Die Tischgesellschaft: Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen [1. Aufl.] 9783839406946

Die Beiträge in diesem Band richten philosophische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das facettenreiche Phäno

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German Pages 244 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort. Vor der Speise
Die Tischgesellschaft. Zur Einführung
Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken
Zum Brotessen verdammt – durch Brot erlöst
Platons politische Philosophie des Fleischesseropfers
Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft
Veredelnde Inoculation: Nietzsche und das Essen
Zu Gericht sitzen. Vom Essen und Trinken in Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug
Louis Malle/Jean-Claude Carrière: Milou en mai – Nahrungskette und narrative Struktur
Essen und Atmosphäre. Zur Atmosphäre der klassischen Kyoto-Gastronomie als Beispiel für Slow Food
Welt-Essen und Globale Tischgesellschaft. Rezepte für eine gastrosophische Ethik und Politik
Autorinnen und Autoren
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Die Tischgesellschaft: Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen [1. Aufl.]
 9783839406946

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Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft

2008-01-29 12-46-39 --- Projekt: T694.lemke.tischgesellschaft / Dokument: FAX ID 030e169566644696|(S.

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Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.)

Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Leibniz-Preis-Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären« der Universität Konstanz

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Harald Lemke, Chinesische Tischgesellschaft im Tian Hai Restaurant/Peking, 2007 Korrektorat: Katharina Lang, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-694-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Vorwort. Vor der Speise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Harald Lemke Die Tischgesellschaft. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Iris Därmann Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken . . . . . . . . . . 43 Bernhard Waldenfels Zum Brotessen verdammt – durch Brot erlöst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Gerhard Baudy Platons politische Philosophie des Fleischesseropfers . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Iris Därmann Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Kurt Röttgers Veredelnde Inoculation: Nietzsche und das Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tobias Nikolaus Klass Zu Gericht sitzen. Vom Essen und Trinken in Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Marianne Schuller Louis Malle/Jean-Claude Carrière: Milou en mai – Nahrungskette und narrative Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Gerhard Neumann

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Essen und Atmosphäre. Zur Atmosphäre der klassischen Kyoto-Gastronomie als Beispiel für Slow Food . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Tadashi Ogawa Welt-Essen und Globale Tischgesellschaft. Rezepte für eine gastrosophische Ethik und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Harald Lemke Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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Vorwort. Vor der Speise | 7

Vorwort. Vor der Speise Harald Lemke

Gesellschaft als Tischgesellschaft zu denken heißt, ›die gesellschaftliche Realität durch das Essen zu begreifen‹. Damit ist schon der entscheidende Schritt für eine gastrosophische Gesellschaftstheorie getan: nämlich das Nahrungsgeschehen nicht – wie üblich – zu übergehen, sondern es als ein grundlegendes und darüber hinaus facettenreiches Phänomen des kulturellen Lebens in den Blick zu nehmen. Vielleicht isst der Mensch nicht ununterbrochen, aber die vielfältigen Dinge, die für die Produktion, die Vermarktung, die Besorgung, die Zubereitung und den Genuss von Essen unerlässlich sind, konstituieren ein beträchtliches Ausmaß der gesellschaftlichen Realität. Wie kommt es – so muss man sich mit großer Verwunderung fragen –, dass dennoch die ›tischgesellschaftliche Perspektive‹ der am meisten vernachlässigte Gesichtspunkt innerhalb der Gesellschaftstheorie ist und von der Philosophie gedankenlos außer Acht gelassen wird? Von dem englischen Philosophen Alfred Whitehead ist der Ausspruch bekannt, dass die ganze Philosophiegeschichte eine Fußnote zu Platons Denken sei. Diese ungebrochene Wirkungsmächtigkeit des Platonismus zeigt sich besonders in Platons Ideal einer ›philosophischen‹ Haltung zum Essen. In dem späten Dialog Phaidon verwickelt der platonische Sokrates sein Gegenüber Simmias in das folgende Gespräch: »Scheint dir, dass es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die Lüste am Essen und Trinken? – Nichts weniger wohl als das, sprach Simmias. […] – Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, dass ein solcher sie groß achte? […] – Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte Philosoph.« Mit diesen Worten legt Platon dem Simmias den entscheidenden Grundgedanken der abendländischen Metaphysik in den Mund. Der wahrhafte Philosoph oder Mensch, wie ihn sich das klassische Denken wünschte und erst recht wie ihn in den darauf folgenden Jahrhunderten die christliche Moral predigte, distanziert sich von den leiblichen Bedürfnissen und Lüsten des Essens und Trinkens. Der ›vernünftige‹

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8 | Harald Lemke Mensch (und Mann) stellt seine ›Tugend‹ und seine ›richtige Lebensweise‹ dadurch unter Beweis, dass er die kulinarischen Dinge für gering achtet. Freilich zwang dieses antikulinarische Selbstverständnis Platon dazu, die eigene Philosophie mit den entsprechenden Fragen einer politisch und ethisch richtigen Ernährungsweise zu befassen.1 In Platons metaphysischer Geringschätzung des Essens steckt gewissermaßen die Grundidee eines Fast-Food-Denkens, welches das Kulinarische zur Nebensache des Menschseins degradiert. Die ›Philosophie‹ dieser Fast-Food-Mentalität beherrscht bis heute das kollektive Bewusstsein. Immer noch erscheint es den Philosophen und den meisten Menschen ganz selbstverständlich, dass die Art und Weise, wie sie essen, keine wirklich bedeutende, philosophische Angelegenheit ist, und die Ernährungsfrage gegenüber den ›großen Dingen‹ der menschlichen Existenz als ›unwichtig‹ und als ›Kleinigkeit‹ abgetan werden kann. Damit sorgt die platonische Fast-Food-Philosophie für eine paradoxe Verkennung der gesellschaftlichen Bedeutung des Essens, das heute mit globalen Problemen verbunden ist. Verkannt wird dadurch: die ungelöste Problematik der zukünftigen Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung angesichts der Grenzen der ökologischen Belastbarkeit des Planeten; die notwendige Abschaffung des Welthungers, der weiterhin tagtäglich unzähliges, aber vermeidbares Leid verursacht; die wachsende Zahl von Menschen, die sich durch eine fettige, süße und fleischlastige Ernährungsweise eine chronische Fettleibigkeit ›zulegt‹; sowie die globale ›McDonaldisierung‹, die eine häusliche Alltagsküche durch industriell produzierte Fertigkost ersetzt und weltweit die familiären Mahlgemeinschaften durch standardisierte Schnell-Restaurants bzw. durch flexible und individualisierte Praktiken eines schnellen Essens, durch Fast Food ersetzt. Mit diesen Stichworten und globalen Trends sind nur die offenkundigsten Themen einer Theorie der Tischgesellschaft berührt, die erkennen lassen, dass mit der ›unwichtigen Kleinigkeit des Essens‹ auf untrennbare Weise ökonomische, politische, technisch-industrielle, alltagskulturelle, diätetische und dergleichen gesellschaftlich relevante Dinge aufgetischt werden. Die Zukunft der Weltgesellschaft – eine Formulierung, die hier ohne emphatischen Ton vorgetragen wird – hängt ganz entscheidend von der weiteren Entwicklung der Tischgesellschaft ab. Diese tischgesellschaftliche Grunderkenntnis, die dem allgemeinen Sachverhalt, wie und was die Menschen täglich essen, eine große Bedeutung beimisst, macht freilich eine fundamentale Revision der metaphysischen Herabwürdigung und philosophischen Missachtung des Essens unvermeidbar.

1 | Siehe dazu Harald Lemke: Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 19-56; sowie den Beitrag von Iris Därmann in diesem Band.

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Vorwort. Vor der Speise | 9

Seit mehr als drei Jahrzehnten ist eine paradigmatische Umwertung ebendieser tischgesellschaftlichen Werte festzustellen. Aus verschiedenen Gründen, die in den hier versammelten Beiträgen angesprochen werden, beginnt die abendländische Kultur – noch zögerlich, aber spürbar – eine neue Haltung gegenüber dem Essen zu entwickeln. Bei einer zunehmenden Zahl von Menschen wächst die Bereitschaft, die platonische Fast-FoodPhilosophie zu hinterfragen und durch ein anderes Ernährungsdenken, durch eine Gastrosophie zu überwinden. Einige Worte zu der Genealogie dieses »gastrosophical turn« seien einleitend erwähnt.2 Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft und ihrem mechanistisch-physiologischen Körperverständnis beginnt sich in der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ein primär naturwissenschaftliches Ernährungsdenken durchzusetzen. Dieses naturwissenschaftliche Ernährungsdenken hat die Vorstellung etabliert, dass zu ›essen‹ bedeute, dem ›Körper‹ ausreichend ›Nährstoffe‹ in Form von ›Kalorien‹ oder ›Brennwerten‹ ›zuzuführen‹. Dieses bis heute allgemein geläufige und selbstverständliche – allzu selbstverständliche – Bild vom Essen als ›Nährstoffzufuhr‹ stieß bereits bei den Gastrosophen des frühen 19. Jahrhunderts auf Kritik.3 Rumohr, Anthus, Vaerst, Brillat-Savarin entwarfen eine Philosophie des Essens, die neben physiologischen Gesichtspunkten auch kulturelle und politisch-ökonomische Aspekte berücksichtigte und durch ein solch umfassendes Verständnis der menschlichen Tischgesellschaft einen universellen anthropologischen Zugang begründete. Der viel versprechende Ansatz dieses frühen gastrosophischen Diskurses fand indessen – und trotz nachweislicher Resonanz bei einigen Philosophen, namentlich Feuerbach und Nietzsche – keine systematische Fortsetzung. Zwar setzt in der Jahrhundertwende mit der so genannten Lebensreform-Bewegung auch eine Aufwertung der Ernährungsfrage und Naturheilkost ein; sie ist jedoch von keiner nennenswerten philosophischen Reflexion begleitet worden. Eine kulturtheoretisch ausgerichtete Beschäftigung mit der Essensthematik beginnt erst wieder in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts.4 Seit 2 | Daniele Dell’Agli (Hg.): Essen als ob. Gastrosophische Modelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 3 | Zu deren gastrosophischen Vorläufern wie Epikur, Platina und Rousseau siehe: Harald Lemke: Ethik des Essens, a.a.O. 4 | Einen detaillierten Überblick bieten: Warren J. Belasco: »Food Matters: Perspectives on an Emerging Field«, in: ders./Philip Scranton (Hg.), Food Nations: Selling Taste in Consumer Society, New York: Routledge 2000, S. 1-11; Alois Wierlacher: »Einleitung: Zur Begründung einer interdisziplinären Kulturwissenschaft des Essens«; sowie Gerhard Neumann: »›Jede Nahrung ist ein Symbol‹. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens«, beide Texte in: Gerhard Neumann/Alois Wierlacher/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie Verlag 1993.

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10 | Harald Lemke dieser Zeit wird insbesondere in der strukturalistischen und historischen Anthropologie (Levi-Strauss, Douglas, Barthes, Kleinspehn), in der Kultursoziologie im Anschluss an Norbert Elias und Pierre Bourdieu (Mennell, Murcott, Harris, Goody, Levenstein, Montanari), in der Historiographie (Belasco, Teuteberg, Grew, Hirschfelder) sowie in den Postcolonial Studies (Narayn, Mintz, Davis) oder in der Feministischen Theorie (Probyn, Adams, Setzwein) die gastrosophische Wende vollzogen. Ebenso haben in den letzten Jahren die Politologie (Fine, Nestle, Brown, Rosegrant) und die Wirtschaftswissenschaft (Stiglitz, Sen, Ritzer, Atkins/ Bowler) das Thema entdeckt. Auch im Nachhaltigkeits- und Antiglobalisierungsdiskurs (Shiva, Lappé/Lappé, Sachs, Jakubowicz) findet eine zunehmende Berücksichtigung von gesellschaftlichen Fragen der Ernährung statt. Mittlerweile erscheinen im angelsächsischen Sprachraum bereits Publikationen unter der eigenständigen Rubrik Food Studies (Ashley, Scapp/ Seitz, Pollan, Finkelstein, Warde). Auch hierzulande zeichnen sich die Anfänge einer Kulturwissenschaft des Essens ab (Neuman/Wierlacher/Teuteberg, Engelhardt/Wild, Dollase). Obwohl sich also die Forschungsaktivitäten und Reflexionen zur Tischgesellschaft seit einiger Zeit formieren und diversifizieren, geschieht dies nach wie vor in einer eigentümlichen Unsichtbarkeit und Unbekanntheit. Denn wenngleich in dem kurzen Zeitraum von nicht einmal drei Jahrzehnten eine große Menge an Publikationen zur Ernährung entstanden ist, die heute schon kaum noch überblickbar ist, und darüber hinaus erste Forschungsinstitutionen, Studiengänge und Lehrstühle eingerichtet worden sind, blieb der gastrosophical turn vom herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb nahezu unbemerkt: Immer noch müssen diejenigen, die sich aus ihrer jeweiligen Disziplin heraus mit dem Thema Essen beschäftigen, dies eher nebenbei tun und sich gegenüber ihren Kollegen für diese Ausrichtung ihrer Arbeit ›rechtfertigen‹. Zweifelsohne wird sich in absehbarer Zeit ›der Spieß umdrehen‹ – um hier eine gewohnte martialische Metapher einmal ins Kulinarische zu wenden – und es wird sich eine abschätzige Haltung gegenüber tischgesellschaftlichen Fragen als unwissenschaftliches Vorurteil erweisen. Um einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich das gastrosophische Denken als universitäre Disziplin und als interdisziplinärer Gegenstandsbereich eines zeitgenössischen Forschungsfeldes weiter etabliert und an Systematik gewinnt, unternimmt der vorliegende Sammelband verschiedene philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen an das Verständnis der MenschenGesellschaft als einer Tischgesellschaft.

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Vorwort. Vor der Speise | 11

Literatur Adams, Carol J.: The Sexual Politics of Meat: A Feminist-Vegetarian Critical Theory, New York: Continuum 1990. Anderson, E.N.: Everyone Eats. Understanding Food and Culture, New York: New York University Press 2005. Ashley, Bob/Hollows, Joanne/Taylor, Ben: Food and Cultural Studies, London: Routledge 2002. Atkins, Peter William/Bowler, Ian/Hodder, Arnold von: Food in Society: Economy, Culture, Geography, Hodder Arnold 2001. Barthes, Roland: »Towards a Psychosociology of Contemporary Food Consumption«, in: Counihan, Carole/van Enteric, Penny (Hg.): Food and Culture: A Reader, New York: Routledge 1997, S. 202-208. Belasco, Warren J.: Meals to Come. A History of the Future of Food, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2006. Belasco, Warren J.: »Food Matters: Perspectives on an Emerging Field«, in: ders./Philip Scranton (Hg.), Food Nations: Selling Taste in Consumer Society, New York: Routledge 2000, S. 1-11. Brown, Lester R.: Plan B 2.0: Rescuing a Planet Under Stress and a Civilization in Trouble, New York/London: Norton & Company 2006. Counihan, Carole M./Esterik, Penny Van (Hg.): Food and Culture: A Reader, New York: Routledge 1997, S. 202-208. Davis, Mike: Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperalistischen Zeitalter, Berlin/Hamburg: Assoziation A 2004. Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München: Fink Verlag 2007. Dell’Agli, Daniele (Hg.): Essen als ob. Gastrosophische Modelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Dollase, Jürgen: Kulinarische Intelligenz, Wiesbaden: Tre Torri 2006. Douglas, Mary: Deciphering a Meal, in: dies., Implicit Meanings, London: Routledge 1975, S. 249-275. Engelhardt, Dietrich/Wild, Rainer (Hg.): Geschmackskulturen. Vom Dialog der Sinne beim Essen und Trinken, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005. Fine, Ben: Consumption in the Age of Affluence: The World of Food, London: Routledge 1996. Finkelstein, Joanne: Dining Out. A Sociology of Modern Manners, New York: New York University Press 1991. Goody, Jack: Cooking, Cuisine and Class. A Study in Comparative Sociology, London: Routledge 1982. Grew, Raymond (Hg.): Food in Global History, Westview Press 2000. Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis Heute, Frankfurt a.M./New York: Campus 2001.

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12 | Harald Lemke Harris, Marvin/Ross, Eric B. (Hg.): Food and Evolution: Toward a Theory of Human Food Habits, Temple University Press 1987. Jakubowicz, Dan: Genuß und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen Lebensstils, Wien: Promedia 2002. Jones, Martin: Feast: Why Humans Share Food, Oxford University Press 2007. Kleinspehn, Thomas: Warum sind wir so unersättlich. Über den Bedeutungswandel des Essens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Lappé, Frances/Lappé, Anna: Hope’s Edge. The Next Diet for a Small Planet, New York: Tarcher Putnam 2002. Lemke, Harald: Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007. Levi-Strauss, Claude: Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Levenstein, Harvey: Revolution at the Table: The Transformation of the American Diet, New York: Oxford University Press 1988. Mennell, Stephen: Die Kultivierung des Appetits, Frankfurt a.M.: Athenäum 1988. Mintz, Sydney: Die süße Macht: Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991. Montanari, Massimo: Food Is Culture, New York: Columbia University Press 2004. Murcott, Anne/Mennell, Stephen/Otterloo, Anneke van: The Sociology of Food: Eating, Diet and Culture, London: Sage Publications 1992. Narayan, Uma: Dislocating Cultures. Identities, Traditions, and Third World Feminism, New York/London: Routledge 1997. Nestle, Marion: Food Politics. How the Food Industry influences Nutrition and Health, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2002. Neumann, Gerhard/Wierlacher, Alois/Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie Verlag 1993. Pollan, Michael: The Omnivore’s Dilemma: The Search for a perfect Meal in a Fast-Food World, Bloomsbury Publishing 2007. Petrini, Carlo: Slow Food Revolution: A New Culture for Eating and Living, Rizzoli International Publications 2006. Petrini, Carlo: Slow Food. Geniessen mit Verstand, Zürich: Rotpunktverlag 2003. Probyn, Elspeth: Carnal Appetites: Foodsexidentities, London: Routledge 2000. Ritzer, George: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz: UVK 2006. Rosegrant, Marc et al.: Global Food Projections to 2020, Implications for Investment, Washington D.C. 1995.

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Vorwort. Vor der Speise | 13

Scapp, Ron/Seitz, Brian (Hg.): Eating Culture, New York: University of New York Press 1998. Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, Frankfurt a.M.: dtv 2000. Setzwein, Monika: Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext, Freiburg: VS Verlag 2004. Shiva, Vandana: Stolen Harvest: The Hijacking of the Global Food Supply, Cambridge: South End Press 2000. Stiglitz, Joseph/Chariton, Andrew: Fair Trade: Agenda für einen gerechten Welthandel, Hamburg: Murmann 2006. Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Die Revolution am Esstisch: Neue Studien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2004. Warde, Alan: Consumption, Food and Taste: Culinary Antinomies and Commodity Culture, London: Sage Publications 1996. Wierlacher, Alois: »Einleitung: Zur Begründung einer interdisziplinären Kulturwissenschaft des Essens«, in: Gerhard Neumann/Alois Wierlacher/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie Verlag 1993.

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Die Tischgesellschaft. Zur Einführung Iris Därmann

Wie ist Gesellschaft möglich? Für Aristoteles gehört Sozialität bekanntlich dem Bereich der Physis an, die in der politischen Sphäre ihr vorherbestimmtes Ziel findet und nur dort zur vollen Entfaltung gelangt. Die klassische Definition des Menschen als ánthropos zõon politikón phy´sei éstin (Politik 1253 a) und die Ontoteleologie der Polis verlieren erst in der frühen Neuzeit, nicht zuletzt durch Thomas Hobbes, ihren ganzen Kredit. Hobbes’ anthropologische Erfindung des Menschen als eines a-sozialen Lebewesens hat einen bis dahin ungeahnten politischen Konstruktivismus zur Folge, der sich am juristischen Modell des Vertrags und der künstlichen Errichtung des Staates orientiert. Das Minimum an sozialer Disposition bedeutet zugleich ein Maximum an politischer Herstellungskunst und souveräner Gewalt.1 Homo homini lupus2 – die bestialische Natur des Menschen, die ausschließlich um ihre eigene Selbsterhaltung kreist, sperrt sich gegen jede Kulturalisierung und Moralisierung. Bestenfalls kann sie durch den Schrecken der Gesetze und durch die Gewalt des Schwertes in Schach gehalten werden. Ohne auf letzte Zwecke zu verzichten, führt die Vereinigung der aristotelischen mit der Hobbesschen Anthropologie in Kants Geschichtsphilosophie zur spannungsgeladenen Kompromißbildung der »ungeselligen Geselligkeit«,3 für die Schopenhauer das spre1 | Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 251. 2 | Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, aus dem Englischen von Max Frischeisen-Köhler, eingeleitet und hg.v. Günter Gawlick, 3. Auflage, Hamburg: Felix Meiner 1994, Widmungsschreiben, S. 59. 3 | Immanuel Kant: »Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. VIII, Berlin: de Gruyter 1968, S. 20, S. 22. Vierter Satz: »Ich verstehe hier unter dem Antagonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch

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16 | Iris Därmann chende Bild von den frierenden Stachelschweinen finden wird. Aber schon in Rousseaus contrat social hat sich die kontraktualistische Gründungsszene fast restlos verbraucht und weist auf eine eigentümliche theatralische Bedeutungsleere des Sozialen hin, die, wie auch später in Durkheims Religionssoziologie, durch häufige Versammlungen und die affektive Verschmelzung ihrer Mitglieder kompensiert wird.4 Mit Zarathustras Erfindung eines Abendmahls, das seine Mitglieder auch und gerade im Geschmack singularisiert, zieht Nietzsche seine ganz eigene Konsequenz aus der juristischen Fehlkonstruktion von Sozialität: »Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch […]. Und kein ›Vertrag‹!«5 Mit der Erosion des kontraktualistischen Modells treten spätestens um 1800 elementare Praktiken des sozialen Lebens und ästhetische Formen von Gesellschaftsbildung auf den Plan: das Fest, die Religion, Tragödie und Trauerspiel, Volk und urwüchsige Gemeinschaft, Geselligkeit und gemeinsame Lebensart. Sozialität ist nicht die rein äußerliche Zusammenfügung der zuvor voneinander getrennten und »jederzeit in […] Kriegsrüstung«6 befindlichen Individuen. Sie ist auch nicht die symbiotische Einswerdung im kollektiven Körper der Ekstase (wie noch der frühe Nietzsche und der späte Durkheim glauben wollten) oder gar das hysterische Ornament der Masse, mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.« Wie man weiß, handelt es sich um eine teleologisch ausgelegte Natur – freilich im Modus des »als ob« (vgl. Kritik der Urteilskraft §§ 6468, § 75f.), deren Zielgerichtetheit und Zweckmäßigkeit die Entwicklung der Menschheit bestimmt. Fünfter Satz: »Alle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genöthigt wird sich zu discipliniren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.« 4 | »Wie? Soll es in einer Republik denn gar kein öffentliches Schauspiel geben? Im Gegenteil, man braucht sogar viele. […] Was werden aber schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird es zeigen? Nichts, wenn man will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele Menschen zusammenkommen, auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder noch besser: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind.« Jean-Jacques Rousseau: »Brief an D’Alembert«, in: Schriften, Bd. I, hg.v. Henning Ritter, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 335-474, hier S. 462. 5 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra III. Von alten und neuen Tafeln, Nr. 25, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg.v. Giorgio Colli und Massimo Montinari, Frankfurt a.M./New York: Walter de Gruyter Verlag/dtv 1967-77, S. 265. 6 | Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. IV, a.a.O., S. 428.

