darstellungen „chaluzischer Männlichkeit“ noch der Versuch, die Leistungen der ImmigrantInnen nach Herkunft oder nach ihrer Zugehörigkeit zu den alten resp. neuen Kolonien zu gewichten. Beide verurteilten die von ihnen kritisch wahrgenommene „Entorientalisierung des Orients“ durch die koloniale Politik des Westens – auch durch den Rückgriff auf (romantische) Formen von „Selbst-Orientalisierung“65. Die „nationalistische“ Variante des Zionismus – anstelle einer wahrhaft „nationalen“ Besinnung, die Hoeflich vorschlug – wäre nichts anderes als westliche Hegemonie im Osten, Mechanisierung eines ursprünglich orientalischen Lebens durch das „physische wie seelische Taylorsystem“66. In seinem 1918 publizierten Reisetext Der Weg in das Land erläuterte Hoeflich die von ihm vorgeschlagene Revision: „[…] daß ich den Orient vom Standpunkte des Juden erlebe, der sich seiner orientalischen Abstammung, seines asiatischen Blutes voll und ganz bewußt ist.“ 67 Die Reiserouten von Hoeflich und Weiss unterschieden sich dann auch maßgeblich von denjenigen der meisten anderen Autoren. Hoeflich – wie Kohn ein Anhänger des „binationalen Gedankens“ und „jüdisch-arabischer“ Verständigungspolitik – und Leopold Weiss besuchten auch die angrenzenden arabischen Nationen, Hoeflich u. a. in arabischer Begleitung; die obligatorische Tour durch die Kolonien des Emek im Auto mit Chauffeur fehlt bei beiden. Leopold Weiss, am Ende seiner Reise offensichtlich fast ohne Geld, schlug sich zu Fuß bis nach Syrien durch, um dann nach Europa zurückzukehren. Sein letzter Eindruck vom Leben in den Kolonien war folgender: Nachdem er mit ermüdeten und zermürbten älteren Kolonisten Kontakt hatte, erreichte er eine Kwuzah im 63 Daniel BOYARIN, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkely/Los Angeles/London 1997, hier 276. 64 Martin BUBER, Der Geist des Orients und das Judentum, in: Ders., Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte, Leipzig 1916, 9–48. 65 Die Thematik des „jüdischen Orientalismus“ wurde in einigen jüngeren Publikationen eingehend erörtert, vgl.: Ivan Davidson KALMAR/Derek J. PENSLAR (Hg.), Orientalism and the Jews, Waltham (Mass.) 2005; Steven ASCHHEIM, The Modern Jewish Experience and the Entangled Web of Orientalism, in: Ders., At the Edges of Liberalism. Junctions of European, German and Jewish History, London 2012, 21–37. 66 HOEFLICH, Pforte, 77. 67 Eugen HOEFLICH, Der Weg in das Land. Palaestinensische Aufzeichnungen, Berlin/Wien 1918, 1f.
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Norden des Landes: „Diese Jungen, unter denen die russischen und polnischen Juden das weitaus wertvollste Element darstellen, leben zum Teil in Gruppengemeinschaften, ‚Kwuzoth‘, führen die Devise: ‚Jüdische Kolonisation mit jüdischen Arbeitskräften, keine Arbeiterausbeutung‘ […], arbeiten tapfer, und sind trotz allem, wie überhaupt sämtliche jüdische Kolonien […] letzten Endes doch immer auf die Hilfe von außen angewiesen. – Und das Wichtigste: kaum einer von diesen Menschen fühlt sich, wenn man ihn auf Leben und Tod danach fragte, wirklich gut – […] Palästina-Masochismus möchte man es benennen.“68 Die immer noch im Rahmen des Zionismus lesbare Alternative, die Hoeflich vorschlug, „Panasiatismus“ als zwar politisch relativ vages, aber im Sinne der „Intellektuellenpolitik“ etwa auch des Brith Shalom, doch einsichtiges Konzept, unterschied sich – ebenso wie seine Reiseroute durch das Land – von den Wegen des offiziellen politischen Zionismus und gehörte deshalb innerhalb des Mehrheitszionismus zu den „roads not taken“.69 Die Palästinareiseberichte jüdischer Autoren nach der Balfour-Deklaration unterscheiden sich in einigen Punkten deutlich von der übrigen Reiseliteratur dieser Jahre: Zwar fiel das Hauptaugenmerk insgesamt auf „neue Ökonomien“ und „neue Menschen“ im Kontext derselben, allerdings nicht auf neue Formen industrieller Produktion resp. des Konsums und der Freizeitkultur wie die Sowjetunion- und Amerikareiseliteratur, sondern auf die Kolonisationsarbeit in den landwirtschaftlichen Siedlungen und auf neue Formen jüdischer Identität, die in diesem Zusammenhang erlebt, entworfen und auch kritisch diskutiert wurden. Der in den Texten erkundete Raum war kein „Neuland“, sondern in der Perspektive der hier untersuchten Texte vielmehr „Altneuland“, d. h. ein sowohl realer als auch fingierter Ort; mit ihm sollte der jüdische „Wiedereintritt in die Geschichte“ durch das Konzept eines nationalen und territorialen coming home realisiert werden.
68 Weiss, Morgenland, 107, 108. 69 Vgl. Arie DUBNOV/Hanan HARIF, Zionisms: Roads not Taken on the Journey to the Jewish State (insbesondere: 6. Pan-Asianism: Eugen Hoeflich’s Key for Peace in Palästina): http://www.maarav.org.il/english/2012/04/zionisms-roads-not-taken-on-thejourney-to-the-jewish-state-arie-dubnov-hanan-harif (05.06.2013).
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Making Space for Judaism The Spatiality of Belief in Franz Rosenzweig’s Stern der Erlösung M ATTHEW H ANDELMAN (P HILADELPHIA /E AST L ANSING ) 1
„F ÜR
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Can belief occupy space? For Franz Rosenzweig – one of the most prominent religious and philosophical thinkers of an extraordinary generation of GermanJewish intellectuals – it is precisely the lack of intellectual space for Judaism that led him – almost – to convert to Christianity in 1913. As Rosenzweig, famous for his philosophical-theological monograph Stern der Erlösung (1921) and his co-translation of the Hebrew bible with Martin Buber, reflects to his cousin Rudolf Ehrenberg, himself a convert from Judaism to Christianity: “Ich hatte das Jahr 313 für den Beginn des Abfalls vom wahren Christentum gehalten, weil – es für das Christentum den entgegengesetzten Weg durch die Welt eröffnet, den das Jahr 70 für das Judentum eröffnet. Ich hatte der Kirche ihren Herrscherstab verargt, weil ich sah, daß die Synagoge einen geknickten Stab hält. Du warst Zeuge, wie ich von dieser Erkenntnis aus mir die Welt neu aufzubauen begann. In dieser Welt […] schien für das Judentum kein Platz zu sein.”2 The destruction of the Second Temple in physical space and legalization of Christianity in the judicial sphere secured the “Herrscherstab” for the church in the teleology of history, leaving for the synagogue historically neither physical nor cognitive “Platz”. However, Rosenzweig’s experience during Yom Kippur services in 1
I would like to thank the organizers and editors of the present volume for their help and patience in the composition of this article, as well as Andrea Albrecht and Leif Weatherby for reading and commenting on draft versions.
2
Franz ROSENZWEIG, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, vol. 1/I, eds. Rachel Rosenzweig and Edith Rosenzweig-Scheinmann, Haag 1979, 133-134.
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Berlin later in 1913 revealed to him the enduring religious and historical legitimacy of Judaism, and the existential significance of the synagogue in the modern world.3 As a result, Rosenzweig’s religious-philosophical project since 1913 can be seen as a fight to secure for Judaism its distinct space on the intellectual map of modernity. Rosenzweig’s metaphorical description of religious-historical events in spatial terms such as “Platz” raises a few hitherto underexplored questions regarding what I will call the spatiality of belief in Rosenzweig’s thinking. While religions can certainly take up physical spaces, as in churches or synagogues, does belief itself exhibit a spatial dimension or follow spatial properties? If so, by what sort of spatial hermeneutics can we read the spatial structure of and relations between religions? Is, as Rosenzweig suggests to Ehrenberg, the space of belief finite or limited? And, finally, can one set of beliefs such as Christianity occupy, or even dominate, the spatial landscape of belief? To answer these questions, the following analysis explores a nuanced and productive spatial metaphor that Rosenzweig introduces in 1913 and develops and redeploys in Stern der Erlösung to envision the interactions of systems of thought and belief. In particular, we will use the idea of religious space to interpret a spatial-geometric metaphor Rosenzweig makes at the end of Stern der Erlösung, in which he likens the difference between Judaism and Christianity to the difference of a point and a line. Behind Rosenzweig’s metaphor, however, the complicated conceptual history of mathematical points and lines ultimately justifies Judaism’s persisting claim to a legitimate place in the modern cognitive landscape as well as in the real world. I thus contend that Rosenzweig’s metaphor helps better understand not only his own argument for Judaism against the detractions of his contemporaries and friends (such as Ehrenberg and Eugen Rosenstock), but also the immaterial worlds of concepts and ideologies in terms of their dynamics as spatial objects. Ultimately, Rosenzweig allows us to rethink and expand contemporary critical discourse on spatiality to include how space can be, and has been, used as a metaphor to describe religious ideas that, despite their importance in the physical world, take up no physical space at all. Two reasons lie behind our reading of Rosenzweig’s spatial metaphors. The first reason concerns the ambivalent place that spatial metaphors of religion and 3
For the canonical account of Rosenzweig’s conversion, see Nahum N. GLATZER, Franz Rosenzweig. His Life and Thought, New York 1961, xvi-xx and 23-28. More recent scholarship has explored the philosophical background and intellectual myths surrounding Rosenzweig’s conversion, see Benjamin POLLOCK, On the Road to Marcionism. Franz Rosenzweig’s Early Theology, in: Jewish Quarterly Review, 102/2 (2012), 224-255.
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religious beliefs occupy in Rosenzweig’s thinking. As Robert Gibbs claims, Rosenzweig’s depiction of “the church militant conquering the pagan for the one, true way” forms one of the “obvious ‘mistakes’” that seems to doom Stern der Erlösung from the very start. 4 Yet, evaluating the historical veracity of Rosenzweig’s claims about Christianity or Judaism is not my goal here. Rather, a spatial metaphor like Judaism’s “Platz” provides a critical lens to reevaluate what has been traditionally taken to be Rosenzweig’s demonstration of the “distinct but complimentary” systems of Christianity and Judaism. 5 A spatial interpretation of the mathematical concepts of point and line can show how Stern der Erlösung continues to counter Rosenzweig’s “theological adversaries” such as Ehrenberg and Rosenstock in what Paul Mendes-Flohr has likened to an ongoing “medieval religious disputation”, started in 1913, reactivated during the First World War, and, as I argue here, culminating in Stern der Erlösung.6 For Rosenzweig, if the Christian “Kirche” reigns over the space in the physical world known as Western Europe, then at stake in the metaphorical spaces employed in Stern der Erlösung is the ability to justify the modern relevance of Judaism as a path to redemption, if not also to tacitly assert its advantages over Christianity. The second reason underlying our reading of space in Rosenzweig is the desire to understand the deep cultural roots of a theoretical discourse, now referred to as the “spatial turn”. While neither Rosenzweig nor the mathematical concepts such as points and lines figure centrally in such aesthetic-cultural debates, Rosenzweig’s depiction of belief in spatial terms nonetheless provides significant inroads into rethinking not only the politics of interfaith dialogue, but also the scope of space as a critical concept. As such, what I explore in the following as Rosenzweig’s notion of the spatiality of belief will not fit squarely in with what Doris Bachmann-Medick surveys as the typical characteristics of the “spatial turn”, such as “Praktiken der Raumerschließung und -beherrschung”,
4
Robert GIBBS, Correlations in Rosenzweig and Levinas, Princeton 1992, 113.
5
See, for instance, Benjamin POLLOCK, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy, Cambridge 2009. Pollock writes: “Judaism and Christianity, which celebrate in the course of their yearly calendars the very creation, revelation, and redemption in which God, world, and human being unite to realize the All, represent for Rosenzweig two distinct but complementary communal contexts within which the bringing of eternity into time is realized”, 276.
6
Paul MENDES-FLOHR, Forward, in: Eugen Rosenstock-Huessy, Judaism despite Christianity. The 1916 Wartime Correspondence between Eugen Rosenstock-Huessy & Franz Rosenzweig, Chicago 2011, ix and x.
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and “Repräsentationsformen von Räumen.”7 Neither is the spatiality of belief a mental map in the sense of a subjective or symbolic representation of physical space, nor does it coincide fully to Friedrich Jameson’s concept of “cognitive mapping”, which charts the individual’s imaginary relationship to his or her real conditions of political, social and ideological existence. 8 Using such cultural studies and postmodernist discourses as a theoretical point of comparison, Rosenzweig’s spatial description of belief assumes markedly high modernist undertones resembling a meta-subjective struggle to dominate the possibilities of justifiable, religious conviction in the early twentieth century. At the same time, however, Rosenzweig’s philosophical and theological writings in 1913 and in Stern der Erlösung reveal, at their core, an uncomfortable yet productive paradox in how we understand and represent space, through the metaphorical description of something spatially that is itself fully immaterial. Addressing debates both in Rosenzweig scholarship and in theories of space, the following analysis first focuses and clarifies Rosenzweig’s geometric-spatial analysis of Christianity and Judaism. Second, it interprets Rosenzweig’s application of mathematical concepts (points, lines, etc.) as a radical redefinition of the hierarchy of pure spatial forms, which, following the writings of the neoKantian Hermann Cohen, argues for the ontological primacy and generative power of the point with respect to the line or curve. Ultimately, Rosenzweig proposes a method for conceiving of non-spatial religious, cultural, and mathematical ideas in terms of the power dynamics of space that I believe is absent from present discussions of spatiality. In other words, Rosenzweig’s discussion of Christianity and Judaism offers to us the metaphor of the spatiality of belief, which functions as an analytic tool to translate the ways in which the idealized structures and struggles of thought produce, determine, justify and divide us and our religious and cultural beliefs in the real world.
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If, in 1913, Rosenzweig’s teleology of history favored the church over the synagogue, then one of the main goals of Stern der Erlösung is to reestablish the relevance of Judaism as a valid system of redemption in the modern world.
7
Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kultur-
8
Fredric JAMESON, Postmodernism. Or, the Cultural Logic of Late Capitalism,
wissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2010, 284-301, here 299. Durham 1991, 50-54.
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Rosenzweig began writing Stern der Erlösung on the Eastern Front towards the end of the First World War, a war that for Rosenzweig and many like him had irreversibly called into question the ideas of teleology, history, and progress themselves. 9 Rooted, at least in part, in his experiences during the war, Rosenzweig seeks in Stern der Erlösung to place the human subject back into the center of philosophical reflection, not in terms of psychology or phenomenology, but rather as the active agent in the process and progress of redemption. 10 Through the epistemological “organons” of mathematics, language, and liturgy, Stern der Erlösung systematically proves this point by distilling the preexperiential elements of Gott, Mensch, and Welt in Part One, by locating the moment of divine revelation in language in Part Two, and by arguing that the Christian and Jewish liturgical cycles “anticipate” the “All” of redemption in Part Three. In contrast then to the limited space for a non-Christian belief system in 1913, Rosenzweig hopes to demonstrate in Stern der Erlösung that Christianity and Judaism produce different yet both complementary and equally valid ways of realizing the eternity of redemption in the here and now of lived, religious experience. In order to make room for Judaism in Stern der Erlösung’s Part Three, Rosenzweig argues, based on his reciprocal definition of religious experience and truth, that Judaism and Christianity can be understood as modifications of a central figure of thought: the “Stern der Erlösung” itself. Rosenzweig thus dedicates Part Three’s first and second sections to a detailed explication of the liturgical cycles of Judaism, which in line with the metaphor of the “Stern” he dubs “das Feuer oder das ewige Leben” and of Christianity, which he calls “die Strahlen oder der ewige Weg”. More specifically, whereas the “Stern” burns inwardly for Judaism in a timeless and autonomous process of “er”- and “fortzeugen”, Christianity, for Rosenzweig, represents the “Stern”‘s outwardly radiating rays, which endlessly search “durch die lange Nacht der Zeiten”. 11 Reminiscent of his reliance on infinitesimal calculus in the book’s First Part, Rosenzweig turns to a mathematical metaphor to delineate the two types of eternity essential to both religions: “Ewiges Leben und ewiger Weg – das ist 9
Stéphane MOSÈS, The Angel of History. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Stanford 2009, 10-11.
10 Franz ROSENZWEIG, Stern der Erlösung, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und Sein Werk. Gesammelte Schriften, vol. 2, ed. Reinhold Mayer, Haag 1976, 10. See also Franz ROSENZWEIG, ‘Urzelle’ des Stern der Erlösung, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, vol. 3, eds. Reinhold and Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, 125-137, especially 126-127. 11 Rosenzweig, Stern 331 and 374.
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verschieden wie die Unendlichkeit eines Punkts und einer Linie. Die Unendlichkeit eines Punkts kann nur darin bestehen, daß er nie ausgewischt wird; so erhält er sich in der ewigen Selbsterhaltung des fortzeugenden Bluts. Die Unendlichkeit einer Linie aber hört auf, wenn es nicht mehr möglich wäre, sie zu verlängern; sie besteht in dieser Möglichkeit ungehemmter Verlängerung. Das Christentum als ewiger Weg muß sich immer weiter ausbreiten. Bloße Erhaltung seines Bestandes bedeutete ihm den Verzicht auf seine Ewigkeit und damit den Tod. Die Christenheit muß missionieren. […] Sie pflanzt sich fort, indem sie sich ausbreitet.”12 This passage invites two diverging interpretations, which the following analysis will explore. As indicated by the phrase “verschieden wie” in Rosenzweig’s mathematical metaphor, the first interpretation of Stern der Erlösung implies that, at least, the difference yet equality of Christianity and Judaism is based on their shared relationship to “Unendlichkeit”. According to Rosenzweig’s logic, Judaism’s “[e]wiges Leben” equates to the “Unendlichkeit eines Punktes”, an intensive, dimensionless, and non-expansive object that regenerates itself anew infinitely. The endlessness of Judaism’s “Leben” is akin to the inward infinity of what Hermann Cohen discusses as infinitesimal, “intensive” magnitudes, such as heat or color, which are fundamentally indivisible and thus differ from divisible, quantitative magnitudes, such as length. 13 In contrast, the endlessness of Christianity’s “ewiger Weg” extends in the spatial dimension of width and occupies space in order to propagate into, but theoretically never reach as such, infinity. In Rosenzweig’s metaphorical language, and as he knew from his experiences in 1913, the “sich immer weiter [A]usbreiten” of Christianity’s “Linie” potentially threatens the small physical and cognitive room of the inwardly-oriented, “ewig[e] Selbsterhaltung” of Judaism’s “Punkt.” 14 Whereas 12 Ibid. 379. 13 In his analysis of the Kantian “Antizipationen der Wahrnehmung”, Cohen interprets intensive qualities (i.e. magnitudes of degree) as the constitutive element of the continuum of reality, which is analogous to the continuity of consciousness. See Hermann COHEN, Prinzip der Infinitesimal-Methode und ihre Geschichte, in: Hermann Cohen, Werke, vol. 5, ed. Peter Schulthess, Hildesheim 1984, 12 and 14. Cf. Dana HOLLANDER’s discussion in Exemplarity and Chosenness, Stanford 2008, 3637. The concept of intensive magnitudes is also influential in the thinking of Rosenzweig’s contemporaries, such as Walter Benjamin. See, for instance, Paula SCHWEBEL, Intensive Infinities. Walter Benjamin’s Reception of Leibniz and its Sources, in: MLN. Walter Benjamin, Gershom Scholem and the Marburg School, 127/3 (April 2012), 589-610. 14 Rosenzweig, Stern 379.
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Christianity may dominate space in the real world, represented by the line’s expansion in pure geometric space in the mathematical metaphor, it is precisely as Rosenzweig pushes the concept of space to its conceptual limits, at infinity, that Christianity and Judaism’s equal purchase on eternity materializes. Due, however, to some of the more startling concepts, such as “Blut”, present in the passage above – and which one may note can be found in both Jewish and anti-Semitic discourses of the time – a bit more unpacking of Rosenzweig’s idea of “Unendlichkeit” is warranted. 15 Despite providing the commonality between Christianity and Judaism, how do space and eternity function and differ in Rosenzweig’s notions of “Leben” and “Weg”? For Rosenzweig, the spatial relationship between Judaism’s “Leben” and Christianity’s “Weg” hinges on their differing approaches to the structure of temporality, namely their modes of propagating for the future and bearing witness to the past. Rosenzweig explains: “Statt des fleischlichen Fortströmens des einen Bluts, das im gezeugten Enkel den Ahn [im Judentum] bezeugt, muß [im Christentum] die Ausgießung des Geistes in dem ununterbrochenen Wasserstrom der Taufe von einem zum andern weiterfließend die Gemeinschaft des Zeugnisses stiften.” 16 As several critics have recently argued, despite the problematic wording of phrases such as “des einen Bluts”, Rosenzweig employs a notion of Jewish “Blut” devoid of the virulent racialist, nationalistic “Blut und Boden” characteristics. 17 Instead, what Rosenzweig means is that Judaism’s relation to the future of the religion (“im gezeugten Enkel”) coincides with a remembrance of the past (“den Ahn bezeugt”), not just through a blood connection, but also through the cyclical liturgy of Jewish life. As past and future eternities thus enter into a lived present, Judaism resembles the intensive, 15 Given its proximity to mythic or racial notions of “Blut” and “Blutgemeinschaft”, Peter Gordon fittingly states: “The idea of the blood-community is perhaps one of the most troubling aspects of Rosenzweig’s philosophy.” Peter GORDON, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy, Berkeley 2003, 210. 16 Rosenzweig, Stern 379. For Rosenzweig’s theory of “christliche Zeitrechnung”, see 375-378. 17 See David BIALE, Blood and Belief. The Circulation of a Symbol between Jews and Christians, Berkeley 2007, 203. Cf. Peter GORDON, Franz Rosenzweig and the Philosophy of Jewish Existence, in: Michael Morgan/Peter Gordon (eds.), The Cambridge Companion to Modern Jewish Philosophy, Cambridge 2007, 122-146. The notion of “blood-community” is “a form of nomadic group-identification, a ‘selfrootedness’ that evokes the self-enclosed and circulatory structure of the Jewish liturgical calendar itself”, 136. After the diaspora and before 1948, the connection of “Blut” and “Boden” in Judaism would seem uncontroversial if not moot.
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inward infinity of a point. In comparison, because of the historical event of the arrival of Christ, Christianity’s present is disconnected from eternity; the Christian is stuck “noch immer unterwegs” between past (before Christ’s birth) and future (after the second coming). 18 Christians, for Rosenzweig, thus bear witness to the past not through inheritance, but expand and propagate (“weiterfließt”) by assimilating all others into “die Gemeinschaft des Zeugnisses” through the brotherly bond with Christ and other Christians forged in baptism. Eternity is thus the goal, and never a property, of the eternally extending Christian line. In Rosenzweig’s system, time, in particular eternity, thus determines the spatial features of religious belief and structures the abstract space they inhabit. As such, Rosenzweig can locate in the conceptual difference between the eternal “Leben” and “Weg” the critical moment that can make room for Judaism on the map of modern thought. As Christianity tries to convert individuals in the real world, and thus, for Rosenzweig, dominates real and historical space, Rosenzweig reverses the traditional accusation of Jewish stubbornness in recognizing the true messiah: he interprets the fact of Judaism’s continuing existence as an empirical argument against Christianity’s totalizing claim on truth. Precisely the inward Jewish infinite point proves the endless task of the infinite line extending “siegreich durch die Welt seinen Weg” and demarcates the existence of the irreducible, erasable “Platz” of Judaism’s life apart from, in contrast to, and, finally, in spite of Christianity.19 As he writes: “Dies Dasein des Juden zwingt dem Christentum in alle Zeit den Gedanken auf, daß es nicht bis ans Ziel, nicht zur Wahrheit kommt, sondern stets – auf dem Weg bleibt.”20 In other words, the enduring “Dasein” of Judaism not only secures its place on the roadmap to redemption, conditioned by and because of its relationship to eternity ensured by inheritance, but also retains its place, significance, and uniqueness vis-à-vis Christianity.21 Overlapping in their relationship to eternity, but differing in their approach to it, Rosenzweig finds in “Unendlichkeit” a way to circumvent a totalizing understanding of space dominated by Christianity to show, at the end of Stern der Erlösung, how both Christianity and Judaism are “Arbeiter am
18 Rosenzweig, Stern 376. 19 Ibid. 459. 20 Ibid. 459. 21 As a positive consequence of the interweaving of eternity and the present in Judaism, Rosenzweig also argues that Jewish life enjoys an unequalled intimacy (“Vertrautheit”) with God that the Christian only experiences through the medium of Christ (“nur duch den Sohn”), Stern 388.
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gleichen Werk” and share the “ganze Wahrheit”: “Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil.”22 To sum up, the first interpretation of the difference of Judaism and Christianity views their equality as a tradeoff based on their differing spatialities of belief. On the one hand, Stern der Erlösung acknowledges Christianity’s occupation of the physical space of the real world and the historical narrative over two millennia. To this standard conception of space and religious hegemony, Rosenzweig adds, on the other hand, the paradoxical dimension of the space of “Unendlichkeit”, in which the inward point of Judaism both upholds a link in real life to redemption and demonstrates the essential incompleteness of Christianity. The spatial conditions of belief thus function in Rosenzweig’s thinking not only in 1913 as the impetus to rethink his own relationship to religion, but also in Stern der Erlösung as the enduring justification and validation of Judaism’s share in redemption and truth in the modern world.
B EHIND R OSENZWEIG ’ S S PATIAL M ETAPHORS Yet Rosenzweig’s discussion of Christianity and Judaism’s relationship to eternity invites a second, slightly more nuanced, and certainly more polemic interpretation, focusing specifically on the mathematical language and spatial dynamics of the infinities of lines and points. If the argument for Christianity and Judaism’s equal purchase on redemption in the first interpretation levels the field of Rosenzweig and Rosenstock’s “unrestrained theological disputatio” almost a decade after its start, then Rosenzweig builds into his mathematical language a hidden, but for a friend and contemporary like Rosenstock easily decipherable, explication of the advantages of Judaism over Christianity.23 Stern der Erlösung may thus be conciliatory in many of its remarks of Judaism and Christianity, but when Rosenzweig compares “die Unendlichkeit eines Punkts und einer Linie”, he highlights, as Gordon claims, the “ontological priority” of Judaism. 24 While Rosenzweig’s argument for the theological advantages of Judaism has often been interpreted in temporal terms of modes of interacting with the past, present, and future, I believe we have overlooked how Stern der Erlösung’s spatial interpretation of religion also calls upon a complex hierarchy
22 Ibid. 462. 23 Mendes-Flohr, Forward x. 24 Gordon, Rosenzweig 207-210.
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of the mathematical-geometric concepts of points and lines, in order, with an air of scientificity, to reveal and prove Judaism’s implicit advantages. On the surface, Rosenzweig seems simply to compare the endlessness of Judaism’s “Punkt” and “Linie”, until we view it against the discourse surrounding such mathematical concepts in the sources informing Stern der Erlösung, most notably in the writings of Hermann Cohen.25 As has been well established in the secondary literature, Rosenzweig accredits Cohen with the discovery that mathematics is “das Organon des Denkens” in Stern der Erlösung’s Part One and borrows from Cohen’s “Logik des Ursprungs” to complete a philosophical creatio ex nihilo.26 In Rosenzweig’s comparison of a point and a line, however, we recognize another and often overlooked moment of Cohen’s influence in Stern der Erlösung from Logik der reinen Erkenntnis (1902). As Cohen elucidates the problems that led to the “discovery” of infinitesimal calculus, he provides a noteworthy interpretation of the generative (“erzeugen”) role of a tangent point in relationship to a curve: “Nur der Punkt kann der Tangente und der Kurve gemeinsam sein. Diese erzeugende Bedeutung des Punktes, in welcher die [Bedeutung] der Richtung besteht, ist unvereinbar mit der antiken Definition, nach welcher der Punkt die Grenze der Linie ist. Jetzt bedeutet der Punkt etwas anderes, etwas Positiveres. Er ist nicht mehr nur das Ende, sondern vielmehr der Anfang der Linie. Und er bedeutet einen Anfang, der weder ein willkürlicher, noch ein beliebiger ist, der etwa nur erst durch den Fortgang bestimmt würde.” 27 Cohen intends here to illustrate how the objects of pure knowledge are “generated” in a similar fashion to how the objects of scientific inquiry are generated from infinitesimal quantities in mathematics. But he also clearly provides another interpretative layer for us to rethink Rosenzweig’s metaphorical language comparing Judaism’s “Punkt” to Christianity’s “Linie”. 25 Regarding Cohen’s influence on Stern der Erlösung, see Pierfrancesco FIORATO/ Hartwig WIEDEBACH, Hermann Cohen im Stern der Erlösung, in: Martin Brasser (ed.), Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum “Stern der Erlösung“, Tübingen 2004, 305-356. Likewise, the line-point problem comes up in many of Rosenzweig’s other well-trusted sources, such as Hegel: “So ist also der Punkt nicht nur so Grenze der Linie, [...] [s]ondern im Punkte fängt die Linie auch an”; and “Von Linie, Fläche und ganzem Raum wird eine zweite Definition so gegeben, daß durch die Bewegung des Punktes die Linie, durch die Bewegung der Linie die Fläche entsteht usf.” G.W.F. HEGEL, Wissenschaft der Logik. Erster Teil, in: G.W.F. Hegel, Werke, vol. 5, Frankfurt 1969, 138. 26 Rosenzweig, Stern 23. 27 Hermann COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, in: Hermann Cohen, Werke, ed. Helmut Holzhey, Hildesheim 1977, 129.
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In particular, to render the elements of geometry dynamic and creative, Cohen dispenses with a spatial hierarchy that privileges the line over the point. As in the passage above, he calls into question the classical definition of points and lines, according to which the termini of a line are two points: “der Punkt” is “die Grenze der Linie.” The Greek mathematician Euclid, often referred to as the “father of geometry”, defined the basic concepts of idealized geometric space similarly: “a point is that which has no part”, a “line is a breadthless length”, and “the ends of a line are points.” 28 Redefining the point as “Anfang” and not “Ende” of the line allows Cohen to construct mathematical objects (such as basic spatial concepts like the one-dimensional line, the two-dimensional plane and so forth) out of an infinitesimal quantity (the dimensionless point). For Rosenzweig, Cohen’s reversal inverts the traditional hierarchy of geometric elements: the point (and hence Judaism) is not simply a subsidiary concept positively defined only in its relationship to the line (Christianity), but rather Judaism’s point, and its relationship to eternity and infinity provides the necessary initial conditions for Christianity’s existence as a whole. Beyond just reorienting the point in relation to the line, Cohen also ascribes a markedly positive and active philosophical valence to the concept of the point. Rather than being defined in terms of privation (lack of parts), Cohen instead elects a definition of the point closer to, for instance, Newton’s concept of a point as an indivisible and instantaneous current of movement. In a similar vocabulary to the passage from Cohen cited above, a 1908 translation of Newton’s De Quadratura Curvarum (1704) owned by Rosenzweig explains “Linien werden beschrieben und im Beschreiben erzeugt nicht durch Aneinandersetzung von Teilen, sondern durch stetige Bewegung von Punkten.”29 For Cohen as for Newton, the point is defined not in terms of lack, nor as the limit of another concept. Rather, a line is defined as the wake drawn out in space by the eternal motion of the point. Centered around the term “erzeugen”, the point represents the “creator” of the line. Particularly important for Rosenzweig is the epistemological valuation Cohen ascribes to the elements: the positive point generates (“erzeugt”) not only the line, but also the mathematical-scientific objects that populate, for Cohen, the reality of pure knowledge. A point that draws out a line also overturns, according to Rosenzweig’s logic, the traditional reproach that Christianity supersedes Judaism and instead implies that Judaism 28 EUCLID, The Elements, in: Ivor Thomas (ed.), Selections Illustrating the History of Greek Mathematics, vol. 1, Cambridge 1939, 437-505, here 437. 29 Isaac NEWTON, Abhandlung über die Quadratur der Kurven, ed. and trans. Gerhard Kowalewski, Leipzig 1908, 3. Cf. “Rosenzweigs Bibliothek” cited in Franz ROSENZWEIG, Hegel und der Staat, ed. Frank Lachmann, Berlin 2011, 545.
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helps “generate” Christianity and is vital to its continuation (“stetige Bewegung von Punkten”). Even such terms as “erzeugen”, “etwas Positiveres”, “Bewegung” and “Fortgang” serve in Cohen’s philosophical language as markers of progress and ultimately modernity itself. Finally, Cohen introduces for Rosenzweig’s mathematical metaphor a historical element, which further advocates for the religious advantages of Judaism. Since the debate over the definition of the most basic geometric concepts such as points and lines dates back to antiquity, as in Euclid, Cohen consciously breaks “mit der antiken Definition” of points and lines and sets a clear marker between antiquity (“nicht mehr”) and modernity (“jetzt”). 30 As such, the system of interpretation in which Judaism’s point is subordinate to Christianity’s line is not only labeled as old and outdated, but the inverse system is designated as specifically modern and scientific. Likewise, and in a broader sense, the parallel reinvention of religious and philosophical thought for modernity is exactly the project that Stern der Erlösung and Rosenzweig’s “neues Denken” understands itself to undertake. In Cohen’s interpretation of space and its objects, Rosenzweig has a second option to create and code the spatiality of belief, specifically an interpretation that can underscore Judaism’s theological advantages. While I do not wish to argue about the necessity of a connection between Rosenzweig and Cohen, Cohen’s valuation of mathematical concepts helps makes sense of the ways in which Rosenzweig restructures cognitive space. The inwardly oriented point of Judaism no longer exists as a space-less entity characterized by privation, by its lack of a worldly Messiah or a national homeland. Nor is Judaism simply the limiting and marginal characteristic of the endlessly extending line of the Christian world. Rather, according to the spatiality of belief that Rosenzweig employs via this mathematical-geometric metaphor, Judaism’s “innere Einheit” and “engst[e] Enge”, as represented by the eternal point, functions in a generative role, in comparison to Christianity’s line, and a self-generative role, in its own propagation. Hence, not only is Christianity’s line unthinkable without Judaism’s point, but also the spatial and religious point and line endure through the unfolding of time in a reciprocal and unbreakable relationship. However constricted and introverted it may be, Judaism’s “Platz” is ensured and, in Rosenzweig’s system, proved with seeming mathematical certainty. Paradoxically then, abstract and space-less objects such as the structure of time, infinite points, and infinite lines serve as the structural, metaphorical tools that help envision, determine, and demarcate the cognitive landscape of religion in Rosenzweig’s vision of modernity. Indeed, mathematics serves Rosenzweig as “ein Organon 30 Cohen, Logik 129.
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des Denkens” if not as an “Organon” for creating and ordering the space that thought inhabits.31 Stern der Erlösung suggests that even non-spatial, cognitive things nonetheless engage, or can be thought of as engaging in, dynamic spatial relations. For Rosenzweig, idealized, geometric space thus provides the critical moment to rethink the hierarchy and hegemony of space and its relationship to time in the real world.
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Rosenzweig’s struggle for Judaism’s “Platz” described above is based on a conception of an intellectual realm in individuals and society, which correlates to the physical world but which is populated by ideas, such as religion or ideology, and socially delineated by abstract concepts, such as truth and revelation. Rosenzweig’s metaphor of the spatiality of belief, however, differs from methodological “mental maps”, which augment our physical representation of space with symbolically and subjectively charged reference points. Instead, the spatiality of belief works, as Rosenzweig proposes above, in the opposite direction: as the mapping of intellectual, religious, philosophical or cultural discourses onto a metaphorical space, which itself is coded, structured, and ordered by the historical and contemporary individual agents within these same discourses. In a certain sense then, Rosenzweig’s metaphor functions as a modernist version of Jameson’s “cognitive mapping”, in which Stern der Erlösung maps the absolute space of religious ideologies, not to orient the individual amidst the sociological or cultural conditions of his or her life, but to expose his or her active stake in religions’ partial claims to truth and eternity. Similar to the discussion of space in the literature discussing the “spatial turn”, the spatiality of belief is codified along the lines of an intellectual-ethical discourse underpinned by the negotiation of, among others, religious, philosophical, or aesthetic structures and hierarchies of truths and religious convictions. The spatiality of belief also relates to and exerts influence over our intellectual decisions in the realm of lived experience, such as, for Rosenzweig, religious conversion, the production and publication of knowledge, and personal and intellectual friendships. Furthermore, examining belief as a spatial concept helps us grasp how we shape, mark, and read the physical spaces that are the sites of intellectual activity and exchange, as is especially evident in the cliché images of cafes or salons of the modern Großstadt. Indeed, the determination of the
31 Rosenzweig, Stern 23.
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legitimate spaces and places of belief and non-belief – continually destabilized by the advancement of technology, the First World War, and the crisis of historicism – underpins many of the writings as well as the both affable and antagonistic interactions between key figures in the Weimar era, such as Rosenzweig, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor Adorno. Yet Rosenzweig proposes in Stern der Erlösung another thesis on the ways the idealized space of belief relates to, and is externalized in, the real world. This fundamental reorganization of the spatiality of belief in modernity, which he dubs “Das neue Denken”, is not simply the assertion and reaffirmation of religious and cultural identity in a complex and chaotic epoch. Rather, Rosenzweig seeks to create a map of belief structured around a philosophical-theological understanding of truth, in which “Gott” is the eternal “Wahrheit” and in which Jewish “Leben” and Christian “Weg” are distinct and necessary protagonists. As Rosenzweig writes to Siegfried Kracauer in 1923, God’s absolute truth, which for Rosenzweig shapes the space of modern belief, depends not on proof, but rather on corroboration: “Also logisch gesprochen (neulogisch): nicht auf den Beweis, sondern auf die Bewährung.” 32 The truths disputed and won an idealized discussion of the space of belief above are externalized and objectivized in the real world no longer through the old, static, a priori methods of proof as employed by formal logic. Now, for Rosenzweig, cognitive space is dynamically verified as true in so far as it is upheld (“bewährt”) piece by piece by and in lived experience. Ultimately, Rosenzweig’s usage of the spatiality of belief intervenes into modernist religious and philosophical discourse during the Weimar Republic – through both Stern der Erlösung as well as his pedagogical work at the Freies Jüdisches Lehrhaus in Frankfurt – as well as reflects an attempt to translate and employ the spatial properties of thought to justify and uphold the validity of religious life. Rosenzweig’s Stern der Erlösung offers a nuanced way of conceiving of how abstract concepts like religion occupy space beyond their physical manifestations. For reanimated discussions of the status of spatiality, Rosenzweig’s philosophy contributes the metaphorical framework of the spatiality of belief as an analytic tool, which visualizes how intellectual discourses are legitimized and how they can be externalized within a landscape of modern thought, disoriented by wars, 32 Stephanie BAUMANN, Drei Briefe. Franz Rosenzweig an Siegfried Kracauer, in Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 63/2 (2011), 168-176, here 175. For an in-depth discussion of “Bewährung” in Rosenzweig’s thinking, see Martin KAVKA, Veri¿cation (Bewährung) in Franz Rosenzweig, in: Christian Wiese/ Martina Urban (eds.), German-Jewish Thought between Religion and Politics. Festschrift in Honor of Paul Mendes-Flohr, Berlin 2012, 167-184.
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technology and secularization. In the end, it may seem like a contradiction to talk about the spatiality of objects that, in and of themselves, occupy no space at all. Still, envisioning the spatiality of belief affords us a significant metaphor for understanding the ways in which intellectual debates, programs, and institutions function and relate to lived experience. In a world and a profession where space and resources are what are at stake in the first decades of the twenty-first century, it seems that “Platz” in the ideal landscape of belief is increasingly what we are all fighting for.
R EFERENCES Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2010. Stephanie BAUMANN, Drei Briefe. Franz Rosenzweig an Siegfried Kracauer, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 63/2 (2011), 166-176. David BIALE, Blood and Belief. The Circulation of a Symbol between Jews and Christians, Berkeley 2007. Hermann COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, in: Hermann Cohen, Werke, ed. Helmut Holzhey, Hildesheim 1977. Hermann COHEN, Prinzip der Infinitesimal-Methode und ihre Geschichte, in: Hermann Cohen, Werke, vol. 5, ed. Peter Schulthess, Hildesheim 1984. EUCLID, The Elements, in: Ivor Thomas (ed.), Selections Illustrating the History of Greek Mathematics, vol. 1, Cambridge 1939, 437-505. Pierfrancesco FIORATO/Hartwig WIEDEBACH, Hermann Cohen im Stern der Erlösung, in: Martin Brasser (ed.), Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum “Stern der Erlösung”, Tübingen 2004, 305-356. Nahum N. GLATZER, Franz Rosenzweig. His Life and Thought, New York 1961. Robert GIBBS, Correlations in Rosenzweig and Levinas, Princeton 1992. Peter GORDON, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy, Berkeley 2003. G.W.F. HEGEL, Wissenschaft der Logik. Erster Teil, in G.W.F. Hegel, Werke, vol. 5, Frankfurt 1969. Dana HOLLANDER, Exemplarity and Chosenness. Rosenzweig and Derrida on the Nation of Philosophy, Stanford 2008. Fredric JAMESON, Postmodernism. Or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991.
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Martin KAVKA, Veri¿cation (Bewährung) in Franz Rosenzweig, in: Christian Wiese/Martina Urban (eds.), German-Jewish Thought between Religion and Politics. Festschrift in Honor of Paul Mendes-Flohr, Berlin 2012, 167-184. Paul MENDES-FLOHR, Forward, in: Eugen Rosenstock-Huessy, Judaism despite Christianity. The 1916 Wartime Correspondence between Eugen Rosenstock-Huessy & Franz Rosenzweig, Chicago 2011, vi-xii. Stéphane MOSÈS, The Angel of History. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Stanford 2009. Isaac NEWTON, Abhandlung über die Quadratur der Kurven, ed. and trans. Gerhard Kowalewski, Leipzig 1908. Benjamin POLLOCK, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy, Cambridge 2009. Benjamin POLLOCK, On the Road to Marcionism. Franz Rosenzweig’s Early Theology, in: Jewish Quarterly Review, 102/2 (2012), 224-255. Franz ROSENZWEIG, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, vol. 1/I, eds. Rachel Rosenzweig and Edith Rosenzweig-Scheinmann, Haag 1979. Franz ROSENZWEIG, Stern der Erlösung, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und Sein Werk. Gesammelte Schriften, vol. 2, ed. Reinhold Mayer, Haag 1976. Franz ROSENZWEIG, ‘Urzelle’ des Stern der Erlösung, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, vol. 3, eds. Reinhold and Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, 125-137. Franz ROSENZWEIG, Hegel und der Staat, ed. Frank Lachmann, Berlin 2011. Paula SCHWEBEL, Intensive Infinities. Walter Benjamin’s Reception of Leibniz and its Sources, in: MLN. Walter Benjamin, Gershom Scholem and the Marburg School, 127/3 (2012), 589-610.
Raumprojektion – Projektionsraum Bemerkungen zur Konstituierung eines doppelten Raumes „Schweiz“ F LORIAN S CHMITZ (B ERN )
I. Der Mensch sucht sein Glück stets in der Ferne – vor allem seit Beginn der „Moderne“ um 1900 und dem Einsetzen des modernen Massentourismus. Unbekannte Räume versprechen, je nach Erwartungs- und Erfahrungshorizont, Erholung, Bildung oder – in übersteigerter Form – Erlösung. Die Erfüllung dieser Hoffnungen lässt sich erstaunlicher Weise zumeist geographisch fixieren;1 versprochen wird – paradox genug – die Ankunft in Utopia. Gleichsam einer Projektion wird der jeweiligen Raumerfahrung ihre Deutung vorgeschaltet. Deren Verortung bleibt dabei freilich Konjunkturen unterworfen, variiert der Sozialisation entsprechend, und bei der prinzipiellen Erreichbarkeit eines jeden Raumes muss man von einer Unzahl solcher Projektionsräume ausgehen. Raumprojektionen funktionieren allerdings auch jenseits der Auswahl des nächsten Urlaubszieles; ähnlich wie Utopien versprechen sie gesellschaftliche Idealzustände, der Verweis auf einen existierenden Raum verleiht Raumprojektionen jedoch eine höhere Autorität. Sie sind nicht einfach mit dem Hinweis auf ihren utopischen Charakter von der Hand zu weisen, denn schließlich scheinen sie dem Betrachter doch in der Lebenswelt verwirklicht. Solchen Raumprojektionen kommen in der Selbstreflexion einer Gesellschaft somit erstens ein bedeutender Appellcharakter sowie zweitens eine nicht zu unterschätzende kompensatorische Funktion zu. Denn das scheinbar reale Ideal ist nicht nur mahnende Verpflich1
Zur Touristifizierung von Räumen s. Karlheinz WÖHLER, Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden 2001, insbs. 13–19.
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tung in einer gesellschaftlichen Grundsatzdiskussion, der Mechanismus der kulturellen Projektion erlaubt auch die Auslagerung gesellschaftlicher Wunschvorstellungen in das Fremde. Zugleich erweisen sich die Fremdzuschreibungen für den Projektionsraum als durchaus verbindlich; sie werden integriert in die eigene Selbstbeschreibung und sind damit Bestandteil eines Identitätsfindungsprozesses. Räume, das sei für die Ebene der Analyse zunächst einmal festgehalten, sind keine natürlich gegebene Tatsache; schließlich besitzt der Raum – so hat es schon Ernst Cassirer formuliert – keine „[…] ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht.“ 2 Räume, sind stets Ergebnis eines kulturellen Aushandlungsprozesses, ein Resultat sozialer Konstruktion und medialer Spiegelung. „Raum und Zeit“, so nochmals Ernst Cassirer, „sind keine Substanzen, sondern ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.“3 Räume präsentieren sich also als räumlich gedeutete soziale Strukturen – so bemerkt Georg Simmel, ein anderer jener Gewährleute aus der Wissenschaftskultur der Moderne vor 1933, deren Erbe erst in Theorieentwürfen der jüngsten Zeit wieder aufgenommen wird.4 Als ein Ergebnis sozialer Beziehungen werden Räume in einem kulturel2
Ernst CASSIRER, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum [1931], in: Ders., Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, 411–432, hier 419.
3
Ebd., 415.
4
Georg SIMMEL, Soziologie des Raumes, in: Ders., Schriften zur Soziologie, Frankfurt a. M. 1983, 221–242, insbs. 226–231; Zur jüngeren Forschung vergleiche aus der Soziologie vor allem Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2012; Überhaupt wird nun schon seit einiger Zeit in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen die Hinwendung zum Raum als Untersuchungsgegenstand unter dem Label spatial turn propagiert. Zum Überblick sei auf Doris BACHMANN-MEDICK, Spatial Turn, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2009, 284–328 verwiesen. Für die Geschichtswissenschaft hat sich Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M. 2011, 9–78 als wichtiger Impulsgeber herausgestellt. Aus der Vielzahl der Sammelbände zum spatial turn soll auf zwei Bände hingewiesen werden: Moritz CSACKY/Christoph LEITGEB, Kommunikation, Gedächtnis, Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, Bielefeld 2009 und Petra ERNST/Alexandra STROHMAIER, Raum. Konzepte in den Künsten, Kultur und Naturwissenschaften, Baden-Baden 2013. Wichtige Anregungen finden sich auch bei Walter SCHMITZ,
R AUMPROJEKTION – P ROJEKTIONSRAUM
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len Aushandlungsprozess stets neu geschrieben und überschrieben. Insofern gleichen Räumen Palimpsesten kultureller Schichtungen. Dieser Prozess wird freilich nicht nur innerhalb der Räume, als Teil einer Identitätsbildung,5 sondern eben auch durch Projektion von außen vorangetrieben und gestaltet. Die Schweiz ist bis heute ein solcher Projektionsraum und weiß sich auch als solcher zu inszenieren – denn jene Projektionen, die sich in der Sattelzeit formieren, verfestigen sich als Stereotyp und bilden seither den Rahmen für folgende Entwicklungen.6 Als vorbildlich gelten fortan nicht nur politisches System und Wirtschaftsleistung, noch viel grundsätzlicher scheint das Alpenland eine ideale gesellschaftliche Balance gefunden zu haben. 7 Daher ist es wohl nicht weiter verwunderlich, wie oft die Schweiz, und zwar in ihrer projizierten Form, als Modell in gesellschaftspolitischen Reformanstrengungen herangezogen wird. 8 Die Grundlagen dieses so stabilen Projektionsraumes und die Mechanismen der Projektion sollen Gegenstand dieses Aufsatzes sein: Angesichts der Herausforderungen einer zunehmend funktional organisierten Gesellschaft avanciert die damalige Eidgenossenschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Sehnsuchtsort „Gedachte Ordnung“ – „erlebte Ordnung“. Region als Sinnraum. Thesen und mitteleuropäische Beispiele, in: Gertrude Cepl-Kaufman/Georg Mölich (Hg.), Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Kulturelle Raumprägungen der Moderne, Essen 2010, sowie künftig Ders., Die Zeichen der Heimat. Zur Semiotik eines wandelbaren Konzeptes, in: Joachim Klose (Hg.): Heimatschichten, Wiesbaden 2014 i. V. 5
Zum Zusammenhang von „Raum“ und „Identität“ vgl. Andreas POTT, Identität und Raum. Perspektiven nach dem Cultural Turn, in: Christian Berndt/Robert Pütz, Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007, 27–52.
6
Zu der Stereotypenbildung um 1800 vgl. den Forschungsüberblick Ruth FLORACK, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart 2001, 1–48.
7
Vgl. exemplarisch aus politologischer Perspektive Hanspeter KRIESI, The Politics of Switzerland. Continuity and Change in a Consensus Democracy, Cambridge 2008, 1-17.
8
Zuletzt wurde die Schweiz beispielsweise immer wieder als Modell für ein vereintes Europa in die Diskussion gebracht. Je nach Verortung im politischen Spektrum erscheint der Vergleich als Chance und Anregung zur Verbesserung oder aber als desaströses Zeugnis für die gegenwärtige Gestalt der Europäischen Union. Vgl. auch Florian SCHMITZ, Stronghold Switzerland? National Identity in Flux, 1914 to present: From an Obstacle to an Integrative Factor?, unveröffentlichte Masterarbeit, K.U. Leuven 2011.
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der europäischen Intellektuellen und wird zu einem Raum vielfältiger Projektionen. Während der erste Teil des Aufsatzes auf das Wechselspiel von Normalisierung und überschießender Symbolisierung des Raumes in der Sattelzeit um 1800 hinweist, fragt ein zweiter Abschnitt nach den Voraussetzungen des Projektionsraumes „Schweiz“. Denn zunächst einmal scheint die politische Heterogenität der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft nur schwer mit den schwärmerischen Urteilen der Schweiz-Reisenden des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Einklang gebracht werden zu können. Tatsächlich sind es gerade auch die Folgen der territorialen Zersplitterung und die Unzufriedenheit angesichts der Persistenz überkommener Machtstrukturen, die zahlreiche Versuche einer kulturellen Überwindung der politischen Verhältnisse anregen; dieser Prozess ist Gegenstand eines dritten Teils. Bietet sich – befördert durch ein verändertes Naturverständnis – zunächst die Landschaft als kontrastierende Projektionsfläche zur realen Lebenswelt an, geraten Mitte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr die Mythen der alten Eidgenossenschaft in den Blick. In der Zusammenschau erschließt sich die Schweiz den ausländischen Rezipienten als ein homogener Raum ästhetischer Schönheit und zeitlicher Tiefe – und steht damit wiederum in Kontrast zur realen Lebenswelt des europäischen Bürgertums. Ein vierter Teil schließlich skizziert, wie der Projektionsraum einerseits von der ausländischen Rezeption angenommen wird und wie die Schweiz sich andererseits zunehmend verpflichtet, dieser Projektion zu entsprechen.
II. Für die Ausformung des Projektionsraumes Schweiz lassen sich wohl zwei gewichtige Vorrausetzungen ausmachen. Erstens ein sich wandelndes Raumverständnis und zweitens eine veränderte Wahrnehmung von Natur und Landschaft. Während die mathematisch-statistische und kartographische Erfassung als Voraussetzung der politischen Ordnung des Raumes im 18. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt erreicht, verlegen sich (Geistes-)Wissenschaft und Kultur in der Sattelzeit verstärkt auf die sinnhafte Deutung von Räumen; im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts konvergieren beide Entwicklungen, denn im Konzept der Nation finden sich Herrschafts- und Sinnraum vereint. Zunächst setzt sich allmählich ein verändertes Verständnis des Raumes durch. Der politische Raum wird nun zunehmend als geographisch fest umrissen und funktional homogen wahrgenommen. Dieser Wahrnehmungswandel führt zu einem gesteigertem herrschaftlichen Zugriff des Staates – auch im Sinne einer
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quantitativen Erfassung – auf den Raum.9 Während auf der einen Seite also die Normierung des politischen Raumes weitergetrieben wird, korreliert diese Entwicklung auf der anderen Seite mit der sinnhaften Ordnung des Raumes. Zunehmend lassen sich derartige Vorgänge ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert feststellen: Topographische Gegebenheiten werden nun sozial wie ästhetisch neu gedeutet und dergestalt Einheimischen, aber gerade auch Besuchern, als Versatzstück einer sich bildenden Identität präsentiert. Wenn nicht gar hervorgerufen, so doch wenigstens begleitet, war diese sozialkonstruktivistische Schaffung von Sinnräumen von der verstärkten bürgerlichen Reisetätigkeit des 18. Jahrhunderts. Waren Bildungsreisen noch im 17. Jahrhundert vor allem Privileg und Teil eines Erziehungskonzeptes des Adels,10 wurden sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts von bürgerlicher Seite adaptiert. Es entfaltete sich nicht nur eine rege Reisetätigkeit, sondern das Erzählen über das Reisen – auch das eine Weiterentwicklung des adeligen Vorbilds – bewirkte den Durchbruch des literarischen Genres „Reisebericht“.11 Einerseits ergab sich also verstärkt die Möglichkeit „fremde“ und „andere“ Räume zu bereisen, andererseits konnte das daheim 9
Vgl. dazu Lars BEHRISCH, Vermessen, Zählen, Berechnen des Raums im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2006, 7, 16, 22.
10 Zur sogenannten grand tour vgl. den Sammelband Joseph IMORDE u.a. (Hg.), Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, Tübingen 2008; ohne Anmerkungsapparat, aber lesenswert Thomas FRELLER, Adelige auf Tour. Die Erfindung der Bildungsreise, Ostfildern 2007. 11 Wie so viele Forschungsfelder ist mittlerweile auch das der „Reiseliteratur“ kaum noch zu überblicken, es kann hier nur auf wenige ausgewählte Publikation hingewiesen werden: Carl THOMPSON, Travel Writing, London 2011; Michael MAURER (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin, 1999; Uli KUTTER, Reisen – Reisehandbücher – Wissenschaft. Materialien zur Reisekultur im 18. Jahrhundert, Neuried 1996; Zur Reiseliteratur über den eidgenössischen Raum sei auf die gründliche Arbeit Uwe Hentschels hingewiesen, auf die im Folgenden immer wieder zurückgegriffen wird: Uwe HENTSCHEL, Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700–1850, Tübingen 2002. Einen umfassenden Überblick über die Schweiz-Reisenden bietet die Edition von Claude REICHLER/Roland RUFFIEUX, Le voyage en Suisse. Anthologie des voyageurs français et européens de la Renaissance au XXe siècle, Paris 1998. Siehe auch Günter OESTERLE, Die Schweiz. Mythos und Kritik. Deutsche Reisebeschreibungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Hellmut Thomke/Martin Bircher/Wolfgang Proß, Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830, Amsterdam/Atlanta, GA 1994, 79–100.
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gebliebene Publikum an der medialen Verarbeitung des Erlebten partizipieren. Freilich, Reisebeschreibungen liefern keine Tatsachenberichte über die bereisten Räume, sondern inszenieren sie; dabei folgt der Autor seiner eigenen Intention, aber auch den Vorgaben des Genres, den Wünschen der Leser und schließlich den Bedingungen des Buchmarktes.12 So wird die Normierung und Normalisierung fremder Räume vorangetrieben, auf diese werden aber im gleichen Zug auch Bedeutungen des „Anderen“ projiziert; dabei handelt es sich freilich auch um Spielarten des „Eigenen“.13 Reisebeschreibungen beinhalten eben nicht nur „implizit die kulturelle Selbstdarstellung der Ausgangskultur [...] [und ihrer] kulturelle[n] Selbstverständlichkeiten“14, sie folgen darüber hinaus auch oft genug einem spezifischen Programm: „Indem sie beschrieben, was sie sahen, stellten sie auch dar, wie sie es sahen.“15 Auf diese Art entstehen Räume, die zu bereisen und zu verorten sind, die es wirklich gibt – sie sind keine Utopien – die aber dergestalt mit Hoffnungen und Wünschen aufgeladen sind, dass sie schwerlich als Abbilder einer ganz gleich wie gearteten „Realität“ gelten können. Zugespitzt formuliert erhalten Utopien in der Vorstellungswelt des ausgehenden 18. Jahrhunderts Räume zugewiesen16 – Projektionsräume.17 12 Vgl. Wolfgang GRIEP, In das Land der Garamanten oder: Die Macht der Texte, in: Philip Bracher/Florian Hertweck/Stefan Schröder (Hg.), Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, Münster 2006, 25–64, hier: 36–37, 42, 50, 55– 56. 13 Vgl. Schmitz, Regionen als Sinnraum 23. 14 Karin HLAVIN-SCHULZE, „Man reist ja nicht um anzukommen“. Reisen als kulturelle Praxis, Frankfurt a. M./New York 1998, 11. 15 Ebd. 16 Auch wenn der Fokus im Folgenden auf dem Projektionsraum „Schweiz“ liegt, sei wenigstens an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass zur gleichen Zeit mit anderen Räumen ganz ähnlich verfahren wird. Man denke an die zahlreichen Regionen, die mit dem Zusatz „Schweiz“ versehen werden, durchaus mit dem Anspruch dem Vorbild ebenbürtig zu sein. Vgl. dazu Irmfried SIEDENTOP, Die Schweizen – eine fremdenverkehrsgeographische Dokumentation, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 28/2 (1984), S. 126-130. Ein anderes Beispiel für einen Projektionsraum wäre Kroatien: Mirna ZEMAN, Reise zu den „Illyriern“. Kroatien-Stereotype in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik (1740–1809), München 2013. 17 Michel Foucault sprach in einem kurzen Essay einmal von den Heterotopien, von den Gegenräumen, die sich eine jede Gesellschaft schafft. Heterotopien sind für ihn jene Räume, die „alle anderen Räume in Frage [stellen], [...] indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen
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Als zweite wichtige Voraussetzung erscheint in diesem Zusammenhang ein verändertes Naturverständnis – die Entdeckung der Schönheit der Natur, vor allem der Alpen –, das es erlaubt eine Gegenwelt zu schaffen, in der allgegenwärtige Unzulänglichkeiten der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft kompensiert werden können. 18 Gerade jene gefährlichen Grenzregionen der menschlichen Lebenswelt – Gebirge, Meer, Küste – können am Ende dieser Entwicklung des 18. Jahrhunderts als schön empfunden werden. 19 Denn angesichts der zunehmenden Fragmentierung des Alltags und der politischen Umwälzungen um die Jahrhundertwende erscheint die Welt das Naturerlebnis noch in ihrer Ganzheit erfahrbar zu sein. Beschreiben lässt sich dieser Vorgang wohl mit Joachim Ritter als Ästhetisierung der Landschaft.20 Dies gilt allemal für die schweizerische Alpenlandschaft, deren kulturelle Umdeutung spätestens seit den 1730er Jahren vorangetrieben wird. Für die Formulierung des Projektionsraumes Schweiz ist dies von entscheidender Bedeutung: Erstens erlaubt die Schönheit der Landschaft die Unzulänglichkeiten der eigenen Lebenswelt zu kompensieren und zu kritisieren. Zweitens wird die Vollkommenheit der Natur auch von außen auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Eidgenossenschaft übertragen und suggeriert damit eben nicht zuletzt die Homogenität der Herrschaftstopographie. Die Eidgenossenschaft und eben auch Bern werden im ausgehenden 18. Jahrhundert in den Beschreibungen der Reisenden nun als homo-
anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.“ Foucault nutzt hier die Worte „Ort“ und „Raum“ synonym, hat aber letztlich eher institutionalisierte Orte, die sich den Regeln einer Gesellschaft entziehen, im Sinn. Als Beispiele werden Freudenhäuser, Kasernen, Gefängnisse und heilige Orte genannt, aber auch – und da liegen die Heterotopien nahe bei der hier präsentierten Idee der Projektionsräume – die Kolonien des 18. und 19. Jahrhunderts. Siehe Michel FOUCAULT, Die Heterotopien, in: Ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, 7–22, insbes. 19–20. Auch: Michel FOUCAULT, Andere Räume, in: Martin Went (Hg.), StadtRäume, Frankfurt a. M./New York 1991, 65–72. 18 Vgl. dazu die Beiträge in Götz GROßKLAUS/Ernst OLDENMEYER, Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983. 19 Zur Entdeckung der Alpen siehe Kap. IV dieses Aufsatzes. Zur kulturellen Umdeutung des Meeres vgl. grundlegend Alain CORBIN, Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840, Berlin 1990. 20 Joachim RITTER, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, 141–163.
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gener Raum präsentiert; 21 die Heterogenität der politischen Verhältnisse wird aufgehoben in einer ästhetisierten – idyllischen und erhabenen – Landschaft.
III. Seitdem sich also die Mechanismen der kulturellen Projektion im 18. Jahrhundert allmählich einspielen, wird die Schweiz zu einem der beliebtesten europäischen Projektionsräume. Selbstverständlich ist dies keineswegs, begegnete man dem eidgenössischen Raum noch um die Wende zum 18. Jahrhundert mit einer gewissen Reserviertheit. Die Schweiz war zunächst einmal Transitland, das durchquert werden musste, um nach Italien zu gelangen. Die Überquerung der Alpen war gefährlich und gefürchtet, und ein längerer Aufenthalt in den Orten der Eidgenossenschaft schien wenig attraktiv, vermisste man dort doch beispielsweise die Annehmlichkeiten höfischer Kultur. Abgesehen davon wusste man nur sehr wenig von der Schweiz.22 Im Spiegel der Aufklärung avancierte die Eidgenossenschaft dann zu einem homogenen Raum, der sich durch die Schönheit seiner Landschaft, die Tiefe seiner Geschichte und seine gesellschaftliche Andersartigkeit auszeichnete und so scheinbar aus der europäischen Staatenwelt herausgehoben war; dies sind die Fixpunkte der Projektion, die in der Wahrnehmung oft genug ineinander verschränkt sind. 1803 finden sich die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kolportierten Topoi und die damit einhergehende Erwartungshaltung der Reisenden in dem Bericht des Pädagogen Johann Torlitz anschaulich gebündelt: „Nicht allein dem Lande, sondern auch den Bewohnern desselben eilte ich erwartungsvoll entgegen. Ich stellte es mir äusserst
21 So bei Friedrich von SCHLEGEL, Sämmtliche Werke, Bd. 6, Wien 1846, 220: „Bern ist wohl eine schöne Stadt [...] Manche Städte sind schön gelegen, in vielen findet man einzelne herrliche Gebäude, aber dicht daneben dann auch ganz schlechte; [...] In Bern aber ist Alles aus Einem Stück, das Ganze durchaus in Einem Sinn gebaut.“ 22 Der englische Gesandte Abraham Stanyan leitet seine Beschreibung der Schweiz Anfang des Jahrhunderts noch mit der folgenden Feststellung ein: „I have often wondered, that a country situated almost in the middle of Europe, as Switzerland is, should be so little known, that not only the generality of people have scarce any idea of it, but that even some men bred up to foreign affairs, hardly know the name of the several Cantons, or of what religion they are.” Abraham STANYAN, An Account of Switzerland. Written in the Year 1714, London 1714, III. Zum Kenntnisstand über die Schweiz s. auch Jacek WOZNIAKOWSKI, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1987, 218.
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interessant und merkwürdig vor, mit einem Volke, dessen häusliche und ökonomische Existenz, dessen bürgerliche und politische Verfassungsart, dessen körperlicher Zustand, Beschäftigungen und Bedürfnisse, nach Beschaffenheit der Lage und des Klimas, dessen Sprache und Religion so unendlich verschiedene Variationen darbieten, bekannt zu werden. Ich brannte vor Begierde, ein Volk zu sehen, von dem die Geschichte sagt, daß es sich ausgezeichnet durch Vorliebe für die Sitten und Gewohnheiten seiner ehrwürdigen Vorväter, durch Worthalten ohne Eid, durch Treue, auch in fremden Solde, durch eine Vaterlands- und Lokalliebe ohne Beyspiel, durch Abscheu vor Knechtschaft, Wollust, Üppigkeit und Modesucht.“23 Das hier gezeichnete Bild entwirft wie selbstverständlich eine „Schweiz“ und insbesondere ein „Schweizervolk“, das in der Vielfalt eine Einheit bildet. Den sozialen, politischen und rechtlichen Ordnungen des heterogenen Territoriums entspricht dieser Eindruck keineswegs. Tatsächlich kann von „der Schweiz“ als homogenem Raum – sieht man einmal vom erzwungenen Intermezzo der Helvetik ab – erst mit der Gründung des Bundesstaates 1848 gesprochen werden – und auch dann nur unter Vorbehalt. Gerade im 18. Jahrhundert betonten die Obrigkeiten der eidgenössischen Orte verstärkt ihre Souveränität;24 die konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts innerhalb des Bündnisgeflechts fanden nach dem Zweiten Villmergerkrieg von 1712 zwar keinen kriegerischen Ausdruck mehr, gleichwohl kam die Zusammenarbeit der Orte auf Bundesebene quasi zum Erliegen. Darüber hinaus gelang es den Orten nicht, innerhalb ihrer Herrschaftsräume an die europäischen Homogenisierungstendenzen staatlicher Strukturen anzuknüpfen. Bern beispielsweise bleibt in der gesamten Frühen Neuzeit ein überaus heterogenes Gebilde: Seit 1536, als Gebiete in der Westschweiz von Bern erobert werden, ist der Herrschaftsverband zweisprachig. Damit war Bern der größte Stadtstaat nördlich der Alpen, das Herrschaftsgebiet umfasst beinahe ein Drittel der heutigen Schweiz. Herrschaftspolitisch war Bern ein Konglomerat aus verschiedenen rechtlichen Verbänden, es vereinigte Städte, Tal- und Dorfschaften. Diese waren entweder durch Kauf, Eroberung oder als säkularisiertes Kirchengut unter bernische Herrschaft gelangt, konnten dabei aber zumeist alt hergebrachte Rechte bewahren. Es war gerade die Persistenz überlieferter autonomer Herrschaftsrechte der Gemeinde, welche die Vereinheitlichung der Rechtsräume und 23 Johann Heinrich Anton TORLITZ, Reise in der Schweitz und einem Theile Italiens im Jahre 1803. Veranlaßt durch Pestalozzi und dessen Lehranstalt, Kopenhagen/ Leipzig 1807, 66. 24 Hans Conrad PEYER, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1980, 102, 107.
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damit die Durchsetzung eines homogenen Herrschaftsraumes verhinderte. Aus solchen alten Rechten speiste sich dann auch verschiedentlicher Widerstand gegen den herrschaftlichen Zugriff der Stadt.25 Ernst Walder hat diese komplizierte Verfasstheit des bernischen Territorialstaates auf die Formel vom „dualistischen Gliederstaat städtisch-republikanischen Ursprungs und kommunaler Struktur“26 gebracht und charakterisiert so treffend das Kräftefeld, das von Stadt und Landschaft Bern, des Weiteren aber auch vom Kleinem Rat der Stadt, sowie den so genannten „Zweihundert“ und der Stadtgemeinde aufgespannt wurde. Denn freilich ist auch die Stadt selbst nicht homogener Herrschaftsträger, sondern ein heterogener Sozialzusammenhang. Wie in allen europäischen Stadtstaaten der Frühen Neuzeit stand nur einem kleinen Teil der Stadtbevölkerung, den sogenannten Burgern, die politische Teilhabe offen. Seit dem Spätmittelalter lassen sich zudem auch innerhalb der Burgerschaft Abschließungstendenzen feststellen, die zur Folge haben, dass sich der Zugang zu den Ämtern der Stadt auf immer weniger Familienverbände beschränkt. Von den regierenden Familien bis hin zur Landbevölkerung präsentiert sich die Gesellschaft der Stadt und Republik Bern also auch in einer Abstufung von politischen Rechten.27 25 Diese, vermehrt um die Mitte des 17. Jahrhunderts stattfindenden, ländlichen Unruhen, die ihren fanalen Höhepunkt im Bauernkrieg von 1653 fanden, trugen ihren Teil zur Verhinderung der Homogenisierung des politischen Raumes bei. Vgl. v.a. Peter BIERBRAUER, Freiheit und Gemeinde im Berner Oberland 1300–1700, Bern 1991; Andreas SUTER, Der schweizerischen Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte – Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997. 26 Ernst WALDER, Reformation und moderner Staat, in: Historischer Verein des Kanton Bern (Hg.), 450 Jahre Berner Reformation. Beiträge zur Geschichte der Berner Reformation und zu Niklaus Manuel, Bern 1980, 441–583, hier 468. 27 Bern ist immer wieder Gegenstand kritischer Betrachtungen auch aus dem Ausland. Ein mehrfach korrigiertes, vielfach kritisiertes, letztlich aber differenziertes Urteil fällt Christoph MEINERS, Briefe über die Schweiz „Ich nehme zwar von den günstigen Urtheile, welches ich vormals über die Bernische Verfassung gefällt habe, nichts zurück und bin noch jetzo so sehr als jemals überzeugt, daß vielleicht nie ein vollkommenerer aristokratischer Staats existierte, als der Bernische jetzo ist: daß die Unterthanen und besonders der Landmann unter keiner andern ähnlichen Verfassung so glücklich war als in dem Canton Bern [...]. Nichts desto weniger kleben auch diesem in so vielen Rücksichten vollkommenen Staatsganzen Mängel an, die von einer jeden zur Oligarchie sich neigenden Verfassung unzertrennlich scheinen, und die vielleicht nirgends weniger schädlich, als in Bern sind, weßwegen sie nur bey einer genaueren Kenntnis der Verfassung, als ich auf meiner ersten Reise in der Schweiz zu erlangen im Stande war, entdeckt werden können.“ Zu Bern in der Aussenperspektive vgl. zu-
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An Versuchen, diese kleinteilige politische und territorial-rechtliche Heterogenität zu ordnen, mangelt es freilich nicht. Ansätze der Herrschaftsverdichtung, wie die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraumes oder aber die Einführung eines umfassenden Steuersystems – sie scheitern nicht zuletzt, wie bereits erwähnt, am Widerstand der Landgemeinden. Auch die Erschließung des Raumes mittels der Erfassung herrschaftsrelevanter Daten richtet sich in Bern, wie auch in der übrigen Eidgenossenschaft, nach dem momentanen Bedarf und bleibt daher bis Mitte des 18. Jahrhunderts Stückwerk.28 Und freilich finden sich auch Anstrengungen, eine sinnhafte (Ein-)Ordnung des Raumes vorzunehmen. So etwa die allegorischen Figurenbrunnen des 16. Jahrhunderts, die das Stadtregiment an prominenten Stellen im Stadtbild aufstellen ließ. Sie sollten nicht nur die Obrigkeit als gutes Regiment legitimieren, sondern mit Verweis auf den Gründungsmythos und das Wappentier der Stadt, den Bären, zeitliche Tiefe verleihen und Gemeinschaft vermitteln. Ähnlichen Zielen folgt auch das Bildprogramm des Berner Rathauses. 29 Neben allegorischen Darstellungen guter Herrschaft und einer Bilderfolge über die Gründungsgeschichte, schreibt sich die Stadt in einem weiteren Zyklus in den Zusammenhang der Eidgenossenschaft letzt Nadir WEBER, Eine vollkommene Aristokratie? Debatten um die Regierungsform der Republik Bern im 18. Jahrhundert, in: Berner Zeitschrift für Geschichte 75/1 (2013), 3–38; weiterhin André HOLENSTEIN, „Goldene Zeit“ im „Alten Bern“. Entstehung und Gehalt eines verklärenden Blicks auf das bernische 18. Jahrhundert, in: Ders. u.a. (Hg.), Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2008, 16–25, insbs. 16–20 sowie Uwe HENTSCHEL, Das Bern des Ancien Régime in der deutschen zeitgenössischen Literatur, in: Sandra Kersten/Manfred Frank Schenke (Hg.), Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert, Berlin 2005, 341–351. 28 Christian Pfister schlägt die folgende Periodisierung vor: eine prästatistische, nämlich unsystematische, Periode der Datenerhebung bis 1760; eine protostatistische Phase, in der zwar systematisch und flächendeckend Daten erhoben werden, allerdings dezentral von verschiedenen Stellen; eine statistische Phase, die mit der Schaffung einer zentralen statistischen Stelle 1847/1856 beginnt: Christian PFISTER, Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700–1914, Bern 1995, 42– 43. 29 Vgl. den Ausstellungkatalog Dario GAMBONI/Georg GERMANN (Hg.), Zeichen der Freiheit. Das Bild der republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts, Bern 1991, 357–365. Zum Wandel des bernischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert, dass sich eben auch in der ikonographischen Repräsentation der Stadt spiegelt, vgl. Thomas MAISSEN, Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, Göttingen 2006, 462–467.
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ein – durchaus konträr zu ihrer politisch eifersüchtig gewahrten Eigenständigkeit. Auch die städtische Chronistik des Spätmittelalters sieht Bern durchaus eingebunden in den Referenzrahmen der Eidgenossenschaft. Aufgrund ihrer geringeren medialen Zugkraft entfalten diese symbolischen Versatzstücke indessen kein mit den Narrativen des Helvetismus vergleichbares integrierendes Element. Vor allem aber galten diese Versuche der Sinnstiftung nicht der Schaffung eines schweizerischen Raumes, sondern der sinnvollen Einordnung souveräner Kantone in einen übergeordneten Kontext. Im Vordergrund stand also die Legitimation und Stabilisierung der politischen Verhältnisse innerhalb des eidgenössischen Bündnisgeflechtes, das sich gegen Mitte des 18. Jahrhunderts Kritik formiert.
IV. Als Gegenentwurf zu der hier skizzierten politischen Heterogenität wird nun „kulturell“ an der Schaffung eines kohärenten Bildes der Schweiz gearbeitet, das eben über den Rahmen der dreizehnörtigen Eidgenossenschaft hinausgeht – der Projektionsraum wird entworfen. Es handelt sich dabei um einen wechselseitigen Rezeptionsvorgang, der im Folgenden umrissen werden soll. Eine schweizerisch-patriotische Gruppierung, seit dem 19. Jahrhundert unter dem Prädikat „Helvetismus“ firmierend, entwarf kontrastierend – und die politische Realität kompensierend – ein idealisiertes Bild der Schweiz. Im europäischen Ausland allerdings wurde der kritische Aspekt dieser Texte kaum berücksichtigt, stattdessen fungierte der so aufgespannte Projektionsraum als Blaupause eigener Sehnsüchte, die in Reiseberichten literarisch verarbeitet wurden. Die so von außen herangetragenen Raumprojektionen wurden wiederum in der Schweiz rezipiert und in eine im Entstehen begriffene nationale Identität integriert. Eines der wichtigsten Motive, hinter dem die politischen Verwerfungen des eidgenössischen Ancien Régime zurücktreten, ist jedenfalls die Natur, die Landschaft – sind die Alpen. Dies war keinesfalls selbstverständlich, galten diese doch noch um die Wende zum 18. Jahrhundert als terra incognita, als gefährlicher entrückter Ort: „Ich sahe selbsten offters gantze Berge voller Schnee herunter fallen. Man hört ein solches Geräusch von dem herabfallenden Schnee, als wann Himmel und Erden über ein Haufen fielen.“30 Das Alpenbild, das in der literarischen Verarbeitung, allen voran durch Albrecht von Haller, einer breiteren
30 Johannes LIMBERG, Denckwürdige Reisebeschreibung Durch Teutschland, Jtalien, Spanien, Portugall, Engeland, Franckreich und Schweitz, &c. ..., Leipzig 1690, 872.
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Öffentlichkeit nahegebracht wird, ist nun ein gänzlich anderes.31 Haller kontrastiert die unwirkliche, aber schöne Härte der Hochgebirgswelt mit der Landschaftsidylle der Täler. Erstmals erscheinen die Alpen nicht einfach als drohendes Hindernis im transalpinen Verkehr, sondern als Raum, dessen Härte für die Bewohner der Täler eben auch Freiheit verheißt. Hier, so die Botschaft, findet sich noch das vermisste Leben in Einfachheit, Freiheit und Natur,32 denn Der Tugend unterthan und Laster edel macht; Kein müßiger Verdruß verlängert hier die Stunden / Die Arbeit füllt den Tag / und Ruh besetzt die Nacht: Hier läßt kein hoher Geist sich von der Ehrsucht blenden / Des Morgens Sorge frißt die heut’ge Freude nie. Die Freyheit theilt dem Volk aus unparthey’schen Händen / Mit immergleichem Maaß Vergnügen / Ruh und Müh. Die Wollust herrscht hier nicht / sie findet keine Strike / Man ißt / man liebt / man schlafft / und kennt kein ander Glücke.“33
Weit entfernt von den Versuchungen des höfischen und städtischen Lebens konnten sich die Bewohner dieser Bergwelt also ihre ursprüngliche Unschuld und Reinheit bewahren. Und auch wenn es sich um eine idyllisierende Überzeichnung der Wirklichkeit handelte, „die Schilderung überzeugte; das kenntnisreiche Bild ließ keinen Zweifel an dessen Richtigkeit aufkommen. Somit hatte Haller den Zeitgenossen die Richtung gewiesen, wo sie noch naturnah lebende, arbeits- und sittsame Menschen finden konnten.“ 34 Ist bei Haller dieses Bild 31 Zur positiven Umdeutung der Bergwelt im 18. Jahrhundert sei vor allem auf Petra RAYMON, Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit, Tübingen 1993 hingewiesen. Siehe auch Ruth u. Dieter GROH, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, 53–95. 32 Vgl. hier und im folgenden Uwe HENTSCHEL, Wegmarken. Studien zur Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u.a. 2010, 17; Wozniakowski, Wildnis 247. 33 Albrecht von HALLER, Die Alpen, in: Ders., Versuch von Schweizerischen Gedichten, Bern2 1734, 4. 34 Uwe HENTSCHEL, Von Hallers Alpen bis zu Claurens Mimili. Zur Stilisierung und Funktionalisierung einer Landschaft in der deutschen Literatur, in: Wolfdietrich Fischer/York-Gothart Mix/Claudia Wiener (Hg.), Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft e.V. 2002, Würzburg 2002, 45–65, hier 45.
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nicht zuletzt als Negativ seiner Heimatstadt Bern gezeichnet, deren Bewohnern eben diese Freiheit verwehrt bleibt, verschwindet dieser Aspekt in der Rezeption des Gedichts zusehends. 35 Anders als Daniel Defoe oder Johann Gottfried Schnabel, die ihre Gegenentwürfe zur gesellschaftlichen Realität des 18. Jahrhunderts in einen imaginären Ort verlagern, weißt Haller der utopischen Natursehnsucht der Aufklärung die Alpen als Projektionsraum zu.36 Und dieses Ange35 Der junge Haller gehört zu jener Gruppe des Patriziats, denen eine politische Karriere zunächst verwehrt bleibt; tatsächlich bleibt ihm ein hohes Amt im bernischen Staat, also ein Sitz im Kleinen Rat, zeitlebens versagt. Haller kanalisiert seine Unzufriedenheit mit den in Bern herrschenden Zuständen in den 1730er Jahren zunächst durch sein literarisches Schaffen, bevor er mit der Annahme einer Professur in Göttingen eine alternative Karriere einschlug. Das sich Haller nach seiner Rückkehr eher als Träger der bernischen Herrschaftsordnung hervortut, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. zu den Verhältnissen in Bern Kap. III. Sowie die neuere Haller-Forschung. Bspw. François de CAPITANI, Hallers Bern, in: Hubert Steinke/Urs Boschung/Wolfgang Proß, Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, Göttingen 2008, 83–98 und Florian GELZER/Béla KAPOSSY, Roman, Staat und Gesellschaft, in: ebd., 156–181. 36 Der Verweis auf diese beiden literarischen Utopien des 18. Jahrhunderts liegt auch deswegen nahe, weil sich in die Betrachtung der Schweiz auch immer wieder Projektionen von ursprünglicher Fremdheit und Wildheit mischen. Im Zeitalter der intensivierten Erschliessung der überseeischen Kolonien verspricht die Schweiz die Erfahrung von Exotik quasi vor der Haustür. Dies konstatierte Johann Bodmer schon am Anfang des 18. Jahrhunderts: „Wir lieben die Reisebeschreibungen zu den Wilden wegen der Hochachtung die wir ihnen vermeinen schuldig zu seyn, als Leuten bey denen das natürliche durch die ungeförmte Fantasie noch nicht verderbt worden; [...] Eben dieselbe Ursache welche uns beweget die Geschichten der Wilden zu studieren, erwecket uns auch die Curiositet und das Verlangen einen moralischen Nouvellisten dieser alten Schweitzern zu haben, welche wir aus Respekt und Hochachtung der ungeschminckten natur, der sie gefolgt haben, wild nenen. Diese Wildheit der ersten Eids-Genossen ist [...] noch nicht so gäntzlich verlohren gegangen, daß wir nicht annoch in gewissen Cantons einige käntliche Reste des natürlichen spüren.“ Johann Jacob BODMER, Die Discourse der Mahlern. Dritter Theil [1722], Hildesheim 1969, 94 [Seitenzählung des Originals]. In diesem Zusammenhang erscheint die überaus erfolgreiche Erzählung des Berners Johann David Wyss, Der Schweizerische Robinson [1812], Bielefeld3 1881 reizvoll. Eine schweizerische Auswandererfamilie strandet auf einer einsamen Insel, deren Ressourcen sie sich nach und nach nutzbar macht. Natürlich tauft sie das Eiland Neu-Schweizerland. Vgl. dazu Hannelore KORTENBRUCK-HOEIJMANS, Johann David Wyss’ „Schweizerischer Robinson“. Dokument pädagogisch-literarischen Zeitgeists an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, Baltmannsweiler 1999.
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bot wird dankbar aufgenommen. Die Alpen werden bald als wirkliches Abbild des Berner Oberlandes gelesen und lösen in der Folge eine regelrechte SchweizBegeisterung aus, die nicht nur zur andauernden Etablierung der Alpen als Sujet der Literatur führt, sondern sich eben auch touristisch bemerkbar macht.37 Bald stehen die idyllischen Alpen synonym für die Eidgenossenschaft: Es „entstand ein Mythos der Schweiz, in dem Weltflucht, Empfindung und Heilung Hand in Hand gingen.“38 Tatsächlich erweist sich also die Ästhetisierung des Raumes in der nun einsetzenden Rezeption als wirkmächtiger als dessen politische Fundierung; von den Gegensätzen des politischen Raumes wird abgesehen. Freilich bewirkt dies nicht nur die Strahlkraft der Alpen; tatsächlich fügt sich Hallers Gedicht in eine Vielzahl von Publikationen zur Schweiz ein. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie – in kritischer Distanz zur gesellschaftlichen und politischen Realität ihrer Hei37 Vgl. Der Hinweis auch bei Franz Rudolf KEMPF, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter. Eine Rezeptionsgeschichte, New York u.a. 1986, 145. Dabei stört es nicht, dass Haller die Anschauung wohl eher in den Alpengebieten der französischsprachigen Schweiz gesammelt hat. Die Umdeutung der Bezüge auf das Berner Oberland vollzieht Haller erst in der vierten Auflage seiner Gedichtsammlung 1748. Vgl. dazu Ferdinand VETTER, Der „Staubbach“ in Hallers Alpen und der Staubbach der Weltliteratur, in: Historischer Verein des Kanton Bern (Hg.), Festgabe zur LX. Jahresversammlung (Bern 4./5.09.1905) der Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz, Bern 1905, 311–362; Der Hinweis auch bei Kempf, Ruhm 135–136, 144–145 und Hans-Jürgen SCHRADER, Hallers Die Alpen, mythenkritisch reflektiert in Brandstetters Almträume, in: Jürgen Barkhoff/Valerie Heffernan (Hg.), Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur, Berlin u. New York 2010, 77–94, hier 79. 38 Jattie ENKLAAR, ‚Zwitsersch‘. Zu einer Mode in Holland, in: Dies./Hans Ester (Hg.), Die Schweiz. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Amsterdam 1992, 37–76, hier 44. Zu diesem Mythos von der Besonderheit der Schweiz gehört auch das den Schweizer in der Ferne ein fast unstillbares Heimweh erfasst: Im Lauf des 19. Jahrhunderts wird dieses Heimweh fundamental gedeutet, der Brockhaus von 1854 notiert unter dem Stichwort: „Auch Thiere sind dem Heimweh unterworfen; besonders hat man es an ausgeführten Schweizerkühen beobachtet, welche bei der Melodie des Kuhreihens wild und rasend wurden.“ Andreas SCHUHMANN hat dies als Motto seiner Monographie voran gestellt: Heimat denken. Regionales Bewusstsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914, Köln/Weimar 2002. Zum Heimweh, das seit seiner ‚Entdeckung‘ eben immer wieder als eine „Schweizerkrankheit“ aufgefasst wurde, vgl. Simon BUNKE, Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2009.