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die die Singularitäten, zumindest zeitweilig, beide gleichermaßen vernichten. Hierbei handelt es sich lediglich um Figuren der Externität oder Intimität, die das Problem der Sozialität und die kulturellen Praktiken, Ereignisse und Inszenierungen ihrer Stiftung und Unterhaltung herabsetzen, marginalisieren, wenn nicht gar verdrängen. Die klassischen theoretischen Konstruktionen des Sozialen gehen entweder von einem substantiellen Ganzen (der Gesellschaft, der Natur) oder aber von den vielen vereinzelten, atomaren Individuen (die selbst bereits für sich ein unteilbares Ganzes bilden), nicht aber von der Frage aus, was sich zwischen dem Einen und dem Anderen und den anderen Anderen als Zwischenfall, Zwischenleiblichkeit, als Intersubjektivität, Interaktion, Interpassion, als Mit-Sein und Mit-Teilung ereignet. Der Eine kann überhaupt nur mit dem Anderen in Beziehung treten, weil er nicht bereits mit ihm vereinigt oder aber immer schon von Natur aus zur Vereinigung bestimmt ist, und er tut dies, eben weil er keine abgeschlossene Totalität bildet, kein solus ipse7 ist, der sich selbst genug ist und sich daher nur widrigenfalls zum Zusammenschluß mit Anderen genötigt sieht.8 Sozialität ist weder natur- oder gottgegeben noch auch von Rechts wegen bestellt und angeordnet. Sie liegt nicht einfach vor, ist nicht schlechterdings vorhanden, sondern muß Tag für Tag durch kulturelle und phatische Praktiken der Mit-Teilung gebildet, wiederhergestellt, unterhalten, exponiert und so je von neuem dem Schweigen und der A-Sozialität entrissen werden.

I. Alimentäre Gabe und Gastfreundschaft Zu den wohl ältesten und zugleich gegenwärtigsten, den vielleicht unverwüstlichsten und weltweit verbreitetsten Institutionen, Gelegenheiten und Riten, die in diesem Sinne als sozialitätsstiftend angesehen werden müssen, gehören die Praktiken der alimentären Gabe und Gastfreundschaft.9

7 | Benveniste erinnert daran, daß bei Plautus im gesprochenen Latein ipsissimus für »Herr (Herrin), Gebieter« – im Unterschied zum Sklaven – steht. Das Selbst (αυτòς), er selbst, ist der Herr und der einzig Wichtige, der über sich selbst verfügt, sich selbst besitzt und der »imstande ist«, der »kann«. Émile Benveniste: Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, aus dem Französischen von Wolfram Beyer, Dieter Hornig und Kathrina Menke, Frankfurt a.M./ New York: Campus Verlag 1993, S. 74. 8 | Jean-Luc Nancy: Être singulier pluriel, Paris: Éditions Galilée 1996, S. 53f.; dt. singulär plural sein, aus dem Französischen von Ulrich Müller-Scholl, Zürich/ Berlin: diaphanes 2004, S. 62f. 9 | Siehe dazu die vielschichtige Studie von Burkhard Liebsch: Gastlichkeit

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18 | Iris Därmann Nicht zufällig erklärt Marcel Mauss in seinem Essai sur le don die Nahrung zur wesentlichsten Form der Prestation (zu lat. praestare – in die Hand geben). Die Nahrung ist nicht das Beispiel einer Gabe unter anderem, sondern der Inbegriff der Gabe und des Gebens schlechthin. Namentlich bei der Bildung und Unterhaltung von Bündnissen zwischen einander fremden Gesellschaften (Familien, Clans, Kollektive, Nationen) spielt der alimentäre Gabentausch eine entscheidende Rolle. Festessen und Bankette werden gegeben, angenommen und erwidert, wann immer die unterschiedlichen »Gesellschaften am Rande des Pazifiks« zusammentreffen, um sich gegenseitig Respekt zu erweisen. Dabei betont Mauss nicht nur in der Theorie, sondern auch mit Blick auf die Praxis selbst, die Unaufhörlichkeit, mit der die alimentären Gaben obligatorisch gegeben und zwischen den Kommensalen geteilt werden müssen: Die Gaben zirkulieren ohne Unterlaß; es gibt keine einzige Gelegenheit, wo man nicht geben müßte; »nach allen Richtungen hin werden Potlatchs gegeben«. Der Nachdruck, mit dem Mauss den »Strom« bzw. die »ununterbrochene Kette«, das »ewige Give and Take«10 der Gaben und Feste bedenkt, unterstreicht, daß und wie sehr sich die Möglichkeit solcher Bündnisse und Verbindungen der alimentären Gabe und Gastfreundschaft verdankt. Ohne derartige kulturelle Praktiken gibt es weder Koexistenz noch Sozialität, sondern nur ihr Gegenteil, die Indifferenz, die A-Sozialität oder gar den Krieg. Die Gesetze der Gastfreundschaft können Fremde in Verbündete verwandeln. Nur in alimentärer Gabe11 und Bewirtung nimmt Gastfreundschaft Gestalt an. Der Parasit ist derjenige, der ungewollt und uneingeladen mit ißt, wenn das gastronomische Kollektiv zu Tisch sitzt. Der Fremde, der hingegen als Gast willkommen geheißen und nicht als Feind oder Barbar von der heimischen Tafel ausgeschlossen wird, genießt, zumindest temporär, den rechtmäßigen Status des Gastfreundes und Hausgenossen. Die Griechen gewährten nur ihresgleichen die Gastfreundschaft: »ξνος verweist auf gleichartige Beziehungen zwischen Menschen, die durch einen Pakt gebunden sind, der mit präzisen, sich auf die Nachfahren erstrekkenden Verpflichtungen einhergeht.«12 Der namenlose Andere aber, der nicht in das gegenseitige System des Gastrechts, der Genealogien und Familiennamen eingebunden war und sich durch kein sy´mbolon zu erkennen geben konnte, wurde vertrieben. Hat der pater familias nicht Sorge zu tragen für sein Haus, soll er Gefahr laufen, einem Dieb, Mörder oder Verund Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist: Velbrück 2005. 10 | Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1925), aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 87, S. 94, S. 81. 11 | Ebd., S. 23. 12 | Émil Benveniste: Indoeuropäische Institutionen, a.a.O., S. 77.

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bannten Einlaß zu gewähren? Die verschiedenen Kulturen der Gastfreundschaft kreisen mithin um die Frage, ob die Bewirtung und das gemeinsame Mahl die Preisgabe der Identität allererst möglich (aber beileibe nicht erforderlich) macht oder ob die Kenntnis des Namens (Wer bist Du? Wie heißt Du?) die Bedingung für die Öffnung des Hauses darstellt.13 Doch werden durch das Gastrecht und den ständigen Gabentausch keine nahtlosen und intimen Beziehungen gestiftet. Marcel Mauss stellt vielmehr ihren zugleich trennenden und verbindenden Charakter heraus: Alimentäre Gabe und Eßgemeinschaft setzen und unterhalten eine »actio in distans«;14 sie erzeugen eine Anziehungs- und Abstoßungskraft, die »die Clans zusammenschweißt und gleichzeitig voneinander trennt«; »man verbrüdert sich und bleibt einander doch fremd«.15 Jede gemeinsame Mahlzeit scheint in sozialer und politischer Hinsicht immer schon überdeterminiert und das Ergebnis einer Verdichtungsarbeit zu sein, da sie die beiden intersubjektiven Ereignisse der Trennung und Zusammenfügung, der Teilung und Verbindung, des Ohne- und Miteinanderseins, des Ein- und Ausschlusses, auf kulturell sehr unterschiedliche Weise aufeinandertreffen läßt. Dabei entspricht die ungleiche oder gleiche Teilung der Nahrung der sozialen Teilung oder Neuaufteilung des Gesellschaftskörpers, um durch die unterschiedliche alimentäre Verteilung die Hierarchie der Ämter, Güter, Positionen, Privilegien, Tugenden bzw. durch die gleiche Verteilung der Nahrung die tatsächliche, die mythische, imaginäre oder aber erstrebte Gleichheit ihrer Mitglieder zu illustrieren. Zugleich aber findet dabei eine Teilung in dem Sinne statt, daß die Kommensalen etwas teilen – die gleiche Nahrung, das Zusammensein, die mitgeteilte und zelebrierte Gemeinschaft –, das sie als voneinander getrennte und fremde Singularitäten zusammenführt, wenn nicht gar in eine temporär begrenzte Überein-Stimmung zu bringen vermag. Die Mahlzeit ist eine Institution, in der Zerrissenheit und Bindung zugleich konstituiert werden. Steht die Tischgemeinschaft für die symptomatische »Leidenschaft des Teilens«16 in dieser zwei13 | Derrida unterscheidet daher zwischen einer absoluten Gastfreundschaft, die dem namen- und statuslosen Anderen gilt, und einer rechtlich geregelten Gastfreundschaft, die dem Fremden (im griechischen Sinne) gewidmet ist. Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2001, S. 29, S. 22f. 14 | So Nietzsches – in Anlehnung an Isaac Newtons mathematische Prinzipien der Physik, in bezug auf die Wirkung der Frauen aus der Ferne formuliertes – »Pathos der Distanz«: Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch Nr. 60, KSA 3, S. 424f. 15 | Marcel Mauss: Die Gabe, a.a.O., S. 169, S. 90. 16 | Um das Wort »teilen« schart sich eine ganze Familie von Bedeutungen: Verteilen, Austeilen, Zuteilen, Mitteilen, Teilhaben, Teilnehmen. Etwas teilen, geteilt werden. Zur »Leidenschaft des Teilens« siehe Jacques Rancière: »Die Gemein-

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20 | Iris Därmann fachen Bedeutung des Wortes, so gründet sie sich zugleich auf externe Ausschlüsse und intime Einschlüsse. Selbst eine universale Mensa könnte nicht alle Menschen zugleich zu Tisch bitten. In diesem Sinne gibt es keine Tafel, und sei sie auch noch so sehr für den Zutritt aller Singularitäten zugänglich, die sich nicht auf eine empirische Unzugänglichkeit oder Inhospitalität und damit auf den Ausschluß und die Wiederkehr alimentärer Ansprüche gründen würde. Für gewöhnlich betreffen solche Exklusionen geschlechtliche, rechtliche, sprachliche, religiöse, soziale oder kulturelle Andersheiten, die die Hospitalität xenophobisch einschränken; sie können sich aber auch auf bestimmte Nahrungsmittel beziehen, die allen gleichermaßen untersagt oder nur einzelnen aufgrund ihrer exponierten bzw. vermittelnden Stellung (als Priester, Vater, Chef) zu essen erlaubt sind. Die je bestimmte Ernährungsweise einerseits und die besondere Tischordnung andererseits bezeichnen Codes, Arenen und Austragungsorte für »Ausscheidungs- und Konkurrenzkämpfe«,17 soziale Schichtung und Differenzierung, für Abgrenzungen von oben nach unten, Stand und Person, ökonomisches und symbolisches Kapital und verfügen damit über Zugehörigkeit oder Unzugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe oder Kultur. In paradigmatischer Weise hat dies Gerhard Baudys Analyse der griechischen Opferküche gezeigt: Indem die antike Opfergesetzgebung bestimmten Berufsständen unterschiedliche Portionen zumesse, der Tierkörper damit selbst den symbolischen Aufriß der Polis widerspiegele und die gemeinsame Opfermahlzeit »Zusammengehörigkeit und Unterschiede zwischen den Kommensalen« markiere, konstituiere die Verteilung des Fleisches je auf’s Neue die sozial-hierarchische Struktur der Polis.18 Gemeinschaftsmähler bringen (Mahl-)Gemeinschaften hervor,19 die die Gleichschaft der Gleichen«, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, in: Joseph Vogl (Hg.), Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 101-132, hier S. 127. 17 | Hasso Spode: »Von der Hand zur Gabel. Zur Geschichte der Eßwerkzeuge«, in: Alexander Schuller/Jutta Anna Kleber (Hg.), Verschlemmte Welt. Essen und Trinken historisch-anthropologisch, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 20-46, hier S. 35. 18 | In den homerischen Epen sei »das Verbum νεµειν ›verteilen‹, von dem νµος sich herleitet […], ein auf das Zerlegen und Zuteilen des Bratens bezogener Terminus«. Gerhard Baudy: »Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation, mit besonderer Berücksichtigung der altgriechischen Gesellschaft«, in: Burkhard Gladigow/Hans G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München: Kösel-Verlag 1983, S. 131-174, hier S. 166f., S. 156f. 19 | Matthias Klinghardt: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter), Tübingen/Basel: Francke 1996.

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rangigkeit oder Ungleichheit ihrer Mitglieder hervorbringen und zementieren. Das gemeinsame Mahl »besiegelt Friedens- und Bündnisschlüsse«,20 ja es nimmt selbst, wie etwa im frühen Mittelalter bei den Gemeinschaftsessen der Genossenschaften, Gilden und Zünften, bei fürstlichen Gelagen und Banketten, den Charakter einer »rechtsrituellen Handlung« an, die eine friedens-, bündnis- und gemeinschaftsstiftende Funktion besitzt.21 Die Furcht vor Giftmord und die, zumindest von fürstlicher Seite, dagegen getroffenen Maßnahmen: Vorkoster, Natternzungen, Nashornbecher, die durch Vorfärben oder Schäumen das beigemischte Gift zu erkennen geben sollten,22 unterstreichen das Vorkommen von Verstößen gegen diese bündnis- und friedensstiftende Funktion des Mahles und damit ex negativo ihre rituelle Wirkung. Dank des gemeinsamen Mahles und Bruderschaftstrinkens erhalten öffentliche Beziehungen den Status von quasiprivaten und verwandtschaftlichen Beziehungen, so daß zuvor einander Fremde zu Brüdern werden, die sich gegenseitig Schutz für Leib und Leben sowie Hilfe in Not- und Kriegszeiten zusichern. Gemeinschaftsmähler bringen temporäre oder auf Dauer angelegte (Mahl-)Gemeinschaften hervor. Zu erinnern ist an die spartanischen Sys20 | Erich Garhammer: »Gott und Gaumen. Theologisches zum Motivkomplex ›Essen‹«, in: Lothar Kolmer/Christian Rohr (Hg.), Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen, Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 2000, S. 77-85, hier S. 79ff. 21 | Gerd Althoff: »Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftsstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter«, in: Irmgard Bitsch/Trude Ehlert/Xenja von Ertzdorff (Hg.), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag 1987, S. 13-25. 22 | Vgl. schon Marcel Mauss: »Gift, gift« (1924), in: Œuvre 3: Cohésion sociale et divisions de la sociologie, Paris 1969: Les Éditions de Minuit, S. 46-51, hier S. 49. »Nirgendwo hat die Ungewißheit über die gute oder schlechte Natur der Geschenke größer sein können als in jenen Bräuchen, in denen die Gaben wesentlich im gemeinsam genossenen Trank, in gespendeten oder zu erwidernden Trankopfern bestanden haben. Der ausgeschenkte Trank kann ein Gift sein; zumeist, außer im finsteren Drama, ist er es nicht, aber immer kann er es werden. Stets und in allen Fällen ist er ein Zauber (das Wort gift hat diesen Sinn im Englischen bewahrt), der die Kommunikanten für immer verbindet und sich jederzeit gegen einen von ihnen wenden kann, falls er das Recht verletzt.« Sowie Günther Schiedlausky: »Natternzungen. Ein Leitfossil in der Geschichte mittelalterlicher Giftfurcht«, in: Kunst & Antiquitäten VI (1989), S. 25-30. Diesen letzten Hinweis bei Hans Ottomeyer: »Tischgerät und Tafelbräuche. Die Kunstgeschichte als Beitrag zur Kulturforschung des Essens«, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 177-185, hier S. 178.

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22 | Iris Därmann sitien oder an die Riten der Griechen, die an den Kronia, bzw. an die der Römer, die an den Saturnalien die mythische Erinnerung an eine Gleichheit der Menschen feierten, die in der gemeinsamen Mahlzeit von Herrn und Sklave und der Bedienung des Sklaven durch den Herrn zum Ausdruck gebracht wurde; ferner an das jüdische Pessach-Mahl, das nach dem Kanon des Haggadah zur Feier der Freilassung aus ägyptischer Herrschaft eingenommen wird; an die eucharistische Kommunion und die Transsubstantiation von Brot und Wein in Leib und Blut Christi; an das Abendmahl des Neuen Testaments im Kontext des Streites um die richtige Feier des Herrenmahls in Korinth (1 Kor 11, 17-34) und die im dritten Jahrhundert einsetzende Trennung von Kult- und Sättigungsmahl. Mit der bretonischen Cronique d’Arthur (Layamon’s Brut, Vers 2736ff., 9994ff.) beschwört Mauss indes das konfliktfreie, idyllische Bild einer aristokratischen Tafelrunde, die scheinbar niemanden ausschließt, ohne Kopfende und daher pazifizierend ist. Billigt sie doch jedem in egalitärer Brüderlichkeit den je gleichen Anteil zu. Der Zimmermann aus Cornouailles verspricht König Arthur das Wunder eines neuen Hofes, der nichts Geringeres als eine mobile Tischgesellschaft sein soll: »Ich werde dir einen wunderschönen Tisch machen, an dem sechzehnhundert Männer und mehr sitzen können und von dem niemand ausgeschlossen zu werden braucht […]. Und kein Ritter kann sich hier zum Kampfe erheben, denn der am höchsten Sitzende wird auf gleicher Stufe mit dem Niedrigsten sein.«23 Zweifellos kommt die aristokratische Tafel – und das betrifft sowohl die literarisch gestaltete als auch die historisch verbürgte – nicht ohne Ausschlüsse aus: Weder bittet sie Köche und Mägde, noch auch Frauen und Zimmermänner zu Tisch. Insofern keine einzige Tischgesellschaft jemals »vollständig«, sondern immer nur »überzählig ist«,24 stellt sich die Frage, wie sie jeweils das Ausgeschlossene und Abwesende in ihrer Mitte, an ihrer Tafel selbst repräsentiert: Ist sie offen und gastfreundlich gegenüber Fremden (und welchen Fremden?) und fremder Speise oder riegelt sie sich hermetisch gegen den Zutritt Unbefugter und die Einflüsse fremder Küchen ab?

II. Die Tischgesellschaft Die um 1800 entstandenen bürgerlichen und an Zahl recht überschaubaren philosophischen Konzepte von Tischgesellschaft und Hospitalität operieren allesamt mit repressiven Grenzziehungen. Sie verteilen die Gleichheit auf ungleiche Weise und verdrängen jene alimentäre Dimension des Gastrechts, wie sie lokalen Praktiken eigen ist. Kant plädiert innerhalb 23 | Marcel Mauss: Die Gabe, a.a.O., S. 182. 24 | Vgl. dazu den Beitrag von Bernhard Waldenfels in diesem Band.

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seiner pragmatischen Anthropologie für eine maßvoll genossene Mahlzeit, die nicht die »leibliche Befriedigung« (gegen »Gelag und Abfütterung«), sondern das »gesellige Vergnügen« kultivierter Männer an der gemeinsamen und regelgeleiteten Unterredung in den Vordergrund stellt. Auf gewisse Weise widerruft Kants Tafel im Namen einer »wahren Humanität« erstmals die philosophische Unterbestimmung des Essens. Stellt sie doch das »gute Mahl in guter Gesellschaft« unter das Vorzeichen des Wohllebens und der »ästhetischen Vereinigung« miteinander essender und kommunizierender Männer (bleibt zu fragen, wer hat gekocht und die Mahlzeit angerichtet). Freilich können weder die Tatsache des gemeinsamen Essens und die Aufnahme der gleichen Substanz noch auch die Teilung der Nahrung, die jedem das Seine nach individuellem gusto zugesteht, das ausmachen, was Kant hier unter (Privat-)Gesellschaft versteht. Der geteilte Genuß der Nahrung stiftet keine Sozialität, sondern bleibt bloßes »Vehikel«, das dem sittlichen Zweck der Mahlzeit Vorschub leistet, »nämlich viel Menschen und lange zu wechselseitiger Mitteilung zusammen zu halten«.25 Die gemeinsame Mahlzeit wird auch nicht als eine kulturelle Institution in Betracht gezogen, die den Akt des einsamen Essens als Depravation ihres sozialen Sinns hervortreten ließe; im Gegenteil kann die Reizung des »Sinns des Schmeckens« (VII 250) und die »leibliche Befriedigung« des Essens »ein jeder auch für sich allein haben« (VII 278). Diese Unterschätzung der alimentären »Socialität« (VII 241), die den Sinnengeschmack ganz auf die Seite einer isolierten Animalität zu ziehen gewillt ist, hängt mit dessen Verständnis als eines bloßen »Privatsinns« (VII 242) zusammen. Dem Geschmack »in der eigentlichen Bedeutung des Wortes« (VII 239) traut Kant bekanntlich, anders als dem Reflexionsgeschmack, keinerlei Ankündigung auf Allgemeinheit und Intersubjektivität zu, auch wenn er weiß, daß es spezifische kulinarische »Gewohnheiten« und Habitus gibt, die Angehörige derselben Eßkultur teilen (VII 240). Die Begrenzung der Teilnehmer, die die Zahl der Grazien nicht unterschreiten und die Zahl der Musen nicht übertreffen soll, um keinen vom Gespräch auszuschließen und Separationen zu verhindern, dient dem exklusiven und kultivierten Kreis derer,26 die sich in der gemeinsamen Wechselrede ihres 25 | Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. VII, a.a.O., S. 428. 26 | Agnes Heller, der das Vorrecht gebührt, erstmals auf die kulturelle Bedeutung von Kants Gastmahl hingewiesen zu haben, verweist in ihrer Interpretation zu Recht auf den elitären Charakter von Kants ästhetisch vereinigter Tischgesellschaft bourgeoiser Männer. Agnes Heller: »Culture, or Invitation to Luncheon by Immanuel Kant«, in: dies., A Philosophy of History in Fragments, Oxford/Cambridge: Blackwell 1993, S. 136-175. In seiner großangelegten Habilitationsschrift Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie ist Harald Lemke der innerhalb des europäischen Denkens weitgehend marginalisierten Philosophie des Essens auf der

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24 | Iris Därmann Konversationsgeschmacks zu bedienen verstehen. So wenig wie Kants elitäre bürgerliche Tafel einen leeren Platz für Bedürftige, Ausgeschlossene oder Abwesende freihält, so wenig erkennt das Weltbürgerrecht seines philosophischen Entwurfs Zum ewigen Frieden die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines alimentären Gastrechts an. In diesem Sinne wohnt der kantischen Kosmopolitik, die darin das griechische Erbe übernimmt, eine gehörige Portion »inhospitalen Betragens« inne, die entlaufenen Sklaven, Staatenlosen und Gestrandeten den ewigen Frieden der Friedhöfe beschert, nicht aber den leiblichen Frieden jener Mundschenke gleichen Namens, mit dem ein holländischer Gastwirt seine Gäste – auf durchaus zweideutige Weise – zur Einkehr eingeladen haben soll. In der weitläufigen Literatur der höfischen wie bürgerlichen Lebensart und Homiletik, zu der Kants programmatische Skizze zur Tischgesellschaft entschieden gehört, macht die conversatio nur einen Teil der kunstvollen Beziehungsgestaltung aus, die in der Breite der friedenserhaltenden Verhaltensregulierungen immer auch die Tischzucht, die Frauenzucht und Kleidungszucht, kurz: das gesamte Spektrum des äußeren decorum miteinschließt.27 Die politische Bedeutung dieser Philosophien des »gemeinen Lebens«, die sich nicht an den großen Institutionen, sondern an den elementaren Formen des sozialen Lebens orientieren, sind schon vielfach untersucht worden: Konnte der semantische Gehalt des Wortes »politisch« lange Zeit im Glanz des höfischen Lebens erstrahlen, so verband er sich spätestens seit Thomasius’ Kurtzem Entwurff der politischen Klugheit28 mit einer Technik des klugen und berechnenden Verhaltens, das an dem Ziel ausgerichtet war, sich nicht beherrschen zu lassen.29 Dem Kalkül der Sicherheit im Umgang mit Höherstehenden und der eigenen Vorteilswahrung durch Anpassung war noch Knigges 1788 erschienene Ratgeberschrift Über den Umgang mit Menschen30 verpflichtet, dem Schleiermacher wenige Jahre später vorwerfen konnte, Geselligkeit auf einen »berechnenden HanSpur. Dabei finden auch die einschlägigen Überlegungen Kants ihren Platz. Siehe dazu das Kapitel: »Kritik der diätmoralischen Vernunft. Zur Antinomie der Kantischen Ernährungsphilosophie«. 27 | Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München: Fink Verlag 1988, S. 11. 28 | Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit/sich selbst und anderen zu allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen/und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen, Franckfurt und Leipzig 1710 (Reprint Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 1994). 29 | Wolfram Mauser: »Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialutopischen Utopie um 1750«, in: Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert, hg.v. Karl Eibl, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1989, S. 3-36, hier S. 15. 30 | Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen (1788), Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 2001.

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del, wo jeder etwas abläßt«, zu reduzieren und als bloßes »Mittel für den Egoismus« zu gebrauchen.31 Für Schleiermacher besteht dagegen der Zweck der freien Geselligkeit in der reinen Wechselwirkung ihrer Teilnehmer, um sich in antihöfischer Tradition von Rang, Stand und Konvention zu lösen und jedem seinen Anteil an Konversation und schmackhafter Speise zuzugestehen. Schon im ersten Teil der erstmals 1748 erschienenen Zeitschrift Der Gesellige hieß es programmatisch: »Wir wollen eine wahre Republik in dem geselligen Leben errichten.«32 Erklärt Friedrich Schleiermacher das Vorrecht des Adels »ein Haus zu machen«, auch zum allgemeinen Menschenrecht,33 so setzt der gesellige Verkehr vernünftiger Menschen doch einen (annähernd gleichen) Bildungsgrad voraus, den man bei solchen Menschen, die, wie Lakaien oder Lumpenproletarier, »mit den niedrigsten Culturarbeiten« beschäftigt sind, nur schwerlich wird finden können.34 Daher ist das von Schleiermacher konstruierte »egalitär-diskursive«35 »Kunstwerk der Geselligkeit« ein Gebilde, welches zwar »im Freyen ausgestellt Jedem den Zutritt verstattet und doch nur von denen genossen und verstanden wird, die Sinn und Studium mitbringen« (Frg. 336, I 146, 29-31). Das kulturelle Paradigma dieser in der reinen Wechselseitigkeit der Mitteilungen realisierten vollkommenen Form von Gesellschaft stellt nicht zufällig das Piquenique: »Das Piquenique ist eine vortreffliche Erfindung […]: jeder trägt das Seinige bey, […] und die Verschiedenheit der Speisen, der freundschaftliche Tausch einer Schüssel gegen die andere, und das Unvermuthete macht die Mahlzeit noch schmackhafter.«36 31 | Siehe die Notizen aus Schleiermachers Tagebuch, in: Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. II, hg.v. Otto Braun und Johannes Bauer, Leipzig: Verlag von Felix Meiner in Leipzig 1913, S. XXV-XXX, hier: S. XXVf. (Nr. 96, 102); sowie die einschlägigen Bemerkungen von Karl-Heinz Göttert: Knigge oder: Von den Illusionen des anständigen Lebens, München: dtv 1995, S. 159; sowie Friedrich Schleiermacher: »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (1799), in: Schriften, hg.v. Andreas Arndt, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 65-91, hier S. 69. 32 | Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift, hg.v. Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, 6 Teile, Halle 1748-1750, neu hg.v. Wolfgang Martens, Reprint Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 1987, Teil 1 (1748), S. 24. 33 | Reinhard Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart: Klett 1967, S. 79. 34 | Friedrich Schleiermacher: Die Lehre vom Staat (1845), hg.v. Christan August Brandis, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Berlin 1834-1864, Bd. III/8, S. 118. 35 | Wolfram Mauser: »Geselligkeit«, a.a.O., S. 43. 36 | Der Gesellige, S. 17.

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26 | Iris Därmann Wie bei Kant, so spielt das gemeinsame Mahl auch bei Schleiermacher gegenüber der kunstvollen Konversation eine nur untergeordnete Rolle, die nichts zur Bildung und Unterhaltung der freien Gesellschaft selbst beiträgt. Und ganz ebenso wie Kant radiert Schleiermacher an der gemeinsamen Tafel den Platz für die fremden und unwillkommenen Gäste aus,37 um die »kleine Bühne der Konversation«38 lediglich für die geschlossene Gesellschaft der Gleichen zu öffnen. Unter diesen Auspizien nimmt es nicht wunder, daß Kant und Schleiermacher die theoretischen Vorlagen für die 1810 nach den Statuten des preußischen Vereinsrechts gegründete Berliner Tischgesellschaft liefern konnten, in der Schleiermacher im übrigen selbst Mitglied war. Im Unterschied zu dem auf eine – nicht selten jüdische – Frau konzentrierten liberalen Klima der Salons39 kam die intern als Gesellschaft Gleichrangiger konzipierte Tischgesellschaft nicht ohne problematische Ausgrenzungen aus: »Gesang ist willkommen, Frauen können nicht zugelassen werden«, hieß es unmißverständlich im Gründungszirkular. Und selbst als die Emanzipation der Juden 1811 durch die Hardenbergschen Reformen in Preußen kurz vor ihrer staatsrechtlichen Realisierung stand, stemmte sich die Berliner Tischgesellschaft gegen das Emanzipationsdekret und verbot den Juden ausdrücklich den Zutritt zu ihrem dezidiert »christlichen«40 Verein.

III. Die Mahlzeit Was Goffman unter Berufung auf Georg Simmel als eine Mikrosoziologie der Gelegenheiten41 entwerfen sollte, beginnt bei Simmel unter Rekurs 37 | Im Zeichen der von ihm skizzierten Kultur der Vornehmheit will Nietzsche selbst noch die liberale Gastfreundschaft durch eine Praktik hochselektiver Hospitalität überbieten: »Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen Haus halten, das ist liberal, das ist aber bloss liberal. Man erkennt die Herzen, die der vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden: ihre besten Räume halten sie leer. Warum doch? – Weil sie Gäste erwarten, mit denen man nicht ›fürlieb nimmt‹ …« (Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, KSA 6, 25, S. 128). 38 | Friedrich Schleiermacher: »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, a.a.O., S. 86. 39 | Konrad Feilchenfeldt: »Die Berliner Salons der Romantik«, in: Barbara Hahn/Ursula Isselstein (Hg.), Rahel Levin Varnhagen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 152-163. 40 | Siehe dazu die instruktive Studie von Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen: Max Niemeyer 2003, S. 35, S. 215f. 41 | Erving Goffmann: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kom-

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auf Schleiermacher nicht zuletzt als eine Soziologie der Mahlzeit. Simmel setzt dabei auf die polare Spannung zwischen dem Egoistischen und Gemeinsamen einerseits und dem Niedrigen (bzw. Sinnlichen) und Höheren (respektive Vergeistigten) andererseits. Die Notwendigkeit des Essens und Trinkens bezeichne nicht nur das allen Menschen Gemeinsame, sondern erweise sich vielmehr, wie Simmel in einer Überbietung der Sprache unterstreicht, als »das Gemeinsamste« überhaupt. Zugleich aber sei dieses universale alimentäre Faktum auch das »Egoistischste«, das »am unbedingtesten und unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte«. Dabei verleiht Simmel dem semantischen Gehalt des Wortes »Egoismus« einen durchaus neuen Sinn, wenn er hervorhebt, daß dasjenige, »was der einzelne ißt, […] unter keinen Umständen ein anderer essen [kann]«.42 Das schließt nicht nur die Aufnahme derselben Substanz im identitätslogischen Sinne, sondern, was noch entscheidender ist, die Teilung derselben alimentären Substanz strikt aus, die jeweils nur von einem Einzigen konsumiert zu werden vermag. Während das vom einzelnen Individuum Gesehene oder Gedachte der Mitteilung fähig und daher mit Anderen teilbar sei, bedeute die Nahrungsaufnahme des Einen den faktischen Nahrungsverzicht des Anderen. Erstaunlicherweise sitzt dieser trennenden Gemeinsamkeit, die das Egoistischste der Menschen ausmacht, die Institution der Tischgemeinschaft auf. Mit ihrer Hilfe gelingt es, an die »exklusive Selbstsucht des Essens eine Häufigkeit des Zusammenseins, eine Gewöhnung an das Vereinigtsein [zu knüpfen]«, wie es wohl keine andere kulturelle Institution und »geistige Veranlassung« je vermag. Darin liegt für Simmel die »unermeßliche soziologische Bedeutung der Mahlzeit«, daß sie nämlich dem radikal Egoistischen einen sozialen Sinn verleiht, indem sie der Sozialisierung und Kulturalisierung des Individuums einschließlich seiner »stofflichen Interessen« Vorschub leistet.43 Die Mahlzeit ist eine stetige munikation, aus dem Englischen von Renate Bergsträsser und Sabine Bosse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 7f. 42 | Georg Simmel: »Soziologie der Mahlzeit« (1910), in: ders., Brücke und Tor. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarete Susman hg.v. Michael Landmann, Stuttgart: K.F. Koehler Verlag 1957, S. 243-250, hier: S. 243. 43 | Der »ungeheure soziale Wert« der Mahlzeit zeigt sich für Simmel ex negativo in den auf die Bildung von Tischgemeinschaften mit bestimmten Personen zielenden Verboten innerhalb der europäischen Kulturgeschichte. Dadurch nimmt sie den Charakter einer geschlossenen Gemeinschaft an, die sich auf den Ausschluß gründet und die Gesetze des Gastfreundschaft lädiert. »So bestimmt die Cambridge Guild im elften Jahrhundert eine hohe Strafe für den, der mit dem Mörder eines Gildebruders ißt«; das Wiener Konzil von 1267 verbietet den Christen die Tischgemeinschaft mit den Juden. Im mittelalterlichen Gilde- und Vetragswesen, wo das gemeinsame Mahl rechtliche Kooperationen besiegelt und der Gilde ihre Identität

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28 | Iris Därmann Initiation in die Gesellschaft (der am Tisch Versammelten) und verleiht allererst, wie man im Anschluß an Mauss und die australischen Arunta sagen könnte: le pouvoir de manger.44 Der Progress, an dem Simmel den Prozess der europäischen Zivilisation bemißt, ist die allmähliche »Überwindung des Naturalismus des Essens« durch Tischordnung, Eßgerät und Tischdekoration. Soziologisches Gewicht erlangt die Mahlzeit in eben dem Maße, wie sie einer überindividuellen Regulierung, Stilisierung und Ästhetisierung der Nahrungsaufnahme statt gibt.45 Man kann sich allerdings fragen, ob die radikale und ursprüngliche Kluft, die Simmel hier zwischen dem unteilbaren Individuum und der Gemeinschaft aufreißen sieht, um sie hernach durch die Institution der Mahlzeit zu überbrücken, nicht dem naturalistischen Vorurteil des Hungers und seiner »physiologischen Primitivität« aufsitzt.46 Muß das Individuum – sieht man einmal von der Kultivierung der Nahrungsaufnahme ab – tatsächlich erst in Gemeinschaft mit Anderen essen lernen und sozialen Umgang mit seinem monadisch eingeschlossenen, egoistischen Hunger üben? Oder ragt die intersubjektive alimentäre Beziehung nicht vielmehr von Anfang an in das Individuum hinein, um es aufzubrechen (wie man Brot aufbricht), um es zu teilen (wie man die Nahrung teilt), und dadurch zur alimentären Gabe zu nötigen und zur Schenkung zu befähigen? Wie Kant und Schleiermacher, so ist auch Simmel nicht an der »Speise als Materie« und ihrem sinnlichen Geschmack, das heißt auch nicht an der Frage der Kunst ihrer Zubereitung, der sozialen Position des Kochs und Gastgebers, sondern ausschließlich an der »Form ihrer Konsumierung« interessiert, also an dem, was der Mahlzeit Regel, Stil, eine gewisse Eleganz verleiht und so die »primitive« Sinnlichkeit des Essens und das egoistische Bedürfnis des Hungers sozial überformt. Die zeitliche Ordnung, die den Tag nach unterschiedlichen Mahlzeiten gliedert, bedeutet Simmel die erste (1) regulative »Überwindung des Naturalismus des Essens«; dazu gesellt sich (2) eine weitere formale Norm, die »die Hierarchie der Mahlzeit« betrifft, und die, je nach lokaler Gemeinschaft verschieden, die Reihenfolge festlegt, in der sich die Teilnehmer von der Speise bedienen dürfen.47 Die Stilisierung der Nahrung wirke (3) zurück auf die sozialisierende Bedeutung der Mahlzeit, da hierfür ein ästhetisichert, erweist sich die Mahlzeit für Simmel hingegen als eine Art »Symbol, an dem sich die Sicherheit des Zusammengehörens immer von neuem orientiert«. Ebd., S. 244f. 44 | Marcel Mauss: »Conceptions qui ont précédé la notion de matière« (1939), in: Œuvre 2: Représentations collectives et diversité des civilisations, Paris: Les Éditions de Minuit 1974, S. 161-166, hier S. 164f. 45 | Georg Simmel: »Soziologie der Mahlzeit«, a.a.O., S. 245. 46 | Ebd., S. 244. 47 | Ebd., S. 245.

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scher Aufwand erforderlich sei, zu dem der Einzelne alleine nicht imstande wäre. Distanz zum Essen und zur »reservelosen Begierde« gewinne die Institution der Mahlzeit (4) schließlich auch durch »die Regulierung der Eßgebärde«, die zunächst nur in der höheren »Gesellschaft«, nicht aber in den niederen Ständen eine Beherrschung von Sinnlichkeit und Materialität bewirke. Zu solch »typischen Regulativen« zählt Simmel – ganz ebenso wie nach ihm Norbert Elias in seinen Untersuchungen zum Prozeß der europäischen Zivilisation – die Handhabung von Messer und Gabel, Zurückhaltung bei körperlichen Äußerungen des Wohlbehagens und die thematische Strukturierung der Tischunterhaltung.48 Das Entscheidende dieser »überpersönlichen Regulierung« und »sozialen Normierung« des Essens sieht Simmel indes im Gewinn einer »Freiheit des Individuums« (5), die sich mit dem »naturalistischen Individualismus« des Essens gerade nicht in Deckung bringen läßt. Gegenüber der »weniger eifersüchtigen« Form der Schüssel, aus der sich alle gemeinsam bedienen, billigt der geschlossene Kreis des Tellers jedem seinen Anteil innerhalb eines gegliederten Ganzen zu. Damit aber findet sich der »symbolische Individualismus« des Tellers zugleich in einer »höheren formalen Gemeinsamkeit«, nämlich in der demokratischen Gleichartigkeit aller Teller wieder aufgehoben, deren Design keine Individualität verträgt. Dasselbe gilt im übrigen, zumindest in europäischen Breitengraden, aus Gründen anthropophager Abwehr für das Aussehen der Speisen, wie Simmel in einer überraschenden Gleichsetzung von individuell differenzierter Speise und menschlicher Person mutmaßt: »Das individuelle Aussehen einer Speise würde sich mit ihrem Zwecke, verzehrt zu werden, nicht vertragen: das wäre wie Menschenfresserei.«49 Was ist der soziologische Sinn der kulturellen Institution der Tischgemeinschaft? Simmel ist es ersichtlich um die Verwindung des alimentären Egoismus bzw. des »naturalistischen Individualismus« durch die mit dem höheren Ganzen der Mahlzeit verbundenen sozialen Regulierungen und Normierungen zu tun, die erst eine gewisse Freiwerdung des Individuums von der Bürde niedriger Bedürftigkeit ermöglichen und somit den Beginn bzw. eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Freiheit des Individuums bezeichnen sollen. Aufgrund der mythischen Identifizierung des Brotes mit dem Leib Christi gesteht Simmel dem Abendmahl das einzigartige Privileg zu, »die wirkliche Identität auch des Verzehrten« und damit die höchste Ordnung einer austeilenden Gerechtigkeit und egalitären Gemeinschaft begründet zu haben, in der jeder am Ganzen partizipiert, ohne dem Anderen dieses Ganze vorzuenthalten. Für Simmel bezeichnet das Abendmahl das Telos einer jeden Mahlzeit, insofern dabei eine Teilung ohne Teilung stattfindet: 48 | Ebd., S. 246f. 49 | Ebd., S. 248.

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30 | Iris Därmann »Denn hier, wo nicht jeder ein dem andern versagtes Stück des Ganzen zu sich nimmt, sondern ein jeder das Ganze in seiner geheimnisvollen, jedem gleichmäßig zuteil werdenden Ungeteiltheit, ist das egoistisch Ausschließendste jedes Essens am vollständigsten überwunden.«50 Offenkundig scheint Simmel von der teleologischen Warte eines universalen Abendmahls aus besehen den substantiellen Sinn jeder Mahlzeit, nämlich die Teilung und Unvertretbarkeit der Nahrung (daß niemand anderer an meiner Stelle jene Nahrung essen kann, die ich mir soeben in den Mund schiebe), die er selbst zunächst so überpointiert herausgearbeitet hatte, zu verfehlen, wenn er auf deren Überwindung durch die allseitige und ungeteilte Konsumtion des mythischen Leibes Christi als »Ganzes« zielt.

IV. Hunger und Liebe, Selbst- und Fremderhaltung Ist aber mit dieser zweifellos zutreffenden Einschätzung der Kulturalisierung des Hungers durch die Institution der Mahlzeit bereits alles Entscheidende hinsichtlich ihrer gemeinschaftsstiftenden und intersubjektiven Bedeutung gesagt? Im Herzen einer jeden Eßgemeinschaft findet sich der durch die Küche/den Herd bezeichnete Ort der Zubereitung, Ver- und Zuteilung der Nahrung (die den Gleichen das Gleiche oder aber den Ungleichen das je Ihre gibt), der die Institution der Mahlzeit organisiert, ohne ihr ganz anzugehören. Dieser der Tischgemeinschaft sowohl interne als auch externe Ort verweist auf die alimentäre Gabe, die sich der Symmetrie und der Reziprozität der Teilung entzieht und die sogenannte Selbsterhaltung auf eine irreduzible Fremderhaltung verweist. Nach außen bezeichnet er jene hospitale Schwelle, die die Tischgemeinschaft für den Zutritt fremder Gäste offen hält und sich ihrer prinzipiellen unwirtlichen Verschließung widersetzt. Die Hospitalität hat einen weiblichen Einschlag, denn sie ist die kulturelle Ausgestaltung und Deklination der Tatsache, daß wir in erster Linie nicht essende, sondern gefütterte Wesen sind. Was geteilt wird, das heißt, was die Singularitäten teilt und ihnen zugleich gemeinsam ist, ist der Empfang und die Einführung der alimentären Gabe, die jedem in seiner Unvertretbarkeit dasjenige gibt, was niemand sonst, zumindest in dem Moment, da er sie zu sich nimmt, an seiner Stelle essen kann. Die alimentäre Gabe verfügt darüber, daß man niemals alleine ißt, (selbst) wenn man (alleine) ißt, sondern stets mit Anderen. Wenn ich mit dem Anderen esse, dann mache ich keine gemeinsame Sache mit ihm: In der Tischgemeinschaft findet vielmehr ein chiastisches Ineinander von Essendem und Eßbarem statt, ein Ineinander, das die grundlegenden kannibalischen Gestalten der Intersubjektivität in der Lie50 | Ebd., S. 244.

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be, der Trauer, des Sprechens, des Sehens und Hörens usf. strukturiert.51 Es macht aber auch augenfällig, daß sich der Andere nicht nur in einem für mich unzugänglichen Außen befindet, sondern als Fremdkörper und »Eindringling, der im Inneren von Außen kommt«,52 mich selbst und meinen Leib bewohnt. Mit dem Anderen zu essen heißt nicht nur, etwas zu essen, sondern auch ihn selbst zu essen und sich selbst zu essen zu geben. Daß ich ein essendes Wesen bin (mich selbst, Andere und Anderes essen kann), bedeutet zugleich, daß ich eßbar bin für Andere. Dieser alimentäre Chiasmus rührt daher, daß die Erfahrung des Befriedigungsverhältnisses des Hungers vom Augenblick der menschlichen Geburt an nicht ohne fremde Hilfe gemacht werden kann, wie nicht zuletzt Freud betont. In diesem Sinne gibt es kein von der Fremdheit des Anderen unbelastetes Fundament einer auf bloße Selbsterhaltung gerichteten Lebensordnung. In dem Maße, wie die Selbsterhaltung auf eine Fremderhaltung des Selbst zurückgeht, muß man eine Verführung zum Leben und zum Essen in Betracht ziehen, die es verbietet, bei angeborenen Instinkten Halt zu machen. Die fremde Geste der Nahrungseinfuhr, die Fütterung des kleinen Mundes und Schlundes mit Nahrung, leitet eine rite de passage in die vitale, sexuelle und kulturelle Ordnung ein. Oder anders gesagt, der vitale Trieb kann sich nur im Verhältnis zu einem Anderen halten, der den Drang zum Leben als eine Antreibung, An- und Aufforderung »implantiert«, wie etwa Jean Laplanche unterstreicht.53 Sofern sich »an der Frauenbrust […] Liebe und Hunger [treffen]«54 wird die vitale Ordnung des Kindes nicht nur von Anfang an von der sexuellen Ordnung der Erwachsenen betroffen, sondern ebenso geschwächt oder aber verstärkt. Das Essen geschieht stets aus Liebe (oder Hass) zum Anderen. Aus diesem Grund auch läßt sich die Nahrungsgabe nicht auf ihre alimentäre Funktion reduzieren. Insofern bei der Einführung der Brust in den kindlichen Mund die verdrängten sexuellen Phantasien der Erwachsenen in Frage stehen, scheint die alimentäre Gabe immer auch mit der Person und dem Unbewußten desjenigen verbunden zu sein, der sie gibt. Daneben trägt die Aufnahme der Nahrung unverkennbar anthrophage Züge. An den Phänomenen der Brust und der Milch scheitert 51 | Jacques Derrida: Force de loi. Le ›fondement mystique de l’autorité‹, Paris: Éditions Galilée 1994, S. 42f.; dt. Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 38f. 52 | Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 423. 53 | Jean Laplanche: Die unvollendete Revolution in der Psychoanalyse, aus dem Französischem von Udo Hock, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 111. 54 | Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1899, vordatiert auf 1900), in: Gesammelte Werke, Bd. II/III, hg.v. Anna Freud u.a., London/Frankfurt a.M.: Fischer 1940-1952, S. 211.

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32 | Iris Därmann die Unterscheidung von Person und Sache, Subjekt und Objekt. Beide Instanzen sind vielmehr auf untrennbare Weise miteinander vermischt. Trotz der (kulturellen) Trennung zwischen der alimentären und der sexuellen Funktion,55 die Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie mit dem Verlust des Partialobjektes der mütterlichen Brust und der autoerotischen Wendung gegen die eigene Person in Verbindung bringt,56 kann weder die Sexualität als restlos de-alimentiert noch auch das Alimentäre als grundlegend de-sexualisiert angesehen werden. So bezeichnet Freud die »ursprüngliche Anlehnung der Sexualerregung an den Eßtrieb« vorsichtig als eine »fiktive Organisationsphase« in der Erweckungsgeschichte der infantilen Sexualität, die sich eigentlich nur nachträglich, angesichts von Eßstörungen, Nikotin- und Alkoholsüchten oder aber »auf der Höhe des verliebten Paraxysmus (›ich könnte dich fressen vor Liebe‹)« ermitteln läßt.57 Damit macht er zum einen deutlich, wie sehr die Liebe eine oral-kannibalistische Angelegenheit bleibt, die sich nicht allein im Kuss verzehrt. Zum anderen verfügt die libidinöse Verführung zum Essen weiterhin über die sogenannte Selbsterhaltungsfunktion und darüber, daß man niemals nur unter dem inneren Druck des Hungers allein, sondern stets auch aus narzißtischer Liebe zu sich selbst, aus Liebe zum Anderen und um der Erogenität des gefüllten Mundes willen zu essen pflegt. Man tut demnach gut daran, von der Unvergänglichkeit des Vergesellschaftungsverhältnisses von Hunger und Liebe einerseits und des Vermischungsverhältnisses von Person und Sache andererseits auszugehen. Die »Funktionen« von Hunger und Liebe bleiben »im gemeinsamen Besitz der Lippenzone«,58 weshalb es keine erogen-kannibalistisch gereinigte Nahrungseinfuhr und keine vom (phantasmatischen, metaphorischen, symbolischen oder realen) Essen des Anderen befreite Liebe und Intersubjektivität geben kann. Unter dieser Voraussetzung aber wäre jede (und nicht nur die in das Kind eingeführte) Nahrungsgabe als eine sexuell gefärbte, anthropophage Gabe anzusehen, bei der man mit der alimentären Sache zugleich auch sich selbst, sein Begehren und den eigenen Körper zu essen gibt. Jede geteilte Mahlzeit und Eßgemeinschaft könnte nicht anders denn 55 | Der Ursprung der infantilen Sexualität liegt nicht im Sexualtrieb selbst, dieser stützt sich vielmehr auf die lebenswichtige Funktion des Hungers: »Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet. Die Sexualbetätigung lehnt sich zunächst an eine der zur Lebenserhaltung dienenden Funktionen an und macht sich erst später von ihr selbständig.« Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905ff.), Bd. V, a.a.O., S. 82. 56 | Ebd., S. 123. 57 | Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918), Bd. XII, a.a.O., S. 29-157, hier S. 141. 58 | Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, a.a.O., S. 107.