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matorte – idealisierte Bilder der Schweiz heraufbeschwören. Dies gilt nicht zuletzt für Salomon Gessner, dessen Dichtung die Zürcher Verhältnisse als Negativ vor sich hatte.39 Nun finden sich in seinem Œuvre – mit einer Ausnahme – keine topographischen Bezüge zur schweizerischen Landschaft; gleichwohl werden diese Ende der 1760er Jahre wie selbstverständlich unterstellt. Dies verweist auf einen Rezeptionsmodus, der sich Mitte des 18. Jahrhunderts etabliert, und in dem die Gleichsetzung von Idylle und „Schweiz“ keiner weiteren Erklärung bedarf.40 Dabei leistet vor allem auch Jean-Jaques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse einem Schweiz-Bild Vorschub, das sich eben über die Grenzen des eidgenössischen Bündnissystems erstreckt. Freilich ist es zuallererst der Briefwechsel zweier Liebenden, der dem Buch so großen Erfolg beschert. Es gelingt Rousseau mit seiner Beschreibung der Westschweiz und ihrer Bewohner aber auch, einem latenten Gefühl des Kulturüberdrusses Ausdruck zu verleihen und sogleich auf einen Ausweg hinzuweisen.41 Nachdem Haller das Berner Oberland als Refugium empfohlen hat, zeichnet Rousseau nun ein ähnliches Bild der Gegend um Genf – und erweitert damit den Projektionsraum auf das Gebiet der heutigen Schweiz.42 Andere Autoren suchen den gesellschaftlichen Idealzustand nicht in der Natur, sondern verweisen stattdessen auf eine ideale Vergangenheit. In seinen Lettre sur les Anglais et les Français warnt Beat Ludwig von Muralt vor der Durchschnittlichkeit und Substanzlosigkeit französischer Kultur, die sich zunehmend auch in der Eidgenossenschaft finde.43 Wie später Haller und Rousseau, wenn 39 Vgl. dazu Heidemarie KESSELMANN, Die Idyllen Salomon Gessners im Beziehungsfeld von Aesthetik und Geschichte im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte der Idylle, Kronberg/Ts. 1976, 102–139. 40 Hentschel, Mythos 41. 41 Ein Ausweg der tatsächlich vielfach beschritten wird: Wie schon Hallers Alpen wird Rousseaus Nouvelle Héloïse bald auch als Reiseführer gelesen. Vor Enttäuschungen ist der Reisende dabei allerdings nicht gefeit: „Rousseau empfiehlt das Reisen zu Fuß mit großer Wärme und ohne Unterscheidung der Fälle. Man wird aber schwerlich seine Anpreisungen in den einförmigen Ebenen bewährt finden, wo man Alles so lange voraussieht, wo keine Überraschung, keine Neuheit der Gegenstände das Gefühl der Ermüdung zerstreut, und der Verdruß, nur so langsam aus der Stelle zu kommen, die Oberhand gewinnt.“ August Wilhelm von SCHLEGEL, Umriße, entworfen auf einer Reise durch die Schweiz, in: Eduard Böcking (Hg.), August Wilhelm von Schlegel’s sämmtliche Werke, Bd. 7, Leipzig 1846, 154–176, hier 155. 42 Hentschel, Mythos 50–55. 43 vgl. dazu auch János RIESZ, Beat Ludwig von Muralts „Lettres sur les Anglais et les Français et sur les voyages“ und ihre Rezeption. Eine literarische „Querelle“ der französischen Frühaufklärung, München 1979.
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auch deutlich pädagogischer, setzt er gegen die Dekadenz der Städte die Rückbesinnung auf ein einfaches Leben, inspiriert von den natürlichen Reizen der Landschaft. Dieselbe Stoßrichtung verfolgen die Patriotischen Träume eines Eidgenossen, von einem Mittel, die veraltete Eidgenossenschaft wieder zu verjüngeren von Franz Urs von Balthasar. Programmatisch erscheint die Schrift nicht einfach anonym, sondern unter der Herausgeberschaft von „Wilhelm Tells Erben“. 44 Balthasars Gegenwartsdiagnose fällt verheerend aus; einen Ausweg sieht er einzig in der Restauration des freilich idealisierten Wertehorizontes der Alten Eidgenossenschaft. Die ihm gegenwärtige territoriale Heterogenität kontrastiert er mit der Einheit einer mythischen Vergangenheit; eine Einheit, die für ihn auch Stärke bedeutet: „[...] wisset, daß keiner eurer Staaten beträchtlich genug ist, sich die Achtung und die Ehrfurcht der anderen Mächten zu erwerben, und daß nur die Eintracht und ein einmüthiges Betragen in allen Sachen euch aus derjenigen Niedrigkeit ziehen kann, in die euch Stolz und Eigennutz gestürtzet.“45 Eine gesamteidgenössische Bildungseinrichtung sollte helfen, die verlorene Freiheit und Einigkeit der Eidgenossen wiederherzustellen. Balthasar ist dann auch beteiligt an der Gründung der Helvetischen Gesellschaft; diese kann wohl als Institutionalisierung jener Strömung gesehen werden, die sich an der
44 Vgl. dazu das Titelblatt von Franz Urs von BALTHASAR, Patriotischen Träume eines Eidgenossen, von einem Mittel, die veraltete Eidgenossenschaft wieder zu verjüngeren, Freystadt 1758. Die Beschwörung des Tell-Mythos avanciert zur beliebten Blaupause in der schweizerischer Aufklärung um Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in den Orten zu üben. Vgl. beispielsweise das erste deutschsprachige und einflussreiche Drama von Johann Jakob BODMER, Die gerechte Zusammenschwörung, Zürich 1762 [unveröffentlichtes Manuskript ZB Zürich Ms. Bodmer 26.6]; auch Samuel HENZI, Grisler ou l’ambition puni. Grisler oder der bestrafte Ehrgeiz [1762], Basel 1996, dessen Drama auch Bodmer als Vorbild dient. Henzi‘s Verarbeitung des Tell Stoffes gewinnt vor dem Hintergrund seiner Beteiligung an der sogenannte „Henzi-Verschwörung“ an Brisanz. Henzi gehörte zu jenem Teil des bernischen Patriziates, dem der Zugang zu politischen Ämtern, aufgrund der verstärkten Oligarchisierungstendenzen im 17. und 18. Jahrhundert, verwehrt blieb. In einem Memorial entwarf Henzi ein Reformprogramm, auf dessen Grundlage ein Umsturzplan zumindest angedacht wurde. Der Plan flog aber auf, Henzi und zwei weitere Mitbeschwörer wurden hingerichtet, andere Patrizier wurden verbannt. Vgl. zur Henzi-Verschwörung Andreas WÜRGLER, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, insbs. 99–106, 207– 212, 240–243. 45 Ebd., 2.
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hier beschriebenen Schaffung einer schweizerischen Mentalität, jenseits des zersplitterten Bündnissystems der Eidgenossenschaft, beteiligten.46 Eines ihrer Mitglieder war Johannes von Müller, dessen Arbeiten die Rezeption des Bildes einer mittelalterlichen Eidgenossenschaft, deren Wertehorizont im Mittelpunkt einer geistigen und moralischen Erneuerung stehen sollte, vorantrieben. Als schweizerischer Tacitus47 spricht er als erster „wie selbstverständlich von Volk, Nation, Nationalgeist, [...] dies alles auf die Gesamtschweiz bezogen, weil er sie als einheitliche Kulturnation auffasst.“48 Für Müller haben die politischen Verhältnisse seiner Gegenwart nur eine untergeordnete Bedeutung im Vergleich zur gemeinsamen Geschichte, in ihr findet er auch die territoriale Einheit der Schweiz: „Hier sind die Geschichten der alten Zeit; schlaget sie auf, und forschet, und sehet, ob für Rettung, Ruhm und Ruhe aller der Lande vom Wormserjoch bis Basel und von Genf bis Tarasp je etwas bessers erfunden ward, als die alte Treu tapferer Eidgenossen!“49 Seine Darstellung der schweizerischen Geschichte erfüllt die Forderung seiner Zeitgenossen nach einer kohärenten Formulierung einer Schweiz, die sich als Einheit verstehen und fassen lässt.50 Müller greift dabei auch das Motiv der Alpen als symbolische Repräsentation der Schweiz auf. Sie stehen als konstante Naturfestung gegen die Geschichte und markieren damit zugleich eine Abgrenzung gegen das geschichtsunterworfene Europa des 18. Jahrhunderts; die Bedeutung der Binnengrenzen tritt dabei hinter 46 Vgl. Ulrich IM HOF, Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Struktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft, Bd. 1, Frauenfeld u. Stuttgart 1983, 23–45. 47 Müller hat sich übrigens zeitlebens gegen diese Gleichstellung gewehrt, schliesslich war sie zunächst nicht lobend gemeint, sondern mit dem Vorwurf verbunden, er ahme Tacitus nach: „[...] ihr habt Unrecht, Tacitus bin ich nicht, [...] ich bin ich; Tacitum hatte ich 3 Jahre lang, da ich mein Buch schrieb, nie gelesen; seiner gedachte ich auch nie [...].“ Johannes von MÜLLER, Sämmtlich Werke, Bd. 15, Tübingen 1812, 227. In der Folge wird die Bezeichnung von der Kritik aber positiv aufgegriffen. Beispielsweise: „Gern sieht man [...] bey dem ehrwürdigen Namen des Johannes von Müller die Bezeichnung: des schweizerischen Tacitus gebraucht.“ Neue Leipziger Literaturzeitung (1807) H. 154, 2454. 48 Richard FELLER/Edgar BONJOUR, Geschichtsschreibung der Schweiz. Vom Spätmittelalter zu Neuzeit, Bd. 2, Basel/Stuttgart 1979, 564. 49 Johannes von MÜLLER, Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, Tübingen 1815, XC. 50 Vgl. Ulrich IM HOF, Müllers Verhältnis zur schweizerischen Nationallegende, in: Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Johannes von Müller. Geschichtsschreiber der Goethezeit, Schaffhausen 1986, 47–65, hier 50–51.
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die Abgrenzung nach Außen zurück: „Die Gipfel Europens, die Alpen, glänzten seit Jahrhunderten, wie ihr Firne, unangetastet, in ehrwürdiger Stille über dem Gewühl der Nationen empor; indeß zu ihren Füßen grause Wetterstürme bald den Garten Italiens, bald der Teutschen und Franzosen Gefilde verheerten.“51 Bereits Johannes von Müller macht ein breiteres Publikum mit der schweizerischen Integrationsfigur schlechthin, Wilhelm Tell, bekannt.52 Schon 1793 ist für August Wilhelm Iffland, einem der Schauspielstars der Jahre um 1800, der Konnex von Schweiz zu Tell selbstverständlich: „Ich war also nun in der Schweiz. Ich dachte an Wilhelm Tell und die Geschichte, wie dieses Land sich von Deutschland losgerissen hat. Wenn in Deutschland Landvögte sind, die, wo der Glanz des Fürstenhutes sonst nicht den Unterthanen Thränen kosten würde – den Hut, der ihre Verrätherscheitel deckt, zum Schrecken des Landmanns aufstecken – oh so schone der Fürst nicht, und der Arm des untersuchenden Richters sey nie von Nepotismus verkürzt, oder von Geldsucht inneghalten! Das habe ich mit dem ersten Schritte in die Schweiz lebhaft gewünscht.“ 53 „Schweiz“ bedeutet dem Besucher aus Deutschland also Freiheit und unter dem Eindruck der französischen Revolution wird diese Freiheit, deren Mittler eben Tell ist, revolutionär gedeutet. 54 Seine Breitenwirkung entfaltet die Verbindung von Schweiz, Freiheit und Wilhelm Tell freilich erst in der sinnhaften Deutung Schillers, jetzt wird das Thema auch für jene akzeptabel, die keine Revolution wollen. 51 von Müller, Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 4, Leipzig 1805, VI. 52 Auch wenn Müller seine Fassung der Tell-Geschichte von Ausgabe zu Ausgabe stetig veränderte; die Apfelschuss-Szene beispielsweise nimmt er erst in der Ausgabe von 1806, also nach der Uraufführung von Schillers Tell, endgültig auf. 53 August Wilhelm IFFLAND, Blick in die Schweiz, Leipzig 1793, 25. 54 Als Manifest dieser revolutionären Deutung Wilhelm Tells kann wohl das Vaterunser eines ächten und freyen Schweizers gelten: „Wilhelm Tell, der du bist der Stifter unserer Freiheit; dein Name werde geheiligt in der Schweiz; dein Wille geschehe auch jetzt bey uns, wie zur Zeit, da du über deine Tyrannen gesieget hast; gib uns heute deinen Muth und deine Tapferkeit, und verzeihe uns unsere vergangene Erschrockenheit, dass wir so muthlos zugesehen haben, wie man unserer Freyheiten nach und nach beraubte, wie auch wir vergeben allen unsern Vögten und Vorstehern, welche alleine die Schuld unserer verlorenen Freyheit gewesen sind, und lasse uns in Zukunft nicht mehr unterdrückt werden, sondern erlöse uns auf immer von allen Arten Sclaverey. Alsdann wird dein bleiben der Ruhm und die Ehre, und uns Schweizern allen die Freyheit und Gleichheit. Amen.“ Joseph Mengaud, Vaterunser eines ächten und freyen Schweizers, zit. nach Fritz ERNST, Wilhelm Tell. Blätter aus seiner Ruhmesgeschichte, Zürich 1936, 98–99.
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Iffland wird 1804 Schillers Tell in einer spektakulären Inszenierung in Berlin auf die Bühne bringen und ist auch in den Entstehungsprozess des Werkes eingebunden. Dass Johannes von Müller Teile des Manuskriptes von Schiller nach Berlin transportiert, ist wohl eine der amüsanten Fußnoten dieser Geschichte: „Ein solcher Bote muss dem Werke selbst Segen bringen.“55 Friedrich Schillers Wilhelm Tell jedenfalls verleiht der Etablierung des Projektionsraums neuen Schub;56 zwar existierten schon zahlreiche Variationen des Tell-Stoffes, aber erst die Schiller’sche Bearbeitung gibt dem Gründungsmythos der Eidgenossenschaft eine allgemeingültige Form. 57 Schillers Tell wird zum Synonym der Schweizer, vor seiner Figur verblasst die Heterogenität der Eidgenossenschaft. Die Rütlischwur-Szene entwirft das wirkmächtige Bild einer Solidargemeinschaft mit zeitlicher Tiefe, sie macht aus den Bewohnern der Eidgenossenschaft ein Volk: „Wir wollen seyn ein einzig Volk von Brüdern [...].“58 So ist es auch Schillers Intention, ein „Volksstück“ zu schaffen, in dem sich alle Erwartungen des zeitgenössischen Publikums gebündelt finden. Im Sinne dieser Ganzheit werden im Stück die sozialen Unterschiede der zahlreichen Charaktere nivelliert; im Bühnenbild finden sich alle Elemente der Natur, mit denen der 55 Schiller an Iffland, 05.02.1804, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 32, Weimar 1984, 106. 56 Noch bei Thomas Mann heißt es, die Schillers Drama sei sein „Gemälde der Schweiz, wie sie leibt und lebt.“ Thomas MANN, Versuch über Schiller, in: Thomas Mann, Essays, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1997, 290–371, hier 341. Zur unmittelbaren Rezeptionsoder Wirkungsgeschichte des Wilhelm Tell weiterhin einschlägig: Peter UTZ, Die ausgehölte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers „Wilhelm Tell“, Königstein/Ts. 1984; vgl. zu den Facetten des Tell-Mythos: Jean-François BERGIER, Wilhelm Tell. Realität und Mythos, München 1990. 57 Alle Variationen der Tell-Sage können hier nicht aufgeführt werden. Wichtigste Quelle für Schiller war Agidius Tschudis Chronicon Helvetikum, die zwar Mitte des 16. Jahrhunderts geschrieben erst in den 1730er Jahren von Johann Rudolf Iselin publiziert wurde. Für Schiller ebenso wichtig war die Schilderungen bei Johannes von MÜLLER, Die Geschichten der Schweizer, Bd. 1, Boston [Bern] 1780, 71–82; Ders., Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft. Erstes Buch: Von dem Anbau des Landes, Bd. 3, Frankenthal 1790, 331–342. Vgl. auch Rosmarie ZELLER, Der Tell-Mythos und seine dramatische Gestaltung von Henzi bis Schiller, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 38 (1994), 65–88. 58 Johann Friedrich von SCHILLER, Wilhelm Tell, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 10, Weimar 1980, 192. Zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv in Wilhelm Tell vgl. Hans KRAH, Schillers Wilhelm Tell, in: Recherches Germaniques, 32 (2002), 1–25, hier 12–16.
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Mensch in harmonischem Einklang steht.59 Im Rütlischwur schließlich kumuliert diese Ganzheit, im Bühnenbild wie im Text. Eingebettet in die idyllische Kulisse des Vierwaldstättersees vereinigen sich die Landsleute in der Schwurpose zu einer Aufnahme vollkommener Harmonie. Eingebettet findet sich die Schwurszene auch in den Lauf der Geschichte, sie bricht nicht mit der Vergangenheit, ist nicht revolutionär, sondern erneuert lediglich den alten Bund – und erfüllt damit die Restaurationsforderungen der schweizerischen aufgeklärt-patriotischen Zirkel. 60 In diesem Sinne „hat Schillers zum Nationalmythos erhobener Tell einem heterogenen Bündnis kleiner und kleinster Staatsgebilde geradezu statt einer gemeinsamen Geschichte gedient.“ 61 Dass es bis zur Selbstfindung der Nation noch ein langer Weg war – bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – soll hier einmal außer Acht gelassen werden.
V. Entwarfen die Autoren des Helvetismus die Schweiz noch als einen Projektionsraum, um das entzauberte Leben in den Städten und den zergliederten Charakter der Eidgenossenschaft zu überwinden, so ging gerade dieser Aspekt in der Rezeption zumeist verloren. Denn vielfach wurden die Texte gerade nicht als kompensatorisches Gegenbild gelesen, sondern für bare Münze genommen; 62 dies geschieht nicht (nur) aus Uninformiertheit, sondern um der eignen Erwartungshaltung, wie auch der des Publikums zu entsprechen. Aus dem Gegenraum wurde der eigentliche, der authentische Raum – aus den Wunschprojektionen einer kulturellen Simulation entstand das Bild einer Schweiz, die es so nicht gab. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert reproduziert die Masse der Reiseliteratur zur Schweiz stereotype Motive, „man reiste vorstellungsgeleitet, erfuhr und beschrieb, was man fühlen und sehen musste, weil es dem Katalog touristischer Erwartungshaltungen entsprach.“63 Und man war sich im Urteil jedenfalls einig:
59 Vgl. Peter CERSOWSKY, Schillers Volksstück. Wilhelm Tell, in: Jörg Robert (Hg.) Würzburger Schiller-Vorträge 2005, Würzburg 2007, 93–112, insbs. 95-96, 99–101. 60 „Wir stiften keinen neuen Bund, es ist ein uralt Bündniß nur von Väter Zeit, das wir erneuern!“ Schiller, Wilhelm Tell 181. Wie allerdings Krah, Tell 20 bemerkt schwankt Schillers Haltung im Tell durchaus zwischen Restauration und Revolution. 61 Adolf MUSCHG, Schillers Schweiz, in : Jan Bürger (Hg.), Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild, Göttingen 2007, 76–93, hier 77. 62 Vgl. Hentschel, Mythos 214–215. 63 Hentschel, Wegmarken 14.
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„Les Suisses conservaient comme aujourd’hui leur liberté, sans chercher à opprimer personne [...]; il étaient pauvres ; ils ignoraient les sciences et tous les arts que le luxe a fait naître; mais ils étaient sages et heureux.“64 Der so konstituierte Projektionsraum wird nun vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert von ausländischen Reisenden vielfach multipliziert, denn schließlich ist die Schweiz, auch aufgrund der verbesserten Infrastruktur, leicht zu besuchen. Und man reist nicht ohne Intention, man will „glückliche Menschen auffsuchen“65 und „[e]in jeder Fremde brachte dahin seine Privatneigung mit und athmete romantisch was er in der wirklichen Welt nicht fand.“66 Schon zeitgenössisch wird demnach nüchtern erfasst, dass die Eidgenossenschaft von den Reisenden als Projektionsraum für all das genutzt wird, was sie in ihrer alltäglichen Lebenswelt vermissen. Projektionen bestimmen dann auch eher die Wahrnehmung als das tatsächlich erlebte.67 Schon der Grenzübertritt erscheint als Eingang in eine andere, gleichsam paradiesische Welt: „Den 10. Mai betrat ich zuerst den geliebten, langersehnten Schweizerboden. Alles schien mir schöner und herrlicher, wie vom Hauch der Freiheit angeweht.“68 Verstärkt wird dieser Mechanismus der Raumprojektionen durch die bald massenhafte Reproduktion der Projektion, die sich nun schon zum Stereotyp verfestigt hat. Freilich mischen sich unter die Wogen der Begeisterung auch immer wieder Stimmen der Kritik: „Wie aber zu geschehen pflegt, wenn Viele der Mode etwas nachthun, ohne eigenen Sinn und Gefühl, so sind hiebei verschobene Ansichten und erkünstelte vorgebliche Rührungen häufig an die Stelle des Wahren getreten. Man hat die schweizerischen Gegenden übertrieben und ausschließend gelobt.“69 64 VOLTAIRE, Le Siècle de Louis XIV, Genf 1769, 168. 65 Christian Friedrich Daniel SCHUBART, Vermischte Schriften, Zürich 1812, 428. 66 Johann Georg HEINZMANN, Neue Chronik der Schweizer, während dem Zeitraum von 1700 bis 1801, Bern 1801, 202. 67 So bemerkt auch Werner KRAUS, Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung, Neuwied 1965, 151: „Seltsamerweise vermochte die auch in Deutschland sich ausbreitende Erkenntnis, daß hinter der Fassade der republikanischen Konföderation eine fortschrittfeindliche und der Orthodoxie mit Haut und Haaren verschriebene Oligarchie sich versteckte, die Orientierung der politischen Schriftsteller nicht in andere Bahnen zu lenken. Zu groß war das Bedürfnis nach einem ideellen politischen Haftpunkt.“ 68 Caroline von WOLZOGEN, Literarischer Nachlass der Frau Caroline von Wolzogen, Bd. 1, Leipzig 1848, 62. 69 Schlegel, Umriße 154–155. Dass es sich dabei auch um ein Phänomen der Gattung handelt merkt u.a. Hlavin-Schulze, Reisen 80 an. Gegen die nüchterne Bilanz Schlegels fällt der Kommentar von Johann Wolfgang von Goethe auf seiner zweiten
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Ihren Anfang nimmt diese Entwicklung, wie oben geschildert, bereits im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts; angeleitet von Haller und Rousseau kommen die Reisenden, „um die Bilder von der alpinen Lebenswelt [...] an der Wirklichkeit zu messen, und die Einheimischen taten alles, um sie nicht zu enttäuschen. Sie stilisierten ihr Leben zum Kunstprodukt, zu Idylle.“70 Konsequent stellt sich die Schweiz im 19. Jahrhundert nun auf den entstehenden Wirtschaftszweig ein: Die Gestaltung der Landschaft, die Pflege des Traditionsbestandes und die Herausarbeitung ihrer Eigenarten werden – den von außen herangetragenen Projektionen entsprechend – als Aufgaben erkannt und angenommen. Man macht sich an die Profilierung der Sinn- und Wahrnehmungsräume, und nicht zuletzt eben auch an den Aufbau einer touristischen Infrastruktur. Begünstigt wird die Entwicklung zum Urlaubsland „Schweiz“ durch die sich rasch intensivierende industrielle Entwicklung des Landes: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges befindet sich die Schweiz unter den führenden Industrieländern der Welt. Zu der Projektion einer Idylle, in der die Menschen frei und glücklich leben, gesellt sich das Bild einer erfolgreichen und effizienten Wirtschaftsnation – als Widerspruch erscheint das nur selten. Die Schweiz weiß sich eben selbst von Fall zu Fall dem Bild entsprechend zu inszenieren, nicht zuletzt im Tourismus. Gerade dabei gilt bis heute – je trivialer die Projektion ist, desto erfolgreicher. Den Beginn der Trivialisierung der Versatzstücke der schweizerischen Identität markiert schon 1815 Heinrich Claurens Mimili,71 vorerst ein Skandalerfolg. Auch wenn die Kritik der Zunft scharf ausfällt, das Publikum feiert die in mehreren Fortsetzungen erscheinende ErSchweizreise schon fast als Generalabrechnung mit dem Schweizbild seiner Zeit aus: „Frei wären die Schweizer? frei diese wolhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? [...] Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich einen Augenblick freu denken; nun erschuf ihnen die liebe Sonne aus dem Aas des Unterdrückers einen Schwarm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt; nun erzählen sie das alte Märchen immer fort, man hört bis zum Überdruß: sie hätten sich einmal freugemacht und wären frei geblieben; und nun sitzen sie hinter ihren Mauern, eingefangen in ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien und Philistereien, und da draußen auf den Felsen ist’s wohl auch der Mühe werth von Freiheit zu reden, wenn man das halbe Jahr vom Schnee wie ein Murmelthier gefangen gehalten wird.“ Johann Wolfgang Goethe, Goethes Werk, Bd. 19, Weimar 1899, 197-198. 70 Hentschel, Wegmarken 53. Ironisch muss in diesem Zusammenhang auffallen, dass eine Idylle unter den inszenierten Bedingungen des Fremdenverkehrs eben kein neues Arkadien. Vgl. ebd. 5–55. 71 Heinrich CLAUREN, Mimili. Eine Erzählung [1815], Stuttgart 1984.
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zählung. 72 Geschickt kombiniert Clauren die allseits bekannten Motive: Die landschaftliche Idylle der Schweiz im Kontrast zur abstoßenden Umwelt, der Aristokrat und die Landbewohnerin, Moral und Emotio – versetzt mit einer naiv inszenierten, die Zeitgenossen faszinierenden, Erotik.73 Ein halbes Jahrhundert später setzen sich gegen die von Clauren raffiniert ausgespielten erotischen Motive das Stereotyp von der unschuldigen Schweiz durch. Johanna Spyris schildert die Krankheit und zugleich die Gesundung des Mädchens Heidi in der Natur, das so zum echten Schweizerkind wird. Heidi wird ein Bestseller der Literatur für die jungen Leser des 19. Jahrhunderts. Durch seine Trivialisierung wird der Projektionsraum Schweiz erst massentauglich. Denn so vielfach die Rezeption der Literatur und der Reiseberichte des 18. Jahrhunderts auch ist – die Breitenwirkung schaffen erst Texte wie Mimili und Heidi.74 In der Sattelzeit – so lässt sich die hier beschriebene Entwicklung wohl zusammenfassen – formiert sich die Schweiz als stereotyp gedeuteter Raum – und zwar zunächst als semantischer, der nicht notwendigerweise an den „realen“ Raum gekoppelt ist. Die kulturelle Erzeugung und Aneignung des Raumes Schweiz vollzieht sich als ein Prozess von Fremd- und Selbstzuschreibungen. Sowohl im einen wie auch im anderen Fall dienen diese Projektionen der Auslagerung lebensweltlicher Probleme. Während der Helvetismus den Projektionsraum Schweiz als Kontrastfolie zur Heterogenität der Eidgenossenschaft inszeniert, sehnen sich die ausländischen Rezipienten nach einem idyllischen Refugium – und ein solches finden sie eben in den Texten der Schweizer. Dank der nur losen Rückkopplung an den wirtschaftlichen, politischen oder topographischen Raum ist der Projektionsraum prinzipiell für Projektionen jeder Art geöffnet, wie das 72 Hinter dem Pseudonym Clauren verbarg sich der preussische Beamte Carl Gottlieb Samuel Heun. Ihm war die Schweiz zwar auch aus eigener Anschauung bekannt, vor allem aber war er mit der Schweizliteratur bestens vertraut. Vgl. Hentschel, Mythos 301–308. 73 Die Handlung ist schnell erzählt: Einen preussischen Offizier verschlägt es auf der Flucht vor der Hektik der Weltstadt Paris ins Berner Oberland. Dort läuft er auch prompt einer – vollbusigen – Schönheit in ihrer naiven Unschuld in die Arme. Natürlich entdeckt der Offizier durch ihre Unterweisung die Schönheit der Natur, Hals über Kopf verliebt er sich in sie, nach mehreren Wendungen heiraten sie schliesslich und bekommen Kinder. 74 Vgl. zu den Wandlungen des Heidi-Motivs, nicht zuletzt auch in der touristischen Verwertung in der Ferienregion Heidiland Ueli GYR, Heidi überall. Heidi-Figur und Heidi-Mythos als Identitätsmuster, in: Peter Niedermüller/Bjarne Stoklund, Europe. Cultural Construction and Reality, Kopenhagen 2001, 75–95.
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Beispiel Schweiz eindrücklich zeigt. Freiheit, Glück, Einigkeit, Tradition, Geschichte – in welchem Punkt auch immer die eigene Lebenswelt ungenügend erscheint, im Projektionsraum findet sie sich unbedingt erfüllt.
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Wissen ist Macht. Ist Wissen Macht? Geiselnahme als Strategie zur Sicherung von Wissens- und Herrschaftsräumen in der Antike S TEFANIE L ERCH (G RAZ )
„Wenn sie einem Fürsten einen Frieden gewährten, nahmen sie einen seiner Brüder oder eines seiner Kinder als Geisel. Dies gab ihnen das Mittel in die Hand, nach ihrem Belieben sein Königreich in Unruhe zu versetzen. Hatten sie den Thronfolger, so setzten sie den Regenten in ständige Furcht, hatten sie nur einen Prinzen entfernteren Grades, so bedienten sie sich seiner, um Volksaufstände zu schüren.“1 Mit diesen Worten beschreibt Montesquieu 1734 die römische Strategie zur Herrschaftssicherung, welche es der Stadt am Tiber letztlich ermöglichte, sich den orbis terrarum untertan zu machen: die Forderung nach Fürstenkindern als Garant für das Wohlverhalten ihrer Väter. Geiseln waren in der Antike ein beliebtes Mittel der Vertragssicherung, doch wie Montesquieu andeutet, bot eine Geiselnahme vor allem die Möglichkeit der politischen Einflussnahme auf fremde Gemeinwesen. Nicht nur während der Geiselschaft, sondern auch nach der Rückkehr in die Heimat bemüht man sich, die ehemaligen Geiseln als loyale Gefolgsleute zu etablieren. Die Institution der Geiselstellung war demnach ein Mittel politischen Interessen dauerhaft zu schützen. Doch wie wurde aus einer Geisel, die als solche ein Abhängigkeitsverhältnis auf Leben und Tod ausdrückte, ein treuer Verbündeter? Um diese Frage zu beantworten wird im Folgenden der Zusammenhang zwischen der antiken Geiselstellung und der integrativen Wirkung von Wissen genauer betrachtet.
1
Charles MONTESQUIEU, Größe und Niedergang Roms, Frankfurt am Main 1980 (1734), 38.
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Ohne hinreichendes Wissen 2 war und ist es unmöglich einen Machtanspruch durchzusetzen, denn erst detaillierte Kenntnis macht etablierte Machtgefüge angreifbar, aber auch abgrenzbar. Dabei spielt theoretisches Wissen sowie die Kenntnis um Mentalität, innenpolitische Abläufe oder Sprache eine wichtige Rolle.3 Um die eigene Einflusssphäre auszubauen, ist man auf einen Zugang zum Wissen anderer angewiesen. Wissen und Macht stehen demnach in einer engen Verbindung, deren Bedeutung besonders M. Foucault hervorhob. Foucault zufolge schafft detailliertes Wissen die Möglichkeit der Kontrolle und der Machtausübung. Denn es gibt keine Machtbeziehung, „ohne (die) [...] sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“ 4 Gerade dieses Spiel der Machtbeziehungen ist für die Betrachtung der antiken Geiselstellung überaus interessant und verdeutlicht ihre Funktionsweise. Denn zum einen war die Institution der Vertragsgeisel ein wichtiges Mittel zur Ausweitung und Sicherung von Herrschaftsräumen, da diese vornehmlich die Einhaltung von Verträgen verbürgten;5 zum anderen erfüllten sie – bedingt durch die meist lange Dauer der 2
In der Definition des Begriffs „Wissen“ wird Busche gefolgt, der Wissen als „[...] ein(en) Reflexionsbegriff, der die höchste Stufe der Gewissheit von Erkenntnisansprüchen bezeichnet. [...] ‚Wissen’ ist demnach die bereits mit Gewissheit gewonnene Erkenntnis.“ Hubertus BUSCHE, Wissensräume. Ein systematischer Versuch, in: Karen Joisten (Hg.), Räume des Wissens: Grundposition in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld 2010, 17–30; 20–21.
3
Während der römischen Eroberung Griechenlands wurden häufig auch Kulturgüter nach Rom abtransportiert. Neben Wertgegenständen und Marmorskulpturen ließ Sulla sogar Teile der Bibliothek des Aristoteles nach Rom bringen. Vgl. Diog. Laert. 5,32; Strab. 13,609.
4
Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafe. Die Geburt des Gefängnisses Frankfurt am Main 1994, 39; Joseph ROUSE, Power/Knowledge, in: Gary Gutting (Hg.), The Cambridge Companion to Foucault, Cambridge 2006, 95–122. Allgemein zu Foucault vgl. Gary GUTTING, Foucault, (wirklich Komma im Titel hier?) A Very Short Introduction, Oxford 2005.
5
Ascan LUTTEROTH, Der Geisel im Rechtsleben. Ein Beitrag zur allgemeinen Rechtsgeschichte und dem geltenden Völkerrecht, Breslau 1922; zur Geiselstellung vgl.: André AYMARD, Les otages barbares au début de l’Empire, Études d’Histoire Ancienne, PFLP 16 (Paris 1967) 451–460; Ders., Les otages carthaginois à la fin de la deuxième guerre punique, Études d’Histoire Ancienne, in: PFLP 16 (1967), 437–450 (=Pallas I (1953) 44–63); Ders. Philippe de Macédoine, otage à Thèbes, Études d’Histoire Ancienne, in: PFLP 16 (1967), 418–35 (=REA 56 (1954) 15–35); M. James MOSCOVICH, Hostage Regulations in the Treaty of Zama, Historia 23 (1974), 417–
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Geiselschaft und ihre Einbindung in die Elite der siegreichen Partei – die Aufgabe, längerfristig außenpolitische Faktoren zu kontrollieren, um die Herrschaftsansprüche des Geiselnehmers dauerhaft durchzusetzen. Dies geschah sowohl auf militärischer Ebene, da meist Teile der wehrfähigen Bevölkerung als Garanten herangezogen wurden, als auch auf identitätsstiftender Ebene.6 Der Befund antiker Quellen weist seit der Geiselschaft Philipps II. von Makedonien um das Jahr 368 v. Chr. immer wieder auf die Bedeutung der Wissensvermittlung für diese Form der Herrschaftssicherung hin.
W ISSENSRÄUME – S OZIALE R ÄUME Da vor allem längerfristige Verträge durch die Übergabe adeliger Kinder verbürgt wurden, sahen sich diese Jugendlichen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Wie einige Beispiele zeigen, brachten sie liebgewonnene Bräuche, Kulte, Lebensformen sogar in ihre Heimat mit. Die teils engen persönlichen Beziehungen zum Gastland hatten in vielen Fällen Auswirkungen auf das Zugehörigkeitsgefühl und damit auf das kulturelle Gedächtnis der Geiseln. Für M. Halbwachs ist die Korrelation von Gedächtnis und Raum der Ansatz eines kollektiven Gedächtnisses. 7 Somit steht das Konzept des Wissensraums und des kulturellen Gedächtnisses in enger Beziehung. „Jede Kultur bildet etwas aus, was man die konnetive Struktur nennen könnte. Sie wirkt verknüpfend und verbindend, und zwar in zwei Dimensionen: der Sozialdimension und der Zeitdimension [...] Was einzelne Individuen zu einem solchen Wir zusammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbilds, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regel und Werte, zum anderen auf
427; Ders., Obsidibus Traditis: Hostages in Caesar’s De Bello Gallico, Classical Journal 75 (1979–1980), 122–128; Ders., Hostage Princes and Roman Imperialism in the Second Century B.C., Echos du monde classique Classical Views 27 [N.S 2] (1983), 297–309; Cheryl WALKER, Hostages in the Republican Rom, phil. Diss., University North Carolina, VERLAGSORT 1980; Joel ALLEN, Hostages and Hostages – Taking in the Roman Empire, New York 2006. 6
Busche, Wissensräume, 20 ff.
7
Stefan GÜNZEL (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, 121; Jan ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988; Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2000, 16 f.
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die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt.“8 Raum und Wissen kann zu einer Methode verbunden werden, die Loyalitäten festigt und für Herrschaftsansprüche nutzbar macht: Bedingt durch die Auswahl der Geiseln durch den Sieger und die lange Vertragslaufzeiten war das Instrument der Geiselstellung ein Mittel zur dauerhaften Herrschaftssicherung. Denn gerade durch die Aufenthaltsdauer meist junger Adeliger, die sich innerhalb der fremden Gesellschaft bewegen und dabei eine soziale Position einnehmen, die man im Sinne P. Bourdieus auch als sozialen Raum beschreiben kann9, entstand ein Zugehörigkeitsgefühl. „Der soziale Raum ist so konstruiert, daß die Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen Verteilung nach zwei Unterscheidungsprinzipien ergibt, die in den am weitesten entwickelten Gesellschaften [...] die zweifelsohne wirksamsten sind, nämlich das ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital.“ 10 Den Gedanken Bourdieus folgend kann man annehmen, dass der soziale Raum ähnlich entwickelter Gemeinwesen vergleichbar strukturiert ist, sich die Individuen identischer sozialer Positionen jedoch von Raum zu Raum durch Normen und Verhaltensmuster unterscheiden können. Ein Austausch von Personen zwischen unterschiedlichen Gemeinwesen, aber innerhalb ihrer sozialen Räume, scheint daher trotz aller Gemeinsamkeiten mit Schwierigkeiten verbunden. Um eine Eingliederung zu erleichtern passten sich die Akteure ihrer Umgebung an und gerade bei Kindern brachten neue Bezugspersonen sowie die Erziehung eine weitere Annäherung mit sich. Im Allgemeinen zielte Erziehung auf die Übermittlung von Werten, Normen und Moral ab. Kinder wurden in ihrem Umfeld durch Eltern und/oder Erzieher sozialisiert und lernten die eigene Kultur in allen ihren Facetten kennen. Sprößlinge, die über einen langen Zeitraum als Geiseln im Ausland lebten, wurden dementsprechend durch eine andere Lebensweise und Kultur geprägt. In weiterer Folge entstand ein kultureller Pluralismus, der auch ein anderes Bewusstsein förderte. 11 Da es sich bei der Identitätsbildung um einen dynamischen Prozess handelt, trägt die Übermittlung von Werten, Normen und Moral einiges zu einem Assimilierungsprozess bei. 8
Ebd.
9
Zum Konzept des sozialen Raumes vgl. Pierre BOURDIEU, Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 354–368.
10 Bourdieu, Sozialer Raum, 358. 11 „Integrativ gesteigerte kulturelle Formationen, deren Integrationskraft nach innen ein Reich zusammenhält, pflegen auch nach außen eine ungewöhnliche Assimilationskraft zu entwickeln.“ Assmann, Gedächtnis, 151.
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Bereits Ramses II., ca. 1303–1213 v. Chr., wusste um die Bedeutung der Vermittlung von Wissen im Sinne der Herrschaftssicherung. Es wird berichtet, dass Libyer nach Ägypten gebracht wurden, „damit sie die Sprache der Menschen im Gefolge des Königs hören. Er macht, dass ihre Sprache verschwindet, so dass sie ihre Zunge vergessen.“12 Die libyschen Stämme im Nordwesten des Landes waren schon unter seinen Vorgängern große Feinde Ägyptens gewesen.13 Sie sollten durch das Erlernen der Sprache assimiliert werden. Die Akkulturation ausländischer Fürsten und damit einhergehend der integrative Faktor der Wissensvermittlung waren in diesem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt dieser Form von Herrschaftssicherung. Ein prominentes Beispiel für die Erziehung einer Geisel in der Fremde ist Philipp II., der in seiner Kindheit politisch unruhige Zeiten erlebte. Neben innenpolitischen Zwistigkeiten geriet Makedonien im Laufe des vierten Jahrhunderts in machtpolitische Auseinandersetzungen mit Theben, da beide Länder intendierten ihre Einflusssphäre in Thessalien auszubauen. Makedonien unterlag Theben, das damals am Höhepunkt seiner territorialen Ausdehnung war und Philipp musste als Bürge für den makedonischen König dienen. Der siegreiche thebanische Feldherr Pelopidas brachte den Knaben als Pfand nach Theben, wo dieser mehrere Jahre lebte.14 Mindestens drei Jahre habe er in der Stadt verbracht und dabei eine persönliche Bindung gewonnen, so Justin.15 Im Hause des Pammenes und unter der Aufsicht des Epameinondas wurde Philipp eine Erziehung zuteil, die ihm nicht nur die griechische Philosophie näher brachte, sondern auch 12 L.D. III, 218c, zitiert nach Torgny SÄVE-SÖDERBERGH, Ägypten und Nubien, Lund 1941, 185, auch Anm. 3. Vgl. auch http://edoc3.bibliothek.uni-halle.de/lepsius/ textb.html (10.01.2013). 13 Die Libyer waren ein Stachel im Fleisch der Ägypter. Ramses III. gelang es schließlich kurzfristig Ruhe zu schaffen, als er – wohl im Zuge der Seevölkerkriege – im Jahr 5 und im Jahr 11 seiner Regierung die Libyer besiegen konnte. Zur Mehrsprachigkeit in der Antike vgl. Terese MORGAN, Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds, Cambridge 1998. 14 Diod. 15,67,4; 16,2,2–5; Plut. Pel. 26,4; Iust. 6,9,7; 7,5,1–3; Suda s.v. țȐȡĮȞȠȢ. Vgl. auch Dio Chrys. 49,5; Plut. mor. 178 C. 15 Vgl. Iust. 7,5,3: triennio Thebis obses; Diod. 16,2,2ff. Nicholas Geoffrey Lemprière HAMMOND/Guy T. GRIFFITH, A History of Macedonia, 550–336 B.C., Bd. 2, Oxford 1979, 183. Einen Überblick über die unterschiedlichen Meinungen, wann Philipp seinen Reise antrat und wie lange sie dauerte, findet sich in: Frank William WALBANK, Philip V of Macedon, Cambridge 1940, repr. London 1967, 356. Zur strittigen Chronologie vgl. Aymard, Philippe, 418–35; M.V. HATZOPOULOS, Philippe fils d’Amyntas, otages à Thèbes, Archaiognosia 4 (1985), 37–58.
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militärisches Wissen vermittelte. So soll Philipp das Prinzip der „schiefen Schlachtordnung“16 in Theben kennengelernt und dieses Wissen später für seine Zwecke genutzt haben.17 Wie schon die Frage nach der Historizität der Geiselschaft Philipps II. an sich ist auch jene nach den Lehrjahren nur schwer zu beantworten. Für N. G. L. Hammond liegt es jedenfalls nahe, dass Philipp diese Taktik während seiner Geiselschaft von Epameinondas erlernt hat, da er sie gleich nach seiner Thronbesteigung im Kampf gegen den Illyrerkönig Bardylis erfolgreich eingesetzt habe. 18 Dieses militärische Wissen mündete jedenfalls schließlich in die Entwicklung der makedonischen Phalanx.19 Die Kenntnis um die Wichtigkeit des physischen Trainings von Soldaten und die Heeresorganisation soll er ebenso mit nach Hause genommen haben, ist Hammond überzeugt. Wissen kann, H. Busche folgend, nun in drei Formen unterteilt werden: know how, know that und know how to be.20 Philipp wurde wohl einiges theoretisches Wissen (know that) vermittelt, vor allem in Bezug auf das körperliche Training seiner Soldaten, den Einsatz der Sarissa oder der „schiefen Schlachtordnung“. Dazu kamen Kenntnisse der praktischen Aneignung, indem man sich Fähigkeiten durch die Ausübung bestimmter Handlungen ohne theoretisches Vorwissen aneignete: Ein wichtiger Punkt bei der Geiselschaft Philipps – aber auch bei Geiselstellungen allgemein – war der Erwerb von Wissen aus eigenem Erleben (know how to be), denn gerade ein Aufenthalt in einem fremden Land prägte durch die verschiedenen Erfahrungen das Wesen des Betroffenen. Fremde Gewohnheiten und kulturelle Errungenschaften üben bekannterweise im Allgemeinen eine gewisse Anziehung auf Gäste aus. Diese brachte Verständnis, aber auch 16 Diese Bezeichnung beschreibt eine militärische Taktik, bei der ein Heeresflügel verstärkt wird, um so ein punktuelles Übergewicht zu erzeugen und eine zahlenmäßig überlegene Schlachtreihe aufzureiben. 17 Vgl. Nicholas Geoffrey Lemprière HAMMOND, What may Philipp have learnt as a Hostages in Theben?, GRBS 38 (1997), 355–372. Zur Diskussion innerhalb der modernen Forschung vgl. Aymard, Philippe, 418 ff., der meint, Philipp habe aufgrund seiner Jugend nicht viel militärisches Wissen nach Makedonien mitnehmen können; J.R. ELLIS, Philipp II and the Macedonian Imperialism, London 1976, X-Y schließt sich der Meinung Aymards an; Anthony SNODGRAS, Arms and Armour of the Greeks, London 1967, 116 akzeptiert, dass Philipp in Theben das Kriegshandwerk erlernte. 18 HAMMOND, What may Philipp have learnt, 355–372. 19 Makedonische Phalanx erklären. Auch andere Feldherren nahmen die schiefe Schlachtordnung in ihr Repertoire auf: Caesar gelang es auf diese Weise die Schlacht von Pharsalos (48 v. Chr.) für sich zu entscheiden. 20 BUSCHE, Wissensräume, 23f.
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Erkenntnis mit sich, die zur Ausprägung eines anderen Habitus führen konnte.21 So im Falle Antiochos’ IV., der von Polybios mit dem Spitznamen der Verrückte tituliert wurde, da er bestimmte römische Gepflogenheiten auch in seiner Heimat beibehielt.22 Für Philipp II. lässt sich in den Quelle kein Hinweis auf die Ausbildung eines als fremd wahrgenommenen Habitus finden, auch eine besondere Verbundenheit zur Stadt Theben lässt sich nicht feststellen, führt man sich die harte Bestrafung Thebens durch Philipp II. nach der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.) vor Augen.23 Gerade das Erleben eines sozialen Raumes und gemeinsame Erfahrungen führen in vielen Fällen zu einem geteilten Erinnerungsraum24. Diese Art von geteilten Erfahrungen ermöglicht schließlich eine gemeinschaftliche Koexistenz: Kulturelle Identität einer Gruppe wird von ihren Mitgliedern durch gemeinsame Erinnerung und Wahrnehmung getragen und erneuert; sie beruht auf Abgrenzung zu einer anderen Gruppe und unterliegt einem ständigen Wandel, kann aber auch absichtlich verändert werden. 25 A. Chaniotis 26 benennt als Darstellungsträger von Identitäten u. a. Städtenamen, Dialekte, Institutionen, spezielle Bräuche und lokale Kulte, die Ausdruck für das kulturelle Gedächtnis sind. Träger dieser Identität wiedergebenden Elemente sind beispielsweise Münzen, Texte oder Eigennamen. Tracht, Religion, Sprache sind Erkennungsmerkmale einer Identität, die als archäologische Funde, wie beispielsweise auf Münzbilder, überliefert sind. Chaniotis führt zudem die Möglichkeit an, die Identität einer Gruppe durch gemeinsam Erlebtes zu generieren. Gerade bei der langen Dauer der Geiselschaft spielt dies eine wichtige Rolle. So beschreibt eine Vielzahl von antiken 21 Vgl. Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, 277–354. 22 Für die Übernahme fremder Sitten und Gebräuche bietet Antiochos IV. Epiphanes Anschauungsmaterial, der im Jahr 189 v. Chr. nach Rom kommt, um den Friedensvertrag zwischen Antiochos dem Großen und dem römischen Senat zu verbürgen. Vgl. Polyb. 26,1,5–6. 23 Wie schon bei der Frage nach der Geiselhaft Philipps stützt sich auch die Frage nach Philipps Bildung auf einige Indizien, die auf einen Aufenthalt und eine Erziehung in Theben hinweisen, echte Beweise lassen sich jedoch nicht finden. 24 Vgl. Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. 25 Günther SCHÖRNER, Romanisierung – Romanisation: Theoretische Modelle und praktische Fallbeispiele, Oxford 2005, 15–25. 26 Angelos CHANIOTIS, Vom Erlebnis zum Mythos: Identitätskonstruktionen im kaiserzeitlichen Aphrodisias, in: Elmar Schwertheim (Hg.), Stadt und Stadtentwicklung in Kleinasien, Bonn 2003, 69–84.
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Texten die Anpassung von Geiseln an die Sitten und Gebräuche ihrer „Gastgeber“ als erwünscht. Geteilte Erinnerungsräume spielen dabei in einigen Fällen eine besondere Rolle, wie im Folgenden anhand der engen Beziehung zwischen dem griechischen Historiographen und Politiker Polybios und dem römischen Feldherrn Scipio Aemilianus gezeigt wird. Nach der Schlacht von Pydna (167 v. Chr.) veranlasste die romfreundliche Partei in Megalopolis die Auslieferung von 1.000 politischen Gegnern an Rom, unter denen sich auch Polybios befand. Der griechische Politiker wurde schließlich Hauslehrer der Kinder seines Gegners. Polybios unterstrich nicht ohne Stolz die Wichtigkeit seiner pädagogischen Rolle.27 In seiner Funktion als Lehrer gab die Geisel dem römischen Nachwuchs neben dem Unterricht (know that) viel angewandtes Wissen und Erfahrungen über Politik, Strategie, Denkmuster und Sitten der Griechen (know how to be) weiter. Gleichzeitig eröffnete sich Polybios ein Zugang, der tiefe Einblicke in die römische Innenpolitik und ihre Mechanismen gewährte. Die starke persönliche Bindung zwischen Polybios und Scipio Aemilianus war zudem wohl der ausschlaggebende Faktor für die weitere Karriere des Polybios. Polybios pflegte aber nicht nur Kontakte zu Römern, sondern auch zu anderen griechischen Geiseln. Seine guten Beziehungen zu Teilen der römischen Elite nutzte er geschickt, um sich für die Freilassung seiner Landsleute einzusetzen.28 Zu einzelnen Geiseln knüpfte er auch persönliche Beziehungen. So verband ihn mit Demetrios I. Soter eine enge Freundschaft. Polybios unterstützte Demetrios in seinem Anspruch auf den seleukidischen Thron 29 und übernahm bei der Planung seiner Flucht aus der römischen Geiselschaft eine aktive Rolle.30 151 v. Chr. gab der Senat den achaiischen Geiseln schließlich die Freiheit wieder und Polybios kehrte in seine Heimat zurück. Doch bereits kurze Zeit später trat Scipio Aemilianus mit der Bitte an ihn heran, Polybios möge als sein politischer Berater fungieren. Die gemeinsamen Erfahrungen in Rom hatten die Basis für eine enge Beziehung geschaffen. Sie waren „[...] unablässig bemüht, 27 A.E. ASTIN, Scipio Aemilianus, Oxford 1967, 298 und Frank William WALBANK, A Historical Commentary on Polybius, Bd. 3, Oxford 1979, 498 schenken diesen Ausführungen wenig Glauben. Arthur ECKSTEIN, Moral Vision in the Histories of Polybios, Berkeley 1995, 79–82 vertritt eine gegenteilige Meinung. Allen, Hostage, 209, Anm. 31, sieht in diesem Text eher das Interesse des Polybios in der Selbstdarstellung und in seinem Selbstverständnis liegt, als im Wahrheitsanspruch der Darstellung. 28 Polyb. 33,1,3–8; 14. Im Jahr 150 v. Chr. wurden die Verbannten schließlich entlassen vgl. Polyb. 35,6 = Plut. Cato mai. 9. 29 Polyb. 31,12. 30 Polyb. 31,19–23. Vgl. Eckstein, Vision, 12.
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sich im Leben und Handeln einer vor dem anderen zu bewähren, und so erwuchs eine gegenseitige Liebe von einer Innigkeit, als wären sie verwandt, wie zwischen Vater und Sohn.“31 Polybios begleitete Scipio Aemilianus nach Spanien und weiter auf diplomatische Mission nach Africa. Er erlebte die Zerstörung Karthagos mit und vermochte es nicht Korinth das gleiche Schicksal zu ersparen, „doch war sein Ansehen bei den Römern so groß, dass er sich erfolgreich für seine besiegten Landsleute verwenden und bei der Senatskommission, die mit der Neuordnung der Verhältnisse beauftragt war, manche Milderung durchsetzen konnte [...].“32 Schließlich beauftragte die Kommission Polybios mit der Weiterführung ihrer Arbeit und verließ im Jahr 145 v. Chr. Griechenland. Gerade die gemeinsamen Erfahrungen und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler wirkten über die Geiselschaft hinaus stark verbindend. Mit Hilfe seiner persönlichen Kontakte konnte Polybios zwar die Zerstörung Korinths nicht verhindern, doch erhielt er danach die Gelegenheit, die Geschicke des Landes mitzugestalten. Der lange Aufenthalt der Geiseln und ihre Aufnahme in den engsten Kreis der führenden römischen Familien bedingten einen sozialen Austausch mit dem „Feind“. Das gemeinsame Erleben von Haus und Stadt, aber auch die gemeinsamen Erfahrungen führten zur Ausbildung eines gemeinsamen Erinnerungsraums.33 Auf diese geteilten Erinnerungsräume konnten alle adeligen Vertragsgeiseln zurückgreifen, was ihre Bindung an Rom verstärkte.
31 Polyb. 32,11,1. 32 Michael ZAHRNT, Anpassung – Widerstand – Integration: Polybios und die römische Politik, in: Norbert Ehrhardt/Linda-Marie Günther (Hg.), Widerstand – Anpassung – Integration. Die griechische Staatenwelt und Rom. Festschrift für Jürgen Deiniger zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2002, 79. Appian unterstreicht die Bedeutung der Freundschaft zwischen Polybios und Scipio ebenfalls. Er beschreibt, dass Scipio Aemilianus nach der Zerstörung Korinths zu seinem Lehrer Polybios gekommen war, um über die Bedeutung der Ereignisse zu sinnieren, vgl. App. Pun. 132. Polybios wird ebenfalls nicht müde, seine Rolle als Berater zu unterstreichen: vgl. Polyb. 31,23,1; 31,23,12; 31,24,5; 31,24,10; 31,24,11 33 Assmann, Erinnerungsräume.
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Kulturelle Identität vereint eine Gruppe, indem sie die Gruppe von anderen trennt. Komponenten kultureller Identität finden sich – wie bereits erwähnt – in Dialekten, Institutionen, lokalen Bräuchen, Lebensformen, Essgewohnheiten, lokalen Kulten und Ritualen.34 Durch die Übernahme fremder Gewohnheiten und der fremden Sprache sucht man die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, da Gemeinschaft Sicherheit vermittelt. Doch wieder in der Heimat rufen die äußeren Merkmale einer solchen Zugehörigkeit mitunter Erstaunen hervor. Von Geiseln, die in ihre Heimat zurückkehrten, überliefern antike Autoren, bisweilen voller Verwunderung, welche Bräuche übernommen wurden.35 Trotz der Schwierigkeiten der Akzeptanz wurde das Konzept der formgebenden und sinnstiftenden Betreuung jugendlicher Geiseln durch die Instanzen der Macht schließlich auch auf andere adelige Jugendliche umgelegt. Bereits im Laufe des ersten Jahrhunderts beherbergte man Kinder ausländischer Klientelkönige, die wie bei einem Sprachaufenthalt Latein lernen sollten bzw. nach Rom geschickt wurden um die römischen mores kennen und verstehen zu lernen, sozusagen als Vorbereitung auf ihre zukünftige Rolle als Herrscher.36 Diese Entwicklung kulminierte schließlich im Laufe des ersten Jahrhunderts v. Chr. in der Einrichtung von Schulen für fremde Fürstenkinder.37 Als Beispiel für eine solche Schule sei an dieser Stelle die Schule in Osca erwähnt, welche der römische Feldherr Quintus Sertorius einrichtete. In die Zeit der Nachwehen des Bundesgenossenkrieges (91–88 v. Chr.) fielen die Machtspiele des abtrünnigen Sertorius in Spanien. Sertorius brachte den Prokonsul der hispanischen Provinzen, Q. Metellus Pius, stark unter Druck und es gelang ihm große Teile des Landes unter seine Kontrolle zu bringen. Sein Herrschaftsgebiet konsolidierte Sertorius mit Hilfe der Kinder der hispanischen Stammesführer. Er forderte die Stammesoberhäupter auf, ihre Kinder nach Osca zu schicken, um sie dort nach römischem Vorbild erziehen zu lassen.38 Plutarch
34 Chaniotis, Erlebnis, 69–84. 35 Vgl. Anm. 22. 36 David BRAUND, Rome and the Friendly King. The Character of the Client Kingship, London u. a. 1984, 10–14. Die Grenzen scheinen ein wenig zu verschwimmen, denn immer mehr Fürsten schickten ihre Söhne nach Rom auch wenn sie keinen einen Vertrag verbürgten. 37 In späterer Zeit finden sich Beleg für weitere Schule z. B. Augustudonum. 38 Plut. Sert. 25,4; vgl. auch Christoph F. KONRAD, Plutarch's Sertorius. A Historical Commentary, North Carolina 1997; Victor EHRENBERG, Ost und West: Studien zur
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beschreibt die Vorgänge mit folgenden Worten: „Am sichersten aber gewann er sie für sich durch sein Verfahren mit ihren Söhnen. Er ließ nämlich die vornehmsten Knaben aus den Stämmen in der großen Stadt Osca zusammenziehen, bestellte für sie Lehrer in Griechisch und Latein und machte sie so tatsächlich zu Geiseln, während er vorgab, er lasse sie dazu erziehen, dass sie Männer geworden, an der Regierung und der Staatsverwaltung teilnehmen könnten. Die Väter freuten sich dann außerordentlich, wenn sie ihre Söhne in purpurverbrämten Kleidern wohlgeordnet zur Schule gehen sahen, wo Sertorius die Lehrer für sie besoldete, häufig Prüfungen abnahm, an diejenigen, die sich auszeichneten, Preise verteilte und ihnen die goldene Umhängekapsel schenkte, die die Römer bulla nennen.“39 Die Väter waren stolz ihre Söhne in der toga praetexta, der purpur gestreiften Toga, zu sehen, die römische Knaben bis zu ihrer Volljährigkeit trugen. Durch diesen Schachzug konnte sich Sertorius die Wertschätzung aber auch die Treue ihrer Familien sichern. Offiziell waren diese Kinder keine Geiseln, dennoch befanden sie sich in Sertorius’ Obhut, der so ein wertvolles Pfand in Händen hielt. Solange sich ihre Väter dem Willen des Sertorius beugten, wurden die Söhne standesgemäß behandelt. Quintus Sertorius baute auf die Unbeliebtheit der römischen Herrschaft auf der iberische Halbinsel sowie das fehlende römische Interesse an den Vorgängen in Spanien. Das Konzept der Loyalitätssicherung durch die kontrollierte Öffnung von Wissensräumen nutzte er für seine Zwecke geschickt aus. Kleidung und Sprache vermittelten dabei kulturelle Zugehörigkeit, sowohl nach außen, als auch nach Innen. Die Erziehung schuf gerade durch die Vermittlung von Sitten, Moralvorstellungen und Gebräuchen kulturelle Identität. So errichtete Sertorius Machtstrukturen, auf die er später aufbauen konnte. Ein weiteres Beispiel für die Verbreitung kultureller Identität findet sich in der berühmten Episode bei Tacitus, die beschreibt, wie Agricola zum Erzieher und Lehrer der provinzialen Elite in Britannien wird. Tacitus unterstreicht dabei, wie die römische Erziehung zur Verrohung der Sitten der britannischen Kinder führte und in zunehmender Korruption mündete. 40 Gleichzeitig verdeutlichen geschichtlichen Problematik der Antike, Prag 1935, möchten in dieser Schule ein neues Konzept der Provinzverwaltung sehen und Adolf SCHULTEN, Sertorius, Leipzig 1926, bezeichnet die Schule als Basis Sertorius’ Herrschaftgebiet. Philip O. SPANN, Quintus Sertorius and the Legacy of Sulla, Fayetteville 1987, 166, sieht in dieser Schule eine Sammlung von Geiseln. 39 Plut. Sert. 14. 40 Vgl. Richard HINGLEY, Globalizing Roman Culture. Unity, Diversity and Empire, London/New York 2005, 35 ff.
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Tacitus’ Kommentare die römische Auffassung, die Verbreitung von Kultur und Identität seien Teile des Zivilisationsprozesses.41 Dabei beschreibt der Autor die Vermittlung fremder Sitten durch die Erziehung und ihre katastrophalen Auswirkungen: „Ferner ließ er die Söhne der Vornehmen in den freien Künsten bilden, wobei er der natürlichen Begabung der Britannier gegenüber dem Lerneifer der Gallier den Vorrang gab. So kam es, daß die Menschen, die eben noch die römische Sprache ablehnten, nun die römische Redekunst zu erlernen begehrten. Von da an gab man sich dem verweichlichenden Einfluß des Lasters hin: Säulenhallen, Bäder und erlesenen Gelagen. Und so etwas hieß bei den Ahnungslosen Lebenskultur, während es doch nur ein Bestandteil der Knechtschaft war.“42 Dieser Text macht deutlich, wie sich ein römischer Autor die Verbreitung römischer Erziehung durch Magistrate vorstellte.43 Eines der wichtigsten Mittel zur Integration junger Britannier war wie sooft das Erlernen von Sprachen. Wie weit derartige Schulprojekte verbreitet waren, müsste in einer separaten Studie genau untersucht werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es wohl einige davon gegeben haben wird, wie die Schule in Augustodunum ahnen lässt.44 Diese Form der Erziehung war selbstverständlich nur einem kleinen Teil der Bevölkerung – den Söhnen der vornehmsten Familien – zugänglich.45 Lateinische Sprache und römische Kultur wurden zu fundamentalen Bestandteilen der verschiedenen Gemeinwesen und eröffneten den Menschen neue Möglichkeiten. Die römische Erziehung ließ in den Köpfen der Kinder eine neue Sicht auf die Welt entstehen, indem die provinziale Gesellschaft in die römische Kultur mit ihren Konzepten von Ordnung, Autorität und Identität eingegliedert wurde. In vielen Fällen ge41 Rhiannon EVANS, Containment and Corruption: the Discourse of Flavian Empire’, in: Anthony Boyle/William Dominik (Hg.), Flavian Rome: Culture, Image, Text, Leiden 2003, 103. 42 Tac. Agr. 21 43 Vgl. Hingley, Globalizing. 44 Bekannt ist beispielsweise die Schule in Augustodunum, der Stadt der Häduer. Hier studierte die vornehme Jugend die artes liberales. Die Kultur der Besatzer verbreitet sich nicht unbedingt unter Zwang. Wenn nun aber die vornehme Jugend die Raffinesse der lateinischen Sprache lernte, blieb wenig Zeit für die eigene Kultur und es bildete sich Raum für die Entstehung einer neuen Kultur, in diesem Fall einer gallorömische Kultur. vgl. auch Morgan, Education, 28–9. 45 „We do know, from classical texts, that the education of the sons of chiefs was fundamental in the spread of Latin language and Roman culture, although, as we shall see, others were also exposed to Latin (for instance traders and the army).“ Hingley, Culture, 68. Im Folgenden wird auf Hingley Bezug genommen.
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schah diese Art der Akkulturation mithilfe der Söhne mächtiger Potentaten befreundeter Königreiche oder Klientelkönige, die in einigen Fällen auch nach Rom gebracht und dort in die römische Lebenswelt eingeführt.
W ISSENSRÄUME UND H ERRSCHAFTSSICHERUNG Als Paradebeispiel für die Bedeutung der Wissensvermittlung sei an dieser Stelle auf Iuba von Mauretanien verwiesen: Dem römischen Herrscher mit africanischen und hellenistischen Wurzeln es gelang es, seinen langen Aufenthalt in Rom für die Bildung eines politischen Netzwerkes zu nutzen, welches ihm die Gründung einer eigene Dynastie ermöglichte. Juba, der Sohn Jubas I. von Mauretanien, kam bereits als Kind im Gefolge Caesars nach Rom und genoss, seinem Stand entsprechend, eine vortreffliche Erziehung. Um 25 v. Chr., nachdem Juba herangewachsen war und sich seine militärischen Sporen in Spanien verdient hatte, wurde er zum König von Mauretanien bestimmt. 46 Dem Zeitgeist entsprechend betätigte sich Juba als Gelehrter und verfasste zahlreiche Bücher in griechischer Sprache.47 Seine Selbstdarstellung als Herrscher stand in verschiedenen kulturellen Traditionen, die sich im Bildprogramm seiner Münzen wiederfinden lassen. 48 Besonders interessant ist dies in Hinblick auf seine Legitimation als Herrscher, wobei die Auswahl seiner Münzbilder bemerkenswert ist.
46 Duane ROLLER, The world of Juba II. and Kleopatra Selene, New York 2003, 74– 75. Neben dem Antritt seiner Herrschaft in Mauretanien war ein sehr wichtiger Schritt die Verleihung des römischen Bürgerrechts, welches sich jedoch nur indirekt über den Namen Julia und Julius mauretanischer Freigelassener fassen lässt. Zur Verleihung des römischen Bürgerrechts vgl. speziell Roller, Juba, 74–75, Anm. 129. Jubas Position als patronus coloniae in Carthago Nova impliziert ebenfalls die Verleihung des römischen Bürgerrechts, da ein Nicht-Römer wohl kaum als Wächter über die römische Verfassung abgestellt worden wäre. 47 Seine Bücher sind verloren gegangen, nur einige Zitate und lobende Erwähnungen seiner Arbeit bei anderen Autoren lassen die Bedeutung seines Werkes erahnen. Vgl. Plut. Sert. 9; Plin. nat. 5,16. 48 Michèle COLTELLONI-TRANNOY, Le culte royal sous Juba II et Ptolémée, in: Afrique du Nord. Antique et Médiévale. Spectacles, vie portuaire, religions, in: Actes du Ve colloque international sur l’histoire et l’archéologie de l’Afrique du Nord, Paris 1992, 69–80; Dies., Le royaume de Maurétainie sous Juba II et Ptolémée (25 av. J.–C. – 40 ap. J.C.), 2002 Paris, 161–186.
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Münzen waren (und sind) bekanntlich nicht nur ein wirtschaftspolitisches, sondern auch ein kulturpolitisches Instrument, das viele Informationen über die Repräsentation des Herrschers enthielt. Münzbilder und -legenden wurden genutzt um Botschaften zu verbreiten und propagandistisch zu verwerten. Dabei wurden verschiedene Bevölkerungsgruppen gezielt angesprochen.49 Da Münzen neben ihrer Funktion als Kommunikationsmittel auch Identität wiedergebende Elemente sind, sollen einzelne Münztypen Jubas nun genauer betrachtet werden.50 Wie konnte der römische Klientelkönig die verschiedenen kulturellen Traditionen, mit denen er vertraut war, nutzen um seine Herrschaft gegenüber Rom und gleichzeitig gegenüber seinem Volk abzusichern? Juba II. brach mit der traditionellen Portraitdarstellung seiner Heimat und knüpfte, indem er sich mit der hellenistischen Herrscherbinde abbilden ließ, an die großen hellenistischen Könige an. Die Breite der Binde erinnert an die Bildnisse der Ptolemäer und verweist auf die langen Beziehungen zu Ägypten, aber natürlich auch auf seine Gemahlin Kleopatra Selene, Tochter Kleopatras VII., die ihm von Augustus zur Frau gegeben wurde. Ihr Bildnis findet sich häufig auf Münzen, wobei sie als hellenistische Königin mit ägyptischen Attributen dargestellt wird. Zur Betonung ihrer vornehmen Abstammung ist die Legende in griechischer Sprache geschrieben. An das ptolemäische Erbe knüpft auch der Name des gemeinsamen Sohnes und Thronfolgers, Ptolemaios, an. In den Münzportraits Jubas wurde die Rolle als römischer Klientelkönig trotz der hellenistischen Reminiszenzen stark betont.51 So war die Umschrift in der
49 Die Bedeutung als kulturpolitisches Instrument soll nicht verschleiern, dass die Herausgabe von Münzemissionen zunächst eine wirtschaftliche Maßnahme war und dass der Einfluss neuer Bilder durch bereits umlaufendes Geld eingedämmt wurde. Reinhard WOLTERS, Die Geschwindigkeit der Zeit und die Gefahr der Bilder: Münzbilder und Münzpropaganda in der römischen Kaiserzeit, in: Gregor Weber/Walter Zimmermann (Hg.), Propaganda, Selbstdarstellung, Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n. Chr., Stuttgart 2003, 192; Caroline LEHMLER, Syrakus unter Agathokles und Hieron II. Die Verbindung von Kultur und Macht in einer hellenistischen Metropole, Frankfurt am Main 2005, 60–61; Christopher HOWGEGO, Coinage and Identity in the Roman Provinces, in: Christopher Howgego/Volker Heuchert/ Andrew Burnett (Hg.), Coinage and Identity in the Roman Provinces, Oxford 2005, 1–18, 1. 50 Vgl. Anm. 26. 51 Die Münzprägung Jubas war umfangreich und umfasste Gold-, Silber- und Bronzeprägungen. Vgl. Jean MAZARD, Corpus nummorum Numidiae Mauretaniaeque, Paris 1955, 71–126.
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Regel in lateinischer Sprache.52 Juba versuchte zum einen seine Untertänigkeit als römischer Bürger und von Augustus eingesetzter Klientelkönig und zum anderen africanische Traditionen zu unterstreichen. 53 Die römischen Vorbilder werden außerdem bei einer großen Zahl an Rückseitenbildern seiner Prägungen deutlich. Römisch-republikanische wie augusteische Münzbilder wurden teilweise exakt kopiert, wie das Beispiel des capricornus demonstriert, den Juba als Rückseitenbild darstellen ließ. Der capricornus ist ein Mischwesen – Ziegenbock mit Fischschwanz –, der mit Globus, Füllhorn und Steuerruder54 abgebildet wurde und das Sternzeichen des Augustus. Er wurde als das Legitimationssymbol für Herrschaft verstanden. Aber nicht allein die Abbildung des kaiserlichen Sternzeichens, sondern auch andere genuin römische Motive finden sich auf den Münzen Jubas.55 Klientelkönige hatten einen offensichtlichen Grund ihre Beziehungen zu Rom zu bewerben. Nicht nur, da ihre Macht an Rom geknüpft war, sondern vielmehr weil sie in einigen Fällen ihre persönlichen Kontakte zeigen konnten. Die Münze avancierte zu einem Vermittler zwischen Herrscher und Bevölkerung, der so politische Konzepte oder Wertesysteme transportieren konnte. Diese politische Zugehörigkeit fand auch in der Ikonografie Ausdruck.56 Juba 52 Es finden sich auch zweisprachige Münzen, Avers Juba mit lateinischer Umschrift und Revers Kleopatra mit griechischer Umschrift, die eine doppelte Identität mit unterschiedlichem Inhalt ausdrücken. Vgl. Mazard, Corpus, Nr. 369; SNG Cop. 570– 573; Howgego, Coinage, 13. 53 Vgl. Hans BALDUS, Die Münzprägung der numidischen Königreiche, in: Heinz Günther Horn/Christoph B. Rüger (Hg.), Die Numider. Reiter und Könige nördlich der Sahara. Kunst und Altertum am Rhein, Bonn 1979, 187–208, 196. 54 Baldus, Münzprägung, 198. 55 So ist beispielsweise die Praxis, Monumente auf Münzen abzubilden eine römische Innovation. Burnett hat gezeigt, dass diese Praxis im Westen und von einigen Klientelkönigen (bis 68 n. Chr.) übernommen wurde. Andrew BURNETT, Buildings and Monuments on Roman Coins, in: Georg Paul/M. Ierardi (Hg.), Roman Coins and Public Life under the Empire, in: E. Togo Salmon Papers, Bd.2, Ann Arbor 1999, 137– 164, 154 ff. So z.B. von Juba I., Herodes Philip und Agrippa I. 56 Im Gegensatz zu Mithridates VI., der sich ähnlich wie Alexander der Große idealisiert als jugendlicher Herrscher darstellen ließ, zeigte sich Ariobarzanes I. von Kappadokien als alter Mann mit faltiger Hals und kurzen Haaren. Hierbei handelt es sich um eine deutliche Reminiszenz an die republikanische Portraitkunst. Diese Münzen, welche die politische Orientierung an Rom zum Ausdruck brachten, werden philorhomaioi genannt. Als weiteres Beispiel dafür dient Tarkondimotos I. Philantonios von Kilikien, der an der Seite des Marcus Antonius in der Schlacht von Actium fiel.
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gelang es, in den Münzbildern ägyptische, griechische und römische Identität und deren Austausch darzustellen. Aus den 22 Jahren, die Juba in Rom verbrachte, ist kaum literarisches Quellenmaterial bezüglich seiner Biographie überliefert. Doch musste diese Zeit den jungen Juba entscheidend geprägt haben: 46 bis 25 v. Chr. waren politisch äußerst turbulente Jahre: Für einige Aufregung sorgte kurz nach Caesars Triumph Kleopatras Reise mit Kaisareion nach Rom und ihr Aufenthalt in Caesars Haus. Unsicher wurde die politische Lage nach der Ermordung Caesars, auf welche der Aufstieg und Fall des Marcus Antonius, sowie die Transformation des Adoptivsohns Caesars in Augustus folgten.57 Dynasten aus dem Osten, wie beispielsweise Herodes der Große, besuchten in diesen bewegten Jahren gemeinsam mit ihren Söhnen Rom und Juba war Teil dieser dynamischen Umgebung. Jubas Integration in die römische Gesellschaft setzte eine Politik fort, die im zweiten Jahrhundert v. Chr. ihrem Anfang genommen hatte. Man brachte adelige Kinder – anfänglich hauptsächlich Geiseln, später auch Kinder von Klientelfürsten – nach Rom, um sie dort zu erziehen und setzte damit einen Akkulturationsprozess in Gang. Durch die Ausnutzung des soziales Raumes und dem reglementierten Zugang zu Wissen gelang es Rom so dauerhaft seine Herrschaft zu sichern aber auch zu erweitern.
Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Geiselstellung als Strategie zur Herrschaftssicherung eine doppelte Bedeutung zukam: Geiseln halfen Verträge und Abkommen zu sichern. Um aber seine Herrschaft sukzessive weiter auszubauen, war es von Vorteil sich auch ihres Wissensraumes zu bemächtigen. Denn schließlich musste man sich in einer Zeit, in der Wissen nicht einfach abrufbar war, ein Bild von fremden Verhältnissen machen können. Auch dazu dienten die Geiseln, denn sie verfügten über genaue Kenntnisse ihrer Heimat. Für die selbst Geiseln stellte sich der Aufenthalt ein wenig anders dar: Sie waren primär Ausdruck eines hierarchischen Verhältnisses, dennoch konnte eine Geiselschaft für die eigenen Ambitionen durchaus von Vorteil sein. Geiseln
Das Münzportrait seines Patrons Marcus Antonius unterscheidet sich nur durch die fehlenden Königsbinde und die lateinische Umschrift. Robert FLEISCHER, Hellenistic Royal Iconography on Coins, in: Per Bilde (Hg.), Aspects of Hellenistic Kingship, Odense 1996, 28–40; 37, Abb. 21, 22. 57 Roller, Juba.
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lernten die lateinische Sprache sowie römische Sitten und Gebräuche kennen, in einigen Fällen auch militärische Taktiken; damit erhielten sie Zugang zu einem Wissensraum, der es ihnen ermöglichte zu profunden Kennern des römischen Herrschaftsgebietes zu werden. Mit diesem Wissen um die römische Gesellschaftsstruktur fiel es einigen von ihnen leichter die Stellung etwa als Klientelkönig zu behaupten. Durch die Geiselschaft veränderte sich der soziale Raum der Geisel zwar nicht wesentlich, sehr wohl aber der soziale Hintergrund und damit auch die kulturelle Identität. Dies bedingte aber auch einen Wandel des Habitus der betreffenden Personen, was immer wieder auch zu Problemen führte. Denn bei zu schwacher Einflussnahme auf die Geiseln gelang keine dauerhafte Bindung, bei zu starker hingegen konnte sich der von Rom eingesetzte Vasall nicht durchsetzen, da die Geisel bloße Marionette der Römer gesehen wurde. Gerade die Wahrnehmung durch Außenstehende war ein entscheidender Faktor. Somit ermöglichte es die Institution der Vertragsgeisel in der Antike und im Besonderen im Kulturraum des Römischen Reiches anhand von Erweiterung, Verknüpfung und Integration von Wissensräumen, kulturelle Identitäten und damit auch Herrschaftsräume zu festigen, zu stärken oder gar zu schaffen. Dieses Konzept fand noch weit über die Antike hinaus Anwendung und wurde in Europa erst in der Neuzeit als völkerrechtliches Instrument abgeschafft.
L ITERATUR Joel ALLEN, Hostages and Hostages – Taking in the Roman Empire, New York 2006. Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. Jan ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988. Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2000. A.E. ASTIN, Scipio Aemilianus, Oxford 1967. André AYMARD, Les otages barbares au début de l’Empire, Études d’Histoire Ancienne, PFLP 16 (1967), 451–460. Ders., Les otages carthaginois à la fin de la deuxième guerre punique, Études d’Histoire Ancienne, PFLP 16 (1967), 437–450 (=Pallas I (1953) 44–63).
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Ders., Philippe de Macédoine, otage à Thèbes, Études d’Histoire Ancienne, PFLP 16 (1967) 418–35 (=REA 56 (1954) 15–35). Hans BALDUS, Die Münzprägung der numidischen Königreiche, in: Heinz Günther Horn/Christoph B. Rüger (Hg.), Die Numider. Reiter und Könige nördlich der Sahara. Kunst und Altertum am Rhein, Bonn 1979, 187–208. Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987. Pierre BOURDIEU, Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 354–368. David BRAUND, Rome and the Friendly King. The Character of the Client Kingship, London u. a. 1984. Hubertus BUSCHE, Wissensräume. Ein systematischer Versuch, in: Karen Joisten (Hg.), Räume des Wissens: Grundposition in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld 2010, 17–30. Andrew BURNETT, Buildings and Monuments on Roman Coins, in: Georg Paul/M. Ierardi (Hg.), Roman Coins and Public Life under the Empire, in: E. Togo Salmon Papers, Bd.2, Ann Arbor 1999, 137–164. Angelos CHANIOTIS, Vom Erlebnis zum Mythos: Identitätskonstruktionen im kaiserzeitlichen Aphrodisias, in: Elmar Schwertheim (Hg.), Stadt und Stadtentwicklung in Kleinasien, Bonn 2003, 69–84. Michèle COLTELLONI-TRANNOY, Le culte royal sous Juba II et Ptolémée, in: Afrique du Nord. Antique et Médiévale. Spectacles, vie portuaire, religions, in: Actes du Ve colloque international sur l’histoire et l’archéologie de l’Afrique du Nord, Paris 1992, 69–80. Dies., Le royaume de Maurétainie sous Juba II et Ptolémée (25 av. J.–C. – 40 ap. J.C.), Paris 2002, 161–186. Arthur ECKSTEIN, Moral Vision in the Histories of Polybios, Berkeley 1995. Victor EHRENBERG, Ost und West: Studien zur geschichtlichen Problematik der Antike, Prag 1935. J.R. ELLIS, Philipp II and the Macedonian Imperialism, London 1976. Rhiannon EVANS, Containment and Corruption: the Discourse of Flavian Empire’, in: Anthony BOYLE/William DOMINIK (Hg.), Flavian Rome: Culture, Image, Text, Leiden 2003. Robert FLEISCHER, Hellenistic Royal Iconography on Coins, in: Per BILDE (Hg.), Aspects of Hellenistic Kingship, Odense 1996, 28–40. Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafe. Die Geburt des Gefängnisses Frankfurt am Main 1994, 39. Gary GUTTING, A Companion to Foucault, Cambridge 2006, 95–122.
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Raumstruktur und Raumsemantik in Ian McEwans Enduring Love J OHANNES W ALLY (G RAZ )
1
W ARUM EINE A NALYSE IN E NDURING L OVE ?
DER
R ÄUME
Der 1997 erschienene Roman Enduring Love nimmt eine Sonderstellung im Schaffen des britischen Schriftstellers Ian McEwans ein. Er ist der letzte und komplexeste von vier Romanen, die in einer zehnjährigen Schaffensperiode entstanden sind, in der McEwan sein Themenspektrum zunehmend erweitert hat, und die McEwan als zusammengehörend bezeichnet hat.1 Als Ideenroman verhandelt Enduring Love das Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn, wobei dieser Gegensatz mit Blick auf das epistemologische Potential von Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Religion variiert wird.2 Trotz dieser thematischen Komplexität ist Enduring Love von der Literaturwissenschaft noch nicht umfassend gewürdigt worden. Unter den einschlägigen Publikationen ist vor allem die von Childs herausgegebene Monographie Ian McEwan’s Enduring Love3 hervorzuheben. Neben der Einordnung des Romans in literarische, kulturelle und wissenschaftliche Kontexte und einem Überblick über die unmittelbare Rezeption des Romans sind es die unterschiedlichen critical readings, die Aufmerksamkeit verdienen. Was jedoch auch in dieser Studie keine Beachtung findet, sind die Räume, die der Roman evoziert und die für den 1
Peter CHILDS (Hg.), The Fiction of Ian McEwan. Houndmills/New York 2006, 120.
2
Die einschlägige Sekundärliteratur hat insbesondere den Einfluss jüngerer neo- darwinistischer Theorien auf Enduring Love untersucht (vgl. z. B. James M. MELLARD, ‚No Ideas But in Things‘: Fiction, Criticism, and the New Darwinism, in: Style 41/1 (2007), 1–25.).
3
Peter CHILDS (Hg.), Ian McEwan’s Enduring Love. London/New York 2007.
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Roman strukturgebend sind. Das Fehlen einer solchen Untersuchung ist insofern bemerkenswert, als eine Analyse der Räume einen wesentlichen Beitrag zur Interpretation leistet. Enduring Love erzählt die Geschichte einer Obsession. Nach einem Ballonunfall wird der Wissenschaftsjournalist Joe Rose zum Objekt der Begierde des Privatiers Jed Parry. Jed leidet am de Clérambault-Syndrom, einer Zwangsvorstellung, die Objekt und Subjekt einer Liebesbeziehung vertauscht: Jed verliebt sich in Joe, ist aber überzeugt, dass die Liebe auf Gegenseitigkeit beruht und er kodierte Botschaften von Joe erhält. Unter den Kontaktversuchen Jeds gerät Joes Welt sukzessive ins Wanken. Dass eine Deutung des Romans im Sinne dieser Zusammenfassung immer wieder in Zweifel gezogen wird, hat mit der komplexen Erzählsituation zu tun. Insbesondere die Verlässlichkeit des primären Erzählers, Joes, ist hinterfragt worden.4 Dieser Zweifel wird vom Roman selbst nahegelegt. Wie Clarissa, Joes Ehefrau, in einem Streit zu ihrem Ehemann sagt: „He [Jed]’s not the cause of your agitation, he’s a symptom“.5 Wenn sich die folgende Analyse der Funktion der Räume in Enduring Love widmet, so tut sie das nicht zum Selbstzweck. Vielmehr wird die Frage nach der Verlässlichkeit von Joes Erzählung im Lichte der Raumanalyse noch einmal zu stellen sein.
2
T HEORETISCHER R AHMEN IN E NDURING L OVE
UND
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2.1 Das Verhältnis von Raum und Grenze in Juri Lotmans Die Struktur literarischer Texte Um eine Analyse der Räume von Enduring Love hermeneutisch nutzbar zu machen, greife ich auf die von Juri M. Lotman entwickelte Raumtheorie zurück. Die neuere Literatur- und Kulturwissenschaft hat Lotman vor allem als Wegbereiter der possible world theory gewürdigt.6 Dieser Würdigung liegt Lotmans
4
Ebd., 45: „The surface of Joe’s words belies the reality beneath.“
5
Ian MCEWAN, Enduring Love. London 2004, 84. Bei allen weiteren Zitate aus Enduring Love werden nur mehr die Seitenzahlen im Text angegeben.