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als eine erogen-kannibalistische Gemeinschaft der Münder, Schlünder und Mägen bezeichnet werden. »Der Sprachgebrauch hat gewisse Prägungen dieser oralen Sexualphase dauernd angenommen, er spricht von einem ›appetitlichen Liebesobjekt‹, nennt die Geliebte ›süß‹. […] Süßigkeiten, Bonbons vertreten im Traum regelmäßig Liebkosungen, sexuelle Befriedigung.«59 Wenn die Wunscherfüllung einer sexuellen Befriedigung mittels Süßigkeiten dargestellt und das geliebte Objekt nicht anders als ›appetitlich‹ bezeichnet werden kann, dann ist umgekehrt die Gabe und der Empfang des vom Anderen zubereiteten und geteilten Essens eine entscheidende Form der Zuwendung und Liebe. Ohne je in Deckung oder aber ganz zur Unterscheidung gebracht werden zu können, kehrt die Differenz von Liebe und Hunger in neuen, ungreifbaren Differenzen zurück, welche die Differenz selbst – fiktiv, real, sprachlich oder nicht-sprachlich – differieren läßt: aus Essen wird Liebe, aus Liebe wird Essen, Liebe ist Essen, Essen ist Liebe usf. Die Fähigkeit, die Nahrung mit Anderen zu teilen, geht auf die Gastlichkeit der Mutter und ihren Substituten zurück. Wenn teilen heißt, bereits empfangen zu haben, dann ist die Sozialität der Nahrung eine Investitur der alimentären Gabe und weiblichen Hospitalität. Der Gastgeber hat seine Gastlichkeit durch die weibliche Gastlichkeit selbst empfangen, um sie demjenigen anzubieten, mit dem er seine Mahlzeit teilt. In diesem Sinne ist er selbst nur Gast an seiner eigenen Tafel und daher nicht Herr im eigenen Haus. Die Gastlichkeit, sie ist und sie bleibt weiblich.60

59 | Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, a.a.O., S. 141. 60 | Der von Emmanuel Levinas in Totalité et Infini in einem ähnlichlautenden Sinne geschürzte »Knoten der Gastlichkeit« wird von Derrida entlang einer »feministischen Hyperbel« wie folgt aufgeknüpft: »Der Gastgeber, derjenige also, der den Gast empfängt und glaubt, Besitzer des Ortes zu sein, ist in Wirklichkeit ein Gast, der in seinem eigenen Haus empfangen wird. Er empfängt die Gastfreundschaft, die er in seinem eigenen Haus gewährt, er empfängt sie von seinem eigenen Haus – das ihm im Grunde nicht gehört. Der Gastgeber ist sein eigener Gast. Die Bleibe öffnet sich sich selbst, ihrem wesenlosen ›Wesen‹ als ›Zufluchtsstätte‹. Der Empfangende ist zuallererst Empfangener bei sich. Der Eingeladende ist der von seinem Eingeladenen Eingeladene. Wer empfängt, wird empfangen, er empfängt die Gastlichkeit in dem, was er für sein eigenes Haus hält.« Jacques Derrida: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, aus dem Französischen von Reinold Werner, München/ Wien: Hanser Verlag 1999, S. 62.

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34 | Iris Därmann

Zu den Beiträgen des Bandes Bernhard Waldenfels geht in seinem Beitrag »Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken« den traditionellen Motiven nach, die die europäische Philosophie seit Platon zu einer gewissen Immunität gegenüber den Problemen des Essens, des Hungers und des Mahls verholfen haben. Dazu zählt das Motiv des Lebensnotwendigen, das weder dem Guten noch dem Erstrebenswerten zuzurechnen ist. Die neuzeitliche Reduktion der Lebenserhaltung auf die bloße conservatio sui steht einer gebührenden Thematisierung des Essens ebenfalls hinderlich im Wege. Schließlich tritt das Motiv der Nichtverallgemeinerungsfähigkeit der kulturell arbiträren Tischsitten hinzu, die sich gegen jede Moralisierung sperren. Die philosophische Geringschätzung von Essen und Trinken hat mit deren Körper- und Leibfeindlichkeit zu tun: »Das Cogito ißt und trinkt nicht«. Gegenüber der praktischen und theoretischen Vernunft sind Essen und Trinken zweitrangig. Das Sinneswesen kann dem Vernunftwesen nicht das Wasser reichen. Die Phänomenologie des Essens und Trinkens, die Bernhard Waldenfels in großen Zügen entwirft, kann sich freilich mit solch’ hierarchisierenden Operationen und Ausschlußgesten nicht zufrieden geben, wenn sie der leiblichen Erfahrung des Alimentären auf der Spur ist und dabei Fremdheitsmotive wie den Geschmack (bzw. die Würze), den Genuß, die Gabe und das Gastmahl (bzw. die Gastlichkeit) ins Treffen führt. Hier überall findet sich Überschüssiges, Überflüssiges, Übermäßiges und Nichtassimilierbares, das über jede Bedürfnisbefriedigung hinausgeht. Gabe und Gastmahl verweisen auf den irreduzibel Anderen, der der Selbsterhaltung zuvorkommt, der mich nährt und erhält, der seine Nahrung mit mir teilt, mich einlädt und für mich kocht. Die Geste des Gebens selbst (die ich mir nicht selbst geben, sondern nur empfangen kann) reicht über die Gabe des Essens hinaus. Gerhard Baudy versucht in seinem Beitrag »Zum Brotessen verdammt – durch Brot erlöst« nichts Geringeres, als die Lösung des kulturhistorischen Rätsels, wie aus Wildbeutern Ackerbauern haben werden können. Dazu weisen ihm die unterschiedlichsten Mythen – die Allegorisierung Jesu zum Brotgott, die Mythen vom Paschafest, vom phönizischen Korngott Adonis und vom ägyptischen Osiris – den Weg. Hier überall stehe die Entstehung der Kulturpflanzen aus der Leiche eines mythischen Kulturbringers auf dem Spiel. Sie spiegelten, so Baudy, eine fundamentale Erfahrung, die vom Totenkult und von der Sorge um die Ernährung der Toten herrühre. Den Toten sei ein Anteil der Grassamen überlassen worden, der im nächsten Jahr auf den Gräbern aufgegangen sei. Mit den Pflanzen schienen die Toten selbst zurückgekehrt zu sein, um nunmehr die Lebenden mit Nahrung zu beschenken. Baudy kann damit den Zusammenhang von Aussaat und Ernte auf den alimentären Gabentausch zwischen Lebenden und Toten zurückführen.

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Gemessen an dem antikulinarischen Selbstverständnis seiner Philosophie zieht die Frage des Essens auffallend häufig die Aufmerksamkeit Platons auf sich. Iris Därmann geht in ihrem Beitrag »Platons politische Philosophie des Fleischesseropfers« den verschiedenen Begründungszusammenhängen nach, in denen sich Platon gegenüber den Ansprüchen der griechischen Köche verwahrt, die sich seit Anfang des fünften Jahrhunderts v. Chr. nicht nur praktisch, durch die Kultivierung ihrer Kunst, sondern auch theoretisch, durch ernährungswissenschaftliche und diätetische Lehrbücher hervorgetan haben. Ferner zeigt sie, daß Platon in seiner Polisgenese die Notwendigkeit politischer Herrschaft mit der Tatsache in Verbindung bringt, daß die Menschen zu Fleischessern geworden sind: Die Gier nach Fleisch, die Platon zum Ursprung des Krieges erklärt, macht erst eine neue politische Klasse, die Wächter, erforderlich, die in egalitärer Gleichheit jenes Fleisch genießen dürfen, nach dem einst das Volk verlangte. Die hierarchische Tischordnung der platonischen Polis verweigert dem dritten Stand jedoch den Zugang zum Fleischesseropfer und stattet die Philosophenkönige dagegen mit dem Monopol der Fleischverteilung aus. An der gemeinsamen Tafel der fleischessenden Wächter, die mit der ganzen – und doch in drei Klassen geteilten – Polis identifiziert wird, soll jene affektive Eintracht und Gleichheit stattfinden, die politisch zählt. Die von Platon entworfene Politisierung des oikos führt zur Vernichtung der Politik und zur Zerstörung des oikos, wie nicht zuletzt seine vehemente Verurteilung der demokratischen Küche und Kochkunst zeigt. Kurt Röttgers widmet sich in seinem Beitrag der Lücke, die Kant durch eine fehlende »Kritik der kulinarischen Vernunft« hinterlassen hat. Zu diesem Behufe diskutiert er zunächst vier unterschiedliche Forderungen nach einer vierten Kritik, die im Gefolge Kants erhoben worden sind. Die von Dilthey geforderte Kritik der historischen Vernunft finde in Kants kritischem Geschäft keinerlei Anhaltspunkte. Die von Stammler eingeklagte Kritik der sozialen Vernunft habe Kant mit guten Gründen unausgeführt gelassen. Die Forderung nach einer Kritik der seduktiven Vernunft könne überhaupt nur gegen Ende der Moderne gestellt werden. Eine Kritik der bildlichen Vernunft sei indes in dem Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, zumindest auf kryptische Weise, angelegt und bedürfe einer dezidierten Ausarbeitung. Ganz ähnlich stehe es auch um die Kritik der kulinarischen Vernunft, zu der Kant selbst mit seinem Konzept der Tischgesellschaft in der Anthropologie eine maßgebliche Vorarbeit geleistet habe, um so mit den traditionellen philosophischen »Verfemungen« der Küche und Gaumengenüsse zu brechen. Eine Kritik der kulinarischen Vernunft hätte sich, so Röttgers, drei entscheidenden Fragen zuzuwenden: »Wie man kochen soll, was man kochen soll, und wer kochen soll?« Die Frage nach dem »Was« betreffe die Analytik: hier gehe es um medizinisch-diätetische und kulturanthropologische Betrachtungen. Die Frage des »Wie« gehe die Dialektik an und müsse auf die Institution der Mahl-

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36 | Iris Därmann zeit und Tischgesellschaft als einer sozialen Organisationsform zielen. Die Ästhetik der Kritik der kulinarischen Vernunft hätte sich nicht nur auf die Beantwortung der Frage nach dem »Wer« zu konzentrieren, sondern sich auch um die Temporalstrukturen und Genießbarmachung (der Gar- und Reifezeiten) der Rohstoffe und Speisen zu kümmern. Von der Metakritik dürfe man schließlich erwarten, daß sie die Grenzen einer philosophischen Kulinarik thematisiere. Tobias Nikolaus Klass führt uns Nietzsche als den philosophischen Denker des Alimentären par excellence vor Augen. In »Veredelnde Inoculation: Nietzsche und das Essen« unterstreicht er dessen Forderung »vom Kleinsten, Nächsten auszugehen« und den »schauerlichen Leichtsinn« gegenüber den »Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät« aufzugeben. Nicht nur reklamiert Nietzsche für sich selbst, »das bisher Verachtetste in die erste Linie gerückt« und so tatsächlich »Ernst gemacht [zu haben] mit allen Necessitäten des Daseins«. Auch habe seine ebenso differentielle wie relationale Hypothese vom Willen zur Macht in der Zurückweisung der conservatio sui von Anfang an eine entschieden alimentäre, auf Einverleibung, Aneignung und Assimilation zielende Tinktion. Die spezielle Würze dieses seines Vokabulars der Ernährung besteht freilich, wie Klass zeigen kann, in einem sozialphilosophischen Denken alimentärer Gemeinschaftsbildung und Zwischenleiblichkeit. Es findet im vampiristischen Blutsaugen, der Blut- und Rassenvermischung ihr nicht nur literales Paradigma, das der auf Reinheit setzenden Ideologie von Blut, Rasse und Boden den Boden zu entziehen versucht. Marianne Schuller bietet in »Zu Gericht sitzen. Vom Essen und Trinken in Kleists Lustspiel ›Der zerbrochne Krug‹« das Vokabular der Psychoanalyse auf, um dem in Weimar 1808 unter der Regie Goethes uraufgeführtem Stück seine alimentären und sexuell überdeterminierten Bedeutungen abzugewinnen, die zwischen »Mundlust« und »Mundarbeit« oszillieren. Mittels der etymologischen Rückführung des Wortes »Gericht« in seiner doppelten Bedeutung von »richten« und »anrichten« gelingt es ihr ferner, die Interferenzen zwischen der Darstellungsproblematik des Rechts (als Recht, das sich darstellt und zugleich dargestellt wird) und der Darstellung der Speisen und Mahlzeiten aufzuweisen. Vor dem rechtshistorischen Hintergrund einer vom Schriftlichen auf mündliche Zeugenaussagen umgestellten und mit unauslotbaren Kontingenzen belasteten neuen Rechtsordnung bildet die »Mündlichkeit« in ›Der zerbrochne Krug‹ eine Scharnierstelle zwischen verschleppter Urteilsfindung und vertagter Rechtsprechung einerseits und der Inszenierung ausgedehnter Mahlzeiten andererseits: Die reichhaltigen Mahlzeiten, die – buchstäblich und metaphorisch – die abgründige Leere eines Rechts stopfen sollen, das sich nicht mehr durch sich selbst zu begründen vermag, müssen daher »wieder und wieder aufgetischt« werden. Gerhard Neumann führt in seiner Analyse des Films Milou en mai von

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Louis Malle und Jean-Claude Carriére aus dem Jahre 1989 den Zusammenhang von »Nahrungskette und narrativer Struktur« vor Augen. Dabei steht eine film- und »kulturwissenschaftliche Analyse der Physiognomie« der französischen Gesellschaft zur Zeit der Studentenbewegung auf dem Spiel. Milou en mai erzählt zwei Krisen – die familiäre, durch den Tod der Mutter ausgelöste, und die politische, durch die Flucht des Generals de Gaulle nach Baden-Baden symptomatisch gewordene Krise –, die auf der Bühne zahlreicher Mahlzeitenrituale und -antirituale und auf der Grenze von Natur und Kultur, Ordnung und Anarchie, inszeniert und ausgehandelt werden: So etwa die Familienmahlzeiten: das Mittagsmahl, das an das Opfer gemahnt; das Abendessen, das das Abendmahl vergegenwärtigt und schließlich zum Gastmahl und Bacchanal gerät; das Picknick im Freien, an dem sich die rituelle Desorganisation der Familie und Gesellschaft abzeichnet und sich erotische wie sozialutopische Überschreitungen ereignen. Neumann sieht die narrative Struktur des Films durch eine fünfzehn Stationen umfassende Nahrungskette organisiert, die von der Nahrungsbeschaffung und den Transport über die Konservierung, Verteilung, Zubereitung, ästhetische Formalisierung, den Verzehr und Geschmack bis hin zur Versorgung und Verdauung reicht. Aus Sicht Neumanns erzählt der Film die alimentäre Geschichte der europäischen Kultur, die sich in jedem Augenblick dieser so unterschiedlichen und mit dem Essen verbundenen Stationen je von neuem ereignet, wiederholt und transformiert. Kraft seiner besonderen technischen und künstlerischen Mittel gelinge es dem Film, die Interferenzen zwischen der Zirkulation der Nahrung und der Zirkulation sozialer Zeichen im Modus einer »dichten Vergegenwärtigung« anschaulich zu machen. Der Beitrag von Tadashi Ogawa61 zum Zusammenspiel von »Essen und Atmosphäre« versteht sich als eine Phänomenologie der Eßkultur. Ausgehend von methodischen Reflexionen zum Kulturbegriff, unter Einbeziehung der Philosophie Edmund Husserls, entwickelt er am Beispiel der Kyoto-Küche, dem Cha-kaiseki der Spitzengastronomie, einen Begriff der kulturellen Invarianz. Dieser dient ihm zur Beschreibung des Essens als einer kulturellen Lebenspraxis der Menschen. Die Frage, welche Bedeutung heute die Menschen dem Essen in ihrem alltäglichen Leben beimessen, lenkt Ogawa schließlich auf eine phänomenologische Analyse des Unterschieds zwischen einem schnellen Essen (Fast Food) und einem langsamen Essen (Slow Food). Mithilfe Aristoteles’ Energeia-Lehre wird die langsam genossene Mahl-Zeit als der Vollzug einer selbstzwecklichen Tätigkeit beschrieben. Ihr Wesen charakterisiert Ogawa durch zwei Elemente. Zum einen über den Aspekt einer spezifischen Verzeitigung der jeweiligen Mahl-Zeit. Zum anderen wird hervorgehoben, daß durch die Kultivierung 61 | Die beiden Kurzvorstellungen der Beiträge von Ogawa und Lemke hat Harald Lemke angefertigt.

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38 | Iris Därmann eines langsamen Essens die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Essen selbst, auf die Nahrungsaufnahme an sich, beschränkt bleibt, sondern die ganze Atmosphäre der Situation wahrgenommen und um ihrer selbst willen genossen wird: In einem klassischen Spitzenrestaurant Kyotos Mahlhalten heiße daher, gleichzeitig und konstitutiv mit dem Essen ein komplexes Arrangement von schönen Dingen ›mit zu essen‹. Indem Ogawa berücksichtigt, in welchem Maße die Gastronomie in die kulturelle und klimatische Umwelt Kyotos eingebettet ist, entwickelt seine phänomenologische Betrachtung die Idee einer holistischen Theorie des Essens als eines umfassenden Kulturphänomens, das sowohl die natürliche Umgebung (Klima, Geographie, Jahreszeiten) als auch das kulturelle Leben der Menschen abbildet und beeinflußt. Der Beitrag »Welt-Essen und Globale Tischgesellschaft« von Harald Lemke greift die in der gegenwärtigen Moralphilosophie wieder vielfach gestellte Frage auf, wie wir leben wollten und was ein gutes Leben sei. Indem er diese Frage auf den ernährungsphilosophischen Kontext überträgt, wird die gastrosophische Lebensfrage gestellt. Diese lautet: Ist eine bessere Ernährungsweise möglich als die, die wir derzeit leben? Wie müßten wir essen, wie hätten wir unser – in moralischer Hinsicht schlechtes – Essen zu verändern, damit sich alle gut ernähren könnten? Damit formuliert Lemke ein kritisches Programm, das den Prämissen des vorherrschenden moraltheoretischen Liberalismus zuwiderläuft. Deren Annahme, daß solche alltäglichen Dinge der privaten Lebensführung, wie beispielsweise das Essen, ›ganz persönliche‹ und daher moralisch irrelevante Angelegenheiten seien, wird als unzureichend zurückgewiesen. Angesichts der globalen Ernährungskrise sieht Lemke die gesellschaftliche Aufgabe der Gastrosophie darin, die theoretischen Grundlagen einer Ethik und Politik ›des guten Welt-Essens‹ zu entwickeln. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, soll eine interdisziplinäre Vorgehensweise, die sowohl den naturwissenschaftlichen als auch den kulturwissenschaftlichen Forschungsstand berücksichtigt, ermöglichen, alle relevanten Facetten ›der Welt des Essens‹ in den Blick zu nehmen. Neben der Interdisziplinarität einer philosophischen Wissenschaft des Essens wird die umkämpfte Normativität der globalen Ernährungsfragen hervorgehoben. Der Autor macht geltend, daß kein (naturwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher, lebensweltlicher) Diskurs des Essens wertfrei sei, weshalb das gastrosophische Denken bewußt für eine normative Theoriebildung optiere. Um ein anderes, ein gastrosophisches Denken zu inaugurieren, werden schließlich genauere Bestimmungen der ethisch-politischen Praxis eines vernünftigen Einkaufs, Essenmachens und Mahlvergnügens skizziert. Damit will Lemke die Tischgesellschaft als die mögliche Gestalt einer alltäglichen Vernunft auszeichnen, die jeder zu praktizieren vermag.

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Wir danken der Leibniz-Preis-Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären« der Universität Konstanz und insbesondere Albrecht Koschorke herzlich für die großzügige Unterstützung. Hamburg, im August 2007

Literatur Althoff, Gerd: »Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftsstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter«, in: Irmgard Bitsch/Trude Ehlert/Xenja von Ertzdorff (Hg.), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag 1987, S. 13-25. Benveniste, Émile: Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, aus dem Französischen von Wolfram Beyer, Dieter Hornig und Kathrina Menke, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1993. Baudy, Gerhard: »Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation, mit besonderer Berücksichtigung der altgriechischen Gesellschaft«, in: Burkhard Gladigow/Hans G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München: Kösel-Verlag 1983, S. 131174. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift, hg.v. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, 6 Teile, Halle 1748-1750, neu hg.v. Wolfgang Martens, Reprint Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 1987. Derrida, Jacques: Force de loi. Le ›fondement mystique de l’autorité‹, Paris: Éditions Galilée 1994; dt. Gesetzeskraft. ›Der mystische Grund der Autorität‹, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Derrida, Jacques: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, aus dem Französischen von Reinold Werner, München/Wien: Hanser Verlag 1999. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2001. Feilchenfeldt, Konrad: »Die Berliner Salons der Romantik«, in: Barbara Hahn/Ursula Isselstein (Hg.), Rahel Levin Varnhagen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 152-163. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, hg.v. Anna Freud u.a., London/ Frankfurt a.M.: Fischer 1940-1952. Garhammer, Erich: »Gott und Gaumen. Theologisches zum Motivkomplex ›Essen‹«, in: Lothar Kolmer/Christian Rohr (Hg.), Mahl und Repräsen-

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40 | Iris Därmann tation. Der Kult ums Essen, Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 2000, S. 77-85. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München: Fink Verlag 1988. Göttert, Karl-Heinz: Knigge oder: Von den Illusionen des anständigen Lebens, München: dtv 1995. Goffmann, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, aus dem Englischen von Renate Bergsträsser und Sabine Bosse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Heller, Agnes: »Culture, or Invitation to Luncheon by Immanuel Kant«, in: dies., A Philosopy of History in Fragments, Oxford/Cambridge: Blackwell 1993, S. 136-175. Hobbes, Thomas: Vom Menschen. Vom Bürger, aus dem Englischen von Max Frischeisen-Köhler, eingeleitet und hg.v. Günter Gawlick, 3. Auflage, Hamburg: Felix Meiner 1994. Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin: de Gruyter 1968. Klinghardt, Matthias: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter), Tübingen/Basel: Francke 1996. Knigge, Freiherr von, Adolph: Über den Umgang mit Menschen (1788), Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 2001. Koselleck, Reinhard: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart: Klett 1967. Laplanche, Jean: Die unvollendete Revolution in der Psychoanalyse, aus dem Französischen von Udo Hock, Frankfurt a.M.: Fischer 1996. Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007. Liebsch, Burkhard: Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist: Velbrück 2005. Mauser, Wolfram: »Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialutopischen Utopie um 1750«, in: Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert, hg.v. Karl Eibl, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1989, S. 3-36. Mauss, Marcel: »Gift, gift« (1924), in: Œuvre 3: Cohésion sociale et divisions de la sociologie, Paris 1969: Les Éditions de Minuit, S. 46-51. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1925), aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Mauss, Marcel: »Conceptions qui ont précédé la notion de matière« (1939), in: Œuvre 2: Représentations collectives et diversité des civilisations, Paris: Les Éditions de Minuit 1974, S. 161-166. Nancy, Jean-Luc: Être singulier pluriel, Paris: Éditions Galilée 1996; dt. singulär plural sein, aus dem Französischen von Ulrich Müller-Scholl, Zürich/Berlin: diaphanes 2004.

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Nienhaus, Stefan: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen: Max Niemeyer 2003. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hg.v. Giorgio Colli und Massimo Montinari, Frankfurt a.M./New York: Walter de Gruyter Verlag/dtv 1967-77. Ottomeyer, Hans: »Tischgerät und Tafelbräuche. Die Kunstgeschichte als Beitrag zur Kulturforschung des Essens«, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 177-185. Rancière, Jacques: »Die Gemeinschaft der Gleichen«, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, in: Joseph Vogl (Hg.), Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 101-132. Rousseau, Jean-Jacques: »Brief an D’Alembert«, in: Schriften, Bd. I, hg.v. Henning Ritter, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 335-474. Schiedlausky, Günther: »Natternzungen. Ein Leitfossil in der Geschichte mittelalterlicher Giftfurcht«, in: Kunst & Antiquitäten VI (1989), S. 2530. Spode, Hasso: »Von der Hand zur Gabel. Zur Geschichte der Eßwerkzeuge«, in: Alexander Schuller/Jutta Anna Kleber (Hg.), Verschlemmte Welt. Essen und Trinken historisch-anthropologisch, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 20-46. Schleiermacher, Friedrich: Die Lehre vom Staat (1845), hg.v. Christan August Brandis, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Berlin 1834-1864, Bd. III/8. Schleiermachers Werke. Auswahl in vier Bänden, hg.v. Otto Braun und Johannes Bauer, Leipzig: Verlag von Felix Meiner in Leipzig 1913. Schleiermacher, Friedrich: »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (1799), in: Schriften, hg.v. Andreas Arndt, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 65-91. Simmel, Georg: »Soziologie der Mahlzeit« (1910), in: ders., Brücke und Tor. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarete Susman hg.v. Michael Landmann, Stuttgart: K.F. Koehler Verlag 1957, S. 243-250. Thomasius, Christian: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit/sich selbst und anderen zu allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen/und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen, Franckfurt und Leipzig 1710 (Reprint Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 1994). Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.

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Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken Bernhard Waldenfels

Um sich von der Tatsache zu überzeugen, daß Speise und Trank in der traditionellen Philosophie keine besondere Rolle spielen, genügt ein Blick in das Historische Wörterbuch der Philosophie, wo zwischen »Esse commune« und »Essentialismus«, zwischen »Humor« und »Hybris«, zwischen »Mahayana« und »Maieutik« kein Platz bleibt für das Essen, den Hunger oder das Mahl. Der Geschmack wird zwar ausführlich behandelt, aber als bloßes Sprungbrett für die neuere Ästhetik, und der Hunger stellt sich dar als ein primäres Bedürfnis, das wir mit den Anthropoiden teilen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, woran es liegen mag, daß die Tradition in dieser Hinsicht so wenig hergibt. Um zu entsprechenden Fragen anzuregen, schicke ich eine Problemskizze voraus, die ihren sporadischen Charakter nicht verleugnet. Um das Versäumte wettzumachen, wäre es ein Leichtes, wie in ähnlichen Fällen auf die Funde einer reichhaltigen Kulturgeschichte zurückzugreifen. Doch die Frage nach dem spezifischen Ort von Essen und Trinken innerhalb der Erfahrung und nach deren Bedeutung für das Denken selbst bliebe damit unbeantwortet. Eine Philosophie, die sich wie die Phänomenologie ausdrücklich als eine Philosophie der Erfahrung begreift, steht hier vor einer Aufgabe, die ihr keine Kulturwissenschaft und auch keine Kulturphilosophie abnehmen kann.

I. Traditionelle Speise- und Getränkemenüs Für die mangelnde Berücksichtigung von Speise und Trank durch die Philosophie lassen sich drei Motive ins Feld führen, die teils hemmend, teils ausschließend wirken, so daß die entsprechenden Schwellen der Problematisierung nicht wirklich überschritten werden. Doch Hemmnisse haben

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44 | Bernhard Waldenfels durchweg einen zweideutigen Charakter, da sie dazu nötigen, von dem zu sprechen, was beiseite geschoben oder herabgesetzt werden soll. Die Verführung durch die Phänomene trägt zusätzlich dazu bei, daß es immer wieder zu überraschenden Funden kommt, auch dort, wo die Schulweisheit es sich nicht träumen läßt. Ein erstes Hemmnis bildet das Motiv der Lebensnotwendigkeit. Essen und Trinken gehören zu dem, ohne das ein Lebewesen nicht leben kann. Ähnlich wie die physiologischen Körpermechanismen, die das Sitzen, Gehen und auch das Sprechen ermöglichen, fallen sie in den Bereich eines sine qua non, nicht in den Bereich dessen, was in sich gut und erstrebenswert ist.1 Die Gewinnung und Herstellung von Lebensmitteln reiht sich daher unter die elementaren Betätigungen ein, die der Befriedigung ebenso elementarer Bedürfnisse dienen. In Platons Polis, die aus dem allgemeinen Bedürfnis, auch aus dem Hilfsbedürfnis erwächst,2 nimmt demgemäß der Ackersmann, der für die lebensnotwendige Nahrung sorgt, den ersten Platz unter den Berufsständen ein. Doch der Bereich des Notwendigen läßt sich nicht so ohne weiteres eingrenzen, da die Wünsche, auch die Eß- und Trinkgelüste, über das Unentbehrliche hinausschweifen, indem sie in allem das Angenehme suchen und nicht nur das Bekömmliche. Von Anfang an ist der Mensch geneigt, dem Überflüssigen, Übermäßigen, Luxuriösen Raum zu geben. So wird die »gesunde Stadt« alsbald überwuchert von den Auswüchsen einer »aufgeschwemmten Stadt«. Allerdings huldigt Platon keinem schlichten Primitivismus. Glaukon, einer der Gesprächspartner des Sokrates, bezeichnet den kargen Urstaat als eine »Stadt von Schweinen«, die lediglich abgefüttert werden.3 Tatsächlich läßt die Überschreitung der Grenzen des Notwendigen nicht nur das Bedürfnis nach Köchen, Putzmachern, Ammen und Ärzten entstehen, sondern ohne sie gäbe es auch keine Dichter, Tonkünstler, Tänzer und Schauspieler – und sicher auch keine Philosophen; denn Staunen ist nicht gerade lebenserhaltend, sondern eher lebensstörend. So sind denn Zukost und Nachtisch4 1 | Vgl. zu dieser Unterscheidung erstmalig Platon, Phaidon 98b-99b. Wie so oft hängen auch hier Entdeckung und Verdeckung auf das engste zusammen. 2 | Vgl. die Gründungsgeschichte in Buch II der Politeia: 369b-373d. 3 | Bereits dies ist eine Rückdeutung, denn einige Zeilen weiter wird das Schwein als ein unnützes Tier bezeichnet, das im Gegensatz zum Ochsen nicht als Zugtier zu gebrauchen ist und somit in der Urstadt noch gar nicht zu finden ist. Wenn Kant im Hinblick auf Rousseau bemerkt, dieser habe nicht gewollt, daß man auf den Naturzustand zurückgehe, sondern daß man auf ihn zurücksehe (Anthropologie, VI, 681), so läßt sich ähnliches schon von Platon sagen. (Kant wird zitiert nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel: Werke in sechs Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956ff.) 4 | Zukost: im Plural ψα: alles, was – wie etwa Fleisch und Fisch – zum Brot gegessen wird, wörtlich das ›Gekochte‹ (von gr. ψειν davon daher auch ψοποι α:

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kulinarische Embleme einer Kultur, die sich nicht mit dem Lebensnotwendigen bescheidet. Aristoteles unterscheidet später in seiner Metaphysik (I, 1-2) deutlich zwischen den Künsten, die auf das Lebensnotwendige abgestellt sind, und einem Wissen, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Noch Marx hat mit der Abfolge vom Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit hier angeknüpft.5 Doch diese kulturelle Überhöhung verhindert nicht, daß das Essen und Trinken als solches dem Tierischen zugehört, das erst durch eine vernünftige Steuerung vermenschlicht wird. In erhöhtem Maße gilt dies für die Wächter in Platons Stadt, denen von Kindheit an eine Art von sinnlicher Beschneidung zugemutet wird, die verhindern soll, daß etwas sich wie Bleikugeln (mit denen Fischer ihre Angeln beschwerten) an die Gaumenlust und andere Lüste hängt (Politeia 519a-b). Später wird ihnen eine frugale, feldgraue Kost verordnet, bei der geschmacksfördernde Gewürze (δσµατα) ebenso fehlen wie kulinarische Künsteleien, ganz zu schweigen von den Exzessen der Trunkenheit, die dazu führen würden, daß der Wächter selbst eines Wächters bedarf (Politeia 403c-404e). Im Gegensatz zur Kochkunst als einer Scheinkunst, die »das Angenehme zu treffen sucht ohne das Beste« (Gorgias 465 a), sorgt die Medizin dafür, daß das rechte Maß eingehalten und die verantwortliche Lebensführung nicht durch Völlerei und Trunksucht untergraben wird. Demgemäß unterscheidet noch Kant in seiner Anthropologie zwischen der Üppigkeit (luxus) als einem Übermaß mit Geschmack und der Schwelgerei (luxuries) als einem Übermaß ohne Geschmack (VI, 578). Der Sinn des Schmeckens wird sublimiert zum ästhetischen Geschmack. Was die gewöhnliche »Abfütterung« angeht, so hält Kant es mit diätetischen Grundsätzen, so daß Vorsätze und Angewohnheiten den nachlassenden Appetit wettmachen (VI, 383-385). Als ein zweites Hindernis, das sich einer gebührenden Einschätzung von Essen und Trinken in den Weg stellt, erweist sich das zentrale Motiv der Selbsterhaltung.6 Eine Pflanze verwelkt, ein Tier verhungert, wenn es die ›Kochkunst‹). Nachtisch: im Plural τραγµατα: bestehend aus Nüssen, Mandeln, Zuckergebäck und ähnlichem. – Es entspricht den üblichen Formen der Ausblendung, wenn in einem neueren philosophischen Kommentar Speise und Trank in keiner Weise erwähnt werden. Vgl. Platon. Politeia, hg.v. Ottfried Höffe, Berlin: Akademie Verlag 1997, speziell das vom Herausgeber verfaßte Kapitel 4. 5 | Bezüglich der Fragwürdigkeit dieses Zweistufen- und Zweiphasenmodells, in dem Überfluß auf Mangel folgt und der übliche Kontrast von Zivilisierten und Primitiven seinen Rückhalt findet, verweise ich auf meinen Aufsatz »Zwischen Not und Überfluß. Metaökonomische Überlegungen zum Marxismus«, in: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 3. Auflage 1998, S. 173-185. 6 | Das griechische Wort σωτηρ α, das sich von σς: ›heil, gesund‹ (lat. sanus) herleitet, ist weniger reaktiv als das lateinische Wort conservatio, das auf eine Erhaltung des Bestehenden Bezug nimmt.

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46 | Bernhard Waldenfels an der notwendigen Nahrung fehlt. In seiner physiologisch unterbauten Psychologie setzt Aristoteles das Ernährungsvermögen (θρεπτικν) als das erste und allgemeinste Seelenvermögen an, das als vegetative Seele schon den Pflanzen zukommt (De anima II, 3-4).7 Dieses Vermögen sorgt nicht nur für die Ernährung, mit der ein Lebewesen wächst und sich selbst am Leben erhält, sondern auch für die Zeugung gleichartiger Wesen, mit der die Art sich erhält. Hunger und Liebe bilden miteinander die Urtriebe des Lebens.8 Dabei läßt Aristoteles keinen Zweifel daran, daß Selbsterhaltung auf Fremdhilfe angewiesen ist. Die Eltern, zumal die Mütter, sind für das Kind Ursache des Daseins, der Ernährung9 und der Erziehung. Dennoch bleibt es bei einer erweiterten Selbsterhaltung. »Denn die Eltern lieben ihre Kinder als Teil ihrer selbst (ς αυτν τι ντα), die Kinder ihre Eltern als von ihnen her kommend (ς π’ κεινων τι ντα)«; durch die Ablösung werden die Kinder für die Eltern »wie ein anderes Selbst (ο!ον "τεροι α#το )« (Nik. Ethik VIII, 14). Kinder sind sozusagen naturwüchsige Freunde, im Gegensatz zu den gewählten Freunden, die ebenfalls als »anderes Selbst« bezeichnet werden (vgl. ebd., IX, 9). Diese kosmisch verankerte Selbsterhaltung verliert ihren kommunikativen Rückhalt, wenn in der Neuzeit die Selbsterhaltung (conservatio sui) für jeden einzelnen das erste Gut darstellt (Hobbes, De homine 11, 6). In Kants Überlegungen zum Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte ist es der Naturinstinkt, der mittels Geruch und Geschmack einige Dinge als Nahrung erlaubt, andere verbietet; der »Instinkt zur Nahrung, durch welchen die Natur jedes Individuum erhält«, wird ergänzt durch den »Instinkt zum Geschlecht, wodurch sie für die Erhaltung jeder Art sorgt« (VI, 87, 89). Die Hilfe, die Andere leisten, wird selbst zum Notbehelf: Wir brauchen einander. Als drittes Motiv bleiben die Tafelfreuden, bei denen das Essen und Trinken nun doch über die unentbehrliche Nahrungszufuhr hinauszielt. Zwischen denen, die gemeinsam zu Tische sitzen, knüpft sich ein soziales Band eigener Art. Selbst die Bewohner von Platons Urstadt werden »mit ihren Kindern schmausen, auf Streu von Taxus und Myrten gelagert, Wein dazu trinkend und bekränzt den Göttern lobsingend, und werden sehr vergnüglich einander beiwohnen« (Politeia 372b-c, Üb. Schleiermacher). Die schlichten bukolischen Gelage im Grünen finden ihre Steigerung in urbanen Festmählern. Sie erklimmen in Platons Symposion ungeahnte Gipfel 7 | Der Begriff der Ernährung (τροφ) wird von Aristoteles sehr weit gebraucht; so heißt es selbst vom Wasser, daß es das Feuer nährt (De anima II, 4, 416 a 27). 8 | Vgl. dazu den Kommentar von W. Theiler zu Aristoteles: Über die Seele, Werke Bd. 13, 3. Auflage, Berlin 1969, S. 114. 9 | Das griechische Verb τρφειν: ursprünglich ›fest‹ oder ›dick machen‹, bedeutet zugleich ›nähren‹, ›aufziehen‹ und ›erziehen‹ im elementaren Sinne.

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eines gemeinsamen Philosophierens, wo das Trinken allerdings von den Reden an den Rand gedrängt wird, wenn wir von dem trunkenen Alkibiades absehen. Solche Gipfel ragen heraus aus alltäglich geübten Tischsitten, die stets Gefahr laufen, in der bloßen Gewohnheit zu versanden. Wenn Aristoteles auf die Seltenheit wahrer Freundschaft zu sprechen kommt, so bemerkt er, daß die wechselseitige Vertrautheit sich erst dann einstellt, wenn man das sprichwörtliche Salz miteinander gegessen hat (Nik. Ethik VIII, 4, 1156b27f.). Umgekehrt vermag er dem geselligen Leben von Kultgemeinschaften und Vereinen nicht viel abzugewinnen, da sie nur dem Vergnügen und der Erholung dienen wie etwa beim Erntedankfest. Solche Zusammenkünfte, die dem Augenblick verhaftet bleiben, werden dem Leben der politischen Gemeinschaft untergeordnet, da diese sich auf das Gesamtleben erstreckt (ebd., VIII, 11, 1160a19-28). Es fällt offenbar schwer, den gemeinsamen Genuß von Speise und Trank als Ausdruck einer allgemeinen Zielordnung zu betrachten. Dies würde in der Tat voraussetzen, daß die erwähnten Opferriten ein eigenes Gewicht erhalten und mehr bedeuten als äußere Riten, die ihre ethische Bindekraft von anderswoher beziehen, etwa aus der Verständigung darüber, was gut und böse, gerecht und ungerecht ist (vgl. Politik I, 2). Was wiederum Kant angeht, so verfolgt er die »Geselligkeit« bis in die Sinne hinein. Dabei schneidet der Geschmack besser ab als der Geruch, weil beim Essen und Trinken jeder seine Schüsseln oder Bouteillen wählen kann, ohne seine Tischgenossen zu behelligen, wie etwa der Raucher es tut (Anthropologie, VI, 452). Daß Kant den Freuden der Tafel nicht abgeneigt war, ist wohlbekannt.10 Doch die Geselligkeit, die sich um den Tisch herum ausbreitet, wird nicht durch das gemeinsame Mahl gestiftet. Die leibliche Befriedigung liefert nur das »Vehikel« für das gesellige Vergnügen, bei dem Tugend sich mit Wohlleben vereint, aber nicht durch dieses zu ersetzen ist (VI, 618). Tugenden, die bei Tische erwartet werden, sind Umgangstugenden, die der Tugend ihre Anmut verleihen, selbst aber nicht mehr bedeuten als Beiwerke (Parerga) der Tugend (vgl. Met. der Sitten, Tugendlehre, § 48). Man kann es auch so sagen: Tischsitten sind nicht verallgemeinerungsfähig; sie lassen sich kultivieren, aber nicht moralisieren.

II. Inferiorität von Essen und Trinken Die vorliegende Problemskizze kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es vielerlei Nuancen gibt, etwa zwischen Platon und Aristoteles, zwischen Descartes, Hobbes und Kant, und sie zeigt, wie bei der Lektüre der klassi10 | Ich verweise auf eine neuere Studie von Iris Därmann: »Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalität«, in: Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.), Denkwege des Friedens, Freiburg/München: Alber 2007, S. 364-386.

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48 | Bernhard Waldenfels schen Texte immer wieder Randmotive auftauchen, die der Haupttendenz zuwiderlaufen. Doch zweifellos gibt es eine solche Tendenz, die auf eine Geringschätzung von Essen und Trinken hinausläuft. Das Essen und Trinken hat es aristotelisch gesprochen mit dem Menschen als Lebewesen, kantisch gesprochen mit dem Tier am Menschen,11 cartesianisch gesprochen gar mit dem Mechanischen im Menschen zu tun. Dazu einige Kostproben. Götter essen und trinken nicht. In der Abrechnung mit seinen mythotheologischen Vorgängern bezeichnet Aristoteles die Annahme, daß alle Wesen, die nicht Nektar und Ambrosia gekostet haben, sterblich seien, als schier unverständlich. »Kosten nämlich die Götter von Nektar und Ambrosia der Lust wegen, so sind diese nicht Ursache ihres Seins; kosten sie aber von Nektar und Ambrosia des Seins wegen, wie sollten sie dann ewig sein, da sie doch der Nahrung bedürfen?« (Met. III, 4, 1000 a 15-18). Essen und Trinken haben in der Metaphysik, also im Bereich ewiger Wesenheiten und letzter Ziele, nichts zu suchen. Bei Descartes ist es nicht Gott, sondern das denkende Ich, das alles Essen und Trinken von sich weist. Ausdrücklich versichert der Philosoph in seinen Antworten auf Gassendi, das Sichnähren sei ebenso wie das Empfinden und Gehen einzig dem Körper zuzuordnen und nicht etwa der Seele als dem Sitz des Denkens (AT VII, 351). Der Satz »Ich esse und trinke« hat strenggenommen keinen Sinn, außer in der Sprache des Alltags, in der Seele und Körper sich vermischen, ohne innerlich zusammenzugehören. Das Cogito ißt und trinkt nicht, oder – in neuerer Diktion –: Das Bewußtsein (das Gehirn) ißt und trinkt nicht. Bei Kant verwandelt sich Descartes’ ontotheologische Kluft in eine Doppelexistenz des Menschen. Als Vernunftwesen esse und trinke ich nicht, wohl aber als Sinnenwesen. Damit wird die Art und Weise des Essens und Trinkens dem Vernunftgesetz unterworfen. Die Kultivierung von Essen und Trinken bedeutet selbst eine moralische Forderung, die dazu führt, daß das Tierische im Menschen sich der Humanität fügt. Dennoch bleibt das Essen und Trinken etwas Zweitrangiges und Niedrigeres, gemessen an einem von moralischen Maximen geleiteten Handeln. Dazu paßt die Einreihung von Geschmacks- und Geruchsinn unter die niederen Sinne, die uns stärker affizieren, als daß sie uns etwas lehren. Insgesamt sind alle Sinne solche der »Organempfindung, gleichsam so vieler äußerer, von der Natur für das Tier zum Unterscheiden der Gegenstände zubereiteten, Eingänge« (Anthropologie, VI, 447). 11 | Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten, A 112. Der Mensch ist tierischer als jedes Tier, wenn er sich der bloßen Körperlust ergibt. In Buch IX der Politeia schildert Platon das Leben jener, die sich bar aller Vernunft und Tugend in »Schmausereien« ergehen, in grellen Farben: »Nach Art des Viehes immer auf den Boden sehend und zur Erde und zu den Tischen gebückt nähren sie sich und bespringen sich einander auf der Weide […]« (586a-b, Übersetzung Schleiermacher).

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Die Rangordnung der Seelenvermögen und der entsprechenden Sinne bringt es mit sich, daß die Nobilisierung von Essen und Trinken einen mythologischen, symbolischen oder bloß metaphorischen Anstrich erhält.12 Sokrates erinnert in der Mittagshitze beim Zirpen der Zikaden an die Geschichte von jenen Menschen, die – entzückt vom Gesang der Musen – Speise und Trank vergaßen und zu sterben drohten; zum Lohne wurden sie in das Geschlecht der Zikaden verwandelt, das von Geburt an keiner Nahrung bedarf, um ohne Speise (%σιτον), ohne Trank (%ποτον) sogleich seinen Gesang anzustimmen (Phaidros 259b-c). Aber auch die mythische Vorstellung von Götterspeise und Göttertrank kehrt in der Philosophie wieder in Gestalt einer göttlichen Vernunftnahrung, deren auch die Seele in der wiederholten Schau des Wahren teilhaftig wird (Phaidros 247d). In der augustinischen Theologie wird daraus eine Gottesnahrung, die dem Gläubigen im frui Deo, im Gottesgenuß, vergönnt ist.13 Das biblische »Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit« läßt sich dann nur noch metaphorisch deuten als Übertragung der Heftigkeit körperlicher Bedürfnisse auf ein geistiges oder geistliches Verlangen.14 Was Kant angeht, so bleibt in den Grenzen der reinen Vernunft von einem Opfermahl nicht viel mehr übrig als ein moralisches Memento. Die Kommunion, die »durch die Förmlichkeit eines gemeinschaftlichen Genusses an derselben Tafel geschehen kann«, bedeutet, selbst wenn sie das Gedächtnis an ein Stiftungsereignis wachhält, ein bloßes Mittel, um die sittliche Gesinnung brüderlicher Liebe zu beleben (Religionsschrift, IV, 876). Weit in die Ferne gerückt ist, was kosmotheologisch in den Versen von Hölderlin anklingt: »Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet,/Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins.« Auch alltägliche Ausdrücke wie »Hunger auf Liebe«, »Wissensdurst«, »beißender Spott« oder »seinen Ärger herunterschlucken« nehmen einen bloß metaphorischen Charakter an, wenn das Essen und Trinken in der kruden Körperlichkeit versinkt. Das Essen und Trinken dient auf diese Weise nur als äußeres Vehikel für das Verständnis eines schwer zugänglichen Innenlebens. Die sexuelle Einfär12 | Ich verstehe Metapher hier im Sinne einer Bedeutungsübertragung, die Geistiges mit den Mitteln des Sinnlichen, Unsichtbares mit den Mitteln des Sichtbaren erschließt. Daß die lebendige Metapher im Sinne von Paul Ricœur sich nicht in der ›bloßen Metapher‹ erschöpft, ist damit nicht ausgeschlossen. 13 | Im Pietismus und im Zeitalter der Empfindsamkeit taucht der Genuß Gottes in mannigfachen Wendungen wieder auf. Vgl. hierzu und zur kantischen Kritik daran den Artikel »Genuß« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3. 14 | Vgl. dagegen die größere Leibnähe bei Pascal: »Tag für Tag zu essen oder zu schlafen wird uns nicht langweilig, denn der Hunger und auch die Müdigkeit kehren wieder, sonst würde man sich dabei langweilen. So langweilt man sich ohne Hunger nach geistigen Dingen – Hunger nach der Gerechtigkeit; achte Seligpreisung.« (Pensées, Brunschvicg Frg. 264, Lafuma Frg. 941, Übersetzung E. Wasmuth)

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50 | Bernhard Waldenfels bung alimentärer Ausdrücke wie »Ich könnte dich fressen vor Liebe«, auf die Freud aufmerksam macht,15 ließe sich dann abtun als eine Vermischung elementarer Triebsphären.