6
Vgl. Werner WOLF, Chance in Fiction as a Privileged Index of Implied Worldviews: A Contribution to the Study of the World-Modelling Functions of Narrative Fiction, in: John Pier/José Angel Garcia Landa (Hg.), Theorizing Narrativity. Berlin/New York 2008, 165–210, 166; Ansgar NÜNNING, Making Events – Making Stories – Making
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Diktum von Kunst als „sekundär modellbildendes System“ 7 zugrunde. Diese Annahme ist auch für die vorliegende Analyse wichtig. Wichtiger jedoch ist ein weiteres Konzept Lotmans: das Konzept der Grenzüberschreitung als handlungskonstituierendes Ereignis. Lotman geht von der These aus, dass jede natürliche Sprache als primär modellbildendes System räumliche Kategorien als „grundlegende Mittel zur Deutung der Wirklichkeit“8 heranzieht. Adjektivpaare wie „hoch-niedrig“, „rechtslinks“, „offen-geschlossen“ oder Substantivpaare wie „Himmel-Erde“ oder „Erde-Unterwelt“ dienen nicht allein der Beschreibung einer physischen Realität, sondern können als Metaphern implizierte Deutungen ausdrücken. 9 Die Verschränkung dieser Deutungen und der jeweiligen räumlichen Signifikanten ist so fundamental, dass sie eine anthropologische Grundkonstante darstellen. Sprachliche Raummodelle sind das fundamentale Organisationsprinzip eines Weltbildes. Nachdem ein literarischer Text ein sekundär modellbildendes System darstellt, und er sich einer natürlichen Sprache als Medium bedient, ist es zwingend, dass das jeweilige sprachliche Raummodell auch im literarischen Werk seinen Niederschlag findet. Doch mit der Verwendung der natürlichen Sprache und dem ihr innewohnenden Weltbild ist, wie Lotman anmerkt, die Definition von Kunst als sekundär modellbildendes System nicht ausgeschöpft. Ein literarisches Kunstwerk stellt eine eigenständige, aus dem „Material der natürlichen Sprache geschaffene […] Struktur“ 10 dar. Entsprechend radikaler ist auch Lotmans Raumtheorie. Das räumliche Modell der Welt in literarischen Texten ist das „organisierend[e] Element [...]“;11 es ist „eine Sprache, die die anderen, nicht räumlichen Relationen des Textes ausdrückt“.12 Das wichtigste Merkmal des literarischen Raumes ist die Grenze. Diese hat die Eigenschaft der Unüberschreitbarkeit 13 und teilt den Raum in „disjunkte Worlds: Ways of Worldmaking from a Narratological Point of View, in: Vera Nünning u. a. (Hg.), Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narrative. Berlin/New York 2010, 191–214, 207. 7
Juri Michailowitsch LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-
8
Ebd., 313.
9
Ebd.
Dietrich Keil. München 1972, 22.
10 Ebd., 24. 11 Ebd., 316. 12 Ebd., 330. 13 Lotman modifiziert den Absolutheitscharakter der Grenze wenige Seiten später und spricht von der Grenze, die „unter normalen Umständen unüberschreitbar ist.“ (Ebd., 341).
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Teilräume“.14 Die Unüberschreitbarkeit der Grenze ist insofern zentral, als sie „das Potential für eine narrative Dynamik“ 15 birgt. Gelingt einer Figur eine Grenzüberschreitung, so wird diese zum Handlungsträger. 16 Die Grenzüberschreitung selbst konstituiert ein „Ereignis“.17 Ein Ereignis definiert Lotman als „die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“18, wobei „Sujet“ im Sinne des russischen Formalismus als Plot verstanden werden kann. 19 Die Grenzüberschreitung als handlungskonstituierendes Ereignis ist für Lotman das zentrale Element, mit Hilfe dessen er sujetlose von sujethaften Texten trennt.20 Wir können also sagen, dass eine Grenzverletzung – die infolge der spezifischen Struktur literarischer Texte eine Normverletzung symbolisiert – der narrative Motor eines literarischen Textes ist: „Deshalb kann das Sujet immer auf die Hauptepisode zusammengezogen werden – die Überschreitung der grundlegenden topologischen Grenze in der Raumstruktur.“21 Wenn wir uns nun in weiterer Folge einer Analyse der Räume in McEwans Roman Enduring Love zuwenden, so wird die Identifikation einer solchen Grenzüberschreitung bzw. solcher Grenzüberschreitungen das zentrale Anliegen sein.
14 Ebd., 327. Diese Behauptung scheint in direktem Gegensatz zu Foucaults Annahme zu stehen, „dass eine Grenze, die nicht überschritten werden konnte [...] nicht existent ist.“ (Michel FOUCAULT, Vorrede zur Überschreitung, in: Walter Seitter (Hg.), Von der Subversion des Wissens. Frankfurt am Main 1987, 28–45). Hier ist allerdings zu beachten, dass auch bei Lotman eine Grenze erst mit ihrer Überschreitung schlagend, d. h. handlungsinitiierend wird. Es lässt sich also argumentieren, dass erst mit ihrer Überschreitung eine Grenze auch als solche wahrgenommen wird. 15 Matias MARTINEZ/Michael SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, 140. 16 LOTMAN, Struktur, 341. 17 Ebd., 330. 18 Ebd. 19 Vgl. Karl Nikolaus RENNER, Grenze und Ereignis, in: Gustav Frank/Wolfgang Lukas (Hg.), Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann. Passau 2004, 357–381, 357 ff. 20 LOTMAN, Struktur, 336–338. 21 Ebd., 338.
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2.2 Räume in Enduring Love anhand zweier Lotman’scher Oppositionen Die Handlung in Enduring Love entfaltet sich entlang einer Hauptachse zwischen London und Oxford sowie einer Nebenachse zwischen London und den North Downs, einem Höhenzug im Süden Englands. Hinsichtlich seiner räumlichen Makrostruktur legt der Roman damit eine „Stadt-Land-“ bzw. „ZentrumPeripherie-Einteilung“ nahe. Diese Einteilung generiert tatsächlich einen zentralen Gegensatz, den der Roman ambivalent ausbeutet. Allerdings ist zu beachten, dass die oben aufgelisteten Handlungsräume vielfach untergliedert und oft mehrfach semantisiert sind. Diese Untergliederung geht bis zu einer Mikroebene, die das Ehebett von Clarissa und Joe darstellt. So liegen nach einem Streit Clarissa und Joe schweigend in einem (im metaphorischen Sinne) von Grenzen durchzogenen Bett: „We were like armies facing each other across a maze of trenches“ (139). Der Gegensatz „Zentrum-Peripherie“ erweist sich folglich als zu eingeschränkt. Eine adäquatere Gliederung kann mittels zweier fundamentaler Kategorien Lotmans erfolgen. Diese Kategorien sind „oben-unten“ bzw. „offen-geschlossen“.22 Das Gegensatzpaar „oben-unten“ ist für den Roman Enduring Love von grundlegender Bedeutung. Es visualisiert gängige hierarchische Wertungen, wobei in Bezug auf die Figurenkonstellation von Joe und Parry die Konnotation „rational-irrational“ durch die entsprechende Platzierung der Figuren ausgedrückt wird. Folgende zentrale Schauplätze sind anhand dieser Opposition aufzulisten: Tabelle 1: Räume anhand der Opposition „oben-unten“ oben
unten
• Himmel
• Erde
• Hügelgipfel
• Fuß des Hügels
• Dachgeschoßwohnung
• Straße (auf der Joe wartet)
• The Chilterns
• North Downs
22 Ebd., 327.
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Das letzte in Tabelle 1 aufgelistete Gegensatzpaar bedarf eines Kommentars: Im geographischen Sinne handelt es sich hier um einen Nord-Süd-Gegensatz. Kartographisch wird dieser jedoch in gängiger Weise als ein Gegensatz von „obenunten“ dargestellt.23 In Enduring Love werden beide Gegenden mit den üblichen Wertungen versehen. Die Landschaft The Chilterns ist ein, wenn auch ambivalenter, locus amoenus. Das Haus in den North Downs hingegen ist ein ironisierter locus horribilis, der Schauplatz eines brutalen Kampfes auf Leben und Tod. Wenn wir nun die Räume von Enduring Love anhand der Opposition „offengeschlossen“ differenzieren (vgl. Tabelle 2), müssen wir wieder berücksichtigen, dass dieser Gegensatz ebenfalls sowohl topographisch als auch metaphorisch zu deuten ist. In topographischer Hinsicht wird diese Opposition durch den Gegensatz „Land-Stadt“ sowie „offenes Gelände-Wohnraum“ realisiert. Der geschlossene Raum ist dabei mehrheitlich positiv konnotiert und entspricht damit der von Lotman vorgeschlagenen Wertigkeit: Geschlossene Räume werden häufig mit positiv konnotierten Adjektiva wie „heimisch“ oder „sicher“ assoziiert.24 Die Handlung von Enduring Love ermöglicht jedoch auch eine Anwendung des Gegensatzes „offen-geschlossen“ auf den geschlossenen Raum, insbesondere der Wohnung von Clarissa und Joe. „Offen“ bezeichnet hier einen für verschiedene Figuren betretbaren Raum, „geschlossen“ einen nur für einen Charakter bestimmten Raum. Die Küche als Ort der Begegnung ist demnach ein offener Raum (vgl. z. B. 28 und 214). Die jeweiligen Arbeitszimmer von Clarissa und Joe hingegen sind geschlossene, nur für die jeweiligen Charaktere betretbare Räume. Unbefugter Eintritt kommt einer Grenzüberschreitung gleich und wird sanktioniert (vgl. 132). Das Schlafzimmer wechselt seine Konnotation im Zuge des Romans. Mit der zunehmenden Entfremdung zwischen Joe und Clarissa verlegt Clarissa ihren Schlafplatz in das Kinderzimmer. Das Schlafzimmer als Ort der Verbindung von Clarissa und Joe hört somit auf zu existieren und wird Ort und Symbol für Joes Isolation (vgl. 149). Diese Resemantisierung eines Raumes kann durch Lotmans Raumtheorie erklärt werden. Räume sind nicht Träger unveränderlicher Bedeutungen. Vielmehr gewinnen sie ihre Bedeutung im Textzusammenhang, insbesondere aber im Bezug zu den Figuren, mit denen sie assoziiert werden.25
23 Insbesondere in den Cultural Studies ist die damit verbundene implizierte Wertung kritisiert worden (vgl. z. B. Jeremy BLACK, Maps and Politics, Chicago 1997). 24 LOTMAN, Struktur, 327. 25 Ebd., 328.
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Tabelle 2: Räume anhand der Opposition „offen-geschlossen“ Offen Land/Peripherie
geschlossen Stadt/Zentrum
• The Chilterns, North Downs
• London
• Oxforshire
• Oxford
Stadtviertel, offenes Gelände
Haus/Wohnung
• Maida Vale (London)
• Dachgeschoßwohnung
• Oxford
• Logans Haus
• North Downs
• Haus in der Nähe von Abinger
• St. James Square (London)
• London Library
• Bloomsbury (London)
• Bookstore Wohnräume (offen)
Wohnräume (geschlossen)
• Küche
• Joes Arbeitszimmer
• Dachterrasse
• Clarissas Arbeitszimmer
• Schlafzimmer
• Schlafzimmer
2.3 Eine grundlegende Grenzüberschreitung in Enduring Love? In ihrer Exemplifikation von Lotmans Raumtheorie ziehen Martinez und Scheffel Thomas Manns Tod in Venedig als Beispiel eines modernen Erzähltextes heran.26 Die zentrale klassifikatorische Grenze, die der Protagonist Aschenbach
26 MARTINEZ/SCHEFFEL, Einführung, 143.
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in diesem Text überschreitet, ist die Fahrt von München nach Venedig. Mit München verlässt er einen Ort bürgerlicher Ordnung und betritt mit Ende der Fahrt einen Ort, an dem diese Ordnung nicht mehr gilt. Beide Orte sind durch klare Gegensatzpaare konnotiert, z. B. „Ordnung vs. Chaos, apollinisch vs. dionysisch, Heterosexualität vs. Homosexualität“.27 Analog zu dieser Einteilung drängt sich bei Enduring Love das Gegensatzpaar The Chilterns-London auf. The Chilterns fungiert als Paradies und London als Ort des alltäglichen Lebens, des Lebens nach dem Sündenfall. Die Stadtgrenze Londons wäre demnach die klassifikatorische Grenze, die Joe und Clarissa überschreiten. Tatsächlich ist der Wechsel von London zu The Chilterns die zentrale Grenzüberschreitung, welche die Handlung initiiert. Alle weiteren Ortswechsel sind Funktionen dieser fundamentalen Grenzüberschreitung. Wie allerdings die Klassifikation der Handlungsräume in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt hat, greift diese Einteilung zu kurz. Das liegt vor allem an der dynamischen Entwicklung von Joes Charakter, infolge derer es zu einer Inversion in der Figurenkonstellation kommt. Ist Joes Fahrt mit Clarissa von Heathrow zu The Chilterns eine selbstbestimmte Handlung, so sind alle weiteren seiner Handlungen Reaktionen auf den Ballonunfall, insbesondere auf Jeds Erotomanie. Joe ist damit nicht mehr der primäre Träger der Handlung. Folglich muss eine zweite zentrale Grenzüberschreitung, bei der nicht Joe, sondern Jed Protagonist ist, Beachtung finden. Eine solche konstituiert das Eindringen Jeds in die Dachgeschoßwohnung von Clarissa und Joe vor der klimaktischen Szene am Ende des Romans. Dieses Eindringen vergegenständlicht das Grundmuster des Romans, der, auf das Skelett seiner Fabel reduziert, nichts anderes als eine Dreiecksgeschichte ist, in der eine bestehende Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen durch eine dritten Person gefährdet wird.
3
G RENZÜBERSCHREITUNGEN ALS HANDLUNGS KONSTITUIERENDE E REIGNISSE IN E NDURING L OVE
3.1 Der Ballonunfall als Sündenfall Enduring Love beginnt mit der Schilderung eines Ballonunfalls. Mehrere Männer, darunter der primäre Erzähler Joe, versuchen einen Heißluftballon unter Kontrolle zu bringen, scheitern allerdings. Einer der Helfer, John Logan, verun-
27 Ebd.
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glückt dabei tödlich. Wie Childs erläutert, ist das von den am Ballonunfall beteiligten Männern erlebte Dilemma typisch für Dilemmata, wie sie in der Spieltheorie simuliert werden.28 Wenn nun der Ballonunfall das Forschungsanliegen einer verhältnismäßig jungen Wissenschaft ins Zentrum rückt, so ist die durch den Unfall ausgelöste Schuldfrage, die für den Handlungsfortgang bzw. für die Interpretation des Romans von zentraler Bedeutung ist, wesentlich älter. Wie alt, das lässt sich am Raum der Eröffnungsszene festmachen. Die Verortung eines Liebespaares in der paradiesischen Hügellandschaft The Chilterns sowie die gottgleiche Perspektive, die zu Beginn des Romans evoziert wird, sind eindeutige Anspielungen auf das Buch Genesis. Auch der erste Satz „The beginning is simple to mark“ ist nicht nur ein metareferentieller Kommentar am Beginn der Erzählung, sondern auch ein Bibelzitat. Sowohl der erste Schöpfungsbericht als auch das Johannesevangelium beginnen mit dem Verweis auf den Anfang aller Dinge: „In the beginning God created the heaven and the earth“ 29 bzw. „In the beginning was the word“. 30 Die Verweise auf die Entstehung der Welt werden von Joe in säkularisierter Form zu Beginn des zweiten Kapitels wiederholt: „Let’s give the half minute after John Logan’s fall careful consideration. […] Whole books, whole research departments, are dedicated to the first half minute in the history of the universe“ (17). Von den Figuren ist sich Clarissa als Literaturwissenschaftlerin der biblischen Anspielungen bewusst. Sie zitiert in Bezug auf den Todessturz von John Logan aus Miltons Paradise Lost: „Hurl’d headlong flaiming from th’Etheral Sky“ (29). Durch diese intertextuellen Verweise werden Joe und Clarissa zu Adam und Eva und Jed, der in ihre Beziehung eindringt, zur Schlange. Enduring Love wird folglich die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies.31 Die Wertungen, die den Figuren in dieser Konstellation eingeschrieben sind, finden in Bezug auf Joe und Jed einen räumlichen Ausdruck. Nach dem Scheitern des Versuchs, den Ballon auf dem Boden zu fixieren, sehen die Helfer dem 28 Vgl. CHILDS, Enduring, 26. Die Spieltheorie versucht rationale Entscheidungsprozesse zu simulieren. Die Grundannahme ist, dass jede Person den maximalen Eigennutzen sucht, diesen aber nur durch Kooperation erreichen kann. Wenn alle Männer gemeinsam versuchen, den Ballon am Boden zu halten, können sie das Kind retten. Lässt jedoch einer los, um sich selbst zu retten, kann das zum Tode aller anderen führen. Nachdem für die Beteiligten nicht vorhersehbar ist, ob bzw. wann jemand die Halteleinen loslassen wird, muss jeder Beteiligte abschätzen, ob Kooperation oder Egoismus seine Überlebenschancen erhöht. 29 Gen 1,1. 30 Joh 1,1. 31 Vgl. CHILDS, Enduring, 47.
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Ballon und dem an einer Halteleine hängenden John Logan nach. Der Ballon driftet auf Hochspannungsleitungen zu, die gleichsam als zivilisatorische Leistungen den Garten Eden in Enduring Love begrenzen (vgl. 13). Auf einem Hügel beobachten die Helfer Logans Sturz. Nach den ersten Schockmomenten geht Joe den Hügel hinunter, um den Leichnam John Logans zu inspizieren. Der Ort von Logans Aufschlag variiert nun das locus amoenus-Motiv, das wir bereits als Echo des Garten Edens identifiziert haben. Eine pastorale Landschaft wird ironisch evoziert. Zwar fehlen die Hirten, nicht aber die Schafe. In unmittelbarer Nähe einer Schafherde ist John Logan aufgeschlagen (vgl. 22). Auf der Ebene, die sich vom Fuße des Hügels weg erstreckt, kommt es neben John Logans Leiche zu einem ersten Gespräch zwischen Joe und Jed, in dem Jed Joe auffordert, mit ihm zu beten. Hält man sich vor Augen, dass Joe und Jed gegensätzliche Epistemologien verkörpern – Joe steht für (materialistisch gefärbten) Rationalismus, Jed für (religiös gefärbten) Wahnsinn32 –, so ist es bezeichnend, dass diese erste bewusste Begegnung am Fuße des Hügels und nicht am Gipfel des Hügels stattfindet. Mit dem Kontrast „oben-unten“ wird auch der Gegensatz von „Vernunft-Wahnsinn“ ausgedrückt und damit die Wertung „gut-böse“ suggeriert. Dass diese Grenzüberschreitung auch den Beginn einer Entwicklung markiert, die Joes Rationalismus schwer in Mitleidenschaft ziehen wird, legt Joe durch die düstere Beschreibung seines Hügelabstiegs nahe: „This long descent was my punishment“ (22). Freilich muss mit dem Abstieg zur Leiche Logans noch ein weiteres biblisches bzw. mythisches Motiv mitgedacht werden: der Abstieg ins Totenreich. Joe muss einen Graben und einen Stacheldrahtzaun überwinden, gleichsam eine doppelte Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten, bevor er zur grotesk verstümmelten Leiche Logans gelangt (vgl. 22). Der Gang zu John Logans Leiche ist somit doppelt negativ konnotiert: einerseits durch die Konfrontation mit Wahnsinn, andererseits durch die Konfrontation mit dem Tod. So eindeutig die biblischen Anspielungen, insbesondere die Parallelen zur Geschichte von Adam und Eva, auch sind, ein wesentlicher Unterschied muss beachtet werden: Weder Clarissa noch Joe wurden von einem Gott in einen Garten Eden hineingestellt. Dem Ballonunfall geht auf Ebene der Historie die bewusste Entscheidung des Paares, das Wiedersehen mit einem Picknick zu feiern, voraus. Ebenso folgt Jed Joe nicht unaufgefordert zur Leiche Logans, sondern wird von Joe aufgefordert (vgl. 21). In gewissem Sinne ist die Katastrophe, die Enduring Love erzählt, somit auch eine Konsequenz der Handlungen
32 Vgl. David MALCOM, Understanding Ian McEwan. Columbia 2002, 157.
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des Rationalisten Joes. Kiernan Ryan33 folgt in seiner Interpretation diesem Ansatz mit aller Konsequenz und liest Enduring Love als Dokument eines höchst unzuverlässigen Erzählers, der für das Auseinanderbrechen seiner Ehe eine dritte Person verantwortlich machen möchte. Tatsächlich legen einige Details in Joes Erzählung einen beinahe an Schizophrenie grenzenden Hang zur Selbstbeobachtung und damit zur Überinterpretation, wenn nicht gar zur Unzuverlässigkeit, nahe.34 Trotz der Widersprüchlichkeiten in Joes Erzählung sind Interpretationen wie die Ryans dennoch nicht zwingend. Joe erzählt eine höchst emotionale Begebenheit aus seinem Leben. Ungereimtheiten können daher auch im Sinne eines psychologischen Realismus gelesen werden. Sie wären demnach (Fehl-) Leistungen der Erinnerung des autodiegetischen Erzählers, die jedoch die prinzipielle Gültigkeit des Erzählten nicht erschüttern können. 35 Wie Malcolm formuliert: „For all the reservations the reader might have about Joe’s vision of the world, and the make up of his mind, he is righter than the rest and wins in the end.“36 Gerade aber wenn wir Joes Erzählung als en gros zuverlässig lesen, stellt sich die Frage, woran die Beziehung zwischen Clarissa und Joe vorübergehend zerbricht, mit umso größerer Dringlichkeit. Wer also – in Anbetracht des oben skizzierten Handlungsverlaufs – trägt, wie eingangs gefragt, „Schuld“? Joe mit seiner Obsession oder Jed mit seiner? Eine Analyse des Raumes, in dem sich der Ballonunfall ereignet, kann darauf eine Antwort geben. Bevor sechs Fremde sich an die Leinen hängen, um den Ballon am Boden zu halten, scheint der Ballonfahrer den Ballon unter Kontrolle gebracht zu haben. Dann aber treibt ein Windstoß den Ballon in die Höhe (vgl. 9). Schuld an den Ereignissen in Enduring Love trägt demnach der Wind, der, wie Joe bemerkt, an diesem Tag besonders heftig ist und oft dreht. Der Wind aber, insbesondere der heftige Wind oder Sturm, ist ein Symbol für irrationale Leidenschaft. 37 Diese Interpretation scheint insofern zulässig, als der 33 Kiernan RYAN, After the Fall, in: Peter Childs (Hg.), Ian McEwan’s Enduring Love. London/New York 2007, 44–54. 34 MALCOLM, Understanding, 163. 35 Enduring Love thematisiert diese Erinnerungsthematik u. a.in der Szene, in der Joe von Wallace, dem Polizisten, mit den unterschiedlichen Aussagen zur Schießerei konfrontiert wird (vgl. 180 f.). Joe, der einen Artikel über Wissenschaftsnarrativen schreibt, zeigt sich sogar zutiefst skeptisch in Bezug auf den Erkenntniswert von Erzählungen (vgl. 49; vgl. dazu auch Martin RANDALL, “I Don’t Want Your Story”: Open and Fixed Narratives in Enduring Love, in: Peter Childs (Hg.), Ian McEwan’s Enduring Love. London/New York 2007, 55–65, 57. 36 MALCOLM, Understanding, 181. 37 Michael FERBER, A Dictionary of Literary Symbols. Cambridge 2007, 235–237.
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stürmische Wind in Enduring Love nicht auf die Anfangsszene beschränkt ist. Auch wenn sich Joe und Jed das erste Mal nach dem Ballonunfall wieder begegnen, schwillt der Wind an (vgl. 62). Der Wind in Enduring Love kann folglich im Sinne einer Korrespondenznatur als Symbol für irrationale und letztlich jenseits des menschlichen Willens liegende Leidenschaft gedeutet werden. Dies legt auch Joes missbilligende Überlegung nahe: „[The ballon] was a precarious form of transport when the wind, rather than the pilot set the course“ (5). Wenn der Wind aber als Symbol für irrationale Leidenschaft gedeutet wird, erhält der Sturz eine weitere Bedeutung. Die englische Sprache drückt die Macht erotischer Gefühle durch eine Raummetapher, die die Machtlosigkeit des Subjekts dieses Prozesses suggeriert, aus: to fall in love. Jed ist somit nicht die Schlange, wie Childs vorschlägt, sondern Opfer eines unkontrollierbaren, und in seinem Falle sogar pathologischen, Gefühls. 3.2 Der geschlossene Raum: zwei Analysen Wenden wir uns nun dem paradigmatischen Zivilisationsraum zu: der Wohnung bzw. dem Haus. Als geschlossene Räume grenzen sich beide gegen offene Räume ab, die sich allerdings, wie Erkenntnisse der Siedlungsgeographie zeigen, tendenziell unterscheiden. Während die Wohnung eher ein urbanes Phänomen ist, so ist das Wohnhaus eher ein ländliches. 38 Der Gegensatz „offen-geschlossen“ entfaltet sich somit einmal im Kontrast „Wohnung-Stadt“ und einmal im Gegensatz „Haus-ländlicher Raum“. Die zweite dieser Oppositionen führt in Enduring Love die bereits erwähnte, grundsätzliche Opposition „Stadt-Land“ fort. Wie zu zeigen sein wird, sind diese Gegensätze von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des Romans. 3.2.1 Das Haus in den North Downs als Ort einer ironischen Spiegelerzählung Das Kapitel 21 von Enduring Love ist einem illegalen Pistolenkauf gewidmet. Nach der Schießerei im Restaurant und dem Unwillen des Polizisten Wallace, Jed als reale Bedrohung wahrzunehmen, beschließt Joe, sich zu bewaffnen. Er kontaktiert Johnny, einen gealterten Kleinkriminellen und Drogenhändler, der einen Kontakt zu „Althippies“ herstellt. Wie sich im Verlauf der Szene herausstellt, werden die „Althippies“ durch eine finanzielle Notlage zum Pistolenver-
38 Georg NIEMEIER, Siedlungsgeographie. Das Geographische Seminar. Braunschweig 1977, 36.
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kauf genötigt. Zum Zwecke des Pistolenkaufs fahren John Well und Joe zu einem „mock-Tudor-house“ in den North Downs (192). In der Fachliteratur ist die Szene immer wieder als unnötig kritisiert worden, als „slenderly connected short story inserted into the novel“,39 deren Funktion sich weitgehend im Stilmittel der comic relief erschöpft. Doch solch eine Bewertung übersieht die eigentliche Dimension dieser Szene. Weit davon entfernt unnötig zu sein, ist sie in struktureller Hinsicht funktional, da sie Jeds Anheuern eines Killer-Kommandos spiegelt. Sie deutet folglich an, wie ähnlich sich Joe und Jed sind. Darüber hinaus bietet sie dem Leser nicht nur Entlastung, sondern einen komplexen Kommentar zum Hauptstrang des Plots, der die Ähnlichkeit zwischen Protagonist und Antagonist wieder relativiert. Die Fahrt von London in die North Downs ist parallel zur Fahrt von London zu The Chilterns, dem Ort des Ballonunfalls, strukturiert. Wie Ryan40 anmerkt, beginnt der Weg Clarissas und Joes zu ihrem Garten Eden mit dem Eindringen der Charaktere in den paradigmatischen märchenhaften Ort, den Wald. Ebenso müssen Joe und Johnny auf der Fahrt zum Ort des Pistolenkaufs eine bedrohliche Waldlandschaft durchqueren (vgl. 191). Im Einklang mit dem ironischen Unterton des gesamten Kapitels ist diese Waldlandschaft jedoch nur scheinbar bedrohlich. Sie ist kein Gegenort zum Zivilisationsort „Stadt“, sondern „a countryside which [is] itself deep in a suburb“ (ebd.). Am Ende ihrer Fahrt finden Joe und Johnny das bereits erwähnte „mock-Tudor-house“, dessen Garage mit einem rostigen Vorhängeschloss versperrt ist. An der Garagenwand ist eine Hundekette, allerdings ohne Hund, befestigt und auf der Grasfläche vor der Garage liegen inmitten von Brennnesseln „the skeletons and entrails of half a dozen motorbikes“ (192). Aus dem Haus selbst dröhnt das Riff eines E-Basses. Joe und Johnny parken bei der Garage und gehen zur Eingangstür des Hauses. Bevor sie jedoch das Haus betreten können, werden sie an der Schwelle von Steve, einem der beiden Pistolenverkäufer, aufgehalten. Steve möchte sie nicht hineinlassen, da er den Tag verwechselt hat und durch ihr Auftreten irritiert ist. Als sie schließlich das Haus betreten und sich das Tor hinter ihnen schließt, befinden sie sich in einer übelriechenden Finsternis (vgl. 193). Es ist schwierig, die oben aufgelisteten Attribute dieses Hauses nicht als Persiflage einer Unterweltvorstellung zu lesen. Zu eindeutig wird eine solche von dem Wächter, der zeitlichen Desorientierung, den vor dem Haus herumliegenden verwesenden Leichen – wenn es sich auch nur um Ersatzteile für Motorräder handelt –, dem Höllenlärm, der Finsternis und dem Gestank evoziert. Sogar ein Cerberus bevölkert als pars pro toto die Szene. Allerdings ist er weder dreiköp39 CHILDS, Enduring, 36. 40 Vgl. Ryan, Fall, 49.
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fig noch anwesend, aber dafür maßgeblich für den Gestank verantwortlich: „[T]he dog’s crapped all over the kitchen floor“ (193). Die eigentliche Kaufverhandlung findet in der Küche statt. Dort befinden sich Daisy und Xan, die zusammen mit Steve eine Hippiekommune bilden. Das Gespräch, das sich zwischen den Figuren entspinnt, beutet den zuvor angedeuteten Stadt-Land-Gegensatz auf der Figurenebene aus. Johnny beschreibt die beiden Hippies als „intellectuals“ (190). Tatsächlich weisen sie ihre Kommentare aber als Anhänger eines New-Age-Weltbildes aus, in dem Menschen mittels Aura und astrologischen Kennziffern kategorisiert werden. Als Anhänger eines, wie der Text suggeriert, gestrigen Weltbildes erinnern die „Althippies“ an den literarischen Typus des country bumpkin. 41 Im Lichte dieser ironischen Figurenzeichnung müssen auch die moralischen Bedenken der Figuren gedeutet werden. Für Geld sind die „Althippies“ zwar willens, Waffen zu verkaufen, allerdings erst nachdem Joe versichert hat, dass er die Waffe zur Selbstverteidigung braucht (vgl. 199). Schließlich kommt es zu einem Kampf auf Leben und Tod zwischen Xan und Steve, da beide fürchten, vom jeweils anderen um ihren Teil des Kaufgeldes betrogen zu werden. Die Küche, die in der Wohnung von Clarissa und Joe als Ort der ehelichen Begegnung fungiert, erhält in dieser Szene eine negative Wertung. Joe und Johnny verlassen mit der Pistole das Haus, da Johnny erklärt, dass er nicht zugegen sein möchte „if something happens“ (202). Dieser Kampf, in dem Steve und Xan vor Daisy am Küchenboden ringen, ist das deutlichste Indiz für die Klassifikation dieser Szene als Spiegelerzählung. Der Kampf antizipiert die Überwältigung Jeds durch Joe vor der gefangenen Clarissa, wie sie im nachfolgenden Kapitel erzählt wird. Wie Ryan argumentiert: „[I]n the crackpot ménage of Xan, Steve and Daisy, shackled to each other in ‘a complicated sexual alliance’ [...], the novel burlesques the fraught misalliance of Joe, Jed and Clarissa.“42 Die integrale Funktion dieser Episode lässt sich auch an ihrer räumlichen Struktur ablesen. Wie gezeigt wurde, initiiert die Überschreitung der Stadtgrenze die Handlung und das Eindringen in den Gegenort ist – parallel zur Anfangsszene – durch das Eindringen in den Wald markiert. Darüber hinaus ist der Raum, wenn auch nur indirekt, nämlich in seiner symbolischen Darstellung, anhand der Lotman’schen Opposition von „oben-unten“ semantisiert. Das Haus der „Althippies“ liegt im Süden von London. Kartographisch liegt es damit 41 Zur Figur des country bumpkin vgl. Laura J. ROSENTHAL, Masculinity in Restoration Drama, in: Susan Owen (Hg.), Companion to Restoration Drama. Malden, MA 2001, 92–108. 42 RYAN, Fall, 53.
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„unterhalb“ Londons. 43 Das Eindringen in den destruktiven Raum der Irrationalität und Gewalt ist folglich in genauer Analogie zu Joes Gang zu Logans Leiche dargestellt. Als locus horribilis fungiert das Haus der Althippies als Gegenstück zum locus amoenus, den The Chilterns konstituieren. Der Raum und die ihm zugehörigen Figuren dieser Szene kommentieren somit den Haupterzählstrang des Romans. Es wird angedeutet, wie Enduring Love auch hätte ausgehen können, wäre Joe so irrational wie Jed bzw. wie Steve und Xan gewesen. 3.2.2 Klimax der Handlung: Einbruch als Grenzüberschreitung Sowohl der Ballonunfall als auch der Pistolenankauf sind als Handlungen analysiert worden, die durch die Überschreitung der Grenze zwischen Zentrum und Peripherie initiiert werden. Die folgende Analyse widmet sich einer neuen, qualitativ anderen Grenzüberschreitung: Jed dringt in die Wohnung von Clarissa und Joe ein; d. h. nicht mehr Joe ist Handelnder, sondern Jed. Clarissa und Joe wohnen in einer feudalen Dachgeschoßwohnung. Auf dem Flachdach befindet sich ein Dachgarten, der einen privilegierten und vom Verkehrslärm abgeschirmten Ausblick auf den Hyde Park gewährt. Die Wohnung selbst vergleicht Joe mit der Kommandobrücke eines großen Schiffs, die Fenster sind „strengthened against the squalls of urban life“ (54). Die Wohnung erscheint folglich als archetypisches Bollwerk gegen die Welt, die Sturmmetapher in Joes Beschreibung greift den Ballonunfall auf und weist die eheliche Wohnung als einen Ort der Geborgenheit, nicht aber der irrationalen Leidenschaft aus. Die Wohnung von Joe und Clarissa entspricht somit Lotmans primärer Semantisierung geschlossener Räume.44 Eine weitere Bedeutung kommt der spezifischen Verortung des Lebensraums Joes und Clarissas im letzten Stock zu. Bachelard entwickelt in seiner Poetik des Raumes eine Theorie des Hauses als Ort der Erinnerung. Der Dachboden ist in seiner Theorie als Gegenstück zum Keller zu lesen. Während dieser ein Ort der Irrationalität ist, ist der Dachboden ein Ort der Rationalität.45 Dieser Gegensatz strukturiert als Variation der bereits bekannten Opposition „oben-unten“ das Verhältnis von Joe und Jed. In mehreren Szenen wird Jed als auf der Straße wartend und den Blick nach oben, zur Dachgeschoßwohnung gehoben, gezeigt. Die räumlichen Strukturen werden auch in dieser Szene zum Ausdruck von Hierarchien. Sie deuten einerseits den Gegensatz von Rationalität und Irrationa43 Diese Beobachtung wird zumindest durch den zweiten Teil des Namens der Gegend, in der das Haus der „Althippies“ steht, verstärkt: North Downs. 44 Vgl. LOTMAN, Struktur, 327. 45 Gaston BACHELARD, Poetik des Raumes. Übers. von Kurt Leonhard. Wien 1975, 50.
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lität an, andererseits Machtstrukturen: Die Wohnung bleibt für Jed bis zur klimaktischen Szene physisch unerreichbar. Dennoch ist die Wohnung trotz ihrer Eigenschaft als Festung bereits vor der klimaktischen Szene durchlässig: Sie stellt keine absolute kommunikative Grenze dar. Einerseits liest Jed in den Bewegungen der Vorhänge Liebesbotschaften Joes ab (vgl. 78), andererseits kann Jed telefonisch, und damit partiell bereits vor seinem Einbruch, in die Wohnung eindringen. Dieses partielle Eindringen in die Wohnung von Clarissa und Joe spiegelt Jeds Eindringen in das Bewusstsein Joes und damit in seine Beziehung mit Clarissa. In räumlicher Hinsicht verändert das Eindringen die Semantisierung der Wohnräume. Es kommt zum dem bereits erwähnten Bruch zwischen Joe und Clarissa. Sie zieht aus dem Schlafzimmer aus (vgl. 149). Wenden wir uns nun der Grenzüberschreitung Jeds zu. Unmittelbar nach Kauf der Pistole erhält Joe einen Anruf auf sein Mobiltelefon. Clarissa bittet ihn umgehend zurückzukommen, dann ist Jed am Apparat und verleiht Clarissas Bitte Nachdruck (vgl. 204–5). Joe hastet zurück, nicht aber ohne vorher die Pistole in einem Waldstück getestet zu haben. Die Ankunft Joes bei dem Haus in Maida Vale stellt, wie Joe bemerkt, eine Inversion der Machtstruktur dar. Jed ist in der Dachgeschoßwohnung und blickt auf Joe hinunter: „He looked down and we exchanged a glance, inverting our usual perspective“ (209). Allerdings ist diese Inversion nur eine scheinbare. Vor diesem Blickwechsel nämlich ist Joe unbemerkt über die Feuertreppe aufs Dach gestiegen und hat sich, durch die Dachluke hindurchsehend, einen Überblick über die Lage verschafft. Dieser Blick durch die Dachluke versetzt Joe in die gottgleiche Perspektive, in die er sich bereits zu Beginn des Romans versetzt hat. Selbst wenn Jed also in die Dachgeschoßwohnung und damit in den Raum der Rationalität eingedrungen ist, und er durch dieses Eindringen zur handlungstragenden Figur geworden ist, gelingt es Joe, ihn zu übertreffen. Der weitere Verlauf der Szene ist folgerichtig. Joe schießt Jed in den Arm und setzt seiner Bedrohung durch Jed ein Ende.
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D IE V ERLÄSSLICHKEIT DES PRIMÄREN E RZÄHLERS ANHAND EINER L OTMAN ’ SCHEN R AUMANALYSE
Die vorangegangene Raumanalyse wurde mit Blick auf die Verlässlichkeit des primären Erzählers durchgeführt. Das Ergebnis ist eindeutig. Der Ballonunfall zu Beginn des Romans zeigt die Zerstörung einer heilen Welt, eines Garten Edens, in dem sich das Ehepaar Joe und Clarissa befindet. Als Konsequenz des Unfalls verändert sich zusehends der primäre Raum dieser Ehe, die gemeinsame Woh-
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nung: Neue Grenzen werden eingezogen, die Intimität zwischen Joe und Clarissa weicht Druck und Misstrauen. Räumlich wird diese Entfremdung durch den Auszug von Clarissa aus dem Schlafzimmer dargestellt. Im Zuge dieser Entwicklung muss Joe mehrfach in „Reiche des Wahnsinns und des Todes“ (vgl. z. B. Haus in North Downs oder die Lokalisierung der Leiche Logans am Fuße des Hügels) hinabsteigen. Die narrative Klimax symbolisiert schließlich in verdichteter Form den Plot des Romans. Jed ist in die eheliche Wohnung eingedrungen und bedroht Clarissa. Der Roman schließt mit einem Picknick in der Nähe des Unfallortes. Hier begegnet sich das entfremdete Ehepaar wieder, der Raum der Begegnung antizipiert die im Appendix I nachgereichte Versöhnung von Joe und Clarissa. Die Geschichte, die die räumliche Struktur des Romans erzählt, ist also die der Entfremdung eines Ehepaars infolge externen Drucks und stützt somit die Annahme, dass Joe ein verlässlicher Erzähler ist. Doch die Raumstruktur von Enduring Love weist Joe nicht nur als verlässlichen Erzähler aus. Insbesondere durch die symbolische Ausbeutung des Gegensatzes von „oben-unten“ werden ideologische Präferenzen suggeriert. Durch die konsequente Verortung des Antagonisten Jeds unterhalb Joes wird eine Bevorzugung eines rationalen Weltbildes gegenüber einer religiösen bzw. esoterischen Weltanschauung nahegelegt. Wenn nun, wie eingangs bemerkt, Enduring Love das Ende einer Schaffensperiode markiert, so ist der Roman ebenso zukunftsweisend. In den Aussagen, Handlungen sowie in der räumlichen Verortung der Figur Jeds antizipiert Enduring Love die Religionskritik McEwans folgender Romane, insbesondere des Romans Saturday.46
L ITERATUR Gaston BACHELARD, Poetik des Raumes. Übers. von Kurt Leonhard. Wien 1975. Jeremy BLACKS, Maps and Politics, Chicago 1997. Arthur BRADELY/Andrew TATE, The New Atheist Novel. Fiction, Philosophy and Polemic after 9/11. London/New York 2010. Peter CHILDS (Hg.), The Fiction of Ian McEwan. Houndmills and New York 2006. Peter CHILDS (Hg.), Ian McEwan’s Enduring Love. London and New York 2007.
46 Vgl. Arthur BRADELY/Andrew TATE, The New Atheist Novel. Fiction, Philosophy and Polemic after 9/11. London/New York 2010, 18–35.
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Michael FERBER, A Dictionary of Literary Symbols. 2nd ed. Cambridge 2007. Michel FOUCAULT, Vorrede zur Überschreitung, in: Walter Seitter (Hg.), Von der Subversion des Wissens. Frankfurt am Main 1987. Juri Michailowitsch LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dietrich Keil. München 1972. David MALCOLM, Understanding Ian McEwan. Columbia 2002. Matias MARTINEZ/Michael SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie. München 1999. Ian MCEWAN, Enduring Love. London 2004. James. M. MELLARD, „No Ideas But in Things“: Fiction, Criticism, and the New Darwinism, in: Style 41/1 (2007), 1–25. Georg NIEMEIER, Siedlungsgeographie. Das Geographische Seminar. Braunschweig 1977. Ansgar NÜNNING, Making Events – Making Stories – Making Worlds: Ways of Worldmaking from a Narratological Point of View, in: Vera Nünning et al (Hg.), Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narrative. Berlin/New York 2010, 191–214. Martin RANDALL, „I Don’t Want Your Story“: Open and Fixed Narratives in Enduring Love, in: Peter Childs (Hg.), Ian McEwan’s Enduring Love. London/New York 2007, 55–65. Karl Nikolaus RENNER, Grenze und Ereignis, in: Gustav Frank/Wolfgang Lukas (Hg.), Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann. Passau 2004, 357–381. Laura J. ROSENTHAL, Masculinity in Restoration Drama, in: Susan Owen (Hg.), Companion to Restoration Drama. Malden, MA 2001, 92–108. Kiernan RYAN, After the Fall, in: Peter Childs (Hg.), Ian McEwan’s Enduring Love. London/New York 2007, 44–54. Werner WOLF, Chance in Fiction as a Privileged Index of Implied Worldviews: A Contribution to the Study of the World-Modelling Functions of Narrative Fiction, in: John Pier/José Angel Garcia Landa (Hg.), Theorizing Narrativity. Berlin/New York 2008, 165–210.
Flüssige Mauern und explodierende Paläste Art und Funktion der Raumdarstellungen bei Nathalie Sarraute A STRID W LACH (G RAZ )
1. E INLEITUNG Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Beschreibung und Interpretation ausgewählter Raumdarstellungen in drei Texten des Frühwerks der französischen Schriftstellerin Nathalie Sarraute. Die Leitfrage hierbei ist jene nach der sprachlich-diskursiven Darstellbarkeit individueller räumlicher Erfahrungen, das heißt konkret: Welche sprachlichen Mittel verwendet die Autorin, um welche Raumerlebnisse ihrer Figuren zu gestalten? Dieser Frage wird mit Mitteln der Textlinguistik nachgegangen, da so die semantischen, syntaktischen und paradigmatischen Funktionen der Raummetaphorik ermittelt werden können. Hierfür ist vorab eine Klärung folgender Begriffe notwendig: Wahrnehmung, körperliche Erfahrung und Sprache. Wahrnehmung bedeutet Sinneswahrnehmung, das heißt die Verarbeitung von äußeren Reizen wie Sehen, Riechen, Hören, Tasten und Schmecken. Körperliche Erfahrung im Zusammenhang mit Raumempfinden bedeutet einerseits das Erleben subjektiver Sicherheit durch räumliche Fixpunkte, andererseits die Auflösung eben dieser Verbundenheit. Sarrautes Sprache ist geprägt von einer stark metaphorischen Ausdrucksweise, die das Zusammenfließen von Wahrnehmung und körperlicher Erfahrbarkeit im Text erst möglich macht. Raum bzw. Raumdarstellung bedeutet hier also eine literarische Modellierung durch die Autorin, in der die Figuren der fiktiven Welten ihre Räume sinnlich erfassen.
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Als Korpus wurden Zitate aus drei unterschiedlichen Erzähltexten zusammengestellt: In chronologischer Reihenfolge wird die raummodellierende Passage aus dem ersten Text Sarrautes, Tropismes I, gefolgt von Zitaten aus dem ersten Roman, Portrait d’un inconnu, und schließlich der Beginn von Le Planétarium, dem dritten Roman, analysiert. Das Frühwerk bietet sich für eine derartige Untersuchung an, da hier die ProtagonistInnen zum Teil noch mit Namen versehen sind und die sprachlichen Äußerungen den einzelnen Personen zugeordnet werden können. In den drei Texten wird der Raum in unterschiedlichen Funktionen dargestellt: In Tropismes I wird die topologische Ordnung von Fixpunkten des Alltagslebens (Hausmauern, Bäume, Gehwege, Plätze) ins Wanken gebracht, in Portrait d’un inconnu formieren sich Raummetaphern in einer fortgesetzten Metapher (métaphore filée) und in Le Planétarium wird die Interdependenz von histoire und discours, die das Raumempfinden der Figuren und der Leserschaft leitet, besonders deutlich. Kapitel 3.1, 3.2 und 3.3 sind diesen unterschiedlichen Ausprägungen gewidmet. Um die Texte in einen literaturgeschichtlichen Kontext stellen zu können, wird im Anschluss die Autorin und ihre Besonderheiten vorgestellt und Fragestellungen, die sich aus den Texten im Zusammenhang mit der aktuellen literarischen Raumforschung ergeben, diskutiert.
2. N ATHALIE S ARRAUTE UND F RAGEN DER RÄUMLICHEN D ARSTELLBARKEIT 2.1 Nathalie Sarraute Die in Russland geborene französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute lebte von 1900 bis 1999. Sie veröffentlichte ihren letzten Roman 97-jährig und beendete damit ein Œuvre, das, neben zahlreichen kritischen Kommentaren und Beiträgen, 13 Romane und Kurzprosatexte sowie sechs Theaterstücke umfasst. Wegweisend ist ihr programmatisches Werk L’ère du soupçon (1964 bei Gallimard erschienen), dessen Erscheinen mit der sich formierenden Strömung des nouveau roman zusammenfällt. Allgemeinhin wird Nathalie Sarraute, gemeinsam mit Autoren wie Alain Robbe-Grillet oder Michel Butor, dieser literarischen Bewegung zugeordnet. Sie selbst lehnte dieses Etikett zeitlebens ab, weil sie die literarische Herausforderung nicht nur als Ablehnung der realistischen Schreibweise verstand, sondern weil sie in ihrem Schreiben ein konkretes Ziel verfolgte,
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nämlich die Weiterentwicklung der tropismes1. Diese vorsprachlichen Bewegungen lassen sich metaphorisch zum Ausdruck bringen, daher findet sich in ihrem Werk eine Vielzahl an Metaphern, die sich, gemessen an der Quantität ihres Vorkommens, in vier Hauptkategorien einteilen lassen: Raum, Tiere, Körper sowie Maschinen und Spiele machen den Großteil des metaphorischen Gefüges aus. Stilistisch bedient sich Sarraute der von ihr so genannten sous-conversation. Inhalt dieser gedanklichen Äußerungen können Assoziationen oder Erinnerungen sein. Die sous-conversation der Personen im Text verläuft oft parallel zur conversation und unterscheidet sich laut Frieda Weissman vom monologue interieur grammatisch durch die Verwendung der dritten Person Singular und semantisch durch die hohe Dichte an Metaphern 2 . Durch diese Äußerungsform wird die Innensicht der Figuren (Gedanken, Gefühle, Erinnerungen) vermittelt. Dieses Stilmittel erlaubt es der Autorin, Tropismen von Floskeln (lieux communs) unterscheidbar zu machen, was nicht zuletzt relevant für die Raummetaphern ist. In Kapitel 3.3, der Untersuchung von Le Planétarium finden sich Beispiele dazu. 2.2 Anschluss an die Forschungslandschaft? Im Folgenden werden aus der Menge an Literatur zum Thema „Raum“ jene erwähnt, die Gemeinsamkeiten mit Sarrautes Texten aufweisen. Wenn Edward Soja in Die Trialektik der Räumlichkeit Lefebvres La production de l’espace untersucht und hierbei unterschiedlichste Formen des Raumes aufzählt 3 , finden 1
Sie beschreibt die tropismes im Vorwort von L’ère du soupçon als „des mouvements indéfinissables, qui glissent très rapidement aux limites de notre conscience; ils sont à l’origine de nos gestes, de nos paroles, des sentiments que nous manifestons, que nous croyons éprouver et qu’il est possible de définir. Ils me paraissaient et me paraissent encore constituer la source secrète de notre existence“ [undefinierbare Bewegungen, die sehr rasch an den Grenzen unseres Bewusstseins dahingleiten; sie sind der Grund für unser Tun und Lassen, für unsere Worte, Gefühle, die wir zum Ausdruck bringen, die wir glauben zu empfinden und die zu definieren es möglich ist. Sie schienen und scheinen mir immer noch die geheime Quelle unserer Existenz zu sein] [eigene Übersetzung], Nathalie SARRAUTE, L’ère du soupçon. Essais sur le roman, Paris 1956.
2
Frida S. WEISSMAN, Du monologue intérieur à la sous-conversation, Paris 1978, 77f.
3
Soja zitiert hier Micheal Dear, dessen Auflistung er ergänzt: „enthält diese Liste den absoluten, abstrakten, angeeigneten, architektonischen, architekturalen, beherrschten, dramatisierten, durchsichtigen, eingebildeten, epistemologischen, Familien-, fragmentierten, Freizeit-, frischen, gelebten, gegliederten, geometrischen, geschichtlichen, ge-
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sich durchaus Aspekte, unter denen eine Raumanalyse Sarraut’scher Texte vorgenommen werden könnte. Die Untersuchung zielt jedoch nicht auf eine punktuelle Darstellung ab, sondern um der Frage nach der sprachlichen Darstellbarkeit sinnlicher Raumerfahrungen nachzugehen, wird die Art und Funktion von Raumdarstellungen möglichst umfassend beschrieben und analysiert. Dieser hermeneutische Anspruch hat eine Einschränkung weiterer raumtheoretischer Literatur zur Folge: Die wegweisende Untersuchung Jurij Lotmans Die Struktur literarischer Texte von 1972 lässt sich etwa nur mit Abstrichen applizieren. Lotman nimmt zwei semantisch oppositionelle Felder an, die durch eine Grenze voneinander getrennt sind. Durch die Überschreitung dieser Grenze (mittels eines Helden) wird der Text ereignishaft 4 . In Nathalie Sarrautes Texten werden zwar durchaus Grenzen (in Form von Türen und Spinnennetzen, vgl. 3.2 und 3.3) überschritten, jedoch sind diese Übertretungen nicht ausschließlich semantisch bedingt. Weitere relevante Raumgeschichten sind im gleichnamigen Band von Oliver Simons zu finden. Rilke und der offene Raum nennt sich ein Kapitel, in dem Parallelen zwischen Rainer Maria Rilkes und Nathalie Sarrautes Techniken augenscheinlich werden. (Intertextuelle Verweise zu Rilkes Roman Malte Laurids Brigge finden sich in Portrait d’un inconnu). Die Figur der Inversion, die hier im Zentrum steht5, findet sich in Nathalie Sarrautes Texten ebenso wie in Rilkes Roman. Im Fokus der vorliegenden Analyse stehen jedoch die Dynamik und der Prozess, die Sarrautes Metaphern ausmachen, daher ist eine statischpunktuelle Untersuchung einzelner Raumphänomene für Sarrautes Texte nicht angebracht. Der unerlässliche Überblick, den eine raumtheoretische Untersuchung impliziert, ist in Werner Kösters Raum gegeben. Dessen gleichnamiger Beitrag im Wörterbuch der philosophischen Metaphern6 beschreibt die Metapher sellschaftlichen, globalen, hierarchischen, homogenen, ideologischen, institutionellen, instrumentellen, kapitalistischen, Körper-, konkreten, kulturellen, männlichen, mentalen, möglichen, natürlichen, neuen, organischen, physischen, pluralen, politischen, reinen, Repräsentations-, repressiven, sinnlichen, sozialistischen, Staats-, traditionellen, undurchsichtigen, unmöglichen, urbanen, ursprünglichen, utopischen, vergesellschafteten, Verhaltens-, vorgestellten, wahren, wahrgenommenen, weiblichen, widersprüchlichen, wirklichen und ‚wirklichen‘ Raum.“ Edward W. SOJA, Die Trialektik der Räumlichkeit, in: Robert Stockhammer (Hg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, 99. 4
Vgl. Jurij LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, 332.
5
Vgl. Oliver SIMONS, Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie,
6
Vgl. Werner KÖSTER, Raum, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philoso-
Wissenschaft und Literatur, München 2007, 258. phischen Metaphern, Darmstadt 2007, 274–292.
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in unterschiedlichen Funktionsweisen. Im Kapitel über Sprachgeschichte und Philosophiegeschichte wird Ernst Cassirer zitiert, dessen umfassendes Raumverständnis dem Sarrautes sehr nahe kommt. Eine Synthese rezenter Diskussionen um den Raum in Erzähltexten gibt Birgit Haupt in Zur Analyse des Raums, in der sie die von Elisabeth Ströker übernommene Dreiteilung von Aktionsraum, Handlungsraum und gestimmten Raum expliziert.7 Im 2009 erschienenen Band von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann zu Raum und Bewegung in der Literatur formuliert Ansgar Nünning in seinem Beitrag „eine Reihe von Desideraten“ im Bereich der literarischen Raumdarstellung. Eine davon ist eine noch zu erstellende Theorie, die sich unter anderem „ausgearbeiteten Techniken narrativ-fiktionaler Raumdarstellung“ widmet.8 Der vorliegende Artikel versteht sich in diesem Sinne als Beitrag zu einer narrativ-fiktionalen Raumdarstellung, die auf textlinguistischen Funktionsweisen fußt.
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LINEARER “
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Die in fiktionaler Literatur übliche Trennung zwischen histoire und discours – also dem Was? und Wie? der Texte –, die Raumdarstellungen vorangeht, lässt sich in Sarrautes Texten nicht durchführen. Die Inhalts- und Formebene lassen sich nicht in der Art und Weise trennen, wie vielleicht in linear konstruierten Texten (Einführung, Komplikation, Konfrontation, Auflösung, Konklusion). Manfred Schmeling konstatiert in diesem Zusammenhang einen Paradigmenwechsel vom kanonischen Bewusstsein aristotelischer Prägung zum labyrinthischen Bewusstsein. Als Autoren des „nicht-linearen“ Diskurses des 20. Jahrhunderts nennt er unter anderen Kafka, Joyce, Borges und Robbe-Grillet9 Es wäre zwar verfehlt, Nathalie Sarraute ein labyrinthisches Bewusstsein zuzusprechen, jedoch lassen sich ihre Werke durchaus als Texte „nicht linearer“ Literatur lesen, in der die Interdependenz zwischen Inhalts- und Strukturebene prägend ist. Verstörend in
7
Vgl. Birgit HAUPT, Analyse des Raums, in: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die
8
Vgl. Ansgar NÜNNING, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung:
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle. Probleme, Trier 2004, 69 ff. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 48. 9
Vgl. Manfred SCHMELING, Semantische Isotopien als Konstituenten des Thematisierungsprozesses in nicht-linearen Erzähltexten, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung: Ein Symposion, Stuttgart 1982, 157, 162.
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diesem Sinne ist schon der erste Prosatext Sarrautes, dem das folgende Kapitel gewidmet ist. 3.1 Die Dekonstruktion des öffentlichen Raums in Tropismes I Gegenstand dieses, 1939 bei Denoël veröffentlichten, Textes ist der Konflikt zwischen „la mobilité de la vie et le pouvoir paralysant de ce qui est fixe et réglé.“10 Diese Dichotomie starr/beweglich findet in den Romanen von Nathalie Sarraute verschiedene Ausformungen und gibt hier den Auftakt für die Entwicklung der Tropismen. Dargestellt werden Fixpunkte einer Stadt: Mauern, Bäume, Gehwege und Plätze. Der erste Satz aus Tropismes I (der Text umfasst insgesamt nur eine halbe Seite) legt dem lesenden Publikum nahe, mit Vorsicht der vermeintlichen Stabilität von öffentlichen Plätzen zu begegnen. Fixpunkte des öffentlichen Raums werden mit Wahrnehmungen kombiniert, die dieses scheinbar feststehende Koordinatensystem aus Mauern, Bäumen und Plätzen aufzulösen scheinen: „Ils semblaient sourdre de partout, éclos dans la tiédeur un peu moite de l’air, ils s’écoulaient doucement comme s’ils suintaient des murs, des arbres grillagés, des bancs, des trottoirs sales, des squares.“11 Formal handelt es sich um einen Vergleich, der durch die Konjunktion „als ob“ eingeleitet wird. Gegenstand des Vergleichs sind die Verben „s’écoulaient“ – „fließen“ und „suintaient“ – „heraussickern“, das rundum wahrgenommen wird: es fließt aus Mauern, Bäumen, Bänken, Gehwegen und Plätzen. Inhaltlich ist die Leserschaft zunächst mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens wird nicht spezifiziert, wer oder was hier in der Mehrzahl aus den Mauern, eingezäunten Bäumen, Bänken, schmutzigen Gehwegen oder Plätzen hervorzuquellen scheint. Zweitens ist die Kombination von räumlich real bestimmbaren Orten in einer urbanen Zone, mit der Eigenschaft, übersättigt zu sein und aus denen als Folge eine Substanz heraussickert, eine schon zu Beginn der Erzählung deautomatisierende Herausforderung. Konkretisiert wird hier der Gegensatz fest/ flüssig, wobei das zu bezeichnende Element fraglich bleibt. Das wahrnehmende Subjekt ist umgeben von typischen Orten des öffentlichen Raums, deren übliche Funktion, nämlich als Fixpunkte einer Stadt zu dienen, durch den Kontrast zu nicht-öffentlichen, unspezifischen individuellen Wahrnehmungen ad absurdum geführt wird. Die topographische Feststellbarkeit von Mauern, Bäumen und Plätzen kollidiert hier mit einer unspezifischen Wahrnehmung von Flüssigem, das dem Festen und Feststehenden anzuhaften scheint.
10 Vgl. Sarraute, Notes et Variantes, 1734. 11 Sarraute, Tropismes I, 3.
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3.2 Vernetzter Raum in Portrait d’un inconnu In Nathalie Sarrautes erstem Roman ist eine hohe Dichte an Tiermetaphern zu verzeichnen. Diese dienen entweder zur äußeren Personenbeschreibung oder einer descriptio intrinseca. Der Roman dreht sich um drei Hauptpersonen: den Ich-Erzähler und eine von ihm beobachtete Vater-Tochter Beziehung zweier Bekannter. Im Unterschied zu den bisher untersuchten Beispielen sind die folgenden Zitate nicht komprimiert auf ein paar Seiten zu finden, sondern entwickeln in Form einer métaphore filée in 80 Seiten ihre Geschichte, in deren Zentrum der Vater steht. „Il est là, dans son bureau, tapi comme une grosse araignée qui guette; lourd, immobile; il a l’air tout replié sur lui-même, il attend.“12 Der Vergleich mit einer dicken Spinne, die auf der Lauer liegt, wird in den folgenden Zitaten fast wortgleich wiederholt. Die Verwendung des deiktischen „Il est là“ verweist auf das Hier und Jetzt, das heißt auf die raum- und zeitfüllende Präsenz des Alten. Diese körperliche Anwesenheit wird noch unterstrichen durch „lourd“, „immobile“ und „replié“, die zeitliche Dauer durch „attend“ verstärkt. Die syntaktische Anordnung der Aufzählung ohne additive Konjunktion bewirkt eine Pause des Sprachflusses, die die Konkurrenz der Adjektive zur Folge hat, das heißt die Inhaltsseite korreliert mit der Ausdrucksseite. Der Eindruck des Erzählers vom Alten hat nichts Dynamisches an sich. Die Gefährlichkeit ergibt sich aus der lauernden Position innerhalb seines Reiches; die Bestätigung erfolgt durch die Wiederholung im folgenden Zitat. „Je sais maintenant ce qui me faisait toujours penser, quand je le voyais assis à sa table sans bouger, qu’il était comme une grosse araignée immobile dans sa toile. Ce n‘est pas seulement cet air qu’il a toujours, quand il est là, replié sur lui-même, de guetter une proie, c’est aussi sa position: au centre – il est au centre, il trône, il domine – et l’univers entier est comme une toile qu’il a tissée et qu’il dispose à son gré autour de lui.“13 Die plötzliche Erkenntnis des Erzählers, dass der Alte ihn an eine „grosse araignée immobile“ erinnert, irritiert angesichts der fast wörtlichen Wiederholung des Vergleichs, den er ja schon zu Beginn gezogen hat. Hat der Erzähler den Vergleich schon vergessen? In weiterer Folge wird das Sprachbild präzisiert: Der Alte wird nun mit der Spinne gleichgesetzt und die Welt mit seinem Spinnengewebe verglichen. Dieses Sprachbild wird in drei Schritten modelliert: Erstens der schon bekannte Vergleich – wobei die unbewegliche lauernde Präsenz das tertium comparationis darstellt. Zweitens wird der Alte zur Spinne: nicht nur seine lauernde Haltung, sondern auch seine Position machen ihn dazu. Die metaphorischen Elemente sind jene der lauernden Gefahr und der zentralen 12 SARRAUTE, Portrait d’un inconnu, 53. 13 Ebd., 102.
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Überwachungsposition. Sie werden nun zum Ausgangspunkt für den nächsten Vergleich, der die räumliche Begrenzung der Gefahr deutlich macht. Drittens der abschließende Vergleich, der eine neue, wichtige Perspektive eröffnet, nämlich jene der Selbstbestimmung. Stehen bisher Intimität und Machtbewusstsein im Vordergrund der Bilder, so ist der Alte in den Augen des Erzählers die einzige Person, die sich und ihre Welt bestimmen kann. „Immobile comme une grosse araignée dans sa toile, il a l’air de savoir qu’il n’a pas besoin de bouger – il n’a qu’à attendre. Ils ne manqueront jamais de venir, attirés comme des mouches.”14 Die dritte Wiederholung der Lexeme „immobile“, „grosse araignée“ hat schon die Funktion der Automatisierung, die dann im nächsten Zitat durchbrochen wird. Doch zunächst wird das Sprachbild auf die Beute ausgedehnt: „ils“ werden mit „mouches“ verglichen, die sich unweigerlich in das Revier des Alten verirren werden. „Soulagé, apaisé, il peut maintenant revenir à petits pas pressés, un peu gênés, dans son cabinet, reprendre sa place au centre de cet univers qu’il s’est tissé, le faire osciller au gré de son caprice avec une satisfaction, une vigueur retrouvées, le voir s’animer et se colorer de nouveau sous son regard, frais et chatoyant comme sont après la pluie ces toiles d’araignées étincelantes où tremblent et brillent au soleil, accrochées aux fils soyeux, des gouttelettes irisées.“15 Die Deautomatisation, das Durchbrechen der Erwartungshaltung ist semantisch, syntaktisch und phonologisch bedingt. Der Alte hat mit dem Verlassen seines Reichs auch seine Gefährlichkeit und zentrale Machtstellung aufgegeben. Diese begrenzte Macht und die Unbeholfenheit außerhalb seines Universums werden in den kleinen, schnellen, etwas verlegenen Schritten deutlich. Das Reich, das zuvor bildlich mit „univers“ und „monde“ beschrieben wurde, wird nun zum „cabinet“. Die Weite des Universums wird zum kleinen Zimmer. Umso ironischer wirkt dann die Wiederholung „reprendre sa place au centre de cet univers qu’il s’est tissé“ da nun die Ausmaße des „Universums“ bekannt sind. Dann wird seine durch die Spinnenmetaphorik so bedrohlich dargestellte Welt plötzlich ganz anders beschrieben: Als „frais et chatoyant“, wo die regennassen Netze „étincelantes“ sind, „où tremblent et brillent au soleil, accrochées aux fils soyeux, des gouttelettes irisées.“ Das die Metapher bedingende Merkmal – „univers qu’il s’est tissé“ – ist das Fehlen jeglicher Fremdbestimmung; das Reich wird von ihm erschaffen, seine Bewegungen und seine Wahrnehmung lassen sein Reich so erstrahlen wie es ihm gefällt. Der letzte Vergleich, der das Spinnenreich beschreibt, löst den Alten 14 Ebd., 123. 15 Ebd., 133.
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gleichzeitig wieder aus demselben heraus. Nachdem von „univers qu’il s’est tissé“ und „le faire osciller au gré de son caprice“ und „le voir s‘animer et colorer sous son regard“, die Possessivpronomina die Zugehörigkeit des Universums – das heißt des Spinnennetzes – eindeutig machten, ist plötzlich von „ces toiles d’araignées“ die Rede. Diese Rückbezüglichkeit des Demonstrativpronomens bewirkt eine Distanzierung des Erzählers und gleichzeitig des Alten vom Erlebten. Das fortgesetzte – vernetzte – Sprachbild wird so beendet. Der private Raum ist hier in Form einer fortgesetzten Metapher dargestellt. Zentrum dieses Raums ist der Alte, den der Erzähler aus gegebener Distanz beschreibt. Deutlich wird hier wie auch am folgenden Beispiel, dass der Raum von der ihn dominierenden Figur gestaltet wird. Diese nimmt eine zentrale Stelle im eigenen System ein. Diese Machtposition bedeutet, schöpferische Bestimmung über die eigene Welt zu haben und diese zum „Universum“ zu machen. Diese Alleinherrschaft endet jedoch mit den Grenzen nach außen. Die Begrenzung ist visuell und durch die Bewegung, die das zweidimensionale Netz um eine Dimension erweitert, erfahrbar. Sobald jedoch die Grenze – sei es durch Fremdübertretung oder durch eigenes Verlassen – überschritten wird, ändern sich die Formen und Farben des Reiches und die Herrschaft über das eigene Universum wird aufgelöst. 3.3 Sinnliche Raumwahrnehmung in Le Planétarium Die im Folgenden analysierten Szenen aus Le Planétarium eröffnen Sarrautes dritten Roman. Die beschriebenen Textpassagen erstrecken sich über sieben Seiten des 178 Seiten umfassenden Werks. Nach Portrait d’un inconnu und Martereau ist dies der erste Roman, durch den kein Ich-Erzähler führt, sondern in dem, in Sarrautes typischem Stil, ein polyphones Stimmengewirr für Verwirrung der RezipientInnen sorgt. In ihrer Notice zum Buch bemerkt Valérie Minogue, dass die Erzählform in der dritten Person keinesfalls eine Rückkehr zum auktorialen, omnipräsenten Erzähler sei, sondern eine konsequente Weiterentwicklung des Autoritätsverlustes der Erzählerstimme.16 Für die Konstituierung des Raums bedeutet dies, dass dessen Gestaltungs- und Erfahrungsmöglichkeiten ebenso in Frage gestellt werden wie die vermeintliche Zuverlässigkeit der voix narrative. Die zitierten Passagen beschreiben einen von einer Person – dass es sich hierbei um eine gewisse Tante Berthe handelt, sei vorweggenommen – zunächst real wahrgenommenen Raum, konkret das Wohnzimmer, dessen Begrenzungen nach außen (die Mauer und der Vorhang) detailliert beschrieben werden. Die 16 Vgl. Valérie MINOGUE, Notice, in: Nathalie Sarraute, Œuvres Complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996, 1800.
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Farben und das Material spiegeln den persönlichen Geschmack der Betrachterin wider. Durch das Anbringen einer neuen Tür, zugleich Begrenzung nach innen und Öffnung nach außen, ändert sich das Gesamtbild und der Raum verwandelt sich von einem Innenraum (topographisch wie psycho-physiologisch) zu einem durch Metaphern beschriebenen offenen „Raum der anderen“. Die Raumwahrnehmung erfolgt aus der Perspektive Berthes, kommentiert von einem Erzähler, der beinahe mit Berthe verschmilzt und nur durch die Benennung Berthes als „elle“, in der dritten Person, als eigene Instanz in Erscheinung tritt. Die Erfassung des Wohnzimmers erfolgt visuell durch die Farben der Einrichtung, haptisch durch die Oberflächenstruktur des Materials und atmosphärisch durch die Synästhesie der sinnlichen Eindrücke. Durch ein partielles „Raumereignis“, ein Geschehen in der Metonymie des Raums, ändert sich die Erzählerperspektive und mit ihr die Beschreibung von Berthes Welt, die vom Erzähler bildhaft reflektiert wird. Die Distanz des Erzählers wirkt sich direkt auf die dargestellte Erzählwelt aus. Der erste Satz des Romans gibt den Auftakt für die sich entwickelnden Ereignisse: „Non, vraiment, on aurait beau chercher, on ne pourrait rien trouver à redire, c’est parfait…“17 Wir befinden uns offensichtlich mitten im Dialog, die Gesprächspartner sind unbekannt. Die Tatsache, dass man nichts Besseres hätte finden können, verrät noch keine Details. Das einleitende Kontaktsignal („Non“) und die folgenden kurzen Propositionen richten sich an eine rezipierende Person und legen ihr auf diese Weise eine Zustimmung nahe18. Inhaltlich erfahren wir im ersten Satz des Romans nur von der Vollkommenheit eines „ça“, also nur von der deiktischen Gegebenheit eines Etwas. Die Oberflächlichkeit der Aussagen, der „lieux communs“, lässt an eine seichte Unterhaltung unter Bekannten denken. „Une vraie surprise, une chance… une harmonie exquise, ce rideau de velours, un velours très épais, du velours de laine de première qualité, d’un vert profond, sobre et discret…“ 19 Die Vollkommenheit wird nun etwas näher spezifiziert: Zunächst wird durch „une vraie surprise, une chance“ der Zeitpunkt und durch „une harmonie exquise“ der Ort als „perfekt“ valorisiert. Die sich äußernde Figur fixiert zunächst den Gegenstand in Zeit und Raum, um sich dann entzückt der Betrachtung widmen zu können. Durch das Demonstrativpronomen („ce“) im Hier und Jetzt verankert, erfahren wir vom Material, von der Stärke und von der Farbe des – nun genannten – Vorhanges. Die Bewertung des Samtes als „de première 17 SARRAUTE, Le Planétarium, 341. 18 Vgl. Peter KOCH/Wulf OESTERREICHER, Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 1990, 57. 19 SARRAUTE, Le Planétarium, 341.
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qualité“ und des Grüns als „sobre et discret“ sind nun keine Urteile, die auf inhärente Merkmale des Einrichtungsgegenstandes rekurrieren, sondern lassen eher Rückschlüsse auf das ästhetische Empfinden der Person zu: Hervorragende Qualität und zurückhaltende Nüchternheit des Vorhangs sind die notwendigen Elemente der „perfekten“ Komposition. Die rezipierende Person ist in der Lage die Innensicht Berthes einzunehmen, was formal mittels Abwesenheit eines Prädikats und der schon vorausgegangenen deiktischen Situierung sowie des Fehlens jeglicher narrativer Binnenrahmung20 („sagte sie“), erleichtert wird. Jedoch der Vollkommenheit ist damit noch nicht Genüge getan: „Une merveille contre ce mur beige aux reflets dorés... Et ce mur… Quelle réussite… On dirait une peau… Il a la douceur d’une peau de chamois… Il faut toujours exiger ce pochage extrêmement fin, les grains minuscules font comme un duvet… [...] Cette illumination qu’elle avait eue… après tous ces efforts, ces recherches – c’était une vraie obsession“21 Nach der ausgiebigen Betrachtung des Vorhanges fällt der Blick nun auf die Mauer daneben. Diese wird ebenfalls in ihren Farben und ihrer Textur beschrieben und mit einem bildlichen Vergleich und einer Metapher vor allem die Weichheit durch taktile Wahrnehmung erfahrbar evoziert („la douceur d’une peau de chamois“, „comme un duvet“). Neben diesen Details erfahren wir nun, dass die sich äußernde Person weiblich ist. Die sich äußernde Person (qui parle?) ist nicht identisch mit der perzipierenden (qui perçoit?), ist aber genau über ihre Gedanken im Bilde. Es handelt sich weder um einen inneren Monolog, da die wahrnehmende Person in der dritten Person dargestellt wird, noch um eine sousconversation, da hierfür die notwendige conversation fehlt. Erneut wird auf die Anstrengungen hingewiesen („ces efforts, ces recherches“), deren Ergebnis nun mit Zufriedenheit genossen werden könnte. Die Überbetonung der Vollkommenheit („une vraie surprise, une chance… une harmonie exquise“, „Une merveille“, „quelle réussite“) und die Feststellung der „obsession“ avisieren schon psychische Hintergründe der Gedankenplauderei: „mais c’était bien là l’idée… exactement ce qu’il fallait… le rideau en velours vert et le mur d’un or comme celui de la meule, mais plus étouffé, tirant un peu sur le beige… maintenant cet éclat, ce chatoiement, cette luminosité, cette exquise fraîcheur, c’est de là qu’ils viennent aussi, de cette meule et de ce champ, elle a réussi à leur dérober cela, à
20 Vgl. Werner HELMICH, Erzählperspektive und Raumsemantisierung in Bassanis Kurzroman L’airone, in: Rudolf Behrens/Rainer Stillers (Hg.), Orientierungen im Raum. Darstellung räumlichen Sinns in der italienischen Literatur von Dante bis zur Postmoderne, Heidelberg 2008, 246. 21 SARRAUTE, Le Planétarium, 341.
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le capter, plantée là devant eux sur la route à les regarder, et elle l’a rapporté ici, dans son petit nid, c’est à elle maintenant, cela lui appartient, […]“22 Die farblichen Vorbilder für das Ensemble in der Wohnung sind also einem öffentlichen Raum entlehnt, „sie“ hat es entdeckt und sofort, einer Beute gleich, „ihnen entrissen“ und in ihr “kleines Nest“ gebracht. So wird mittels Projektion vom öffentlichen Raum Besitz ergriffen und dieser sogleich im geschlossenen privaten Raum als Eigentum gesichert. Der Wunsch nach alleiniger Verfügbarkeit über Momente der ästhetischen Erfahrung liefert das Motiv für diese Aktion. Von der Außenwelt wird die Idee für die Innenwelt kopiert, Details wie die analoge Farbanordnung werden im Inneren realisiert. Formale Bezugspunkte nach außen gibt es durch die auf die Außenwelt verweisenden Demonstrativpronomina. Die Gedanken gleiten von der bereits so erfolgreich umgesetzten Idee zu zukünftigen Projekten: „C’est comme la porte… chaque chose en son temps… […] cette porte pendant que les autres admiraient les vitraux, les colonnes, les arches, les tombeaux, rien ne l’ennuie comme les cathédrales, les statues […] “23 Als ob Berthe in ihrem Gedankengang eine Überleitung für das Desiderat, nämlich die Tür, gesucht hätte, wird diese nun mit einem Vergleich zum Hauptaugenmerk des wandernden Blicks, wobei auf das tertium comparationis durch „c’est“ rückverwiesen wird. Was genau mit der Tür verglichen wird, wird nicht angeführt, wir vermuten aber, dass Tante Berthe damit ihren untrüglichen Instinkt, den richtigen Gegenstand zur rechten Zeit ins passende Ensemble zu setzen, meint. „Chaque chose en son temps“ und „pendant que les autres“ sind Alltagsfloskeln, „lieux communs“24, die die hohe Bewertung der Gegenstände durch Berthe relativieren. Auffällig an dieser Abgrenzung vom Urteil anderer sind die „langweiligen“ Objekte: Während sich „die anderen“ an Kirchenfenstern, Säulen, Bögen und Grabmälern ergötzen, hat Berthe es „die Tür“ angetan. Im Bewusstsein der eigenen Bescheidenheit drängen sich der Betrachterin nicht Tiefe evozierende Teile auf, sondern ein „kleines“ Detail am Rande: „cette petite porte dans l’épaisseur du mur au fond du cloître… en bois sombre, en chêne massif, délicieusement arrondie, polie par le temps… […] elle aurait voulu la prendre, l’emporter, l’avoir chez soi… mais où?“25 Von dieser kleinen Tür wird zunächst der Ort der Erstsichtung bekannt: inmitten der Dicke der Mauer, am hinteren Ende des Klosters. Dass die Tür „klein“ ist, „am Ende des Klosters“ lässt uns das Besondere an Berthes Beobachtungsgabe erahnen. Die Raumwahrnehmung erfolgt nicht mittels eines schwei22 Ebd., 341 f. 23 SARRAUTE, Le Planétarium, 342. 24 Vgl. SARRAUTE, L’ère du soupçon, 1554. 25 SARRAUTE, Le Planétarium, 342.
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fenden Blicks, der so die Dreidimensionalität konstituierenden Dinge wie Säulen oder Bögen eines Klosters erfasst, sondern ihr Blick ist auf einen entfernten Gegenstand und seine Rahmung gerichtet. Dieser wird nicht nur in seiner Positionierung und Dimensionierung26, sondern auch in seiner Materialität und Oberflächenstruktur beschrieben. Zu der Beschreibung des Materials und der Form kommt die zeitliche Komponente, wenn in der abgerundeten Form und glatten Oberfläche das Alter, die Geschichte der Tür evoziert wird. Außerhalb der raumreferentiellen Beschreibung steht die Bewertung der Rundung als „délicieusement“, ein Verweis auf das „köstliche“ Vergnügen, dass die Betrachterin empfindet. Sie will die Tür sofort in ihren Besitz nehmen, wie zuvor den Eindruck des Feldes mit der Mühle, nur scheitert sie zunächst an der Frage der Situierung des guten Stücks in ihrer Wohnung. “mais rien n’était plus simple, la place était toute trouvée, il n’y avait qu’à remplacer la petite porte de la salle à manger qui donne sur l’office, faire percer une ouverture ovale, commander une porte comme celle-ci, en beau chêne massif [...] “27 Die Idee ist nun geboren: Mit der erleichterten Feststellung, dass es nichts Einfacheres gebe, beginnt Berthes Prozess der Wohnungsumstrukturierung und damit auch ein den Roman leitmotivisch durchziehendes Thema. Nachdem sie eine Firma beauftragt hatte, eine Tür nach ihren Vorstellungen zwischen Esszimmer und Küche anzubringen, kehrt sie eilig und fröhlich in die Wohnung zurück, in der Erwartung, die Arbeiter seien bereits fertig mit dem Um- und Einbau der neuen Tür. In der Wohnung angekommen, findet sie sie verlassen vor. Während sie auf die Rückkehr der Arbeiter wartet, wird aus einem unbestimmten Unbehagen des Gesehenen ein kleiner Schock: „et la porte, il n’y a pas de doute, la porte ovale au milieu de ces baies carrées a un air faux, rapporté, tout l’ensemble est laid, commun, de la camelote, […]. Mais c’est tout trouvé, c’est cela, ça crève les yeux: la poignée, l’affreuse poignée en nickel, l’horrible plaque de propriété en métal blanc… “ 28 Mit Schrecken wird festgestellt, dass erstens die runde Form, die aus der Mauer herausgebrochen wurde, einen Bruch im Gesamtbild, das von eckigen Formen beherrscht wird, darstellt. Die Harmonie des Salons ergab sich nicht nur aus Texturen, Farben, und Lichtreflexen, sondern auch aus einer geometrischen Komposition der Formen, die Berthe erst im Moment ihrer Zerstörung bewusst wird. Zweitens wird der Türknauf aus Nickel als störendes Element in der von warmen Tönen bestimmten Behausung ausgemacht. Durch die Tür und den Türknauf wird das bisher gemäldeartig komponierte Ensemble gestört. Berthe erfährt den Raum sinnlich, wobei sie bisher die ent26 Vgl. Heinz VATER, Einführung in die Raum-Linguistik, Hürth-Erfferen 1991, 46. 27 SARRAUTE, Le Planétarium, 342. 28 Ebd., 344.
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scheidenden Eigenschaften der Referenten in ihre Wohnung transferieren konnte (wie beispielsweise die Farb- und Lichtreflexe des Schobers im Feld). Durch das Anbringen der Tür wird eine Öffnung nach draußen geschaffen, die nicht mehr auf Referenzen im Sinne einer Metapher verweist, sondern eine für Berthe reale Bedrohung ist. Die Arbeiter, die sich Zugang zu Berthes Universum verschafften, bringen dieses gehörig ins Wanken und der Türknauf symbolisiert das Instrument, durch das sich die Eindringlinge Zugang verschafften: “Ils ne connaissent pas la puissance de l’engin qu’ils sont en train de manipuler, et cette ignorance, cette inconscience donne à leurs gestes, comme à ceux des lunatiques, tant d’adresse, de sûreté : ils le déposent juste au bon endroit et il explose avec fracas, tout vole en éclats, les vieilles portes ovales et les couvents, les vieux châteaux, les boiseries, dorures, moulures, amours, couronnes, cornes d’abondance, lustres, lambris, tentures de velours, brocarts, rondeurs dorées des meules luisant au soleil, blé en herbe couché sous le vent, tout ce monde douillet et chaud où elle se tenait calfeutrée, et sur ces ruines fumantes qu’ils foulent aux pieds les vainqueurs s’avancent…“29 Mit dem „Eindringen“ der Arbeiter ändert sich auch die Erzählerperspektive: Der mündliche Stil mit den kurzen Nominalphrasen, fehlenden Verben, zahlreichen Pausen und anaphorischen Verweisen, die die rezipierende Person die deiktischen Gegebenheiten unmittelbar miterleben lässt, wird von einem die Situation beschreibenden und bewertenden Erzähler abgelöst. Mit der Distanz zur beobachteten Person (Berthe) ist es nun möglich, das Auseinanderfallen ihrer Welt in Metaphern zu fassen: So werden die Arbeiter zu Zerstörern, die Berthes mühsam gestaltetes Nest verwüsten. All jene Referenzobjekte, die Impulse für die Anordnung ihrer Einrichtung gesetzt hatten, explodieren und es bleiben nur qualmende Ruinen zurück. Die Intentionslosigkeit der durch einen bildlichen Vergleich bestimmten „Mondsüchtigen“, der Irren, die zu „Siegern“ werden, geben hier den Rahmen für die Aufzählung der zerstörten Elemente. Mit der Zerstörung der alten Ordnung werden auch jene Elemente in Berthes Welt zunichte gemacht, auf deren Entdeckung sie ja so stolz war. Die Aufzählung der ehemaligen Fixpunkte in Berthes Universum – zu denen auch alte Türen, Klöster oder Schlösser gehörten – sowie der sinnlichen Erfahrungen, die in der weichen, warmen, goldenen und sich anschmiegenden Welt gemacht wurden, wird durch die im Folgenden „installierte“ Ordnung kontrastiert: „Ils installent un ordre nouveau, une nouvelle civilisation, tandis qu’elle erre misérablement au milieu des décombres, recherche de vieux débris.“30 Die Ordnung innerhalb des Universums wurde zerstört, während Berthe zeitgleich nach alten 29 Ebd., 346 f. 30 SARRAUTE, Le Planétarium, 347.
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Trümmern sucht. Die schöpferische Macht wurde ihr genommen, da „sie“ nun das neue Universum „installieren“. Mit den Arbeitern findet auch ein neues Wortfeld, das der Maschinen („engin“, „manipuler“, „installent“), seinen Einzug, das die alte Welt neu semantisiert. „Dans leurs palais clairs aux belles lignes droites, aux larges baies vitrées, une lumière tamisée venant on ne sait d’où, comme la lumière du jour, joue avec discrétion sur les vastes surfaces unies. Tout est sobre, calme, grave et pur, rien de douteux, de faux, rien d’inutile, de prétentieux n’arrête le regard…“31 Tante Berthes Weltbild, mit ihrer Person als regulierende Kraft, wird nun abgelöst durch neue Herrscher. Diese führen nun nicht nur eine neue Ordnung ein, sondern auch eine neue Zivilisation, das heißt neue Machtverhältnisse. Der „Palast“ gehört nun „ihnen“, in diesem weichen die „Vergoldungen“, „Füllhörner“ und „Brokate“ „geraden Linien“, „breiten Fenstern“ und „einfarbigen Oberflächen“. Während in Tante Berthes Universum ein fröhliches Durcheinander verschiedenster, in einem Satz aufgezählter Ziergegenstände explodiert, finden sich hier klare, kühle Sachlichkeit evozierende Formen („lignes droites“, „surfaces unies“). Der Raum ist zunächst klar in einen Innenraum und einen Referenzraum getrennt. Die Beschreibung des Innenraums erfolgt aus der Perspektive einer bald als „elle“ definierten Person heraus. So existiert im Inneren ein „elle“ und draußen „les autres“. In Abgrenzung zu den Präferenzen der „anderen“ wird die eigene Welt gestaltet und diese Fähigkeit als Besonderheit stilisiert. Inhaltlich wird diese „Gabe“ mittels Floskeln, konterkariert. Durch die Anbringung eines neuen Elements – der Tür – im Innenraum wird die Grenze zum Außenraum geöffnet. Diese Öffnung ermöglicht nun eine Grenzüberschreitung: Arbeiter, die außerhalb des gewohnten Universums existierten, dringen in das System ein und strukturieren es um. So assimilieren die neuen Elemente das alte Universum, was sich in der neu eingenommenen Perspektive des Erzählers oder der MaschinenSemantisierung manifestiert. Dieses Ereignis im Sinne von Lotmans Die Struktur literarischer Texte (1972) verbindet nicht zwei oppositionelle Räume, sondern konvertiert einen einzigen: Die visuelle Raumwahrnehmung erfasst eine Veränderung der Relationen und passt sich sofort an die neuen, von außen angebrachten Elemente an. Raumwahrnehmung ist hier erstens in der histoire durch die Figur erfahrbar, die dann im discours eine Distanzierung von der Erzählerstimme erfährt und die mit dieser Entfernung auch die Bestimmung über ihren Innenraum aufgeben muss. So wird die räumliche Geschlossenheit, in der sich die Betrachterin befindet, nicht nur inhaltlich, sondern auch in der narrativen Form aufgelöst. Durch das Ereignis der Raumöffnung ergibt sich eine Interde31 Ebd.