III. Leibhaftiges Essen und Trinken Die Geringschätzung von Essen und Trinken ändert sich, sobald wir dieses als ein leibliches und zwischenleibliches Geschehen betrachten, das seine eigenen Ordnungen gebiert und das in allen Stücken überdeterminiert ist wie Trauminhalte, Körpersymptome und traumatische Ereignisse. Nur ein Essen und Trinken, das in sich selbst mehr ist als bloßes Essen und Trinken, hat teil an der Ordnung der Dinge, an der Bildung des Selbst und an der Herkunft des Selbst aus dem Anderen. Eine Phänomenologie des Essens und Trinkens, die bislang nur in Umrissen existiert, wird sich hüten, Essen und Trinken mit Prozessen der Nahrungszufuhr, der Verdauung und der Ausscheidung gleichzusetzen. Sie wird sich ebensosehr hüten, Speise und Trank auf Nahrungsmittel zu reduzieren, die sich nach ihrem Nährwert bemessen, und sie mit Lebensmitteln zu verwechseln, die man auf dem Markt kauft und verkauft. Kalorien sind Meßwerte wie Gewicht und Temperatur, sie gehören zur mathematischen Matrix der alimentären Erfahrung, erfahren lassen sie sich nur indirekt. Für eine Phänomenologie des Essens und Trinkens stellt sich die Frage, wie physiologische, ökonomische, soziokulturelle und religiöse Faktoren in der gelebten Erfahrung zusammenwirken. Nietzsches provokativer Rückgriff auf die Physiologie mag als Ansporn dienen, doch die Durcharbeitung der Phänomene erspart er uns nicht. Die Komplexität der alimentären Erfahrung zeigt sich schon in den klassischen Texten, von denen wir ausgegangen sind. So macht Platon von Anfang an deutlich, daß Essen und Trinken keine Vorgänge sind, die bloßen Kausalgesetzen gehorchen, daß vielmehr die Seele dessen, der hungert oder dürstet, »auf etwas aus ist«, und zwar jeweils »auf etwas so oder so Beschaffenes« wie zum Beispiel ein warmes oder kaltes Getränk (Politeia 437b-438b). In all unserem Begehren geht es jeweils um etwas, das wir nicht selbst sind.16 Ferner gehört es zum Essen und Trinken, daß unser 15 | Vgl. »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose« (GW XII, S. 141); an der gleichen Stelle werden Störphänomene wie Anorexie oder Sucht nach Süßigkeiten mit der Frühphase einer kannibalischen oder oralen Sexualorganisation in Verbindung gebracht. Mehr dazu bei Iris Därmann: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München: Fink Verlag 2005, S. 227-234. 16 | Es ist bemerkenswert, daß die einfache Formel »auf etwas aus sein« (gr. ε&ναι τινς, 438a-b), die den Keim für die spätere Intentionalitätslehre enthält, geradezu gastro-nomisch vom Essen und Trinken her entwickelt wird.

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Geschmackssinn, wie rudimentär auch immer, zwischen Genießbarem und Ungenießbarem zu unterscheiden weiß. Schon Aristoteles legt dar, wie das Streben nach etwas mit der Wahrnehmung von etwas Hand in Hand geht, so daß das Wahrnehmen der Nahrung, zuvörderst das Ertasten, für das Streben nach Nahrung eine unersetzliche Rolle spielt (De anima II, 3, 414b1-10). Die heutige Physiologie spricht präziser von »Geschmacksknospen«, die sich weit verstreut im Mund- und Rachenraum befinden und auf Grundqualitäten wie bitter und süß, sauer und salzig reagieren. Platon betont außerdem, daß dem Begehren ein ursprüngliches Gedächtnis innewohnt. Wer dürstet, begehrt das Gegenteil von dem, was ihm augenblicklich widerfährt, nämlich eine künftige »Anfüllung«, die der gegenwärtigen »Entleerung« ein Ende macht. Wie aber soll die Seele an die »Anfüllung« rühren, wenn nicht mittels eines Gedächtnisses, das einen früheren Zustand der Fülle festhält?17 Daß unsere Einbildungskraft das Eß- und Trinkbegehren anstachelt und beflügelt, gehört schließlich zu den Gemeinplätzen einer Anthropologie der Sinne. Wäre es anders, so gäbe es keine Eß- und Trinkvisionen wie das Schlaraffenland. Wie sehr hierbei Perzeptionen und Appetitionen ineinander spielen, bringt Kleist uns auf lebendige Weise zu Gehör. Seinem Branntweinsäufer verwandeln sich die Klänge der Berliner Glocken in eine Kaskade von Trinkbefehlen, von dem behäbigen »Pommeranzen! Pommeranzen! Pommeranzen!« über das drängende »Kümmel! Kümmel! Kümmel!« bis hin zu dem atemlos sich überstürzenden »Anisette! Anisette! Anisette«, das etwas von einer Sterbeglocke hat. Wir sehen also, wie Intentionalität, Wahrnehmung, Gedächtnis, Phantasie und Begehren dem Essen und Trinken ihr vielfältiges Gepräge geben. Doch reicht dies aus? Was geschieht mit dem Rest, der recht eigentlich den Vollzug des Essens und Trinkens ausmacht und ihn nicht nur vorbereitet oder umspielt? Essen und Trinken beschränken sich offensichtlich nicht auf intentionale Akte, die einen spezifischen Sinn anvisieren, oder auf Aktionen, die spezifischen Regeln folgen. Die Klingen der phänomenologischen oder auch der analytischen Philosophie werden stumpf, wenn sie ohne Umschweife auf alimentäre Phänomene angesetzt werden. Faßt man die Sättigung als Erfüllung alimentärer Intentionen bzw. als Befolgung alimentärer Regeln, begleitet von entsprechenden Körper- und Gehirnprozessen, so löst sich das Essen und Trinken auf in disjecta membra, in das, was wir selber wollen, in das, was wir tun sollen, und in das, was ohne unser Zutun geschieht. Wie in ähnlichen Fällen stünden wir vor einem geistigen oder kulturellen Überbau, der ein soziales Regelwerk beherbergt und sich auf einer Naturbasis erhebt. Die Hierarchisierung, auf die wir 17 | Vgl. Philebos 35a-c. Wir stoßen in diesem späten Dialog auf die Spuren der Anamnesislehre, die von Anfang an nicht rein kognitiv, sondern immer schon affektiv und erotisch angelegt war (vgl. Phaidon 73d).

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52 | Bernhard Waldenfels immer wieder gestoßen sind, würde fortdauern. Sie verschwindet auch dann nicht, wenn man die Verhältnisse umkehrt nach dem Motto: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«. Hierarchisierende und dualistische Tendenzen lassen sich aufhalten, wenn wir von einem leiblichen Essen und Trinken ausgehen. Der Leib fungiert, mit Husserl zu reden, als »Umschlagstelle«, wo Geist und Natur bzw. Kultur und Natur, aber auch Eigenes und Fremdes fortwährend ineinander übergehen. Auch bei Iris Därmann spielt in dem groß angelegten und provokativen Versuch, Ethnologie, Psychoanalyse und Phänomenologie an einen Tisch zu bringen, der Leib eine besondere Rolle, nämlich in Form einer Einverleibung, die sich auf der Schwelle von Eigenem und Fremdem bewegt und dem Oralen eine besondere Bedeutung verleiht.18 Der folgende Versuch, der dem genannten Werk mannigfache Anregungen verdankt, ist sparsamer angelegt. Er geht aus von einer Fremdheit des eigenen Leibes, die in der Fremdspeise eine Art pars pro toto findet.19 Die einzelnen Fremdheitsmotive taugen als Korrektiv der traditionellen Engpässe, auf die wir gestoßen sind, aber auch als Verstärker gegenläufiger Motive, an denen es in der großen Tradition nicht fehlt.

IV. Fremdheitsmotive Beginnen wir mit der Lebensnotwendigkeit. Die schlichte Berufung auf elementare Bedürfnisse und notwendige Mittel zum Erhalt des Lebens erweist sich als fragwürdig, wenn wir uns auf die Wirkungsweise von Geschmack und Genuß besinnen. Im Geschmack liegt ein Überschuß, der den Kreislauf von Appetit und Sättigung, von Leere und Erfüllung und auch den von Merken und Wirken a limine sprengt. Der Geschmack von Speise und Trank erschöpft sich ebensowenig in deren Nährwert, wie die Liebe in einem Fortpflanzungswert aufgeht. Wenn Aristoteles die Lust generell als etwas betrachtet, das zum Zielstreben hinzutritt,20 so dürfte dies auch für den Geschmack von Speise und Trank gelten. In bezug auf den Eros spricht auch Aristoteles bisweilen in platonischer Manier von einem Über-

18 | Vgl. Fremde Monde der Vernunft, a.a.O., darin vor allem die Behandlung von Marcel Mauss und Sigmund Freud in Kapitel 2 und 3. 19 | Zum theoretischen Hintergrund dessen, was folgt, vgl. vom Verf.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006a, Kap. IV: »Leibliche Erfahrung zwischen Selbstheit und Andersheit«. 20 | Vgl. Nik. Ethik X, 4, 1174b31-33: »Die Lust vollendet die Tätigkeit, aber nicht als eine ihr innewohnende Haltung, sondern als eine hinzutretende Vollendung, wie die Blüte bei Heranwachsenden«. Der Überschuß ist hier allerdings selbst noch teleologisch gedacht als eine Art Epiteleologie.

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schuß oder Übermaß ('περβολ).21 Was Speise und Trank angeht, so stießen wir wiederholt auf Zutaten, die mehr mit Üppigkeit und Überfluß zu tun haben als mit dem Notwendigen. Spezifischer noch ist das bereits erwähnte Moment der Würze. Der griechische Ausdruck ,δυσµα meint wörtlich, das was die Speise schmackhaft macht, wozu es nur einer geringen Dosis bedarf (vgl. Nik. Ethik IX, 10, 1170b29). Er taucht auch in der aristotelischen Ernährungslehre auf, die den Sockel seiner Psychophysiologie bildet. Beim Hunger richtet sich das Begehren auf Trockenes und Warmes, beim Durst auf Feuchtes und Kaltes.22 Die Sinne tragen nur akzidentiell zur Wahrnehmung der Nahrung bei; denn die Nahrung hat als Nahrung weder Farbe, noch Ton, noch Geruch. Doch eine Ausnahme gibt es: den Geschmack, genauer: den Nahrungssaft (gr. χυµς, hergeleitet von χε.ν: ›gießen‹), der ertastet wird. Von dem Geschmacksstoff, der in der Gaumenlust verspürt wird, heißt es: Er ist gleichsam die Würze der erwähnten Nährstoffe (De anima II, 3, 414b13f.). Zur Würze gehört das Salz, das in der lateinischen Version sal auch den Witz bedeutet. In einem Ausspruch wie »Ihr seid das Salz der Erde« nimmt es missionarische Ausmaße an, und auf alltäglichere Weise begegnete es uns bereits im Salzessen als einem Signet der Freundschaft. Warum gerade Salz? Salz, das nicht satt macht, sondern der Speise nur die Würze verleiht, hat mehr mit dem Ereignis des gemeinsamen Essens zu tun als mit dem Gegessenen, das jeder für sich verzehrt und verdaut. Wir stoßen hier auf einen kulinarischen Widerhall der bekannten Unterscheidung zwischen Sagen und Gesagtem. So wie das Sagen immerzu über das Gesagte hinausschießt, bekundet sich im Geschmack ein sinnlicher Überschuß, der nie völlig ins Nahrhafte umzusetzen ist, obwohl er zur Ernährung beiträgt. In jeder Speise und in jedem Trank finden sich Spuren von Nektar und Ambrosia, so wie auf jedem Mahl der Abglanz eines Festmahls liegt, selbst wenn es gewöhnlich weitaus karger zugeht als auf den Diners, die Proust in den üppigen Farben 21 | Vgl. Nik. Ethik VIII, 7, 1158a12; es geht an dieser Stelle um die Liebe zum Einzelnen. In einem der aus der aristotelischen Schule stammenden Problemata Physica, das den Geschlechtsverkehr behandelt, wird unterschieden zwischen notwendigen Begierden wie Trinken und Essen, und der Begierde nach Geschlechtsverkehr, die aus einem Überfluß (an Säften) stammt; ersterer schämt man sich nicht, wohl aber der letzteren (Werke, Bd. 19, 2. Auflage, Berlin 1975, S. 57). Wie nicht nur diese Stelle zeigt, haftet dem Hyperbolischen etwas Zweideutiges an, ganz zu schweigen von dem tadelnswerten Übermaß als einem Verfehlen der Tugendmitte (Nik. Ethik II) oder als einem Zuviel an Freunden (IX, 10, 1170b23). 22 | Diese Elementenlehre hat ihre Spuren auch in der Geschlechterkosmologie hinterlassen (vgl. das erwähnte Problema über den Geschlechtsverkehr, a.a.O., S. 57). Der genetisch nur mit großer Mühe aufzuklärende Zusammenhang zwischen Nahrungs- und Geschlechtssphäre deutet sich in solchen physiologischen Spekulationen an.

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54 | Bernhard Waldenfels flämischer Meister erstrahlen läßt. Was den Trank betrifft, so ist zu erinnern an das Bouquet des Weines, der gekostet und nicht bloß getrunken sein will. Eß- und Trinkkultur zehren von solchen Überschüssen, die so alt sind wie die Menschheit. Sie lassen erhebliche Variationen zu, wenn etwa afrikanische Gesellschaften Pottasche statt Salz verwenden oder wenn die Eskimos sich mit dem Trinken von Meerwasser und dem Verzehr von Algen begnügen. Würzen gehört zu einem eigenartigen Bereich kulinarischer Kunst: »Die Verbindung von Thymian mit Salz und Muskat läßt sich nicht in Bewegungen übersetzen, ja nicht einmal in Worte.« Entscheidend ist aber, daß diese Geschmacksbildung zu den physischen Grundlagen unserer Kultur gehört.23 Der Zerfall der Geschmackskultur, wie er sich in der Zunahme des Fast Food andeutet, ist ein Zeichen des Niedergangs – oder eben der Not. Verhungernden und Verdurstenden vergeht der Geschmack. Demgegenüber gehört die Rede von den rohen Anfängen zu den Projektionen einer Kultur, die an sich selbst zweifelt und sich in Gegenbilder flüchtet. Verwandt mit dem Geschmack ist der Genuß. Genießen bedeutet mehr als ein unmittelbares Zulangen, mehr auch als ein zielbewußtes Streben; es erfordert eine gewisse Verzögerung, innerhalb derer das Schmackhafte seine Anziehungs- und auch seine Abstoßungskräfte entfalten kann. Die Erinnerung des Begehrens, die Platon ins Spiel bringt, eröffnet Horizonte, die vor- und zurückweisen. Doch das Auskosten lebt weder von der Erinnerung noch von der Erwartung, sondern von dem, was in der Gegenwart anschwillt. Das auskostende Genießen ist kein intentionaler Akt, mit dem jemand sich auf etwas Gegenwärtiges, Vergangenes oder Zukünftiges richtet. Verwandt mit dem Auskosten ist das Sich-nähren-von…, das Leben von…, das alles Vorstellen und Herstellen, alles Bedeuten und Begehren übersteigt.24 Das, wovon wir uns nähren, kommt uns nahe wie nur irgendetwas. Doch Kant macht es sich zu einfach, wenn er die höheren Sinnen durch die »oberflächliche« Wahrnehmung, die niederen Sinnen durch den Genuß als »innigste Einnehmung« gekennzeichnet sieht (Anthropologie, VI, 451) und wenn er den Genuß gleich dem Gefühl in eine subjektive Innerlichkeit verlegt. Die übliche Subjektivierung dessen, was sich der Objektivation und somit einer allgemeinen Nachprüfbarkeit verweigert, verkennt die Ferne, aus der das kommt, was uns innerlich berührt.25 Was wir ge-

23 | Ich beziehe mich auf die überaus lehr- und facettenreichen Ausführungen von André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, übersetzt von M. Bischoff, 2. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, insbesondere S. 359-365. 24 | Vgl. dazu die außergewöhnlichen Passagen, die Emmanuel Levinas in Kapitel II von Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (übersetzt von Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Alber 1987) dem Genuß widmet, darunter auch dem Genuß der Nahrung.

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nießen, bleibt uns fremd als etwas, von dem wir zehren, ohne es aufzuzehren oder zu besitzen. Geläufige Kategorien der Güterlehre greifen zu kurz, da sie das, wovon wir uns nähren, vorweg schon als etwas behandeln, das man sich aneignet, indem man es produziert, konsumiert, konserviert und kapitalisiert. Auch die bei Platon noch anzutreffende Deutung des Begehrens, also auch des Hungerns und Dürstens, als eines Wechsels von Entleerung und Erfüllung (vgl. Philebos 35a) trifft nur einen winzigen Aspekt der Sache. Im Genuß fließt nicht etwas hinein und heraus wie bei einem lecken Faß, das sich ohne Ende füllt und entleert (Gorgias 493b), Genießender und Genossenes verändern sich im Genießen. Bei der Erörterung der Frage, ob ein Lebewesen sich von Gleichem oder von Ungleichem nährt, stößt Aristoteles auf eben dieses Problem. Er entscheidet sich für eine mittlere Lösung. In der Verdauung der Speise wird Ungleiches durch Angleichung, durch Assimilation, in Gleiches verwandelt (De anima II, 3). Verwandlung bedeutet aber mehr als Anfüllung. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Assimilation nicht stets Momente einer nicht zu assimilierenden Fremdheit behält, da angeglichen wird, was nicht gleich ist, da etwas genießbar wird, was nicht einfach genießbar ist. In diesem Sinne ist jede Speise zubereitet, nicht nur die gekochte, auch die rohe. Die Unterscheidung von Rohem und Gekochtem, die Claude Lévi-Strauss seiner Theorie der Eßkultur zugrundelegt, bezeichnet keine Wasserscheide, sondern eine Schwelle, an der die Legierung von Natur und Kultur kulinarisch variiert. So haftet an jeder Speise, die wir genießen, ein »kleines Stück Natur«, ein ungenießbares Stück Natur, das deren Herkunft verrät, seien es die salzigen Tropfen Meerwassers an der Austernschale oder ein Stück dürrer Rebe an der Weintraube.26 Doch selbst das, wovon wir uns nähren, gleicht der Luft, die wir ein- und ausatmen; wir können sie anhalten, aber nicht nach Belieben speichern. Man genießt nicht auf Vorrat. Die Entelechie, die Aristoteles überall ins Spiel bringt, wo Lebendiges sich regt, stößt hier ebenso an ihre Grenzen wie unsere modernen Auffassungen von Sinnbildung und Regelbefolgung. Kulinarische Normalität entsteht durch Normalisierung, sie ist nicht fix und fertig gegeben, und wie alle Normalität bleibt sie umstritten. Ein weiteres Motiv, das eine Phänomenologie des Essens und Trinkens zu berücksichtigen hat, ist das der Gabe. Bekanntlich bedurfte es erheblicher Anstrengungen, um dieses Motiv philosophisch hoffähig zu machen.27 25 | »Der leibliche Sitz der Gefühle« (siehe meinen Beitrag, in: Michael Staudigl/Jürgen Trinks (Hg.), Ereignis und Affektivität, Wien: Turia + Kant 2006b), findet seine Ergänzung im leiblichen Sitz der Genüsse. 26 | Marcel Proust: À la recherche du temps perdu, Bd. II, Paris: Gallimard 1988, S. 416; dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übersetzt von E. RechelMertens, revidiert von L. Keller, Bd. III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 161. 27 | Zu verweisen ist auf das, was sich bei Autoren wie Mauss, Levinas, Lacan,

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56 | Bernhard Waldenfels In unserem Zusammenhang besagt dies, daß das Essen und Trinken ähnlich wie Reden und Handeln als ein Geschehen zu betrachten ist, das es von Anfang an mit dem/der Anderen und mit Anderen zu tun hat. Doch dies allein genügt nicht. Die Fremdheit einer Gabe, die von anderswoher kommt, verliert sich, sobald man das Geben in ein reziprokes Verhältnis von Geben und Nehmen einfügt und es auf die Bahnen eines Tauschs von Äquivalenten lenkt. In der platonischen Urstadt treten Produzenten auf, die nicht nur Nahrung produzieren, sondern Überschüsse durch Handelsleute auf dem Markt feilbieten lassen. Die arbeitsteilige Herstellung von Gütern und deren Zirkulation besagen, daß die Beteiligten »einander mitteilen, was jeder gefertigt hat« (Politeia 371b), indem sie Geld als symbolisches Tauschmittel benutzen. Einzig die Tagelöhner, Arbeitssöldner, Lohnarbeiter oder wie immer man das griechische (µισθωτς) übersetzen mag, geben etwas von sich selbst her, nämlich den Gebrauch ihrer Kraft (371e). Es bildet sich eine Gemeinschaft, deren Gerechtigkeit darin besteht, daß jeder das Seine tut und im Austausch der Güter so viel bekommt, wie er gibt, und so viel gibt, wie er bekommt. Das Geben (διδναι) verwandelt sich in ein Teilgeben (µεταδιδναι), das Nehmen (λαµβ/νειν) in ein Teilnehmen (µεταλαµβ/νειν), hinter dem ein vielgliedriges Ganzes steht. Speise und Trank sind idealiter betrachtet gemeinsame Speise und gemeinsamer Trank. Die Eintracht ist allerdings bedroht durch das unersättliche Mehrhabenwollen (πλεονεξ α) jedes Einzelnen. Lediglich im Hintergrund des Mythos taucht eine freigiebige Natur auf, die gibt, ohne zu nehmen. Im kindlichen Zeitalter des Kronos, das Platon im Politikos ausmalt, gab es noch keinen Ackerbau; die Menschen sammelten die Früchte, »die ihnen die Erde von selbst gab«,28 und die Lebewesen dienten einander noch nicht als Speise (271e-272a). Ähnlich im Goldenen Zeitalter Ovids, wo die Menschen sich mit den Speisen begnügten, die »ohne Zwang gewachsen waren«, wo »Ströme von Milch, Ströme von Nektar flossen und gelber Honig von der grünen Steineiche tropfte«. Das Zeitalter des Zeus macht diesem kindlichen Spuk ein Ende: keine »sich von selbst (automatisch) darbietende Nahrung« mehr, statt dessen »Gaben der Götter« wie das Feuer und die Künste, mit deren Gebrauch der Mensch für sich selbst zu sorgen lernt (Politikos 274c-d). Die Frage ist nur, ob dieser Umschlag von Hilflosigkeit in Selbsthilfe, von Fremderhaltung in Selbsterhaltung nicht seinerseits zu den zivilisatoDerrida und in deren Gefolge getan hat. Ich selbst habe im Antwortregister (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994) vom Antwortgeben her einen Zugang zu diesem Thema gesucht, das seine klassische Vorgeschichte hat, aber eine zumeist verkannte. 28 | Wörtlich ›heraufgab‹, ›emporreichte‹ (gr. ναδιδναι). Dieses vertikale Geben gehört einer anderen Dimension an als das horizontale Geben und Nehmen. Dazu paßt, daß in der mythischen Sprache die Erde als Mutter Erde eine geschlechtliche Konnotation aufweist.

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rischen Mythen gehört. Diese Mythisierung besteht darin, daß man die individuelle und kollektive Vorgeschichte, die stets zu früh kommt, umdichtet in eine bloße Frühgeschichte, die lediglich früher einsetzt und die man schrittweise hinter sich läßt. Es handelt sich um eine Umdeutung; denn was die Gabe wohl oder übel auszeichnet, das ist eine Zuvorkommenheit, die niemals völlig einzuholen ist. Dies gilt für die Frühgeschichte des Säuglings, des nourrisson, der nicht nur von etwas, sondern zugleich von jemandem lebt, von der Mutter, die mit der Nahrung ein Stück ihrer selbst gibt (oder nicht gibt), und diese Urgabe fügt sich ein in ein Geflecht von Gaben.29 Doch darüber hinaus gibt es eine das ganze Leben durchziehende Geste des Gebens, die jeweils über das Gegebene hinauszielt. Gegebenes kann ich mir unter geeigneten Umständen auch selbst zuteilen, nicht so das Geben, das ich gleich dem Versprechen entgegennehme. Wäre es anders, so könnte man eine Gabe quittieren wie eine Zahlung, und der Dank wäre nicht mehr als eine Floskel, die das soziale Getriebe ölt. Der Überschuß des Gebens spiegelt sich auch in den Tischsitten wider, so wenn es etwa in Japan üblich ist, daß jeder dem oder der Anderen eingießt. Dies setzt voraus, daß man einander besondere Aufmerksamkeit schenkt; so ist beim Essen und Trinken jeder zugleich beim Anderen wie in einem gekonnten musikalischen Quartettspiel. In diesem Sinne wäre die Speise, die jemand zu sich nimmt, stets eine halbfremde Speise, so wie laut Michail Bachtin jedes Wort, das ich in den Mund nehme, ein »halbfremdes Wort« ist, das auf fremde Worte antwortet und sie weiterträgt, selbst wenn ich mit mir selbst spreche.30 Das letzte Fremdheitsmotiv, auf das wir unser Augenmerk richten wollen, betrifft das Mahl und speziell seine Eigenschaft als Gastmahl. Dieses Motiv eröffnet überaus weitläufige Perspektiven, so daß einige Aperçus genügen mögen. Ein Mahl ist keine bloße Abfolge oder Ansammlung von Einzelakten, sondern ein Ereignis, das hier und jetzt und wiederholt stattfindet. In diesem Sinne gibt es Mahlzeiten wie etwa die klassisch-römische Abfolge von ieientaculum, prandium und cena, es gibt Eß- und Trinkstätten wie Eßzimmer, Speisesaal oder Trinkstube, ferner Speisegänge, Speiseund Trinkgeräte, Küchenrezepte, Eß- und Trinkvorschriften und anderes mehr. Ein Mahl nimmt stets Bezug auf Andere, so wie auch ein Selbstgespräch mit Anderen und mit sich selbst als einem Anderen geführt wird. Es findet in einer gemeinsamen Welt statt. 29 | Zu den reichen Materialien, die nicht nur Freuds Analyse der frühkindlichen Sexualentwicklung, sondern radikaler noch Laplanches allgemeine Verführungstheorie zum libidinösen Charakter der Ernährung beigesteuert hat, verweise ich abermals auf die bereits erwähnte Abhandlung von Iris Därmann. 30 | Ich verweise auf meinen Aufsatz »Hybride Formen der Rede«, in: Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 152-170. Analog wäre auch von einer hybriden Speise zu sprechen.

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58 | Bernhard Waldenfels Doch darüber hinaus wohnt jeder Tischgesellschaft eine gewisse Fremdheit inne. Diese beginnt mit der Tischordnung im weiteren Sinne. Wie jede Ordnung geht auch sie auf Stiftungen und Erfindungen zurück, die wie im Falle von Kleidung, Wohnung und Sprache weithin anonym bleiben. Der einzelne ißt und trinkt, wie man ißt und trinkt; dieses Wie und dieses Man kann wie auch sonst homogenere oder diffusere Formen annehmen. Es ist jeweils ein Drittes im Spiel, das so etwas wie Tischgenossenschaft ermöglicht. Das Dritte kann auch in einem personalen Dritten repräsentiert sein, so etwa in der Förmlichkeit des antiken Symposarchen, des magister bibendi, der den Wein kostet, verteilt und mischt, oder in Form des georgischen Tamada, eines traditionellen Tafelherrn (inzwischen auch in weiblicher Form zulässig), der durch gezielte Aufforderung zu Tischreden oder Trinksprüchen dafür sorgt, daß die Gesellschaft nicht auseinanderbricht, die Geselligkeit nicht verflacht und das Gelage nicht in eine Sauferei ausartet. Doch der Ordnung des Dritten steht auch hier die Fremdheit des Anderen gegenüber. Eine Tischordnung, die so ist, wie sie geworden ist, die aber auch anders sein könnte, kann nicht anders als exklusiv und selektiv auftreten. Dies besagt nicht nur, daß nicht alle einbezogen sind, sondern auch, daß niemand ganz und gar in seiner Singularität einbezogen ist. Die Fremdheit beginnt bei Tische, wie jedes Kind weiß, dem beigebracht wird, sich auf eigentümliche Weise zu benehmen. Wie jede Ordnung bewegt sich auch die Tischordnung zwischen den Extremen von Zwanghaftigkeit und Beliebigkeit, sie ist mehr oder weniger offen. Doch darüber hinaus gibt es den Platz für Abwesende. Der mancherorts anzutreffende Brauch, für Verstorbene einen Sitz frei zu halten, macht diese Leere spürbar. Abwesend sind aber auch Gäste, die kommen könnten. Keine Tischgesellschaft ist vollständig, es gibt stets Überzählige, selbst wenn man sich wie Kant an die Faustregel hält, bei der Auswahl der Tischgesellschaft nie die Zahl der drei Grazien zu unterschreiten und nie die Zahl der neun Musen zu überschreiten (Anthropologie, VI, 617). Die Gastlichkeit, die jedem Mahl Züge eines Gastmahls, jeder Speise Züge einer Fremdspeise aufprägt, bedeutet keinen Sonderfall, sondern eine permanente Beunruhigung, die auch durch das Gastrecht nicht völlig aus der Welt zu schaffen ist. Kant erinnert an den Araber, »bei dem der Fremde, sobald er jenem nur einen Genuß (einen Trunk Wasser) in seinem Zelt hat ablocken können, auch auf seine Sicherheit rechnen kann«, oder daran, daß »der russischen Kaiserin Salz und Brot von den aus Moskau ihr entgegenkommenden Deputierten gereicht wurde, und sie durch den Genuß desselben sich auch vor aller Nachstellung durchs Gastrecht gesichert halten konnte«.31 Worauf beruht diese Sicherheit? Wie steht es mit den Verhungernden und Verdurstenden, die längst mehr sind als bloße Randgestalten? Bedenkt man, wie 31 | Ebd., 619.

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nah Fremdheit und Feindschaft beieinander wohnen, wie schnell die Gabe der Speise sich in Gift und das Nehmen sich in ein Wegnehmen verwandeln kann, so wird man sich hüten, Tischsitten als bloße Sitten abzutun.

Literatur Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Berlin: Akademie Verlag 1958ff. Därmann, Iris: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München: Fink Verlag 2005. Därmann, Iris: »Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalität«, in: Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.), Denkwege des Friedens, Freiburg/München: Alber 2007, S. 364-386. Freud, Sigmund: »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«, in: Gesammelte Werke, hg.v. Anna Freud u.a., Bd. XII, Frankfurt a.M./London 1940ff., S. 29-157. Höffe, Ottfried (Hg.): Platon. Politeia, Berlin: Akademie Verlag 1997. Kant, Immanuel: Werke, hg.v. Wilhelm Weischedel, Werke in sechs Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956ff. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort, übersetzt von M. Bischoff, 2. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Platon: Platonis Opera, hg.v. Ioannes Burnet, Oxford: Clarendon 1952ff. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übersetzt von Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Alber 1987. Pascal, Blaire: Pensées, in: Œuvres Complètes, hg.v. L. Lafuma, Paris: Seuil 1963; dt. Über die Religion und einige andere Gegenstände, übersetzt von Ewald Wasmuth, 8. Auflage, Heidelberg: L. Schneider 1978. Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu, Bd. II, Paris: Gallimard 1988; dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übersetzt von E. Rechel-Mertens, revidiert von L. Keller, Bd. III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Waldenfels, Bernhard: »Zwischen Not und Überfluß. Metaökonomische Überlegungen zum Marxismus«, in: ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 3. Auflage 1998, S. 173-185. Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, 2. Auflage 2007. Waldenfels, Bernhard: »Hybride Formen der Rede«, in: ders., Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 152-170. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006a. Waldenfels, Bernhard: »Der leibliche Sitz der Gefühle«, in: Michael Staudigl/Jürgen Trinks (Hg.), Ereignis und Affektivität, Wien: Turia + Kant 2006b, S. 161-176.

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Zum Brotessen verdammt – durch Brot erlöst Gerhard Baudy

Die Sakralisierung der Getreidenahrung im Rahmen der »neolithischen Revolution« und ihre ambivalente Bewertung im Mythos der Antike Obwohl Ernährungsfragen seit der griechischen Antike durchaus im Zentrum kulturhistorischer und ethnologischer Theoriebildung standen, wurden sie von den meisten geisteswissenschaftlichen Disziplinen bis vor kurzem weitgehend ignoriert. Das hat sich inzwischen geändert. Wenn heute sogar Philosophen und Literaturwissenschaftler das menschliche Essverhalten als Forschungsgegenstand neu für sich entdecken, so richtet sich diese verstärkte Aufmerksamkeit wesentlich auf die Zeichenfunktion menschlicher Lebensmittel, die ja nicht nur Hunger und Appetit stillen, sondern auf vielfältige Weise zu Bedeutungsträgern werden können. Wie das Essen selbst, ist auch seine Anreicherung mit zusätzlichem Sinn eine anthropologische Konstante, mögen die jeweiligen Speisen und ihre Konnotationen kulturell auch noch so sehr variieren. Wer bestimmte Fleischoder Gemüsesorten isst und andere verschmäht, demonstriert damit – ob er es nun will oder nicht – seine Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse, zu einer ethnischen Gruppe oder zu einer religiösen Gemeinschaft. Durch den Akt der Nahrungsaufnahme machen wir somit äußerlich sichtbar, was uns mit anderen Personen verbindet und was uns von ihnen trennt. Mit einem symbolischen Mehrwert aufgeladen werden vorzugsweise Lebensmittel, welche die gegenüberliegenden Enden einer sozialen Werteskala besetzen: Knappe und infolgedessen teure Nahrung, die sich nur wenige regelmäßig leisten können, eignet sich zur Markierung von Standesunterschieden. Auf der anderen Seite bilden Grundnahrungsmittel, die idealiter das ganze Jahr hindurch allen Bürgern verfügbar sind, Objekte einer besonderen sozialen Fürsorge. Diese drückt sich im Kulturkreis der pflanzenanbauenden Völker – Erben der sogenannten neolithischen Revo-

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62 | Gerhard Baudy lution, die vor über 10.000 Jahren das Wildbeutertum ablöste1 – auf einer religiösen Ebene aus: Sie laden die jeweils dominante Nahrungspflanze mit anthropomorphen Qualitäten auf. Das macht sie zu einer Art sozialem Partner, einem Adressaten wiederkehrender Kulthandlungen. In den Fugen des Wirtschaftsjahres gefeierte Feste erneuern die symbiotische Beziehung zwischen den menschlichen Gruppen und den vegetabilischen Produkten, von denen sie lebt, durch Interaktionsrituale, die der sakralisierten Pflanze einen göttlichen Status zuweisen. In der tropischen Hackbaukultur sind dies Knollenfrüchte wie der Yams, bei Völkern, die kultivierte Grassamen anbauen, Getreidesorten wie Reis, Gerste oder Weizen. Mein folgender Beitrag konzentriert sich auf die uns allen vertraute Heiligkeit der Getreidepflanze bzw. des aus ihr gebackenen Brotes und dessen ambivalente Bewertung in der Antike.

I. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass jeder, der in einer von Landwirtschaft abhängigen Gesellschaft aufwächst, früh dazu angehalten wird, dem Grundnahrungsmittel mit Achtung zu begegnen. Das beginnt damit, dass Eltern ihr Kind daran hindern, ins Getreidefeld hineinzulaufen und die Ähren zu zertrampeln, und findet seine Fortsetzung im bekannten Pausenbrotterror, dem Grundschüler zumindest früher ausgesetzt waren. Ich erinnere mich mit Grausen an die Szenen, die meine Mutter mir machte, wenn sie wieder einmal vergammelte belegte Brote im Schulranzen fand, und an das schlechte Gewissen, das ich hatte, wenn ich die Pausenbrote, um mir solches Theater zu ersparen, entweder heimlich verschenkte oder unterwegs in einem öffentlichen Abfallbehälter entsorgte. Schon anderes übriggebliebenes Essen in den Müll zu kippen, kostete meine Eltern, die den Krieg durchgemacht hatten, Überwindung. Doch Brot wegzuwerfen, kam für sie überhaupt nicht in Frage; das empfanden sie als Sakrileg, und sie unterließen es nicht, mich immer wieder darauf hinzuweisen, wie oft 1 | Der Begriff stammt von Gordon V. Childe: »Die neolithische Revolution«, in: Klaus Eder (Hg.), Seminar: Die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 176-195; ders.: Soziale Evolution, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970 (engl. Original London 1951). – Neue archäologische Funde in Anatolien erlauben inzwischen, den Beginn dieses Prozesses um ca. 2000 Jahre zurückzudatieren. Vgl. Harald Hauptmann/Mehmet Özdoan: »Die Neolithische Revolution in Anatolien«, in: Vor 12.000 Jahren in Anatolien. Die ältesten Monumente der Menschheit, Karlsruhe: Konrad Theiss Verlag 2007, S. 26-36; Trevor Watkins: »Der Naturrraum in Anatolien. Ein Zusammenspiel von Klima, Umwelt und Ressourcen«, ebd., S. 37-47; Olivier Aurenche: »Das ›Goldene Dreieck‹ und die Anfänge des Neolithikums im Vorderen Orient«, ebd., S. 50-66.

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sie in den Kriegsjahren Hunger gelitten hatten und damals froh gewesen wären, ein Stück Brot zu besitzen. Wie andere Väter pflegte auch der meinige seine häusliche Autoritätsstellung außerdem gerne mit dem nervtötenden Argument zu unterstreichen, dass schließlich er es sei, der die Brötchen verdiene. Mich wundert im nachhinein, warum dieses Sprachspiel meinen anorektischen Protest gegen Getreidenahrung nicht noch weiter verstärkt hat. Meine fromme Großmutter, die unter uns wohnte, versuchte ihren renitenten Enkel auf andere Weise zur Räson zu bringen: Kein Brotlaib, in den sie nicht ein Kreuz eingekerbt hätte, bevor sie eine Scheibe davon abschnitt. Damit demonstrierte sie, dass es für sie keine Trennung zwischen heiligem und profanem Brot gab. Alles Brot galt ihr als heilig, alles war der Leib des gekreuzigten Gottessohnes. Wenn ich mich keiner Todsünde schuldig machen wollte, musste ich das ungeliebte Brot also wohl oder übel verzehren. Somit war ich zum Brotessen verdammt. Als ich dann in den Kommunionunterricht ging, lernte ich jedoch, das heilige Brot, das ich fortan sonntags in der Messe essen sollte, als ein Medium der Erlösung zu betrachten. Erlösung wovon? Von der Todsünde, wurde mir erklärt. Alle Menschen, die bis zum Jüngsten Tag nicht den Weg zu Jesus gefunden hätten und durch den Verzehr seines Leibes nicht selber zu Gliedern Christi geworden wären, seien verworfene Sünder, die unweigerlich im Höllenfeuer schmoren müssten. Um ins himmlische Paradies zu gelangen, bedurfte es allerdings, wie mir eingeschärft wurde, eines geistigen Kraftakts: Es genügte nicht, die geweihte Brotoblate einfach zu essen, sondern es musste eine bestimmte Bewusstseinshaltung hinzukommen: Ich sollte sie nicht etwa als Symbol des Leibes Christi, sondern als diesen selber ansehen. Diese Zumutung hat mein kindliches Gemüt in beträchtliche Gewissensnöte gestürzt. Zu den Todsünden, die ich regelmäßig beichten musste, gehörte das Eingeständnis des Zweifels. Dass mir Religionslehrer, Pfarrer und andere Erwachsene erklärten, auch für sie sei das Wunder der eucharistischen Transsubstantiation ein unbegreifliches Geheimnis und das könne auch gar nicht anders sein, empfand ich als wenig hilfreich.

II. Verständlich wurde mir das alles erst in sehr viel späteren Jahren, als ich – inzwischen aus der Kirche ausgetreten – das Studium der Altertumswissenschaften aufnahm und mich in dessen Rahmen auch mit dem Christentum unter einer religionsvergleichenden Außenperspektive beschäftigte. Dadurch veränderte sich allerdings zugleich die mir anerzogene Sicht der christlichen Religion. Das Bild, das ich von der antiken Jesusbewegung als nunmehr Außenstehender gewonnen habe, unterscheidet sich vom Selbstverständnis heutiger Christen erheblich. Ich sage das vorab, weil ich

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64 | Gerhard Baudy mir bewusst bin, dass Anhänger der phänomenologischen Methode jemandem wie mir die Möglichkeit echten Verstehens abzusprechen pflegen. Fremdes Bewusstsein zu begreifen, gelingt nach Ansicht der Phänomenologen ja nur, wenn man sich auf dessen eigene Spielregeln einlässt. Ein Religionsforscher müsste sich demnach die Binnensicht der jeweils untersuchten Religion zu eigen machen, wenn er zu deren formierendem Zentrum vorstoßen will. Ich bin von der Richtigkeit des genauen Gegenteils überzeugt. Erkenntnis, behaupte ich, realisiert sich stets durch reduktive Verfahren und ist nur aus der Distanz heraus möglich, nicht aber auf dem Identifikationsweg und schon gar nicht durch ein ›Fremdlassen des Fremden‹, worauf eine rein phänomenologische Beschreibung hinausläuft. In meinem Fall wurde die erforderliche Distanz durch eine historischantiquarische Perspektive bewirkt. Gerade sie ließ mich das mir aus meinem eigenen Leben Vertraute in einem neuen Licht sehen. Schon in der vorchristlichen Antike, so lernte ich, wurde die Brotnahrung zwiespältig bewertet, einerseits als Segen und andererseits als Fluch (wenn auch aus anderen Gründen, als ich sie in meiner Kindheit hatte). Auch erfuhr ich, dass die privilegierte Stellung der Brotnahrung keine Besonderheit der christlichen Religion war, sondern die altmediterranen Ackerbaukulte insgesamt charakterisierte. So offenbarte etwa das Enthüllen einer Getreideähre denen, die sich in die eleusinischen Mysterien einweihen ließen, das größte aller Geheimnisse. Wir wissen das nur, weil der Kirchenvater Hippolytos dieses ›unsagbare‹ Mysterium ausplaudert in der Absicht, sich über die Banalität des heidnischen Konkurrenzkults lustig zu machen. Derselbe Autor teilt uns auch mit, dass die vom Hierophanten unter heiligem Schweigen emporgehaltene Ähre ein männliches göttliches Kind repräsentierte, das von der Ackerbaugöttin geboren worden sei.2 Die christlichen Polemiken gegen die paganen Religionen denunzieren solche Bedeutungszuweisungen als bloße Allegorien, die dazu dienten, den Umstand zu verschleiern, dass alle Götterkulte in Wahrheit Totenkulte seien. Die Personifikation des Getreides täusche vor, die toten Pseudogötter lebten in den Nahrungspflanzen fort und würden mit dem jährlichen Vegetationszyklus sterben und auferstehen. Im Unterschied zu diesen fiktiven allegorischen Göttern, die sich vom Teufel inspirierte heidnische Theologen ausgedacht hätten, sei der historische Jesus wahrhaftig auferstanden und vermittle, im eucharistischen Brot inkarniert, als einziger das wahre Heil. Alle andern sterbenden und auferstehenden Götter der Antike seien hingegen Blendwerke des Teufels. Dieser habe, weil er die Ankunft des künftigen Erlösers voraussah, im vorhinein Kopien Christi geschaffen, um 2 | Hippol. ref. omn. haer. 5.8.39-41 Marcovich. Das göttliche Kind lässt sich mit Plutos, der Personifikation des Getreidereichtums, identifizieren. Vgl. z.B. Kevin Clinton: Myth and Cult. The Iconography of the Eleusinian Mysteries, Stockholm: Paul Åströms förlag 1992, S. 91-94.

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die unwissenden Menschen auf falsche Fährten zu locken und ihnen so den Blick auf das Original zu verstellen, das erst in Gestalt Jesu von Nazareth die historische Bühne betreten sollte.3 Eine solche Geschichtstheologie plädiert dafür, die Verehrung der falschen Götter durch den analogen, aber allein authentischen christlichen Kult zu ersetzen. In der Sicht der antiken Christen unterscheiden sich die heidnischen Götter von Jesus also nicht etwa dadurch, dass sie niemals auf Erden gelebt hätten – davon sind die Kirchenväter vielmehr, einer Theorie des Euhemeros folgend, völlig überzeugt –, sondern allein durch unrechtmäßige allegorische Sinnzuweisungen, durch die sie erst postmortal zu Göttern aufgewertet worden seien. Genau das aber, was die paganen Religionsstifter angeblich unter Eingebung des Teufels getan hatten, stellten Jesu Anhänger ihrerseits mit ihrem gekreuzigten Erlöser an. Ihm legt das Johannesevangelium ja folgende Worte in den Mund (6.51): »Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Und das Brot, das ich für das Leben der Welt geben werde, ist mein Fleisch.« Die Allegorisierung Jesu zum Brotgott verträgt sich nun aber schlecht mit der ihm unterstellten historischen Einzigartigkeit. Singulär erscheint Jesus bloß dadurch, dass seine Verehrer ihm allein den Anspruch zugestehen, das vom Himmel gesandte Brot zu sein. Die rivalisierenden Brotgötter werden hingegen entallegorisiert und dadurch ihrer Göttlichkeit entkleidet. Mögen sie auch einmal gelebt haben, so sind sie für die Christen doch nur Tote, denen man fälschlich nachsagt, sie lebten in den Feldfrüchten fort. Da diese Polemik die Vorrangstellung Jesu Christi nicht argumentativ begründet, sondern bloß dogmatisch behauptet, wundert es nicht, dass die Kirchenväter ihre heidnischen Gegner keineswegs zu überzeugen vermochten. Der Siegeszug des Christentums verdankt sich denn auch nicht etwa seiner intellektuellen oder spirituellen Überlegenheit, sondern hat andere Gründe.

III. Diesen im Einzelnen nachzugehen, würde den Rahmen meines Beitrags sprengen. Ich beschränke mich hier auf die für unser Thema relevanten Aspekte. Um zu verstehen, warum die Christen einen neuen Brotgott kreierten und es schließlich schafften, ein Deutungsmonopol zu erlangen, das alle polytheistischen Kulte des römischen Reiches zum Untergang verur3 | Auf der Basis dieser Theorie polemisiert nach der konstantinischen Wende Firm.Mat. de err. prof. rel. 2-3 insbesondere gegen die Ackerbaureligion Ägyptens und Phrygiens. Seine eine paradoxe Umkehrung religionshistorischer Abhängigkeiten bewirkende Teufelstheologie hat der Autor der christlichen Apologetik des 2. Jahrhunderts, vor allem dem Märtyrer Iustin, entlehnt.