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pendenz der narrativen Ebene mit der semantischen. Der Raum erweist sich als instabil, unzuverlässig und fluktuiert je nach Änderung der narrativ-ästhetischen Komponenten, der Semantik und/oder des Syntagmas.
F AZIT Die tropismatischen Veränderungen des öffentlichen Raums in Tropismes I bewirken einen Bruch in der LeserInnenerwartung und eröffnen, was Nathalie Sarraute auch in ihrem Artikel Ce que voient les oiseaux zum Ausdruck bringen will: Direkt und leidenschaftlich spricht sie davon, den Leser in einer neuen Konzeption des réalisme aufzurütteln, ihm die vertrauten Automatismen, zum Beispiel jene der Intrige und der types, zu entziehen und ihm Erkenntnis zu vermitteln.32 Das Spinnennetz in Portrait d’un inconnu ist strukturgebend für die Verteilung der Spinnenpassagen im Roman. Die Sem-Isotopie, das heißt die Wiederholung der Spinnenmetaphorik sorgt für Kohärenz im sonst unübersichtlichen Handlungsmuster. Das einzige, was sich mit Sicherheit über die genannten Räume aussagen lässt, ist die Unzuverlässigkeit aller wahrgenommenen Raumkonzepte. Innenräume werden zu offenen Räumen, Festes wird flüssig und ein Reich wird zum kleinen Zimmer. Der discours greift in die Geschichte ein und semantisiert seinerseits das räumliche Empfinden der Figuren und der Leserschaft. In Le Planétarium vollzieht ein und derselbe Aufenthaltsort eine deutliche Verwandlung vom heimeligen Wohnzimmer der Tante Berthe zum kühlen Funktionsraum der Arbeiter. Diese betrachten den Raum nicht etwa aus einer neuen Perspektive und bringen so zuvor Unsichtbares ans Licht, sondern das gesamte Interieur verschwindet und passt sich an die neuen Autoritäten an. Der Raum verwandelt sich wie eine Bühne, in der ein neues setting neue Protagonisten anzeigt. Wie im Theater verweist die Kulisse auch auf die Personen und die Handlungen, die sie vollziehen. In Sarrautes Texten können durch die vorgestellten Mittel der Sem-Isotopie, der Deautomatisierung sowie des Ineinandergreifens von histoire und discours, die körperliche Raumerfahrung der Figuren – und zuweilen auch des Lesers und der Leserin – beschrieben werden und somit die Frage nach der sprachlich-diskursiven Gestaltungsmöglichkeit beantwortet werden.
32 Vgl. Nathalie SARRAUTE, Ce que voient les oiseaux, 1606–1620.
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L ITERATUR Rudolf EISLER, Raum, in: Kant-Lexikon, Hildesheim 1964, 441. Birgit HAUPT, Analyse des Raums, in: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle. Probleme, Trier 2004, 69–87. Werner HELMICH, Erzählperspektive und Raumsemantisierung in Bassanis Kurzroman L’airone, in: Rudolf Behrens/Rainer Stillers (Hg.), Orientierungen im Raum. Darstellung räumlichen Sinns in der italienischen Literatur von Dante bis zur Postmoderne, Heidelberg 2008, 241–262. Peter KOCH/Wulf OESTERREICHER, Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 1990. Jurij LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Valérie MINOGUE, Notice, in: Nathalie Sarraute, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996, 1799–1811. Ansgar NÜNNING, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 33–52. Nathalie SARRAUTE, Tropismes I, in: Nathalie SARRAUTE, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996. Nathalie SARRAUTE, Portrait d’un inconnu, in: Nathalie SARRAUTE, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996, 53–133. Nathalie SARRAUTE, Le Planétarium, in: Nathalie SARRAUTE, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996, 341–347. Nathalie SARRAUTE, L’ère du soupçon. Essais sur le roman, in: Nathalie Sarraute, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996, 1551– 1620. Nathalie SARRAUTE, Notes et Variantes, in: Nathalie Sarraute, Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, France 1996, 1734–1742. Manfred SCHMELING, Semantische Isotopien als Konstituenten des Thematisierungsprozesses in nicht-linearen Erzähltexten, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung: Ein Symposion, Stuttgart 1982, 157–172. Oliver SIMONS, Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur. München 2007. Edward W. SOJA, Die Trialektik der Räumlichkeit, in: Robert Stockhammer (Hg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005. Frida S. WEISSMAN, Du monologue intérieur à la sous-conversation, Paris 1978. Heinz VATER, Einführung in die Raum-Linguistik, Hürth-Efferen 1991.
Zur narratologischen Produktivität des Raums Raumsemantische Untersuchungen an Texten Joseph Roths L UKAS W ALTL (G RAZ )
1. M ODELL UND K ONSTRUKTION : R ÄUMLICHKEIT IN DER N ARRATOLOGIE In der kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft ist seit Jahren ein erhöhtes Interesse an der räumlichen Dimension des menschlichen Handelns und Denkens zu verzeichnen.1 Diese unter dem Schlagwort des spatial turn bekannte interdisziplinäre Entwicklung nahm, folgt man Doris Bachmann-Medicks Darstellung,2 in der Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ihren Anfang. Oft wird auch Edward Sojas 1996 erschienenes Buch Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places als Gründungstext genannt.3 Dieser spatial turn ist kein homogenes Programm, vielmehr umfasst er subsumtiv eine Vielzahl von unterschiedlichen Fragestellungen, Methoden – und auch Raumbegriffen. So hat etwa Sigrid Weigel auf die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge der Analysekategorie „Raum“ in den Kulturwissenschaften europäischer Prägung und den angloamerikanischen cultural studies hingewiesen. Die angloamerikanische Raumdiskussion steht hier, Weigel zufolge, in erster Linie im Zeichen politischer Gegendiskurse und „einer 1
Vgl. hierzu etwa Stephan GÜNZEL (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007; Jörg DÜNNE, Forschungsüberblick „Raumtheorie“, http://www.raumtheorie.lmu.de/ Forschungsbericht4.pdf (14.01.2012).
2
Vgl. Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, 286 f.
3
Edward W. SOJA, Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined Places, Cambridge 1996.
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ethnographisch beeinflussten Kulturtheorie, deren Texte durch topographische Konzepte dominiert sind“4. In den Kulturwissenschaften hingegen stehe die „Rekonzeptualisierung des Raums und seiner (Be-)Deutung“5 sowie seine kulturtechnische Dimension im Vordergrund. Die Vorstellung eines Containerraums von einer bestimmbaren Ausdehnung wird meist aufgegeben zugunsten eines Raumbegriffs, in welchem das Moment der Konstruktivität, der Relationalität oder des symbolischen Potentials des Räumlichen betont wird. Mit Michel Foucault, dessen 1967 verfasster aber erst 1984 veröffentlichter Vortrag Von anderen Räumen als zentraler Bezugstext in der Diskussion gilt: „Wir leben nicht in einer Leere, die wir mit Menschen und Dingen füllen könnten“6. Auch über den Text von Foucault hinaus kommt es zu einer Entdeckung bzw. Wiederentdeckung von raumtheoretischen Schriften, wie etwa von Henri Lefebvres Texten zur Produktion des Raums durch soziale Praxis,7 auf die sich Edward Soja stark bezieht, Gaston Bachelards Poetik des Raumes8 oder Michel de Certeaus Überlegungen zu Praktiken im Raum9. Der Literatur und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen wird im Zusammenhang mit der neuen „Hinwendung“ zum Raum oft eine wichtige Rolle zugeschrieben, wie etwa bei Weigel oder auch bei J. Hillis Miller.10 Hartmut Böhme nennt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband über Topographien der Literatur die Erforschung der Rolle, welche die Literatur bei der Organisation kultureller Topographien – seien es symbolische Wissensordnungen oder deren materielle 4
Sigrid WEIGEL, Zum „topographical turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: Kulturpoetik 2/2 (2002), 151–165; 156.
5
Ebd., 159.
6
Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: M. F., Schriften in vier Bänden. Dits. Et Ecrits. Bd. 4: 1980–1988, Daniel Defert/ François Ewald (Hg.), aus dem Französ. übersetzt v. Michael Bischoff [u. a.], Frankfurt am Main 2005, 931–942; 934.
7
Vgl. Henri LEFEBVRE, Die Produktion des Raums, aus dem Französ. übersetzt v. Jörg Dünne, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 330–342. Eine vollständige deutsche Übersetzung von „La production de l’espace“ liegt im Moment nicht vor.
8
Gaston BACHELARD, Poetik des Raumes, aus dem Französ. übersetzt v. Kurt
9
Michel DE CERTEAU, Praktiken im Raum, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.),
Leonard, München 1960. Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 343–353. 10 Vgl. Weigel, Zum „topographical turn“, 157 ff; J. Hillis MILLER, Topographies, Stanford 1995, 4.
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Fixierung, etwa durch Karten – spielt, als ein zentrales Erkenntnisinteresse.11 Will man jedoch literarische Texte nicht lediglich als auszuwertendes Quellenmaterial für Aussagen über kulturelle Raumpraktiken fassen, also von „gemachten“ fiktionalen Konfigurationen auf Praktiken und Muster in der außerfiktionalen Welt schließen, sondern Bedeutungs- oder Funktionsaspekte räumlicher Formationen in Texten als Bestandteile deren fiktionaler Weltentwürfe untersuchen, findet man im Fahrwasser des spatial turn überraschend wenige Anknüpfungspunkte. Zumindest wenn es um die Analyse konkreter Texte geht. Dies hängt auch damit zusammen, dass gerade die Konstruktivität und Symbolizität des (soziologisch, geographisch oder historisch gefassten) Raums zu den Kernthesen des spatial turn gehören, während die innerfiktionale Räumlichkeit literarischer Texte offensichtlicher- und notwendigerweise als konstruiert und symbolisch gelten muss. Gerade diese Konstruktivität macht Räumlichkeit als vielseitiges Mittel der Bedeutungserzeugung in Texten erst richtig produktiv. Dem hier vertretenen Standpunkt zufolge ist die vorrangige Funktion der Räumlichkeit in fiktionalen Texten nicht die der Repräsentation oder der dokumentarischen Abbildung außerfiktionaler historischer oder geographischer Raumverhältnisse, nicht der direkten Referenz auf solche. Vielmehr liegt sie in der arrangierenden Erzeugung von Weltkonstruktionen, welche ihrerseits zwar durchaus Ähnlichkeiten mit außerfiktionalen Weltkonstruktionen haben können, jedoch von vornherein nach autonomen ästhetischen bzw. poetischen Kriterien auswählen, betonen, bewerten, kontextualisieren etc. Dementsprechend ist Raumdarstellung in literarischen Texten mit Ansgar Nünning als „eigenständige fiktionale Organisationsstruktur“ zu verstehen, wobei z. B. auch im Fall historischer Romane „ästhetisch organisierte Geschichts- und Raummodelle“12 vorliegen. Dem wissenschaftlichen Interesse am Raum sowie dem Potential, das räumlichen Formationen als textuellen Gestaltungsmitteln zukommt, steht eine stiefmütterliche Behandlung des Raums seitens der Erzähltheorie gegenüber. Natascha Würzbach etwa spricht von einer „marginale[n] oder bestenfalls
11 Vgl. Hartmut BÖHME, Einleitung. Raum – Bewegung – Topographie, in: Ders. (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposium 2004, Stuttgart/Weimar 2005, IX–XXIII. 12 Ansgar NÜNNING, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 33–52; 43. Kursiv auch im Original.
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sektorale[n] Stellung“13 der Erfassung narrativer Raumdarstellung seit dem Einsetzen der Erzählforschung in den 50er Jahren. Die Marginalisierung des Raums in der Narratologie vollzieht sie symptomatisch an dessen weitgehender Abwesenheit in Einführungen und Lehrbüchern nach. Diesem Defizit steht eine wachsende Zahl von Beiträgen gegenüber, in denen die narratologische Ergiebigkeit der Kategorie Raum beschworen, aber nicht differenziert untersucht wird. Dies geht so weit, dass Katrin Dennerlein 2009 in ihrer Narratologie des Raumes feststellen kann: „Die Klage über das Fehlen einer umfassenden Systematik zum Raum im Erzähltext ist zum Topos geworden“14. Tatsächlich sind in den letzten Jahrzehnten einige jedoch meist isolierte Arbeiten erschienen, welche sich in verschiedensten interdisziplinären Kontexten mit der formalen Beschreibung von räumlichen Phänomenen in fiktionalen Erzähltexten auseinandersetzen. Ohne dabei in die Tiefe zu gehen, sollen nun ein paar dieser Beschreibungsansätze und kategorialen Unterscheidungen besprochen werden, welche entweder gewisse Spuren in der Forschungslandschaft hinterlassen haben oder mir für die tatsächliche Anwendung bei der literaturwissenschaftlichen Analyse von Erzähltexten fruchtbar erscheinen. Michail Bachtins Untersuchung Formen der Zeit im Roman (eine spätere Ausgabe ist unter dem Titel Chronotopos erschienen) aus den 1930ern sollte aufgrund ihrer Pionierleistung nicht ungenannt bleiben. Bachtin untersucht Zusammenhänge zwischen kulturell bedingter Raum- und Zeitwahrnehmung und der raumzeitlichen – chronotopischen – Organisation von Romanen und Genres. Zudem liefert er einige Anhaltspunkte zur formalen Beschreibung der Raumerzeugung, etwa wenn er in Anlehnung an Lessings Laokoon zwischen der „statischen Beschreibung“ und der „dynamischen Erzählung“15 von räumlichen Phänomenen unterscheidet. Der russische Semiotiker und Literaturwissenschaftler Jurij Lotman widmet sich in einem Kapitel seiner 1972 ins Deutsche übersetzten Struktur literarischer Texte vor allem semantischen Aspekten des fiktionalen Raums sowie deren Rückbindung an einen kulturellen Kontext. Seine Erhebung der Grenze „zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes“16 sowie seine Betonung des in 13 Natascha WÜRZBACH, Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, 105–129; 105. 14 Katrin DENNERLEIN, Narratologie des Raumes, Berlin/New York 2009, 3. 15 Michail M. BACHTIN, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Aus dem Russ. übersetzt von Michael Dewey, Frankfurt am Main 1989, 202. 16 Jurij M. LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, aus dem Russ. übersetzt v. RolfDietrich Keil, München 1972, 327.
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der Regel dichotomischen Aufbaus von literarischen Raumentwürfen birgt auch die Implikation einer Konstruktivität des Raums durch Relationalität auf den verschiedensten Textebenen in sich. Seine m. E. wichtigste Leistung für die theoretische Erschließung des fiktionalen Raums ist jedoch die simple Einsicht in „die Möglichkeit der Darstellung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen [...]. Bereits auf der Ebene der supratextuellen, rein ideologischen Modellbildung erweist sich die Sphäre räumlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit. Die Begriffe ‚hoch – niedrig’, ‚rechts – links’, ‚nah – fern’, ‚offen – geschlossen’, ‚abgegrenzt – nicht abgegrenzt’, ‚diskret – ununterbrochen’ erweisen sich als Material zum Aufbau von Kulturmodellen mit keineswegs räumlichem Inhalt und erhalten die Bedeutung: ‚wertvoll – wertlos’, ‚gut – schlecht’, ‚eigen – fremd’, ‚zugänglich – unzugänglich’, ‚sterblich – unsterblich’ u. dgl. Die allerallgemeinsten sozialen, religiösen, politischen, ethischen Modelle der Welt, mit deren Hilfe der Mensch auf verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte den Sinn des ihn umgebenden Lebens deutet, sind stets mit räumlichen Charakteristiken ausgestattet [...].“17 Bei der sprachlichen Erzeugung von fiktionalen Welten kann dementsprechend anhand von Raummodellen auf verschiedenen Ebenen nichträumliche Bedeutung impliziert oder auch mit großer Eindeutigkeit generiert werden. Der Ort der Handlung ist also zumeist durchaus mehr als lediglich ein dekorativer Hintergrund. Gerhard Hoffmanns umfangreiche Monographie Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit18 von 1978 unterscheidet in Anlehnung an die Phänomenologie Elisabeth Strökers zwischen „Anschauungsraum“, „Aktionsraum“ und „gestimmtem Raum“, welche sich auf das Subjekt der Raumwahrnehmung – den Erzähler oder die fiktionale Figur – beziehen und zusammen den „gelebten Raum“ ergeben. Bei der Analysearbeit an konkreten Erzähltexten wird jedoch schnell deutlich, dass das Vorliegen eines dieser Raummodelle zumeist nur approximativ festgestellt werden kann, was mangels einer Rückbindung an narratologische Techniken wohl ein unausweichliches Problem für eine solche Unterscheidung darstellt. Infolgedessen ist dem Hoffmann’schen Ansatz, etwa von Birgit Haupt, auch vorgeworfen worden, „nicht systematisch genug [zu sein], um als Analysewerkzeug dienen zu können“19. 17 Ebd., 313. 18 Gerhard HOFFMANN, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart 1978. 19 Birgit HAUPT, Zur Analyse des Raums, in: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004, 69–87; 86. Eigenartigerweise macht sie Hoffmanns Ansatz jedoch zum Zentrum ihrer Einführung
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Einen elaborierten Versuch der Systematisierung des erzählten Raums als „semantic construct“20 unternimmt Ruth Ronen in ihrem strukturalistisch geprägten Beitrag Space in Fiction, der 1986 in Poetics Today erscheint. Dabei setzt sie mit der Konstruktion des frame, verstanden als „a fictional place, the actual or potential surrounding of fictional characters, objects and places“21, eine Grundeinheit der Erzeugung von fiktionalem Raum an, welche verschiedene systematische Differenzierungen erlaubt und Vergleiche zwischen räumlichen Phänomenen in Texten ermöglicht. „A frame, being a constructional concept, exceeds its own linguistic manifestations“22 und kann entweder durch direkte Verweise oder indirekte Mittel, etwa die Erwähnung von zur Raumeinheit gehörenden Objekten, aktualisiert werden. Ronen stellt drei Klassifikationsschemata für frames vor: Zunächst kann nach dem Grad der Nähe zum Handlungsgeschehen unterschieden werden, in einem zweiten Schritt wird eine Unterscheidung von frames nach ihrem Faktualitätsgrad erwogen, die dritte Kategorie orientiert sich an den Qualitäten der frames selbst: Größe, Form, Farbe, Funktion, Begrenztheit werden ebenso als mögliche frame-Eigenschaften angeführt wie Unterscheidungen zwischen Innenraum und Außenraum, privat und öffentlich, offen und geschlossen, persönlich und unpersönlich, konventionell und außergewöhnlich. Unabhängig von ihrer Klassifikation können nun Beziehungen zwischen allen frames eines Texts als „topographical order“ dargestellt werden, die sich aus räumlichen Relationen wie „adjacency, proximity, distance, substitution, containment or even blank“23 zwischen den frames ergibt. Ronens Arbeit überzeugt durch ihre konzeptionelle Klarheit, fraglich bleibt jedoch, ob es angemessen ist, Eigenschaften und Beziehungen eines derart schwer isolierbaren Gegenstands wie Ronens frame tatsächlich mit einem solchen, einen hohen Exaktheitsgrad suggerierenden Vokabular zu beschreiben. Ronens Untersuchung findet in der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschung zum fiktionalen Raum generell nur wenig Beachtung. Natascha Würzbach wendet sich der Raumerfahrung zu und schlägt eine kategoriale Unterscheidung zwischen der Raumerzeugung durch Beschreibung und einer solchen durch Kommentierung vor, wobei sie die Beschreibung mit „Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, Nähe und Hingabe“ in Verbindung bringt, die Kommentierung hingegen mit „kognitive[r] Distanz und eine[r] Diszipliin die literarische Raumanalyse, da jener sich „in der praktischen Erzähltextanalyse bewährt hat und dort nach wie vor eine dominierende Stellung einnimmt.“ Ebd., 70. 20 Ruth RONEN, Space in Fiction, in: Poetics Today 7 (1986), 421–438; 421. 21 Ebd. 22 Ebd., 422. 23 Ebd., 435. Kursiv im Original.
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nierung des Wahrgenommenen“24. Mit Begriffen aus der Kognitionsforschung, „die sich zunächst auf die mentale Repräsentation von Raum beziehen, in der Versprachlichung jedoch ihren entsprechenden Niederschlag finden“25, spricht sie infolgedessen von einer analogen Repräsentation, welche auf der Textebene einer scheinbaren Unmittelbarkeit der Raumbeschreibung entspricht, und einer propositionalen Repräsentation, die einem stärker abstrahierenden Darstellungsverfahren zugeordnet ist. Katrin Dennerleins schon erwähnte Narratologie des Raumes schließlich ist ein Versuch der klaren Absteckung eines Gegenstandsbereichs und der terminologischen Vereinheitlichung von Phänomenen narrativer Räumlichkeit. Dennerlein äußert mehrmals ihr Unbehagen bezüglich einer metaphorischen und daher unpräzisen Verwendung des Raumbegriffs in der einschlägigen Literatur. Um diesem Problem zu entkommen, entscheidet sie sich für das Konzept eines Containerraums und definiert selbigen als „etwas, in dem sich Figuren befinden können und in das sie hineingehen können“26. Raum liegt bei Dennerlein (im Anschluss an Fotis Jannidis) „in Form eines mentalen Modells eines ModellLesers“27 vor und ergibt sich aus dem Zusammenwirken von textuellen Informationen und Inferenzen des Lesers – also Schlussprozessen unter Zuhilfenahme seines Weltwissens. Dennerlein entwickelt in ihrer komplexen Arbeit eine beachtliche Menge an Analysekategorien, etwa bezüglich der Erzählung von Raumwahrnehmung oder der Unterscheidung von implizierter und tatsächlich erzählerisch dargestellter Räumlichkeit. Unter der Komplexität und interdisziplinären Offenheit ihres Ansatzes, welcher Erkenntnisse aus Linguistik und kognitiver Psychologie ebenso berücksichtigt wie solche aus der Evolutionsbiologie, leidet mitunter die Klarheit der Darstellung; Allerdings bietet Dennerleins Arbeit Anschlussmöglichkeiten für Fragestellungen verschiedenster Art. Unter all diesen Ansätzen ist derjenige Jurij Lotmans (präziser: der des frühen Jurij Lotman) aufgrund seiner Allgemeinheit und Flexibilität für die Analysearbeit am Text einer der praktikableren. Dies soll nun an einigen Textbeispielen aus dem Œuvre eines Schriftstellers veranschaulicht werden, dessen Texte zwar selten fictions of space28 sind, in denen jedoch die Raumsemantik zumeist eine nicht unbedeutende Rolle spielt. 24 Würzbach, Erzählter Raum, 114. 25 Ebd. 26 Dennerlein, Narratologie des Raumes, 71. 27 Ebd., 90. 28 Wolfgang HALLET bezeichnet damit solche Texte, die „auf ihre je eigene Art und auf dominante Weise mit der Wahrnehmung und der semiotischen Konstitution von Räumen befasst sind.“ Wolfgang HALLET, Fictions of Space. Zeitgenössische
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2. V ON I NNEN NACH A USSEN : D IE E RGIEBIGKEIT DER RÄUMLICHEN D IMENSION T EXTEN VON J OSEPH R OTH
IN
1923 erschien in der Wiener Arbeiterzeitung Roths Erstlingsroman Das Spinnennetz. Er erzählt vom Aufstieg des ehemaligen Reserveleutnants Theodor Lohse vom Kleinbürger zu einer der führenden Figuren der deutschnationalen Bewegung in der Weimarer Republik. Die räumliche Dimension des Texts leistet dabei in mehrerlei Hinsicht einen erheblichen Beitrag zur Charakterisierung des Protagonisten. Dieser, zu Beginn des Romans ein unter seinem sozialen Abstieg und genereller Orientierungslosigkeit nach seiner Rückkehr aus dem Weltkrieg leidender Außenseiter, hält sich als Hauslehrer bei der wohlhabenden jüdischen Juweliersfamilie Efrussi über Wasser. Ist der Romananfang noch nullfokalisiert, rückt der Text bei der ersten Schilderung des Hauses der Efrussis näher an den Protagonisten heran, schlägt der distanzierte Erzählerbericht in die erlebte Rede um: „Oh, wie herrlich lebten sie! Durch ein graues, silbern schimmerndes Gitter von der gemeinsamen Straße getrennt, war das Haus Efrussis und von grünem, weitem Rasen umgeben. Weiß schimmerte der Kies, noch heller die Treppe, die zur Tür führte, Bilder in Goldrahmen hingen im Vestibül, und ein Diener in grün-goldener Livree empfing und verneigte sich. Der Juwelier war hager und groß, immer schwarz gekleidet [...].“29 Durch den emphatischen Ausruf gleich zu Beginn wird signalisiert, dass sich die Stimme nun auf der Höhe der Figur befindet. Danach begleitet man Theodor bei einem virtuellen Gang auf das Anwesen seines Arbeitgebers. Den Ausgangspunkt des Weges bildet der Bereich der „gemeinsamen Straße“, eine Sphäre ohne Teilhabebeschränkung also. Als blicke man durch die Augen des Hauslehrers, legt man nun von außen kommend die Strecke zum Innersten des Anwesens, zum Hausherrn, zurück. Jenes ist durch mehrere Bereiche vom öffentlichen Raum getrennt, gleichsam geschützt: Das Gitter markiert hart den Übergang zum institutionalisierten Privatbesitz, der Garten umgibt das Haus als weiterer Wall. Treppe und Tür bilden die nächsten Grenzen, hinter denen sich Distanzierung und Repräsentation in Gestalt eines dem bürgerlichen Geschmack entsprechenden Vestibüls fortsetzen. Ist dieses durchquert, erwartet einen in der
Romane als fiktionale Modelle semiotischer Raumkonstitution, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 81–113; 93. 29 Joseph ROTH, Das Spinnennetz, Berlin 2010 (Wien 1923), 13.
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Gestalt des Hausdieners ein weiteres Symbol vornehmer Lebensführung. Schließlich erschein der Hausherr. Die Art und Weise, in der das Efrussi’sche Anwesen präsentiert wird, ist hier der Wahrnehmung einer bestimmten Figur – Theodors Wahrnehmung – geschuldet, es wäre völlig unvorstellbar, etwa den Besuch eines Geschäftspartners des Juweliers mit dem vorliegenden Absatz einzuleiten. Der Raum ist hier nicht lediglich ein Schauplatz als Hintergrund der Handlung oder als Imaginationshilfe – die Distanz zwischen der Straße und dem Hausherrn ist die Distanz zwischen Theodor Lohses prekärer kleinbürgerlicher Existenz und der von ihm ersehnten gesellschaftlichen Geltung. Es handelt sich hier, mit Jurij Lotman, um eine „Darstellung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen“30. Kontrastiv erfährt man nun im nächsten Absatz Genaueres über die Wohnsituation des Protagonisten: „Theodors Familie bewohnte drei Zimmer in Moabit, und das schönste enthielt zwei wackelige Schränke, als Prunkstück die Kredenz und als einzigen Schmuck jenen silbernen Aufsatz, den Theodor aus dem Schlosse von Amiens gerettet und auf dem Grunde des Koffers geborgen hatte, noch knapp vor der Ankunft des gestrengen Majors Krause, der solche Dinge nicht geschehen ließ. Nein! Theodor lebte nicht in einer Villa hinter silbrig glänzendem Drahtgitter.“31 Während die Darstellung des Efrussi’schen Hauses der logisch-räumlichen Reihenfolge des körperlichen Betretens verpflichtet ist und dadurch ihre besondere Anschaulichkeit erhält, bleibt es in dieser Passage bei einer Beschreibung aus der Distanz. Unter Berücksichtigung der Figurenperspektive leuchtet dies natürlich ein – das Eintreten in die Villa wird von Theodor als Ereignis erfahren und dementsprechend inszeniert, während er von zu Hause nur knapp und zusammenfassend „spricht“. Die Enge der lediglich drei Zimmer, welche er mit Mutter und Schwestern teilen muss, steigert sich noch im Kontext der vorangegangenen, ganz ohne Zahl und Maß auskommenden Schilderung der Villa. Dieses Prinzip setzt sich fort, wenn von der Anzahl der Schränke die Rede ist. Dass diese wackeln und im schönsten Zimmer stehen, lässt nichts Gutes über die beiden anderen Zimmer vermuten. Dass es genau zwei sind, lässt Theodors Vertrautheit mit ihnen als Symbolen seiner eigenen Armseligkeit anklingen. Die Unbestimmtheit der Villa hingegen bietet eine Projektionsfläche für die Vorstellungskraft und lässt Potentiale offen, wohingegen die Zahl in Theodors Wohnung feste Zuweisungen vornimmt und die Alltagswirklichkeit in ihrer Nüchternheit fixiert. So unterscheiden sich die beiden Wohnstätten auch in ihrer jeweiligen geographischen Kontextualisierung: Eine der ersten Informationen 30 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 313. 31 Roth, Spinnennetz, 13.
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über Theodors Wohnung ist deren Lokalisierung in Berlin-Moabit, traditionell ein Arbeiterviertel. Efrussis Haus hingegen wird überhaupt nicht in die städtische Geographie eingebettet. Dadurch bleibt es schwer greifbar, wirkt gewissermaßen entrückt, was die Distanz zwischen beiden Häusern auf eine unermessliche, eine nicht messbare Größe nämlich, anschwellen lässt. Im Lotman’schen Sinn ist eine solche Distanz nicht nur eine räumliche, sondern – im vorliegenden Fall – auch eine emotionale oder soziale. Die Raumstruktur eines fiktionalen Texts ist bei Lotman „einerseits das Prinzip der Organisation und der Verteilung der Figuren im künstlerischen Kontinuum und fungiert andererseits als Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen des Textes“32. Diese Korrespondenz von semantisch-räumlichen Relationen, die ein fiktionaler Text entwirft, und nichträumlichen Relationen verleiht dem Text als Ganzem oder einzelnen seiner Elemente eine Sinnordnung, welche jedoch hier nicht als kulturelles oder ideologisches Weltbild33 in Rückbindung an außertextuelle Gegebenheiten verstanden werden soll, sondern als Ordnung innerhalb des fiktionalen Weltmodells selbst. Dieser Schritt von einem Kulturmodell als Referenzpunkt Lotmans (s. o.) zu einem Modell, welches innerhalb der Grenzen des Texts verbleibt, scheint mir notwendig zu sein, um komplexe Gestaltungsverhältnisse im Lichte des jeweiligen semantischen Umfelds adäquat verstehen zu können. Im Verlauf des Romans kehrt das Bild der Juweliersvilla, obwohl diese niemals zum Schauplatz eines wirklich handlungsrelevanten Ereignisses wird, immer wieder. Und zwar zum einen stets in personal erzählten Passagen, zum andern mit einer bemerkenswerten formalen Kohärenz bei der Attribuierung des Hauses: So finden sich neben der schon zitierten Stelle folgende Formulierungen: „Er neidete nicht mehr den Efrussis die weißschimmernden Häuser hinter grünen Rasen, die silbernen Gitter und marmornen Treppen. [...] Jetzt erinnerte sich Theodor, daß er im Efrussischen Hause eine schüchterne Haltung eingenommen hatte, eine dumme Angst hatte ihn damals noch beherrscht, und die Schuld daran schob er den Juden zu. Wie überhaupt die Juden seine langjährige Erfolglosigkeit verursacht hatten“34 und etwas später „Nun waren Wege frei. Wege zu weißschimmernden Villen im Tiergarten, zwischen samtenem Rasengrün, hinter silbrigen Gittern, mit steifen Lakeien und
32 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 330. 33 Vgl. Ebd., 313. 34 Roth, Spinnennetz, 41.
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goldgerahmten Bildern. Darüber hätte Theodor fast anderes vergessen. Mächtiger als alle war Efrussi. Nie hörte man auf, sein Hauslehrer zu sein“.35 Die Wiederkehr dieser Raumbilder, so marginal diese auch für die histoire sein mögen, ist im Spinnennetz ein zentrales Mittel der Figurencharakterisierung. Über sie werden Wesenszüge und Motivation der Figur herausgearbeitet, sie führen heran an Theodor Lohses Art, die Welt zu sehen und sich seiner Identität in ihr zu versichern, an sein Gefühl der Minderwertigkeit, seinen wachsenden Antisemitismus, seine wachsenden Ambitionen. Ganz generell können in der Raumdarstellung, etwa durch den expliziten oder impliziten Vergleich desselben Raums zu zwei verschiedenen Zeitpunkten oder aber zweier verschiedener Räume, zwischen denen eine strukturelle Gemeinsamkeit besteht, Entwicklungen mithilfe einer impliziten Verweisstruktur besonders anschaulich – und ohne den Einschub umständlicher auktorialer Erklärungen – erzählt werden. Dies führt zu der auf den ersten Blick paradoxen Einsicht, dass sich zeitliche Phänomene anhand räumlicher Relationen innerhalb der fiktionalen Welt gut darstellen lassen. Schon Michail Bachtin hat auf dieses Verhältnis hingewiesen und es auf folgende griffige Formel gebracht: „Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“36. Im Falle von Theodor Lohses häuslicher Situation kann nun nicht nur von einer Entwicklung, sondern von einer regelrechten Umkehrung der Verhältnisse gesprochen werden. Lebt er beim Einsetzen der Erzählung nicht nur unter einem Dach mit Mutter und Schwestern, sondern ganz explizit „in deren Hause [...], geduldet, nicht wohlgelitten, wenig beachtet und, wenn es dennoch geschah, mit Geringschätzung bedacht“37, so ist das Haus, das Theodor später im Roman bezieht, nachdem er, sprichwörtlich wie wörtlich, über Leichen gegangen und zu einer Führerfigur der deutschnationalen Bewegung aufgestiegen ist, als geradezu perfekte narzisstische Fantasie konstruiert: „Zu Hause wurde er sich seiner Bedeutung bewußt. Hier geschah, was er befahl, hier geschah auch, was er im stillen nur wünschte. Er aß immer Speisen, die er ersehnte, ohne von ihnen zu sprechen. [...] Er war nirgends so mächtig wie zu Hause. Fiel ihn die Lust an zu herrschen – er konnte es. Ergriff ihn Verlangen nach Wärme – sie wurde ihm. Hier zweifelte niemand an seiner Vollkommenheit.“38 An einer anderen Stelle im Spinnennetz, im siebten Kapitel nämlich, wird das Prinzip der Darstellung von Nichträumlichem durch Räumliches noch weiter 35 Ebd., 71. 36 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, 8. 37 Roth, Spinnennetz, 9. Hervorhebung L. W. 38 Ebd., 126.
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getrieben. Im Zuge dieses Abschnitts wird Günther, ein alter Weltkriegskamerad Theodors, vor den Augen des Protagonisten von Detektiv Klitsche ermordet. Theodor hat Günther aus Karrieregründen bei der Geheimgesellschaft, welcher sie beide angehören, denunziert; Klitsche soll den Henker machen. Nach der grausigen Tat nutzt Theodor die Situation und erschlägt nun seinerseits Klitsche, den verhassten Vorgesetzten. So viel zur Handlung. Den Schauplatz derselben bildet ein Waldstück, in welches Günther im Rahmen einer „Freiturnübung“ gelockt wird. Das Kapitel beginnt recht sachlich, extern fokalisiert, mit einer nüchtern-knappen Exposition der Rahmenumstände und dem Gang der drei Männer in den Wald. Es folgt, mit einer noch recht unauffälligen Schilderung der Sinneseindrücke, die Theodor im Wald erfährt, eine langsame Annäherung der Erzählerposition an das Figurenbewusstsein. Schließlich vollzieht sich mit dem Wechsel zur erlebten Rede (und zum Unmittelbarkeit suggerierenden Präsens) der Übergang zur internen Fokalisierung: „Theodor möchte gern das Ende des Waldes sehen. Ach! Der Wald hat kein Ende, Theodor fiebert, er spürt einen Druck auf der Schädeldecke, als lasteten viele, viele Baumstämme auf seinem Kopfe. Tränen überquellen sein Auge, er kann nicht mehr sehen, er läßt sich neben Günther nieder“.39 Die Angespanntheit des Protagonisten in Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Mordes an Günther überträgt sich auf die erzählte Raumwahrnehmung. Der Wald fungiert dabei als Äquivalent zu Theodors innerem Ort – ob wir diesen nun Psyche oder Seele nennen.40 Es folgt der Mord selbst, sachlich und distanziert geschildert. Erst wenn Klitsche die Axt aus der Leiche zieht, verschwimmt die Raumwahrnehmung des Protagonisten wieder mit seinem Innenleben. Der Anblick des blutenden toten Günther versetzt Theodor dabei in einen mörderischen Rauschzustand, der die Grenze zwischen Innen und Außen nun vollständig durchlässig macht: „Unendliches rauschendes Rot umgab Theodor. Im Felde hatte er dieses Rot gesehen und gehört, es schrie, es brüllte wie aus tausend Kehlen, es flackerte, flammte wie tausend Feuersbrünste, rot waren die Bäume, rot war der gelbe Sand, rot die braunen Nadeln auf dem Boden, rot der scharfgezackte Himmel zwischen den Tannen, in grellgelbem Rot spielte der Sonnenschein zwischen den Stämmen.“41 Das Wort Rot kommt hier im gesamten (19 Zeilen umfassenden) Absatz insgesamt zehn Mal vor und fungiert als persistenter Indikator der Externalisierung von Theodors Bewusstseinsvorgängen im Zuge seiner Raumwahr39 Roth, Spinnennetz, 47. 40 Der Roman schlägt letzteres vor: Vgl. Ebd., 49. 41 Ebd., 48.
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nehmung. Hans-Peter Ecker hat einmal andeutungsweise auf Joseph Roths „Fähigkeit, Inneres durch Äußeres darzustellen“42 hingewiesen – ein Befund, dem angesichts solcher Passagen, und deren semantischer Produktivität, nur zugestimmt werden kann. Das Rot als Chiffre für Kriegserinnerung und Mordlust verbindet hier gleichsam Figureninneres und Außenraum zu einem manischen Delirium, einem Aufflackern des Unbewussten im Bewussten: „Aus Theodors Innerem kam das rauschende Rot, es erfüllte ihn, schlug aus ihm […]. Es war wie ein leichter, roter Jubel“43. In diesem Zustand erschlägt nun Theodor den Mörder des von ihm selbst verratenen Freunds. Ein rationales Motiv für den Mord wird nie klar benannt, doch wo der Jubel gleichermaßen rot ist wie Himmel und Bäume, so scheint es, hat man die Domäne der Rationalität hinter sich gelassen und befindet sich im „wilden“ Bereich von Theodors Innenleben, dem der „wilde“ Raum des Waldes äußerlich entspricht. Die Figurencharakterisierung ist jedoch nicht der einzige Bereich des Romans, der durch raumsemantische Arrangements an Tiefe gewinnt. Das Spinnennetz ist in erster Linie die Untersuchung der Psychologie deutschnationaler Kreise in der Weimarer Republik und der politischen Stimmung der frühen zwanziger Jahre generell. Es ist die Zeit der gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit, die kommunistische Revolution in Deutschland ist fehlgeschlagen, eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem Krieg undenkbar, verschiedene Kräfte kämpfen um die Zukunft. Die Darstellung dieses Kampfes verdichtet sich im Raum der städtischen Öffentlichkeit schlechthin – in den Straßen. Zunächst zeigt sich auf ihnen ein Elendspanorama, die Straße wird als sozialer Raum symbolisch aufgeladen. Vorgeführt werden hungernde Proletarier, Betrunkene, Kranke, Bettler, Huren, Lustknaben und wieder hungernde Arbeiter, 42 Hans-Peter ECKER, Joseph Roths Galizien. Zur poetischen Konstruktion eines Kulturraums und über die Frage, wie aus Regionalliteratur Dichtung von Weltrang entstehen kann, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Region – Literatur – Kultur. Regionalliteraturforschung heute, Bielefeld 2001, 49–62; 54. Der Slawist Walter Koschmal stellt Ähnliches in Bezug auf Texte von Dostojewski und Tschechow fest. Vgl. Walter KOSCHMAL, Semantisierung von Raum und Zeit. Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Toten Haus und ýechovs Insel Sachalin, in: Poetica 12 (1980), 397–420, 413. Thomas Kullmann geht in seiner anglistischen Studie zur Landschaftsdarstellung gar davon aus, dass Phänomene des Naturraums „stets ein Zeichen für etwas anderes, nämlich die psychische Befindlichkeit des Menschen“ sind. Thomas KULLMANN, Vermenschlichte Natur. Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy, Tübingen 1995, 356. 43 Roth, Spinnennetz, 48 f.
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näher schon dem Tod als dem Leben.44 Allerdings bleibt es nicht bei einer solchen Bestandsaufnahme, die Straße fungiert quasi als Bühnenraum, auf dem zuerst der status quo und dann der Kampf der revolutionären und reaktionären „Bewegungen“ aufgeführt wird. Das 22. Kapitel handelt von einem solchen Kampf. Am 2. November demonstrieren erwartungsgemäß in Berlin die Arbeiter; Studenten und nationalistische Gruppen organisieren Gegendemonstrationen, lassen die Situation eskalieren, die Polizei schreitet ein, schließlich marschieren Soldaten auf, es kommt zu Straßenschlachten. Diese spielen sich zunächst zwischen zwei distinkten Gruppen ab, räumlich klar auseinanderzuhalten, im Text in mehreren Absätzen durch (an die filmische Technik des cross-cut erinnernde) abwechselnde Beschreibung gegenübergestellt.45 Sobald aber die Gewalt eskaliert, vermischen sie sich zu einem einzigen chaotischen Gemetzel, „alle schlagen, alle werden geschlagen“46, begleitet vom stetigen Rattern der Maschinengewehre auf den Hausdächern. Die Straße ist nun nicht mehr primär Anschauungsraum, das Mischverhältnis verschiebt sich zugunsten des Aktionsraums; ja, durch die Bestrebungen, die armseligen Verhältnisse zu ändern, wird die Straße für kurze Zeit zum Aktionsraum schlechthin: zum Revolutionsraum.47 Die spezifische Konstellation der zwei Blöcke, die auf der Straße sowohl in räumlichem als auch politischem Sinne links und rechts Stellung beziehen, lässt sich mit Lotmans Bemerkung über das einfachste Modell der räumlichen Organisation im literarischen Text beschreiben: „Der Fall, in dem der Raum des Textes von einer Grenze in zwei Teile geteilt wird und jede Figur zu einem dieser Teile gehört, ist der grundlegende und wichtigste“48. Das sich ergebende räumliche Bild ist zugleich eine Darstellung der gesellschaftlichen Spaltung. Doch die statische Aufteilung der Straße in zwei Bereiche, durch den Polizeikordon sowohl räumlich als auch semantisch vollzogen, hält den revolutionären und konterrevolutionären Kräften nicht stand: „Aufgerissen ist das Pflaster, gierige Finger wühlen darin, Steine hageln gegen die trennenden Wände der Polizei. Es wollen zwei Gewalten zueinander, die Masse der Mächtigen gegen die Masse der Machtlosen, zersprengt sind die Ketten der Polizei, es dringt der Hunger gegen die Sattheit vor, über das Rau-
44 Vgl. Ebd., 73 f und 88. 45 Vgl. Roth, Spinnennetz, 101–103. 46 Ebd., 105. 47 Zu gestimmtem Raum, Anschauungsraum und Aktionsraum vgl. Gerhard HOFFMANN, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart 1978. 48 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 328.
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schen der Menschen erhebt sich Gesang anderer, nachfolgender, noch singen jene, schon bluten diese.“49 „Die klassifikatorische Grenze zwischen den kontrastierten Welten bekommt die Merkmale einer Linie im Raum“50, so Lotman. Eine solche Linie, hier konkretisiert als „Wände“ und „Ketten“, trennt die zwei durch Oppositionspaare bezeichneten verfeindeten Gruppen. Lotmans Denken folgend ließe sich von dem Bild, dass die Polizei, pars pro toto für die Weimarer Republik stehend, dem Druck der beiden Seiten nachgeben muss, auf das Weltmodell schließen: Diese Republik ist zu schwach, die durch wirtschaftliche und ideologische Spannungen generierten Kräfte kann sie nicht bändigen. Dementsprechend bricht die durch staatliche Gewalt gezogene Grenze ein. Die zuvor statische Raumaufteilung erfährt dadurch eine Dynamisierung, die zwei „Gewalten“ verschmelzen vom Standpunkt des Erzählers aus für kurze Zeit zu einer einzigen, beide Parteien verlieren ihre jeweiligen Charakteristika und gehen im „Rauschen der Menschen“ auf. Wenn schließlich die Feuerwehr anrückt, treffen ihre Wasserwerfer nur noch eine einzige Menschenmasse: „Spritzen schießen kalte Wasserstrahlen. Sie fallen mit schmerzhafter, zischender Wut auf die Menschen. Für ein paar Augenblicke zerstreut sich die Menge. Dann rotten sich die Menschen wieder. Kleine Knäuel schwellen an. Gruppen schließen sich zusammen.“51 Jedwede Aufteilung oder Anordnung ist aufgelöst in Bewegung, die räumliche Gliederung entlang der Linie politisch-sozialer Unterschiede weicht für einen Moment der Betonung des Gemeinsamen: Im Tumult der Straßenschlacht singen, bluten, sterben alle als Menschen. Die Straße selbst bildet dabei jedoch nicht ausschließlich den Hintergrund, das Bühnenbild gleichsam – sie ist in ihrer Dreidimensionalität und Materialität als Requisit präsent. Die kollektive Grundlage der theoretisch „gemeinsamen Straße“ wird aufgebrochen, als Wurfgeschoss gegen Polizei und Gegenseite verwendet. Die konkrete Straße, auf der demonstriert wird, ist tatsächlich jedoch mitnichten eine gemeinsame: Den Schauplatz der Episode bildet die Prachtstraße Unter den Linden, wo „die Pflasterer, die Straße tretend, die sie selbst gebaut haben, dennoch fremd in ihr [sind] und betäubt von ihrem Glanz, ihrer Weite, ihrer Herrschaftlichkeit“52. Steine aus diesem Pflaster eignen sich hervorragend als symbolische Munition gegen Bürgertum und Reaktion. Die semantische Produktivität fiktionaler Raumkonstruktionen beschränkt sich natürlich nicht auf mehr oder weniger isolierte Textteile. Auch die 49 Roth, Spinnennetz, 103. 50 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 337. 51 Roth, Spinnennetz, 103 f. 52 Ebd., 102.
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räumliche Makrostruktur, die Gesamtheit der Schauplätze eines Erzähltexts, kann geeignet sein, auf Nichträumliches zu verweisen. So z. B. in Roths (posthum) 1940 erschienener Erzählung Der Leviathan. Sie handelt vom jüdischen Korallenhändler Nissen Piczenik, der in seinem Haus im fiktiven russischen Progrody seine Ware als Schmuckstücke und Schutzamulette an die Bäuerinnen aus der Region verkauft und ein einfaches Leben in der Dorfgemeinschaft führt. Die äußerliche Gleichförmigkeit von Nissens Leben beginnt mit dem Einsetzen der Handlung zu bröckeln: Seine immer obsessivere Züge annehmende Liebe zu „seinen“ Korallen mündet in eine immer stärker werdende Sehnsucht nach dem Herkunftsort seiner Lieblinge – dem Ozean, welchen Nissen noch nie gesehen hat. Als der junge Komrower, ein aus Progrody stammender Matrose zu Besuch ins Dorf kommt, überredet Nissen diesen, ihn auf dem Rückweg zu seinem Heimathafen, nach Odessa, zu begleiten. Aus Nissens geplantem Kurzbesuch werden drei Wochen am Schwarzen Meer, „und er verlebte jeden Tag mit dem Meer, mit den Schiffen, mit den Fischchen fröhliche Stunden“53. Nach seiner Rückkehr ins Landesinnere stellt er fest, dass er überraschend Konkurrenz aus dem Nachbarstädtchen Sutschky erhalten hat: Der Ungar Lakatos hat dort einen Korallenladen eröffnet und verkauft weit unter Piczeniks Kursen. Von Nissen zur Rede gestellt, gibt er unumwunden zu, künstlich erzeugte Korallen als echte zu vertreiben, ja, er hätte Kontakte, die auch Piczenik beliefern könnten. Dieser willigt ein, mischt falsche Korallen unter seine echten und verdient gut daran; bis er eines Tages dem angesehenen Hopfenbauern ein Kettchen aus falschen Korallen für dessen Enkelkind verkauft, welches kurz darauf stirbt. Der Aberglaube der Gegend gibt der Ware des Korallenhändlers die Schuld am Tod des Kindes, Piczeniks Geschäfte kommen zum Erliegen. Seine Obsession für die Korallen und das Meer wächst weiter, den Tod seiner Frau nimmt er gerade einmal beiläufig zur Kenntnis, ein rasanter körperlicher und moralischer Verfall setzt ein. Schließlich fasst er den Entschluss, nach Kanada zu emigrieren, er besteigt in Hamburg ein Schiff, welches am vierten Tag der Fahrt aus nicht näher genannten Gründen sinkt. So weit die simple histoire der Erzählung, welche sich nebenbei bemerkt fast wie eine Legendenüberlieferung liest. Progrody, der Hafen von Odessa und Sutschky sind ihre einzigen Handlungsschauplätze und aufgrund der Zuweisung von spezifischen Handlungs- bzw. Themenkomplexen zu ihnen gleichzeitig auch zentrale Instrumente der Gliederung wie der Sinngebung. Das Städtchen Progrody lässt sich in einem ersten Schritt mit Michail Bachtins Chronotopos der Idylle beschreiben: „Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst; sie ist mit anderen Orten, mit der übrigen Welt 53 Roth, Leviathan, 142.
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nicht auf eine wesentliche Weise verbunden“54. Die Jahreszeiten bestimmen gleichermaßen das Leben aller, während der präsentierte Weltausschnitt sich „auf einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens beschränkt“55. Nissen Piczeniks Leben entspricht zu Beginn ganz dem Chronotopos, er denkt von Markttag zu Markttag und hat Progrody nie verlassen. Bald jedoch erfährt das anfängliche Gleichgewicht eine allmähliche Störung durch einen idyllefremden, weil irrational-individualistischen Faktor: Nissens Liebe zu den Korallen und seine wachsende Sehnsucht nach dem Meer: „Aber inzwischen waren ihm Kinder und Frauen gleichgültig geworden. Er liebte die Korallen. Und ein unbestimmtes Heimweh war in seinem Herzen, er hätte sich nicht getraut, es beim Namen zu nennen: Nissen Piczenik, geboren und aufgewachsen mitten im tiefsten Kontinent, sehnte sich nach dem Meere.“56 An diesem Punkt gabelt sich die Raumstruktur der Erzählung; auf der einen Seite liegt Progrody, die Sphäre der kollektiven Reproduktion der Idylle, auf der anderen Seite der Ozean als verborgene Sphäre mystischer – und qua Domäne des Leviathan auch mythischer – Offenbarung. In Nissens vordergründig räumlich codierter Sehnsucht liegt der Wunsch nach dem Anderen, einer im Mythos noch enthaltenen ungezügelten Lebendigkeit, der Wiederverzauberung der Welt. Der Leviathan wacht in seiner Vorstellung über die Korallen und ihre „angeborene Zauberkraft“57, das Meer gerät dergestalt zum mythischen Raum, auch in Cassirers Sinn, indem „an ihm bestimmte Wirkungen haften, […] Heil oder Unheil, göttliche oder dämonische Kräfte von ihm ausgehen“58. Odessa selbst scheint ausschließlich aus dem Hafen zu bestehen – „Überall, wo er hinsieht, sind Schiffe und Wasser, Wasser und Schiffe“59 –, und Piczeniks dortiger Aufenthalt verschärft den Konflikt zwischen idyllischem Progrody und mythisch-ozeanischem Raum. Was zuvor „der alte kontinentale Nissen Piczenik“60 war, wird nun endgültig „ein sozusagen gewendeter Mensch, ein ozeanischer Nissen Piczenik“61. Schließlich besucht Piczenik Sutschky, wo ein Außenseiter namens Lakatos sein betrügerisches Kunstkorallengeschäft eröffnet hat. Mit Sutschky erscheint die Moderne auf der Landkarte des Texts. Lakatos hat keine 54 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, 171. 55 Ebd. 56 Roth, Leviathan, 117 f. 57 Ebd., 115. 58 Ernst CASSIRER, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, 17–35; 27. 59 Roth, Leviathan, 139. 60 Ebd., 138 61 Ebd.
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Wurzeln in der Gegend, ist polyglott über alle regionalen Erfordernisse hinaus und verbirgt sich und sein Geschäft hinter dem Namen des ortsansässigen Schlächters. Nissens Besessenheit von einer verzauberten Welt, vom Meer bzw. von Odessa, dessen Statthalter auf dem Festland, wird nun die Entzauberung seines Heiligtums entgegengesetzt. Die Korallen, die in Sutschky verkauft werden, verweisen als Spur nicht auf den magischen Ozean, sondern auf industrielle Massenproduktion einer New Yorker Firma. Zur idyllischen Gemeinschaft Progrodys und Nissens individualistisch-eskapistischem magischem Raum kommt der hergestellte Individualismus, die künstliche Magie der modernen Warenwelt hinzu. Nachdem Piczenik sich von der Moderne korrumpieren hat lassen und dadurch sowohl die Idylle kontaminiert, was poetisch im Tod des Progrodyer Kindes mit dem Kettchen aus Zelluloidkorallen seinen Niederschlag findet, als auch – durch das Mischen der echten und unechten Korallen – seine mythische Meeresheimat verraten hat, entschließt er sich zur Emigration nach Kanada. Schließlich kommt es, wie es kommen muss, das Schiff des Korallenhändlers sinkt. Der Bericht eines Überlebenden, „dass sich Nissen Piczenik, lange noch bevor die Rettungsboote gefüllt waren, über Bord ins Wasser stürzte zu seinen Korallen, zu seinen echten Korallen“62 suggeriert den endgültigen Einzug in „seine einzige Heimat“63. Nach Nissens Flucht von der Idylle in den Mythos, welche ihn unverhofft in die Moderne geführt hat, kehrt er schließlich endgültig heim in den Mythos. Die fiktional-räumliche Manifestation dieser drei Sphären ist dabei zentrales Gliederungs- und Sinngebungsmittel der Erzählung, welche zudem vor Augen führt, „dass narrativ-fiktionale Raumdarstellung keineswegs auf die Stilprinzipien des Realismus beschränkt sein muss“64. Räumliche Elemente können, wie ich zu zeigen versucht habe, eine überaus produktive Rolle im Gefüge fiktionaler Texte spielen. Dies wird ermöglicht durch ihre Verknüpfung mit „kulturellem“ Wissen außerhalb des Texts einerseits (Lotmans Gedanke im engeren Sinn) und andrerseits vermittels einer Anbindung an andere narrative Gestaltungselemente innerhalb des Texts, mit denen zusammen sie eine Sinnordnung innerhalb des fiktionalen Weltmodells selbst herstellen. Die hier gewählte Darstellung raumsemantisch-fiktional ergiebiger Bereiche – Figurencharakterisierung und -entwicklung, Modellierung gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse, makrostrukturelle Gliederung des Sujets – stellt dabei nur eine kleine Auswahl dar, durch die die narratologische Ergiebigkeit der räumlichen Dimension fiktionaler Texte nicht nur behauptet, sondern illustriert werden soll. 62 Ebd., 155 f. 63 Ebd., 156. 64 Nünning, Formen und Funktionen, 44.
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Der Einfluss des Deutschvenezianers Johann Carl Loth (1632–1698) auf die Barockmaler des zisalpinen Raumes D AGMAR P ROBST (G RAZ )
Der Aufsatz thematisiert den Einfluss des Deutschvenezianers Johann Carl Loth auf eine bestimmte Künstlergruppe der altösterreichischen Barockmalerei, die bei ihm in Venedig ihre Ausbildung erfuhr und das loth’sche Formenrepertoire und dessen Malstil in der Malerei des zisalpinen Raumes im 17. und frühen 18. Jahrhundert rezipierte. Der Bedeutung des in München geborenen und in Venedig tätigen Tenebristen1 Johann Carl Loth (1632 bis 1698) (Abb. 1) für die Barockmalerei nördlich der Alpen wurde bislang nicht die gebührende Beachtung entgegengebracht.
1
Die Bezeichnung leitet sich aus dem Italienischen vom Adjektiv „tenebroso“ für „finster, dunkel, düster“ ab.
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Abb. 1: Enrico Meyring, Johann Carl Loth, Marmor, Venedig, San Luca
Margarete LUX, L’inventario di Johann Carl Loth, in: Arte Veneta, 54 (2000), 147.
Die Dissertation der Autorin dieses Beitrages mit dem Titel „Der Einfluss des Deutschvenezianers Johann Carl Loths auf die österreichische Barockmalerei“ ist der erste Versuch, die Einflüsse des Deutschvenezianers in ihrer Gesamtheit darzustellen. Die Malerei des Wahlvenezianers zeichnet sich durch ein festgelegtes Formenrepertoire aus. Kennzeichnend ist die Bevorzugung des autonomen Staffeleibildes, insbesondere der Kniestückwiedergabe, mit von Helldunkelmalerei geprägten, effektvollen Kompositionen, die meist eine zentrale Gestalt aufnehmen und weitere Protagonisten durch den geschickten Farbeinsatz nach der von Hubala2 definierten Solo-Ripieno-Struktur in den Hintergrund treten lassen. Auch die in Venedig zu einer Spezialität tradierte Greisengestaltung (Abb. 2) und die wirkungsvolle Darstellung des männlichen Aktes nimmt Loth bevorzugt in seine Bildgestaltungen auf. 2
Erich HUBALA, Neu aufgefundene Passauer Werke Johann Michael Rottmayrs, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, V (1954), 178. Eine zentrale Figur wird durch den gezielten Einsatz von Licht hervorgehoben und um sie gruppieren sich weitere, wenige Akteure, die beinahe schemenhaft dargestellt mit dem dunklen, undefinierbaren Hintergrund eine Verbindung eingehen und sich mit ihren Gesten und Blicken auf das Zentrum beziehen.
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Abb. 2: Johann Carl Loth, Lot und seine Töchter, Italien, Privatbesitz
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Der mit dem Kopf zum Betrachter am Boden liegende männliche Protagonist (Abb. 3) gehört ebenfalls zu seinen favorisierten kompositionellen Prinzipien.
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Abb. 3: Johann Carl Loth, Der barmherzige Samariter, Wien, Kunsthistorisches Museum
http://bilddatenbank.khm.at/viewArtefact?id=1122 [30.04.2013]
Neben Szenen aus der Mythologie und Geschichte fertigte Loth großflächige Altargemälde, deren Wirkung ihn in Venedig zu einem der gefragtesten Künstler seiner Zeit emporhob. Dementsprechend führte er ein florierendes Atelier als Ausbildungsstätte, um der Vielzahl an Aufträgen gerecht zu werden. „Anche uno straniero, Johann Carl Loth, nato a Monaco di Bavaria nel 1632, viene ad ingrossare la schiera dei ‘tenebrosi’: a sua volta il pittore bavarese formò una bottega dove venne educando altri pittori tedeschi ed austriaci, che certo diffusero al di là delle Alpi tale poetica, anche se ormai riformata in senso barocco nell’ interpretazione offertane dall’ ultimo Loth.“3 Loth benötigte die effiziente Hilfe einer Werkstatt, die einen wesentlichen Beitrag zu den bis heute circa 600 bekannten Gemälden leistete. Wurde ein eigenhändiges Werk des Bavarese gewünscht, musste dies der Auftraggeber schon ausdrücklich bestellen.4 „Konnte doch die im wesentlichen auf Abwandlung gängiger Schemata und versierter malerischer Behandlung beruhende Gestaltungsweise bei einiger Gewandtheit und gutem Talent ohne weiteres von anderen überzeugend nachgeahmt
3
Rodolfo PALLUCCHINI, La pittura veneziana del Seicento, Bd. 1, Milano 1993, 259.
4
Matthias KUNZE, Daniel Seiter 1647–1705. Die Gemälde, München/Berlin 2000, 18–19.
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und zur weitgehend selbständigen Herstellung von Gemälden in der Manier des Meisters angewendet werden.“5
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Für Maler aus dem zisalpinen Raum herrschten in der Lagunenstadt ideale Studienbedingungen und Voraussetzungen für Erwerb, Erweiterung und Vertiefung malerischer Kenntnisse eines jungen ausländischen Künstlers. In den großen Ateliers fanden sie Studien- und Vergleichsmaterial vor und kamen mit einheimischen und ausländischen Bilderhändlern, Vermittlern und Kunstagenten in Kontakt. Oft waren sie selbst an einem blühenden Kunsthandel beteiligt.6 Das Atelier des Johann Carl Loth hatte für Maler des Raumes nördlich der Alpen eine besondere Bedeutung, die der Lothschüler Johann Wolfgang Dallinger folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Der zait habe ich ein großes glückh bekhomben und stehe bei dem peßten maller, der in Venetia ist, schreibt sich Loth, […]“.7 Dass eine Ausbildung bei Loth in Venedig sehr kostenintensiv war und die Künstler einen spendablen Förderer benötigten, macht Dallinger in weiterer Folge deutlich, indem er schreibt: „alta muß ich mich essen, tringen und alle notwendigkeit, welche ich verneten habe, schaffen und nur daß er mier weist daß mahlen. Also gelangt an Euer Hochwierdten und gnadten gnedtige Bitt in meinem glickh vort zu varen, manglung gelt, noch so vill darauff wagen [der Abt hat Dallinger schon am 9. Februar 100 Gulden für seine Reise gegeben] unt 100 fl. über sendten lassen. Beschwere, daß khein pfening unnucz angewendt werdt werden; wer waß lehren wihl, der muß alhier gelt haben.“8 Venedig war leichter zu erreichen als andere mittelitalienische Zentren und daher kostengünstiger. Überdies wurde auch die Sprachbarriere durch den gebürtigen Münchner Loth für österreichische Künstler überbrückt.9 Die Situation eines jungen Künstlers in dieser Zeit und die große Hochachtung, die Maler aus dem nördlichen Raum Loth entgegenbrachten, werden sehr
5
Ebd., 18–19.
6
Erich HUBALA, Johann Michael Rottmayr, Wien/München 1981, 17.
7
Brief Johann Wolfgang Dallingers an Abt Roman Rauscher von Garsten vom 9. Juli
8
Ebd.
9
Günther HEINZ, Malerei und Skulptur des 17. und 18. Jahrhunderts in Österreich,
1674, Garstener Akten, Bd. 304, Oberösterreichisches Landesarchiv.
unveröffentlichte Vorlesung, Wien 1979, 35.
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gut von Johann Caspar Füssli 1758 geschildert, indem er auf die Ausbildung Johann Kupetzkys (1667 bis 1740) Bezug nimmt, dem allerdings kein direktes Schülerverhältnis zu Loth nachgewiesen werden kann: „Nach drey Jahren ging er von seinem Meister mit drei Nachahmungen Loths nach Venedig. Ausser dem, dass er noch nicht v[!]est genug war, verstand er kein Italienisch und war sehr arm: ein Empfehlungsbrief brachte ihn zu dem Ritter Liberi, der ihn aber zu schwach fand ihn anzubringen. Er war ganz verloren, als er sich entschloss Italiens übrige Städte zu besuchen. Da er nun sein eigen war machte er die schönen Gemälde nach und in seinen eigenen Erfindungen hielt er sich an eine gemischte Schönheit, die aber meistens von der Natur beherrscht ward. Ob er gleich fähig war zahlreiche Geschichten zu ordnen, gefielen ihm doch die eingeschränkten Zusammensetzungen Carl LOTHs so sehr, dass er einige Stücke nach dem Leben in seinem Charakter bildete. Diese waren kaum dem Pinsel entkommen als sie von einem Kaufmann angehandelt wurden, der sie mit grossem Vorteil dem Prinzen Alexander Sobiesky, der sich in Rom aufhielt weiterverkaufte.“10 Der Bedeutung der Lehrtätigkeit der Künstlerpersönlichkeit Loth für die Entwicklung der zisalpinen Malerei wurde bislang in der Forschung leider nicht die entsprechende Beachtung entgegengebracht. Seine nachhaltige Wirkung auf die österreichische Barockmalerei darf (jedoch) nicht unterschätzt werden. Nach ihrer Rückkehr nach Bayern, Österreich und Böhmen konnten seine Epigonen durch die oft wörtliche Übernahme von Loths Kompositionsrepertoire und Maltechnik in ihre nach Ewald „künstlerisch rückständigen Heimat“11 beinahe konkurrenzlos Jahrzehnte hindurch ein blühendes Kunstschaffen verzeichnen. „Es war für die Schüler aber auch die Möglichkeit gegeben, die im Werk Loths selbst enthaltene Synthese in ihre Elemente wieder aufzugliedern. Es ist daher begreiflich, dass die bedeutenden Lothschüler jeder auf seine Art das vom Lehrer Übernommene weiterentwickelt haben und sich daher voneinander grundsätzlich unterscheiden.“12 Durch die Mittlerrolle Loths schien sich in den österreichischen Erblanden ein Stil auszubilden, in dem die loth’sche Manier und der großzügige Kontrast von Helldunkel eine wesentliche Rolle spielt. Viele seiner Werkstattmitarbeiter übernahmen von ihm seinen Stil, seine Themen und zitierten seine Kompositionstypen teilweise völlig unverändert. Schon Pietro da Cortona plädiert in seinem Trattato della Pittura dafür, dass sich der Studierende nicht irgendeinen Meister aussuchen sollte, sondern jenen, 10 Johann Caspar FÜSSLI, Leben Georg Rugendas und Johannes Kupetzki, Zürich 1758, 19. 11 Gerhard EWALD, Johann Carl Loth. 1632–1698, Amsterdam 1965, 33. 12 Heinz, Malerei, 36.
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der dem eigenen Genie am nächsten sei.13 Dementsprechend wird auch der Eklektizismus in der Malerei des 17. Jahrhunderts, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts währte, 14 verständlich. „Selective borrowing and transformation was the method.“15 „Beim Kopieren von Gemälden sind für Anfänger Einzelfiguren, für Vorgeschrittene der Kompositionsverlauf der Vorlage von Wichtigkeit, während fast alle Ausschnitte zur späteren Verwendung entlehnen. In ihren italienischen Studienjahren kopieren alle vor der künstlerischen Ausreife stehenden Eleven was ihnen nur halbwegs beachtenswert erscheint. Der oberste Grundsatz, daß enge Anlehnung an den Lehrer Ehrensache sei, ist für die Barocke ebenso typisch wie die geschickte Verarbeitung der Vorlagen, die als wahres Virtuosentum angesehen wurden.“16 Das Kunstwerk hatte bezugnehmend auf den Barockrezeptionsstil weitgehend die Funktion, als Träger der Ikonographie mit religiösen, philosophischen oder politischen Inhalten zu fungieren. Der autonome Charakter der visuellen Form wurde dadurch obsolet. Die Aufgabe der Kunstwerke war die adäquate Wiedergabe der Information. Die künstlerische Gestaltung des Kunstwerkes wurde zusammen mit dem darin enthaltenen Inhalt rezipiert und galt nicht als rein ästhetische Erscheinung oder als individuelle Schöpfung eines Künstlers. Dadurch entsteht auch das Problem der Nachvollziehbarkeit der Autorenschaft, da solche Werke häufig kollektiv beziehungsweise anonym geschaffen wurden.17 In den Kunstabhandlungen der Spätrenaissance und des frühen 17. Jahrhunderts wird eindeutig darauf verwiesen, dass dem Maler nachahmenswerte Kunstwerke als Vorbild dienen sollten und die Vorbildrezeption, die imitazione
13 „[…] io dico, che l’operante deve eleggere non qualsivoglia eccellentissimo, […] ma quel eccellentissimo, che è di genio conforme al genio suo.“ Gian Domenico OTTONELLI/Pietro BERETTINI da Cortona, Trattato della pittura e scultura, uso et abuso loro, Firenze 1652, 26. 14 Donat DE CHAPEAUROUGE, Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive, Wiesbaden 1974, 5. 15 Rudolf WITTKOWER, Imitation, Eclecticism, and Genius, in: Earl R. Wasserman (Hg.), Aspects of the Eighteenth Century, Baltimore 1967, 155. 16 Karl GARZAROLLI-THURNLACKH, Die barocke Handzeichnung in Österreich, Zürich Wien Leipzig 1928, 22–23. 17 Konstanty KALINOWSKY, Kunstzentrum und Provinz. Wien und die schlesische Kunst des 18. Jh., in: Hermann Fillitz/Martina Pippal (Hg.), Wien und der europäische Barock. Akten des XXV. internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Wien 1983, 103–110.
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d’altrui18, durchaus legitim sei. Darunter versteht man sowohl die Entlehnung einzelner Motive als auch die Nachahmung von Stilen.19 Weiters sollte erwähnt werden, dass sich in der Kunstliteratur des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts in zum Teil miteinander konkurrierenden imitatio-Theorien die Empfehlung findet, Kunstwerke als Vorbilder nachzuahmen. Die imitazione wurde als künstlerische Leistung ohne jegliche negative Konnotation der heute gebräuchlichen Bezeichnung Eklektizismus angesehen. Werke großer, verehrter Meister, die capolavori, werden in das Kunstschaffen der Maler integriert. Dazu fehlte es in der „Bilderfabrik“20 Loths keineswegs an Studien- und Vorlagenmaterial und seine Werkstattmitarbeiter konnten aus einem vielfältigen Repertoire an Kopien, Vorlagen und Druckgrafiken von Werken der großen Meister schöpfen. Von der Existenz dieses Materials berichtet uns Tessin in seinem schon zitierten Tagebuchbericht, indem er meint: „Er [Johann Carl Loth] führte mich erstens in ein zimber hinein, alwor unterschiedliche Originalen vom Tintoretto, Bassano undt auch Copeijen nach Paol Veronesi wercke zu sehen wahren, […]“21. Die Schüler und Mitarbeiter in Johann Carl Loths Werkstatt fertigten anonym Gemälde oder Reproduktionen von Werken des Meisters Johann Carl Loth, dem es an Aufträgen nicht mangelte und so etablierte sich das Atelier Carlottos zu einer der wichtigsten Ausbildungsstätten für Maler mit einer Herkunft aus dem nördlichen Alpenraum. „Tatsächlich galt dessen Werkstatt geradezu als Umschlagplatz für junge Talente, deren gediegene Ausbildung ihnen später oft genug sogar den Ruf als Hofmaler an europäische Residenzen eingebracht hat. Was man in Loths Atelier lernen konnte, waren Kenntnisse der Figurenmalerei, vor allem die Beherrschung des männlichen Akts. Dazu kam eine Hell-Dunkel-Malerei, die dem Caravaggismus – luminaristisch aufgelockert – eine typische venezianische Note abzugewinnen vermochte.“22 Zu den bedeutendsten Schülern aus dem Lothkreis zählen: Michael Wenzel Halbax, der Meraner Maler Matthias Pußjäger, der Garstener Stiftsmaler Johann Carl von Reslfeld, Johann Michael Rottmayr, Daniel Seiter, Peter Strudel von Strudendorff und der Eggenbergische Hofmaler Hans Adam Weissenkircher. 18 Nachahmung von Fremdem, des anderen. 19 Klaus IRLE, Der Ruhm der Bienen. Das Nachahmungsprinzip der italienischen Malerei von Raffael bis Rubens, Münster u. a. 1997, 1. 20 Hubala, Rottmayr, 18. 21 Tagebucheintrag des schwedischen Architekten Nicodemus Tessin d. J. von Anfang August 1688, zit. n. Ewald, Loth, 17. 22 Günter BRUCHER, Staffeleimalerei, in: Ders. (Hg.), Die Kunst des Barock in Österreich, Salzburg/Wien 1994, 316.
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Manche von ihnen entwickelten ihre Errungenschaften aus der Werkstätte des Bavarese weiter, manche behielten das Repertoire des Meisters bei. Die letztere Variante ist durchaus nicht negativ zu verstehen, obwohl Garzarolli-Thurnlackh harte Kritik daran übt. „Weißenkircher, Reslfeld und Remp [er war kein direkter Schüler Loths] verkamen, ohne wesentliche Steigerung der überkommenen profunden Schulkenntnisse, schließlich in der Provinz, während Peter Strudel sich eher nordischen Einflüssen öffnete und Johann Michael Rottmayr neben Lys bolognesische und corregieske malerische Prinzipien mit dem venezianischen Seicento verschmolz. Ihr Kompositionscharakter war mit Venedig, häufig genug mit Loth selber ebenso verbunden, wie ihr Figurentypus: ruhige, in wohlabgewogenen Diagonalen gegen einen prominenten Mittelpunkt agierende Gestalten, deren Handlungswert durch übersinnliche Erscheinungen in jähem Kurvenaufprall gesteigert war – kräftige Figuren in weiten Gewändern, teilweise entblößt, mit einheitlichen Gesichts- und Handtypen.“23
D IE R EZEPTION DES F ORMENREPERTOIRES UND DES M ALSTILS DES D EUTSCHVENEZIANERS J OHANN C ARL L OTH IN DER B AROCKMALEREI DES ZISALPINEN R AUMES Die Einflüsse Carl Loths auf die schon genannten österreichischen Maler des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die ihr Alumnat beim Deutschvenezianer absolvierten, werden im Folgenden genauer analysiert und somit wird die Bedeutung des Meisters auf die österreichische Barockmalerei dargestellt. Der Lothschüler Michael Wenzel Halbax Die Blütezeit der böhmischen Barockmalerei leitete der in Prag tätige Michael Wenzel Halbax (1661, Oberösterreich bis 1711, St. Florian) ein. Nachdem er seine zeitlich nicht exakt einzugrenzende Lehrzeit bei Carl Loth abgeschlossen hatte, ließ er sich von 1686 bis 1694 in Prag nieder, war darauf folgend in Linz tätig und von 1700 bis 1708 wieder in Prag.24 Nach seinem zweiten böhmischen Aufenthalt blieb er bis zu seinem Tod in St. Florian in Österreich. Seine Arbeiten finden sich im heutigen Tschechien, in
23 Garzarolli-Thurnlackh, Handzeichnung, 17. 24 Ingrid FRANZL, Michael Wenzel Halbax. Leben und Werk, unveröffentlichte phil. Diss., Universität Innsbruck 1970, 5–7.
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Österreich und der Slowakei. Er entlehnte in seinem Werk des Öfteren Figuren aus Loths Bildern (Abb. 4) und stand der Kunst des Deutschvenezianers (Abb. 5) in seinen Kompositionen sehr nahe. Abb. 4: Michael Wenzel Halbax, Heiliger Petrus, ýervený KameĖ, Museum
SNM-Museum Bojnice, Österreichisches Barock und die Slowakei, o. O. 2003, 149.
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Abb. 5: Johann Carl Loth, Hiob, Venedig, Galleria dell’ Accademia
http://cachens.corbis.com/CorbisImage/ thumb/10/79/60/10796063/AV003582.jpg. [30.04.2013]
Die gute Kenntnis des Werks seines Lehrers lässt darauf schließen, dass Halbax einen relativ langen Aufenthalt in der Werkstätte Loths genoss. Grundsätzlich lehnt sich auch die Farbgebung in Halbax’ Schöpfungen an jene Loths an, obwohl sich das fahle und harte Kolorit mitunter von der weichen, fließenden Farbigkeit Loths abhebt. Matthias Pußjäger Zu den wichtigsten Malern seiner Zeit in Tirol und Bayern gehörte Matthias Pußjäger (1654, Rotenbuch in Oberbayern bis 1734, Meran), der 13 Jahre in der Werkstätte Loths verbrachte.25 Obwohl er in seinen Werken nicht ausschließlich den Stil der Schule Johann Carl Loths repräsentiert, trifft man bei genaueren Analysen seiner Kompositionen immer wieder auf Bildelemente, welche die Vorbildwirkung des loth’schen Werks (Abb. 6; Abb. 7) bestätigen.
25 Irma KUSTATSCHER-PERNTNER, Der Meraner Maler Matthias Pußjäger, phil. Diss., Universität Innsbruck, Innsbruck 1978, 39.
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Abb. 6: Matthias Pußjäger, Untergang von Sodom und Gomorrha, Stams, Stift
Reinhard RAMPOLD, Unbekannte Arbeiten des Malers Matthias Pußjäger, in: Der Schlern, 81 (2007), 33.
Abb. 7: Johann Carl Loth, Apoll und Pan, Aufbewahrungsort unbekannt
Jonathan BIKKER Jonathan, Drost’s end and Loth’s beginnings in Venice, in: The Burlington Magazine, 144 (2002), 152, Abb. 16.
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Beispielhaft sind hierfür die Darstellung des reifen Mannes in Pußjägers Werk, die Art der Anlage der Bilder, zum Teil auch im Querformat, der gezielte Einsatz der Helldunkelmalerei und die Kniestückwiedergabe der Protagonisten sowie die Einbeziehung der rötlichen Bolusgrundierung 26 in den Sichtbereich. Craffonara merkt an, dass sich Pußjäger „von der dunkelbraunen, auf die Venezianer „Tenebrosi“ bzw. auf die Loth-Schule zurückgehenden Notturno-Stimmung angezogen [fühlte], und [ihm] die flüchtige Andeutung der Architektur und allen übrigen Beiwerks zwecks stärkerer Hervorhebung der Figuren eigen ist.“27 Johann Carl von Reslfeld Auch die Kompositionen des Garstener Stiftsmaler Johann Carl von Reslfeld (um 1658, Tirol bis 1735, Garsten) und seine die Helldunkel-Kontrastmalerei (Abb. 8) entsprechen im Sinne des Tenebrismus von Johann Carl Loth im Wesentlichen der venezianischen Maltradition des 17. Jahrhunderts.
26 Darunter versteht man eine spezielle Grundierungstechnik in der Ölmalerei, die gerne in der Barockzeit Verwendung fand. 27 Lois CRAFFONARA, Ein Gemälde von Mathias Pußjäger (1654–1734) in Buchenstein, in: Der Schlern 78 (2004), 48–49.
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Abb. 8: Johann Carl von Reslfeld, Heiliger Berthold, Garsten, Stiftskirche
Rechte: Autorin
Die Verwendung des rotbraunen Grundtons, die rötliche Bolusgrundierung und die in scharfem Kontrast zum Dunkel gesetzten Lichter lassen sich eindeutig aus Reslfelds Alumnat bei Johann Carl Loth herleiten. Der dunkle Grundton steht bei Reslfeld meist in Kontrast zu den in leuchtenden Lokalfarben hervorgehobenen Einzelmotiven. Auch die effektvoll durch Licht akzentuierten Figuren, teilweise nackt dargestellte Akteure, deren Muskeln durch die besondere Art der Beleuchtung betont werden, die häufig vorkommenden Charakterköpfe naturalistisch wiedergegebener, älterer Männer sowie die typischen Staffagefiguren, die sich im Schatten des Hintergrundes fast zu verstecken scheinen, all das entspricht den loth’schen Kompositionsprinzipien. Reslfeld übernimmt des Weiteren formal einzelne Figurenfindungen wie beispielsweise die zum Betrachter stürzende Figur und kombiniert sie zu eigenen bildlichen Schöpfungen. Die Werke Reslfelds sind relativ weit verstreut und finden sich in Oberösterreich, Niederösterreich, in Wien, der Steiermark, Salzburg und Bayern.
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Johann Michael Rottmayr Johann Michael Rottmayr (1654, Laufen in Bayern bis 1730, Wien) schreibt in einem Gesuch zur Erhebung in den persönlichen Adelsstand, dass er nach seinen Lehrjahren „dem welt berühmbten Carl Lott zu Venedig ad Studia“ übergeben worden sei und 13 Jahre bei Loth gearbeitet hatte.28 Johann Michael Rottmayr zählt wohl zu den bekanntesten Malern nördlich der Alpen, die im Atelier Johann Carl Loths ihre Ausbildung absolvierten. Obwohl er nach seinem Alumnat eine Zeit lang dem Stil Johann Carl Loths treu blieb, entwickelter er sich vor allem hinsichtlich seines Kolorits weiter und entfernte sich zunehmend von der stark betonten Helldunkelmalerei. Das loth’sche Figurenrepertoire wie beispielsweise die mit dem Kopf zur Rezipientin und zum Rezipienten liegende Figur (Abb. 9) oder die Darstellung greiser Heiliger bleibt hingegen in seinem gesamten Schaffen präsent.
28 Walter BRUGGER, Leben und Werk, in: Johann Michael Rottmayr (1654–1730). Genie der barocken Farbe, Aust.-Kat. (Dommuseum Salzburg), Salzburg 2004, 13.
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Abb. 9: Johann Michael Rottmayr, Beweinung Abels, Passau, Alte Residenz
Johann Michael Rottmayr (1654– 1730). Genie der barocken Farbe, Aust.-Kat. (Dommuseum Salzburg), Salzburg 2004, 99, Abb. 134.
Zum einen wiederholt er zahlreiche Einzelmotive, zum anderen kopiert er ganze Kompositionen, die auf Loth zurückgehen, manchmal übernimmt er auch nur die Kompositionsstruktur und ändert den Inhalt. Dementsprechend kann man zusammenfassen, dass Rottmayr das Formengut Johann Carl Loths in seiner Heimat nicht nur weiter getragen, sondern auch weiterentwickelt hat. Darüber hinaus hat er sich zeitlebens damit gerühmt, ein Schüler des Johann Carl Loth gewesen zu sein.
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Daniel Seiter Daniel Seiter (um 1647, Wien bis 1705, Turin) wurde der perfekte Nachahmer Loths und verzichtete auf die Entwicklung eigener Stilformen.29 Trotzdem machte er sich als eigenständiger Künstler und als wichtiger Vertreter des italienischen Spätbarocks mit seinen Hauptwerken in Rom und Turin einen bemerkenswerten Namen. Daniel Seiter war einer der wichtigsten Vertreter der Lothschule, der das Formengut, die Helldunkelmalerei sowie die Zeichentechnik Loths in seiner Kunst weitertrug. Er behielt diese Orientierung am Repertoire Johann Carl Loths bis zu seinem Lebensende bei und kombinierte es mit Motiven, die er aus den Werken Carlo Marattas und Pietro da Cortonas bezog. Signifikant erscheinen seine Übernahmen der Gestaltenwelt Johann Carl Loths und die der Kompositionsanlagen. Loth’sche Typen, wie der am Boden hingestreckte, raumfüllende Protagonist (Abb. 10), der Frauenakt, athletische, nackte Männerkörper oder akribisch ausgearbeitete Greisendarstellungen wiederholen sich in Seiters Œuvre, ebenso der Einsatz der tenebristischen Helldunkelsituationen. Abb. 10: Daniel Seiter, Diana an der Leiche Orions, Paris, Louvre
Matthias KUNZE, Daniel Seiter 1647–1705. Die Gemälde, München/Berlin 2000, 99.
29 Kunze, Seiter,19.
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Die Hauptakteure werden durch ihr beleuchtetes Inkarnat in den Vordergrund gerückt, Nebenfiguren verschmelzen in Form der Solo-Ripieno-Struktur mit dem Dunkel des Hintergrundes. Zahlreiche Elemente aus der Malerei Daniel Seiters gehen eindeutig auf sein Alumnat bei Johann Carl Loth zurück. Peter Strudel Auch Peter Strudel von Strudendorff (1660, Cles in Südtirol bis 1714, Wien) war Mitarbeiter der „loth’schen Bilderproduktion“30. Im Gegensatz zu Seiter entwickelte er das venezianische Formengut weiter. Trotzdem sind die Einflüsse Loths im Werk Peter Strudels deutlich erkennbar. Obwohl Peter Strudel seinen persönlichen Malstil nach der Lehre bei Johann Carl Loth etabliert hat, finden sich zahlreiche Merkmale in seinem malerischen Werk, welche die Schulung beim Bavarese bestätigen. Strudel verarbeitet Figurenmotive (Abb. 11) in der für ihn typischen flüchtigen Malweise, die sich in Werken Johann Carl Loths wiederfinden (Abb. 12). Abb. 11: Peter Strudl, Die Zeit enthüllt die Wahrheit, Sibiu/ Rumänien, Brukenthalmuseum
Manfred KOLLER, Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie, Innsbruck 1993, Taf. 6.
30 Manfred KOLLER, Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie, Innsbruck 1993, 38.
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Abb. 12: Johann Carl Loth, Jupiter und Antiope, Kassel, Gemäldesammlungen
Gerhard EWALD, Johann Carl Loth. 1632–1698, Amsterdam 1965, Taf. 64, Abb. 461.
Auch die rotbraune Bolusgrundierung seiner Ölgemälde deutet auf seine venezianische Schulung hin. Die größte Errungenschaft, die Peter Strudel aus dem Atelier Johann Carl Loths in seine Heimat mitnehmen konnte, war die Idee der Akademie, die er durch sein Engagement und seine Hartnäckigkeit in Wien verwirklichte und aus welcher die heutige Akademie der bildenden Künste hervorging. Hans Adam Weissenkircher Der Eggenbergische Hofmaler Hans Adam Weissenkircher (1646 Laufen in Bayern bis 1695 Graz) hat den Stil Loths am reinsten bewahrt. In seinem Œuvre zeigen sich die dominanten Einflüsse Johann Carl Loths auf die Kompositionen und die Maltechnik Hans Adam Weissenkirchers. Obwohl es keine Quellen gibt, welche einen Aufenthalt des Eggenbergischen Hofmalers bei Loth in Venedig belegen, sprechen sowohl die Verarbeitung des loth’schen Formenrepertoires als auch der Malstil in Weissenkirchers Werk eindeutig dafür.
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Abb. 13: Hans Adam Weissenkircher, Zwillinge, Schloss Eggenberg, Planetensaal
Barbara KAISER, Schloss Eggenberg, Wien 2006, 185.
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass wesentlichen Bildmotive, wie die Darstellung des greisen Männeraktes oder die nach rückwärts mit dem Kopf in Richtung Betrachterin und Betrachter stürzende, raumgreifende männliche Gestalt (Abb. 13) eindeutig auf die Bildsprache der bottega Johann Carl Loths zurückgehen.
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F AZIT Das Atelier Johann Carl Loths in Venedig fungierte als eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für österreichische Maler, deren Schaffensphase in die zweite Hälfte des 17. und in das frühe 18. Jahrhundert fällt. Loth selbst war in der Lagunenstadt eine der gefragtesten Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit. Dementsprechend führte er eine florierende Werkstatt als Ausbildungsstätte, um der Vielzahl an Aufträgen gerecht zu werden. Die bottega Loths etablierte sich zu einem Begegnungsort, wo sich auch namhafte Maler des alpenländischen Gebiets sammelten und das Formengut des Deutschvenezianers erlernten. Viele seiner Werkstattmitarbeiter konnten durch die Übernahme von Loths Kompositionen und Maltechnik nach ihrer Heimkehr eine florierende Kunstproduktion bewahren und transferierten das loth’sche Formenrepertoire in die Barockmalerei des zisalpinen Raumes.
L ITERATUR Jonathan BIKKER Jonathan, Drost’s end and Loth’s beginnings in Venice, in: The Burlington Magazine, 144 (2002), 147–156. Günter BRUCHER, Staffeleimalerei, in: Günter Brucher (Hg.), Die Kunst des Barock in Österreich, Salzburg/Wien 1994, 297–368. Walter BRUGGER, Leben und Werk, in: Johann Michael Rottmayr (1654– 1730). Genie der barocken Farbe, Aust.-Kat. (Dommuseum Salzburg), Salzburg 2004, 12–29. Lois CRAFFONARA, Ein Gemälde von Mathias Pußjäger (1654–1734) in Buchenstein, in: Der Schlern, 78 (2004), 44–53. Donat DE CHAPEAUROUGE, Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive, Wiesbaden 1974. Gerhard EWALD, Johann Carl Loth. 1632–1698, Amsterdam 1965. Ingrid FRANZL, Michael Wenzel Halbax. Leben und Werk, unveröffentlichte phil. Diss., Universität Innsbruck 1970. Johann Caspar FÜSSLI, Leben Georg Rugendas und Johannes Kupetzki, Zürich 1758. Garstener Akten, Bd. 304, Oberösterreichisches Landesarchiv. Karl GARZAROLLI-THURNLACKH, Die barocke Handzeichnung in Österreich, Zürich Wien Leipzig 1928. Günther HEINZ, Malerei und Skulptur des 17. und 18. Jahrhunderts in Österreich, unveröffentlichte Vorlesung, Wien 1979.
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Erich HUBALA, Johann Michael Rottmayr, Wien/München 1981. Erich HUBALA, Neu aufgefundene Passauer Werke Johann Michael Rottmayrs, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, V (1954), 174–187. Klaus IRLE, Der Ruhm der Bienen. Das Nachahmungsprinzip der italienischen Malerei von Raffael bis Rubens, Münster u. a. 1997. Johann Michael Rottmayr (1654–1730). Genie der barocken Farbe, Aust.-Kat. (Dommuseum Salzburg), Salzburg 2004. Barbara KAISER, Schloss Eggenberg, Wien 2006. Konstanty KALINOWSKY, Kunstzentrum und Provinz. Wien und die schlesische Kunst des 18. Jh., in: Hermann Fillitz/Martina Pippal (Hg.), Wien und der europäische Barock. Akten des XXV. internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Wien 1983, 103–110. Manfred KOLLER, Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie, Innsbruck 1993. Matthias KUNZE, Daniel Seiter 1647–1705. Die Gemälde, München/Berlin 2000. Irma KUSTATSCHER-PERNTNER, Der Meraner Maler Matthias Pußjäger, phil. Diss., Universität Innsbruck, Innsbruck 1978. Margarete LUX, L’inventario di Johann Carl Loth, in: Arte Veneta, 54 (2000), 146–169. Gian Domenico OTTONELLI/Pietro BERETTINI da Cortona, Trattato della pittura e scultura, uso et abuso loro, Firenze 1652. Rodolfo PALLUCCHINI, La pittura veneziana del Seicento, Bd. 1, Milano 1993. Reinhard RAMPOLD, Unbekannte Arbeiten des Malers Matthias Pußjäger, in: Der Schlern, 81 (2007), 32–39. SNM-Museum Bojnice, Österreichisches Barock und die Slowakei, o. O. 2003. Rudolf WITTKOWER, Imitation, Eclecticism, and Genius, in: Earl R. Wasserman (Hg.), Aspects of the Eighteenth Century, Baltimore 1967, 143–161.
Die Dinge (in) der Literatur Kartographie und Zimmerreise N ILS K ASPER (L EIPZIG /G RAZ )
Mit der 1794 erschienenen Erzählung Die Reise um mein Zimmer rühmt sich Xavier de Maistre, Schriftsteller und Bruder des Staatstheoretikers Joseph de Maistre, eine Entdeckung gemacht zu haben, die das Reisen revolutioniert. Ohne auch nur einen Fuß über die Türschwelle zu setzen, unternimmt er eine 42 Tage währende Erkundungsfahrt und legt seine Erlebnisse in einem Reisebericht nieder, der jedem Tag des Unterwegsseins ein eigenes Kapitel widmet. Im Frühjahr 1790 war de Maistre wegen eines Duells zu 42-tägigem Hausarrest verurteilt worden und nahm dies zum Anlass, für die Frist des erzwungenen Aufenthalts sein Zimmer zu bereisen. Sehr viel mehr als das ist nicht über die Entstehung dieser kleinen Erzählung bekannt, die binnen Kurzem in weitere europäische Sprachen übersetzt zu einem Klassiker der Novellistik wurde und im Jahr 1825 von de Maistre unter dem Titel Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer ihre Fortsetzung erhielt. Der Bericht des Zimmerreisenden war traditionsbildend und führte dazu, dass eine Reihe heute weitgehend vergessener Autoren es ihm gleich taten. Schon bald darauf erschienen weitere Reisen in den Keller, das Haus, die Bibliothek oder über das Schreibpult.1 Dass es sich bei der Zimmerreiseliteratur um Gelegenheitsarbeiten handelte, deren literarische Qualität durchwachsen ist und die nicht immer mit Zuspruch der zeitgenössischen Literaturkritik rechnen konnten, belegt die Rezension über eine Zimmerreise, welche 1799 anonym unter dem Titel Meine Reisen am Pulte erschien. Der Rezensent sieht die Entstehung dieser Zimmerreise ausschließlich durch Erwerbsabsichten ihres Verfassers motiviert und rät möglichen Nach1
Vgl. Bernd STIEGLER, Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt am Main 2010.
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ahmern, künftig davon abzusehen, „auf Kosten des Geschmacks und Menschenverstands Bücher zu sudeln“. Mit seinem Urteil führt er die Materialität der Literatur drastisch vor Augen und stellt ihr im Ton zeitgenössischen Eifers gegen Vielschreiberei eine Art negativen kategorischen Imperativ der Literaturproduktion entgegen. Denn – so die conclusio des Kritikers –: „[...] den unberufenen, wenn gleich hülfsbedürftigen Autoren alle Lumpensäcke, Papiermühlen, Schriftgießereyen und Buchdruckerpressen aber preisgeben zu wollen, wäre doch eine überverdienstliche Nachsicht, und deren allgemeine Befolgung nicht zu berechnende Folgen hervorbringen müßte.“2 Dass sich spätere Zimmerreisende von solchem Rat nicht hindern ließen und im Zweifel eher auf „überverdienstliche Nachsicht“ der Kritik denn auf die Veröffentlichung ihrer Reisebeschreibungen Verzicht taten, belegt die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein anhaltende Popularität des Genres. Der Buchtitel „Zimmerreise“ erlebte bald eine erhebliche Ausweitung, die dazu führte, dass Hearnes, Mackenzies, Lewis’ und Pikes tatsächlich unternommenen Entdeckungsreisen im Innern NordAmerika´s 1826 dem deutschsprachigen Lesepublikum als Interessante Zimmerreise angepriesen wurden 3 oder der Maler Karl Georg Enslen seine Städtepanoramen, mit denen er in wechselnden Ausstellungen durchs Land zog, 1829 in einer kleinen Broschüre mit dem Titel Führer auf Enslen’s malerischer Reise im Zimmer bewerben konnte. Diese Texte haben mit der Zimmerreise im eigentlichen Sinn nur noch den Titel gemein. Die Zimmerreiseliteratur ist – wie sich zeigen wird – aus guten Gründen voller Anspielungen auf Karten und kartographische Methoden der Positionsbestimmung. Zugleich charakterisiert die elementare Situation jeder Zimmer2
ANONYM, [Rezension über] Meine Reise am Pulte beym Scheine einer argandischen Lampe, in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 49. Bd., 1. Stück, (1800), 81–83, hier 82f. Es war gängige Verlagspraxis der ADB und NADB, Rezensionen anonym erscheinen zu lassen. Vgl. Ute SCHNEIDER, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995, 159. Der Verfasser, der sich in der hier genannten Rezension hinter dem Kürzel „Im.“ verbirgt, bewahrt auch bei Konsultierung von G. Fr. C. Partheys Register über die Beiträger von Nicolais ADB sein Geheimnis. Vgl. Gustav Friedrich Constantin PARTHEY, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1842, 61.
3
Wilhelm HARNISCH, Interessante Zimmerreise zu Wasser und zu Lande für wißbegierige Leser gebildeter Stände. Hearne’s, Mackenzie’s, Lewis’ und Pike’s Entdeckungsreisen im Innern Nord-Amerika’s. Nebst einer Beschreibung der Nordwestküste und Neu-Spaniens, Wien 1826.
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reise recht gut die allgemeinsten Bedingungen, die sich die Praxis des literarischen Schreibens schafft bzw. sucht: Die Zurückgezogenheit an einen Schreibort, der nach außen weitgehend abgeschlossen, nach innen auf Schreibtisch oder Pult mit den darauf angeordneten Schreibwerkzeugen konzentriert ist. Ein Ort, der dem schreibenden Körper gehört. Unter athletischen Maximen ausgeübt, ist Schreiben eine ‚Einsamkeitstechnik‘ par excellence, 4 die eine doppelte Spaltung instituiert: Zum einen den Rückzug aus angestammten Sozialbindungen, der nach dem Vorbild antiken Anachoretentums auf Entautomatisierung geselliger Verhaltensroutinen und Gewohnheiten zielt und zum anderen eine Aufspaltung, die der Schreibende durch das Schreiben in sich selber vollzieht mit der Aussicht, als Leser des Geschriebenen sich selbst zu begegnen. Bereits Quintilian empfahl in seinem Institutio oratoria dem Schreibenden zur Abfassung seiner Reden einen Ort aufzusuchen, der die Vorzüge von Abgeschiedenheit und Stille mit der – durch entsprechende Beleuchtung unterstützten – Beschränkung des Sicht- und Handlungsfelds beim Schreiben verbindet. Dabei lässt er in einer einschränkenden Bemerkung, die das Schreiben im Diktat von der Forderung nach Abgeschiedenheit ausnimmt, auf eine wesentliche Differenz aufmerksam werden, die das Schreiben unter Alphabetisierungsbedingungen um 1800 von allen früheren Epochen unwiderruflich trennt.5 Hatte es bis dahin Schreiber gegeben, die nicht lesen, und Leser, die nicht schreiben konnten, unterstehen diese Praktiken mit der pädagogischen Offensive um 1800 einer folgenreichen Neuausrichtung: Die Vermögen Schreiben und Lesen 4
Vgl. Thomas MACHO, Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: Jan & Aleida Assmann (Hg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München 2000, 27–44. Zur weiteren kulturgeschichtlichen Herleitung derartiger, vom Autor so bezeichneter ‚anthropotechnischer Übungsprogramme‘ vgl. Peter SLOTERDIJK, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2012.
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„denique ut semel quod est potentissimum dicam, secretum, quod dictando perit, atque liberum arbitris locum et quam altissimum silentium scribentibus maxime convenire nemo dubitaverit. […] ideoque lucubrantes silentium noctis et clausum cubiculum et lumen unum velut tectos maxime teneat.” [Und es dürfte, um nun mit einem Wort das Wichtigste zu sagen, wohl niemand bezweifeln, daß das Alleinsein, auf das man während des Diktierens verzichten muß, ferner ein Ort, frei von Augenzeugen, sowie eine möglichst tiefe Stille beim Schreiben ganz besonders förderlich sind. […] Daher mögen die nächtliche Stille, das verschlossene Gemach und eine einzige Lampe die Nachtarbeiter gleichsam in ihren besonderen Schutz nehmen.] M. Fab. Quint. Inst. Or. X, III, 22, 25. Deutsche Übersetzung nach: QUINTILIAN, Institutio oratoria X./Lehrbuch der Redekunst 10. Buch, lateinisch/deutsch, übers., kommentiert und m. Einl. hg. v. Franz Loretto, Stuttgart 2006, 90–93.
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werden didaktisch kombiniert und operativ gekoppelt.6 Erst diese qua Alphabetisierung mit der Fähigkeit zur Selbstkorrektur begabten Schreiber-Leser – seinerzeit besser bekannt unter dem Namen ‚Selbstdenker‘ – konnten das Diktat obsolet und mithin die Abgeschiedenheit im Schreiben absolut werden lassen. Die Autonomie im Schreiben, die seither in verschiedenen poetologischen und ästhetischen Konzeptionen der modernen Literatur reklamiert worden ist, darf man daher im Sinne dieser auf Selbstregulierung umgestellten Schreib-Lesepraxis verstehen. Wenn um 1800 Literatur produziert und darüber Autorschaft konstituiert wird, dann beruht diese Konstruktion nicht zuletzt auf der Dissimulation jener Schreibakte, die sie hervorgebracht haben.7 Starke Autor-Subjekte vermeiden es grundsätzlich, sich vom Leser in die Karten schauen zu lassen.8 Wo die Literatur ihre Produktionsbedingungen dennoch reflektiert und im literarischen Text thematisch ausbreitet, geschieht dies meist in den Begriffen der Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio). Dass die Rhetorik noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der literarischen Kommunikation Modell stand, hat Heinrich Bosse im Anschluss an Foucault mit der für das 17. und 18. Jahrhundert maßgeblichen Ordnung der Zeichen begründet. Diese Zeichenordnung situiere Autoren und Redner gemeinsam in einem Feld zweistelliger Repräsentation, in welchem die Elemente der Rede und der Schrift, Laute und Buchstaben, gegeneinander austauschbar bleiben und dadurch die Domänen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bis auf weiteres zur Deckung kommen lassen. 9 Wenn die Zimmerreisetexte die Schreibakte thematisieren, die sie hervorgebracht haben, und damit in die Nähe kartographischen Schreibens geraten, dann ist das für die zeitgenössische Modellierung literarischer Produktion zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit signifikant: Denn die Graphé der Kartographie steht als lautsprachenunabhängige Schrift vorab außerhalb jeder Rhetorik und lässt einen 6
Vgl. Heinrich BOSSE, „Die Schüler müßen selbst schreiben lernen“ oder die Einrichtung der Schiefertafel, in: Sandro Zanetti (Hg.) Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, 67–111.
7
Vgl. Friedrich KITTLER, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003, 138.
8
Zum goethezeitlichen poetologischen Topos des ‚Vorhangs‘, der den Schreibakt einhüllt und in dieser Verhüllung exponiert vgl. Jürgen LINK, Der Vorhang. Das Symptom einer generativ-poetischen Aporie in der goethezeitlichen Schreiburszene, in: Martin Stingelin (Hg.) „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, 120–139.
9
Vgl. Heinrich BOSSE, Der Autor als abwesender Redner, in: Paul Goetsch (Hg.) Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, 277–290.
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Bezirk von Sprachlichkeit in der Literatur auftauchen, der nicht dem Hören und Sprechen, sondern dem Sehen und Hantieren angehört. Schreibprozesse, die im literarischen Text zum Thema werden und darin den Schluss auf die Umstände seiner eigenen Entstehung nahelegen, lassen sich mit Rüdiger Campes Begriff der ‚Schreibszene‘ umreißen. Ausgehend von der Annahme, dass Schreibprozesse sich als Kontiguitätsrelation zwischen den Elementen Sprache, Instrumentalität und Handlung charakterisieren lassen, die im geschriebenen Text verfugt (und dadurch letztlich zum Verschwinden gebracht) sind, ergibt sich, historisch wie personell zwischen Autonomie und Heteronomie des Schreibens alternierend, die Spezifik der ‚Schreibszene‘: „Auch und gerade wenn die ‚Schreib-Szene‘ keine selbstevidente Rahmung der Szene, sondern ein nichtstabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste bezeichnet, kann sie dennoch das Unternehmen der Literatur als dieses problematische Ensemble, diese schwierige Rahmung genau kennzeichnen. Dann aber lohnt es, Ensemblebildung und Rahmung in ihrer begrenzten Geltung und mit ihren Rissen zu beschreiben.“10 Das Schreiben der Zimmerreise wird begrifflich nicht nur, indem es sich im Text thematisiert, sondern auch, indem es sich über die Nähe zu den Schreibpraktiken der Kartographie bestimmt. Um es also gleich vorwegzunehmen: Wenn in den Zimmerreisetexten einleitend kartographische Positionsbestimmungen vorgenommen werden, dann handelt es sich dabei nicht einfach nur um eine „pseudogeographische Situierung des Zimmers“,11 sondern um ein bestimmendes Moment der ‚Schreibszene‘.
10 Rüdiger CAMPE, Die Schreibszene. Schreiben, in: Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer (Hg.) Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, 759–772, hier 760. Zur Perspektivierung der ‚Schreibszene‘ in Richtung einer ‚Genealogie des Schreibens‘ vgl. Martin STINGELIN, Einleitung, in: Ders. (Hg.), „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, 7–21. 11 Vgl. Stiegler, Stillstand, 53.
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Obwohl insgesamt nur wenig über die Lebensgeschichte de Maistres bekannt und der biographische Anlass der ersten Zimmerreise ungewiss bzw. von der Zuverlässigkeit der Angaben des Erzählers im Text selbst abhängig ist, lässt sich doch der diskursive Ort seiner ersten Zimmerreise einigermaßen genau bestimmen. Der Autor beginnt seine Erzählung im 4. Kapitel – also relativ weit am Anfang – mit einer geographischen Positionsbestimmung und gibt die Autonomie seines Schreibens erst einmal ab: „Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter dem fünfundvierzigsten Breitengrad; seine Lage zeigt von Osten nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechsunddreißig Schritt im Umfang hat. Meine Reise wird jedoch deren mehr enthalten; denn ich werde in ihm oft ohne Plan und ohne Ziel hin und her oder diagonal wandern. – Ich werde sogar im Zickzack gehen, und, wenn es erforderlich ist, in allen möglichen geometrischen Linien laufen.“12 Was hier zur Sprache kommt, ist der Diskurs der Astronomie und Geodäsie. Giovanni Battista Beccaria, Mathematiker und Physikprofessor in Turin, hatte 1759 durch den König von Sardinien den Auftrag erhalten, in Piemont den Grad eines Meridians geodätisch zu vermessen. 1760 unternahm er diese Messung und bestimmte die geographische Lage von Turin auf 45° 04‘ 14,03‘‘ n.B., 25° 20‘ 0‘‘ ö.L. Die Ergebnisse der Messung veröffentlichte er 1774 in seiner Schrift Gradus Taurinensis.13 Dieser von Beccaria gesetzte Punkt, der fortan die Position von Turin in Länge und Breite markiert, ist Schrift. Es handelt sich dabei nicht um einen Gegenstand, der in der Idealität des reinen Denkens bloß als geometrische Figur existierte, sondern dieser Punkt besitzt als geographischer Punkt empirische Realität. Er ist mithin Setzung, und das sowohl im prägnant philosophischen Sinne des Begriffs, als auch in der Bedeutung typographisch-medientechnischer Einschreibung. 14 Seit 1600 ist die praktische Geometrie – die eben darum
12 Xavier DE MAISTRE, Die Reise um mein Zimmer. a. d. Französ. v. Eva Mayer, Berlin 2011, 11 f. 13 Giovanni Battista BECCARIA, Gradus Taurinensis. Augustae Taurinorum 1774, 155. 14 Gegen Cassinis Zweifel an der Genauigkeit dieser Messung suchte sich Beccaria durch den Nachweis zu verteidigen, dass durch die Nähe der Alpen verursacht, lokale Unregelmäßigkeiten im Erdmagnetismus zu Pendelabweichungen bei seinen Messungen geführt hatten. Der Streit konnte erst beigelegt und die Unstimmigkeiten auf Messfehler zurückgeführt werden, nachdem Franz Xaver von Zach 1809 Beccarias
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praktisch heißt – damit befasst, die Oberfläche des Erdkörpers in eine Konfiguration von Punkten, Linien und Flächen zu verwandeln. Die Verschriftlichung der Erde, die um 1800 weit vorangeschritten, wenngleich aber noch nicht abgeschlossen war, brachte mit ihren Positionstabellen, trigonometrischen Netzen und letztlich Karten eine papierne Realität zur Welt, die ihre eigene Geschichte hat. Diese Geschichte war bei Entstehung von de Maistres erster Zimmerreise gerade so weit vorangekommen, Turin als geographischen Punkt zwar gesetzt, ihn aber noch nicht an ein trigonometrisches Netz angeschlossen und dadurch in das Kontinuum einer Karte eingebaut zu haben. Der Punkt blieb singuläres Ereignis und seine Umgebung glatter Raum. Aus dem Umstand, an einem Ort festgesetzt zu sein, der seit Beccarias Vermessung semiotechnisches Faktum ist, bezieht der literarische Diskurs der Zimmerreise alle Freiheiten der Imagination. Denn die Formalisierung und Notation des Signifikats /Turin/ – nicht als Bild oder Gemälde, sondern als symbolisches und mithin arbiträres Zeichen, dem „geographischen Punkt“ – provoziert die imaginative Überschreitung auf einen potentiell unendlichen Raum an Bedeutungen. Den Entzug an Sinnlichkeit, der durch Beccarias Punktsetzung vorgenommen wurde, erstattet die Imagination an Bedeutungen zurück: „Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen geographischen Punkt zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: Die Unermesslichkeit und die Ewigkeit stehen zu meinen Diensten.“15 In de Maistres zweiter Zimmerreise von 1825 berichtet der Erzähler davon, nach Turin zurückgekehrt und auf der Suche nach dem Haus zu sein, dessen Zimmer er gut 30 Jahre zuvor bereist hatte. Inzwischen haben andere an Beccarias „geographischem Punkt“ weitergeschrieben, ihn mit einem Dreiecksnetz verknüpft und später einer Karte einverleibt, die noch einmal Napoleons Triumph in Italien symbolisch wiederholt. Bereits seit 1733 wurde zunächst unter der Leitung von César-Francois Cassini de Thury ein Triangulationsnetz ausgelegt, welches das gesamte französische Territorium überzog und zur Grundlage der ersten modernen Karte Europas wurde. Dieses gewaltige Netz, 1744 fertiggestellt, bestand aus ca. 800 Dreiecken mit etwa 3.000 DreiecksVermessungen in Oberitalien wiederholt hatte. Vgl. ANONYM: Mémoire de M. le Baron de Zach, membre de l’Académie impériale de sciences, littérature et beaux arts de Turin etc. etc. sur le degré du méridien mésuré en Piémont, par le P. Beccaria. An. 1811, in: Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde 27. Bd. (März 1813), 272–281. Die Anfechtung der Genauigkeit von Beccarias Messung steht dabei nicht im Gegensatz zu ihrem konstativen Wert als Setzung, sondern unterstreicht diesen vielmehr. 15 De Maistre, Reise, 90.
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punkten. Das Resultat des Unternehmens war öffentlich zugänglich. Erst Napoleon – den militärischen Nutzen einer solchen Karte erkennend – entzog sie der Öffentlichkeit und brachte damit das in ihr gebundene Machtwissen unter das Monopol des Generalstabs. Die Erzeugnisse des kartographischen Schreibregimes wanderten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf mehr oder weniger direktem Wege in die Zeichenarsenale von Militär und Verwaltung. Denn Karten stellen Adressierbarkeit her und werden deshalb zum unverzichtbaren Steuermedium militärisch-strategischer Intervention. Abb.1: Trigonometrisches Netz
Berghaus, Opérations, Anhang, Tafel IV.
In den Jahren zwischen 1821 und 1824 wurde schließlich von piemontesischen und österreichischen Feldingenieuren das große französische Dreiecksnetz bis nach Turin erweitert.16 Der Anschluss des italienischen Dreiecksnetzes an das französische erfolgte an den letzten von den Franzosen gemessenen Punkten Mt. Colombier und Mt. Granier, wobei sowohl die Winkelmessung der 16 Netzpunkte als auch die Streckenberechnung der Dreiecksseiten dort ihren
16 Heinrich BERGHAUS, [Auszug aus] Opérations géodésiques et astronomiques pour la mesure d‘un arc du Parallèle moyen, exécutées en Piémont et en Savoie […], in: Annalen der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1/3 (1829), 273–308, hier 273–277.
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Anfang nahmen (vgl. Abb.1). Es wurde also statt einer eigenen Basismessung der von den Franzosen errechnete Wert für die Distanz zwischen Mt. Colombier und Mt. Granier als Basis des Netzes im Piemont angenommen, weshalb die 16 neu bestimmten Netzpunkte „als eine genau anschließende Fortsetzung des Netzes betrachtet werden“ müssen, das 1744 unter Cassini angelegt worden war.17 Beccarias Punkt war nunmehr – und das ist der entscheidende Schritt im Aufbau des militärisch-strategischen Dispositivs – kein singuläres Phänomen, sondern ein Element innerhalb einer relationalen Textur. Auf seinen Wegen durch Turin stößt der Erzähler in de Maistres zweiter Reise schließlich auf sein früheres Zimmer: „Selbst mein erstes Zimmer hatte die unseligste Revolution miterlebt; was sage ich! Es existiert nicht mehr. Sein Bereich gehörte zu einer schauderhaften, feuergeschwärzten Ruine, und alle mörderischen Erfindungen des Kriegs hatten zusammen bewirkt, es von Grund aus zu zerstören.“ 18 Eine dieser „mörderischen Erfindungen des Kriegs“ und d. h. medientechnische Möglichkeitsbedingung dafür, dass der Erzähler sich nun statt seinem früheren Heim einer Kriegslandschaft gegenüber sieht, ist die Karte. Der Raum ist ein für allemal kartiert und dabei an ein Triangulationsnetz angeschlossen worden, das „alles vom Konjunktiv auf den Deklarativ umstellt und Möglichkeiten zu Einfachheiten, die Staatszwecken dienen, schrumpfen macht.“ 19 Der Ort dieser ersten Zimmerreise ist daher desgleichen für jede Imaginier- und Bewohnbarkeit unwiderruflich verloren. Deshalb richtet der Erzähler der zweiten Reise seinen Blick nicht mehr auf die Erde und ihre vordem unbeschriebenen Lücken, sondern lässt die Tiefe des Nachthimmels zur Projektionsfläche seiner Imagination werden. Waren die Fenster des früheren Zimmers fest verschlossen und ließen keinen Blick nach außen dringen, so ist das Zimmer der zweiten Reise nur noch Fenster: Der Innenraum und seine Einrichtungsgegenstände bleiben weitgehend außer Betracht und sind dem Erzähler kaum mehr ihre Erwähnung wert: „Es wäre überflüssig, von den Dimensionen meines neuen Zimmers zu sprechen. Es gleicht dem vorigen so sehr, dass man es auf den ersten Blick verwechselte […]. Es empfängt das Tageslicht nur durch ein zweieinhalb Fuß breites und vier Fuß hohes Fenster, das sich etwa sechs bis sieben Fuß über dem Boden befindet und an das man mit Hilfe einer kleinen Leiter gelangt.“20 17 Vgl. Berghaus, Opérations, 276, 278. 18 Xavier DE MAISTRE, Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer, in: Die Reise um mein Zimmer. a. d. Französ. v. Eva Mayer, Berlin 2011, 99 f. 19 Friedrich KITTLER, Das Jahrhundert der Landvermesser, in: Die Zeit, 27. Juni 1997, 46. 20 De Maistre, Entdeckungsreise, 106.
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Der Zimmerreisende nimmt für die Dauer seiner Entdeckungsfahrt auf dem Fenstersims Platz und lässt den Blick in den Nachthimmel gleiten. Der Innenraum des Zimmers in seinem Rücken indes – allemal bereist, beschrieben und kartiert – hat sich als Imaginationsraum historisch erledigt: „[...] ich [sah] nur den Himmel und mein Zimmer, und die naheliegendsten Dinge der Außenwelt, auf welche sich meine Blicke richten konnten, waren der Mond oder der Morgenstern; was mich in eine unmittelbare Beziehung mit dem Himmel brachte und meine Gedanken in einer Art beflügelte, wie es, hätte ich meine Wohnung im Erdgeschoss gewählt, niemals möglich gewesen wäre.“21 Friedrich David Jaquet ließ seine Zimmerreise von 1812 und 1813 in Dorpat – dem heutigen Tartu – beginnen. Darin parodiert er bereits die Strategie von de Maistres Positionsbestimmung und demonstriert damit, wie dieses Verfahren, Literatur und Kartographie auf einander zu beziehen, bereits selber zum Topos der Literatur geworden ist. Das tut er, indem er den Leser dazu auffordert, die Karte zur Hand zu nehmen, um dann die geographische Lage seines Zimmers in Dorpat völlig falsch anzugeben. Im Jahr zuvor war eine Sternwarte in dieser Stadt eingerichtet und ihre geographische Lage von Johann Andreas Pfaff bestimmt worden. Die Positionsbestimmung bei Jaquet leitet den Leser indessen völlig fehl: „allein jetzt muß ich schon, da es Ihnen nicht gleich viel seyn kann, ob mein Zimmer unter dem Pole oder unter dem Aequator, oder sonst in einem andern Winkel der Erde liegt, Ihnen eine genaue Beschreibung seiner Lage im unendlichen Himmelsraume geben, und nun nehmen Sie, wie beym Lesen jeder Reisebeschreibung sich gebührt, die Charte zur Hand. Mein Zimmer liegt unter dem 50. Grade, der 18. Sekunde und der 3. Quinte der Breite, und unter dem 44. Grade, der 29. Terze und der 4. Quinte der Länge von Ferro an gerechnet.“22 Der Ort der Literatur hat sich bei Jaquet bereits verschoben: Er ist nicht mehr an den grauen Flecken in den Landkarten zu suchen, die vom kartographischen Schreibregime ausgespart worden waren, sondern besetzt nun den Raum, den das Spiel fehlgeleiteter Kartenlektüren aufspannt.
21 Ebd., 107. 22 Friedrich David JAQUET, Reise in meinem Zimmer in den Jahren 1812 und 1813. Mit einem Berichte ans Publikum von Professor Burdach, Riga 1813, 29 f.
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II. R EISEN /S CHREIBEN Neben diesen rein technologischen Implikationen, die den Zimmerreisetexten eine Position in Struktur und Geschichte faktischer Operationen der Geodäsie zuweisen, steht das Schreiben dieser Texte noch in einem weiteren, subtileren Verhältnis zur Schriftlichkeit der Kartographie. Seine Überlegungen zur Schreibszene entwickelt Rüdiger Campe an einem Gelegenheitsgedicht Johann Christian Günthers, das im Titel datiert ist und so – als Geschriebenes – auf Anlass und Vorgang des Schreibens zurückverweist. In diesem Fall einer Schreibszene implizieren Datieren und Schreiben sich wechselseitig: Das Datieren bedarf des Schreibens und das Schreiben des Datierens im Gelegenheitsgedicht. 23 Die Auflösung dieser Komplizierung, von der die Schreibszene jedoch lebt, verwiese das Gedicht dann entweder als Fall unter eine Gattung oder als Resultat auf einen vorausliegenden Schreibakt. Indem Campe die thematische Vergegenwärtigung des Schreibens in der Schreibszene unter das in ihr exponierte Datum als „unersetzbare[n], logisch relevante[n] Fall des Schreibens, der Schrift“ 24 stellt, denkt er das Schreiben so oder so als Ereignis und das heißt: von seiner Zeitbestimmung her. Wäre es dann nicht ebenso denkbar, das Schreiben, das sich selbst verhandelt, unter seinen räumlichen Bestimmungen zu suchen, so wie es die Metapher der ‚Schreibszene‘ bereits nahelegt? Wenn die Selbstthematisierung des Schreibens im Gelegenheitsgedicht sich durch Selbstdatierung als zeitlich-rekursive Struktur manifestiert, dann wäre – parallel dazu – unter der gestellten Frage nach einer Topologie des Schreibens zu suchen, die das Schreibthema im Text durch Selbstlokalisierung einleitet und exponiert. Zeitliche und räumliche Selbstbezugnahmen des Schreibens bedürfen aber ihrer Medienpraktiken, die solche Rekursionen prozessieren. Für den ersten Fall stehen diese – neben der Gelegenheits-dichtung – im späten 18. Jahrhundert vor allem im Zusammenhang mit Tagebuch, Brief und Roman.25 Ein geeignetes Raummedium zur Herstellung nicht bloß faktischer, sondern eben auch fiktiver Fremdreferenz ist die Karte. In der Tat scheint sich nämlich seit Beginn der Neuzeit eine Kartenlektürepraxis ausgebildet zu haben, die im heimischen Lehnstuhl unternommen, das imaginäre Reisen mit dem Finger auf der Karte kultiviert. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts leiteten Sebastian Münster und Abraham Ortelius die daheimgebliebenen Leser ihrer Atlanten in
23 Vgl. Campe, Schreibszene, 760–762. 24 Ebd., 761. 25 Vgl. ebd., 762.
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jeweils vorangestellten Vorworten zu solchen imaginären Reisen an, um Kartenblätter mit den Fingern und Kontinente kraft der Phantasie zu durchwandern.26 Die narrative Prägung dieser Atlas- und Kartenlektüre ist auch kaum erstaunlich angesichts der antiken, bis in die Neuzeit fortwirkenden Tradition der Geographie, die nicht auf Karten, sondern fast ausschließlich auf handschriftlichen und gedruckten Texten basierte. Mit dem Aufstieg der Verlagskartographie und der damit einhergehenden Verbreitung des Mediums dürfte diese Kartenlektürepraxis an Popularität noch hinzugewonnen haben, was jedenfalls für den im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts führenden Nürnberger Landkartenverlag Johann Baptist Homann zu belegen wäre.27 Bereits fünf Jahre nach dem Niedergang des Kartenverlags erkannte Wilhelm Heinrich Riehl die kulturgeschichtliche Bedeutung, die der Homännische Atlas für das gesamte 18. Jahrhundert besessen hatte und schilderte die Vorliebe der gebildeten Stände für solche imaginativen „chartographische[n] Experimente“.28 In derartigen, imaginäre Reisen evozierenden Lektürepraktiken, können dem Kartenmedium wiederum textgenerative Funktionen zuwachsen.29 Worum es in den Zimmerreisetexten aber geht, ist offensichtlich etwas anderes: Nicht die Evokation einer ‚neuen‘ oder jedenfalls fernen Welt, die das Andere wäre zum „weichen Polstersessel moderner Civilisation“,30 steht dem Zimmerreisenden vor Augen, sondern die scheinbar vertraute Umgebung des Alltags; das eigene Zimmer wird zum Schauplatz dieser Reisen und zum Gegenstand ihrer Beschreibung. 31 Thema ist auch der Schreibprozess selbst mit seinen inneren
26 Vgl. das Kapitel „Reisen im Lehnstuhl“ in: Nils BÜTTNER, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000, 166–172, hier insbes. 168–170. 27 Vgl. Markus HEINZ, Zeitungsleser, Reisende und Potentaten: die Benutzung der Karten, in: Michael Diefenbacher/Markus Heinz/Ruth Bach-Damaskinos (Hg.), „auserlesene und allerneueste Landkarten“. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702–1848, Nürnberg 2002, 112–119, hier 118. 28 Vgl. Wilhelm Heinrich RIEHL, Der Homannische Atlas (1853), in: Ders., Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1862, 3–21, hier 8. 29 Diese textgenerativen Funktionen der Kartenlektüre hat Jörg Dünne für die spanische und portugiesische Literatur der Frühen Neuzeit untersucht, vgl.: Jörg DÜNNE, Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München 2011. 30 Riehl, Atlas, 5. 31 Vgl. Stiegler, Stillstand, 11 f.
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Widerständen, 32 dem mehr oder weniger gefügigen Schreibwerkzeug 33 sowie den Störungen, die das Schreiben von außen behindern können.34 Dabei nähern sich die Vorgänge im Zimmer, also Reisen und Schreiben, im Witz der Satire bis zur Auflösung ihrer Unverwechselbarkeit einander an: „Die Feder, welche mir behülflich gewesen ist, diese Reisebeschreibung aufzusetzen, hat mich gerade in meinem Zimmer herum kommen laßen“ resümiert ein Zimmerreisender das bestandene Abenteuer.35 Den Schreibakt zum Sprechgegenstand von Literatur zu machen, ist nach der oben bereits erwähnten These Friedrich Kittlers im Aufschreibesystem von 1800 nicht vorgesehen. Eben dies ist, worauf das eingangs zitierte Kritikerwort verwies. Gegen die Grenze des Diskurses anzurennen, führt sprachlich zu Redundanz und logisch zu Tautologien: Das Gestammel des Kritikers von den „nicht zu berechnende[n] Folgen“, die eine „allgemeine Befolgung“ der Regel nach sich zögen, den Schreibern mit den Produktionsmitteln auch die Souveränität über die handwerklich-generativen Akte im Schreiben zu überlassen,36 ist Symptom dieser Grenze. Die Äquivalenz von Reisen und Schreiben, die die Möglichkeit ist, zimmerreisend das Schreiben dennoch zu schreiben, verweist auf einen Formalisierungsschub in der Geschichte kartographischer Notationen, der in den Entstehungszeitraum der Zimmerreisetexte fällt. Von dem Jahr 1793 an entwickelte der sächsische Militärkartograph Johann Georg Lehmann ein System von Geländesignaturen, das in der Folge mehrfach publiziert, die Terraindarstellung auf den Karten des 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollte.37 Das System sah vor, sämtliche Geländemerkmale durch Linien in „Elementarzeichen“ zerlegt, nach einer normierten Skala so zusammenzusetzen, dass die Gefälle im Gelände mittelbar in Winkelmaßen abgelesen werden können. 38 32 Vgl. De Maistre, Reise, 26; JAQUET, Reise, 15; ANONYM, Neue Reise in meinem Zimmer herum. a. d. Französ. v. Friedrich David Zinck, Basel 1798, 15–17. 33 Vgl. Alois Wilhelm SCHREIBER, Reise meines Vetters auf seinem Zimmer. Bremen 1797, 179; Anonym, Reise, 52. 34 Vgl. Schreiber, Reise, 326f.; De Maistre, Reise, 51f.; Jaquet, Reise, 72f.; Anonym, Reise, 45–47. 35 Vgl. Anonym, Reise, 168. 36 Vgl. Anonym, [Rezension über] Reise, 83. [Hervorh. N.K.] 37 Vgl. Ingrid KRETSCHMER/Wolfgang SCHARFE, Böschungsschraffen, in: Ingrid Kretschmer/Johannes Dörflinger/Franz Wawrik (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Bd. 1, Wien 1986, 102–105. 38 Vgl. Johann Georg LEHMANN, Anweisung zum richtigen Erkennen und genauen Abbilden der Erd-Oberfläche, in topographischen Karten und Situations-Planen, Dresden 1812, 24–27.
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Damit waren Reisen an Land zum ersten Mal vollständig auf einen graphischen Kalkül gebracht, der die insbesondere bei militärischen Operationen auftretenden logistischen Probleme von Nachschub und Truppenbewegungen geometrischkonstruktiv auf dem Papier lösbar machte. Das bringt es allerdings mit sich, dass Kartenzeichen nicht länger nur als Repräsentationen ihrer Gegenstände, sondern als Operatoren verwendet werden, die dann rekursiv anwendbar sind und das heißt: Operationen über Operationen prozessieren. Diese Möglichkeit, Karten als ‚nicht-triviale Maschinen‘39 zu gebrauchen, war für Reisen zur See bereits mit Gerhard Mercators Zylinderprojektion 1569, 40 für Reisen auf dem Festland allerdings erst mit Lehmanns Böschungsschraffe gegeben. Auf der Basis von Lehmanns kartographischen Operatoren kann nun das Zimmer als Gegenstand des Schreibens in einer räumlich-rekursiven Schleife mit dem Zimmer als dem Ort des Schreibens zusammentreffen und so das Reisen/Schreiben im Text thematisch werden. Der Innenraum des Zimmers wird einleitend in einer Weise präsentiert, die dem Leser einen panoptischen Überblick vermittelt. Wo die Reise durch kartographische Schreiboperationen sich erst herzustellen hat, wird sowohl die karge Innenausstattung als auch der Umstand obligatorisch, dass das Zimmer als Ort des Schreibens orientiert ist: „Kein Reisender, der ein neues Land bereiset, unterläßt es jemals, seinen Lesern eine neue Karte davon mitzutheilen; und ich will mich dieser so nützlichen und natürlichen Gewohnheit nicht entziehen, sondern meinen Lesern sagen, daß mein Zimmer weder klein noch groß ist, und zwey Fenster, eins gegen Osten, das andere gegen Westen hat, so, daß ich beynahe mit Sr. katholischen Majestät sagen kann: die Sonne geht in einem Theile meiner Staaten auf, wenn sie in dem andern untergeht. Mein Hausgeräthe besteht in einem Tische, einem Schränkchen, einer Komode, und vier Stühlen […].“41 Die „Karte“, die der Erzähler einleitend selbst entwirft, ist freilich nur das Fragment einer solchen. Vielmehr ist das Ergebnis seiner Beschreibung eher als kartographische Inskriptionsfläche zu bezeichnen. Die Möblierung des Zimmers und damit die Dinge, die in der Kartenfläche auftauchen, werden in Form einer Liste einzeln benannt, ohne schon – und das ist die zentrale Funktion kartographischer Zeichen – mit räumlichen Indizes verknüpft zu sein. Was die 39 Zum Begriff der ‚nicht-trivialen Maschine‘ in der Kybernetik vgl. Heinz von FOERSTER, Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen?, in: Heinz Gumin/Heinrich Meier (Hg.), Einführung in den Konstruktivismus, München/Zürich 2002, 41–88, hier 62–67. 40 Vgl. John P. SNYDER, Flattening the Earth. Two Thousand Years of Map Projections, Chicago/London 1997, 43–49. 41 Anonym, Reise, 24.
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besagte Schreibfläche zu einer kartographischen Schreibfläche macht, ist ihre Orientierung: So wie Karten an ihrem Rand die Himmelsrichtungen verzeichnen, werden in der Beschreibung des Zimmers an dessen Rändern die Weltgegenden vermerkt. Jede Linie, die als die Spur einer Bewegung nun in diese Schreibfläche eingezeichnet würde, wäre eine gerichtete Linie. Als Linien und Bahnungen erscheinen die Wege des Zimmerreisenden daher erst im Vollzug der Bewegung selbst. De Maistres Reisender ist eben so wenig „Herr [seiner] Schritte“ 42 wie die Erzählerfigur bei Friedrich David Jaquet: „Wohin soll ich jetzt meinen Weg richten? Mehrere Gegenstände laden mich zugleich ein, und meine Landstraße ist so gebahnt, wie eine Steppe.“43 Als Funktion des Schreibens ergeben sich die im Zimmer versammelten Dinge aus der Bewegung und Kommentierung des Reisenden. Sie bleiben so lange ungeordnet und unspezifisch, bis sie der Reisende erreicht hat. Dabei liest sich die kompositorische Gliederung der Zimmerreise wie ein Inventarverzeichnis und unterteilt die Kapitel schlicht in „Die Bibliothek“, „Der Hut“, „Der Ofen und der Kamin“, „Der Tisch“ und „Das Naturalien-Kabinet“.44 Diese Liste von Namen, welche sich fortsetzen ließe, erfüllt dieselbe Funktion, wie die Legende am Kartenrand: Sie vermittelt den Zeichen, die auf einen Ort verweisen, eine Bedeutung. Im Diskurs der Zimmerreise geschieht beides, die indexikalische Referenzialisierung und die Semantisierung der Namen, getrennt. Erst durch die Bewegung des Zimmerreisenden im Raum werden die Dinge verknüpft und in einer gerichteten Linie auf einander bezogen: So bewegt sich etwa de Maistres Reisender vom Lehnstuhl zum Bett „weiter nordwärts“45 und bei Jaquet richtet der Zimmerreisende seine Schritte „nach Nord-Ost“46, um vom Ofen zum Pult zu gelangen. Ihre Bedeutung erhalten die Dinge, die zu Reisestationen der Bewegung geworden sind, dadurch, dass sie metonymisch auf Ereignisse verweisen, die meist mit der Lebensgeschichte des Protagonisten verknüpft sind. So wird der Hut eines Reisenden zum Zeichen für dessen Träger und gibt Anlass, über die wechselvolle Vergangenheit seines Eigentümers zu berichten,47 ein Rollsessel eröffnet die vom Erzähler ausgiebig genutzte Möglichkeit, die Kulturgeschichte der ersten Segelwagen zu referieren 48 oder es wird das 42 De Maistre, Reise, 12. 43 Jaquet, Reise, 101. 44 Vgl. Anonym, Reise, 169f. 45 De Maistre, Reise, 13. 46 Jaquet, Reise, 34. 47 Anonym, Reise, 91–97. 48 Jaquet, Reise, 17–26.
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Schreibwerkzeug – die Feder – zum Anlass einer Lobrede auf ihre frühere Besitzerin – die Gans.49 Auf diese Weise werden die Dinge in einem gerichteten Raum als Funktion von Schreiboperationen erzeugt – nichts anderes heißt Reisen/Schreiben. Und wo kein Sinn oder ȜȩȖȠȢ über Schreiboperationen mehr wacht und ihre Abbruchbedingungen definiert,50 entsteht Prosa ohne Ende bis zum Unsinn, ohne ‚Werk‘ zu werden. Demgemäß stellt einer der besprochenen Autoren die Schrift mit ihren Operatoren, die – selten zu Wort kommend – bis zum Extremfall ideographischer und kartographischer Schriften aber immer schon Mitspielerin der Literatur ist, in satirisch vollendeter Replik auf Kritikerimperative an das Ende seiner Zimmerreise und damit an den Anfang dessen, was auch das Wort des Kritikers geführt haben wird: „Ich möchte gern noch anführen, daß – O mein Herr!!!! O gnädige Frau – ! – !! – !!! – !!!! O gnädiges Fräulein;;;; Was befehlen Sie, Herr Kritiker???? u.s.w.u.s.w.u.s.w.u.s.w.u.s.w.?!?!?!?! – – – – O Herr Verleger, was sind Ihre Gedankenstriche nicht für eine herrliche Erfindung ! ! ! ! ! – – – – – – Ende.“51
L ITERATUR ANONYM, [Rezension über] Meine Reise am Pulte beym Scheine einer argandischen Lampe, in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 49. Bd., 1. Stück, (1800), 81–83. ANONYM, Mémoire de M. le Baron de Zach, membre de l’Académie impériale de sciences, littérature et beaux arts de Turin etc. etc. sur le degré du méridien mésuré en Piémont, par le P. Beccaria. An. 1811. In: Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde 27. Bd. (März 1813), 272–281. ANONYM, Neue Reise in meinem Zimmer herum. a. d. Französ. v. Friedrich David Zinck, Basel 1798. Giovanni Battista BECCARIA, Gradus Taurinensis. Augustae Taurinorum 1774. Heinrich BERGHAUS, [Auszug aus] Opérations géodésiques et astronomiques pour la mesure d‘un arc du Parallèle moyen, exécutées en Piémont et en
49 Schreiber, Reise, 180. 50 Zu diesem Problem des Nicht-enden-Könnens und vielmehr Abbrechen-Müssens vgl. Anonym, Reise, 166–168. 51 Ebd., 168.
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Savoie […], in: Annalen der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1/3 (1829), 273–308. Heinrich BOSSE, Der Autor als abwesender Redner, in: Paul GOETSCH (Hg.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, 277–290. Heinrich BOSSE, „Die Schüler müßen selbst schreiben lernen“ oder die Einrichtung der Schiefertafel, in: Sandro ZANETTI (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012. Nils BÜTTNER, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000. Rüdiger CAMPE, Die Schreibszene. Schreiben, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, 759–772. Jörg DÜNNE, Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München 2011. Karl Georg ENSLEN, Führer auf Enslen’s malerischer Reise im Zimmer. Leipzig 1829. Heinz von FOERSTER, Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen? in: Heinz Gumin/Heinrich Meier (Hg.), Einführung in den Konstruktivismus, München/Zürich 2002, 41–88. Wilhelm HARNISCH, Interessante Zimmerreise zu Wasser und zu Lande für wißbegierige Leser gebildeter Stände. Hearne’s, Mackenzie’s, Lewis’ und Pike’s Entdeckungsreisen im Innern Nord-Amerika’s. Nebst einer Beschreibung der Nordwestküste und Neu-Spaniens, Wien 1826. Markus HEINZ, Zeitungsleser, Reisende und Potentaten: die Benutzung der Karten, in: Michael Diefenbacher/Markus Heinz/Ruth Bach-Damaskinos (Hg.), „auserlesene und allerneueste Landkarten“. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702–1848, Nürnberg 2002, 112–119. Friedrich David JAQUET, Reise in meinem Zimmer in den Jahren 1812 und 1813. Mit einem Berichte ans Publikum von Professor Burdach, Riga 1813. Friedrich KITTLER, Aufschreibesysteme 1800/1900. München 2003. Friedrich KITTLER, Das Jahrhundert der Landvermesser, in: Die Zeit, 27. Juni 1997. Ingrid KRETSCHMER/Wolfgang SCHARFE, Böschungsschraffen, in: Ingrid Kretschmer/Johannes Dörflinger/Franz Wawrik (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Bd. 1, Wien 1986.
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Johann Georg LEHMANN, Anweisung zum richtigen Erkennen und genauen Abbilden der Erd-Oberfläche, in topographischen Karten und SituationsPlanen, Dresden 1812. Jürgen LINK, Der Vorhang. Das Symptom einer generativ-poetischen Aporie in der goethezeitlichen Schreiburszene, in: Martin Stingelin (Hg.), „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, 120–139. Thomas MACHO, Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: Jan & Aleida Assmann (Hg.), Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München 2000, 27–44. Xavier DE MAISTRE, Die Reise um mein Zimmer. a. d. Französ. v. Eva Mayer, Berlin 2011. Xavier DE MAISTRE, Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer, in: Die Reise um mein Zimmer. a. d. Französ. v. Eva Mayer, Berlin 2011. Gustav Friedrich Constantin PARTHEY, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1842. QUINTILIAN, Institutio oratoria X./Lehrbuch der Redekunst 10. Buch, lateinisch/deutsch, übers., kommentiert und m. Einl. hg. v. Franz Loretto, Stuttgart 2006. Wilhelm Heinrich RIEHL, Der Homannische Atlas (1853), in: Ders., Culturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1862, 3–21. Ute SCHNEIDER, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, Wiesbaden 1995. Alois Wilhelm SCHREIBER, Reise meines Vetters auf seinem Zimmer, Bremen 1797. Peter SLOTERDIJK, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2012. John P. SNYDER, Flattening the Earth. Two Thousand Years of Map Projections, Chicago/London 1997. Bernd STIEGLER, Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt am Main 2010. Martin STINGELIN, Einleitung, in: Ders. (Hg.), „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, 7–21.
Die Ordnung der Dinge in der Kiste der Kaiserin Überlegungen zum Nachlass Elisabeths von Österreich (1837–1898) E VELYN K NAPPITSCH (G RAZ )
„Liebe Zukunftsseele! Dir übergebe ich diese Schriften. Der Meister hat sie mir diktiert, und auch er hat ihren Zweck bestimmt, nämlich vom Jahre 1890 in 60 Jahren sollen sie veröffentlicht werden zum besten politisch Verurteilter und deren hilfsbedürftigen Angehörigen. Denn in 60 Jahren so wenig wie heute werden Glück und Friede, das heißt Freiheit auf unserem kleinen Sterne heimisch sein. Vielleicht auf einem Anderen? Heute vermag ich dir dies nicht zu sagen, vielleicht wenn du diese Zeilen liest – Mit herzlichem Gruß, denn ich fühle du bist mir gut, Titania Geschrieben im Hochsommer des Jahres 1890 und zwar im eilig dahinsausenden Extrazug1“
1
Elisabeth verfasste diesen Brief eigenhändig im Sommer 1890 und legte ihn ihrer „Gedächtniskiste“ bei. Sie adressierte ihn an die „Zukunftsseele“, in deren Hände ihr als Flaschenpost konzipiertes Nachlasskonvolut einmal fallen würde. BAR, E 3800 Nachlass Kaiserin Elisabeth von Österreich 1951–54. Vgl. dazu auch: Brigitte HAMANN (Hg.), Kaiserin Elisabeth. Das poetische Tagebuch, Wien 2003, 18.
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Zu Beginn der 1950er-Jahre erreichte die Schweizer Bundesregierung eine Schenkung des Hauses Wittelsbach. Eine eiserne Kassette, handschriftlich adressiert an den Bundespräsidenten der Schweiz, welche sich nach ihrer gewaltsamen Öffnung als „Gedächtniskiste“ 2 Kaiserin Elisabeths von Österreich herausstellte.3 Im beiliegenden Schreiben gab sich die Monarchin nur indirekt zu erkennen, sie signierte ihren Brief an die „Zukunftsseele,“ in deren Hände die Kassette einmal fallen würde, mit „Titania“ – dem Namen der Elfenkönigin aus Shakespeares „Sommernachtstraum.“ In Elisabeths Biographie steht „Titania“ synonym für den Kosmos, den die „Gedächtniskiste“ repräsentiert. Die Kaiserin eignete sich die Identität der Elfenkönigin an, um aus dem Hofleben ein Stück weit hinauszutreten in eine persönliche, „heterotope“ Welt.4 Michel Foucault definierte Heterotopien als „tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze [...] gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, [...] Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“5 Die eiserne Kassette, zu deren Öffnung sich die Schweizer Bundesregierung am 3. Juli 1951 eingefunden hatte,6 barg die materiellen Überreste einer solchen, von der Monarchin gelebten, mit phantastischen Elementen ausgestatteten „Heterotopie“, deren Bestandteil die Schatulle bereits qua ihrer Existenz war. In ihrem Inneren fanden sich u. a. eine umfangreiche Gedichtsammlung aus der Feder Elisabeths wie Dokumente jener Menschen, die diese „Parallelwelt“ über einen
2
Vgl. zum Konzept der „Gedächtniskiste“: Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume.
3
Protokoll zur Kassettenöffnung vom 3. Juli 1951. BAR, E 3800 1979/171, 01–02,
4
Ausgangspunkt meiner Überlegungen hierzu war das „Heterotopie“-Konzept von
Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 114 ff. Nachlass Kaiserin Elisabeth von Österreich, 1951–1954, Bd. 1. Foucault. Vgl. dazu: Michel FOUCAULT, Die Heterotopien. Der utopische Körper – Zwei Radiovorträge, Berlin 2013. 5
Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.) Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, 320f.
6
BAR, E 3800 Nachlass Kaiserin Elisabeth von Österreich 1951–54.
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gewissen Zeitraum hinweg mit der Kaiserin „bevölkerten“ und somit ein Stück weit „realisierten.“7 Der Behälter – die eiserne Kassette – fungierte dabei als Barriere und Schlüssel zugleich. Elisabeth, die sich selbst zeitlebens als am Wiener Hof isoliert wahrnahm,8 wählte wohl ganz bewusst ein Trägermedium, das geeignet war in einer als feindselig empfundenen Umgebung unentdeckt zu bestehen. Sie deponierte die versperrte Kassette, geschützt durch eine schwarze Ledertasche, im Turnzimmer der Wiener Hofburg9 und verbarg den Inhalt durch ein System, bestehend aus mehreren Verpackungsschichten, sicher vor dem Zugriff ihrer Zeitgenossen. Das Speichermedium, das sich durch seine Beweglichkeit auszeichnete, musste gleichzeitig, durch den nur sehr begrenzt zur Verfügung stehenden Platz im Inneren der Schatulle, hoch selektiv auf potentielle Inhalte wirken, wodurch das Kästchen schon von seiner Grundkonzeption sowohl als ein Instrument des Erinnerns wie des Vergessens angelegt war.10 Dienten alle Sicherheitsvorkehrungen dem rigiden Verschluss, war die „Gedächtniskiste“ der Kaiserin dennoch von Anbeginn an auch als ein Medium der breiten Öffnung konzipiert. Durch die geplante postume Publikation ihrer zentralen privaten Dokumente zu Gunsten politisch Verfolgter positionierte sich Elisabeth in gewollt provokativer Abgrenzung zum Habsburgischen Hof, welchen sie durch ihre Rolle als Gemahlin des Herrschers zeitlebens repräsentierte.11
7
BAR, E 3800 Nachlass Kaiserin Elisabeth von Österreich 1951–54. Die Schenkung aus dem Jahr 1951 an die Schweizer Bundesregierung enthält drei handschriftliche und 59 gedruckte Gedichtbände Elisabeths, des Weiteren einige Übersetzungen von Gedichten Lord Byrons von Elisabeths Hand sowie den an die Zukunftsseele adressierten Brief, zwei Briefe König Ludwigs von Bayern und 13 Briefe Alfred Gurniaks an die Monarchin. Vgl. dazu auch: Brigitte HAMANN (Hg.), Kaiserin Elisabeth, Das Poetische Tagebuch, 16 f.
8
Brigitte HAMANN, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, München 1998, 136.
9
HAMANN, Tagebuch, 19.
10 Vgl. dazu und zum Konzept von Gedächtniskisten: ASSMANN, Erinnerungsräume, 114 ff. 11 BAR, E 3800 Nachlass Kaiserin Elisabeth von Österreich 1951–54.
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Als Trennlinie zwischen absoluter Abschottung und breiter Öffnung diente der Kaiserin die Kategorie der Zeit. Ähnlich dem Verlauf des Märchens „Dornröschen“, wo erst die Zahl der verstrichenen Jahre ein undurchdringliches Dickicht in einen einladenden Rosengarten verwandelt, plante auch Elisabeth die, durch die Sechzig-Jahresfrist begrenzte, funktionale Entwicklung ihrer „Gedächtniskiste“ von einem nach außen hin schützenden Behälter zu einem Raum, der durch die so erreichte Abkapselung einen scheinbar von zwischenzeitlichen Veränderungen unberührten Mikrokosmos preisgeben sollte. Die Monarchin, die – vor allem in ihrem letzten Lebensjahrzehnt – ihrer sozialen Isolation am Hof durch ausgedehnte Reisen zu entkommen suchte, 12 schickte auch ihren Nachlass über ihren Tod hinaus erst über mehrere Etappen an sein eigentliches Ziel. Elisabeth verfügte, dass die Kassette nach ihrem Ableben ungeöffnet ihrem Bruder Karl Theodor zu übergeben sei, jedoch nur zur geschützten Zwischenlagerung, denn ihren eigentlichen Adressaten sollte die Kiste nach Willen der Kaiserin erst mehr als fünf Jahrzehnte später erreichen. Elisabeth bestimmte den Bundespräsidenten der Schweiz im Jahr 1950 zum Empfänger ihrer „Zeitkapsel“. Möglicherweise erschien ihr der neutrale Staat als Garant für die tatsächliche Umsetzung ihrer Pläne. Ihre Familie kam dem Wunsch der Kaiserin beinahe fristgerecht nach und übersandte die Kiste zu Beginn der 1950er-Jahre nach Bern.13
E MPFÄNGERINNEN Durch die Auswahl ihrer „Memorabilia“ kokettierte Elisabeth mit dem Moment des Unerwarteten, doch der postume Skandal blieb ihr verwehrt. Die Schweizer Bundesregierung sah von einer Publikation zu Gunsten politisch Verfolgter, wie es Elisabeth in ihrem beiliegenden Schreiben gewünscht hatte, ab und entschied für eine vorläufige Archivierung des Materials unter Verschluss, um „dem Andenken“ der „auf so tragische weise ums Leben gekommenen Kaiserin“ nicht zu schaden. 14 Der ambitionierte Versuch einer Evidenzerzeugung scheiterte. Die
12 Egon Caesar Conte CORTI, Elisabeth. Die seltsame Frau, Graz 1994, 396. 13 Vgl. dazu: HAMANN, Tagebuch, 16. 14 HAMANN, Tagebuch, 36.
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Kassette, als explosive Flaschenpost in die Zukunft konzipiert, endete vorläufig und fast unbemerkt als Strandgut der Geschichte. Brigitte Hamann war die erste Historikerin, die die Quelle mit der Ordnungszahl E 3800, im Zuge der Recherchen für ihre Dissertation Ende der 1970erJahre im Schweizerischen Bundesarchiv gesichtet hatte.15 Der Bestand mit turbulenter Vergangenheit war nach Jahrzehnten der Archivsperre in Vergessenheit geraten.16 Hamann begriff die aufgefundenen Gedichte Elisabeths als „poetisches“, in Versen verfasstes Tagebuch, das Einblicke in das Leben am Wiener Hof und die Selbstwahrnehmung der Monarchin gestatte. Sie entschloss sich zu einer Herausgabe der Gedichtbände aus dem Nachlass-Korpus im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften,17 sparte jedoch alle übrigen Dokumente, welche Elisabeth der Kassette hinzugefügt hatte, von der Quellenedition aus. Schriftstücke von „fremder Hand“ waren für Hamann nicht von Relevanz, was zur Folge hatte, dass die Quelle bis heute nie in ihrer Gesamtheit untersucht wurde. Die „Ordnung der Dinge“ in der Kiste der Kaiserin behagte der Historikerin nicht, wie sie unmissverständlich emotional zum Ausdruck brachte.18
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Jede Rezeption der „Gedächtniskiste“ der Kaiserin bedingt zugleich implizit oder explizit eine Kommunikation über „Räume und Dinge“, repräsentiert doch der von Elisabeth gewählte Behälter als Trägermedium sowohl Dingliches als auch Räumliches.
15 HAMANN, Tagebuch, 37. 16 Der Bestand umfasst heute darüber hinaus den Inhalt einer weiteren Schenkung aus dem Nachlass Kaiserin Elisabeths. Sie beinhaltete eine wesentlich kleinere Sammlung an gedruckten Gedichtbänden der Monarchin, welche mit jenen im Jahr 1951 aufgefundenen identisch waren und auf den Inhalt einer in einem „Geheimfach des Schreibtisches der Kaiserin“ entdeckten „Schachtel“ zurückgingen. Brigitte Hamann schloss aus der Existenz dieses zweiten Gedichtbestandes, dass die Monarchin wahrscheinlich noch mehrere „Kisten“ auf den Weg nach Bern geschickt habe, um sicher zu gehen, dass zumindest eine ihr Ziel erreiche. Vergleiche dazu: HAMANN, Tagebuch, 20 ff. 17 HAMANN, Tagebuch, 37 f. 18 HAMANN, Tagebuch, 17 u. 44 f.
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Abb.: Elisabeth im fortgeschrittenen Alter ins Gespräch vertieft mit der französischen Ex-Kaiserin Eugenie
Bildarchiv der ÖNB
Darüber hinaus wurde die Kassette von der Monarchin ganz bewusst bereits im Prozess ihrer Entstehung als Instrument zur Kommunikation über biographisch bedingte Zeitgrenzen hinweg angelegt. Der Behälter war in der Vorstellung Elisabeths nur „Durchgangsort“, sein Inhalt von einer als rastlos beschriebenen Frau überwiegend an „Durchgangsorten“, in Hotels wie in „eilig dahinsausenden Extrazügen“, verfasst worden.19 Es sind Texte, die von imaginären wie realen Zwischenräumen und ungewöhnlichen Perspektiven erzählen und deren Existenz sich die Kaiserin, ebenso wie ihre eigene, vorerst nur im Verborgenen denken konnte. Gleichzeitig handelte es sich dabei um einen „heterotopen“ Kosmos, den Elisabeth umso vehementer ins kollektive Gedächtnis späterer Generationen einzuschreiben trachtete.
19 Vgl. dazu die Angaben zu den unterschiedlichen Entstehungsorten der Gedichte in HAMANN, Tagebuch.
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L ITERATUR Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Egon Caesar Conte CORTI, Elisabeth. Die seltsame Frau, Graz 1994. Jörg DÜNNE/Stephan GÜNZEL (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006. Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.) Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, 317–329. Michel FOUCAULT, Die Heterotopien. Der utopische Körper – Zwei Radiovorträge, Berlin 2013. Brigitte HAMANN, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, München 1998. Brigitte HAMANN (Hg.), Kaiserin Elisabeth. Das poetische Tagebuch, Wien 2003.
Q UELLEN BAR, E 3800 Nachlass Kaiserin Elisabeth von Österreich 1951–54.
Das Bild in der visuellen Kommunikation Beginn einer Designdisziplin E VA K LEIN Grundlage für eine wirkungsvolle Propaganda ist das Bild. HERBERT WIESLER, 1931
Die Bildwissenschaft bzw. Visual Culture Studies als interdisziplinäres, kulturwissenschaftliches Forschungsfeld, welches in den vergangenen Jahrzehnten eine rapide Entwicklung erlebt und mit dieser eine eindrucksvolle Zahl an Veröffentlichungen hervorbringt, gibt nicht zuletzt Aufschluss über die Präsenz und Relevanz des visuellen Mediums Bild. Bilder in ihrer medialen Funktion als vermittelnde Elemente haben längst einen selbstverständlichen und nahezu allgegenwärtigen Platz im Alltagsleben eingenommen und werden bewusst oder unbewusst wahrgenommen. Im Folgenden widmet sich dieser Beitrag auf Grundlage theoretischer Reflexionen sowie diskursiver Verarbeitungen dem historisch bedingten Erscheinungsfeld des Bildes im Kontext der visuellen Kommunikation, wobei die Ursprünge und Anfänge der Bilder aufgespürt werden und folglich der Beginn einer stetig voranschreitenden Entwicklung, die bis heute zu einer umfangreichen Disziplin herangereift ist, Bearbeitung findet. Der Schwerpunkt liegt hierbei bei der Erläuterung kommunikationstechnischer Strategien zweckgebundener Dinge, welche sich nicht nur stets in einem definierten räumlichen sowie medialen Kontext bewegen, sondern vielmehr ein Mindestmaß an Freiraum voraussetzen, indem innovative Neuerungen im soziokulturellen Umfeld entstehen können. Somit wird im Folgenden der Blick aus kunsthistorischer Sicht auf zweckgebundene Dinge – als Divergenz zur Bildenden Kunst – gerichtet und zugleich das Entstehen einer neuen Disziplin in deren Kontext aufgezeigt.
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Der Begriff der visuellen Kommunikation versteht sich im Folgenden als Bezeichnung für die Kombination der ausgewählten zusammengefügten Elemente textueller, figurativer, formaler sowie zeitbasierter Natur, welche Bedeutungen vermitteln, die über die bloße Summe der einzelnen mit dem Auge wahrgenommenen visuell kommunizierten Informationen hinausgehen. Die visuelle Kommunikation als Begrifflichkeit verdrängt historisch gesehen, in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, jene des Kommunikationsdesigns, welche wiederum den – vor allem in der Nachkriegszeit populären – Begriff des Grafikdesigns ablöst, dessen Ursprung sich in der Gebrauchsgrafik findet.1 Letzterer betont den praktisch-visuellen Zweck und schafft zugleich eine Abgrenzung zur Grafik der freien Künste. Der Gebrauch steht hier im Vordergrund, welcher zugleich innere motivierte und bedürfnisorientierte Aspekte sowie praktische Verwendungszwecke impliziert. Dieses Charakteristikum der Zweckgebundenheit ist schließlich auch ausschlaggebend dafür, dass in einer Zeit, in der die visuelle Kommunikation aufgrund wirtschaftlicher sowie soziokultureller Gegebenheiten rapide anwächst, neue, innovative Wege einschlagen werden, um diesem eigentümlichen Grundprinzip der Gebrauchsgrafik weiterhin gerecht werden zu können.
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Über Jahrhunderte zeigt sich der Text, als bewährtes Medium visuelle Informationen einer breiten Masse zu übermitteln, lediglich durch die ursprünglichste Werbeform, der menschlichen Stimme – in Form des Ausrufens –, in Zeiten des Analphabetismus, unterstützt. 2 Die Plakate und Flugzettel wurden im Hochdruckverfahren in Druckereien von Setzern und Druckern gefertigt – einem von Männern dominierten Berufsfeld – und folgten in der Regel einem einheitlichen Schema. So erscheint der Text briefartig und möglichst platzfüllend. Wichtige Textstellen werden fett und mit größeren Lettern hervorgehoben und gegebenenfalls mit Pointing-Fingers verstärkt. Zusätzlich werden Trennlinien und Zierleisten bzw. Rahmungen verwendet. Eine besondere Blüte erlebt diese Art von
1
Vgl. Ted BYFIELD, Visuelle Kommunikation, in: Michael Erlhoff/Tim Marshall (Hg.), Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design, Basel 2008, 441– 444.
2
Vgl. Eva KLEIN, Der Beginn der Reklame, in: Eva Klein/Claudia Friedrich, Große Schau der Reklame. Zwischen Umbruch und Kontinuität, Graz 2009, 13–22.
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Textplakaten, die meist einer Ankündigung dient, im Vormärz.3 Geworben wird für die zahlreichen Vergnügungsetablissements, Konzerte und Veranstaltungen. So wirbt ein Plakat aus dem Jahr 1831 für die Aufführung Semiramide im ständischen Schauspielhause Graz und repräsentiert einen typischen Theaterzettel. (Abb. 1) Abb. 1: Plakat „Semiramide“, 1831
Theatersammlung GrazMuseum
3
Vgl. Bernhard DENSCHER, Österreichische Plakatkunst 1898–1938, Wien 1992, 15–20.
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Der Titel der Aufführung erscheint in Größe und in Typografie deutlich hervorgehoben. Darüber befindet sich die Ortsangabe und darunter sind Informationen zur Besetzung des Stückes zu lesen. Werbewirksam finden besonders attraktiv erscheinende Persönlichkeiten in ihrer Funktion als AkteurInnen oder wohlwollende KritikerInnen Erwähnung: „Madame Pohl-Beysteiner, Mitglied der philharmonischen Gesellschaft zu Florenz, Verona u. s. w., wird die Ehre haben, in der obigen Parthie als Gast aufzutreten.“ Die einzelnen Textstellen werden von Trennleisten getrennt und in einer Umrahmung eingefasst. Der Hinweis, dass die Opernaufführung heute Dienstag den 13. September 1831 stattfindet, gibt Aufschluss darüber, dass das Plakat am selben Tag affichiert wurde und demzufolge eine überaus kurze Werbedauer von lediglich einem Tag besitzt. Der Zweck dieser Plakate beschränkt sich auf die Vermittlung von Informationen der jeweiligen Veranstaltung und ist aufgrund des bewährten Schemas, das in den Grundzügen über Jahrhunderte besteht, den RezipientInnen wohlbekannt und entsprechend umgänglich erfassbar. Aufgrund der kurzen Lebensdauer dieser Textplakate wird eine möglichst effiziente Herstellung im Buchdruckverfahren gewählt, sodass sich der Druck auf den gesetzten Text mit lediglich minimalen illustrierenden Elementen beschränkt. Aufwendige Bebilderungen sind aufgrund der Materialien und Herstellungsverfahren mit zu hohen Kosten verbunden und schlichtweg nicht rentabel. Zentrales Element der visuellen Kommunikation ist der Text.
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Dies stellt bis weit in das 19. Jahrhundert ein gewinnbringendes Konzept der visuellen Kommunikation dar. Doch mit der florierenden Wirtschaftslage und dem damit einhergehenden immer größer werdenden Konkurrenzdruck steigt auch die Anzahl der zu bewerbenden Produkte und Dienstleistungen. Um nicht ein Plakat unter der nun immer größer werdenden Anzahl an vorherrschenden Werbungen zu sein und folglich in der Menge unterzugehen, reicht die traditionelle Textgestaltung nicht mehr aus. Das Plakat muss sich folglich auf neue Art und Weise von der Konkurrenz abheben und da aufgrund der vorherrschenden Drucktechnik der Lithografie nun auch Bilder zu erschwinglichen Preisen gedruckt werden können, stellt das Medium des Bildes eine willkommene Innovation in der Plakatwerbung im auslaufenden 19. Jahrhundert dar. Bilder agieren hier als Blickfänger, können vergleichsweise schnell wahrgenommen werden
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und erleichtern die Informationsaufnahme und -speicherung.4 Es gilt nun, sich mit einer auffallenden bildlichen Gestaltung von der Masse abzuheben und hervorzustechen. Als Lösung für dieses Problem zieht man die ExpertInnen der visuellen Gestaltung zu Rate – die KünstlerInnen der Zeit. So sind es KünstlerInnen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der visuellen Kommunikation mit ihrem Stil, die als notwendig erscheinende Individualität übertragen. Denn selbst wenn die KünstlerInnenplakate in Konkurrenz zu anderen, ebenfalls von KünstlerInnen gestalteten Plakaten platziert sind, verspricht man sich aufgrund der Eigentümlichkeit der individuellen künstlerischen Note eine Einzigartigkeit. 5 Ausgehend von Frankreich, mit Vorläufern in England, breitet sich das KünstlerInnenplakat über ganz Europa aus und erreicht den deutschsprachigen Raum Ende des 19. Jahrhunderts. Die visuelle Kommunikation weist somit einen starken Bezug zur Kunst ihrer Zeit auf, welche sie in ihrer Ästhetik maßgeblich prägt. So fließen Stile der Bildenden Künste in die Gestaltung der Gebrauchsgrafiken ein. Die Entwürfe sind entgegen der textdominanten Plakate der vergangenen Jahrhunderte zudem von den KünstlerInnen signiert, wodurch sich nicht nur die KünstlerInnen zu ihren Gestaltungen innerhalb der visuellen Kommunikation bekennen, sondern diese vielmehr eine Aufwertung erfährt – waren Signaturen schließlich bislang lediglich den Werken der Bildenden Künste vorbehalten. Das von Ladislaus Eugen Petrovits gestaltete und signierte Plakat für die Historische Ausstellung der Stadt Wien (Abb. 2) weist deutliche Einflüsse des Historismus auf und stellt ein Musterbeispiel des Diplomstils der Gebrauchsgrafik dar.
4
Vgl. Georg FELSER, Werbe- und Konsumpsychologie, Stuttgart 2001, 394.
5
Vgl. Sylvia MEFFERT, Werbung und Kunst. Über ihre phasenweise Konvergenz in Deutschland von 1895 bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2001, 21.
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Abb. 2: Plakat „Historische Ausstellung der Stadt Wien“ von Ladislaus Eugen Petrovits, 1883
Plakatsammlung, Wienbibliothek im Rathaus
Dieser zeichnet sich durch eine sehr detailreiche und üppige Gestaltung mit meist inhaltlichen Parallelen zur Werbebotschaft und schnörkelreicher Typografie aus, wie sie in Urkunden und symbolüberladenen Meisterbriefen der Zeit üblich waren.6 Die Plakate sind zwar farbig gestaltet, jedoch stumpfen die ein-
6
Vgl. Bernhard DENSCHER, Kunst & Kommerz. Zur Geschichte der Wirtschaftswerbung in Österreich, Wien 1985, 27–64.
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zelnen Farben durch das mehrmalige Übereinanderdrucken in ihrer Intensität ab, sodass meist ein fahl anmutender Braun- bzw. Grünton das Bild dominiert. Demgegenüber stehen modern gestaltete Plakate der SecessionistInnen, die entschieden mit dem Historismus brechen und sich für eine neue, authentische Kunst stark machen. Zu nennen ist hier Gustav Klimts Plakat für die erste Ausstellung der Wiener Secession 1898 (Abb. 3). Abb. 3: Plakat „1. Kunstausstellung der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs“ von Gustav Klimt, 1898
Tibor Rauch /MAK
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So prangt der Leitspruch an prominenter Stelle: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. 7 – ein Aufruf zu einer neuartigen Kunst, die sich ihrer Konventionen entledigt und neue, zeitgemäße Wege beschreitet. Gustav Klimt bedient sich in seiner Gestaltung mythologischer Figuren, so stellt er im oberen Bereich den Kampf zwischen Theseus und dem Minotaur dar, wobei der abgebildete Moment jener ist, in dem Theseus den Siegesstoß vollzieht und folglich siegreich aus dem Kampf hervorgeht. Diese Szene setzt Gustav Klimt in die oberste von drei geometrisch gegliederten Zonen, während der unterste Bereich die Schrift mit dem Hinweis auf die Ausstellung, den Ort und den Zeitraum liefert. Den größten der drei Teilbereiche, der die mittlere Zone darstellt, lässt Gustav Klimt – lediglich mit seiner Signatur links unten versehen – bewusst frei, was ein Novum in der Gestaltung visueller Kommunikation ist. Versuchte man bislang, jeden noch so kleinen Platz zu füllen, um ihn zu nutzen, gilt nun das Credo Weniger ist mehr. In diesem Sinne wird der Umraum als bewusstes Gestaltungselement verstanden und als solches gekonnt eingesetzt. Am rechten Bildrand ragt übergroß Athene in das Plakat, welche die Szene schützend überblickt. Sie steht auf dem Textblock und befindet sich mit ihrem Haupt vor der Kampfszene, der sie zugewandt entgegenblickt, während ihr Speer das linke Bein des im Kampf befindlichen Theseus augenscheinlich kreuzt. Gustav Klimt, der zur Zeit des Plakatentwurfs bereits eine hitzige Diskussion aufgrund seiner Fakultätsbilder losgetreten hat, polarisiert und so greift die staatliche Zensur noch vor der Veröffentlichung ein, um einen weiteren Aufruhr zu verhindern, sodass Gustav Klimts mythologischer Darstellung des nackten Theseus’ bedeckende Baumstämme vorgesetzt werden. Trotz der Zensur zeigt sich Kaiser Franz Josef I. prinzipiell zugetan und besucht persönlich die umworbene Ausstellung. Die beiden Künstlerplakate (Abb. 2, Abb. 3) veranschaulichen, dass Ende des 19. Jahrhunderts das Bild in seiner medialen Funktion als vermittelndes Element die visuelle Kommunikation im deutschsprachigen Raum regelrecht erobert und als neues Stärkefeld erkannt wird. 8 Als GestalterInnen werden KünstlerInnen herangezogen, die dementsprechend ihre Entwürfe ästhetisch prägen, wodurch sich stilistische Parallelen zwischen der Grafik sowie der bildenden Kunst und Gebrauchsgrafik der Zeit ergeben. Diese können, wie im Beispiel von Gustav Klimt, zudem eine ikonografische Ebene besitzen. Hierbei 7
Zitat Ludwig Hevesis auf dem Wiener Secessionsgebäude.
8
Vgl. Eva Klein, Galerie der Straße. Werbung als kunsthistorisch gewachsenes Medium im öffentlichen urbanen Raum, in: Die umworbene Stadt. Stadtgestalt und Werbung im Fokus von Denkmalpflege und Baukultur, hrsg. v. Internationalen Städteforum Graz, Graz 2013, 97–105.
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wird bei den BetrachterInnen ein Wissensstand vorausgesetzt, der sie befähigt, die Bildbotschaft zu entschlüsseln und zu lesen. Im Fall der mythologischen Darstellung des Theseus’ kann dieser sinnbildlich als Kämpfer der modernen Bestrebungen gedeutet werden, der sich gegen den mächtigen Minotaur, welcher die Rolle des Traditionellen und Historisierenden einnimmt, durchsetzt. Diese Botschaft ist jedoch nur jenem Publikum zugänglich, das über die notwendige Vorinformation verfügt.
D ER B EGINN
EINER
D ESIGNDISZIPLIN
Das Bild stellt in der Zwischenkriegszeit ein bereits etabliertes Medium der visuellen Kommunikation dar und erreicht eine noch nie dagewesene Intensität, wodurch auch seine Bedeutung als Spiegel der Gesellschaft hinsichtlich politischer, wirtschaftlicher und kultureller Geschehnisse nicht abzustreiten ist. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage, dem ausgedehnten Handelsverkehr, dem größeren Markt und der daraus resultierenden größeren Konkurrenz sowie den technischen Voraussetzungen nimmt die visuelle Kommunikation rapide zu. Der Wettbewerb steigt und es wird nicht mehr nur erzeugt, was begehrt ist, sondern es wird vielmehr alles daran gesetzt, dass begehrt wird, was produziert wird.9 Dieses Begehren zu wecken, ist Aufgabe der visuellen Kommunikation. Ab den 1920er-Jahren reicht das reine Vorhandensein von Bildern nicht mehr als Garant aus, um die Blicke an sich zu ziehen. Zu gewohnt erscheinen diese bereits in der bunten und abwechslungsreichen Welt der visuellen Kommunikation. Es bedarf fortan einer professionellen und gezielten Gestaltung der Bilder, da diese drohen in der Bilderflut unterzugehen. Waren es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich KünstlerInnen, welche die aufwendig bebilderten Gebrauchsgrafiken in den Stilen der Zeit fertigten, so bedarf es ab den 1920erJahren einer neudefinierten Fachfrau und eines Fachmannes, die sich dem nunmehr spezialisierten und herangereiften Feld der visuellen Kommunikation widmen. Die Rede ist von den ersten GebrauchsgrafikerInnen – den heutigen Grafik- und KommunikationsdesignerInnen. Die Herausbildung der visuellen Kommunikation zu einer eigenständigen Disziplin geht mit der Konstituierung der Interessensvertretung einher. In Deutschland
9
Vgl. Eva KLEIN, Das Plakat in der Moderne. Der Beginn des Grafikdesigns in der Steiermark im Kontext internationaler soziokultureller Entwicklungen, phil. Diss., Graz 2011, 212–214.
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wird 1919 der Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker gegründet und in Österreich 1927 der Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker.10 Das Graphische Handbuch gibt Aufschluss über das fortwährende gestalterische Ideal: „In der Werbegraphik muß der ‚gute‘ Entwurf, was nicht gleichbedeutend mit schön ist, zuerst dem Zweck entsprechen, also Aufmerksamkeit erregen, die verlangten Empfindungen auslösen und möglichst lange in Erinnerung bleiben. Formaler und textlicher Inhalt werden ein untrennbares Ganzes zu bilden haben. [...] Der gute Werbeentwurf muß für das Publikum, auf das er einwirken soll, gestaltet, ansprechend und eigenartig sein.“11 Das Credo, dass die Bilder umso aufwendiger und kunstvoller gestaltet umso werbewirksamer erscheinen, ist demnach überholt. Stattdessen wird eine reduziertere, klarere Formensprache nach dem Vorbild des Bauhauses, der De StijlBewegung und des russischen Konstruktivismus sowie der Neuen Sachlichkeit aufgegriffen, welche ein schnelles Erfassen der Werbebotschaft bei der Rezipientin und dem Rezipienten ermöglicht. Die Botschaft des Bildes und des gesamten Werbesujets muss demnach in kürzester Zeit erfassbar sein. Die Herausforderung in der Gestaltung von Werbebildern liegt am Beginn der Designdisziplin folglich in der Reduktion und Vereinfachung der dargestellten Inhalte. So ist in Ernst Wendlings Plakat für das Kaufhaus Kastner & Öhler aus der Zwischenkriegszeit (Abb. 4), das für Waschstoffe wirbt, der Einfluss eines geometrischen Purismus spürbar, der auf die Formensprache der De-Stijl-Bewegung zurückzuführen ist.
10 Vgl. Walter RIEMER, Wesen und Bedeutung der Gebrauchsgraphik. Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker, Berlin 1930; Per Aspera, 75 Jahre Arbeit für einen künstlerischen Beruf 1919–1994, Hg. v. Bund Deutscher Grafik-Designer, Düsseldorf 1994; Graphisches Handbuch des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Hg. v. Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Wien 1950. 11 Vgl. Graphisches Handbuch des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Hg. v. Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Wien 1950, 28.
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Abb. 4: Plakat „Waschstoffe Kastner & Öhler Graz“ von Ernst Wendling, vor 1938
Privatbesitz
Die zentral platzierte Frauenfigur im engen Kleid, mit ausladender Schulterpartie und eleganten, schwarzen Handschuhen in Ernst Wendlings Entwurf erscheint in grundlegende Elemente zerlegt, die insgesamt zu einer flächigen Reduktion des Bildmotivs führen. Bewusst greift er auf geometrische Grundformen wie das Quadrat zurück, das wiederholt um die zentrale Figur platziert wird und diese gleichsam umrahmt. Zudem erweist sich die Diagonale als beliebtes Gestaltungselement des Gebrauchsgrafikers, das dieser gekonnt einsetzt und mit viel Feingefühl eine ausgewogene, harmonische Gesamtkomposition schafft. Farblich setzt Ernst Wendling ebenfalls auf das Element der Reduktion, indem er auf Schattierungen und Farbverläufe verzichtet und die Komplementärfarben Rot und Grün in ihrer vollen Wirkung mit lediglich schwarzen Akzenten auf weißem Hintergrund platziert. Wie diese Reduktion die Wahrnehmung der RezipientInnen beeinflusst und die Blickverläufe zu lenken imstande ist, kann mithilfe des Eye-Tracking-Verfahrens gemessen werden, indem Fixationen, Sakkaden sowie Regressionen bei der Be-
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trachtung des Plakates analysiert werden. 12 Demzufolge ermöglicht die klare, reduzierte Formensprache ein vergleichsweise rascheres Erfassen der zentralen Inhalte sowie der Werbebotschaft. Die Gebrauchsgrafikerin Elisabeth Benedikt greift in ihrem Plakatentwurf für die Wiener Messe aus dem Jahr 1938 (Abb. 5) ebenfalls eine reduzierte Formensprache auf, indem sie eine Brücke abbildet, an deren Ende sich die Wiener Skyline erhebt.
Abb. 5: Plakat „Wiener Messe 13.–19. März 1938“ von Elisabeth Benedikt, 1938
Plakatsammlung, ÖNB
12 Vgl. Eye-Tracking-Versuch mit Studierenden der Lehrveranstaltung „Das Künstlerplakat – Galerie der Straße“ im Sommersemester 2013 am Institut für Kunstgeschichte an der Karl-Franzens-Universität unter der Leitung von Dr. Eva Klein in Kooperation mit Univ.-Prof. Thomas Foscht und Mag. Florian Dorner vom Institut für Marketing an der Karl-Franzens-Universität.
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Das Bild vermittelt ein Großstadtgefühl, wie wir es heutzutage von zahlreichen Abbildungen aus New York oder ähnlichen Großstädten kennen. Der in seiner Intensität variierende Blau-Grauton der genannten Elemente unterstreicht dabei die Tiefenwirkung des Plakates. Dem kühlen Hintergrund wird ein roter Balken im unteren Bereich als warmer farbintensiver Kontrast gegenübergesetzt, welcher den Blick auf den darin enthaltenen Text lenkt, der die „Wiener Messe“ ankündigt, die von 13. bis 19. März 1938 stattfindet. Lediglich die Signatur der Gebrauchsgrafikerin im rechten oberen Bereich nimmt diese rote Farbe auf und bildet damit einen kleinen Gegenpol, der auf das Bildmotiv auf einer weiteren Ebene im Vordergrund aufgesetzt wird. Während Ernst Wendling im vorherigen Entwurf (Abb. 4) den Blick mit der roten Farbgebung gezielt auf die Figur lenkt, zieht Elisabeth Benedikt diesen auf die Textelemente, um bereits den ersten Blick auf die Werbebotschaft „Wiener Messe“ zu lenken. Ist diese erfasst, so darf sich der Blick in der dahinterliegenden Skyline und in deren Details verlieren. Dieses erscheint im Vergleich zu Ernst Wendlings Entwurf feiner, indem mehrere farbliche Abstufungen angewandt werden. Ein weiterer Entwurf der Gebrauchsgrafikerin Elisabeth Benedikt streicht das typisch Österreichische in der visuellen Kommunikation Mitte des 20. Jahrhunderts heraus. Das Fremdenverkehrsplakat aus dem Jahr 1937 für das Wachauer Frühlingsfest (Abb. 6) zeigt, „dass der Österreicher zu einem entgegenkommenden Ausgleich neigt.“13 Gemeint ist damit die Tradition des typisch Österreichischen, das vor allem in der visuellen Kommunikation des Fremdenverkehrs zum Vorschein kommt.
13 Gebrauchsgraphik. International Advertising Art, 3 (1938) Berlin, 22.
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Abb. 6: Plakat „Wachauer Frühlingsfest“ von Elisabeth Benedikt, 1937
Plakatsammlung, ÖNB
So ist das abgebildete Pärchen in traditionellem Gewand gekleidet und mit Blumen und einem Maibaum ausgestattet, denn „selbst die Vertreter der modernsten Richtung verstehen es immer geschickt und klug, vielleicht sonst allzu Nüchternes mit einer gewissen gefühlsbetonten Liebenswürdigkeit zu paaren.“14 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass mit dem Aufkommen der modernen Bestrebungen innerhalb der Bildenden Kunst neue innovative Räume entstehen innerhalb derer erstmals KünstlerInnen das Bild als Stärkefeld der visuellen
14 Ebd.
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Kommunikation nachhaltig instrumentalisieren und dieses kunstvoll inszenieren. Bis zur Zwischenkriegszeit reift jenes Betätigungsfeld zu einer eigenständigen Disziplin heran, sodass sich nunmehr spezialisierte ExpertInnen zu jener neuen Berufsgruppe der GebrauchsgrafikerInnen zusammenschließen – den heutigen GrafikdesignerInnen. Die Wirkung von Bildern und damit der kommunikationstechnische Nutzen zweckgebundener Dinge stehen im Zentrum der Bestrebungen, wodurch das Bild innerhalb der visuellen Kommunikation eine ästhetische Weiterentwicklung erfährt.
L ITERATUR Ted BYFIELD, Visuelle Kommunikation, in: Michael Erhoff/Tim Marshall (Hg.), Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design, Basel 2008, 441–444. Bernhard DENSCHER, Kunst & Kommerz. Zur Geschichte der Wirtschaftswerbung in Österreich, Wien 1985. Bernhard DENSCHER, Österreichische Plakatkunst 1898–1938, Wien 1992. Georg FELSER, Werbe- und Konsumpsychologie, Stuttgart 2001. Gebrauchsgraphik. International Advertising Art, 3 (1938) Berlin, 22. Graphisches Handbuch des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Hg. v. Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Wien 1950. Eva KLEIN, Das Plakat in der Moderne. Der Beginn des Grafikdesigns in der Steiermark im Kontext internationaler soziokultureller Entwicklungen, phil. Diss., Graz 2011. Eva KLEIN, Der Beginn der Reklame, in: Eva Klein/Claudia Friedrich, Große Schau der Reklame. Zwischen Umbruch und Kontinuität, Graz 2009, 13–22. Eva KLEIN, Galerie der Straße. Werbung als kunsthistorisch gewachsenes Medium im öffentlichen urbanen Raum, in: Die umworbene Stadt. Stadtgestalt und Werbung im Fokus von Denkmalpflege und Baukultur, hrsg. v. Internationalen Städteforum Graz, Graz 2013, 97–105. Sylvia MEFFERT, Werbung und Kunst. Über ihre phasenweise Konvergenz in Deutschland von 1895 bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2001. Per Aspera, 75 Jahre Arbeit für einen künstlerischen Beruf 1919–1994, Hg. v. Bund Deutscher Grafik-Designer, Düsseldorf 1994. Walter RIEMER, Wesen und Bedeutung der Gebrauchsgraphik. Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker, Berlin 1930. Herbert WIESLER, Ausbau des Lichtbilderdienstes zur Fremdenwerbung, in: Kontakt. Fachzeitschrift für Reklame und Verkaufskunst, 1 (1931) Wien, 25–36.
Wie wir lernen, über Dinge zu sprechen, die nicht im Raum sind K ATHARINA S CHWABL (G RAZ )
D IE D ARSTELLUNGSFUNKTION
DER
S PRACHE
Wenn wir an die Möglichkeiten unserer Sprache denken, ist meist das erste, was uns in den Sinn kommt, ihre Darstellungsfunktion1; die Möglichkeit mittels Repräsentation durch Sprachzeichen Dinge und Sachverhalte, die der Wirklichkeit oder auch unserer Fantasie entspringen, für andere abzubilden. Je komplexer und weniger greifbar (im physischen wie im abstrakten Sinne) diese Sachverhalte sind, desto schwieriger ist diese Funktion zu erfüllen, desto elaborierter gestaltet sich auch die Struktur der Sprache, die wir für ihre sprachliche Darstellung benötigen. In einer Welt, in der die vor allem schriftliche Vermittlung von Inhalten große Bedeutung erlangt hat,2 ist die Meisterung gerade dieser Funktion von Sprache von hoher Notwendigkeit. Sie wird einerseits durch explizite schulische Instruktion gefördert, andererseits aber auch in hohem Maße vorausgesetzt. Aus Perspektive der Sprachentwicklungsforschung scheint die Fähigkeit des Erzählens, also des Darstellens von zusammenhängenden Sachverhalten, einen wichtigen Ausgangspunkt für komplexere Sprachverwendung, wie sie in schriftlichen Kontexten verlangt ist, darzustellen.3
1
Vgl. Karl BÜHLER, Sprachtheorie, Stuttgart, 1999 (1934), 30 ff.
2
Vgl. David R. OLSON, The World on Paper. The Conceptual and Cognitive Implica-
3
Vgl. Gordon WELLS, Preschool literacy-related Activities and Success in School, in:
tions of Writing and Reading, Cambridge, 1994. David R. Olson/Nancy Torrance/Angela Hildyard (Hg.), Literacy, Language, and
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Der vorliegende Artikel soll einen schematischen Überblick über den Zusammenhang der symbolischen Repräsentation mittels Sprache, des Freimachens von räumlichen und zeitlichen Schranken mittels (Schrift-)Sprache und der Entwicklung dieser Fähigkeiten im Zuge der Sprachentwicklung geben.
W ORT
UND S CHRIFT – VOM MITEINANDER UND EINSAMEN S CHREIBEN
S PRECHEN
Während die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache im 18. Jahrhundert nur Sprachen mit Schrifttradition in den Blick nahm und Gesprochenes als degenerierten Abklatsch der vollständigen Schriftsprache betrachtete, wurde mit Beginn der modernen Linguistik die Gegenrichtung eingeschlagen. Die gesprochene Sprache – als allen Menschen gemeinsame und natürliche Gabe – rückte ins Zentrum des Forschungsinteresses und verdrängte die Beschäftigung mit schriftlichem Material. Letzteres wurde nunmehr als bloße grafische Repräsentation des Gesprochenen, als Repräsentation einer Repräsentation ohne eigenständigen Status behandelt.4 Mit der Erkenntnis, dass Sprache verschiedene funktionale Anforderungen zu erfüllen hat und dementsprechend vielgestaltig in ihrer Form sein kann, wurde der Grundstein für eine differenzierte Betrachtung von Sprachverwendung und Form gelegt. Sprechen und Schreiben werden als mögliche Ausdrucksformen eines gemeinsamen zugrunde liegenden Sprachwissens betrachtet,5 die unterschiedliche strukturelle Ausformung gesprochener und geschriebener Sprache aus den Funktionen und materiellen Anforderungen des Ausdrucksmediums erklärt. Solche funktional orientierten Ansätze erachten die Etablierung struktureller Konzepte, die zwar verwandt aber doch unabhängig vom Medium (Sprechen vs. Schreiben) existieren, als zielführend.6
Learning. The Nature and Consequences of Reading and Writing, Cambridge u. a. 1985, 253. 4
Vgl. etwa die drastische Formulierung bei Leonard BLOOMFIELD, Language, New York 1933, 21: „Writing is not language, but merely a way of recording language by visible marks.“; vgl. auch Ferdinand de SAUSSURE, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967 (1931), 28 oder Edward SAPIR, Language. An Introduction to the Study of Speech, New York, 1949, 20.
5
Vgl. Leonard SCINTO, Written Language and Psychological Development, Orlando
6
Hier wird die Terminologie von Maas übernommen: orat und literat als idealtypische
1986, 47. Endpunkte eines Kontinuums; Utz MAAS, Literat und orat. Grundbegriffe der Analy-
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Sprachstrukturen gestalten sich gemäß der mit ihrer Verwendung verknüpften Bedingungen. Die kognitive Wissenschaft geht davon aus, dass der Mensch in der Lage ist, etwa sieben Elemente simultan im Arbeitsgedächtnis zu halten.7 Nun ist Gesprochenes aber gemäß seiner Natur von großer Flüchtigkeit geprägt, denn „[e]ine mündliche Äußerung entwickelt sich in der Zeit. Sie ist strikt linear, jedes ihrer isolierbaren Momente ist nur präsent (wahrnehmbar), wenn ihre anderen Momente nicht präsent sind.“8 Sowohl der Sprecher in seiner Planung und Produktion als auch der Hörer im Prozess des Decodierens sind aufgrund dieser Umstände demnach zeitlichem Stress unterworfen. Diese Flüchtigkeit mündlicher Kommunikation bedingt die relative Kürze gesprochener Äußerungen, vor allem aber die Aufteilung neuer Information (die kognitiv schwer zu verarbeiten ist) auf mehrere prosodische Einheiten.9 Dass sich mündliche Kommunikation naturgemäß innerhalb enger zeitlicher und auch räumlicher Grenzen bewegt, wirkt andererseits jedoch erleichternd. Da Gesprochenes in der Regel in einer konkreten Situation verankert ist, kann auf gemeinsames Wissen zwischen (möglicherweise miteinander bekannten) Gesprächspartnern sowie Information aus der gemeinsamen Umgebung der Gesprächssituation aufgebaut werden.10 Das Vermitteln von Information wird durch den Umstand erleichtert, dass vieles bereits klar ist und nicht sprachlich explizit gemacht werden muss, weil es gesehen, gehört oder gewusst wird. Gestik, Mimik und vor allem die Prosodie in ihrer informationsgliedernden Funktion bereichern das sprachliche Signal. Typisch ist auch die Interaktivität des Gesprochenen, der Diskurs wird gemeinsam gestaltet, ein häufiger Wechsel der Sprecher- und Hörerrolle sind die Regel.11
se geschriebener und gesprochener Sprache, in: Utz Maas (Hg.), Grazer Linguistische Studien 73 (2010), 21–150. 7
Vgl. George A. MILLER, The Magical Number Seven. Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing Information, in: Psychological Review 63, 1956, 81–97.
8
Vgl. Utz MAAS, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft: Die schriftkul-
9
Vgl. Wallace CHAFE, Discourse, Consciousness, and Time. The Flow and Displace-
turelle Dimension, Osnabrück 2008, 336. ment of Conscious Experience in Speaking and Writing, Cambridge 1994, 108 ff. 10 Vgl. Wallace CHAFE, Integration and Involvement in Speaking, Writing and Literature, in: Deborah Tannen (Hg.), Spoken and Written Language: Exploring Orality and Literacy, Norwood, New Jersey, 1982, 45. 11 Vgl. Douglas BIBER, Variation Across Speech and Writing, Cambridge 1988, 57.
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Die Schrift begünstigt und verlangt andere formale Eigenschaften von Sprache, als im Gespräch der Fall ist. Das schriftliche Medium ist geprägt von seiner Permanenz und Transportierbarkeit,12 seiner Losgelöstheit vom unmittelbaren Kontext einer bestimmten Situation mit einem konkreten Gegenüber (häufig als Dekontextualisierung13 bezeichnet). Geschriebenes kann die zeitlichen und räumlichen Schranken einer konkreten Situation überwinden. Das schlägt sich in den strukturellen Eigenschaften geschriebener Sprache nieder. Die Permanenz erlaubt dem Schreiber eine langsame Formulierung und genauere Planung seines Produkts14 und in der Folge eine „Komprimierung des Inhalts“ durch verschiedene syntaktische Mittel15. Gleichzeitig muss die Formulierung auch der Tatsache Rechenschaft tragen, dass der verfasste Text in der Theorie von jedem beliebigen Leser in jeder Situation und Umgebung gelesen werden könnte. Auf gemeinsames Wissen mit diesem von Maas so bezeichneten „universellen Gegenüber“16 kann nicht aufgebaut werden. Vielmehr muss die gesamte Information im Text selbst ausgedrückt, der Text also ein autonomes Produkt sein. Schriftliches ist daher naturgemäß expliziter, vollständiger und komplexer in seiner Form. Einerseits, weil der Schreiber es so gestalten muss, damit es außerhalb bestimmter Kontexte verstanden werden kann, andererseits auch, weil der Schreiber die Möglichkeit hat, es so auszuarbeiten. Die Fertigung eines schriftlichen Produkts ist in der Regel auch ein „einsamer“, monologischer Prozess, der zunächst ohne Unterstützung eines anderen abläuft und deshalb gerade SchreibanfängerInnen große Mühe abverlangt. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass es sich bei dieser Charakterisierung um idealtypische Eigenschaften schriftlicher und mündlicher Produktionen handelt, allgemeingültige Aussagen über die Struktur von schriftlich und mündlich Ausgedrücktem sind ohne weiteres jedoch nicht möglich.17 Innerhalb der Medien findet sich eine breite linguistische Variation, wobei manche schriftliche Produkte (z. B. Diskurs in Chatrooms18) in ihrer Struktur dem Gesprochenen
12 Vgl. Chafe, Discourse, Consciousness, and Time, 42. 13 Vgl. Scinto, Written Language, 57. 14 Vgl. Chafe, Integration and Involvement, 37 f. 15 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 342. 16 Ebd., 332. 17 Vgl. Biber, Variation, 36. 18 Vgl. Biljana RADIû-BOJANIû, Fragmentation/Integration and Involvement/ Detachment in Chatroom Discourse, in: Susan C. Herring (Hg.), Computer-Mediated Communication. Linguistic, Social and Cross-Cultural Perspectives, Amsterdam/ Philadelphia 1996, 239–260.
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sehr nahe sind, während manches, das mündlich artikuliert wird (z. B. akademische Vorträge) wie geschriebene Texte anmutet. Die Entstehung der von Maas so bezeichneten literaten (=schriftnahen) Strukturen (im Gegensatz zu oraten, dem mündlichen Gebrauch zugeordneten) wurde durch die Verwendung von Schrift begünstigt. Wo sie zum Einsatz kommen, ist jedoch nicht ausschließlich durch das Medium Schrift vorhersagbar, sondern maßgeblich auch durch die Funktion, die ein sprachliches Produkt zu erfüllen hat. In diesem Sinne bewegen wir uns auf einem gedachten Kontinuum zwischen typisch mündlich (orat) und schriftlich (literat) in Richtung des letzteren, sobald unsere Sprache nicht nur einer rein interaktiven Funktion dient, sondern Inhalte vermitteln soll; vor allem, wenn es sich dabei um Inhalte handelt, die nicht klar aus dem Kontext der Sprechsituation hervorgehen und nach elaborierterer Darstellung verlangen. Die Sprachentwicklung beginnt in einem engen Setting in einer beschränkten Anzahl immer wiederkehrender sozialer Situationen. Mit fortschreitender Entwicklung werden immer elaboriertere Strukturen angeeignet, die die Darstellung immer komplexerer Inhalte ermöglichen. Einfachere Strategien, wie die Äußerung isolierter Wörter oder gar nur eine Zeiggeste, gehen deshalb aber nicht verloren. Sie bleiben als Defaultlösungen für Gelegenheiten erhalten, in denen andere Strategien redundant wären. In Situationen mit stark vorhersehbarem Verlauf, beispielsweise beim Bestellen im Kaffeehaus, bedienen wir uns weiterhin formal reduzierter Mittel (Wir begnügen uns mit Äußerungen wie „einen Schwarzen!“; selten hört man in diesem Setting syntaktisch vollständige Sätze)19. Mit dem Erwerb von Schriftlichkeit wird die Aufmerksamkeit auf die formale Seite des sprachlichen Produkts gelenkt und die Darstellungsfunktion reflektiert. Der Verlauf des kindlichen Spracherwerbs soll in der Folge kurz umrissen werden.
S PRACHENTWICKLUNG Die Ontogenese von Sprachstruktur Wenn man, wie in modernen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen der Fall ist, davon ausgeht, dass der Sprachfähigkeit nicht gänzlich andere Mechanismen zugrunde liegen, als anderen kognitiven Fähigkeiten,20 kann man Sprachentwicklung nicht als losgelöst von der generellen kognitiven Entwicklung des Men-
19 Beispiel aus Bühler, Sprachtheorie, 157. 20 Vgl. Michael TOMASELLO, Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition, Cambridge 2003, 3.
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schen betrachten. Allgemeinere Fähigkeiten, die als Voraussetzung für die Verwendung menschlicher Sprache genannt werden, sind beispielsweise die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu segmentieren und klassifizieren, zu vergleichen, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, die Eindrücke aus der Umwelt in Figur und Hintergrund zu trennen,21 die Intention anderer zu lesen und die Fähigkeit Muster zu erkennen22. Bruner fasst zusammen „[...] infants enter the world of language and of culture with a readiness to find or invent systematic ways of dealing with social requirements and linguistic forms.“23 Die Sprachentwicklung beginnt nach Tomasello um das erste Lebensjahr, wenn das Kind in der Lage ist Aufmerksamkeit mit anderen in kommunikativer Wiese zu teilen (joint attention24). Schon bevor die ersten Sprachlaute geäußert werden, lenkt das Kind die Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen mittels Zeiggesten, die in Folge durch Kombination mit einem lautlichen Signal effizienter werden. Wenn der Erwachsene, dessen Aufmerksamkeit das Kind lenken möchte, mit sich selbst beschäftigt ist oder die Dinge, auf die es verweisen möchte, nicht im Hier und Jetzt gegeben sind, genügen solche Strategien bereits nicht mehr.25 Erfolgreicher sind hier sogenannte Ein-Wort-Sätze, oder unverfänglicher formuliert: frühe Äußerungen, die nur aus einem einzelnen bedeutungstragenden Element bestehen und wenig später auftreten. Sie sind bereits gewissermaßen symbolisch. Die strukturelle Reduziertheit solcher Äußerungen geht jedoch einher mit einer Beschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten: Kinder stellen zunächst Sachverhalte in Situationen dar, in denen „[…] die Fakten für sich selbst sprechen“26. Das bloße gestische Verwiesen auf ein Unfallfahrzeug am Straßenrand oder die Äußerung isolierter Lexeme wie „Auto“ lenkt die Aufmerksamkeit des anderen auf das offensichtliche Szenario: das Auto ist kaputt. In dieser Paraphrasierung ist eine Annahme der pragmatischen Spracherwerbsforschung bereits enthalten: Diese Äußerungen sind zwar reduziert in ihrer sprachlichen Form, sie sind es jedoch nicht in ihrer pragmatischen Absicht. Aufgrund ihrer sprachlichen Reduziertheit bleibt die erfolgreiche Interpretation dieser Äußerungen aber stark vom Kontext einer konkreten Situation und von Inferenzziehung
21 Vgl. Ronald LANGACKER, Grammar and Conceptualization, Berlin/New York 1999, 2. 22 Vgl. Tomasello, Constructing a Language, 3 ff. 23 Jerome BRUNER, Child’s Talk. Learning to Use Language, Oxford 1983, 28 f. 24 Vgl. Tomasello, Constructing a Language, 90 f. 25 Vgl. Martin ATKINSON, Prerequesites for Reference, in: Elinor Ochs/Bambi B. Schieffelin (Hg.), Developmental Pragmatics, New York 1979, 235. 26 LYONS, zit. nach Atkinson, Prerequesites for Reference, 234.
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der Bezugspersonen abhängig 27 (nicht umsonst gelingt häufig nur den nächsten Verwandten die richtige Deutung). Ohne Kontext ergäbe sich hier eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten, wie z. B. „Gib mir das Auto!“, „Da ist ein Auto.“ oder „Er steigt ins Auto“. Häufig ist zu beobachten, wie die unvollständige Äußerung daraufhin von Bezugspersonen syntaktisch „aufgefüllt“ wird28 (etwa: „Genau, das Auto ist kaputt“), die dem Kind auf diese Weise Modelle für komplette Sätze anbieten. Etwas später, ungefähr in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres, geschieht etwas, das die Äußerungen sprungartig um ein Vielfaches leistungsfähiger macht: Elemente werden erstmals miteinander kombiniert. 29 Dieses Vorgehen wird häufig als systematisch beschrieben30, wobei meist ein Zusammenfügen einer offenen (erweiterbaren) Klasse von Ausdrücken plus einer limitierten Anzahl an wiederkehrenden Prädikaten beobachtet wird (z. B. „Auto kaputt“, „Papa weg“). Bates und McWhinney vertreten die Ansicht, dass sich hier die in der pragmatischen Sprachbetrachtung grundlegenden Kategorien Topic (das, worum es geht) und Comment (die Aussage darüber) in den formalen Strategien der Kinder widerspiegeln.31 Es scheint, als hätten wir es hier mit einer ersten Nutzung des strukturellen Potentials menschlicher Sprache zu tun, wodurch Sachverhalte bereits viel autonomer dargestellt werden können als zuvor. Die Äußerung „Auto kaputt“ gibt uns ohne Hinsehen und Vorwissen einen Eindruck des Sachverhalts, wenn auch noch keinen vollständigen, da wir daraus beispielswiese noch nicht erschließen können, um welches Auto es sich handelt und ob es ein unmittelbar beobachtetes oder in der Vergangenheit liegendes Begeben wiedergibt. Mit fortschreitendem Alter beginnen Kinder immer mehr Information sprachlich explizit zu machen.32 Die eben beschriebene Strategie wird von Tomasello lediglich als „konsistente Ordnungsschemata“33 bezeichnet. Sie ermöglicht jedoch bereits durch Kombination von bedeutungstragenden Einzelelemen-
27 Talmy GIVÓN, The Genesis of Syntactic Complexity, Amsterdam/Philadelphia, 2009, 9. 28 Vgl. Roger BROWN/Ursula BELLUGI, Three Processes in the Child's Acquisition of Syntax, Harvard Educational Review 34, 1964. 29 Vgl. Michael A. K. HALLIDAY, Learning How to Mean. Explorations in the Development of Language, London 1975, 68. 30 Vgl. etwa HALLIDAY, Learning How to Mean; Elisabeth BATES/Brian MCWHINNEY, A Functional Approach to the Acquisition of Grammar, in: Elinor Ochs/Bambi B. Schieffelin (Hg.), Developmental Pragmatics, New York 1979. 31 Vgl. Bates/McWhinney, Functional Approach. 32 Vgl. Ebd., 21. 33 Tomasello, Constructing a Language, 115.
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ten in einer bestimmten Struktur – die ihrerseits einen Bedeutungsrahmen aufspannt (in diesem Fall Topic-Comment) –, die Schaffung einer neuen Bedeutung, die über die Summe der Einzelbedeutungen hinausgeht, indem sie eine Beziehung zwischen ihnen herstellt. Das ist das Prinzip, welches Sprachstruktur so effektiv macht, dass sie – wenigstens in der Theorie – jeden erdenklichen Sachverhalt darstellen kann.34 Die Struktur, die Kinder hier erstmals nutzen, hat mit der Struktur der Sprache ihrer Umgebung noch wenig zu tun. Äußerungen, die aus drei oder mehr Elementen bestehen, tauchen etwa zwischen zwei- und zweieinhalb Jahren auf.35 Der Weg zur Nutzung eines Satzschemas, in dem im Gegensatz zu den vorhin beschriebenen Kombinationen bereits grammatische Markierungen zum Einsatz kommen, führt zunächst über die Verwendung von Äußerungen mit folgender Charakteristik: Sprachspezifische Satzstrukturen treten zwar erstmals auf, scheinen sich aber stets um dieselben Elemente – konkret: um bestimmte Verben – zu gruppieren.36 Die Sprache des Kindes ist gewissermaßen ritualisiert, wie auch ein Großteil seines Lebens. Bruner beschreibt, dass es nur eine geringe Anzahl sozialer Situationen ist, an denen das Kind in dieser Zeit teilnimmt.37 Ebenso beschränkt ist es in seinen sprachlichen Möglichkeiten; es verfügt noch nicht frei über die Nutzung des Satzschemas zum Ausdruck seiner Inhalte. Diese ersten Konstruktionen dienen jedoch als Modell für andere Sätze, ihr Muster wird in späteren Phasen auch spontan auf neue Kontexte übertragen und so eine flexible Kombination von Elementen und Strukturen möglich. Die Entdeckung von regelhaften Zusammenhängen zwischen den außersprachlichen Gegebenheiten und der Form der Sprache ist ein wichtiger Entwicklungsschritt und ermöglicht das Erschließen grammatischer Regeln.38 Sind formale Regeln einmal entdeckt, werden sie vom Kind selbst auch produktiv angewendet, was in frühen Phasen zur bekannten Übergeneralisierung von Regeln führt.39
34 Vgl. Bühler, Sprachtheorie, 69 ff. 35 Vgl. Gisela SZAGUN, Sprachentwicklung beim Kind, München 1993. 36 Vgl. Tomasello, Constructing a Language, 117ff; Tomasello bezeichnet diese als itembased constructions. 37 Vgl. Bruner, Child’s Talk, 39. 38 Vgl. Tomsello, Constructing a Language, 65. 39 Vgl. Dan I. SLOBIN, Introduction: Why Study Language Acquisition Crosslinguistically?, in: Dan I. Slobin (Hg.), The Crosslinguistic Study of Language Acquistion Vol. I., Hillsdale 1985, 13 f.
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Die Rolle der Erzählungen Bis zum Alter von etwa drei Jahren sind die Basisstrukturen der jeweiligen Sprache(n), die ein Kind erwirbt, im Wesentlichen angelegt. Das Kind beherrscht in der Regel die Struktur einfacher Sätze. In der Folge entwickelt sich die Fähigkeit den Diskurs über der Satzebene zu gestalten, die ersten Ansätze komplexer Sätze tauchen auf.40 Insbesondere Erzählungen kommt in der Entwicklung satzübergreifender Strukturierungsmechanismen große Bedeutung zu, da sie einige Merkmale geschriebener Sprache aufweisen – beispielswiese ihre Tendenz zur monologischen Gestaltung.41 Die Beherrschung solcher Mittel zur Diskursgestaltung eröffnet neue Möglichkeiten: Die Darstellung von zusammenhängenden Sachverhalten, die zeitlich und räumlich versetzt vom Kontext der Sprechsituation ablaufen, für einen Zuhörer, der selbst nicht Zeuge der Geschehnisse war. In Erzählungen wird eine Erzählwelt für den/die ZuhörerInnen aufgespannt. In vollständiger Ausführung ist zunächst eine Art Orientierung42, das wer, wo und wann der Geschichte, zu liefern, in das sich die folgenden Ereignisse einordnen lassen. Darauf folgt in manchen Geschichtenschemen die Darstellung eines Ausgangsereignisses,43 das das Eintreten der restlichen Ereignisse ermöglicht (um zu stolpern muss man beispielswiese erst einmal gegangen sein), dann ein Höhepunkt, der das eigentlich Erzählwürdige darstellt (bei Labov und Wa-
40 Lois BLOOM/Matthew RISPOLI/Barbara GARTNER/Jeremie HAFITZ, Acquisition of Complementation, in: Lois Bloom (Hg.), Language Development from Two to Three, Cambridge 1991, 310–332 (Nachdruck aus: Journal of Child Language 16, 101–120). Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei ausschließlich um sogenannte Komplementsätze handelt, die zwar formal komplex in Erscheinung treten, deren Teilsätze aber als propositional leer angesehen werden; vgl. Holger DIESSEL/ Michael TOMASELLO, The Acquisition of Finite Complement Clauses in English: A corpus-based Analysis, in: Cognitive Linguistics 12-2, 2001, 132. 41 Vgl. Clotilde PONTECORVO, Emergent Literacy and Education, in: Ludo Verhoeven (Hg.), Functional Literacy: Theoretical Issues and Educational Implications, Amsterdam/Philadelphia 1994, 343. 42 Vgl. William LABOV/Joshua WALETZKY, Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Frankfurt am Main 1973, 13. 43 David E. RUMELHART, Notes on a Schema for Stories, in: D. G. Bobrow/A. Collins (Hg.), Representation and Understanding: Studies in Cognitive Science, New York 1975, 185–210.
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letzky als „Komplikation“ bezeichnet44) und einer anschließenden Auflösung dieser Komplikation, indem die Rückkehr oder Herstellung einer Normalsituation beschrieben wird. Labov und Waletzky empfinden auch die Hinzufügung einer Evaluation der Geschichte als notwendig,45 die sich in Form sprachlicher Markierungen der emotionalen Involviertheit in die Ereignisse darstellt. Ihre Funktion ist es, den Zuhörer die Geschehnisse miterleben zu lassen und so sein Interesse am Erzählten zu wahren. In der Erzählforschung herrscht mitunter Uneinigkeit, ob Evaluation als strukturelles Merkmal von Erzählungen gelten soll oder einfach ein Merkmal von Erzählungen ist, dass an jeder Stelle eingefügt werden kann und von geübten Erzählern auch vermehrt eingesetzt wird. Frühe Erzählungen von Kindern erfüllen nicht alle notwendigen Voraussetzungen für den Zuhörer und vieles muss durch Nachfragen und Inferenzziehung erschlossen werden. Kinder bieten ihren Zuhörern oft keine Orientierung an, sondern konfrontieren sie mit einem Direkteinstieg in die Ereignisse ohne die Rahmenbedingungen klarzumachen. Informationen über Zeit und Ort des Geschehens explizit zu machen, wird erst mit der Zeit angeeignet.46 Ebenso typisch ist ein unaufgelöstes Muster, indem die Kinder ihre Geschichten auf dem Höhepunkt der Handlung abbrechen (ending-at-the-high-point47) und den Zuhörer somit vorenthalten, wie alles ausging. Auch evaluative Markierungen werden erst zunehmend mit dem Alter vorgenommen.48 Ein Gegenüber, das selbst Zeuge der Geschehnisse war, oder aus anderen Gründen in der Lage ist, die fehlende Information zu erschließen, kann die intendierten Ereignisse möglicherwiese trotzdem konstruieren. Unwissenderen Zuhörern bleiben sie jedoch verschlossen. Ebenso wichtig ist, in der Ereignisfolge für den/die ZuhörerIn nachvollziehbar auf Personen und Dinge Bezug zu nehmen (zu referieren) und diesem/dieser nicht Mehrdeutigkeiten oder gar gänzlich undeutbare Verweise vorzusetzen. An diesen sogenannten Referenzstrategien wird die Entwicklung der Diskursplanung besonders gut sichtbar. Referenz meint das sprachliche Bezugnehmen oder
44 Vgl. Labov/Waletzky, Erzählanalyse, 14 ff. 45 Vgl. Ebd., 33. 46 Vgl. Robyn FIVUSH/Catherine A. HADEN, Narrating and Representing Experience: Preschoolers' Developing Autobiographical Accounts, in: Paul van den Broek/Patricia J. Bauer/Tammy Bourg (Hg.), Developmental Spans in Event Comprehension and Representation, Mahwah, New Jersey 1997, 187. 47 Vgl. Carole PETERSON/Allysse MCCABE, Developmental Psycholinguistics. Three Ways of Looking at a Child's Narratives, New York 1983. 48 Vgl. FivusH/Haden, Narrating and Representing, 187 ff.
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Verweisen auf Außersprachliches mittels verschiedener linguistischer Mittel,49 wie beispielswiese Deiktika, Demonstrativa, anaphorischer Pronomina, definiter und indefiniter Nominalphrasen oder Eigennamen. Die Referenz ist in Erzählungen ein wichtiges Mittel der Kohäsion und Kohärenz, des grammatischen und semantischen Textzusammenhangs. Bei erwachsenen Sprechern erfüllt die Wahl eines dieser Mittel gleichzeitig eine bestimmte Referenzfunktion abhängig vom Wissen des Gegenübers.50 Für erfolgreiche Referenz ist es notwendig, dem Zuhörer hinreichende sprachliche Mittel zu bieten, um das Intendierte für ihn identifizierbar zu machen.51 Nicht nur die Beherrschung der linguistischen Mittel ist hier also gefordert, sondern auch die Entwicklung einer sogenannten theory of mind, der Fähigkeit das Wissen einer anderen Person zu konstruieren. Hat ein Zuhörer beispielsweise eine Bildfolge im Blick, sind andere Referenzstrategien erwartbar, als beim Niederschreiben einer Geschichte für einen Leser, für den alle ausgedrückten Sachverhalte neue Information darstellen. Kinder beherrschen diese Strategien nicht von Beginn an und produzieren deshalb anfangs nicht höreradäquate Referenzmittel in ihren Erzählungen. Kleine Kinder neigen dazu, ihr eigenes Wissen mit dem des Hörers gleichzusetzen. Sie verwenden nicht selten sogar für die Ersterwähnung einer Person pronominale Formen52 (die eigentlich nur Platzhalter für Formen mit mehr semantischem Gehalt sind und deshalb nur verwendet werden können, wenn ihr Bezug bereits klar ist) und lassen somit den Zuhörer – wohl unbewusst – im Dunklen über die Identität desselben. Nach und nach werden diese Strategien erworben, sodass am Ende der Diskurs so gestaltet werden kann, dass der/die ZuhörerIn zu jedem Zeitpunkt der Erzählung klar identifizieren kann, von wem hier die Rede ist. In Kombination mit der Entwicklung weiterer Mittel der Gestaltung von Satzzusammenhängen (Konnektoren, temporale Struktur, Subordination) ergibt sich die Möglichkeit Ereignisse, die nicht dem Hier und Jetzt der aktuellen Situation entspringen, für einen beliebigen Zuhörer/eine beliebige Zuhörerin so darzustellen, dass dieser/diese eine Vorstellung davon präsent hat, auch wenn er/sie selbst nicht ihr Zeuge/Zeugin war.
49 Vgl. Helmut GLÜCK (Hg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 2005. 50 Vgl.
Dietrich
BOUEKE/Frieder
SCHÜLEIN/Hartmut
BÜSCHER/Evamaria
TERHORST/Dagmar WOLF, Wie Kinder Erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten, München 1995, 146. 51 Vgl. John SEARLE, Sprechakte. Ein Sprachphilosophischer Essay, Frankfurt am Main 1971, 129. 52 Vgl. Michael BAMBERG, The Acquisition of Narratives: Learning to Use Language, Berlin 1987, 67.
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VON
Sprachliche Handlungsspielräume Vielerorts wurde Sprache und ebenso ihr Erwerb losgelöst von den sozialen Situationen betrachtet, in denen sie verwendet wird. Funktionale Ansätze53 betrachten jedoch bereits frühe Äußerungen des Kindes hinsichtlich der damit verknüpften Funktionen in bestimmten Kommunikationssettings, die im Übrigen mit den Funktionen der Erwachsenensprache nicht zwingend übereinstimmen müssen. Sprache kann als Werkzeug des intentionalen Handelns begriffen werden, wofür Searle den Begriff der „Sprechakte“ prägte54. Der Handlungscharakter von sprachlichen Äußerungen offenbart sich am deutlichsten in solchen, wo sich, wie in den folgenden, mit dem Aussprechen der Worte zugleich die ausgedrückte Handlung vollzieht. Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau. Ich verspreche es. Ich wette 5 Euro, dass du das nicht schaffst. Aussagen wie diese zählen zu den sogenannten performativen Äußerungen55, aber auch Äußerungen, in denen das weniger offensichtlich zum Vorschein kommt, entspringen der Intention der sie äußernden Person. Die fortschreitende Aneignung eines Sprachsystems eröffnet immer neue Möglichkeiten. Wer nicht nur gestisch auf etwas verweisen kann, sondern auch sprachlich darauf referieren, vergrößert seinen Handlungsspielraum. Man kann so – um wiederum Bezug zum Titel dieses Beitrags herzustellen – auch auf Dinge verweisen, die nicht im Raum sind. Mit elaborierteren Strukturen ist es schließlich möglich vollständige Aussagen über Dinge zu tätigen, einzelne und auch logisch und temporal zusammenhängende, sowie räumlich und zeitlich versetzte oder gar fiktionale Sachverhalte in die Vorstellung eines anderen zu transportieren oder Standpunkte zu argumentieren. Gleichzeitig haben wir es, wo es um Sprache geht, stets mit sozialen Handlungen zu tun. Wenn wir sprechen fra-
53 Vgl. Halliday, Learning How to Mean; Annette KARMILOFF-SMITH, A Functional Approach to Child Language. A Study of Determiners and Reference, Cambridge 1979 und Tomasello, Constructing a Language. 54 Vgl. Searle, Sprechakte. 55 Vgl. John L. AUSTIN, How to do Things with Words, Oxford, New York 1962.
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gen wir, überzeugen wir, schlagen wir vor, beleidigen oder ermuntern wir. Bereits weiter oben wurde angedeutet, dass die Sprachentwicklung ihren Ausgangspunkt in einem engen, stark ritualisierten Setting nimmt und von dort immer neue Situationen erschlossen werden. In dieser Hinsicht kann man Sprachentwicklung also nicht nur unter dem Blickwinkel der Aneignung struktureller Möglichkeiten zur immer autonomeren, kontextfreieren Darstellung von Inhalten und somit Eröffnung von physischen (und fiktiven) Räumen betrachten, sondern auch als fortschreitende Erschließung von immer weiteren sozialen Räumen. Die beiden Betrachtungen greifen ohne Zweifel ineinander, als ein Sprechen mit gänzlich Unbekannten (ein Kommunizieren in einem weiteren sozialen Umfeld) zwangsläufig bedeutet, dass auch mehr Information zu versprachlichen ist und explizitere Sprachstrukturen zum Einsatz kommen müssen; zumal Unbekannte einerseits naturgemäß weniger Information teilen als beispielswiese Mitglieder derselben Familie, andererseits die Vermittlung komplexer Inhalte auch tendenziell im öffentlich-formellen Bereich anzusiedeln ist und weniger im intimen, familiären Umfeld ihren Platz hat. Dass man für verschiedene Situationen verschiedene Sprachformen zum Einsatz bringen muss, ist Teil des späteren Spracherwerbs,56 wo Sensibilität für sprachliche Variation entwickelt wird. Gut beobachtbar wird das an Rollenspielen, in denen Kinder spielerisch lernen auch sprachlich verschiedene Positionen einnehmen (einmal sprechen wie ein Lehrer, dann wieder wie ein Schüler etc.). Dass auch beim Schreiben eine spezielle Sprachform, eine literate eben, zu verwenden ist, kann bei Kontakt mit entsprechenden Situationen bereits früh, schon vor dem Erwerb des Schreibens an sich, selbstverständlich geworden sein, wie Diktieraufgaben bei Vorschulkindern veranschaulichen57. Aufgrund des beschriebenen Zusammenhangs zwischen öffentlich-formellen Situationen und literaten Sprachformen könnte man in stark vereinfachter Weise zusammenfassen, dass, je weiter man – in einem sozialen Sinne – in die Welt hinaustritt und an der Gesellschaft teilnimmt, umso eher die Notwendigkeit entsteht, eine literatere Sprachform zum Einsatz zu bringen. Seine größte Gültigkeit erfährt dieser Grundsatz wohl in Gesellschaften, in denen Schriftlichkeit eine große Rolle in der Organisation des Lebens der Einzelnen
56 Vgl. Liliana TOLCHINSKY, The nature and scope of later language development, in: Ruth A. Berman (Hg.), Language development across childhood and adolescence, Amsterdam/Philadelphia 2004, 234–247. 57 Vgl. Clotilde PONTECORVO/Cristina ZUCCHERMAGLIO, From Oral to Written Language: Preschool Children Dictating Stories, in: Journal of Reading Behaviour 1989, 2–109.
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spielt. Das entsprechende sprachliche Wissen ist hier also Schlüssel zur Eröffnung immer weiterer sozialer Räume. Die Vermittlung von schriftkulturellen Fähigkeiten Die literate Sprachform ist es, die in westlichen modernen Gesellschaften mehr und mehr nicht nur in elitären Kreisen gefordert war, sondern auch in alltägliche Bereiche vordrang.58 Die Schule dient hierbei als Vermittler dieser Kenntnisse und – in einem demokratischen Verständnis – Kinder auf die Partizipation an der Gesellschaft vorbereiten. Die mündliche Alltagskommunikation wird im informellen Bereich spontan erworben; in der Schule konzentriert man sich demnach auf die Weiterentwicklung des kontextfreien Sprachgebrauchs, meist in Form von Texten verschiedenster Art. Es zeigt sich, dass gerade im Hinblick auf diese Kenntnisse bestimmte Gruppen im Bildungssystem auf der Strecke bleiben. Es handelt sich hierbei vorwiegend um Kinder aus sogenannten „bildungsfernen“ Elternhäusern, mehr noch aber um Kinder, die anderssprachigen Minderheiten angehören und zusätzlich zum Übergang zur schriftlichen, literaten Sprachverwendung auch noch mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, dass dies in einer anderen Sprache zu geschehen hat59. Hier scheint eine Diskrepanz zwischen von den Kindern mitgebrachten und vom Schulsystem erwarteten Kenntnissen vorzuliegen;60 die Schule setzt hier offenbar mehr oder weniger unbewusst gewisse Kenntnisse (sogenannte protoliterate Fähigkeiten) voraus, die nicht immer und von allen gleichermaßen erfüllt werden. Zudem wird von divergierenden kulturellen Einstellungen gegenüber der Funktion von Schriftlichkeit berichtet.61 Die Nutzung von Schrift als mnemotisches Hilfsmittel (etwa beim Erstellen von Einkaufslisten), die professionelle phonetische Transkription als Versuch einer 1:1 Wiedergabe von gesprochener Sprache, die Vermittlung von Inhalten an andere
58 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 400 ff.; professionelle (auf ein Elite beschränkte) vs. demotisierte (ins Alltagsleben vorgedrungene) Schriftkultur. 59 Vgl. Ludo VERHOEVEN, Modelling and Promoting Functional Literacy, in: Ludo Verhoeven, Functional Literacy: Theoretical Issues and Educational Implications, Amsterdam 1994, 10. 60 Vgl. Ludo VERHOEVEN, The Acquisition of Literacy by Immigrant Children, in: Clotilde Pontecorvo (Hg.), Writing Development, Amsterdam 1997, 224. 61 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 424; zum Unterschied der Handhabung von Schrift als Instrument des eigenen Handelns vs. dem Erwerb der mechanischen Fähigkeit des Niederschreibens.
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oder aber Schreiben als Prozess der Ordnung und Ausformung von Gedanken im Sinne eines knowledge transforming62 sind nur einige denkbare Funktionen. In manchen Gesellschaften nimmt Geschriebenes auch eine primär ästhetische oder sakrale Rolle ein. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der Kinder aus literaten Umfeldern davon ausgehen, dass alles Geschriebene etwas bedeutet und dazu dienen kann diese Bedeutung zu vermitteln, ist nur bei jenen SchreibanfängerInnen zu rechnen, in deren primärer Umgebung das auch selbstverständlich war. Wo Wissen um die inhaltstransportierende Funktion der (Schrift-)Sprache und ihre formale Seite erworben wurde, ist mit der Verwendung der Sprache ein leistungsstarkes Werkzeug mit großer Reichweite im Einsatz. Wo das nicht der Fall ist, ist man in der Regel auf die Hilfe anderer angewiesen, die dieses Werkzeug zu nutzen wissen.63
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Nicht jede Sprachentwicklung, historisch oder ontogenetisch betrachtet, schließt auch die Entwicklung hochliterater Strukturen mit ein. Wo Sprache, als Verständigungsform eines Einzelnen oder einer ganzen Sprachgemeinschaft, nicht in bestimmten Bereichen zum Einsatz kommt und die formale Seite von Sprache mit ihrer Verwendung in Verbindung zu bringen ist, sind gewisse Sprachstrukturen nicht immer und überall zu erwarten. Umgekehrt kann das Vermögen einer Sprache oder das Sprachvermögen eines Einzelnen beschränkte Möglichkeiten aufwiesen und daher Verwendungsbereiche ausschließen. Interessant ist dieses Zusammenspiel am Beispiel der Migrationssituation zu beschreiben, in der mehrere Sprachen aufeinandertreffen, die typischerweise eine funktionale Aufteilung auf verschiedene Lebensbereiche aufweisen. Was für viele Europäer befremdlich erscheinen mag, ist in vielen Ländern dieser Erde die Regel. Die Mehrheit der Menschen bestreitet ihren Alltag mit
62 Vgl. Carl BEIREITER/Marlene SCARDAMAGLIA, The Psychology of Written Composition, Hillsdale 1987, stellen die Begriffe knowledge telling und knowledge transforming einander gegenüber. Letzterer umfasst mehr als Niederschrift; Schreiben wird als Prozess begriffen, in dem Gedanken geformt werden. 63 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 138 ff.; berichtet beispielsweise, dass marokkanische Familien, in denen häufig viele Personen nicht schriftkulturell gebildet sind, darauf achten, dass zumindest einer in der Familie schreiben und lesen kann oder man gegebenenfalls im Dorf mit jemandem bekannt ist, der einem den Zugang zur Schrift sichern kann.
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mehr als einer Sprache.64 Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber schnell, dass auch die Einsprachigkeit Europas nur eine Illusion ist.65 Die Schaffung von Nationalsprachen auf Basis von Volkssprachen machte diese zwar für eine breite Mehrheit zugänglich, erschuf aber gleichzeitig sprachliche Minderheiten, deren Sprachen diesen Status im selben Staat nicht erhielten. Vor allem aber auch Migration stellt in Europa ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Idee einer Übereinstimmung von räumlichen und sprachlichen Territorien in Frage. Migration nach Europa bewirkt die Entstehung einer Art von mehrsprachigen Verhältnissen, deren Komplexität lange nicht klar war. Es handelt sich hierbei um mehr als das Aufeinandertreffen von mehreren Sprachen typologisch verschiedenen Sprachbaus; die Einsatzbereiche der Sprachen und deren damit verknüpfte strukturelle Anforderungen sind zu berücksichtigen, um zu einer befriedigenden Beschreibung der sprachlichen Situation zu gelangen. Europäische Nationalstaaten stellen im globalen Vergleich sprachpolitisch betrachtet einen Sonderfall dar. Mit ihrer Entstehung ging auch ein Prozess der Neuordnung sprachlicher Machtverhältnisse einher.66 Dabei wurden Volkssprachen zu Sprachen der Schriftlichkeit und Geschäftsführung erhoben und übernahmen somit literate Funktionen, die zuvor vornehmlich der lateinischen Sprache vorbehalten waren. In solchen Fällen ist ein Prozess des Sprachausbaus zu beobachten,67 in dem die betreffende Sprache die dafür notwendigen Strukturen gemäß den neuen Anforderungen entwickelt. Heute sind diese Nationalsprachen sogenannte ausgebaute Sprachen,68 die alle denkbaren Bereiche des gesellschaftlichen Lebens abdecken. Für Sprecher dieser Sprache liegt praktisch ein Konti-
64 Vgl. John FISHMAN, Bilingualism, Intelligence, and Language Learning, in: Francesco Cordasco (Hg.), The Bilingual Child and the Question of Intelligence, New York 1978, 227. 65 Vgl. Robert McColl MILLAR, Language, Nation and Power. An Introduction, Houndsmill/New York, 2005. 66 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 127 ff. 67 Vgl. Ivan KÁLMAR, Are there really no primitive languages? In: David R. Olson/ Nancy Torrance/Angela Hildyard (Hg.), Literacy, language and learning, Cambridge/ London/New York/New Rochelle/Melbourne/Sydney, 1985, 148–166, beschreibt erste Ansätze von Relativsätzen im Inuktitut, das erst seit kurzem verschriftet ist. Im Gesprochenen gibt es diese Konstruktionen nicht. 68 Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, spricht von ausgebauten Sprachen bzw. von Sprachausbau und führt damit den von Kloss entwickelten Begriff der Ausbausprache weiter, vgl. Heinz KLOSS, Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800, Düsseldorf 1987.
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nuum an Varietäten ein und derselben Sprache vor; die formelle Standardsprache, welche die darunterliegenden regionalen oder sozialen Ausprägungen überdacht, sollte in der Theorie für alle gleichermaßen zugänglich sein. In anderen Worten: Von der in der Familie erworbenen Sprache aus sind verwandte Varietäten erreichbar,69 die eine überregionale Verständigung und ebenso eine Bewältigung formeller Situationen ermöglichen. Anders liegen die Verhältnisse in vielen nicht-europäischen Ländern, oft auch in Herkunftsländern von nach Europa migrierenden Menschen70. Hier werden im familiären Bereich nicht selten Sprachen gesprochen, die nur auf diesen Bereich beschränkt bleiben und die darüber hinaus nicht verschriftlicht sind. Diese Sprachen erfüllen ausschließlich Funktionen im Alltagsbereich der Sprecher, in dem orate Sprachformen genügen und können deshalb nicht als ausgebaute Sprachen betrachtet werden. Die geringe soziale Reichweite der Sprache geht hier folglich mit strukturellen Einschränkungen des Sprachsystems einher. Daraus zu schließen, dass die Menschen, die diese Sprachen sprechen, nicht in der Lage wären, formellere Sprachformen zu verwenden, wäre schlicht falsch (wohl muss aber angemerkt werden, dass die Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit solche Sprachformen zu verwenden nicht universal ist). Wenn sie jedoch den familiären/informellen Bereich verlassen, müssen sie sich dazu gegebenenfalls einer anderen Sprache bedienen.71 Es liegt auf der Hand, dass aus diesem Grund die Erfassung des sprachlichen Vermögens von mehrsprachigen Personen nur vollständig ist, wenn man alle Sprachen berücksichtigt die sie beherrschen und ein fehlerhaftes Bild ergäbe, wenn man beispielsweise nur die im familiären Bereich verwendeten Sprachen beachtete. Diese Tatsache stellt in der Praxis, beispielsweise beim Versuch Sprachstand zu erheben, erhebliche Schwierigkeiten dar – das aber nur am Rande. Sprache kann ohne Zweifel nicht nur Wege ebnen, sondern auch Grenzen ziehen. Besonders offenbar wird das bei Personen, deren Sprachvermögen durch verschiedenste Ursachen gestört ist, seien es genetische, wie zum Beispiel sprachliche Einschränkungen als Teil des Rett-Syndroms72, oder erworbene, wie
69 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 50. 70 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 51. 71 Vgl. Utz MAAS, Schriftkultur in der Migration – ein blinder Fleck in der Migrationsforschung, Grazer Linguistische Studien 73, 2010, 153. 72 Das Rett-Syndrom ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die auf einer Mutation auf dem X-Chromosom beruht und sich (neben vielem anderen) auch deutlich in der Sprachentwicklung niederschlägt. In einer Fallstudie eines 10-jährigen Mädchens mit Rett-Syndrom zeigte sich in qualitativen Analysen ihrer narrativen Fähigkeiten, dass
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beispielswiese bei Aphasie. Zwischen 5 und 10 % aller Kinder weisen Sprachentwicklungsauffälligkeiten auf73. Aber auch Menschen mit unauffälligem Spracherwerbsverlauf bzw. Sprachvermögen können schnell an ihre Grenzen stoßen, wenn die Notwendigkeit entsteht, sich in einer anderen Sprache auszudrücken. Wenn in dieser Worte und Strukturen fehlen, bleibt oft nur der Rückgriff auf nonverbale Kommunikation. Die damit einhergehende Beschränkung der Reichweite des Kommunikationsmittels ist offensichtlich. Auch der längerfristige Erwerb einer weiteren Sprache neben einer bereits vorhandenen Erstsprache läuft auch in der Regel nicht auf äquivalente Kompetenz in dieser hinaus74. Ein Hängenbleiben auf Pidgin-Niveau ist nicht selten beobachtbar, wo die Sprache unter dem Druck kommunikativer Notwendigkeit (beispielsweise zur Verständigung am Arbeitsplatz) erworben wird und auf diesen engen Bereich beschränkt bleibt75, was gerade für Migrationsverhältnisse kennzeichnend ist. Pidginsprachen machen analog zu frühkindlichen Äußerungen Gebrauch von prägrammatischen Wortfolgen,76 deren Bezüge zueinander nicht eindeutig sprachlich markiert werden. Sie funktionieren dennoch, weil sie in Situationen mit hoch vorhersehbarem Verlauf entstehen und verwendet werden und deshalb mithilfe des außersprachlichen Kontexts und des Wissens der beteiligten Personen interpretierbar sind. Entwickelt sich eine Pidginsprache (die eben nur Verkehrssprache ist) zu einer sogenannten Kreolsprache, indem sie als Muttersprache an Kinder weitergegeben wird und so in viele weitere Bereiche des Lebens
sie ohne starke Hilfe ihres Gesprächspartners ähnlich agierte wie 3-jährige sprachunauffällige Kinder. Ihre Wiedergabe einer Bildfolge entsprach isolierten Bildbeschreibungen ohne Ausdruck temporaler oder kausaler Zusammenhänge. Ebenso fehlte eine räumliche und zeitliche Kontextualisierung und eine Einführung von Aktanten. Vgl. Sonja HEPFLINGER/Ralf VOLLMANN/Christa EINSPIELER/Katrin BARTL/ Peter B. MARSCHIK, Der Zusammenhang zwischen pragmatischen und narrativen Kompetenzen bei einem Mädchen mit Rett-Syndrom, in: Grazer Linguistische Studien 75 (2011), 91–107. 73 Vgl. Rhea PAUL, Clinical implications of the natural history of slow expressive language development. American Journal of Speech-Language Pathology 5, 1996, 5–21; Leslie RESCORLA, Language and reading outcomes to age 9 in late-talking toddlers. Journal of Speech, Language, and Hearing Research 45 (2002), 360–371. 74 Vgl. Jürgen MEISEL, The Bilingual Child, in: Tej K. Bathia/William C. Ritchie (Hg.), The Handbook of Bilingualism, Oxford 2004, 93. 75 Vgl. Maas, Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft, 86 ff. 76 Vgl. Givón, Syntactic Complexity, 9.
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vordringt, werden schnell strukturelle Möglichkeiten erweitert diese zu bestreiten.77 Letztlich zeigen sich aber sogar dort Grenzen, wo sich scheinbar in einer zweiten Sprache eine Sprachkompetenz entwickelt, die mit einer muttersprachlichen vergleichbar ist. Eine vielbeschriebene Konstellation ist, dass Kinder mit Migrationshintergrund, die sich in der Sprache der Mehrheitsgesellschaft unauffällig bewegen, im schriftsprachlichen Bereich, insbesondere in höheren Schulstufen, wo der Umgang mit Texten in den Mittelpunkt rückt, verstärkt Schwierigkeiten haben78. Migration bringt eben nicht nur einfach Mehrsprachigkeit mit sich, sondern integriert Sprachen mit anderem funktionalen Hintergrund (z. B. nicht verschriftlichte Sprachen, die nicht außerhalb des familiären Bereichs verwendet werden) in die europäische Sprachenlandschaft und zum Teil auch andere Vorstellungen von Sprache und Schriftlichkeit, von der Zugänglichkeit sprachlicher und sozialer Räume. Diese verdeckten sprachlichen Komplexitäten scheinen europäische Bildungssysteme bisher vor schier unlösbare Probleme zu stellen, wie einschlägige Berichte – z. B. in Österreich – belegen. Hier muss Unvermögen vom Nicht-Ausschöpfen von Möglichkeiten unterschieden werden. Manche Sprachen weisen eben kein literates Register auf, was noch nicht bedeutet, dass die Menschen, die sie muttersprachlich erwerben, nicht in der Lage sind literat zu kommunizieren, sie tun das gegebenenfalls in einer anderen Sprache. Andere bestreiten ihren Alltag mit mehr als einer Sprache, verlassen jedoch in keiner Sprache den informellen Bereich und bleiben allenfalls in ihrer zweiten Sprache auf rudimentäre Formen beschränkt, da sie funktionieren. Wieder andere erwerben als Erst- oder Zweitsprachen, in denen zwar ein literates Register vorliegt, bleiben aber aufgrund verschiedener Umstände auf orate Kommunikation beschränkt. Erzählungen sind gerade deshalb im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit in der Migration und damit einhergehenden Bildungsfragen interessant, weil sie gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen orater Alltagskommunikation und literater Sprachverwendung einnehmen, zumal sie bereits tendenziell monologisch gestaltet sind und eine gewisse Kontextfreiheit mit sich bringen. Zudem scheinen sie eine universelle Textsorte zu sein. Man kann davon ausgehen, dass in jeder Sprache erzählt wird.
77 Vgl. Derek BICKERTON, Roots of Language, Ann Arbor, 1981, 6. 78 Vgl. z. B. Ulrich STEINMÜLLER, Sprachentwicklung und Sprachunterricht türkischer Schüler, in: Gesamtschulinformationen, Sonderheft 1, 1987.
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F AZIT Sprache eröffnet Räume. Sie tut das im physischen Sinne, indem wir lernen, zeitlich und räumlich Abwesendes sprachlich darzustellen und zu bearbeiten. Mehr noch werden beispielsweise beim Erzählen erdachter Sachverhalte gänzlich fiktive Räume erschaffen. Sie tut das aber auch in einem sozialen Sinne, als wir mit der Beherrschung verschiedener Varietäten und Sprachen größere Unabhängigkeit von bestimmten Situationen und Personen und somit größere Reichweite erlangen können. Sprache kann diese Räume aber auch verschließen, wenn wir nicht der „richtigen“ Sprache oder der notwendigen strukturellen Ressourcen mächtig sind. Das kann der Fall sein, wo aufgrund neurologischer Störungen nicht auf Lexikon und Strukturen zugegriffen werden kann oder man in der Entwicklung noch nicht weit genug fortgeschritten ist und deshalb ebenso prägrammatisch kommunizieren muss79. In stark beschränkten Situationen, deren Verlauf für alle Beteiligten klar ist, ist es dagegen keine Beschränkung, sondern lediglich Ökonomie, auf komplexe, explizite Strukturen zu verzichten und nur das Notwendigste zu versprachlichen, wenn uns nicht sogar ein nicht-sprachlicher Ausdruck, beispielsweise ein Fingerzeig, genügt. Der Erwerb von Schriftlichkeit erfordert und fördert den Umgang mit elaborierten Sprachstrukturen die – idealtypisch betrachtet – alle erdenklichen Sachverhalte ausdrücken können. Auch in modernen westlichen Nationalstaaten gelingt es jedoch nicht, den Zugang zu diesen sprachlichen Ressourcen für alle sicherzustellen. Das auf Einsprachigkeit ausgerichtete System sieht sich insbesondere mit (schrift-)kultureller und sprachlicher Vielfalt überfordert.
L ITERATUR Martin ATKINSON, Prerequisites for Reference, in: Elinor Ochs & Bambi B. Schieffelin (Hg.), Developmental Pragmatics, New York, 1979, 229–249. John L. AUSTIN, How to Do Things with Words, Oxford, New York, 1962. Michael BAMBERG, The Acquisition of Narratives: Learning to Use Language, Berlin, 1987. Elizabeth BATES/Brian MACWHINNEY 1979. A Functional Approach to the Acquisition of Grammar, in: Elinor OCHS/Bambi B. SCHIEFFELIN (Hg.): Developmental Pragmatics. New York, 1979, 167 – 211
79 Vgl. Givón, Syntactic Complexity, 28.
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Der urbane Raum zwischen Freiheit und Reglement Der Einfluss des Neoliberalismus auf partizipative Regierungstechniken in Graz C LAUDIA R ÜCKERT (G RAZ )
„Beteiligung bedeutet nichts Anderes als Verantwortung zu übernehmen.“1 SIEGFRIED NAGL, Grazer Bürgermeister
E INLEITUNG Im Zuge der Globalisierung der Weltwirtschaft und der Verschiebung von Städten als Industriezentren zu Finanzzentren sind ehemalige Industriestädte einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. 2 Diese Transformationsprozesse seit den 1980-er Jahren führten zu neuen Formen des Regierens in postmodernen Städten3, auf die sich diese Arbeit in weiterer Folge konzentrieren wird. Gegenwärtige Stadtpolitiken zeichnet eine Ambivalenz hinsichtlich der Aneignungspraktiken im öffentlichen Raum aus. Dies äußert sich einerseits dadurch, dass der urbane Raum durch progressive Ordnungs- und Wegweisungs1
Werbung für die geplante Bürgerbefragung, in: Woche Graz, 13.06.2012, 19.
2
Gerade bei westlichen Städten lassen sich einige Parallelen in ihrer Entwicklung erkennen, da sie ähnliche Transformationsprozesse von fordistischen bis hin zu postfordistischen Produktionsformen aufweisen. Hinzu kommt, dass sich wohlfahrtsstaatliche Politiken neben der zunehmenden Bürokratisierung des Verwaltungsapparats etabliert haben.
3
Postmoderne Städte werden auch als Global Cities bezeichnet: Vgl. Saskia SASSEN, Metropolen des Weltmarktes, Campus, Frankfurt am Main/New York 1996.
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politiken reglementiert wird und andererseits aktivierende Sozialraumstrategien in westlichen Industriestädten zunehmen, in denen BürgerInnen zum Gemeinwohl und zur Mitgestaltung des öffentlichen Raumes aufgefordert werden. Der gestalterische Freiraum, der von Seiten der Regierung evoziert wird, dient der Entlastung der öffentlichen Haushalte im Zuge neoliberaler Einsparungsmaßnahmen und verbreitet sich im Zuge neuer Demokratisierungsdiskurse in Zeiten bevorstehenden Wahlen. Gegenwärtige Bürgerbeteiligungskonzepte zielen auf die Konstituierung verantwortungsbewusster politisch aktiver Akteure und daher auf die verstärkte Involvierung der BürgerInnen in das politische Geschehen. Die verschiedenen Intentionen hinter den Beteiligungsformen werden durch jene erweitert, die von der Bevölkerung selber stammen. Überblickend kann man von zwei Entwicklungen ausgehen: Der Partizipation von oben, im Sinne politischer Interventionen, und der Partizipation von unten durch die Etablierung von Bürgerinitiativen. Ob BürgerInneninitiativen, BürgerInnenbefragungen oder die Institutionalisierung von BürgerInnensprecherInnen im Gemeinderat – sie alle wollen oder sollen an der Gestaltung des öffentlichen Raumes partizipieren. Gerade diese Demokratisierung von Partizipationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum im Spannungsfeld zwischen Teilhabe und Einschränkung gilt es in weiterer Folge zu untersuchen. Zu Beginn wird in dieser Arbeit auf die Entwicklung von gegenwärtigen Regierungstechniken als Folge neoliberaler Ordnungskonzeptionen, speziell in Österreich, eingegangen. Als empirisches Beispiel soll schließlich die Stadt Graz den Wandlungsprozess veranschaulichen. Neben einem Exkurs über die Eigenlogik der Stadt Graz wird auf die Expansion von Partizipationsformen im Kontext der Krise der „Repräsentativen Politik“ eingegangen.
N EOLIBERALE R EGIERUNGSTECHNIKEN Die gegenwärtigen Formen des Regierens wurden in Österreich durch den Abbau des Sozialstaates seit den 1970-ern, insbesondere ab den 1980-er Jahren, sichtbar. Zudem versprachen sich Ökonomen aus Privatisierungs- und Entstaatlichungsmaßnahmen eine Entlastung der öffentlichen Haushalte und eine Verschiebung der Gewichte von staatlicher Lenkung auf marktwirtschaftliche Steuerung. Außerdem wurden soziale Absicherungen zunehmend gekürzt und sukzessiv von der staatlichen auf die individuelle Vorsorge übertragen. Im Zuge dieser Privatisierungs- und Entkoppelungs-Maßnahmen entzieht sich der Staat zunehmend der Verantwortung, den BürgerInnen soziale, kulturelle und ökonomische
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Absicherungen zu bieten und verliert die Rolle des Garanten für staatliches Gemeinwohl. Die Privatisierung sozialer Risiken hat für das Individuum in Zeiten des Neoliberalismus zur Folge, dass er/sie seine/ihre Lebensbedingungen niemand anderem zuschreiben kann als sich selbst. 4 Gegenwärtig wird daher „die Verantwortung für gesellschaftliche Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut und (Über-)Leben in der Gesellschaft in den Zuständigkeitsbereich von kollektiven und individuellen Subjekten (Individuen, Familien, Vereine etc.) übertragen und zu einem Problem der Selbstsorge transformiert.“5 Die neoliberale Strategie zielt daher auf die Konstruktion verantwortlicher Subjekte, die die Wahl der Entscheidungsoptionen selbst treffen müssen. In diesem Kontext ist auf Michel Foucaults Regierungsbegriff zu verweisen, als „die Weise, in der die Führung von Individuen oder Gruppen gelenkt wurde. […] Regieren heißt in diesem Sinne, das Feld des eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren.“6 Es handelt sich hierbei um einen sehr weiten Regierungsbegriff, da er einerseits auf das Handeln der herrschenden Instanz hinweist und andererseits die Selbstverwaltung der einzelnen Individuen miteinschließt. Bei gegenwärtigen gouvernementalen Regierungstechniken wird die Freiheit der Individuen zu einem zentralen Element.7 Stadtpolitiken zielen gezielt darauf ab, Zuständigkeitsbereiche abzugeben und zu individualisieren. Die Zunahme von Eigenverantwortung, Lebensplanung und Optimierung der eigenen Möglichkeiten sind daher als Folgeerscheinungen neoliberaler Ordnungskonzeptionen zu betrachten. Der internalisierte Leitgedanke lautet daher: Die persönliche Existenz nach ökonomischen Kriterien möglichst optimal zu gestalten, das eigene Leben wie ein Unternehmen zu führen. Selbstökonomisierung ist nicht die Grenze des Handelns der Regierung, sondern der Ort ihrer Wirksamkeit.
4
Vgl. Ulrich BRÖCKLING, Das unternehmerische Selbst, Soziologie einer Subjekti-
5
Thomas LEMKE: Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer
vierungsform, Frankfurt am Main 2007. Überblick über die gouvernmentality studies, http://www.thomaslemkeweb.de/ engl.%20texte/Neoliberalismus%20ii.pdf (20.01.2011), 38. 6
Michel FOUCAULT, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt 1987, 255.
7
Vgl. Michel FOUCAULT, Geschichte der Gouvernementalität, Bd. I und II, Vorlesungen am College de France (1975–1979), Frankfurt am Main 2004.
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D IE S TADT G RAZ Graz ist die Hauptstadt des Bundeslandes Steiermark und mit in etwa 265.000 EinwohnerInnen die zweitgrößte Stadt Österreichs. Graz ist bezeichnend für eine „historische Teilung der Stadt in zwei, nach sozialer Zugehörigkeit unterschiedlicher Hälften“8. Das rechte Murufer ist durch eine tendenziell kapitalschwache, kulturell vielfältige BewohnerInnenschaft gekennzeichnet. Insbesondere die Bezirke Gries und Lend werden aus konservativer Sicht gerne als „ArbeiterInnen- und Migrationsviertel“ bezeichnet. Das linke Murufer hingegen ist gezeichnet durch Interessen des Bildungsbürgertums und noble Altstadtwohnungen – MieterInnen mit Migrationshintergund sind hier die Ausnahme.9 Neben diesen habituell prägenden Eigenschaften einer Stadt10 wird Graz mit über 45.000 StudentInnen auch als „Studentenstadt“ bezeichnet. Zudem sollen namenhafte Labels das Image der Stadt unterstützen, um in der internationalen Städtekonkurrenz einen wichtigen Platz einzunehmen: „Die Stadt der Menschenrechte“, „UNESCO City of Design“, „Genusshauptstadt“; die Grazer Altstadt und das Schloss Eggenberg erhielten das Etikett „UNESCO-Weltkulturerbe“ – um hier nur einige zu nennen. Um diesen Labels gerecht zu werden, nahmen normierende Ordnungs- und Sauberkeitsdiskurse zu. Vor allem seitdem Graz im Jahr 2003 den Titel der „Kulturhauptstadt Europas“ innehatte, kam es zu umfassenden Gentrifizierungs- und Wegweisungsprozessen. Einige Plätze wie der Hauptplatz, der Jakominiplatz, der Hauptbahnhof oder der Freiheitsplatz wurden „gesäubert“. Der Fokus der Stadtpolitik lag hier auf Räumen, denen ökonomisch mehr Bedeutung zukommt als anderen Teilen der Stadt. Menschen aus sozial benachteiligten Milieus wurden systematisch ausgeschlossen bzw. daran gehindert, sich in ästhetisierten Konsumräumen aufzuhalten. Um das Konsumverhalten anzuregen und so den wirtschaftlichen Profit zu fördern, ist die Stadt Graz an der Schaffung von subjektiven Sicherheitsräumen interessiert. Wer sich sicher fühlt, der bleibt und konsumiert. Dies wird am Beispiel von Einkaufszentren oder dem Grazer Hauptbahnhof deutlich, wo mittels Videoüberwachung und
8
Elisabeth KATSCHNIG-FASCH, Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schat-
9
Auch wenn durch eine repetierende Beschreibung der beiden Murufer die soziale
ten des Neoliberalismus, Wien 2003, 12. Polarisierung wiederum festgeschrieben werden, muss aufgrund der habituellen Eigenlogik der Stadt auf diese Trennung eingegangen werden. 10 Vgl. Rolf LINDNER, Textur, ›imaginaire‹, Habitus. Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt am Main 2008.
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Kontrollorganen unerwünschten Personen wie BettlerInnen der Zutritt verweigert wird. Schließlich wurde auch die sichtbare Armut in Graz zu einem umstrittenen Diskurs und führte zum Bettelverbot in Graz, welches Anfang des Jahres 2013 aufgrund von Menschenrechtswidrigkeit vom Verfassungsgerichtshof wieder außer Kraft gesetzt wurde. 11 Andere Räume, wie das Gebiet um den Lendplatz, sind von einem regelrechten „Aufwertungsprozess“ betroffen. Abbruch und Neubau, Ansiedlung von „Kreativen“, künstlerische Platzgestaltungen und eine verdichtete Arbeit am Sozialen durch Projekte unterschiedlicher Felder (Architektur, Kunst, Wissenschaft, Soziale Arbeit, BewohnerInnen) begleiteten diesen „Gentrifizierungsprozess“. In dieser Vielfalt städtischer Transformationsprozesse ist die Stadt Graz nur ein Beispiel an vielen. Vor allem deutsche oder schweizerische Städte weisen sehr ähnliche Entwicklungen auf.12 Sozialräume in Graz Regierung durch die Aktivierung des Engagements der Einzelnen zeichnet sich in postmodernen Städten durch die Etablierung von stadtteilbezogenen Sozialbudgets aus.13 Neue Regierungskonzepte werden als „Regieren durch Community“14 bzw. „Gemeinschaft“ bezeichnet. Die Stadt- und Raumplanung wendet sich vom Bild der Stadt als regierbare Einheit ab und legt den Fokus auf lokale Zuständigkeitsbereiche.15 Auch in Graz setzt man vermehrt auf stadtteilbezogene Entwicklungen: „Die Politik will indes die nächste Stufe des Beteiligungsmo11 Bettelverbot ist verfassungswidrig, http://steiermark.orf.at/news/stories/2566498/ (10.01.2013). 12 Vgl. Johanna ROLSHOVEN, SOS. Neue Regierungsweisen oder Save our Souls – ein Hilferuf der Schönen Neuen Stadt, in: bricolage (Innsbrucker Zeitschrift für Europäische Ethnologie) 6 (2010), 23–35. 13 Zum Vergleich: In Wien spricht man von „Grätzelmanagement“, einem vom deutschen „Quartiersmanagement“ abgeleiteten Begriff. Auch hier ist eine Weiterentwicklung der Gebietsbetreuung gemeint, in der möglichst allen Aspekten des Zusammenlebens sektorenübergreifend nachgegangen werden soll. Der Begriff „Quartiersmanagement“ wurde erstmals 1999 im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“ entwickelt. 14 Nikolas ROSE, Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, 72–109. 15 Im österreichischen Wohlfahrtsstaat wurde über eine zentralistische Bürokratie regiert.
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dells zünden. Nachdem in den vergangenen Jahren die gesamte Stadt im Fokus stand, soll jetzt verstärktes Augenmerk auf kleinräumige Entwicklungsgebiete wie Platz- oder Straßenzug- Revitalisierungen beispielsweise im Bezirk Gries gelegt werden.“16 Räume und die sich darin befindlichen Menschen werden zu kleineren regierbaren Einheiten gewandelt. Die verstärkte Vernetzung der BewohnerInnen mit eigenen Sozialeinrichtungen soll zudem die Ressourcen, die sich in einem BewohnerInnenumfeld finden, verstärkt nutzbar machen. Dahinter verbirgt sich der Leitgedanke, dass die Aktivierung der BewohnerInnen dazu führen könnte, dass sie in ihr Lebensumfeld als politische und selbstverantwortliche Akteure eingreifen. Die Stadt Graz wurde 2010 in vier Sozialräume eingeteilt, die durch eigene Budgets die Zuständigkeitsbereiche der Stadtregierung entlasten sollen. In diesen kleinräumigen Dienstleistungszentren finden die BewohnerInnen Unterstützung auf sozialer, medizinischer und rechtlicher Ebene. Ergänzt werden die institutionell verankerten Einheiten durch eine Gruppe von „Aktiv-BürgerInnen“, die sich umfassend über ihr Viertel und ihre Gemeinschaft informiert – eine Gruppe, die häufig aus ehemaligen AktivistInnen sozialer Bewegungen hervor gegangen ist.
16 Graz: Bürgerbeteiligung mit Hürden aber Hoffnung, http://diepresse.com/home/ panorama/oesterreich/702791/Graz_Buergerbeteiligung-mit-Huerden-aber-Hoffnung (20.10.2011).
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Abb. 1: Sozialraumorientierung in Graz
Sozialraumorientierung in Graz, http://www.graz.at/ cms/ziel/2123962/DE (23.10.2011)
Für das Grazer Sozialraummodell orientierte man sich an dem Konzept des deutschen Pädagogen Prof. Dr. Wolfgang Hinte17, der hier in Auszügen folgende Grundsätze der Sozialraumorientierung formuliert: „Aktivierende Arbeit hat Vorrang vor betreuender Unterstützungsleistung im Sinne von: Mit den Menschen statt für die Menschen. […] Miteinbeziehung der Menschen in die Gestaltung des Lebensraumes. […] Eigene Ressourcen aufzeigen und mobilisieren - im Unterstützungsprozess gilt es, Menschen zu befähigen, ihre eigenen Ressourcen zu erkennen und zu nutzen und ebenso die Ressourcen des Lebensraumes zu kennen und in die Hilfeplanung mit einzubeziehen. […] Das Fachkonzept Sozialraumorientierung setzt in erster Linie am Willen (= eigene Motivation für Veränderung) der BürgerInnen an. Aus dem Willen entstehen von den Betroffenen formulierte Ziele, die möglichst kleinteilig und überprüfbar sind, die Aufgabe der Fachkräfte besteht darin, gemeinsam mit den Betroffenen deren Willen herauszufinden, festzulegen und die darauf aufbauenden Ziele zu formulieren, damit die Betroffenen diese Ziele möglichst selbst erreichen können bzw. im Bedarfsfall von Fachkräften darin unterstützt werden.“ 18 An diesen Auszügen 17 Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) an der Universität Duisburg-Essen. 18 Sozialraumorientierung in Graz – Portal der Landeshauptstadt Graz, http://www.graz.at/ cms/ziel/2123962/DE (01.01.2012).
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wird sichtbar, dass die Gouvernementalisierung der Städte nicht nur auf diskurstheoretischer Ebene Anwendung findet, sondern bereits in die Praxis Eingang gefunden hat. SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, ÄrztInnen und JuristInnen fordern die BewohnerInnen auf, UnternehmerInnen ihrer selbst und ihrer Umwelt zu werden. Allen gemeinsam ist die Entlastung der Verantwortungsaufgaben der öffentlichen Hand. Zudem wurde deutlich, dass zwar die Einbringung der BewohnerInnen in die Gestaltung des öffentlichen Raumes erwünscht, jedoch nur unter fixen Vorgaben möglich ist. Verantwortung für den Lebensraum zu übernehmen heißt, den Lebensraum als öffentlichen Raum wahrzunehmen und in Wirklichkeit die Ordnungs-bestimmungen der regierenden Instanz zu internalisieren. Dennoch muss diese Entwicklung nicht nur als Instrumentalisierung sondern auch als Partizipationsgewinn für die BürgerInnen betrachtet werden.
A KTIVIERENDE S TADTPOLITIKEN Aktivierende Stadtpolitiken sind im Zuge stadtplanerischer Debatten zentraler Bestandteil neuer Regierungstechniken geworden. Die BürgerInnen werden dazu angehalten, mehr soziales Engagement für den Stadtraum, ihren Lebensraum zu übernehmen. Die Etablierung von BürgersprecherInnen im Grazer Gemeinderat, die Einbeziehung von BewohnerInnen in den Gestaltungsprozess von Neubauten oder größeren Umgestaltungen sowie die von der Grazer FPÖ und ÖVP angeregte Debatte, dass GrazerInnen Zuständigkeitsbereiche für eine Straße, Park und Grünanlagen bekommen sollen, zeugen von dieser Entwicklung. So wie die „Aktiv-Bürger“ 19 als „unternehmerisch handelnde Agenten“ Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen müssen, soll dies auch für ihren Lebensraum gelten. Bürgerbeteiligung in Graz Nach den ersten Bürgerinitiativen seit den 1960-ern, deren Zahl seitdem kontinuierlich anwuchs, wurden Partizipationsmöglichkeiten für BürgerInnen in die Grazer Stadtverwaltung institutionalisiert. In den 1980-er Jahren entstand erst-
19 Seit 2012 als stark florierender politischer Begriff in Graz in Verwendung. Ursprünglich stammt er aus dem Staatsrecht und beschreibt eine/n StaatsbürgerIn mit aktivem Wahlrecht und im vollen Besitz seiner politischen uns bürgerlichen Rechte. Im Gegensatz dazu, besitzt der/die „Passiv-BürgerIn“ kein Wahlrecht, http://www.duden.de/ rechtschreibung/Aktivbuerger (20.04.2012).
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mals ein Büro für BürgerInnen, in dem diese ihre Ideen einbringen konnten. 2006 wurde der Beirat Zeit für Graz gegründet, aus dem sich in Folge das Bürgerforum Mehr Zeit für Graz entwickelte. Daraus bildete sich 2009 ein Beirat für BürgerInnen-Beteiligung mit eigenem Arbeitskreis.20 Auch wenn die Beteiligten mit dem Versprechen von Gestaltungsmöglichkeiten geworben werden, sind es feststehende Rahmenbedingungen, in denen sie wirken können. Diese Institutionen klagten darüber, dass sie der Stadtpolitik gegenüber machtlos sind. Daher kam es 2011 zur Gründung der Plattform für Bürgerinitiativen Wir BürgerInnen für Graz, um der Politik klar zu machen, dass sie ernst genommen werden wollen.21 Diese Plattform ist nicht Teil der Stadtverwaltung, sondern wird ehrenamtlich und ohne institutionelle Verankerung betrieben. Folgendes Zitat soll die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit partizipativer Politik verdeutlichen: „‚Man kann gemeinsam viel Positives bewegen‘, ist Bürgermeister Siegfried Nagl (VP) entsprechend stolz. […] Eine Feinanalyse und vor allem die anhaltend kritischen Hintergrundgeräusche der Aktivbürger selbst relativieren die Zufriedenheit allerdings. ‚Wir wollen im Konsens mit der Stadt arbeiten, haben aber das Gefühl, dass manchmal nichts weitergeht‘, resümieren Raimund Berger und Karin Steffen (Sprecher des Beirats für Bürgerbeteiligung).“22 Von der verstärkten Partizipation der Zivilgesellschaft zeugt die Auflistung von derzeit 49 laufenden Bürgerinitiativen auf der Homepage der Stadt Graz.23 Diese Bürgerinitiativen haben verschiedene Wurzeln. Sie finden sich wie im zuvor angesprochen Kontext stadtplanerischer Debatten als zentraler Bestandteil von Regierungstechniken oder sie stammen aus Protestbewegungen sogenannter „Wut-BürgerInnen“ und „Politikverdrossenen“, auf die noch eingegangen wird. Zusammenfassend sind in Graz drei verschiedenen Arten partizipatorischer Politik ersichtlich:
20 In diesem Beirat wurden in den letzten drei Jahren insgesamt 300 eingereichte Projekte bearbeitet, wovon 12% abgeschlossen wurden, sich 47% in Umsetzung befinden, der Rest in Planung oder nicht realisierbar ist. 21 Vgl. Wir BürgerInnen für Graz – Aktion 21 Austria – Pro Bürgerbeteiligung, https:// aktion21-austria.at/initiativen/wir-b%C3%BCrgerinnen-f%C3%BCr-graz (13.09.2011). 22 Graz: Bürgerbeteiligung mit Hürden aber Hoffnung, in: http://diepresse.com/home/ panorama/oesterreich/702791/Graz_Buergerbeteiligung-mit-Huerden-aber-Hoffnung (20.10.2011). 23 Liste Bürgerinitiativen – Stadtportal Landeshauptstadt Graz, http://www.graz.at/cms/ beitrag/10085904/422037/ (13.06.2012).
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Abb.2: Bürgerorientierte Politiken in Graz
Idee der Gemeinschaft Strukturell verbirgt sich hinter Bürgerinitiativen die Idee der Teilhabe der Gemeinschaft an der Gestaltung des öffentlichen Raumes. Ursprünglich wurde der Begriff in den 1960-ern in einer Vielzahl von sozialen Bewegungen als kollektiver Widerstand gegen das starre wohlfahrtstaatliche System und die Massengesellschaft verstanden. In den 1960-er Jahren wuchs das öffentliche Interesse und die Kritik an der Gestaltung des öffentlichen Raumes – international und auch in Graz, wo es 1957 zur Konstituierung der ersten Bürgerinitiative kam. 24 Der Neoliberalismus machte sich die Kritik am Wohlfahrtstaat zu Eigen und instrumentalisierte die Widerstandsbewegungen, indem sie Teil von Regierungskonzepten wurden. Damit BürgerInnen Verantwortung für den öffentlichen Raum übernehmen, müssen sie an den für ihr Leben zentralen Entscheidungen partizipieren können. Um die Funktionalität der Idee der Gemeinschaft zu gewährleisten, soll diese Vorstellung Teil der persönlichen Identität werden. 25 Nikolas Rose weist in diesem Kontext darauf hin, dass in Gemeinschaften die BewohnerInnen das
24 Verein zur Rettung des Grazer Schauspielhauses, Vgl. http://www.maribor-graz.eu/ primcell.php?lang=dt&jahr=1957&wid=1920&hei=921 (02.01.2013). 25 Vgl. Graz braucht dich – Slogan der von VP Bürgermeister Siegfried Nagl initiierten BürgerInnenbefragung.
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Gefühl haben sollen Einfluss auf ihre Gemeinde zu haben und sich so integriert fühlen, was dazu führt, dass sie sich am politischen Geschehen beteiligen.26 Bürgerbeteiligungen sind keine Gegenbewegungen zum Neoliberalismus, sie sind vielmehr in Gefahr, ein Bestandteil hegemonialer Ordnungsstrukturen zu werden. Es geht hier nicht darum, eine den Sachverhalt vereinfacht darzustellen und potentiellen Widerstand gegen hegemoniale Zustände zu entkräften, sondern es geht um den Hinweis, dass Bürgerbeteiligungen instrumentalisiert werden können. Zudem verstärken sie die Gründe dafür, gesellschaftliche Probleme als moralisch und kulturell bedingt zu betrachten. Dies führt zur Unterscheidung zwischen denen, die sich engagieren bzw. beteiligen27 und denen, die es nicht tun. Erstere tragen durch ihr Engagement dazu bei, dass ihre Partizipation moralisiert wird. Gerade deswegen wird aktivierenden Sozialraumpolitiken von politischen BeraterInnen große Konfliktlösungskompetenz zugesprochen, da diese sowohl als soziale Netze als auch als ethische Instanzen fungieren.28 Die normierende Funktion des Kollektivs Die starke Bindung an gemeinschaftliche Werte hat weiterhin zum Ziel, dass Abweichung und Devianz verhindert werden sollen, da diese weniger durch staatliche Gesetze als durch sozialen Druck bekämpft werden können. Es ist weniger das Recht, das die sozialen Beziehungen reguliert, sondern vielmehr gemeinsame Werte und Regierungsweisen.29 Die normierenden Tendenzen in urbanen Räumen sind äußerst kritisch zu betrachten. Zygmund Bauman wies darauf hin, dass „je wirkungsvoller das Streben nach Homogenität ist und die Neigung Differenzen auszumerzen, desto schwieriger wird es, sich in der Gegenwart von Fremden wohl und zu Hause zu fühlen; je bedrohlicher die Differenzen erscheinen desto größer die Angst, die sie erzeugen. […] Das Projekt der Säuberung und Homogenisierung ist selbstzerstörerisch wie selbstverstärkend.“30 Infolge dessen wird bei Individuen, die sich nicht selber aktivieren können oder sollen – wie beispielweise Mitglieder der Grazer 26 Vgl. Rose, Tod, 86. 27 Laut Duden bezieht sich die sprachliche Herkunft von „beteiligen“ auf „Anteil geben“, http://www.duden.de/rechtschreibung/beteiligen (20.04.2012). 28 Vgl. Amitai ETZIONI, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Das Programm des Kommunitarismus, Frankfurt, 1998. (Vertreter des Kommunitarismus und politischer Berater. 29 Vgl. Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 1994. 30 Zygmund BAUMAN, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003, 127.
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Punkszene am Hauptplatz – gerade deswegen ihr Ausschluss aus der Öffentlichkeit legitimiert. Letztendlich sind die Ziele fluktuierender Überwachungs- und Ausschließungsmechanismen die Homogenisierung und der ökonomische Profit, der aus heterogenen Räumen, die zu Konsumräumen erklärt werden, geschlagen werden kann. Patenschaften für Graz Eine weitere städteübergreifende Debatte ist jene der Verteilung von Patenschaften für öffentliche Räume. BürgerInnen oder Vereine sollen Fürsorge für Straßen, Plätze oder Grünanlagen tragen. Erstmals angeregt wurde das Thema in Graz im Juli 2011 von der FPÖ und wieder aufgegriffen von der ÖVP im Jänner 2012. Vorrangig wurde die notwenige Ästhetisierung des Stadtraums deklariert, denn „die 100% Sauberkeit unseres Stadtbildes kann aber die Verwaltung alleine nicht erreichen.“31 Hingewiesen wird bei dieser Debatte auf Bürgerbeteiligungskonzepte in deutschen Städten, wo BürgerInnen bereits in die Verschönerung des Stadtraums involviert werden. Zudem spielen Sicherheit und Nachbarschaftskontrolle eine wesentliche Rolle, denn die jeweils zuständigen PatInnen werden zur Meldung von Beschädigungen oder Verunreinigungen aufgerufen. „Beteiligung schafft Sicherheit. ‚Die Bürger wollen ja mitmachen, aber nur, wenn es ihre direkte Umgebung betrifft. […] Es geht nicht um Bewachung, sondern, dass sich jemand verantwortlich fühlt. Wenn etwa Scherben am Spielplatz liegen, soll der Pate einfach anrufen‘, so Korschelt [FPÖ Politiker]. Aus diesen Patenschaften entsteht dann ein Wir-Gefühl in der direkten Umgebung, ist Korschelt überzeugt. Dieses Gefühl soll auch mit Kampagnen wie Graz heißt Zuhause unterstützt werden.“32 Die als notwendig proklamierten Reinigungsinitiativen werden jedoch nicht nur von PolitikerInnen in Graz forciert. Die Kleine Zeitung initiiert jährlich im Frühjahr die Aktion Frühjahrsputz. Die politische Unabhängigkeit der Aktion geriet jedoch in Zweifel, wenngleich sie von der Holding Graz (gehört zu 99,46% der Stadt Graz) und von VP-Gemeinderat Kurt Hohensinner unterstützt wird, der das Konzept der Patenschaft etablieren wollte. Schulen, Vereine und 31 Bürgerliches Engagement für ein noch schöneres Graz, http://www.graz.at/ cms/dokumente/10188031_4428067/370f90d4/2012-02-09%20B%C3%BCrgerliches %20Engagement%20f%C3%BCr%20ein%20noch%20sch%C3%B6neres%20Graz.pd f (14.02.2012), 1. 32 FPÖ: Bürgereinsatz gegen Vandalismus, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/ graz/2794424/fpoe-buergereinsatz-gegen-vandalismus.story (25.07.2011).
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Privatpersonen wurden dazu aufgerufen, Mithilfe zu leisten, „miteinander“ den Stadtraum zu säubern. „[...] Der Mist vor der Haustür stört so manchen Bürger. Gemeint ist damit aber nicht nur die eigene Haustür. Es geht vielmehr um öffentliche Flächen, wie Straßen, Plätze oder Parkanlagen. Die Kleine Zeitung lädt die Grazerinnen und Grazer ein, selbst Hand anzulegen – oder „Schandflecken“ aufzuzeigen. […] Und auch die Holding-Graz-Vorstände Wolfgang Malik und Wolfgang Messner begrüßen diese Aktion: ‚Unsere Serviceabteilungen stehen gerade in einer Intensivphase bei der Reinigung der Stadt. In etwa drei Wochen sollen Straßen, Plätze und Parkanlagen in Hochglanz erstrahlen. Wir sind aber natürlich über jeden Hinweis aus der Bevölkerung froh.‘ Doch auch ÖVPGemeinderat Kurt Hohensinner klinkt sich umgehend ein. Diese Aktion sei absolut unterstützenswert, weil sie im Streben nach einer sauberen Stadt die Bevölkerung mit einbindet‘. Denn seiner Meinung nach müsse die Politik mehr denn je‚ das Engagement vieler Bürger für ihre Stadt bündeln und nutzen‘, betont Hohensinner.“33 Das Bewohnen eines Ortes in der Stadt soll im Sinne des Sauberkeitsdiskurses nutzbringend sein, Potentiale ausgeschöpft und „bei Nachbarn auch präventiv dafür Stimmung gemacht werden.“34 Die Auswirkungen auf sozialer Ebene sind unübersehbar: Wenn jemand eine Straße nicht ordnungsgemäß passiert, sie vielleicht sogar beschmutzt, braucht nicht die Grazer Ordnungswache einschreiten – die BewohnerInnen disziplinieren sich selbst. 35 Unsere Gesellschaft ist durch ein indirektes Strafsystem gekennzeichnet, dass sich jeder aneignet und dessen Strukturen undurchdringbar sind.36
33 Bringen wir Graz auf Hochglanz, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/graz/ 2960558/bringen-graz-hochglanz.story (01.03.2012). 34 Ders. 35 Vgl. Die Grazer Ordnungswache wurde 2007 gegründet und dient der Gewährleistung von „Ordnung“ und „Sicherheit“ im öffentlichen Raum. Sie untersteht dem Landessicherheitsgesetz und ist für Alkoholverbotsordnungen, Anstandsverletzungen oder Bettelei zuständig. 36 Vgl. Foucault, Überwachen, 1994.
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Bürgerbeteiligungskonzepte im Zuge der Krise der Repräsentativen Demokratie Bürgerbeteiligungskonzepte sind in den letzten Jahren wesentliche Momente politischer Programme geworden. Das politische System Österreichs befindet sich in einer Krise, in der das Ansehen der PolitikerInnen stets neu verhandelt werden muss. Die „Repräsentative Politik“ alleine reicht nicht mehr aus um die Interessen der BürgerInnen zufriedenstellend zu vertreten. Gerade die Etablierung und Ausweitung kollektiver Beteiligungsformen am politischen Geschehen weist auf einen Wandel im politischen System hin. Kontextuell ist die Krise Repräsentativer Demokratie in beinahe allen westlichen Demokratien zu verzeichnen, in denen seit den 1980-ern die Wahlbeteiligung sukzessive abnahm. Abb.3: Wahlbeteiligung bei den Nationalratswahlen in Österreich seit 1945
https://thesandworm.wordpress.com/category/politik/ (Datensätze von Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch, Punkt 36: „Wahlen“, in: http://www.volkszaeh lung.at/web_de/services/stat_jahrbuch/index.html (12.07.2013).
Allein in Graz ist die Wahlbeteiligung bei der letzten Gemeinderatswahl 2012 auf 55,47% gesunken. 37 Als herrschende Institution ist eine Regierung darauf angewiesen, auf die Stimmung und Wünsche der BürgerInnen einzugehen.
37 Vgl: Wahlbeteiligung zeigt „Stadt-Land-Gefälle“, http://www.graz.at/cms/beitrag/ 10203341/4829113/ (30.11.2012).
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Macht wirkt, wie uns bereits Foucault verdeutlichte, von unten nach oben – sie muss Anerkennung finden, um wirken zu können. Bürgermeister Siegfried Nagl machte sich die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung an dem politischen Geschehen zu Nutze und übernahm das Modell der Bürgerbefragungen nach Schweizerischem Vorbild, wo es gesetzlich verankert ist. Egal, wie die anderen Parteien darauf reagier(t)en, er war und ist derjenige, der in Zeiten bevorstehender Wahlen, den BürgerInnen gegenüber Nähe ausdrücken und ein neues Demokratiekonzept einführen will. Mit der Aussage: „Ich breche das politische System“38 wies er darauf hin, dass er es ist, der erstmals in Österreich ein Modell der direkten Demokratie realisieren will. „Es ist kein Geheimnis, wir alle wissen längst, dass die Art und Weise in der heute Politik gemacht wird, sich dringend ändern muss. […] Es ist wichtig, jene in politische Entscheidungen einzubinden, die davon unmittelbar betroffen sind: die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Graz. Denn sie wissen ganz genau, in welche Richtung sich die Stadt entwickeln soll.“39 Wichtig ist in diesem Kontext zu erwähnen, dass Bürgerbeteiligungskonzepte ein politisches Programm darstellen, das alle Parteien miteinschließt. Für die Stadt Graz war jedoch die ÖVP an der Diskursverbreitung über bürgerliche Partizipation ausschlaggebend. Im Februar 2012 stellte Nagl sein Bürgerbeteiligungsmodell Graz braucht dich vor, das mittlerweile zum zweiten Mal angewandt wurde. In den Medien wurden von der Partei in regelmäßigen Abständen Werbungsannoncen40 geschaltet: „Ich halte die Einbindung der Bevölkerung für ein Gebot der Stunde“ sagt VP-Bürgermeister Siegfried Nagl, „Bevölkerung und Politik haben sich sehr weit voneinander entfernt. Heute regieren Politikverdrossenheit und Frust, die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Regierer. Das ist das Resultat eines langen Prozesses. Ich will die Koalition mit den Bürgerinnen und Bürgern und sie in die politische Willensbildung einbinden. Denn: Beteiligung bedeutet nichts Anderes als Verantwortung zu übernehmen.“41 Der Bürgermeister reagierte auf die politische Unzufriedenheit, die sich in der Bevölkerung ausgebreitet hatte, indem er neue Ideen partizipatorischer Politik für sein Parteiprogramm anwandte. So gelang/gelingt es ihm, einerseits neue Beteiligungsanforderungen von Seiten der Bevölkerung einzubeziehen und andererseits die Verwaltung der Stadt Graz an gouvernementale Regierungstechniken in Zeiten des Neoliberalismus anzupassen. Der letzte Satz deutet be38 Stadtgespräch, in: G7/Die Stadtzeitung, 29.01.2012, 10. 39 Werbung, in: Die Woche, 13.06.2012, 22. 40 Häufig als Zeitungsberichte getarnt, da sie dieselben graphischen Formatierungen aufweisen und dieselbe Schriftart benützt wird. 41 Werbung für die geplante Bürgerbefragung, in: Woche Graz, 13.06.2012, 19.
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reits auf die aktivierenden Politiken hin, in denen es gilt, Verantwortung an die BewohnerInnen einer Stadt abzugeben. Abb. 4: Initiative „Graz braucht dich“ der Grazer Volkspartei
Initiative Graz braucht dich der Grazer Volkspartei, www.info-graz.at (20.04.2012)
Um sein Partizipationskonzept zu untermauern, lud Siegfried Nagl in einer Sitzung des Bürgerbeteiligungsbeirats (BBB) weitere Experten ein. Dabei bezog man sich nicht nur auf Modelle in der Schweiz, sondern auch auf Beteiligungsexperten aus Deutschland: So resümierte Helmut Klages42 aus Speyer in einem Vortrag über Beteiligungsmodelle in Leipzig und Heidelberg. Auch hier zeigt sich, dass es nicht nur um die Einbeziehung von BürgerInnen in politische Entscheidungen handelt, sondern dass Fürsorge von Seiten der Bevölkerung übernommen werden soll. „Es geht darum, dass Bürger frühzeitig eingebunden werden und mitbestimmen können. […]‘. Ein Zugang, den auch Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) forcieren möchte: ‚Beteiligung heißt, Verantwortung zu übernehmen; Beteiligungskonzepte sind eine Chance, Konflikte erst gar nicht entstehen zu lassen‘.“43 Doch der BürgerInnenbeirat und die Veranstaltung bleiben von Seiten der Bürgerinitiativen nicht kritiklos. Daher besteht auch innerhalb der Initiativen und vor allem gegenüber BürgersprecherInnen aus dem Gemeinderat ein Spannungsverhältnis. Eine Obfrau des Schutzvereins Ruckerlberg und Mitglied bei Mehr Zeit für Graz kritisierte die Veranstaltung. Sie „hörte nur die üblichen Verspre-
42 Deutscher Soziologe und Verwaltungswissenschaftler. 43 Stadtgespräch, in: G7/Die Stadtzeitung, am 04.12.2011, 16.
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chungen und wieder nichts Konkretes“.44 Im Heidelberger Modell ist vorgesehen, dass BürgerInnen 3.000 Unterschriften benötigen um ein Thema in den Gemeinderat einbringen zu können, darauf reagierte der Obmann der Bürgerinitiative Andritz, Erich Cagran: Die Sitzung und der Bürgerbeirat „sei von der Stadt als Feigenblatt und Firewall gegen aktive Initiativen installiert worden“.45 Das Reglement hinter den Partizipationsangeboten bleibt nicht im Verborgenen, so erntete die Bürgerbefragung von ÖVP-Bürgermeister Nagl von anderen Parteien als auch von den Aktiv-BürgerInnen Kritik. Die Moralisierung der BürgerInnen Um auf die zuvor angesprochene moralische Auswirkung von Bürgerbeteiligungskonzepten zurück zu kommen – soll ein Interviewauszug veranschaulichen, dass eine Protesthaltung mit mangelndem sozialem Engagement gleichgesetzt wird: „Herr Bürgermeister, was ist ihr Wunsch vom Christkind für Graz? – Dass alte Tugenden wieder eine größere Rolle spielen – das sind Bescheidenheit, Dankbarkeit und der Gemeinschaftssinn. Ich spüre, dass die Menschen wieder aggressiver werden, die sogenannten ‚Wutbürger‘46 nehmen zu. Wir können als Politiker viel tun, um das Zusammenleben zu gestalten. Aber letztendlich ist auch jeder einzelne gefordert. Man kann sich hinstellen und nur schimpfen oder man kann etwas beitragen, dass es uns besser geht“.47 Die „Wut-BürgerInnen“ bzw. Politikverdrossene stehen unter Kritik, man wirft ihnen vor, dass sie sich anstatt mit den Angeboten der Partizipationsmöglichkeiten zu arrangieren, unkonstruktive Rebellion betreiben und zu wenig soziales Engagement vorweisen würden. In diesem Kontext spricht die Grazer ÖVP von Leitsätzen wie „Es ist an der Zeit, dass aus Wutbürgern Mutbürger werden“ und von „fehlender Zivilcourage, die in diesem Fall wieder gelernt werden müsse“.48 Es zeigt sich, dass die Widerständigkeit von Nicht-Wählern in das politische System durch Moralisierung integriert und so entmachtet wurde.
44 Ebd. 45 Ebd. 46 Den Begriff prägte und popularisierte der Journalist Dirk Kurbjuweit in seinem im Spiegel veröffentlichten Essay: „Der Wutbürger“, in: Der Spiegel 41/2010, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74184564.html (21.10.2011). 47 Lokales, in: Die Woche Graz, 21.12.2011, 10. 48 Lokales, in: Die Woche Graz, 28.12.2011, 8.
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Abb. 5: Kampagne der International Advertising Association (IAA)49
http://www.medianet.at/marketingmedien/article/mut-statt-wut-dieneue-iaa-kampagne/ (13.06.2012)
R ESÜMEE In diesem Beitrag wurde auf die Ambivalenz und Konflikthaftigkeit neuer Regierungskonzepte hingewiesen, die den Kern neoliberaler Ordnungsdoktrin bilden. Es findet nicht nur eine verstärkte Partizipation der Zivilgesellschaft statt, gegenwärtige Regierungstechniken sind zudem auf „stabilisierende Interventionen“ 50 – Reglementierungen und das Aufzeigen von Bedrohungen – angewiesen – Reglementierungen und das Aufzeigen von Bedrohungen – angewiesen. Armut, Arbeitslosigkeit und deviantes Verhalten liefern in Zeiten des Neoliberalismus einerseits die notwendige Motivation, das eigene Handeln im Sinne eines unternehmerischen Selbst möglichst ökonomisch und verantwortungsvoll zu verstehen, da es über Abstieg und Aufstieg in der Gesellschaft ent49 Ziel der Kampagne ist laut IAA, dass das Selbstvertrauen der ÖstereicherInnen gestärkt werden und Politikverdrossenheit verringert werden soll. 50 Lemke, Kultur, 7.
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scheidet; andererseits dient das Bestehen sozialer Problemlagen als Begründung für Umgestaltungs- und Aufwertungsprozesse im Stadtraum. Die Ästhetisierung der Stadt ist das Ausschließen unliebsamer Themen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Das Ziel von SOS-Politiken 51 ist weniger die Verbrechensbekämpfung, als vielmehr die Regulierung von Verhalten. Der soziale Raum wird folglich durch ein Verhältnis repressiver und produktiver Elemente regiert. Das heißt, durch Prävention mittels verstärkter Kontrolle, Überwachung, Wegweisungspraktiken sowie der Mobilisierung aktiver unternehmerischer Individuen. Bürgerinitiativen und partizipatorische Regierungstechniken wurden zu einem wesentlichen Bestandteil im Zuge von Transformationsprozessen der Städte sowie der „Repräsentativen Politik“. Die Gestaltung des öffentlichen (Lebens-)Raumes wurde zu einem kollektiven Handlungsgegenstand, wenngleich die Befugnisse ungleich verteilt sind. Partizipationsforderungen einerseits von Seiten der Bevölkerung und andererseits von Seiten der Regierung sind zwar getrennt zu betrachten, jedoch bedingen sie einander. Es ist daher notwendig, alle Partizipationsformen im Kontext eines weiten Regierungsbegriffs und vor allem in ihrer Ambivalenz zu betrachten – einem Regierungsbegriff, der Selbstkontrolle wie Fremdkontrolle miteinschließt.52
L ITERATUR Zygmund BAUMAN, Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main, 2003. Ulrich BRÖCKLING, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main, 2007. Amitai ETZIONI, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Das Programm des Kommunitarismus, Frankfurt am Main, 1998. Michel FOUCAULT, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main, 1987. Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 1994. Michel FOUCAULT, Geschichte der Gouvernementalität, Band I und II, Vorlesungen am College de France (1975–1979), Frankfurt am Main, 2004. Elisabeth KATSCHNIG-FASCH, Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus, Wien 2003.
51 Sauberkeit-Ordnung-Sicherheit, Vgl. Rolshoven, SOS. 52 Vgl. Foucault, Gouvernementalität, 2004.
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Thomas LEMKE, Eine Kultur der Gefahr – Dispositive der Unsicherheit im Neoliberalismus, http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/EineKultur derGefahr.pdf (12.02.2011). Thomas LEMKE, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die gouvernmentality studies, http://www.thomaslemke web.de/engl.%20texte/Neoliberalismus%20ii.pdf (20.01.2011). Rolf LINDNER, Textur, ›imaginaire‹, Habitus. Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung. In: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt am Main, 2008. Johanna ROLSHOVEN, SOS. Neue Regierungsweisen oder Save our Souls – ein Hilferuf der Schönen Neuen Stadt, in: bricolage (Innsbrucker Zeitschrift für Europäische Ethnologie) 6 (2010), 23–35. Nikolas ROSE, Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main, 2000, 72–109. Saskia SASSEN, Metropolen des Weltmarktes, Frankfurt am Main/New York 1996. Artikel aus Medien Bettelverbot ist verfassungswidrig, http://steiermark.orf.at/news/stories/2566498/ (10.01.2013). Bringen wir Graz auf Hochglanz, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/ graz/2960558/bringen-graz-hochglanz.story (01.03.2012). Bürgerliches Engagement für ein noch schöneres Graz, http://www.graz.at/ cms/dokumente/10188031_4428067/370f90d4/2012-02-09%20B%C3%BC rgerliches%20Engagement%20f%C3%BCr%20ein%20noch%20sch%C3% B6neres%20Graz.pdf (14.02.2012). „Der Wutbürger“, in: Der Spiegel 41 (2010), http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-74184564.html (21.10.2011). FPÖ: Bürgereinsatz gegen Vandalismus, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/ graz/graz/2794424/fpoe-buergereinsatz-gegen-vandalismus.story (25.07.2011). Frühjahrsputz für Graz, in: Kleine Zeitung, 01.03.2012, 26. Graz: Bürgerbeteiligung mit Hürden aber Hoffnung, http://diepresse.com/home/ panorama/oesterreich/702791/Graz_Buergerbeteiligung-mit-Huerden-aberHoffnung (20.10.2011).
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Lokales, in: Die Woche Graz, 21.12.2011, 10. Lokales, in: Die Woche Graz, 28.12.2011, 8. Der Wutbürger, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74184564.html (21.10.2011). Stadtgespräch, in: G7 / Die Stadtzeitung, 04.12.2011, 16. Stadtgespräch, in: G7 / Die Stadtzeitung, 29.01.2012, 10. Werbung, in: Die Woche, 01.02.2012, 13. Werbung für die geplante Bürgerbefragung, in: Woche Graz, 13.06.2012, 19–22. Onlinequellen Duden – Aktivbürger: http://www.duden.de/rechtschreibung/Aktivbuerger (20.04.2012). Duden – beteiligen: http://www.duden.de/rechtschreibung/beteiligen (20.04.2012). Initiative Graz braucht dich der Grazer Volkspartei, info-graz.at (20.04.2012). Liste Bürgerinitiativen – Stadtportal Landeshauptstadt Graz, http://www.graz.at/ cms/beitrag/10085904/422037/ (13.06.2012). Sozialraumorientierung in Graz, http://www.graz.at/cms/ziel/2123962/DE (23.10.2011). Verein zur Rettung des Grazer Schauspielhauses, http://www.maribor-graz.eu/ primcell.php?lang=dt&jahr=1957&wid=1920&hei=921 (02.01.2013). Wahlbeteiligung zeigt „Stadt-Land-Gefälle“, http://www.graz.at/cms/beitrag/ 10203341/4829113/ (30.11.2012). Wir BürgerInnen für Graz – Aktion 21 Austria – Pro Bürgerbeteiligung, https://aktion21-austria.at/initiativen/wir-b%C3%BCrgerinnen-f%C3%BCr graz (13.09.2011).
Wie der spatial turn Einzug ins Wohnzimmer erhält Theoretische Überlegungen zur Konstruktion und materiellen Verankerung von Wohnräumen A NAMARIA D EPNER (F RANKFURT AM M AIN )
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KOMMEN
„Nur wenn man die systematische Trennung zwischen Raum und Handeln überwindet und Raum (bzw. Räume) als gesellschaftliche Produkte begreift, gelingt es, die verschiedenen Dimensionen der Konstitution zu verstehen.“1 Einer solchen Forderung lässt sich nur nachkommen, wenn sich die daraus folgenden Analysekategorien als universal operabel erweisen. Sie müssen bei der Betrachtung einer jeden konkreten Situation Gültigkeit behalten. Neben der Konstitution von Raum müssen die Möglichkeitsbedingungen hierfür genauso wie die daraus zu ziehenden Schlüsse auch für eine alltagsorientierte Kulturwissenschaft erfassbar sein. Bei der Betrachtung von Stadtvierteln und ganzer Städte2 oder bei der Auseinandersetzung mit Landkarten und Plänen, mit Texten oder mündlichen Erzählungen sowie in Bildform gefassten Raumbildern3 von konstituiertem Raum zu sprechen, leuchtet, angeleitet durch die vielen einschlägigen Arbeiten der letzten Jahre, rasch ein. 1
Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 129.
2
Vgl.: Nicole FRETZ, Methodische Überlegungen zur empirischen Erforschung räumlicher Integration, in: Ethnologie und Raum (= Ethnoscripts 9/1 (2007)), 92ff; Markus, SCHROER, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt am Main 2006, 227ff.
3
Vgl.: Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.
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Wie aber kann Raumkonstitution in Bezug auf ein Wohn-, Ess- oder Schlafzimmer gedacht werden? Die Grenzen und die Grundfläche eines solchen Raumes erscheinen durch die baulichen Marken als leicht bestimmbar und eindeutig erfassbar. Der Raum erschließt sich somit auf den ersten Blick eher als gegeben, als so genannter Containerraum, und nicht als konstituiert oder konstituierbar. Aber haben diese apparenten Begrenzungen aufgrund ihrer materiellen Fassbarkeit einen hegemonialen Anspruch? Sind im Falle eines „Zimmerraumes“ nicht auch Aussagen im Sinne des spatial turns prinzipiell möglich oder sinnvoll? Martina Löw folgend, muss Raum als „eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“4 betrachtet werden. „Soziale Güter“, zu denen auch Dinge zählen, werden dabei analytisch in Abhängigkeit der menschlichen Handlungen dargestellt, und Raum als Ergebnis dieser Handlungen verstanden. Löw verweist auf die Notwendigkeit, „die Außenwirkung der sozialen Güter“ zu berücksichtigen und „Wahrnehmung als einen Aspekt des Handelns zu begreifen“.5 Die Dinge selbst, die Beschaffenheit des Austauschs, in dem wir zu ihnen stehen, sowie die daraus resultierende Einflussnahme der Dinge auf Handlung und Wahrnehmung finden bei Löw allerdings keine eingehende Betrachtung. Handlungen, dazu gehört das Wahrnehmen, sind raumkonstituierende Momente. Wahrnehmung ist aber nicht nur vom Menschen, sondern auch von der Außenwirkung der Dinge abhängig – es besteht also ein Zusammenspiel zwischen der Konstitution von Räumen, Dingen und Handlungen. Die Aufgabe, der sich dieser Beitrag annimmt, ist es, die Regeln dafür zu beschreiben.
D INGE , W OHNEN
UND
R AUM
Wohnen ist Handlung an Dingen in einem Raum. Dinge‚ Wohnen und Raum können nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Dennoch haben Autoren unterschiedlichster Disziplinen diese Trias immer wieder auf eine oder zwei Komponenten reduziert bzw. eine der Komponenten in ihrer Reichweite beschnitten. Ein prominentes und viel rezipiertes Beispiel hierfür ist die Bourdieusche Distinktionslehre, unter deren Vorzeichen der Diskurs der achtziger und neunziger Jahre Dinge nur als Zeichen und Symbole der eigenen Klassenzugehörigkeit und als Vehikel zur Konsolidierung des kulturellen Milieus zu be-
4
Löw, Raumsoziologie, 271.
5
Ebd., 194.
S PATIAL
TURN IM
W OHNZIMMER
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greifen wusste.6 Der Blick wandte sich zu sehr, wie Hans Peter Hahn wiederholt zeigt, von der physischen Anwesenheit und den haptischen Qualitäten der Dinge ab.7 Ebenfalls in den achtziger Jahren gab es vermehrt Hinweise, nicht zuletzt von Bourdieu selbst, auf soziokulturell erschaffene Räume, deren Grenzen sich nicht an Physischem festmachen lassen. So entsteht aus einer materialitätsfeindlichen Haltung das Bewusstsein für den konstituierten Raum.8 In den theoretischen Auseinandersetzungen mit Wohnen werden Handlungsräume beschrieben, die gleichzeitig durch Handlungen erschaffen werden und selbst Handlungen hervorrufen.9 Solche Handlungsräume innerhalb einer Wohnung zu denken, hat zur Folge, dass alle darin befindlichen möglichen Ziele einer Handlung in ihrer Mitwirkung betrachtet werden müssen. Die Dinge bekommen Präsenz. Heute hat die Erforschung materieller Kultur das Abstellgleis, auf das sie allgemein verwiesen war, längst wieder verlassen können. Aber nicht, um erneut, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deskriptiven und dekontextualisierten Betrachtungen dienstbar zu sein, die sie in Form abgeschlossener Systeme blanker Materialität vor der Folie kulturellen Fortschreitens als Zeugnis menschlicher Fähigkeiten darlegen. Dinge offenbaren sich uns heute mit der ganzen Gewichtigkeit ihrer Präsenz, ihrer Trägheit, ihres Widerstandes: Objekte werden tatsächlich zu dem uns Entgegengeworfenen, ihre Bedeutung ist weit mehr als ein semiotisches Verweisen. Dinge unterscheiden sich von Sprachzeichen durch ihre Dreidimensionalität, ihre Materialität und ihre je konkret raum-zeitliche Gegebenheit sowie Ver6
Vgl.: Christine RESCH, Schöner Wohnen. Zur Kritik von Bourdieus "feinen Unter-
7
Vgl.: Hans Peter HAHN, Von der Ethnografie des Wohnzimmers zur ‘Topografie des
schieden", Münster 2012, 36ff. Zufalls’, in: Tietmeyer, Elisabeth et. al. (Hg.), Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster 2010, 9–21; Hans Peter HAHN/Jens SOENTGEN, Acknowledging substances. Looking at the hidden side of the material world, in: Philosophy and Technology 24/1 (2010), 19–33; Hans Peter HAHN, Words and Things. Reflections on People’s Interactions with the Material World, in: Joseph Maran/Philipp Stockhammer (Hg.), Materiality and Social Practice. Transformative Capacities of Intercultural Encounters, Oxford 2012, 4–12. 8
Vgl.: Pierre BOURDIEU, Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 354–368, [Französische Erstausgabe 1989]; Schroer, Räume, 82ff.
9
Vgl.: Hans Jürgen TEUTEBERG, Betrachtung zu einer Geschichte des Wohnens, in: Ders./Borscheid, Peter (Hg.): Homo habitans. Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit, Münster 1985, 4f.
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bundenheit hinsichtlich eines anwesenden, handelnden Subjekts. Dinge sind aber gleichzeitig auch losgelöst von unseren Absichten. Wir erfahren ihr „nichtintentionales Handeln“10 in Form von Widerstand. Gudrun König spricht vom Veto der Dinge11 , Hahn bezeichnet es als „Eigensinn“ oder „Vorsprung“12, andere als „Tücke des Objekts“13. In meiner Doktorarbeit wird von Neid und Eifersucht den Dingen gegenüber die Rede sein.14 Autoren wie Latour zeigen, dass nicht nur wir die Dinge formen, sondern dass auch die Dinge uns formen und unser Verständnis von „nichtmenschlichen Aktanten“15 über disziplinäre und politische Grenzen hinaus prägen. In der europäischen Ethnologie setzt sich v. a. Herman Heidrich maßgeblich für die Darlegung der Relationen von Menschen und Dingen ein. Er schreibt: „[Die] Dinge des täglichen Umgangs [sind] Teil unserer Persönlichkeit, die man nicht einfach [...] nehmen oder weglegen kann, sondern die einen wichtigen Einfluss auf die Strukturierung und die Werdung unseres Selbst, auf unsere subjektive Sinnordnung haben. [...] Dinge sind [...] mitsamt ihren Bedeutungen eine Realität des kulturellen Lebens. Dinge gestalten unsere Kultur. Mit der Gestaltung von Dingen werden auch unsere Verhaltensformen, wird unser Selbstbild mitgestaltet; Dinge bringen unser Verhalten ‚in Form’.“ 16
10 Anamaria DEPNER, Dinge in Bewegung. Das Ende einer lebenslangen Beziehung, noch nicht veröffentlichte phil. Diss., Universität Frankfurt am Main 2013. 11 Gudrun M. KÖNIG, Das Veto der Dinge, in: Dies./Karin Priem/Rita Casale (Hg.), Die Materialität der Erziehung. Zur Kultur- und Sozialgeschichte pädagogischer Objekte (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 58 (2012)). 12 Vgl. z. B..: Hans Peter HAHN, Materielle Kultur. Konsumlogik und Eigensinn der Dinge, in: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, 92–110, passim.; Hans Peter HAHN, Das Leben der Dinge. Ein ethnografischer Blick auf sprechende Kühlschränke und andere Verheissungen der elektronisch vernetzten Welt, in: http:// www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/das_leben_der_dinge_1.8109484. html (26.04.2013). 13 Martin SCHARFE, Signatur der Dinge. Anmerkungen zu Körperwelt und objektiver Kultur, in: Gudrun M. König (Hg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005, 98–102. 14 Depner, Dinge. 15 Vgl. z.B.: Bruno LATOUR, On Recalling ANT, in: John Law/John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford 1999, 15–25. 16 Hermann HEIDRICH: Dinge verstehen. Materielle Kultur aus Sicht der Europäischen Ethnologie, in: Zeitschrift für Volkskunde 103/2 (2007), 224–226.
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Heidrich spricht in diesem Zusammenhang von Dingbeziehungen; Beziehung meint ein enges Verwobensein miteinander, nicht nur einen Austausch. Anders ausgedrückt: Wir haben zu Dingen eine Beziehung (eine auf gegenseitige Einflussnahme beruhende Form des Austauschs), sie stehen nicht nur in einem Verhältnis zu uns (so dass allein wir sie formen, mit Bedeutung aufladen, nutzen etc.)
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Das kulturell bedingte Zusammenspiel von Gedächtnis, Ding und Handlung Anhand dreier aufeinander aufbauender Graphiken sei im Folgenden verdeutlicht, wie das Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten bei der Erfassung von Dingen gedacht werden kann. Der Mensch als handelndes Wesen ist zentraler Bezugspunkt des Systems und steht in Wechselwirkung mit jeder der benannten Komponenten. Betrachten wir daher zunächst die Handlungsebene. Abb. 1: Mensch-Ding-Austausch auf der Handlungseben.
Denken wir uns den Moment des ersten sich Inbezugsetzens eines beliebigen Menschen zu einem beliebigen Gegenstand (hier umfassender als „Ding“ bezeichnet): Die Person nimmt diesen, aus der Nähe oder aus der Ferne, bewusst wahr und kommt damit in Kontakt. Die Handlung des Wahrnehmens entfaltet sich in erster Linie über die sensorische und, wenn die Möglichkeit besteht, im Besonderen die haptisch, Dimension. Nach diesem Akt des Erfahrens und Erfassens weiß der betreffende Mensch um die Existenz des namentlichen Gegenstandes aufgrund des ihm eigenen Wahrnehmungsapparates, und nicht vermittels Dritter. Nun ist der Weg für ihn gebahnt, um sich auf eine nächste Handlungs-
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ebene bezüglich dieses Objekts zu begeben: er kann es sich physisch aneignen (benutzen, verändern, zweckentfremden etc.) und zugleich in seiner semiotischen Dimension formen. Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Zugangsweisen ist nicht optional sondern es handelt sich vielmehr um eine Reziprozität, so dass das eine konstitutiv für das jeweils andere ist. Aneignung und Bedeutungsbegabung17 sind somit zwei Handlungen, die nicht unabhängig voneinander auf die Zurkenntnisnahme eines Objekts folgen. Dies geschieht stets im Zusammenspiel von sowohl kulturell als auch persönlich bedingten Konnotationen. Bei der durch ein Individuum vollzogenen Aneignung eines speziellen Objekts wiegt dessen persönliche Komponente, also seine Vorlieben, seine Kreativität, seine Fertigkeiten, mehr. Bei der vom selben Individuum dem Objekt zugesprochenen Bedeutung (auch, aber nicht nur im semiotischen Sinne) ist dessen kulturelle Prägung zumeist tonangebend. Auch wenn, oder gerade weil, die Verweis- und Symbolfunktion der Dinge inhaltlich Veränderungen unterliegt, werden Bedeutungen , Umgangsweisen etc. tradiert und reproduziert. Weitergedacht führt dies dazu, dass Handlung an Dingen stets als in einem mnemotischen Rahmen eingebettet zu beschreiben ist. Ergänzt um die Kategorie „Gedächtnis“, ergibt sich daher ein vollständigeres Bild der Möglichkeiten des Austauschs zwischen Menschen und Dingen, wie die unten stehende Graphik zeigt. Dingimmanente Erinnerung meint dabei das Wiedererkennen eines bereits (zumindest ansatzweise) bekannten Objektes, das Abrufen des erlernten Umgangs, und dadurch das Erfassen (oder Begreifen) der prinzipiellen Handlungsaufforderungen, die Objekte uns „entgegenwerfen“18 (Knopf: drücken, Buch: blättern, etc.) Die beiden anderen dargestellten Gedächtnisformen (persönliche Erinnerung und kulturell geprägte Erinnerung) sind analog der für Aneignung und Bedeutungsbegabung beschriebenen Zugangsweisen und in Zusammenhang mit diesen zu sehen. Weder auf der Handlungs- noch auf der mnemotischen Ebene sind die benannten Komponenten als sich ausschließende Faktoren zu sehen, sondern bedingen und beeinflussen sich vielmehr gegenseitig und sind miteinander verflochten.
17 Die hier angesprochene Prägung der Dinge hinsichtlich ihrer semiotischen Ebene wird anderorts mit Begriffen wie „Bedeutungszuschreibung“ oder, in älteren Texten der volkskundlichen Sachkulturforschung zu finden, „Bedeutungsaufladung“ bezeichnet. 18 lat. objectum = das Entgegengeworfene.
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Abb. 2: Das Zusammenspiel von Gedächtnis, Ding und Handlung
Wir können festhalten: Die drei basalen Kategorien Gedächtnis, Ding und Handlung stehen in gegenseitiger Wechselwirkung. Gedächtnis braucht eine materielle Projektionsfläche als Stütze, Dinge wiederum brauchen Gedächtnis, um hergestellt, benutzt und gedeutet werden zu können. Erinnerungen benötigt Handlungen, um weitergegeben zu werden – also um überhaupt Gedächtnis zu werden. Ferner können Dinge selbst auch (aber nicht ausschließlich) als Handlungen gesehen werden. Hier geht es nicht um eine sogenannte „Agency“ oder gar intentionale Aktion auf Seiten der Dinge, sondern um die Handlungen, die von menschlicher Seite vollzogen worden sind und werden, damit ein bestimmter Gegenstand in der ihm eigene Art und Weise von einer Person wahrgenommen wird (Verfertigen, Umformen, Bedeutungen weitergeben, verändern etc.). Diese Verknüpfung von „Gedächtnis“ und „Handlung“ beeinflusst, wie Individuen einer gewissen soziokulturellen Prägung mit einem bestimmten Objekt umgehen. Der „Eigensinn“19 der Dinge beeinflusst, wie grundsätzlich mit einem bestimmten Objekt umgegangen werden kann. Dieser Eigensinn wird durch die Materialität und die physische Präsenz der Objekte bedingt. Durch ihr „stoffliches Vorkommen“20 ermöglichen die Dinge es uns, wenn wir mit ihnen umgehen
19 Diesen Begriff prägt Hahn in unterschiedlichen Veröffentlichungen. Für detaillierte Ausführungen dazu vgl. z. B.: Hans Peter HAHN, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005, 46f. 20 Vgl.: Jens SOENTGEN, Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibung von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, phil. Diss Techn. Hochsch. Darmstadt 1996, Berlin 1997, 123f. Hier heißt es: „Dinge sind Stoffvorkommen. Weil alle Dinge Stoffvorkommen sind und weil alle Stoffe materiell sind, ergibt es sich, dass Dinge materiell sind. Daraus folgt ihr sinnlicher Reichtum [...]. Die Materialität der Stoffe ist
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und sie „durch unsere Sinne hindurchziehen“21, gleichsam uns selbst zu erfahren. In dem Moment in den Wir ein Ding beispielsweise fühlen, fühlen wir auch gleichzeitig uns selbst. Bernhard Waldenfels zeigt in seinem Buch Das leibliche Selbst, dass Eigen- und Fremdbezug (ich und der Andere) immer gleichzeitig und reziprok zu denken sind, dass also nicht zuerst das Sich-Selbst-Wahrnehmen und dann das Fremdwahrnehmen am eigenen Selbst erfolgen.22 Das „Fremde“, der „Andere“ muss dabei, das wird in seinen Beispielen deutlich, nicht zwingend ein menschliches Gegenüber sein, es kann sich dabei auch um einen Gegenstand handeln. Demnach beziehen sich also Subjekte und Objekte gegenseitig aufeinander und in dieser Reziprozität besteht sowohl eine ding- als auch eine selbstkonstituierende Wahrnehmung. Letztlich ist es die Materialität der Dinge, welche die Bedingung der Möglichkeit für diesen reziproken Austausch und damit für eine Mensch-Ding-Beziehung darstellt: dass wir sie erfühlen uns erfahren können, dass wir mit ihnen umgehen könne und sie uns dabei durch ihren Eigensinn Schranken setzen. Abb. 3: Das Materiell begründete Beziehungspotential der Dinge
auch die Ursache [...], dass man sie [die Dinge] in die Hand nehmen kann, um sie herum gehen kann, dass es überhaupt einen Weg zu ihnen gibt.“ 21 Arnold GEHLEN, Vom Wesen der Erfahrung, in: Ders.: Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, 28. 22 Vgl.: Bernhard WALDENFELS, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000, 283ff.
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Wo aber bleibt der Raum? Jeder der hier gewählten Eckpunkte beinhaltet und bedingt ihn zugleich. Es ist die „(An-)Ordnung“23 von Dingen, die Räume eröffnet, und es sind Handlungen, die diese prägen. Die Konstitution und Bedeutung von „Erinnerungsräumen“ hat Aleida Assmann untersucht.24 Die im Gedächtnis vorhandenen Räume, sowohl konkrete (z.B. Interieurs) oder auf Konkretes bezogene (z.B. Straßenzüge) als auch abstrakte, also unterschiedliche Bereiche des eigenen und kollektiven Gedächtnisses, sind in Abhängigkeit von Dingen und Handlungen aufgespannt. Die sensorisch-haptische Wahrnehmbarkeit von Dingen, die mit unseren kulturell und persönlich abgesteckten Handlungs- und Erinnerungsmustern verflochten ist, erweist sich nicht nur als ausschlaggebend dafür, dass eine Mensch-Ding-Beziehung entstehen kann, sondern stellt auch ihr raumkonstituierendes Potenzial dar. Doris Bachmann-Medicks stellt die Forderung an die Ethnologie: „die Materialität des Raumes herauszustellen, ohne sie zu naturalisieren“, sondern diese in die „programmatisch-konzeptuelle Ebene der Raumdiskussion“ einzubetten.25 In Anlehnung daran und als Zwischenfazit sei im Folgenden die sich aus der Mensch-Ding-Beziehung ergebenden Parameter für die Raumkonstitution (auch auf der Mikro-Ebene26) in fünf Punkten zusammengefasst. Die Anwendung der hier skizzierten Theorie auf die Wohnpraxis ermöglicht eine Fundierung empirischer Befunde auf konzeptioneller Ebene. Dies soll im anschließenden Abschnitt geschehen. (1) Kulturelle und gesellschaftliche Systeme (Wertesysteme, Symbolsysteme, kollektives Gedächtnis etc.) sind für die individuelle Wahrnehmung, Aneignung und Bedeutungsbegabung von Dingen ebenso wichtig wie persönliche Prägung (Geschlecht, Erinnerung etc.) und stehen in Austausch zueinander. (2) Wahrnehmung ist als Handlung zu begreifen27 und ist sowohl für die Dingerfassung als auch für die Raumkonstitution ausschlaggebend. 23 Vgl.: Löw, Raumsoziologie, passim. 24 Vgl.: Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Aufl., München 2006. 25 Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, 308. 26 Zu einem überzeugenden Makro-Meso-Mikro-Konzept des Raumes (allerdings ohne Inbezugnahme der Rolle materieller Kultur) vgl.: Jens S. DANGSCHAT, Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstitution, in: Ethnologie und Raum (= Ethnoscripts 9/1 (2007)), 24–44, bes. 38. 27 Vgl.: Löw, Raumsoziologie, 194ff.
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(3) Raum kann als Produkt dingbezogener Handlung und dingbezogenen Verhaltens beschrieben werden. (4) Sowohl für die Erfassung von Dingen als auch für die Erschließung des Raumes ist die Reziprozität von Gedächtnis, Dingen und Handlungen in Bezug auf ein Individuum und dessen kultureller Einbettung zu betrachten. (5) Die Erfahrung der eigenen physischen Präsenz (=Leiblichkeitserfahrung) durch die Materialität der Dinge ist die Bedingung der Möglichkeit für eine Mensch-Ding-Beziehung, welche wiederum den zwischen Gedächtnis, Ding und Handlung aufgespannten Raum bedingt.
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Wohnen als besondere Raumbeziehung „Wohnen kann, abstrakt formuliert, als ein Interaktionssystem begriffen werden, das den Menschen sowohl physisch und psychisch, als auch soziokulturell an bestimmte Räume bindet.“28 Der Bezug und die Beziehung zu Dingen stellt eine solche Interaktion dar. Dinge werden somit zu Vermittlern zwischen Mensch und Raum und sind maßgeblich an der Raumkonstitution beteiligt. .Die Positionierung materieller Grenzen bei der Errichtung eines Gebäudes (Wände, Fenster, Türen, ...) bringt einen Raum hervor, der sich in diesem besonderen Fall als abgeschlossenes Zimmer manifestiert. In diesem so entstandenen „Zimmerraum“ können durch „Spacing“ und „Syntheseleistung“, wie bei Löw bzw. durch Gedächtnis, Dinge und Handlungen wie hier vorgeschlagen, Wohnräume konstituiert werden. Konstituierter Wohnraum ist aber nicht zwingend deckungsgleich mit einem „Zimmerraum“ – Zimmer sind stets potentielle Heterotopien nach Foucault.29 Wohnen manifestiert sich im Einrichten, nicht in der Einrichtung. Dort wo die Objekte platziert werden, zu denen eine bestimmte Beziehung existiert und ein entsprechen-
28 Vgl.: Teuteberg, Geschichte des Wohnens, 23. 29 Michel FOUCAULT, Die Heterotopien, in: o. A.: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiobeiträge, Frankfurt am Main 2005, [Radiobeitrag von 1966]; Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 317–329 [Vortrag von 1967, französische Erstausgabe 1984].
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der Umgang mit diesen Dingen stattfindet, wird gewohnt. Laut Heidegger markieren Dinge Orte und lassen sie so erkennbar werden30; auch Löw schreibt: „Der Ort ist […] Ziel und Resultat der Platzierung und nicht […] im Spacing selbst platziertes Element.“31 Eine solche Wohntheorie orientiert sich nicht nur an dem durch den spatial turn vermehrt angewendeten Raumbegriff, erweitert mit den Ergebnissen der hier vorgenommenen Analyse der Ding-Mensch-Beziehung. Sie ist auch die Folge jener Phänomene, die dieses Raumbild provozieren und fordern: Globalisierung, Mobilität und der dadurch erweiterte individuelle Aktionsradius. WohnDinge und Wohn-Tätigkeiten werden im Zuge dieser Entwicklung verzerrt und zerstückelt. Es tritt eine Grenzsituation auf, durch die vor Augen geführt wird, dass eine allgemeine Wohntheorie nur dann valide wird, wenn sie mit der Annahme einer persönliche Ding-Mensch-Beziehung und der daraus folgenden Raumkonstitution operiert. An einem Beispiel dargelegt: Jeder der Bewohner einer Wohngemeinschaft platziert seine eigenen Objekte, die nur er benutzt, im gemeinsamen Badezimmer. Zieht ein neuer Bewohner ein, wird er vorerst das Bad als „Zimmer, in dem sich mein Handtuch, mein Shampoo, meine Zahnbürste, etc. befindet“ sehen. Erst durch Benutzung und Aneignung der anderen Dinge in diesem Zimmer entsteht ein Raum, den er als Teil seines Wohnraumes wahrnehmen kann. Jeder der Bewohner hat in diesem Bad seinen eigenen Wohnraum konstituiert – das Zimmer ist zu einer Heterotopie geworden. Beate Rössler folgend kann man sagen, dass in einem solchen Zimmer für jeden der Bewohner „lokale Privatheit“32 entsteht: „Privat werden die Räume nämlich nicht nur dadurch, dass ich die Kontrolle darüber habe, wer sie wann betreten darf; sondern auch dadurch, dass ich sie für mich selbst inszenieren kann, dass die Gegenstände in diesen Räumen eine bestimmte Anordnung haben und dass es bestimmte Gegenstände sind, die sich hier finden, dass also durch die Inszenierung des Interieurs eine Bedeutung ganz für mich, eine private Bedeutung konstituiert wird.“33 Von Wohnen ist also – weitergedacht – dann zu sprechen, wenn eine Person ein höheres Maß an „lokaler Privatheit“ mit einem selbst konstituierten Raum verbinden kann. Zur Privatheit gehört die Erfahrung des Ichs, gehört das sich 30 Vgl.: Martin HEIDEGGER, Bauen, Wohnen, Denken, in: Wielens, Hans (Hg.), Bauen, Wohnen, Denken. Martin Heidegger inspiriert Künstler, Münster 1994, 18–33 [Erstausgabe 1952], 26ff. 31 Löw, Raumsoziologie, 198. 32 Vgl.: Beate RÖSSLER, Der Wert des Privaten (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1530) Frankfurt am Main 2001, 255f. 33 Ebd., 256f.
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selbst definierende Individuum. Abschließend soll ein vertiefter Blick hierauf vor dem Hintergrund der soeben dargelegten Zusammenhänge geworfen werden.
K ONSTITUTION UND MATERIELLE V ERANKERUNG VON W OHNRÄUMEN ZWISCHEN ROUTINIERTER A LLTAGSPRAXIS UND I NDIVIDUALISIERUNGSSTRATEGIE Weiterführende Gedanken zur Leiblichkeitserfahrung Löw beschreibt, dass Raumkonstitution zwar immer die Leistung eines Individuums in Bezug auf seine Lebenswelt ist, dass diese allerdings auch immer kulturell geprägt und durch „Routine“ verankert ist. Das hat zur Folge, dass Handeln habitualisiert wird und in ähnlichen (kulturellen) Kontexten ähnliche Räume konstituiert werden.34 Sie schreibt über die Raumentstehung im Alltag: „In regelmäßigen sozialen Praktiken werden […] institutionalisierte Anordnungen im Handeln reproduziert.“35 Und weiter: „Räume sind institutionalisiert, wenn (An-)Ordnungen über individuelles Handeln hinaus wirksam bleiben und genormte Syntheseleistungen und Spacings nach sich ziehen.“36 Mit Bourdieus Ausführungen argumentierend, könnte man jeden Raum, das private Wohnzimmer wohl im Besonderen, als institutionalisiert sehen. Die Konstatierung milieu- und habitusspezifischer Zuordenbarkeit lässt aber nicht zwingend auf ein Erklärungsmonopol schließen. Bei einer solchen Herangehensweise sind Dinge nur Projektionsfläche, nur „physisch verwirklichter, objektivierter Sozialraum“37, wie der stark von Bourdieu beeinflusste Sozial- und Kulturgeograph Roland Lippuner es darstellt. Bei der Untersuchung der Dinge und Handlungen in einem konkreten Wohnraum bedarf es an Offenheit für subjektiv reflektierte Lebenswirklichkeit: Dinge, Orte und Räume mögen potenziell reproduzierbar sein in ihrer strukturierenden Bedeutung für den Alltag. Die Selbsterfahrung und Selbstpositionierung der Akteure allerdings hängt immer auch von der Beziehung ab, die sie zu den Dingen, Orten oder Räumen haben. Beispielsweise erfährt die Körperpflege, unabhängig von der Gründlichkeit, in einem als Wohnung angesehenen Raum eine ganz eigene Qualität. Eine Person benutzt das
34 Vgl.: Löw, Raumsoziologie, 161–166. 35 Ebd., 163. 36 Ebd., 272. 37 Roland LIPPUNER, Raum, Systeme, Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie, Stuttgart 2005, 164.
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Shampoo der Marke X, welches von unzähligen anderen auch verwendet wird, womöglich in einer baugleichen Dusche, womöglich regelmäßig zur selben Tageszeit. Vielleicht hat ein Großteil dieser Menschen auch eine ähnliche Ausbildung, eine ähnlich gut bezahlte Arbeit, eine ähnliche Familiengeschichte; und all diese anderen Menschen bewegen sich womöglich auch ähnlich, wenn sie ihre Haare, die im selben Stil geschnitten sind, waschen. Die sich waschende Person erfährt allerdings sich selbst, ihr Shampoo, ihre Dusche und ihr Badezimmer nicht über das ihr ähnliche Kollektiv, in dem sie durch die strukturelle Gleichheit subjektiviert zu sein scheint. Sie erfährt dies über ihre eigene Sinnlichkeit. Lediglich die Bewertung des Erfahrenen wird sodann über gewisse gesellschaftliche Institutionen vermittelt. In Bezug auf die Analyse des gesellschaftlichen Mikro-Raumes betont Dieter Läpple, Professor für Stadt- und Regionalökonomie in Hamburg, in seinem 1991 veröffentlichten Essay über den Raum, dass „dessen Mittelpunkt der Mensch mit seiner räumlichen Leiblichkeit“ ist.38 Er ist damit einer von vielen, der auf die Signifikanz der Leiblichkeit verweist.39 Die eigene Körper- und Ich-Beziehung ist Teil der Erkenntnismöglichkeit von Raum und Dingen. Der Wohnraum ist ein Raum, der zwischen besonderen Dingen aufgespannt ist. „Besonders“ bezieht sich hier nicht so sehr auf die subjektive Bedeutung der Dinge, sondern auf die Möglichkeit, über diese Dinge verfügen zu können. Dies ist zum einen gegeben durch das Eigentum an den Dingen, zum anderen aber auch durch die Aneignung dieser, und hier namentlich ihrer (potenziellen) Zweckentfremdung. Real und Realität wird die Beziehung zu einer materiellen Entität über ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit und über die körperbezogene, haptische Erfahrung. „Wohnraum“ ist der eigene Aktionsraum, ist ein Erlebnis, ein Erleben von sich selbst; ist in gewisser Weise Ich-Erweiterung. Die MenschDing-Beziehung ermöglicht die Erfahrung des eigenen leiblichen Vorhandenseins, die Ich-Erfahrung, das sich-als-Individuum-erfahren-Können und erfahrbar werden.
38 Dieter LÄPPLE, Essay über den Raum, in: Häußermann, Hartmut u.A. (Hg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991, 197. 39 Vgl.: Vilém FLUSSER, Kleine Anthropologie der Dinge, Vom Hebel, in: http:// www.zeit.de/1991/12/vom-hebel (27.04.2013); Vilém FLUSSER, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. München 1993; Schroer, Räume; Waldenfels, Das leibliche Selbst.
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L ITERATUR Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Aufl., München 2006. Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Pierre, BOURDIEU, Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 354–368, [Französische Erstausgabe 1989]. Jens S. DANGSCHAT, Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstitution, in: Ethnologie und Raum (= Ethnoscripts 9/1 (2007)), 24–44. Anamaria DEPNER, Dinge in Bewegung. Das Ende einer lebenslangen Beziehung, noch nicht veröffentlichte phil. Diss., Universität Frankfurt am Main 2013. Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Vilém FLUSSER, Kleine Anthropologie der Dinge, Vom Hebel, in: http:// www.zeit.de/1991/12/vom-hebel (27.04.2013). Vilém FLUSSER, Dinge und Undinge, Phänomenologische Skizzen. München 1993. Nicole FRETZ, Methodische Überlegungen zur empirischen Erforschung räumlicher Integration, in: Ethnologie und Raum (= Ethnoscripts 9/1 (2007)), 83– 102. Michel FOUCAULT, Die Heterotopien, in: O. A.: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiobeiträge, Frankfurt am Main 2005, [Radiobeitrag von 1966]. Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 317–329 [Vortrag von 1967, französische Erstausgabe 1984]. Arnold GEHLEN, Vom Wesen der Erfahrung, in: Ders.: Anthropologische Forschung , Reinbek bei Hamburg 1961. Hans Peter HAHN, Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005. Hans Peter HAHN, Von der Ethnografie des Wohnzimmers zur ‘Topografie des Zufalls’, in: Tietmeyer, Elisabeth et. al. (Hg.), Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur. Münster 2010, 9–21.
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Hans Peter HAHN, Materielle Kultur. Konsumlogik und Eigensinn der Dinge. in: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, 92–110. Hans Peter HAHN, Words and Things. Reflections on People’s Interactions with the Material World, in: Joseph Maran/Philipp Stockhammer (Hg.), Materiality and Social Practice. Transformative Capacities of Intercultural Encounters. Oxford 2012, 4–12. Hans Peter HAHN, Das Leben der Dinge. Ein ethnografischer Blick auf sprechende Kühlschränke und andere Verheissungen der elektronisch vernetzten Welt, in: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/das_ leben_der_dinge_1.8109484.html (26.04.2013). Hans Peter HAHN/Jens SOENTGEN, Acknowledging substances. Looking at the hidden side of the material world, in: Philosophy and Technology 24/1 (2010), 19–33. Martin HEIDEGGER, Bauen, Wohnen, Denken, in: Wielens, Hans (Hg.), Bauen, Wohnen, Denken. Martin Heidegger inspiriert Künstler, Münster 1994, 18– 33 [Erstausgabe 1952]. Hermann HEIDRICH, Dinge verstehen. Materielle Kultur aus Sicht der Europäischen Ethnologie, in: Zeitschrift für Volkskunde 103/2 (2007), 223–236. Gudrun M. KÖNIG, Das Veto der Dinge, in: Dies./Karin Priem/Rita Casale (Hg.), Die Materialität der Erziehung. Zur Kultur- und Sozialgeschichte pädagogischer Objekte (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 58 (2012)). Dieter LÄPPLE, Essay über den Raum, in: Häußermann, Hartmut u. a. (Hg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991, 157–207. Bruno LATOUR, On Recalling ANT, in: John Law/John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford 1999. Roland LIPPUNER, Raum, Systeme, Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie, Stuttgart 2005. Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Christine RESCH, Schöner Wohnen. Zur Kritik von Bourdieus "feinen Unterschieden", Münster 2012. Beate RÖSSLER, Der Wert des Privaten (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1530). Frankfurt am Main 2001. Martin SCHARFE, Signatur der Dinge. Anmerkungen zu Körperwelt und objektiver Kultur, in: Gudrun M. König (Hg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005, 93–116. Markus SCHROER, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt am Main 2006.
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Jens SOENTGEN, Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibung von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, phil. Diss Techn. Hochsch. Darmstadt 1996, Berlin 1997. Hans Jürgen TEUTEBERG, Betrachtung zu einer Geschichte des Wohnens, in: Ders./Borscheid, Peter (Hg.): Homo habitans. Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit, Münster 1985. Bernhard WALDENFELS, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000.
Vom Ort der Dinge Bruno Latours „räumliche Inskriptionen“ am Beispiel des Zensus der späten Habsburgermonarchie W OLFGANG G ÖDERLE (G RAZ /P ARIS 1)
D ISKURS
UND
M ATERIE
Herausforderungen und Grenzen für HistorikerInnen Der folgende Beitrag versteht sich weniger als Kontribution zu einer Auseinandersetzung auf einer ausschließlich theoretischen Ebene, vielmehr möchte ich aus meiner Perspektive als Kulturwissenschafter und Historiker auf Probleme und Beschränkungen im Kontext von Räumen und Dingen hinweisen, auf die ich in der praktischen Auseinandersetzung mit den Quellen, in meiner täglichen Arbeit gestoßen bin. Das betrifft das konkrete Übereinstimmen von theoretischen Überlegungen und Vorannahmen mit methodischen Herangehensweisen und den Limitationen, die sich aus der Verfügbarkeit und der Beschaffenheit von historischen Zeugnissen ergeben. Um dies zu illustrieren, habe ich ein konkretes Beispiel gewählt: Einen Text (und ein in diesem ausgeführtes Konzept) von Bruno Latour, den ich im Rahmen einiger Untersuchungen gewinnbringend anwenden konnte, vor allem im Hinblick auf den Umgang mit den materiellen Dimensionen historisch-sozialer
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Der größte Teil der diesem Aufsatz zugrundeliegenden Gedanken entstand während eines sechsmonatigen Forschungsaufenthaltes als Chercheur associé am CERI/ Sciences-Po Paris, den ich auf Einladung von Prof.in Cathérine Withol de Wenden absolvieren konnte. Ihr und meinen KollegInnen in Paris bin ich für ihre Ideen, Anregungen und Kritikpunkte zu großem Dank verpflichtet.
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Wirklichkeiten.2 Im folgenden Beitrag möchte ich einen Schritt weitergehen und versuchen herauszufinden, ob sich das besagte Konzept auch für Fragestellungen eignet, die nach einer starken Sensibilität von ForscherInnen gegenüber räumlichen Zusammenhängen verlangen. Latours angesprochener Beitrag mit dem Titel Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas3 ist an sich der Wissenschaftsforschung zuzurechnen. Das darin erarbeitete Modell der zirkulierenden Referenz wird anhand einer Forschungskooperation zwischen NaturwissenschafterInnen verschiedener Disziplinen vorgestellt: Eine Botanikerin, ein Pedologe, eine Geographin und Geomorphologin arbeiten gemeinsam an der Erstellung eines Bodenhorizontes4 und werden bei ihrer Aufgabenstellung von einem Anthropologen begleitet, der „die epistemologische Frage der Referenz in den Wissenschaften empirisch […] erforschen“5 möchte. Bevor ich mich diesem Satz etwas näher zuwende, drängt sich die Frage dazwischen, welche Bedeutung solchen Aspekten in historischen Arbeiten denn überhaupt zukomme. Welche Rolle spielen Epistemologie, Referenz und Empirie denn überhaupt in einer durch kulturwissenschaftliche Methoden und Theorieangebote grundlegend erweiterten Geschichtswissenschaft?
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Die Zusammensetzungen „soziale Wirklichkeit“, „Lebenswirklichkeit“ und „Lebensrealität“ werden im vorliegenden Beitrag synonym verwendet und dienen dazu, sowohl von Personen als auch von Institutionen als „real“ angenommene und erlebte Sachverhalte zu bezeichnen. Diese Begrifflichkeiten sind im Lichte von Peter BERGER/ Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1972, 1, zu sehen. Für Diskussionen dazu bin ich Heidemarie Uhl zu Dank verpflichtet.
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Bruno LATOUR, Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: Ders., Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2002, 36–95. Der Originalbeitrag ist 1996 unter dem Titel: Der ‘Pedologen-Faden‘ von Boa Vista – eine photo-philosophische Montage, in: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, 191–248 erschienen.
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Bei einem Bodenhorizont handelt es sich genaugenommen um eine Repräsentation von Bodenbereichen mit gleichen Eigenschaften, die sich schichtförmig anordnen und in einem Vertikalschnitt dargestellt werden.
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Ebd., 38.
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HistorikerInnen arbeiten, aus einer klassisch geisteswissenschaftlichen Perspektive besehen, an einer Schnittstelle, was die Quellen betrifft auf die sie angewiesen sind. Einerseits verstehen sie sich als TextwissenschafterInnen und stehen damit inmitten eines geisteswissenschaftlichen Selbstverständnisses der Mitte und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.6 Andererseits haben sie es auch mit Material zu tun, das über seinen textlichen Charakter hinaus für sie Relevanz besitzt, und das in vielen Fällen auf empirische Zusammenstellung oder Erzeugung zurückgeht. Diesem letzteren Umstand wurde in verschiedenen historischen Forschungstraditionen ein unterschiedliches Maß an Aufmerksamkeit zuteil. Es lässt sich aber beobachten, dass gerade in einem deutschsprachigen Zusammenhang dieser Gesichtspunkt, mitunter länger als etwa in Frankreich, hinter der starken Konzentration auf politische und philosophische Fragestellungen zurückblieb.7 Die Rezeption des linguistic turn, in einem transdisziplinär angelegten kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld, das in seiner Ausrichtung und in seinen Interessen stark durch die in seiner Adaptation und Etablierung maßgeblichen philologischen Disziplinen geprägt ist, vermag diesen Eindruck weiter zu verstärken.8 Die Potentiale, die sich für HistorikerInnen durch theoretische und methodologische Angebote der Kulturwissenschaften eröffnen, sind enorm und haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten wichtige Weiterentwicklungen möglich gemacht. Gleichzeitig treten an Grenzflächen Konflikte und Inkompatibilitäten mit älteren Zugängen und Forschungstraditionen auf, die in diesem Rahmen bislang wenig Beachtung gefunden haben und teilweise auch dazu führten, dass bestimmte Quellengattungen und Fragestellungen im Angesicht der Schwierigkeiten, die sich aus ihrer scheinbar nicht gegebenen Operationalisierbarkeit für kulturwissenschaftliche Zugänge ergeben, marginalisiert wurden. Als Beispiel für ein solches Feld möchte ich geschichtswissenschaftliche Arbeiten zum habsburgischen Zensus nennen, stellvertretend für den Korpus der quantitativen Quellen, deren Erarbeitung und Analyse im Lichte der zentralen Erkenntnisse des linguistic turn besondere Schwierigkeiten aufwirft: Wie kön-
6
Georg IGGERS, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1993, 23, 26.
7
Ebd., 28 ff. Weiters verweise ich auf Gérard NOIRIEL, Introduction à la socio-his-
8
Aleida ASSMANN, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen,
toire, Paris 2006, 9. Fragestellungen. Berlin 2008, 17–29.
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nen wir als HistorikerInnen mit Zahlen umgehen? Wie können wir sie als Quellen in ihrer umfassenden Dimension analysieren und verwerten? Diese Fragen schreiben sich in einen größeren Zusammenhang ein: Spätestens in der Mitte der 1990er-Jahre kristallisiert sich in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft eine Grundlagendiskussion heraus, deren Positionen von Iggers Einschätzung, wonach „[d]er Grundgedanke der postmodernen Theorie der Geschichtsschreibung […] die Leugnung des Wirklichkeitsbezugs der Geschichtsschreibung“9 sei, bis zur „Annahme einer Unverfügbarkeit von Realität hinter den Zeichen“10 reichen. Wenngleich der Begriff der Postmoderne die Auseinandersetzung zwischenzeitlich verlassen hat, ist die letztgenannte Position mittlerweile stärker in einen historiographischen Mainstream gerückt, man könnte sie durchaus als einen common sense in epistemologischen Fragen in der Geschichtswissenschaft bezeichnen. Nichtsdestoweniger ist die Frage nach sozialer Wirklichkeit, nach ihrer Verfügbarkeit und nach der Annäherung an sie, in der Arbeit mit Quellen, in Folge dieser Auseinandersetzungen wieder aktuell geworden und muss von HistorikerInnen heute vielfach aufgeworfen und neu beantwortet werden. Das betrifft besonders jene Felder der Geschichtswissenschaft, in denen mit Quellen gearbeitet wird, die nicht per se als Text verstanden werden.
V ON DER M ATERIE ZUR F ORM : L ATOURS „Z IRKULIERENDE R EFERENZ “ Latours Diktum am Eingang des oben zitierten Beitrags, „[w]ie fassen wir die Welt in Worte?“11, ließe sich für den Zweck meiner Untersuchung auch anders formulieren, ohne an seinen fortfolgenden Ausführungen inhaltlich größere Veränderungen vorzunehmen: Wie fassen wir die Welt in Zahlen? Denn an der Oberfläche setzt sich die Quelle, die ich an dieser Stelle exemplarisch heranziehen werde, vornehmlich aus Zahlen zusammen. „Zwischen zwei völlig verschiedenen ontologischen Bereichen, zwischen Sprache und Natur, sollte eine riskante Korrespondenz hergestellt werden. Ich will zeigen, dass es hier weder Korrespondenz gibt noch eine Kluft, ja noch nicht
9
Iggers, Geschichtswissenschaft, 87.
10 Christoph CONRAD/Martina KESSEL, Geschichte ohne Zentrum, in: Dies. (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, 9–36, 14. 11 Latour, Zirkulierende Referenz, 36.
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einmal zwei völlig verschiedene ontologische Bereiche, sondern ein ganz anderes Phänomen: zirkulierende Referenz.“12 Mit diesen Worten erklärt Latour sein Konzept, auf das ich in der Folge etwas näher eingehen möchte. Während ihn der „Übergang vom Boden zu den Worten“13 beschäftigt, frage ich, ob sich das mit der Transformation der sozialen Wirklichkeit in das Zahlenwerk des Zensus analogisieren ließe. Bestimmte Parallelen würden diese Annahme unterstützen: Sowohl bei den BodenexpertInnen aus Latours Beitrag als auch bei den für die Volkszählung Verantwortlichen handelt es sich um AkteurInnen in einem wissenschaftlichen Diskurs, die Wissen über eine soziale und materielle Realität herstellen. Nicht nur die untersuchten Prozesse sind vergleichbar, sondern auch die Absichten und Handlungsspielräume der sich (im jeweiligen historischen Kontext) als WissenschafterInnen verstehenden Personen und die hervorgebrachten Erzeugnisse. Latour argumentiert gegen die Dichotomisierung zwischen Diskurs und Dingen, er möchte zeigen, dass diese Unterscheidung im Kern eine künstliche sei und schlägt ein neues Modell vor, um diese Beziehung zu modellieren: Zwischen den beiden imaginierten Polen platziert er eine in keiner Richtung abschließbare Kette. Jedes einzelne Glied dieser Kette nimmt eine Transformation vor, entweder von der Materie hin zur Form oder umgekehrt. Auf diese Art und Weise veranschaulicht er, wie aus einem Stück Boden im brasilianischen Regenwald am Ende ein Horizont auf einem Blatt Papier wird und wie andere WissenschafterInnen dadurch in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage besagten Papierblattes, ein umfassenderes Wissen über Böden in einem globaleren Kontext herzustellen bzw. wie es ihnen damit überhaupt erst möglich wird, von einem Boden zu sprechen. Aber sehen wir uns das im Detail an, in dem wir Latour zunächst auf seine Expedition folgen. Diese beginnt mit einer Abgrenzung, mit der Festlegung eines Bereiches, über den ein Bodenhorizont erstellt werden sollte, um einen Verlauf in einer Bodenbeschaffenheit sichtbar zu machen. Dazu wird im Übergang zwischen Regenwald und Graslandsavanne zunächst eine Strecke ausgewählt und anschließend mittels eines Pedologenfadens vermessen. Aus dieser Vermessung, aus der Übersetzung einer Entfernung, die der Länge des abgerollten Fadens entspricht, in die Zahl des Messwerks am Pedologenfaden, lässt sich bereits die erste Transformation ausmachen, von der noch zahlreiche vor uns liegen (und von denen ich hier nur auf einige wenige eingehen werde): Eine Entfernung wird abgemessen, ables-, abschreib-, und weiterverarbeitbar gemacht. Zugleich wird eine Grundlage für die Übertragung der materiellen Gegebenheiten 12 Ebd. 13 Ebd., 84.
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in einem Regenwald-Savannen-Übergangsgebiet in Brasilien auf ein Blatt Millimeterpapier hergestellt: Die Länge des abgerollten Pedologenfadens wird dazu skaliert und auf einen Zettel übertragen. Latour legt dabei großen Wert auf die Feststellung, dass diese erste Übersetzung, diese erste Transformation, zu jeder Zeit den Rückgriff auf ein Stück Faden in einem Stück Regenwald erlaubt, dass also nicht nur in einer Richtung eine Reduktion der materiellen Gegebenheiten auf eine Zahl stattfindet, sondern dass diese Zahl im umgekehrten Weg auch wieder auf eine abgesteckte Bodenstrecke zurückverfolgt werden kann. Dieser versichernde Rückgriff entspricht nach Latour einer Amplifikation, da mit dem Zurückgehen in den Regenwald Informationen und Eindrücke, die bei der Übertragung einer bloßen Zahl auf ein Stück Papier verlorengegangen sind, wieder zurückgewonnen werden. Im nächsten Schritt, in der nächsten Übersetzung, sind Bohrproben aus dem Boden entlang der abgesteckten Strecke zu ziehen: Dazu wird ein Hohlbohrer, der zugleich der Tiefenmessung dient, in gleichmäßigen Abständen entlang dem ausgelegten Faden dazu herangezogen, Erdproben zu gewinnen. Dann werden aus verschiedenen Tiefen an jeder Bohrstelle Erdklumpen entnommen, und in den Pedokomparator übertragen. Worum handelt es sich bei diesem? Unter dem Pedokomparator muss man sich einen Setzkasten vorstellen, etwa im Format 10 x 10 (dann entspricht er einer zweidimensionalen Matrix mit 100 Feldern). Jedes einzelne Feld dieses Setzkastens wird nun als eine Position entlang und zugleich unter der gerasterten Horizontstrecke verstanden. Die Erdklumpen werden nun den Tiefen, aus denen sie entnommen wurden, entsprechend in den Pedokomparator übertragen. „An ihm haftet noch die ganze Materialität des Bodens. […] Aber sobald er im Karton […] liegt, wird er zum Zeichen, nimmt eine geometrische Form an […].“14 Mit einem Mal entsteht eine diskrete Repräsentation des gesamten Bodenprofils, zudem in einem handlichen Format (da der Pedokomparator mit einem Deckel verschlossen werden kann, wodurch sichergestellt wird, dass jede Probe ihr Feld behält). In meiner Darstellung bin ich darauf angewiesen, diese Transformationskette nur schlaglichtartig auszuleuchten und nur auf die anschaulichsten Übersetzungen einzugehen. Eine solche möchte ich an dieser Stelle noch präsentieren, ehe ich mich der Suche nach der Analogie zwischen dem, was die PedologInnen machen und dem, was die BeamtInnen der Statistischen Central-Commission im Zensus bewerkstelligten, zuwende. Der Pedokomparator macht, wie wir gesehen haben, aus einer beliebig langen Strecke im Dschungel und dem unter ihr liegenden Boden, eine anschauliche, 14 Ebd., 64.
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begreifbare Repräsentation, er diskretisiert die Übergänge und zeigt auf, an welchen Stellen, in welchen Tiefen Unterschiede und Zusammenhänge auftreten. Wie kann diese Repräsentation nun in das wissenschaftliche Sprechen hinübertreten, wie kann der Pedokomparator Teil eines Forschungsberichtes werden? Wie Latour zeigt, bedienen sich die PedologInnen dazu eines kleinen Instruments, eines Heftes, das eine große Zahl an Farbtäfelchen enthält, die dem sogenannten Munsell-Code entsprechen. „Als vergleichsweise universale Norm dient der Munsell-Code sowohl Malern als auch Farbherstellern, Kartographen und Pedologen – er ist ein gemeinsamer Standard. Er dekliniert Tafel für Tafel alle Farbnuancen des Spektrums durch und ordnet ihnen eine Zahl zu, eine Referenz […].“15 Der genaue Abgleich erfolgt dabei über ein Loch in jedem Farbtäfelchen, sodass die verglichene Materie besser mit der Farbe, und damit mit dem Code, übereingestimmt werden kann. Damit wird die Erde nun von den Zeichen vollkommen absorbiert, ihr Abgleich mit dem globalen Munsell-Code im Forschungsbericht ermöglicht es PedologInnen weltweit, die Repräsentation des Bodenhorizonts deren Erstellung Latour begleitet hat, zu reproduzieren und in der Folge in einen größeren Zusammenhang einzubauen. Die zentrale Eigenschaft der skizzierten Transformationskette ist ihre Reversibilität: „Die Nachvollziehbarkeit der Schritte muß es im Prinzip erlauben, [die Kette] in beiden Richtungen auszuführen. Unterbricht man sie an irgendeinem Punkt, so ist auch der Transport, die Produktion, die Konstruktion, gewissermaßen die Leitfähigkeit des Wahren unterbrochen.“16
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Zwischen dem oben beschriebenen Vorgang und der Durchführung der Volkszählung bestehen frappante Analogien, in mehrerlei Hinsicht: Das betrifft nicht nur die Ziele und die Methoden der Erhebung, das reicht bis hin zur Gestalt der verwendeten Instrumente. In Latours Fallbeispiel geht es darum, die Beschaffenheit, Struktur und Anordnung eines Bodens durch verschiedene Verfahren in eine Repräsentation zu überführen. In dieser wird eine bislang verborgene innere Bodenlogik sichtbar, die Schichtung verschiedener Bereiche tritt hervor und er-
15 Ebd., 73. 16 Ebd., 85.
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laubt einen Blick auf die „objektiven“17 Daten.18 Auch im habsburgischen Zensus geht es darum, aus der Überführung von sozialen und materiellen Wirklichkeiten in eine Repräsentation, verborgene Gesetzmäßigkeiten sichtbar zu machen und „objektive Tatsachen“ anstelle des eingeschränkten und unvollständigen Wissens älterer Verwaltungen zur Grundlage des Staatshandelns zu machen. Der erste moderne Zensus in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie findet im Jahr 1869, also bereits nach dem Ausgleich statt. Das führt dazu, dass der Gesamtstaat zwei separate Volkszählungen, nach jeweils eigenen gesetzlichen Rahmenbedingungen, aber mit vergleichbaren Erhebungskriterien, durchführt. Ich konzentriere mich hier auf den zisleithanischen (oder österreichischen) Zensus.19 Ausgehend von den sozialen Wirklichkeiten der StaatsbürgerInnen erzeugt die Administration vermittels des Zensus ein Wissen über eine Bevölkerung. Das basalste Instrument, dessen sie sich zu diesem Zwecke bemächtigt, ist dabei ein Papierbogen, der in zwei verschiedenen Ausführungen existiert: einmal als Anzeigezettel, einmal als Aufnahmsbogen. Der Anzeigezettel kommt im städtischen Raum zur Anwendung, dort ist die Bevölkerungsdichte so hoch, dass die Behörde keine andere Möglichkeit sieht, die Erhebungsmaßnahme termingerecht zu beenden, als die Papierbogen den StaatsbürgerInnen selbst in die Hände zu geben und sie aufzufordern, diese in Eigenregie auszufüllen.20 Der im ländlichen Raum und damit überwiegend verwendete Aufnahmsbogen hingegen wird von 17 Grundlegend dazu: Lorraine DASTON/Peter GALISON, Objektivität, Frankfurt am Main 2007. 18 Zu den Daten schreibt Latour: „Konsequenterweise sollte man niemals von Daten (also »Gegebenem«) sprechen, sondern immer von sublata (also »Erhobenem«).“ Latour, Zirkulierende Referenz, 55. 19 Während zur Benennung der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie weitest gehender Konsens dahingehend herrscht, dass ebendiese im Untersuchungszeitraum keinen offiziellen Namen gehabt hätte (Gerhart WIELINGER, 125 Jahre Bezirkshauptmannschaften. Zur Geschichte einer Institution die sich bewährt hat, in: Mitteilungen des steiermärkischen Landesarchivs 42/43 (1992/1993), 65–76, 65), vertritt Gerald Stourzh die Position, dass der offizielle und informelle Sprachgebrauch der Rechtsnorm widersprochen hätte: Gerald STOURZH, Die dualistische Reichsstruktur, Österreichbegriff und Österreichbewusstsein 1867–1918, in: Ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien/Köln/ Graz 2012, 105–124, 112 ff. 20 Adolf FICKER, Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich. Gehalten in dem vierten und sechsten Turnus der statistisch-administrativen Vorlesungen, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17 (1870), 1–142, 37–41.
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einem Verwaltungsorgan ausgefüllt, der die zu Zählenden aufsucht und sie nach bestimmten Eigenschaften ihrer Lebenswirklichkeit befragt.21 Allerdings ist das Vertrauen des Staates in die Auskunftsbereitschaft seiner BürgerInnen, vor allem im Hinblick auf die teilweise delikaten Informationen, die es zu erheben gilt, beschränkt: Im städtischen Raum sind es daher die HauseigentümerInnen, die die Selbstauskunft der Anzeigezettel-AusfüllerInnen zu überwachen haben. Sie werden über die Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens im Detail aufgeklärt, ebenso wie über das Bestrafungsausmaß, mit dem falsche, unvollständige oder fehlende Angaben zu ahnden sind. Im ländlichen Raum hingegen wird sich später herausstellen, dass nicht alle Zählungscommissäre ihren Verpflichtungen in jenem Umfang nachgekommen sind, der Organen der zisleithanischen Staatsverwaltung eigentlich abverlangt wurde.22 Was geschieht aber bei der Volkszählung? Wie kommt die Lebensrealität der Menschen in den Diskurs der Verwaltung? Wie gelangt die Administration zu ihrer Bevölkerung und damit zu einem Wissen, das die Länder der Habsburgermonarchie unmittelbar vergleichbar macht, mit jenen des Deutschen Reiches oder mit den französischen Départements? Wo lassen sich die ungefähren Endpunkte der Transformationskette ausmachen, die von einzelnen StaatsbürgerInnen hin zu einer kompakten Bevölkerung führen? Die Anzeigezettel und Aufnahmsbögen werden in einer ähnlichen Weise eingesetzt wie der Pedologenfaden: Während dieser ein Stück Boden definiert, skaliert und zur Überführung in den Pedokomparator aufbereitet, benennen und kategorisieren die Aufnahmsbögen StaatsbürgerInnen und bereiten deren Tabellarisierung vor. Der Skalierung entspricht dabei die Unterteilung des Zettels bzw. Bogens in zunächst 13 Gesichtspunkte, für die sich die Verwaltung interessiert: Name Geschlecht Geburtsjahr Konfession Stand Heimatberechtigung Beruf und Beschäftigung Geburtsort 21 Ebd., 45–48. 22 K.k. statistische Central Commission (Hg.), Bevölkerung und Viehstand der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder dann der Militärgränze. Nach der Zählung vom 31. December 1869, V. Heft, Wien 1872, X–XI.
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Anwesend Abwesend Dauernd Zeitweilig Anmerkungen Hier tritt eine deutliche Parallele zu Latours PedologInnen zu Tage: Die bereits weiter oben angesprochene Reduktion macht sich bemerkbar, aber ist indes ein Name, und wie ich später noch ausführen werde, auch eine Adresse vorhanden, können die Zeichen wieder mühelos zurückgeführt werden, auf dahinterstehende Personen und deren Realitäten. Gleichzeitig bringen die Anzeigezettel und Aufnahmsbögen aber auch eine Amplifikation, also eine Verstärkung, einen Zuwachs, hervor: Denn die Wirklichkeit wird geordnet auf das Papier übertragen, man könnte sogar sagen, sie wir auf dem Bogen angeordnet. Jedes einzelne Detail der Erfassung ist geregelt, so lautet etwa die Anweisung zur Eintragung in die zweite Spalte des Formulars:
Name, u. z. Familienname (Zuname), Vorname (Taufname), Adelsprädicat und Adelsrang. Von jeder Wohnpartei sind in folgender Ordnung einzuschreiben: Das Familienoberhaupt. Dessen Ehegattin. Die Söhne und Töchter nach dem Alter von dem ältesten zum jüngsten abwärts, insoferne sie noch nicht selbstständig sind. Sonstige in gemeinschaftlicher Haushaltung lebende Anverwandte, Verschwägerte oder andere Personen, einschliesslich der gegen Bezahlung oder ohne Bezahlung in Pflege Aufgenommenen. Nur zeitweilig anwesende Familienmitglieder oder Fremde (Gäste). Dienstleute und Hilfsarbeiter (Gesellen, Lehrlinge, Commis u.dgl.) der Wohnpartei welche bei ihr wohnen. After-Miethparteien mit ihren Angehörigen und Dienstleuten (in derselben Weise wie es oben gesagt wurde). Bettgeher, Stubengenossen u.dgl.23
Nicht nur die Lebensrealitäten einzelner BürgerInnen werden hier erhoben, sondern auch die Beziehungen in denen sie zueinander stehen werden mit aufgenommen, sogar in einer verhältnismäßig subtilen Manier. Bereits in diesem ersten Schritt kommt es zu einer bemerkenswerten Übersetzungsleistung. Sieben der 13 Gesichtspunkte entlang derer die Wirklichkeit in den Zensus eintritt werden sofort in eine Zahl transformiert, sechs davon sogar nur in eine Zahl: 1 (alternativ: in eine Durchstreichung, was einer 0 entspräche):
23 Ficker, Vorträge, 38, 46.
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Geschlecht, Geburtsjahr, Heimatberechtigung, Anwesend, Abwesend, Dauernd, Zeitweilig. Konfession, Stand und Geburtsort wiederum beziehen sich auf eine jeweils endliche Menge an möglichen Antworten. Nur drei Kategorien, Name, Beruf und Beschäftigung, und Anmerkungen, lassen relativ freie Antworten zu. Die Zensusformulare lassen sich als Koordinatensystem verstehen: Die Zeile, in der die Kategorien benannt werden, entspricht einer Abszisse, jede Kategorie ist folglich nicht nur mit einer Benennung und einer kurzen Erörterung versehen, sondern auch mit einem Buchstaben. Die allererste Spalte mit dem Buchstaben „a“ nimmt dabei eine besondere Rolle ein: Sie dient der Durchnummerierung der in das Formular eingetragenen Personen und stellt damit die Ordinatenachse des skizzierten Koordinatensystems dar. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass die Übertragung der Wirklichkeiten von StaatsbürgerInnen, in die Ordnung der Volkszählung, damit in sich einem räumlichen Prozedere gleichzusetzen ist. Aber dazu noch später. Wie geht es im nächsten Schritt weiter? Wie ich bereits gezeigt habe, wird ein erstaunlich großer Teil der Realität bereits im ersten Schritt in die scheinbare Neutralität der Zahlen übersetzt, der Großteil davon sogar in eine Binärordnung. Als nächstes ist eine Angleichungsoperation notwendig: Die Aufnahmsbögen und die Anzeigezettel erheben zwar dieselben Merkmale, sie tun das aber auf unterschiedlichen Ebenen. Während jeder Aufnahmsbogen ein ganzes Haus in sich aufnimmt, kann ein Anzeigezettel nur eine Wohnpartei verarbeiten. Diese Maßnahme geschieht im Wege von zwei Formularen, die nichts anderes tun, als die Anzeigezettel eines Hauses zusammenzufassen und in eine Übersicht zu bringen. Die nächste Übersetzung auf dem Weg von der sozialen Wirklichkeit zur Bevölkerung besteht in der Erstellung der Ortsübersichten. Dabei wird aus der Übersicht über Häuser und deren BewohnerInnen ein Überblick über ganze Ortschaften. Aber dieser Schritt leistet darüber hinaus eine wichtige Arbeit: Zunächst wird die Kategorie Beruf und Beschäftigung aus den Zensusformularen herausgelöst und einer eigenen Auswertung zugeführt. Dann werden die Namen fallengelassen. Sie fallen der nächsten Reduktion zum Opfer. Die elf übriggebliebenen Kategorien aus den Anzeigezetteln und Aufnahmsbögen werden nun in einem großen Akt in Zahlen transformiert (wobei der Geburtsort in einer gesonderten Erhebung weiterverarbeitet wird): Dazu wird der Bogen für die Ortsübersicht mit 46 Kategorien ausgestattet, jede Möglichkeit einer jeden Spalte aus den Anzeigezetteln bzw. Aufnahmsbögen erhält nun eine eigene Position auf der Y-Achse. Zugleich wird das Koordinatensystem gekippt: Entspricht zuvor noch jede Person einer Zeile und repräsentiert noch jede Zeile die Wirklichkeit einer Staatsbürgerin oder eines Staatsbürgers in 13 Merkmalen, so wird diese Kohä-
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renz nun zerschnitten, die BürgerInnen zerfallen in ihre unterschiedlichen Merkmale, in das, was sie in den Augen der Verwaltung definiert: Geschlecht, Religion, Stand, Heimatberechtigung, Anwesenheit, etc. Die StaatsbürgerInnen und ihre Wirklichkeiten existieren auf dieser Ebene, nach zwei Übersetzungen in den bürokratischen Diskurs, nur mehr als fragmentarisierte Merkmale. Ihre Häuser definieren nun die Zeilen, jedes Haus nimmt nun die Stelle auf dem Formular ein, die vorhin noch Personen innehatten: Mit einem Blick wird nun sichtbar, welche Merkmale die HausbewohnerInnen tragen, ohne dass diese noch selbst in das Sichtfeld treten. Dennoch bleibt der Rekurs auf jeden einzelnen von ihnen nach wie vor jederzeit möglich: Dazu muss man nur in der Transformationskette einen Schritt nach hinten gehen, über die Hausnummer in der Ortsübersicht kann auf das Haus zurückgegangen werden, über dessen Aufnahmsbogen bzw. Anzeigezettel auf die einzelnen Personen, die es bewohnen. Von der Ortsübersicht ausgehend wird in analoger Weise weiterverfahren: Im nächsten Schritt, in der Gemeindeübersicht, werden die Häuser aufgelöst und die Orte werden zu den die Zeilen dominierenden Bezugsrahmen. In der Bezirksübersicht betrifft das die Gemeinden, in den Landesübersichten die Bezirke und am Ende steht eine Bevölkerung, auf die verschiedene Perspektiven nutzbar gemacht werden können: Wie viele Jüdinnen und Juden bewohnen das Kronland Galizien? Wie viel Prozent der BewohnerInnen von Krain sind geschieden? Welcher Anteil der in Wien lebenden Menschen besitzt dort das Heimatrecht? Diese Fragen werden in dieser Art für Zisleithanien erst mit der vollständigen Auswertung des Zensus von 1869 stellbar: Systematische und die Grenzen der alten Herrschaftsgebiete transzendierende Vergleiche wären davor unmöglich gewesen, erst die Volkszählung und die durch sie erfolgte auch faktische Initialisierung administrativer Einheiten und Grenzen schafft im Wortsinn neue Wirklichkeiten, und dieser Prozess verläuft, wie sich gut belegen lässt, nicht ohne Reibungen.24
24 Es finden sich etwa ausführliche Berichte zu massiven Verzögerungen in der Verarbeitung des erhobenen Materials aus Dalmatien und Capo d’Istria, wo auch die Erhebung selbst offensichtlich auf Schwierigkeiten stieß. Vgl. Bevölkerung, X-XI. Zu späteren Volkszählungen siehe Emil BRIX, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910. Wien/Köln/Graz 1982.
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R ÄUMLICHE P RAKTIK
Latours Inskriptionen Im Sinne der besseren Lesbarkeit dieses Beitrags, um klarer und stringenter argumentieren zu können, habe ich die von allen Seiten hereindrängenden Gesichtspunkte des Räumlichen bislang so gut als möglich aus meinen Erörterungen auszuschließen versucht. Alleine, dass mir das nicht im Entferntesten gelungen ist, belegt schon zu einem gewissen Grad die Omnipräsenz, mit der sich solche Aspekte in dem von mir gewählten Untersuchungsfeld behaupten. Ich würde mich sogar zu der Frage versteigen, ob der Zensus ohne die Berücksichtigung seiner räumlichen Dimension überhaupt sinnvoll untersucht werden kann? Aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive würde ich das klar verneinen. Dieser Befund trifft nicht alleine auf die Volkszählung zu, auch in die vorangegangene kurze Darstellung von Latours BodenkundlerInnen drängt sich Raum als analytisches Angebot mit solcher Gewalt, dass er nur unter großen Mühen ausgeschlossen werden konnte. Latour räumt ein, dass „[i]m Laboratorium […] immer schon ein konstruiertes, den Wissenschaften angemessenes Universum da“25 wäre, was die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Vorbedingungen wissenschaftlicher Aktivität naturgemäß limitiert. Womöglich ist es gerade der Umstand, dass Latour das Labor, und damit die kontrollierte, konstruierte und optimierte Umgebung, verlässt um der zirkulierenden Referenz nachzuspüren, dass der Raum so vehement auf die Untersuchung eindrängt? Genau genommen, und das berichtet Latour auch, beginnt dieses Drängen bereits ganz am Beginn: „Die Wissenschaftler beherrschen zwar die Welt, aber nur so weit, wie ihnen die Welt in Form zweidimensionaler, überlagerbarer und kombinierbarer Inskriptionen entgegenkommt.“26 Diese Inskriptionen nehmen bei ihm eine zentrale Rolle ein, wenngleich er sie im Beitrag marginalisiert: Sie sind unabdingbar für die Arbeit der PedologInnen, sie gehen dieser eigentlich voraus und ermöglichen deren Orientierung und Zurechtfinden in dem weitläufigen Terrain, zugleich sind es die WissenschafterInnen selbst, die neue Inskriptionen herstellen und alte überarbeiten. Der Raum nimmt im Zensus eine Rolle ein, die jener der Welt, der Materie in Latours zirkulierender Referenz durchaus ähnelt; und auch die Verfahren, ihn in Inskriptionen überzuführen, weisen bei näherer Überlegung durchaus analoge
25 Latour, Zirkulierende Referenz, 43. 26 Ebd., 41.
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Züge auf, denn Latour denkt sie ephemer und fragil: „Man nehme die Karten weg, bringe die kartographischen Konventionen durcheinander, lösche die Zehntausende von Stunden aus, die in den Atlas von Radambrasil investiert wurden, störe die Radaranlagen der Flugzeuge, und unsere vier Forscher wären in der Landschaft verloren.“27 Ebenso wie die Form, die im Wege der zirkulierenden Referenz aus der Materie transformiert wird, bedarf die Inskription einer beständigen Vergewisserung, einer kontinuierlichen Verbindung, einer permanenten Vergewisserung im Rückgriff, die durchaus als Transformationskette konzeptualisiert werden könnte. Peter Galison belegt dabei anhand des Beispiels der modernen Satellitennavigation, wie fragil, flüchtig und an konkrete Praktiken gebunden diese räumliche Stabilisierungsleistung eigentlich ist: Er beschreibt, wie die penible Genauigkeit der in den GPS-Satelliten verwendeten Uhren das Flottieren der Kontinente unter dem fest gespannten Netz der Längen- und Breitengrade beobachtbar machen und zugleich die Genauigkeit der satellitengestützten Orientierung limitieren.28 Jeder Rückbezug auf einen territorial gedachten, stabilen Raum wird damit zur Schimäre. Der Zensus als Machttechnik des Räumlichen Ebendas lässt sich aber auch am Zensus beobachten: Der Zensus, als wissenschaftliches Verfahren im Dienst der Administration ist zu einem kaum zu überschätzenden Grad von, ich bleibe einstweilen bei Latours Sprachgebrauch, räumlichen Inskriptionen abhängig. Sie leisten die räumliche Stabilisierungsarbeit, die das staatliche Territorium zugleich neu entwirft und kontinuierlich absichert. Konkret sind es zwei Maßnahmen, die das Gelingen dieser Operation antizipieren: Beide schreiben sich in historische Prozesse ein, die ungefähr in die Zeit der frühesten Wurzeln des neuzeitlichen Zensus selbst zurückreichen. Einerseits ist es die Hausnummerierung, auf die sich die Volkszählung stützt, andererseits die Zweite Landesaufnahme.29 Die ersten neun von insgesamt 35 Paragraphen des 27 Ebd. 28 Peter GALISON, Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt am Main 2006. 29 Zur Hausnummerierung: Anton TANTNER, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Wien 2004. Zur Landesaufnahme: Ernst HOFSTÄTTER, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahmen. Ein Überblick der topographischen Aufnahmeverfahren, deren Ursprünge, ihrer Entwicklungen und Organisationsformen der vier österreichischen Landesaufnahmen, Wien 1989. Als herausragendes Beispiel für den internationalen Diskurs der sich dazu mittlerweile entwickelt hat: David GUGERLI/
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Volkszählungsgesetzes vom 29. März 1869 beschäftigen sich damit ausschließlich mit dem Raum, sie haben keinen anderen Gegenstand zum Inhalt als die Frage, wie die Administration in die soziale Wirklichkeit der StaatsbürgerInnen hineinfindet, im Sinne einer Orientierung im Raum.30 Noch massiver als in der gesetzlichen Grundlage zeigt sich das räumliche Moment in der Umsetzung des Zählungsvorhabens: Jedes einzelne Formular, jeder Zettel, der mit dem Zensus in Zusammenhang steht, weist zu allererst auf dem ersten Blatt am rechten oberen Rand eine räumliche Inskription auf. Jede durch die Volkszählung hervorgebrachte Übersetzung der sozialen Realität lässt sich damit einem Ort zuweisen, einem Haus, einer Gemeinde, einem Bezirk, einem Land. Zugleich ist es diese Verräumlichung des erzeugten Wissens, die dessen Wert für Administration und Wissenschaft konstituiert. Welchen Wert hätte eine Aufsummierung der Lebenswirklichkeiten der StaatsbürgerInnen, wenn sie sich nicht auf Regionen, Bezirke, Ortschaften oder Häuser zurückführen ließe? Was vermag die Verwaltung mit solchen Listen anzustellen? Die Bedeutung des Zensus besteht darin, dass er nicht nur eine Bevölkerung hervorbringt, sondern auch einen Raum, dass er nicht nur auflistet, sondern auch anordnet; vor allem aber ermöglicht er der Administration ihr Handeln, indem er ihr räumliche Positionen zur Verfügung stellt und ihr die Bestimmung ermöglicht, wo sich die Objekte und Subjekte ihrer Tätigkeitsausübung befinden. Der Zensus versucht sich nicht nur in der Transformation räumlicher Wirklichkeiten auf das Kanzleipapier der Verwaltung, wie bereits weiter oben beschrieben, gehen seine eigenen Instrumente von räumlichen Vorstellungen aus: Das Koordinatensystem seiner Anzeigezettel und Aufnahmsbögen, und der darauffolgenden Übersichten, bedient sich desselben Prinzips wie Karten! So besehen gewinnen wir einen neuen, distanzierteren Blick auf Staatsverwaltungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Konturen der Schimäre des Nationalen verblassen etwas, wenn man ihre Existenzbedingungen aus der Nähe betrachtet und dabei auf die Machttechniken einer Verwaltung stößt, die sich wissenschaftlicher Verfahren bedient, um ihre Ziele zu erreichen.31 An dieser Stelle wird deutlich, dass sich der Zensus nicht ohne die Hausnummerierung und die Landesaufnahme betrachten lässt und, dass die beiden letzteren nicht für sich genommen einen Wert für die Verwaltung begründen, sondern sich vielmehr in einen größeren Zusammenhang einschreiben. Diese Trias aus RaumDaniel SPEICH, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. 30 Gesetz vom 29. März 1869. Über die Volkszählung, in: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich. Jahrgang 1869, Wien 1869, 307–314. 31 Silvana PATRIARCA, Numbers and Nationhood, Cambridge 1996.
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praktiken, die einander wechselseitig bedingen, geht zurück auf das 18. Jahrhundert, sie entfalten ihre volle Wirksamkeit jedoch erst unter veränderten Rahmenbedingungen, im Lichte neuer Techniken und Verfahren, in neuen politischen Kontexten, nicht zuletzt aber: in einer andauernden Ausverhandlung32 mit den StaatsbürgerInnen.33 Der Spatial Turn und die neueren Theorieangebote zum Raum Die in den letzten Jahren erschienenen Veröffentlichungen zum Spatial Turn belegen das gesteigerte Interesse, das in verschiedenen Forschungskontexten räumlichen Aspekten gegenüber sichtbar wird. Zumindest finden sich darin umfangreiche theoretische Überlegungen, wohingegen Fragen der methodischen Herangehensweise bzw. der Operationalisierbarkeit nur am Rande Erwähnung finden. In einem geschichtswissenschaftlichen Kontext sind Überlegungen zu einer stärkeren Reflektion der räumlichen Bedingungen von historischen Prozessen zuletzt durchaus auf positive Rezeption gestoßen. Matthias Middell etwa sieht im Spatial Turn, in Verbindung mit dem Cultural Turn und einem stark gesteigerten Interesse an „Globalgeschichte“, den entscheidenden Impuls für ein gegenwärtiges Selbstverständnis der Disziplin.34 Verhaltener fallen dagegen Reaktionen aus der Human- und Sozialgeographie aus: Besonders Karl Schlögel, dessen 2003 erschienene Publikation Im Raum lesen wir die Zeit35 bis zu einem gewissen Grad diese Konjunktur mit ausgelöst hat, wird heftig kritisiert, ein Spatial Turn als solches tendenziell negiert.36 Daran lassen sich theoretische aber auch methodologische Unterschiede zwischen den Herangehensweisen von HistorikerInnen auf der einen Seite und Human- und SozialgeographInnen und SoziologInnen auf der anderen Seite able32 Besonders anschaulich verdeutlicht das Tantner, Ordnung. 33 Existierende Untersuchungen konzentrieren sich in der Hauptsache auf den Zensus: Alain DESROSIÈRES, La politique des grandes nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 2010. Zum Raum in Ansätzen GUGERLI/SPEICH, Topografien. 34 Matthias MIDDELL, Der Spatial Turn und das Interesse der Geschichtswissenschaft an der Globalisierung, in: Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009, 103–123. 35 Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. 36 An dieser Stelle sei auf einen maßgeblichen Autor verwiesen: Benno WERLEN, Körper, Raum und mediale Repräsentation, in: Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009, 365–392, hier 365.
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sen. Während sich die Geschichtswissenschaft in den letzten zehn Jahren verstärkt Fragen nach den medialen Bedingungen räumlicher Repräsentationen ausgesetzt hat und ebensolche Raummedien verstärkt in den Fokus ihrer Forschung gerückt hat, konzentrieren sich Zugänge der Geographie und der Soziologie stärker auf praxeologische Aspekte. Dabei wurden auch Spannungen artikuliert.37 Interessanterweise verlaufen diese Spannungen entlang einer Bruchlinie, von der bereits weiter oben die Rede war: Der zentrale Streitpunkt besteht in der Frage nach der materiellen Dimension von Raum.38 In der abgesteckten Arena dieses Raumdiskurses lässt sich die Debatte um das Dinghafte und das Nicht-Dinghafte vielleicht besonders gut betrachten: Auch in den jüngsten Untersuchungen haben HistorikerInnen die Existenz eines physischen Raumes soweit nicht bestritten. Es wird kein Anspruch auf einen unmediatisierten Zugriff auf einen solchen erhoben, im Brennpunkt von Analysen liegen Raummedien und die Praktiken, die sie zu gültigen Repräsentationen eines Raumes gemacht haben.39 Diese Position wird dabei als inkompatibel mit jener, einer deutschsprachigen Sozialgeographie, erachtet, die darin bisweilen eine essentialistische Haltung erkennt.40 Dahinter tritt ein Verständnis von Raum zutage, das diesen ausschließlich als Produkt sozialen Handelns begreift. Martina Löws Raumsoziologie schreibt sich in diese Auffassung ein.41 Es muss dazu angemerkt werden, dass dieses einigermaßen radikale Programm nicht nur innerhalb der Geographie nicht unumstritten ist, so steht es etwa in deutlicher Opposition zu einer angelsächsischen Cultural Geography, sondern auch innerhalb der Soziologie nicht einhellig auf Zustimmung stößt. Zwar herrscht Konsens darüber, dass Raum für SoziologInnen hauptsächlich in seiner sozialen Dimension relevant sei und demzufolge als Produkt sozialer Praxis gelte42, das negiert jedoch per se noch nicht physische Aspekte des Raumes. Vielmehr weist Marcus Schroer auf die Nähe zwischen naturwissenschaftlichen und soziologischen Raumkonzeptionen hin und eine gewisse Ironie schwingt 37 Jörg DÜNNE, Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums, in: Jörg DÖRING/Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009, 49–69. 38 Ebd., 50–51. 39 Beispielhaft: GUGERLI/SPEICH, Topografien und GALISON, Uhren. 40 Roland LIPPUNER/Julia LOSSAU, In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften, in: Georg MEIN/Markus RIEGER-LADICH (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken, Bielefeld 2004, 47–64. 41 Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. 42 Marcus SCHROER, Soziologie, in: Stephan GÜNZEL (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2012, 354–369,. hier 354.
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mit, wenn er „den Nachweis einer relationalen Raumauffassung […] gewissermaßen zum Lackmustest“ eines Raumkonzeptes erklärt, dass sich „auf der Höhe der Zeit“ bewege.43 „Die eindeutige Abkehr vom physischen Raum und der Territorialität in den genannten sozialwissenschaftlichen bzw. geographischen Zugängen ist deutlich vom Bemühen geprägt, sich vom geopolitischen Missbrauch eines territorial basierten Raumverständnisses abzusetzen […]“44, interpretiert Jörg Dünne, der die Dichotomisierung von „sozialem Praxisraum“ und „territorialem Ordnungsraum“ durch die „Untersuchung der Medialität jeglicher Raumkonstitution“ zu überwinden vorschlägt.45 Einen gänzlich anderen Zugang bieten Ansätze, die sich auf die Akteur-Netzwerk-Theorie stützen, wie sie u. a. von Bruno Latour und Michel Serres geprägt wurde. Diese kurz ANT genannte Theorie ist vor allem im englischsprachigen Raum auf starke Resonanz gestoßen und zielt unter anderem darauf ab, den binär gedachten Gegensatz Natur-Kultur (bzw. physisch-sozial) zu überwinden.46 Dies geschieht über die prinzipielle Gleichbehandlung menschlicher und nichtmenschlicher Aktanten, oder anders ausgedrückt: über das Einschreiben von Handlungspotentialen in Gegenstände.47 Wie der Begriff des Netzwerkes bereits aussagt, handelt es sich außerdem um einen Zugang, der das Räumliche grundlegend integriert. Actor-Networks sind nicht stabil gedacht, sie bedürfen ständiger Erneuerung bzw. sind in ständiger Umformung inbegriffen. Darin findet sich durchaus ein praxeologischer Zugang realisiert. Einen Versuch, eine „philosophische Geographie“ nach den Prämissen der ANT zu denken, unternehmen Nick Bingham und Nigel Thrift.48 Sie arbeiten heraus, wie dieser Zugang Begriffe von Raum und Zeit als Handlungen (also gewissermaßen als „räumen“ bzw. „zeiten“) erfordert.49 Umgelegt auf die oben skizzierte Auseinandersetzung um die Materialität würde das nahelegen, physische und soziale Räume gleich zu be43 Ebd., 356–357. 44 Dünne, Karte, 51. 45 Ebd., 52. 46 Siehe dazu Bruno LATOUR, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008. 47 Ingo SCHULZ-SCHAEFFER, Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik, in: Johannes WEYER (Hg.), Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München 2000, 187–211. 48 Nick BINGHAM/Nigel THRIFT, Some new Instructions for Travellers. The Geography of Bruno Latour and Michel Serres, in: Mike Crang/Nigel Thrift (Hg.), Thinking Space, London/New York 2000, 281–301, hier 288. 49 Ebd., 290.
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handeln und ihnen außerhalb von Actor-Networks keine Einflusspotentiale einzuschreiben. Bingham und Thrift gehen aber auch auf den Hauptkritikpunkt an einer räumlichen Operationalisierung einer handlungstheoretische Gesichtspunkte stark miteinbeziehenden ANT ein: Deren Neigung, ungleiche Machtverhältnisse auszublenden bzw. diese unsichtbar zu machen.50 Diese Kritik lässt sich durchaus auch auf praxeologische Zugänge übertragen, die im deutschsprachigen Raumdiskurs betrieben werden. Die Fähigkeiten räumlich (und „räumend“) zu agieren sind stark durch Ressourcen und asymmetrische Handlungspotentiale prädeterminiert, was mitunter übersehen wird, wenn das Handeln im Raum unhinterfragt zu einem grundlegenden, ahistorischen und scheinbar neutralen Modus wird.51
S CHLUSSBEMERKUNGEN Der Umstand, dass der Umgang mit dem Raum maßgebliche Parallelen mit dem Umgang mit materiellen Gesichtspunkten aufweist, legt es nahe, dass man den Versuch unternehmen könnte, die beiden Aspekte auf der methodischen Ebene mit ähnlichen Instrumentarien zu bearbeiten. Dieses Experiment wird im vorliegenden Beitrag unternommen. Welche Bilanz lässt sich nun ziehen? Es zeigt sich, dass die Operationalisierung der zirkulierenden Referenz nicht nur für die Untersuchung des „Übergangs von der Materie zur Form“52 Sinn macht, sondern auch für die Modellierung der Erzeugung räumlicher Inskriptionen angewandt werden kann, zumindest im engen Rahmen einer wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung. Ein solcher analytischer Zugang stützt sich stärker auf medial hergestellte Raumrepräsentationen bzw. untersucht er das Zustandekommen und die Herstellung von solchen. Grundlegende Fragen um einen physischen Raum, wie sie von der Humanund Sozialgeographie geführt werden, wurden bislang in einer breiteren historiographischen Auseinandersetzung noch kaum rezipiert. Jüngere Beiträge belegen vielmehr, dass die Berührungsängste zu den Theoretikern eines NS-Raumdiskurses in der Disziplin selbst weitestgehend abgebaut sind und zumindest Friedrich
50 Ebd., 299. 51 Ebendieser Punkt wird gegenüber dem „Mapping“ von Jörg Dünne aufgeworfen: DÜNNE, Karte, 53. 52 LATOUR, Zirkulierende Referenz, 85.
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Ratzel und Wolfgang Schmitt als Teile der disziplinären Vergangenheit kritische Behandlung erfahren.53 Die Rezeption von Ansätzen aus der ANT in einem geschichtswissenschaftlichen Zusammenhang belegen vor allem ein Interesse an den methodischen Impulsen, die von dieser ausgehen. Dagegen treten Debatten um deren theoretische Prämissen, wie sie in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Kontexten geführt werden, eher in den Hintergrund. Das fügt sich gut in das Bild des jüngeren fachinternen Diskurses ein: Gérard Noiriel oder Lutz Musner ließen sich an dieser Stelle ins Treffen führen, die bezeichnenderweise beide eine Rückbindung an die sozial konstituierten Grundlagen historischer Forschungsarbeit fordern, ohne mit dieser Position die zentralen Erkenntnisse des linguistic turn in Frage stellen zu wollen.54 Innovative Positionen werden eher auf methodischem als auf theoretischem Weg übernommen, große Auseinandersetzungen im letzteren Feld sind in der jüngeren Vergangenheit nicht zu beobachten. Konkret würde das bedeuten, auch abseits einer Ebene symbolischer Repräsentation die soziale Dimension von Ereignissen wieder miteinzubeziehen. Noiriel rät in diesem Kontext zu einem theoretischen wie auch methodischen Pluralismus, ohne dabei bis zum Whatever Works eines Paul Feyerabend zu gehen. Vielmehr rückt sein Bild vom Werkzeugkasten (das übrigens an eine Auffassung von Geschichtswissenschaften erinnert, die in der Postmoderne-Debatte starke Resonanz erfahren hat)55 auch die Verantwortung und die Wahlmöglichkeiten die sich HistorikerInnen angesichts ihrer Fragestellungen bieten, stärker in den Vordergrund.
53 Marcus SANDL, Geschichtswissenschaft, in: Stephan GÜNZEL (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2012, 159–174,. hier 163–165. 54 NOIRIEL, Socio-histoire, 6–7; Lutz MUSNER, Jenseits von Dispositiv und Diskurs. Historische Kulturwissenschaften als Wiederentdeckung des Sozialen, in: Jan Kusber/Mechthild Dreyer/Jörg Rogge/Andreas Hütig (Hg.), Historische Kulturwissenschaften: Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, 67–80, 67; weiters beziehe ich mich auf ein Gespräch mit Prof. Noiriel, geführt am 2. Juli 2012 an der EHESS. 55 CONRAD/KESSEL, Geschichte, 23.
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L ITERATUR Aleida ASSMANN, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2008, 17–29. Peter BERGER/Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1972. Nick BINGHAM/Nigel THRIFT, Some new Instructions for Travellers. The Geography of Bruno Latour and Michel Serres, in: Mike Crang/Nigel Thrift (Hg.), Thinking Space, London/New York 2000, 281–301. Emil BRIX, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910. Wien/Köln/Graz 1982. Christoph CONRAD/Martina KESSEL, Geschichte ohne Zentrum, in: Dies. (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994, 9–36. Lorraine DASTON/Peter GALISON, Objektivität, Frankfurt am Main 2007. Michel DE CERTEAU/Fredric JAMESON/Carl LOVITT, On the Oppositional Practices of Everyday Life, in: Social Text 3 (1980), 3–43. Alain DESROSIÈRES, La politique des grandes nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 2010. Jörg DÜNNE, Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009, 49–69. Adolf FICKER, Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich. Gehalten in dem vierten und sechsten Turnus der statistisch-administrativen Vorlesungen, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17 (1870), 1–142. Peter GALISON, Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Frankfurt am Main 2006. David GUGERLI/Daniel SPEICH, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. Stuart HALL (Hg.), Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London/Thousand Oaks/New Delhi 1997. Ernst HOFSTÄTTER, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahmen. Ein Überblick der topographischen Aufnahmeverfahren, deren Ursprünge, ihrer Entwicklungen und Organisationsformen der vier österreichischen Landesaufnahmen, Wien 1989. Georg IGGERS, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1993.
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Gerhart WIELINGER, 125 Jahre Bezirkshauptmannschaften. Zur Geschichte einer Institution die sich bewährt hat, in: Mitteilungen des steiermärkischen Landesarchivs 42/43 (1992/1993), 65–76.
(Auto-)Mobile Räume und die Unordnung der Dinge im Unfall M ANFRED P FAFFENTHALER (G RAZ )
U NTERWEGS Mit dem Siegeszug der Automobilität löste sich der Individualverkehr vom Gerüst des Fahrplans, von vorgegebenen Ein- und Ausstiegsorten und von richtungsgebenden Schienenpaaren. Das Auto ist – zumindest für die westlichen Industriestaaten – seit dem Ende des Ersten Weltkrieges Inbegriff individueller Mobilität.1 „Wenn die Eisenbahn als Fortbewegungsmittel des 19. Jahrhunderts die kollektive Bewegungsidee repräsentiert“ – so Wolfgang Kaschuba – „dann steht das Auto symbolisch für die individuelle Mobilität des 20. Jahrhunderts. Es ist die Vorstellung vom ‚ungebunden zirkulierenden Individuum‘ […]“.2 An der Wende zum 20. Jahrhundert, an der Schnittstelle von Eisenbahn- und Automobilzeitalter, wird „‚Unterwegs‘ zu sein“ zur „Signatur der Epoche“.3 Der Topos
1
Zur Verbreitung des Automobils und der Motorisierung des Straßenverkehrs vgl. u. a. Reiner FLIK, Nutzung von Kraftfahrzeugen bis 1939 – Konsum- oder Investitionsgut?, in: Rolf Walter (Hg.), Geschichte des Konsums (Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 175), Wiesbaden 2004; Christoph Maria MERKI, Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien/Köln/Weimar 2002.
2
Wolfgang KASCHUBA, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt am Main 2004, 180.
3
Dirk van LAAK, Pionier des Politischen? Infrastruktur als europäisches Integrationsmedium, in: Christoph Neubert/Gabriele Schabacher (Hg.), Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld 2013, 176.
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des „Unterwegsseins“ taucht in der Folge vor allem in Zeiten der Unsicherheit und des Umbruchs immer wieder auf. Er findet sich in John Steinbecks The Grapes of Wrath, wo die Große Depression Anfang der 1930er-Jahre tausende Familien zu Wirtschaftsflüchtlingen machte und er findet sich auch in Jack Kerouacs Roman On the Road, in dem scheinbar ziellos unterwegs zu sein richtungsweisend für eine ganze Generation wurde. Der vorliegende Beitrag hat jene Räume zum Inhalt, die sich besonders durch Mobilität konstituieren.4 Wenn das Auto im Titel eingeklammert ist, dann deshalb, um das Bewusstsein über andere Transportmittel nicht auszuklammern. Zugleich folgt damit der Hinweis, dass Verkehrsmittel nicht nur der Raumüberwindung dienen, sondern für sich schon bewegte Räume darstellen, wie gezeigt werden wird. Neben dem Auto wird vor allem die Eisenbahn besprochen. Der technische Fortschritt führte bei beiden Verkehrsmitteln zur Polarisierung der zeitgenössischen Rezeption zwischen Fortschrittsskepsis und Geschwindigkeitsrausch. Im ersten Punkt wird gezeigt, wie technische Innovationen eine klare Abgrenzung von der „Außenwelt“ ermöglichten und damit einen semi-privaten Innenraum schufen. Dabei ist nicht nur das Automobil, als sich buchstäblich selbst bewegender Raum, von Interesse, sondern auch der Umgebungsraum, den dieses Vehikel durchmisst. Der zweite Punkt folgt demnach den Straßen und ihrer Bedeutung für die Herstellung von Landschaften wie für die Vergemeinschaftung ihrer BenutzerInnen. Im dritten Punkt wird die Frage nach der Erschließung des Raumes durch Verkehrsnetze gestellte und der Rolle des An- und Ausschlusses an bzw. von Verkehrsnetzwerke/-n nachgegangen. Der Beitrag folgt einer induktiven Argumentationslinie, vom einzelnen privaten Innenraum des Automobiles, über den öffentlichen Raum der Straße bis hin zu internationalen Verkehrsnetzwerken. Die dazu notwendigen technischen Innovationen führen im letzten Punkt unabwendbar zum Unfall. Im Unfall kommen die Dinge durcheinander, um erneut in einer höheren Ordnung aufzu-
4
Zur konstitutiven Bedeutung von Bewegung für den Raum vgl. Michel De CERTEAU, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, 218. „Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“ Hartmut Böhme folgt dieser Feststellung, wenn er meint: „Bewegt sich nichts und bewege ich mich nicht, ist kein Raum. Raum wird eröffnet und ausgerichtet durch die Bewegung.“ Hartmut BÖHME, Raum – Bewegung – Topographie, in: Ders. (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart/Weimar 2005, XVII.
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gehen.5 Der Beitrag versteht sich weniger als technikgeschichtlicher Überblick mit Anspruch auf Vollständigkeit, sondern trifft sich – Christoph Neubert und Gabrielle Schabacher folgend – an der Schnittstelle von symbolischer, technischer und sozialer Praxis.6
D AS A UTO Als Carl Benz 1886 seien Motorwagen zum Patent anmeldete war dieser einer offenen Kutsche nachempfunden.7 Die offene Form der Karosserie hat sich bis in die Gegenwart zu Gunsten einer klaren Abgrenzung vom Umgebungsraum verändert, wobei lediglich das Cabriolet eine optionale Ausnahme darstellt. Abgedunkelte Scheiben und gepanzerte Limousinen mit Giftgasfilter für Politiker schaffen ein Mikroklima, das eine scheinbar feindliche Umwelt außen vor lässt. Die hier lediglich skizzierte Entwicklung hatte im 19. Jahrhundert in ähnlicher Weise bereits die Eisenbahn durchlaufen mit der an dieser Stelle begonnen werden soll. Der Ursprung der Eisenbahn als industrielles Transportmittel, das u. a. im Bergbau oder als Kohlewagen Verwendung fand, erklärt seine anfänglich offene Form. Die erste Personenbahnlinie wurde 1830 eröffnet und verlief zwischen Manchester und Liverpool.8 Die zunehmende Bedeutung der Eisenbahn als Personentransportmittel verlangte die Entwicklung geschlossener Waggons, die die Reisenden vor Rauch und Ruß, wie vor Wind und Wetter schützten. In der Geschichte der Eisenbahnreise beschreibt Wolfgang Schivelbusch diese Entwicklung und zeigt dabei, dass sie in Europa und in den USA durchaus unterschiedlich verlief. Während in den USA ab den 1840er-Jahren der Durchgangswagen zum Standard wurde, wurden in Europa die Waggons in einzelne Abteile unterteilt. Für Schivelbusch ist das Bahnabteil deshalb auch Ausdruck europäischen Klassendenkens, das in diesem Fall von der ersten bis zur vierten Klasse reichen
5
Christian KASSUNG (Hg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Medienge-
6
Christoph NEUBERT/Gabriele SCHABACHER (Hg.), Verkehrsgeschichte und Kul-
schichte des Unfalls, Bielefeld 2009. turwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld 2013, 12. 7
Herman GLASWER, Das Automobil. Eine Kulturgeschichte in Bildern, München 1986, 9 f.
8
Kaschuba, Die Überwindung der Distanz, 79–85.
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konnte und große Unterschiede im Reisekomfort mit sich brachte. So wurden z. B. in England die Wagen der beiden unteren Klassen erst nach 1844 überdacht.9 In der Anfangszeit der Bahnreise waren die einzelnen Bahnabteile lediglich von außen zu betreten und es gab keine Verbindung zwischen den Kabinen. Erst als sich Presseberichte über Überfälle und grausame Morde häuften, wurde ein verbindender Gang konstruiert, womit ein Wechsel des Abteils auch während der Fahrt möglich wurde. Die häufigen Überfälle waren mit ein Grund, warum Schivelbusch das Eisenbahnabteil des 19. Jahrhundert als „traumatischen Ort“ bezeichnet. Die Geschlossenheit erzeugte das Gefühl der Isoliertheit, das mit der Angst einher ging überfallen zu werden. In der Imagination der Reisenden wurde das Abteil zunehmend zum faszinierenden Schauplatz des Verbrechens.10 Dazu heißt es im Handbuch für Spezielle Eisenbahn-Technik aus dem Jahr 1870: Der Passagier ist „unglücklich noch einen Mitreisenden zu bekommen, der ihn bestiehlt, wenn er schläft oder gar ermordet und stückweise zum Wagen herausbefördert, ohne daß die Beamten des Zuges etwas davon merken.“11 Erst der verbindende Gang zwischen den Abteilen löste dieses Trauma, doch ergab sich nun eine neue Spannung in der Dynamik des Platzeinnehmens, die bis heute nicht gelöst zu sein scheint. Darin zeigt sich, wie der eigentlich öffentliche Raum des Bahnabteils zu einem quasi privaten gemacht wird und wie die eigene Territorialität gegen alle Zusteigenden verteidigt wird. Hans Magnus Enzensberger beschreibt dies sehr anschaulich: „Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten, den neuen gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium das zur Disposition steht.“12 Hier wird der öffentliche Raum des Bahnabteils auf eigentümliche Weise zum privaten, der sich im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Abgrenzung konstituiert. Im Fall des Automobils fehlt genau diese Dynamik, da es sich – zumindest üblicherweise – im Besitz der Fahrenden befindet.
9
Wolfgang SCHIVELBUSCH, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industriealisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2011 (1977), 67–105.
10 Ebd., 75. 11 Heusinger von WALDEGG (Hg.), Handbuch für spezielle Eisenbahn-Technik, Bd. 2, Leipzig 1870, 298; zitiert nach SCHIVELBUSCH, Geschichte der Eisenbahnreise, 79. 12 Hans Magnus ENZENSBERGER, Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen, Frankfurt am Main 1992, 12.
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Bereits um 1900 war das Automobil Teil des Verkehrs in den europäischen Metropolen, doch sollte sich eine breitere Motorisierung erst in den 1920er- und vor allem in den 1930er-Jahren durchsetzten. Dabei war das Auto anfänglich kaum Konkurrenz zur Eisenbahn, sondern mehr ein Luxusvehikel für jene, die es sich leisten konnten. Erst die Produktion kostengünstigerer Modelle und die zunehmende technische Verlässlichkeit, auch auf weiten Strecken, begünstigte die weitere Verbreitung des Automobils nach dem Ersten Weltkrieg.13 Die Entwicklung kleinerer und günstigerer Modelle ging dabei mit dem Aufbau einer geschlossenen Karosserie einher. Der Fokus der frühen Automobilhersteller galt der Steigerung der Motorleistung, das Design der Karosserie blieb dabei nebensächlich, man orientierte sich nach wie vor am Kutschenbau. Vor allem die höheren Geschwindigkeiten, aber auch der Wunsch der Kunden nach ansprechenden Formen, machten den Aufbau einer geschlossenen Karosserie notwendig. Vor dem Ersten Weltkrieg war die geschlossene Karosserie noch die Ausnahme, da die noch schwache Motorleistung den schweren Aufbau nicht tragen konnte. Eine Zwischenlösung stellte damals die sogenannte Aufsatzlimousine dar, die je nach Bedarf montieren oder abgenommen werden konnte. Erst ab der Mitte der 1920er-Jahre setzte sich die geschossene Form der Karosserie im Automobilbau endgültig durch und blieb auch bis heute erhalten.14 Die Abgrenzung vom Umgebungsraum und die Abschließung hin zum Innenraum hat das Erscheinungsbild des Autos auf funktionale und ästhetische Weise geprägt. Begleitet wurde diese Entwicklung vom Verschwinden einer entsprechenden Bekleidung, die vor Staub und Fahrtwind wie vor Wind und Wetter schützte. Fahrerbrille, Mütze, Handschuhe und Schal gehörten in der frühen Phase der Automobilität wie selbstverständlich zu jedem Fahrer und jeder Fahrerin. Die geschlossene Karosserie führte, wie bereits zuvor bei der Eisenbahn, zu einer „sensorischen Isoliertheit“ und ferner zu einer veränderten Interaktion mit der Straße und der Umgebung.15 Mit der höheren Geschwindigkeit und größeren Reichweite ist aus der Ausfahrt, die noch ein gewisses Maß an Bewunderung evozierte, der Ausflug geworden, der vornehmlich dem Ortswechsel diente. Michael Mende beschreibt dies wie folgt: „The avenue would not be something like
13 Dabei gab es bei der Verbreitung des Automobils je nach sozialer Schicht und zwischen Stadt und Land starke Unterschiede. Vgl. dazu: FLIK, Nutzung von Kraftfahrzeugen; MERKI, Der holprige Siegeszug. 14 Michael MENDE, Vehicle Design and the Metropolitan Avenue, 1950–1960, in: Gijs Mom/Laurent Tissot (Hg.), Road History. Planning, Building and Use, Neuchâtel 2007, 201; MERKI, Der holprige Siegeszug, 40 f. 15 Kaschuba, Die Überwindung der Distanz, 240 f.
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a stage any more where to demonstrate distinction, but a simple passage which therefore did not need any distinguished scenery. The closed car now had become a ‚home on wheels’, rather a kind of a shelter, but less a kind of a box seat in the ‚theatre’ of the avenue and the city”.16 Es ist diese Wechselwirkung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, das ambivalente Gefühl der Vertrautheit des Autoreisenden in der Fremde, das auch John Urry beschreibt, wenn er meint, „moving private in a public-space”.17 Die gewohnte Umgebung im Auto, die bekannten Gerüche und die Lieblingssongs im Radio erwecken Vertrautheit; das Auto wird zur Insel in der Fremde, zum Ort des Eigenen, den jeder Urlaubsreisende kennt. Urry bringt dies schlussendlich auf die Formel: „The car is a ‚home from home‘ […]“.18 Die hier skizzierte Entwicklung wird im letzten Punkt nochmals aufgegriffen, wenn es zum Unfall kommt und das plötzliche Aufbrechen der geschützten Sphäre zum Schock führt. Folgen wir aber zunächst den Straßen.
D IE S TRASSE Wie eingangs bereits erwähnt war On the Road sinnstiftend für eine ganze Generation. Dabei erlangen Straßen erst durch das Unterwegssein an Bedeutung, wie sich der Raum erst durch die Bewegung konstituiert.19 Aufgrund der größeren Reichweite und den höheren Geschwindigkeit, die die neue Verkehrstechnik mit sich brachten, war lange vom Verschwinden des Raumes die Rede.20 Dem kann aber nur mit Vorbehalt gefolgt werden, da die Erleichterung der Distanzüber-
16 Mende, Vehicle Design, 202. 17 John URRY, Mobilities, Cambridge 2007, 128. Die Frage, ob der Innenraum des Autos nun privater oder öffentlicher Raum ist, ist letztlich auch eine juristische. Vor diesem Hintergrund diskutieren Verkehrsexperten nach wie vor, ob entblößtes Autofahren erlaubt ist. Die Kontroverse scheint dabei auf einen Kompromiss hinaus zu laufen, der da lautet: Ja, solange man das Auto nicht unbekleidet verlässt. 18 Urry, Mobilities, 128. 19 De Certeau, Die Kunst des Handelns, 218. Die Straße „[…] die der Urbanismus geometrisch festlegt [wird] durch die Gehenden in einen Raum verwandelt“. 20 Zur Annihilation des Raumes vgl. vor allem: Paul VIRILIO, Fluchtgeschwindigkeiten: Essay, München/Wien 1996; zur Kompression des Raumes vgl. vor allem: David HARVEY, Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994.
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windung immer auch neue Räume eröffnet, wie im Punkt drei noch gezeigt werden wird. Auf jeden Fall haben Technik und Geschwindigkeit die Wahrnehmung der Reisenden verändert und ihre Raumerfahrung geprägt. „In der Moderne sind die Wahrnehmung und die Aneignung von Raum und Zeit jedoch noch stärker als zuvor an die Entwicklung von Technik gebunden. Bewegung und Beschleunigung verändern über technische Hilfsmittel wie über technologisch-mediale Vermittlungsformen den individuellen menschlichen Wahrnehmungsapparat und zugleich die gesellschaftlichen Wahrnehmungssysteme.“21 Wie sich die Wahrnehmung der Reisenden änderte und wie die Verwendung von Straßen Gemeinschaft stiftet, wird im Folgenden gezeigt. Im 19. Jahrhundert durchschneiden Schienenpaare die Landschaft, Eisenbahntunnel graben sich durch Berge und Viadukte überspannen ganze Täler. Der Fortschritt verändert die Landschaft und bahnt sich buchstäblich seinen Weg; an ihrer Oberfläche können die Innovationen der Verkehrstechnik gleichsam abgelesen werden. Doch ändert sich nicht nur die Landschaft, sondern auch die Blicke der Reisenden auf diese. Zwischen die Landschaft und den Reisenden tritt nun das „maschinelle Ensemble“ als „Medium der Wahrnehmung“. Das „maschinelle Ensemble“ ist dabei die Gesamtheit der technischen Einzelteile, bestehend aus den Schienen, der Lok und dem Abteilfenster.22 Die frühen Bahnreisenden mussten sich erst an die neue Geschwindigkeit gewöhnen und beklagten die Überreizung der Sinne und das Unvermögen Details in der Landschaft zu erkennen. Schivelbusch beschreibt dies als „Ende des Vordergrundes“, der zugleich den Horizont für den Blick in die Ferne – das Panorama – öffnete. Für jene, die sich auf das panoramische Reisen einließen, wurde die Landschaft durch die Eisenbahn überhaupt erst erfahrbar und geradezu inszeniert, wie in zahlreiche Reiseberichten geschildert wurde. Für alle übrigen bot die Reiselektüre, die Mitte des 19. Jahrhunderts an den Bahnhofskiosken auftaucht, nötige Zerstreuung und Ablenkung von der rauschenden Landschaft. Die Reiselektüre half demnach nicht nur unliebsame Gespräche mit fremden Personen zu vermeiden, sondern kann auch als Emanzipation des Blickes von der Landschaft verstanden werden.23
21 Kaschuba, Die Überwindung der Distanz, 22. 22 SCHIVELBUSCH, Geschichte der Eisenbahnreise, 21–34. Bickenbach bezeichnet das Auto als „Medium der Wahrnehmung“; dazu: Matthias BICKENBACH, Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls, in: Christian Kassung (Hg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, 94. 23 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, 51–66.
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Ähnlich der Bahnreisenden beklagten auch die Skeptiker des Automobils anfänglich die hohe Geschwindigkeit, die das Unfallrisiko erhöhte und keine Zeit mehr für Blicke abseits der Straße zuließ. Doch auch im Fall des Autos verschwand mit zunehmender Vertrautheit allmählich die Skepsis. Thomas Zeller zeigt in seinem gleichnamigen Aufsatz Landschaften in WindschutzscheibenPerspektive.24 Am Beispiel europäischer Alpenstraßen und US-amerikanischer Parkways greift Zeller den Aspekt der technischen Vermittlung von Landschaft auf und erweitert diesen zugleich um die Frage der politischen Herstellung einer möglichst eindeutig definierten Landschaft. Der „Blick auf die Landschaft [ist] eine kulturelle Praxis, die gesellschaftliche Machtverhältnisse und kulturelle Werte einschließt“,25 so Zeller. Alpenstraßen wie auch Parkways erfuhren in der Zwischenkriegszeit einen regelrechten Bauboom. In Österreich wurde 1930 mit dem Bau der Großglockner-Hochalpenstraße begonnen und vier Jahre später mit der Errichtung der Wiener Höhenstraße. In den USA erfuhren Parkways bereits in den 1920er-Jahren große Beliebtheit. Mit dem Bau des berühmtesten unter ihnen – dem Blue Ridge Parkway – wurde 1935 begonnen. Dabei verlangten die kurvenreichen Alpenstraßen langsames Fahren, während in den Parkways die Langsamkeit mit 35 Meilen pro Stunde verordnet wurde. Durch diese Entschleunigung wurde der landschaftliche Vordergrund wiedergewonnen; Panorama und Detail am Straßenrand waren erneut gleichrangig.26 Waren im zuletzt beschriebenen Beispiel ideologische Vorgaben leitend, die die „Schönheit“ einer national konnotierten Landschaft erschließen sollten, zeigt sich im Folgenden, dass die Benutzung von Straßen soziale Praxis ist, die gerade auch ohne ideologisches Zutun Gemeinschaft stiftet. Karl Schlögel bezeichnet den Highway als „Genius loci“ Amerikas und meint dabei: „Die Bewegung ist alles, die Wege, die zum Ziel führen, sind so wichtig wie das Ziel selbst. Man teilt vielleicht nicht mehr denselben Ort, wohl aber die Bewegung zwischen den
24 Thomas ZELLER, Landschaften in Windschutzscheiben-Perspektive: Autobahnen, Parkways, Alpenstraßen, in: Stefanie Krebs/Manfred Seifert (Hg.), Landschaft quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen, Leipzig 2012, 297. 25 Thomas ZELLER, Der automobile Blick. Berg- und Alpenstraßen und die Herstellung von Landschaft in Deutschland und den USA im 20. Jahrhundert, in: Hans-Liudger Dienel/Hans-Ulrich Schiedt (Hg.), Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010, 267. 26 Zeller, Landschaften in Windschutzscheiben-Perspektive.
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Orten. Der Highway wird zum common place, zum Gemeinplatz.“27 Die Straße ist eben nicht nur bloßer „Nicht-Ort“, dem jegliche Geschichte und Identität fehlt, sondern wird vielmehr zum gemeinsamen Erfahrungsraum.28 Dabei spielt die geteilte Routine – das gemeinsame Er-fahren, wenn man so möchte – eine besondere Rolle. Der amerikanische Publizist und Landschaftsplaner John Brinckerhoff Jackson beschreibt den Zusammenhang von Straße und geteilter Routine im Sinne der Vergemeinschaftung wie folgt: „Was uns in Zukunft zusammenbringen wird, ist weniger die Teilhabe an einem gemeinsamen Raum im traditionellen Sinne als vielmehr eine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl […], das auf der gemeinsamen Nutzung der Straßen und Wege, auf von allen geteilten Routinen beruht.“29 Durch das wiederholte Begehen entsteht der Pfad, wird der Weg ausgetreten, fährt sich die Route fest. Es ist die Routine – ihrer ursprünglichen Bedeutung nach als „Wegerfahrung“ –, die die Route macht. Der eingangs bereits erwähnte John Steinbeck beschreibt die gemeinsame Erfahrung von tausenden ArbeitsmigrantInnen, die Anfang der 1930er-Jahre vor Dürre und wirtschaftlicher Not Richtung Kalifornien flüchten, am Beispiel der Route 66. „Die Route 66 ist die Straße eines Volkes auf der Flucht, die Straße derer, die vor dem Staub flüchten, vor dem Donnern der Traktoren, vor dem schrumpfendem Land […]. Vor all dem sind die Menschen auf der Flucht, und sie kommen aus den Seitenstraßen, aus den furchigen Landwegen und Wagenstraßen auf die Route 66. Sie ist die Mutterstraße, die Straße der Flucht.“30 Aus der Bewegung, dem Fahren – als eigentlich etwas „Fluidem“ – wird eine festgefahrene Route. Die Routine schreibt sich ein in den Raum, zementiert sich als Straße in der Landschaft und im Gedächtnis.
27 Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt am Main 2011 (2006), 384. 28 Marc AUGÉ, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994. 29 John Brinckerhoff JACKSON, A Sense of Place, a Sense of Time, New Haven/ London 1984, 152 f., zitiert nach Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, 384. 30 John STEINBECK, Früchte des Zorns, München 2012, 143. Zur Bedeutung von Migrationswegen vgl. auch: Manfred PFAFFENTHALER, Die Gastarbeiterroute. Zur Geschichte eines transeuropäischen Migrationsweges, in: Ulrike Bechmann/Christian Friedl (Hg.), Mobilitäten. Beiträge der Vortragenden der Montagsakademie, Graz 2012, 154–164.
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D AS V ERKEHRSNETZ Wege zu schaffen und damit Distanzen zu überwinden ist eine elementare Kulturtechnik. Die Emergenz und Festigung von Verkehrs- aber auch Kommunikationsnetzwerken sind Kennzeichen jeder Modernisierung. Im 19. Jahrhundert erhoben solche Netzwerke verstärkt den Anspruch der „Restlosigkeit“, im Sinne einer möglichst lückenlosen Erschließung des Raumes. Dies galt vor allem für die vermeintlich weltumspannenden Projekte wie z. B. den Weltpostverein (1878) oder die Welttelegrafenverträge (ab 1865).31 Die Möglichkeit des Anoder Ausschlusses an bzw. von Verkehrsnetzwerken erlangte dabei immer größere Bedeutung. Neue Zentren entstanden an Verkehrsknotenpunkten und alte verloren an Bedeutung, sollten sie den Anschluss nicht schaffen.32 Auf nationaler Ebene bedeuteten leistungsfähigere Verkehrsverbindungen ein Näherrücken peripherer Regionen, sowohl in räumlicher als auch in ideologischer Sicht. Auf internationaler Ebene setzte der Anschluss an ein grenzübergreifendes Verkehrsnetz den Willen zur Internationalisierung in Form der Festlegung internationaler Standards voraus. In der Folge wird ein kurzer Überblick über die Erschließung des europäischen Raumes durch den Anschluss an das internationale Eisenbahnnetz gegeben, bevor auf das europäische Fernstraßennetz genauer eingegangen wird. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Bahnverbindungen noch überwiegend auf einzelne Regionen bzw. auf das jeweilige Staatsgebiet beschränkt. Ab der Mitte des Jahrhunderts wurde zunehmend nach Anschlussmöglichkeiten gesucht und die Anbindung an ein internationales Verkehrsnetz forciert.33 Anhand des nun auftauchenden Kursbuches zeigt Markus Krajewski, wie sich der Verkehr so immer mehr zum Netzwerk verdichtete, das „[…] beständig expandiert, um seine Funktionalität in immer feinere Verästelung, in letztlich
31 Markus KRAJEWSKI, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt am Main 2006. 32 Dirk van LAAK, Pioniere des Politischen? Infrastruktur als europäisches Integrationsmedium, in: Neubert/Schabacher (Hg.), Verkehrsgeschichte als Kulturwissenschaft, 165; vgl. auch KRAJEWSKI, Restlosigkeit, 37–43. Krajewski verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bedeutung des Suezkanals der 1869 eröffnet wurde. 33 Hans-Liudger DIENEL, Die Eisenbahn und der europäische Möglichkeitsraum, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 107.
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weltweiter Reichweite zu etablieren.“34 Das erste umfassende Kursbuch – der Continental Railway Guide – wurde vom Briten George Bradshow im Jahr 1847 herausgegeben, worin er sämtliche kontinentalen Anschlüsse zusammenfasste. In Deutschland folgte das erste Reichkursbuch 1878, als Vereinheitlichung der staatlichen Verkehrsanschlüsse mit weiteren Verbindungen ins benachbarte Ausland.35 Die Anbindung an ein grenzüberschreitendes Eisenbahnnetz forderte eine Reihe von internationalen Abkommen und technischen Standardisierungen, wie die Abstimmung der Spurbreite und die einheitliche Kuppelung der Waggons.36 Ein besonderer Meilenstein der Internationalisierung war die Synchronisation der Zeit. Die Eisenbahngesellschaften führten entlang ihrer Strecken jeweils ihre eigene Zeit mich sich – und das konkret in Form einer Uhr –, die bei länger Distanz oft in Konflikt mit den jeweiligen Ortszeiten kam. Diese Ungleichzeitigkeit führte 1880 in England zur Einführung der Eisenbahnzeit, die damit zur allgemeinen Standardzeit wurde. Bereits vier Jahre später im Jahr 1884 wird auf der Prime Meridian Conference in Washington die Einteilung der Welt in 24 Zeitzonen beschlossen. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn folgten dieser Einteilung, indem sie 1893 die Mitteleuropäische Zeit einführten.37 Um den Fahrplan des internationalen Bahnverkehrs aufeinander abzustimmen und Anschlussmöglichkeit zu gewährleisten, musste demnach zuerst die Zeit standardisiert werden. Dies war gerade für die grenzüberschreitenden Fernreisen, die ab den 1860er-Jahren zunahmen, besonders wichtig. Dabei waren die Verbindungen der Fernreisezüge absolute Prestigeprojekte der Bahngesellschaften. Besonders bekannt war der Orientexpress von Paris nach Istanbul, der 1884 seine Fahrt aufnahm.38 Hans-Liudger Dienel stellt gerade im Zusammenhang mit dem Fernreiseverkehr fest, dass Europa zwar zu schrumpfen schien, doch sich zugleich der „europäische Möglichkeitsraum“ erweiterte. Dies galt vor allem für die bürgerlichen Schichten, die touristische Erfahrung sammelten und zunehmend begannen, das ökonomische Potential des dichten Verkehrsnetzes zu nutzen. Dies galt aber auch für die IndustriearbeiterInnen und für die Landbevölke-
34 Krajewski, Restlosigkeit, 29. 35 Ebd., 34 ff. 36 Dienel, Die Eisenbahn, 113. Im Jahr 1886 wurden die technischen Standards kodifiziert. Zuständig dafür war das neu gegründete „Zentralamt für den internationalen Eisenbahnverkehr“ unter der Geschäftsführung des Schweizer Bundesrates. 37 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, 43 f; KRAJEWSKI, Restlosigkeit, 28 f; Dienel, Die Eisenbahn, 115. 38 Dienel, Die Eisenbahn, 107.
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rung, die den Bahnlinien folgten und in die industriellen Zentren Europas zogen.39 Eine ähnliche Entwicklung der Standardisierung und der Vereinheitlichung der Anschlussmöglichkeiten, wie zuvor beim Eisenbahnverkehr, setzte zum Beginn des 20. Jahrhunderts auch beim Straßenverkehr ein. Bereits 1908 wurde in Paris die Erste Internationale Straßenkonferenz abgehalten, wo u. a. die Frage diskutiert wurde, ob es in Zukunft Straßen ausschließlich für Automobile geben sollte, auf denen Höchstgeschwindigkeiten von 60 bis 80 km/h erlaubt werden würden.40 Damit war die Idee der Autobahn geboren, die anfänglich noch ganz nach dem staatlichen Horizont ausgerichtet war. Doch schon in den 1920er- und 30erJahren tauchten Ideen von Fernverbindungen und eines europaweiten Straßennetzes auf. Um der zunehmenden Motorisierung nach dem Ersten Weltkrieg gerecht zu werden, wurden in den 1920er-Jahren erste Autobahnprojekte geplant und teileweise auch realisiert. In Italien wurde 1924 die Autostrada Miliano-Laghi eröffnet und in Deutschland der Verein zur Vorbereitung der Autostraße Hansestädte-Frankfurt-Basel (HAFRABA) gegründet.41 Das Autobahnkonzept der HAFRABA wurde später von den Nationalsozialisten aufgegriffen und damit die Legende der „Straßen des Führers“ propagiert.42 Als besonders ambitioniertes Projekt der transkontinentalen Fernverbindungen galt die Fernstraße von London nach Istanbul – die sogenannte Artery –, die weitere Anschlüsse nach Kalkutta und Südafrika vorsah. Die Idee eines einheitlichen europäischen Straßenverkehrsnetzes tauchte erstmals Anfang der 1930er-Jahre auf. Auf Initiative des Office International des Autoroute (OIAR) mit Sitz Genf wurde ein europäisches Autobahnnetz konzipiert, das insgesamt 14.000 km umfassen sollte.43
39 Dienel, Die Eisenbahn, 111 f. 40 Gijs MOM, Road without Rails: European Highway-Network Building and the Desire for Long-Range Motorized Mobility, in: Technology and Culture 46/4 (2005), 755. Ein Jahr später ging daraus die PIARC (Permanent International Association of Road Congress) hervor, der 1913 bereits 50 Staaten – auch die USA – angehörten. Die PIARC hat ihren Sitz in Paris und wird heute als World Road Association geführt. Vgl. dazu: Mom, Road without Rails, 751. 41 Reiner RUPPMANN, Das System der Autobahnen und ihre kulturellen Mythen, in Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 340 f. 42 Ruppmann, Das System der Autobahnen, 345. 43 Mom, Road without Rails, 761 f.
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Das Konzept eines europäischen Straßennetzes blieb bis nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich ein visionäres. Erst im Rahmen der United Nations Economic Commission for Europe nahm ein solches transkontinentales Straßennetz nun konkretere Formen an. Dazu trafen sich 1948 Vertreter der europäischen Staaten sowie der USA, um die Verbesserung der kontinentalen Anschlüsse zu diskutieren. Geplant wurden drei West-Ost und vier Nord-Süd Routen mit einer Gesamtlänge von 42.000 km. Dabei sollte Berlin als Knotenpunkt neues verkehrspolitisches Zentrum werden. Unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges fand diese Idee keine Umsetzung mehr, stattdessen wurde 1950 ein neuer Verkehrsplan präsentiert. Das neue Netz der Europastraßen mit einer Länge von 23.000 km konzentrierte sich nun auf Westeuropa und vor allem auf die Stärkung der Nord-Süd Verbindungen. Dabei sollten die Verbindungen der großen Industrieregionen – von London über das Ruhrgebiet bis Norditalien – gestärkt werden.44 Im Fall der Europastraßen zeigt sich die Dynamik zwischen An- und Ausschluss besonders deutlich. „Das Projekt der Europastraßen spiegelt den Charakter europäischer Verkehrsintegration im Zeichen des Kalten Krieges.“ Es war „als gesamteuropäisches Projekt gestartet, um bald schon auf Westeuropa zu schrumpfen.“45 Die Trennung Europas durch den Eisernen Vorhang war auch im Hinblick auf den gewachsenen Verkehrsraum eine „tiefe Zäsur“. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass die Stärkung der Ost-West Verbindungen ein wichtiger Teil des europäischen Verkehrsnetzwerkplans von 1993 war.46 Netzwerke neigen im Normalfall dazu „unsichtbar zu sein“ und „unmerklich zu funktionieren“. Erst die Dysfunktion, die Durchtrennung oder der Störfall macht das Netzwerk sichtbar und holt es aus der Sphäre der „Unauffälligkeit“. Dies zeigt sich z. B. beim Stromausfall oder beim Verkehrsstau, es zeigt sich aber auch besonders beim Unfall.47
44 Ebd., 763 ff. 45 Helmut TISCHLER, Geteilte Welt? Verkehr in Europa im Zeichen des Kalten Krieges, 1945–1990, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 165. 46 Wolfgang KASCHUBA, Europäischer Verkehrsraum nach 1989 – die Epoche der zweiten Globalisierung, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 176–182. 47 Van Laak, Pionier des Politischen?, 165 f.
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D ER U NFALL Der Unfall ist dem Zufall sehr nahe. Die Unvermitteltheit und Plötzlichkeit seines Auftretens ist Kennzeichen jeder technischen Katastrophe. Dass der Unfall uns überraschend trifft, liegt in seiner Natur, denn wäre dem nicht so, würde sein Eintreffen negiert, indem man rechtzeitig ausweicht oder die Geschwindigkeit zurücknimmt. Der Unvermitteltheit des Unfalls ging die Routine im Umgang mit den jeweiligen Transportmitteln voraus. Erst der Unfall stellt diese wieder in Frage und treibt mit seiner destruktiven Gewalt weiter technische Verbesserungen vor sich her. Ähnlich wie beim Netzwerk, das sich erst durch den Störfall zeigt, wird auch die vermeintliche Routine in der Beherrschung der Technik durch den Unfall als Chimäre dekonstruiert. „Wird das normale Funktionieren der Eisenbahn als natürlicher gefahrenloser Vorgang erlebt, so erscheint in der plötzlichen Unterbrechung dieses zur zweiten Natur gewordenen technischen Zusammenhangs mit einemmal [sic!] die ganze vergessene Bedrohlichkeit und Gewalttätigkeit lebendig wie am ersten Tag, eine Wiederkehr des Verdrängten.“48 Die technische Katastrophe tritt seit der Industrialisierung verstärkt auf und der Unfall löst sich allmählich aus der Sphäre des Natürlichen – der Naturkatastrophe. Mit der vermeintlichen Beherrschung der Dampfkraft gehen explodierende Kessel einher und definieren ein proportionales Verhältnis zwischen Technik und Katastrophe. Je „[…] effektiver die Technik, um so katastrophaler die Destruktion im Kollaps. Es besteht ein genaues Verhältnis zwischen dem Stand der Technik der Naturbeherrschung und der Fallhöhe der Unfälle dieser Technik. […] Je höher die technische Intensivierung (Druck, Spannung, Geschwindigkeit usw.) einer Apparatur, um so gründlicher die Destruktion in der Dysfunktion.“49 Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird vom beklemmenden Gefühl berichtet, das die Eisenbahnreisenden bei der Bahnfahrt befällt. Die Abgeschlossenheit des Abteils geht einher mit dem Bewusstsein nicht einwirken zu können und der Maschine, wie den Personen, die sie bedienen, ausgeliefert zu sein.50 Dieses Bewusstsein gleitet mit zunehmender Gewöhnung an die neue Technik und Geschwindigkeit ins Unbewusste. Erst das Aufbrechen der vermeintlich sicheren Umgebung, die Freisetzung der ungeheuren Gewalt die man zu beherrschen versuchte, ruft dies wieder in Erinnerung. Der Eisenbahnunfall, so sind
48 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, 118. 49 Ebd., 118 f. 50 Ebd., 75.
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sich Mediziner der 1860er-Jahren einig, übertrifft alle bisherigen Unfälle am „Grad der Heftigkeit“. Eine „Erschütterung des Nervensystems“ und der Schock sind die Folge. „Mit Schock wird derjenige plötzliche und heftige Gewaltvorgang beschrieben, der die Kontinuität einer künstlich-mechanisch hergestellten Bewegung oder Situation durchschlägt, sowie der darauffolgende Zustand der Zerrüttung.“51 In der ersten Hälfte des Jahres 1912 wurden in Wien 438 Autounfälle gezählt, bei denen 16 Menschen zu Tode kamen.52 Vor allem die zunehmende Geschwindigkeit und die wenig ausgebildete Fähigkeit diese zu beherrschen führten zum Unfall und machten die Raserei zum öffentlichen Streitfall.53 So wurde aufgrund der vielen Verkehrsunfälle bereits 1909 im Deutschen Reich die Führerscheinpflicht eingeführt und die Haftpflicht der Autobesitzer beschlossen.54 Die Kontroverse um die Raserei zeigt, dass sich die AutofahrerInnen, wie auch alle übrigen BenutzerInnen der Straße, erst an das neue Tempo gewöhnen mussten. Matthias Bickenbach bezeichnet das Automobil der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts deshalb auch als „Geschwindigkeitsmaschine“ im doppelten Sinne, die Höchstgeschwindigkeit garantierte und gleichzeitig Rauschzustand erzeugte.55 Die Entwicklung der geschlossenen Karosserie war Bedingung und Folge der höheren Geschwindigkeit und ging Hand in Hand mit der weiteren Verbreitung des Automobils. Auto wie Autounfall gehörten zunehmend zum öffentlichen Raum der Straße. In den 1930er-Jahren waren Berichte über Autounfälle bereits die Regel in den Tageszeitungen.56 Doch gerade die allmähliche Gewöhnung macht das tatsächliche Eintreffen des Unfalls umso unvermittelter. Die geschützte Sphäre des Autos, die sprichwörtlich zur zweiten Haut geworden war, wird beschädigt oder bricht womöglich zur Gänze auf. „The body of the car extends the human body, surrounding the fragile, soft and vulnerable human skin
51 Ebd., 141. 52 Michael Freiherr von PIDOLL, Der heutige Automobilismus. Ein Protest und Weckruf, Wien 1912; zitiert nach Matthias BICKENBACH, Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls. Die Ambiguität von Ordnung und Unordnung im Verkehr der Moderne, in: Christian Kassung (Hg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissensund Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, 93. 53 Bickenbach, Robert Musil, 91. Im Jahr 1899 werden mit einem Rennwagen erstmals 100 km/h erreicht, bereits 1906 200km/h. 54 Flik, Nutzung von Kraftfahrzeugen, 261. 55 Bickenbach, Robert Musil, 94. 56 Ebd., 94.
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with a new steel skin, but one that can scratch, crumple and rupture once it encounters other cars in a crash.”57 Nicht nur, dass das Aufbrechen der Karosserie bei den Insassen zum Schock führt, vielmehr werden sie von der privaten Sphäre des Innenraumes in den öffentlichen Raum der Straße katapultiert, mit allen Konsequenzen für Gesundheit und Ordnung: Denn während die geschockten Insassen im besten Fall noch um Fassung ringen, wird auf der Straße bereits versucht wieder Ordnung herzustellen. Bickenbach, der der Logik des Autounfall in Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften nachspürt, zeigt, wie die Unordnung des Unfalls in einer höheren Ordnung gleichsam aufgehoben wird. Dazu Musil: „Man hob den Verunglückten auf eine Tragbare und schob ihn mit dieser in den Wagen. Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzlich und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen hat.“58 Auch wenn im Unfall die Dinge durcheinander kommen und er mit seiner verehrenden Kraft jede Ordnung scheinbar zerstört, erzeugt seine „epistemische Nachträglichkeit“, wie Christan Kassung meint, also die Untersuchung des Unfallhergangs, wie seine technische Verwertung und kulturelle Verarbeitung, erneut Ordnung.59 Straßenverkehrsordnung, Crash-Tests und Versicherungspflicht zeugen genauso davon, wie seine statistische Aufbereitung. Gerade durch die statistische Erfassung der Wahrscheinlichkeit seines Eintreffens wird der Unfall vom Zufall entkoppelt, wird er erwartbar und zum kalkulierbaren Risiko. Damit folgt der Unfall nicht länger der Akzidenz (dem Zufall), sondern der Kontingenz (dem Möglichen).60 Nicht nur Zufall und Unfall, wie Ordnung und Unordnung liegen einander sehr nahe, sondern auch Wissen und Scheitern. Es darf sich hier dem Plädoyer von Martin Scharfe angeschlossen werden, der im Fehlversuch und in den explodierenden Prototypen den epistemischen Wert erkennt.61 Dies
57 Urry, Mobilities, 128; vgl. dazu auch Matthias BICKENBACH, Der Alltag der Kontingenz: Crashing Cars. Über Autounfälle, Exempel und Katastrophendidaktik, in: Peter Zimmermann/Natalie Binczek (Hg.), Eigentlich könnte alles auch anders sein, Köln 1998, 138. 58 Robert MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 2001 (1978), 11. 59 Kassung (Hg.), Die Unordnung der Dinge, 9 ff. 60 Bickenbach, Robert Musil, 97; Bickenbach, Der Alltag der Kontingenz, 138. 61 Martin SCHARFE, Technische Groteske und technisches Museum, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde L/99 (1996), 1–17; vgl. auch: Markus KRAJEWSKI
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zeigt sich bereits bei der Entwicklung der Eisenbahn und des Autos hin zum massentauglichen Transportmittel und es offenbart sich weiterhin im dialektischen Verhältnis zwischen Verkehrssicherheit und Unfall. Den hier angestellten Überlegungen zu (Auto-)Mobilen Räumen ging das Bedürfnis voraus, jene Verkehrsräume zu deklinieren, die ganz unscheinbar unseren Alltag mitbestimmen, und zwar vom Innenraum des Autos bis zum internationalen Verkehrsnetz. Dabei wurde u. a. gezeigt, dass die geschlossene Form des Automobils Privatheit im Innenraum erzeugte, die wiederum eine veränderte Interaktion mit dem öffentlichen Raum der Straße zur Folge hatte. Des Weiteren wurde auf die Bedeutung von Verkehrsnetzwerken hingewiesen, deren Ausbau und Verdichtung mit dem Willen zur Internationalisierung einherging. Auf andere Verkehrsmittel wurden hier nicht eingegangen, doch würden ähnliche Überlegungen zu Schiff oder Flugzeug durchaus sehr aufschlussreich sein. Wie deutlich wurde, gibt es viele Einzelstudien, die sich jeweils bestimmten Themen des Verkehrs oder der Technikgeschichte widmen. Eine umfassende Darstellung mit besonderem Fokus auf technisch-soziale Interaktionen und deren transformatives Potential für die Gesellschaft, findet sich lediglich bei Urry. Hier wurde versucht den technischen Innovationen der Verkehrsmittel, die jeweiligen Vorstellungen der Welt, wie die Wahrnehmung von Raum und Zeit, gegenüberzustellen und dabei auf ihre starke Interdependenz aufmerksam zu machen. Dabei scheint die Routine ein zentraler Begriff zu sein, der die technischen Innovationen im Alltag erdet. Erst der Unfall stellt diese in Frage und bringt mit seiner kontingenten Kraft den Alltag ins Wanken. Deshalb war es wichtig, den vorliegend Beitrag mit dem Unfall zu beschließen und gleichzeitig auf die Ordnung der Dinge hinzuweisen, die ihm folgt. Fragen des Verkehrs, des An- und Ausschlusses an Netzwerke und nach der alltäglichen Mobilität werden in Zukunft weiter an Relevanz gewinnen, denn die Welt ist alles was erreicht werden kann, sollte sie letztlich nicht nur Utopie bleiben.
(Hg.), Projektmache Macher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004.
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L ITERATUR Marc AUGÉ, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994. Ulrike BECHMANN/Christian FRIEDL (Hg.), Mobilitäten. Beiträge der Vortragenden der Montagsakademie, Graz 2012. Matthias BICKENBACH, Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls, in: Christian Kassung (Hg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, 89–116. Matthias BICKENBACH, Der Alltag der Kontingenz: Crashing Cars. Über Autounfälle, Exempel und Katastrophendidaktik, in: Peter Zimmermann/ Natalie Binczek (Hg.), Eigentlich könnte alles auch anders sein, Köln 1998, 117–139. Hartmut BÖHME, Raum – Bewegung – Topographie, in: Ders. (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart/ Weimar 2005, IX–XXIII. Michel De CERTEAU, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988. Hans-Liudger DIENEL/Hans-Ulrich SCHIEDT (Hg.), Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010. Hans-Liudger DIENEL, Die Eisenbahn und der europäische Möglichkeitsraum, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 105–123. Hans Magnus ENZENSBERGER, Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen, Frankfurt am Main 1992. Reiner FLIK, Nutzung von Kraftfahrzeugen bis 1939 – Konsum- oder Investitionsgut?, in: Rolf Walter (Hg.), Geschichte des Konsums (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 175), Wiesbaden 2004, 249–269. Herman GLASWER, Das Automobil. Eine Kulturgeschichte in Bildern, München 1986. David HARVEY, Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994, 48–78. John Brinckerhoff JACKSON, A Sense of Place, a Sense of Time, New Haven/ London 1984. Wolfgang KASCHUBA, Europäischer Verkehrsraum nach 1989 – die Epoche der zweiten Globalisierung, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/ New York 2009, 175–194.
(A UTO -) MOBILE RÄUME
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Wolfgang KASCHUBA, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt am Main 2004. Christian KASSUNG (Hg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009. Markus KRAJEWSKI, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt am Main 2006. Markus KRAJEWSKI (Hg.), Projektmache Macher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004. Stefanie KREBS/Manfred SEIFERT (Hg.), Landschaft quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen, Leipzig 2012. Andreas KUHLMANN (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994. Dirk van LAAK, Pionier des Politischen? Infrastruktur als europäisches Integrationsmedium, in: Christoph Neubert/Gabriele Schabacher (Hg.), Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld 2013, 165–188. Michael MENDE, Vehicle Design and the Metropolitan Avenue, 1950–1960, in: Gijs Mom; Laurent Tissot (Hg.), Road History. Planning, Building and Use, Neuchâtel 2007, 187–204. Christoph Maria MERKI, Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien/Köln/Weimar 2002. Gijs MOM/Laurent TISSOT (Hg.), Road History. Planning, Building and Use, Neuchâtel 2007. Gijs MOM, Road without Rails: European Highway-Network Building and the Desire for Long-Range Motorized Mobility, in: Technology and Culture 46/4 (2005), 745–772. Robert MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 2001 (1978). Christoph NEUBERT/Gabriele SCHABACHER (Hg.), Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld 2013. Michael Freiherr von PIDOLL, Der heutige Automobilismus. Ein Protest und Weckruf, Wien 1912. Manfred PFAFFENTHALER, Die Gastarbeiterroute. Zur Geschichte eines transeuropäischen Migrationsweges, in: Ulrike Bechmann/Christian Friedl (Hg.), Mobilitäten. Beiträge der Vortragenden der Montagsakademie, Graz 2012, 154–164.
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Ralf ROTH/Karl SCHLÖGEL (Hg.): Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009. Reiner RUPPMANN, Das System der Autobahnen und ihre kulturellen Mythen, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.): Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 338–360. Martin SCHARFE, Technische Groteske und technisches Museum, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde L/99 (1996), 1–17. Wolfgang SCHIVELBUSCH, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industriealisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2011 (1977). Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt am Main 2011 (2006). John STEINBECK, Früchte des Zorns, München 2012. Helmut TISCHLER, Geteilte Welt? Verkehr in Europa im Zeichen des Kalten Krieges, 1945–1990, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2009, 156–174. John URRY, Mobilities, Cambridge 2007. Paul VIRILIO, Fluchtgeschwindigkeiten: Essay, München/Wien 1996 Heusinger von WALDEGG (Hg.), Handbuch für spezielle Eisenbahn-Technik, Bd. 2, Leipzig 1870. Thomas ZELLER, Landschaften in Windschutzscheiben-Perspektive: Autobahnen, Parkways, Alpenstraßen, in: Stefanie Krebs; Manfred Seifert (Hg.), Landschaft quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen, Leipzig 2012, 293–313. Thomas ZELLER, Der automobile Blick. Berg- und Alpenstraßen und die Herstellung von Landschaft in Deutschland und den USA im 20. Jahrhundert, in: Hans-Liudger Dienel/Hans-Ulrich Schiedt (Hg.), Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010, 265–283. Peter ZIMMERMANN/Natalie BINCZEK (Hg.), Eigentlich könnte alles auch anders sein, Köln 1998.
Autorinnen und Autoren
Depner, Anamaria, hat Volkskunde/Europäische Ethnologie, Kunstgeschichte, klassische Archäologie und Denkmalpflege an den Universitäten in Augsburg und Bamberg, davor Bauingenieurswesen an der Hochschule in Augsburg studiert. Derzeit arbeitet sie als freiberufliche Wissenschaftlerin im Bereich Museums- und Projektmanagement und ist seit 2010 assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“ an der Universität Frankfurt am Main. Göderle, Wolfgang, hat in Graz und Paris Geschichte, Sprachwissenschaft und Volkswirtschaft studiert und arbeitet momentan als DOC-team-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte, Abteilung Neuzeit, der Karl-Franzens-Universität Graz. Gruber, Patrizia, hat Philosophie und Germanistik an der Universität Wien studiert. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität und arbeitet an ihrer Dissertation zur deutschsprachig-jüdischen Palästinareiseliteratur im 19. und 20. Jahrhundert. Handelman, Matthew, hat an der University of Pennsylvania über das Thema „Applied Mathematics: Rosenzweig, Kracauer and the Possibilities of JewishGerman Philosophy“ promoviert und ist derzeit Assistant Professor of German an der Michigan State University, Lansing MI. Kasper, Nils, hat Germanistik, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaften in Chemnitz studiert, anschließend an der Universität Leipzig und ist gegenwärtig Marietta Blau-Stipendiat des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF). Sein Dissertationsprojekt behandelt die historisch-epistemologischen Beziehungen zwischen Karte und Literatur um 1800. Seine Forschungsinteressen reichen vom Verhältnis von Wissenschaftsge-
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schichte und Literatur, Mediengeschichte bis hin zu Theorien literarischen Schreibens, Textgenetik und Narratologie. Eva, Klein, hat Kunstgeschichte, Kulturmanagement und Grafik- und Kommunikationsdesign studiert. Seit 2009 forscht und lehrt sie am Institut für Kunstgeschichte und in der Forschungsstelle Steiermark an der Karl-FranzensUniversität Graz zu den Themen moderne und zeitgenössische Kunst, Designtheorie und -geschichte sowie visuelle Kommunikation. Knappitsch, Evelyn, hat Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Universität Wien studiert und ist derzeit Promotionsstudierende der Universität Graz. Lerch, Stefanie, hat Alte Geschichte und Kunstgeschichte an der Karl-FranzensUniversität Graz, Georg-August-Universität Göttingen und Université de Montréal studiert und war von 2011-2013 Stipendiatin an der geisteswissenschaftlichen Universität der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihre Dissertation befasste sich mit dem Thema „education principum – Die Erziehung fremder Fürstensöhne in der Antike“. Pfaffenthaler, Manfred, hat Geschichte und Philosophie an der Karl-FranzensUniversität Graz studiert. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Südosteuropäischen Geschichte mit besonderem Interesse an Migrations- und Mobilitätsphänomenen. Sein letzter Forschungsaufenthalt führte ihn an die Universität Osnabrück, wo er Gast am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) war. Probst, Dagmar, hat Kunstgeschichte und Archäologie an der Karl-FranzensUniversität in Graz und der Universität Wien studiert. Als promovierte Kunsthistorikerin arbeitet sie derzeit als Universitätsassistentin am Institut für Kunstgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Rückert, Claudia, hat Volkskunde/ Kulturanthropologie und Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Derzeit arbeitet sie als Lehrbeauftragte am Institut für Europäische Ethnologie in Wien und am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie in Graz und ist Redakteurin und MitherausgeberIn der Zeitschrift kuckuck – notizen zur alltagskultur.
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
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Schmitz, Florian, hat Geschichte, Rechtswissenschaft und European Studies an den Universitäten Bielefeld, Leuven und Bern studiert. Derzeit forscht er im Rahmen eines Projektes des Schweizer Nationalfonds zu politischer Korruption und Anti-Korruptionsgesetzgebung im frühneuzeitlichen Bern (16. u. 17. Jh.). Schwabl, Katharina, hat in Graz angewandte Sprachwissenschaft studiert und ist derzeit Dissertantin im Forschungsgebiet Mehrsprachigkeit und Migration am Institut für Sprachwissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. Wally, Johannes, hat Anglistik, Amerikanistik und Deutsche Philologie in Wien, Edinburgh und Dublin studiert und das Masterstudium in Europäischer Integration an der Donauuniversität in Krems absolviert. Derzeit arbeitet er als Lecturer am Institut für Anglistik der Karl-Franzens-Universität Graz. Waltl, Lukas, hat Germanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz studiert und ist zurzeit Mitarbeiter beim FWF-Projekt „Deutschsprachig-jüdische Literatur und Publizistik in Österreich im Zeichen des Ersten Weltkrieges“ am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Wlach, Astrid, hat das individuelle Diplomstudium „Französisch und Europa: Völker und Recht“ an der Karl-Franzens-Universität Graz absolviert und ist seit 2011 Stipendiatin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-FranzensUniversität Graz. Sie arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zum Thema Metaphorik im Werk Nathalie Sarrautes.
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien August 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung August 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes 2013, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2422-9
Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Juli 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar) Juli 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Tanja Carstensen, Christina Schachtner, Heidi Schelhowe, Raphael Beer (Hg.) Digitale Subjekte Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart 2013, 300 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2252-2
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Januar 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1983-6
Christian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.) Zwischen Serie und Werk Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort« Juli 2014, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2459-5
Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.) Das öffentliche Ich Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext Juni 2014, ca. 240 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2409-0
Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale 2013, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert Mai 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2215-7
Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüßler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft 2013, 360 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
Christina Schachtner (Hg.) Kinder und Dinge Dingwelten zwischen Kinderzimmer und FabLabs Mai 2014, ca. 228 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2553-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.
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