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66 | Gerhard Baudy teilte, müssen wir uns die Anfänge der Jesusbewegung vergegenwärtigen.4 Jesus von Nazareth wurde bekanntlich vor dem jüdischen Paschafest gefangengenommen und vom römischen Statthalter als Aufrührer hingerichtet. Seine enttäuschten Anhänger interpretierten die Exekution des gescheiterten Messias aber nachträglich als freiwilliges Selbstopfer und bekannten sich weiterhin zu der von Jesus propagierten Zielvorstellung eines totalitären Gottesstaates. Da ein wahrer Prophet nicht irren kann, leugneten die Jünger trotzig die Endgültigkeit seines Todes, indem sie sagten, er lebe in ihnen gemeinsam fort. Zu diesem Zweck definierten sie sich selbst als Glieder seines auferstandenen Leibes, damit der Gekreuzigte seinen eschatologischen Aktionsplan postmortal im Ersatzleib der Kirche verwirklichen konnte. Der die römische Besatzungsmacht verhöhnende Mythos von Jesu 4 | Die folgenden Ausführungen stehen in der Tradition eines auf Hermann Samuel Reimarus zurückgehenden Deutungsparadigmas, das von der traditionellen Theologie durchweg bekämpft bzw. ignoriert wird (anonym publiziert von Lessing: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolffenbüttelschen Ungenannten, Braunschweig: Waisenhausbuchhandlung 1778; das von Reimarus nicht veröffentlichte Hauptwerk erschien erst nach ca. 200 Jahren: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1972). Im 20. Jahrhundert wurden ähnliche Positionen vertreten vor allem von Robert Eisler: ΙΗΣΟΥΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΟΥ ΒΑΣΙΛΕΥΣΑΣ. Die messianische Unabhängigkeitsbewegung vom Auftreten Johannes des Täufers bis zum Untergang Jakobs des Gerechten nach der neuerschlossenen Eroberung von Jerusalem des Flavius Josephus und den christlichen Quellen, 2 Bde., Heidelberg: Winter 1929/30 und Samuel G.F. Brandon: Jesus and the Zealots. A Study of the Political Factor in Primitive Christianity, Manchester: Univ.-Press 1967. Einen kritischen Überblick bietet Ernst Bammel: »The Revolution Theory from Reimarus to Brandon«, in: Ernst Bammel/Charles F.D. Moule (Hg.), Jesus and the Politics of his Day, Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 1984, S. 11-68. Warum mich die Gegenargumente der Theologie nicht überzeugen, habe ich u.a. in folgenden Beiträgen ausgeführt: »Evangelium und Sohngottmythos. Zur Entstehung einer subversiven Textgruppe in der frühen Kaiserzeit«, in: Reingard M. Nischik/Caroline Rosenthal (Hg.), Schwellentexte der Weltliteratur, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2002, S. 33-69; »›Auferstehung‹. Codierung nationaler Wiedergeburt im transkulturellen Dialog der Antike«, in: Ute Pietruschka (Hg.), Gemeinsame kulturelle Codes in koexistierenden Religionsgemeinschaften (HBO 38, 2004), Halle 2005, S. 33-74; »Heiliges Fleisch und sozialer Leib. Ritualfiktionen in antiker Opferpraxis und christlicher Eucharistie«, in: Franz-Theo Gottwald/Lothar Kolmer (Hg.), Speiserituale. Essen, Trinken, Sakralität, Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2005, S. 45-68; »Seuchenmetaphorik im ersten Jahrhundert n. Chr. Die Ausbreitung der Christusbewegung, ihre Bewertung durch das romloyale Judentum und die römische Religionspolitik«, in: Walter Beltz/ Jürgen Tubach (Hg.), Expansion und Destruktion in lokalen und regionalen Systemen koexistierender Religionsgemeinschaften (HBO 41), Halle 2006, S. 25-55.

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Auferstehung drückt dieses oppositionelle Gruppenbewusstsein in Form einer narrativen Metapher aus. Rituell stabilisiert wurde die Gruppenidentität durch subversive Mähler, durch welche die Christen ihrem unsichtbaren König zur periodischen Regeneration im Kollektivleib der Gemeinde verhalfen. Durch Mission sich in den Städten des Mittelmeerraums allmählich zerdehnend, unterwanderte der sich als Leib Christi ausgebende wachsende Gottesstaat den Reichsorganismus des Imperium Romanum.5 Für die sakramentalen Mähler, durch welche die Christen sich aus einer feindlichen Umwelt ausgrenzten, benutzten sie bekanntlich – neben dem Wein – das Grundnahrungsmittel des Brotes, und zwar unter Anlehnung an eine im Paschafest verankerte Initiationssymbolik.6 Das Paschafest fiel in den Beginn der Getreideerntesaison (Jos 5.11). Zuerst wurden Lämmer geschlachtet und familienweise verzehrt, an den folgenden Tagen ungesäuerte Brote aus den ersten Erträgen der neuen Ernte konsumiert (Ex 12.3-20; Dtn 16.2-8). Für die Christen besetzte Jesus die Planstelle des am Fest geopferten Paschalammes.7 Das bedeutet, dass die Urchristen, wenn sie jährlich das Paschafest feierten, das Fleisch der geopferten Tiere in dem Bewusstsein verzehrten, sich ihren Erlöserkönig einzuverleiben. Da sie ihre subversiven Mähler aber an jedem Sonntag veranstalteten, musste das weniger aufwendige Brot an die Stelle des Fleischgerichts treten. Es symbolisierte das Paschalamm. Noch im heutigen Kult heißt das sakramentale Brot daher hostia, »Opfertier«. Um den ursprünglichen Zeichengehalt dieses Sakraments zu durchschauen, müssen wir vom Mythos des Paschafestes ausgehen. Nach der biblischen Geschichtsfiktion wurde das Fest erstmals beim Auszug der zwölf Stämme Israels aus Ägypten gefeiert (Ex 12-13). Damals forderte Gott die Opferung der erstgeborenen Israeliten, verzichtete aber auf deren Tötung, wenn an ihrer Stelle Lämmer geschlachtet würden (Ex 12.12-13, 2123). Eine analoge Geschichte war die von Abraham beabsichtigte, aber nicht durchgeführte Schlachtung seines Sohnes Isaak. Hier tritt an die Stelle des menschlichen Opfers ein Widder (Gen 22.1-13). Die Erzählung sollte das Paschaopfer präfigurieren, denn Isaaks Opfergang wurde im Buch der Jubiläen kalendarisch genau auf den Tag der Paschafeier datiert.8 Solche 5 | Vgl. vom Verf.: »Auferstehung«, a.a.O., S. 40-64; »Heiliges Fleisch und sozialer Leib«, a.a.O., S. 50-64. 6 | Hierzu und zu den folgenden Darlegungen vgl. vom Verf.: »Die brennende Terebinthe von Sichem. Ein multikulturelles Epiphaniefest auf dem Garizim im Spiegel lokaler Landverheißungsmythen und apokalyptischer Heilserwartungen«, in: Walter Beltz/Jürgen Tubach (Hg.), Regionale Systeme koexistierender Religionsgemeinschaften (HBO 32), Halle 2002, S. 5-93, hier S. 9-25. 7 | Jo 1.29; 1.36; Apg 8.32; Apk 5.6.-8.1; 14.1 u. 4; 17.14; 21.22f. 8 | Jub. 17.15 mit 18.3. Vgl. Jon D. Levenson: The Death and Resurrection of the Beloved Son. The Transformation of Child Sacrifice in Judaism and Christianity,

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68 | Gerhard Baudy Substitutionsmythen waren im antiken Mittelmeerraum weit verbreitet. Sie beweisen nicht, wie man in der Forschungsliteratur verschiedentlich heute noch lesen kann und wie ich früher leider selbst einmal glaubte, dass wirklich einst Menschenopfer durch Tieropfer historisch abgelöst worden seien, sondern sind als narrative Medien der Sinnzuweisung zu verstehen. Weil die betreffenden Opfertiere menschliche Jugendliche verkörperten, die im Durchgang durch einen symbolischen Tod in die Gemeinschaft der Erwachsenen integriert wurden, forderten die Menschenopfermythen alle am Fest Beteiligten dazu auf, die jeweils geschlachteten Tiere als Stellvertreter der Initianden anzusehen. Die Ritualfiktion des Menschenopfers verlieh dem anschließenden Verspeisen des Fleisches eine quasikannibalische Bedeutung, als verleibten die Essenden sich den Novizen kollektiv ein. Diesen rite de passage projizierte der jüdische Paschafest-Mythos in die Vorgeschichte Israels zurück, so dass sich im Leben der Jugendlichen ein Wendepunkt der nationalen (Pseudo-)Geschichte zu wiederholen schien. So wie jährlich männliche Jugendliche das bäuerliche Elternhaus verließen, um fortan als Hirten zu arbeiten, musste angeblich einst Israel aus der Wirtskultur Ägypten emigrieren, um im Durchgang durch die nomadische Zwischenzeit der Wüstenwanderung am Ende gewissermaßen das bäuerliche Erwachsenenalter zu erreichen. Daher erinnerte das Paschafest zugleich auch an die mythische Landnahme der zwölf Stämme. Denn als diese unter Führung Josuas den Jordan überquert hatten, wiederholten sie das Paschafest zum Beginn der Erntezeit im kanaanäischen Kulturland, das sie in unmittelbarem Anschluss daran eroberten (Jos 5.10-12). Dadurch wurden bisherige Hirten zu sesshaften Bauern. Als exklusive Herren des Ackerlands konnten sie in der Folgezeit darangehen, auf eigenem Grund und Boden einen monarchischen Staat zu gründen. Von solchen mythisch-rituellen Vorgaben geleitet, haben die Christen die traditionelle Menschenopferfiktion des Paschafestes historisch neu aktualisiert. Als menschliches Paschalamm, das von der Gemeinde in der Ersatzform des Brotes verzehrt wurde, repräsentierte der Erlöserkönig die erstgeborenen Erben des gelobten Landes.9 Und deren Rolle übertrug New Haven/London: Yale Univ. Press 1993, S. 176; Verf.: »Heiliges Fleisch und sozialer Leib«, a.a.O., S. 57. 9 | Nach Tert. de orat. 6 ist die im Vaterunser geäußerte Bitte um das tägliche Brot zugleich wörtlich und geistig zu verstehen, da ja Christus selbst das Brot sei, mit dessen Leib die Christen untrennbar vereinigt sein wollten. Gegenüber dem Reich Gottes, um das es primär gehe, betrachtet Tertullian das vom Brot garantierte Stillen des Hungers jedoch als eher akzidentiell (mit Hinweis auf Mt 6.11 u. 6.33 sowie Lk 11.3 u. 12.31). Dass die Gottesreichsidee auch in der späteren christlichen Apokalyptik durchaus auf das reale Palästina fixiert bleiben konnte, hat Stefan Heid: Chiliasmus und Antichrist-Mythos. Eine frühchristliche Kontroverse um das Heilige Land (Hereditas 6), Bonn: Borengässer 1993, nachgewiesen.

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sich auf die Gruppe seiner Anhänger, wenn sie durch den rituellen Genuss des gekreuzigten Christusleibes diesen im metaphorischen »Leib« der Gemeinde provokativ regenerierten. Ihn in Gestalt von Brot verspeisend, das pars pro toto die gesamte Getreideernte Palästinas verkörperte, demonstrierten die Jünger ihren alleinigen Besitzanspruch auf das Kulturland, was nichts anderes bedeutet, als dass sie die mythische Landnahme wiederholen und auf dem von römischen Truppen besetzten Territorium einen souveränen Gottesstaat errichten wollten. Jesus war bezeichnenderweise der Namensvetter Josuas, der in der Septuaginta ebenfalls Jesus genannt wird. Dass Josua, der Heros der Landnahme, durch einen blutigen Eroberungskrieg landlose Hirten zu bäuerlichen Grundbesitzern gemacht hatte, zeichnete dem neuen Josua-Jesus seine geschichtliche Mission vor. Als er damit gescheitert war, haben seine Anhänger die Gottesreichspropaganda ihres Führers in allen Provinzen des Imperium Romanum fortgesetzt und schließlich entnationalisiert, weil sie zunehmend auch Nichtjuden, die mit der römischen Herrschaft unzufrieden waren und einen Umsturz herbeisehnten, in ihre Gemeinde aufnahmen. Doch aufgrund des sinnstiftenden Bezugsrahmens des Paschafestes kann die Erlösung, die die Urchristen sich durch die sakramentale Einverleibung des Brotgottes ursprünglich versprachen und die sie bereits von dem historischen Jesus erwartet hatten, schwerlich in etwas anderem bestanden haben als im Abschütteln der Fesseln, welche speziell die unter römischer Fremdherrschaft stehenden Juden trugen. In den Evangelien verspricht Jesus seinen Gefolgsleuten, sie im kommenden Gottesstaat für ihren Verzicht auf Familie, Haus und Hof vielfach zu entschädigen (Mt 19.27-29; Lk 18.29-30). Gemeint ist keine Kompensation in einer jenseitigen Parallelwelt, sondern eine durchaus irdische Belohnung. Landlose Vagabunden, so lautete die Botschaft, sollten Großgrundbesitzer werden, wenn sie nur Jesus als einzigen legitimen Herrscher anerkannten. Das Schattenkabinett der zwölf Apostel hatte den Auftrag, das neugegründete Zwölfstämmevolk Israel zu regieren (zu »richten«: Mt 19.28; Lk 22.28-30). Das aber setzte eine vorherige Vertreibung der Römer voraus. An jedem Paschafest drohten Aufstände, und um einem solchen zuvorzukommen, haben die mit den Römern kollaborierenden Tempelpriester den messianischen Unruhestifter am Vorabend des Festes in vorauseilendem Gehorsam inhaftiert, um ihn dem Statthalter auszuliefern (Jo 11.47-50). Sie wollten verhindern, dass die von Jesus ausgenutzte Appellstruktur des rite de passage eine nationale Revolte entfesselte. Im Gegenzug machten Jesu Jünger ihren gekreuzigten Führer demonstrativ zum Brotgott und ergänzten diese subversive Strategie durch eine agrarische Metaphorik, die das Wachsen des Gottesreiches durch wiederkehrende Zyklen von Saat und Ernte verhieß und seine endgültige Realisierung durch ein erntezeitliches Feuergericht prophezeite. Jede Mission – vor allem aber auch jedes werbewirksame Martyrium – galt als Saat, und

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70 | Gerhard Baudy nach der eschatologischen Ernte sollten alle Menschen wie Getreidekörner geworfelt, gesiebt, geprüft und, falls sie für gut befunden würden, im Speicher Gottes verwahrt werden. Die schlechten Körner und Unkrautsamen aber, so verkündet Jesus, werden aussortiert und landen im Feuer.10

IV. Die jüdisch-christliche Apokalyptik basiert auf einer Mensch und Getreide analogisierenden Initiationssymbolik agrarischer Feste, die für antike Gesellschaften insgesamt typisch war. Die Juden und die aus ihnen hervorgegangenen Christen waren denn auch nicht die einzigen, die dem Brot eine soteriologische Funktion zuwiesen. Ich nenne zwei Beispiele. Nach dem griechischen Mythos brachte einst die Göttin Demeter, nach ägyptischer Tradition die Göttin Isis den Menschen die Getreidenahrung und mit ihr zusammen die Gesetze. Seitdem brauchten sie sich nicht mehr gegenseitig wie wilde Tiere aufzufressen.11 Denn vor Einführung des Ackerbaus waren die Menschen einer gemeinantiken Vorstellung zufolge kannibalische Hirten gewesen wie die homerischen Kyklopen, deren Einäugigkeit sie als halbe Menschen ausweist. Durch die neue Brotnahrung wurden die wilden, gesetzlosen Hirten zivilisiert und erst dadurch im eigentlichen Sinne zu Menschen gemacht. Das Getreide erlöste sie aus einer normwidrigen, prähumanen Vorzeit. Wie kam es zu dieser fixen Idee? Um eine historische Rückerinnerung kann es sich nicht handeln. Dass ein Sesshaftwerden von Hirtenvölkern zum Ackerbau geführt habe, entspricht nicht der Realität. Vieh wurde nachweislich erst nach bzw. im Rahmen der neolithischen Revolution domestiziert. Nomadische Viehzüchter-Gesellschaften haben sich demnach 10 | Belege bei Verf.: »Evangelium und Sohngottmythos«, a.a.O., S. 47f.; zur agrarischen Metaphorik der christlichen Apokalyptik und ihren politischen Implikationen vgl. ferner Verf.: »Das Evangelium des Thamus und der Tod des ›großen Pan‹. Ein Zeugnis romfeindlicher Apokalyptik aus der Zeit des Kaisers Tiberius?«, in: ZaC 4 (2000), S. 13-48, hier S. 49 und – für die propagandistische Instrumentalisierung des Martyriums als ›Saat‹ – Timon Binder: SEMEN EST SANGUIS CHRISTIANORUM. Literarische Inszenierungen von Macht und Herrschaft in frühchristlicher Passionsliteratur, Berlin: Logos-Verlag 2005. 11 | Demeter: Paus. 8.42.6: Orphische Tradition: Aristoph. Ran. 1032; Plat. leg. 6, 782 b-c; Hor. ars poet. 391-3 (OF Test. 111 Kern); Themist. or. 30, 349b (OF Test. 112 Kern). Isis: Diod. 1.14.1; Isis-Aretalogien in Maria Totti: Ausgewählte Texte der Isis- und Sarapis-Religion, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 1985, Nr. 1 (p. 1-4), §§ 4, 7 und 21; Reinhold Merkelbach: Isis regina – Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1995, S. 115-119.

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nicht direkt aus der paläolithischen Jäger- und Sammlerstufe entwickelt, sondern aus gemischtwirtschaftlichen Bauernkulturen herausdifferenziert. Wie aber lässt sich der antike Kulturstufenmythos dann erklären? Ich halte ihn für eine Projektion der Ontogenese in die Phylogenese. Jugendliche verrichteten unter vormodernen bäuerlichen Lebensbedingungen gewöhnlich Hirtenarbeit. Einen Anteil am bestellbaren Land erhielten sie erst, wenn sie erwachsen wurden und eine Familie gründeten. Nach diesem idealtypischen Verlauf der Lebensgeschichte konstruierte die mythische Phantasie die menschheitsgeschichtliche Vergangenheit. Daher soll der bäuerlichen Zivilisation eine wilde Nomadenzeit vorausgegangen sein.12 Sachlich ebenso unbegründet ist die verbreitete Vorstellung, die außerhalb des bäuerlichen Kulturkreises lebenden Nomadenvölker seien Menschenfresser, und von eben diesem Kannibalismus seien die Vorfahren der ackerbautreibenden Völker durch den Übergang zur Getreidenahrung erlöst worden. Abstrus wirkt allein schon die Annahme, die Hirten hätten mehr Appetit auf Menschenfleisch als auf das ihrer eigenen Tiere gehabt, und man begreift schlecht, warum erst das Brot die kannibalischen Mähler zu ersetzen vermochte. Ich schlage vor, diese merkwürdige Aussage ebenso zu deuten wie die angebliche Ablösung der Menschenopfer durch Tieropfer. Weil das Fleisch und das dazugereichte Brot im Kult beide eine kannibalische Konnotation hatten, weil beide ein menschliches Opfer repräsentierten, entstanden analoge Substitutionsmythen, die der öffentlichen Phantasielenkung dienten. Sie erlaubten es, einerseits Knaben, die ihren Hirtendienst antreten sollten, aufgrund der Ritualfiktion, Menschenfleisch gegessen zu haben, vorübergehend aus der Gesellschaft auszustoßen, und andererseits adoleszente Jugendliche, wenn sie aus dem Hirtendienst wieder ausschieden, um fortan das Ackerland zu bestellen, als Ebenbilder nomadischer Ahnen auszugeben, die einst durch den Übergang zum Tieropfer und zur Brotnahrung Bauern geworden sein sollten.13 Die polytheistischen Völker der Antike haben für die männlichen Initianden eine Reihe göttlicher Prototypen entwickelt, mit denen sie sich identifizieren konnten. Ich nenne hier nur den ägyptischen Osiris, den sumerischen Dumuzi, den babylonischen Tammuz und den phönizischen BaalAdonis, dessen Kult die Griechen schon früh übernahmen. Charakteristisch für diese Götter ist, dass sie alle auf tragische Weise an der Grenze zwischen Jugend und Erwachsenenalter ums Leben kamen. Die Frauen und Mädchen trauerten um sie während der Erntefeste mit rituellen Kla12 | Vgl. Verf.: »Der kannibalische Hirte. Ein Topos der antiken Ethnographie in kulturanthropologischer Deutung«, in: Annette Keck/Inka Kording/Anja Prochaska (Hg.), Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999, S. 221-242, hier S. 229f. 13 | Vgl. ebd., S. 230-239; ders., »Heiliges Fleisch und sozialer Leib«, a.a.O., S. 56-64.

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72 | Gerhard Baudy gen. In Ägypten verkörperte die erste geerntete Getreidegarbe den getöteten Urkönig Osiris. Wie Isis, als sie das Getreide fand und zu den Menschen brachte, um ihren Brudergatten Osiris geweint hatte, bekundeten die Ägypterinnen jährlich vor der ersten Garbe Trauer um den verstorbenen Gott (Diod. 1.14.2). Entsprechend wurde die herbstliche Getreidesaat als Bestatten der zerrissenen Osirisleiche im Niltal inszeniert. Der Christ Firmicus Maternus macht sich über die ägyptischen Bräuche lustig, weil Trauer um Getreide ja völlig sinnlos sei.14 Damit mag er recht haben, doch er übersieht geflissentlich, dass das Getreide ein Bedeutungsträger war. Sinn macht ein solches Trauerritual nur unter der Voraussetzung, dass der Korngott Osiris reale Jugendliche repräsentierte, die im Rahmen der Erntefeste imaginär starben. Durch die stellvertretende Klage um Osiris agierten die Mütter und Schwestern der Initianden ihren Schmerz um die erwachsen werdenden Söhne und Brüder, von denen sie nun Abschied nehmen mussten, öffentlich aus, als befänden die das Elternhaus Verlassenden sich nicht mehr unter den Lebenden. Die zielverschobene, kultisch geforderte Trauer hatte eine psychohygienische, kathartische Funktion. Gemeinsam um eine göttliche Sohn- und Bruderattrappe klagend, erlebten die Frauen und Mädchen, dass sie mit ihrem Kummer nicht alleine dastanden. Und hatte der seelische Leidensdruck sich erst einmal in festgeschriebenen zeremoniellen Bahnen Ausdruck verschafft, fiel es leichter, sich über den Statuswechsel der Söhne und Brüder in erwünschter Weise zu freuen. Solcher Auflösung von Ambivalenzkonflikten dienten alle Initiationsriten. Mit Osiris wurde in der Antike der phönizische Adonis gleichgesetzt, dem Mythos nach ein jugendlicher Hirte, der auf einer Eberjagd ums Leben gekommen war. Auch um ihn klagten die Frauen und Mädchen am Ende der Erntesaison, beim Frühaufgang des Sirius. Um diese Zeit ent14 | De err. prof. rel. 2-3. Firmicus’ Kritik wirkt wie eine spätantike Vorwegnahme der gegen das Vegetationsgott-Paradigma im letzten Jahrhundert erhobenen Einwände. Während klassische Altertumskundler sich von diesem in der Tat unzulänglichen, vor allem von Wilhelm Mannhardt und James G. Frazer repräsentierten Interpretationsmodell oft gänzlich abgekehrt haben (vgl. Verf.: »Antike Religion in anthropologischer Deutung. Wandlungen des altertumskundlichen Kult- und Mythosverständnisses im 20. Jahrhundert«, in: Ernst-Richard Schwinge (Hg.), Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends n. Chr., Stuttgart/Leipzig: Teubner 1995, S. 241-258), wird es in der Orientalistik bis heute unbefangen weiterverwendet. Mein eigener Vermittlungsvorschlag möchte die betreffenden Götter im Rahmen einer religionssoziologischen Initiationstheorie unter Einbeziehung ihrer m.E. zu Unrecht geleugneten agrarischen Aspekte neu deutbar machen. Vgl. Verf.: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur Klassischen Philologie 176), Frankfurt a.M.: Anton Hain 1986; »Der Heros in der Kiste. Der Erichthoniosmythos als Aition athenischer Erntefeste«, in: A&A 38 (1992), S. 1-47.

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hüllten sie Gefäße mit keimendem Samen und stellten sie in die pralle Sonne. Das waren Versuchsbeete, welche die in Getreide verwandelte Leiche des Hirten Adonis darstellten und seine künftige Auferstehung im Ackerland verhießen. Am Erntefest selbst aber symbolisierte das rasche Verwelken der Keimlinge den vorzeitigen Tod des Hirtenjünglings. Das Brauchtum dieser sogenannten Adonisgärten – ihr ägyptisches Gegenstück waren die »Osirisbetten« – diente der Saatgutselektion. Nach jeder Ernte musste ja darüber entschieden werden, welche Körner man als Saatgut reservieren und welche man für den Konsum freigeben sollte. Aus der Geschwindigkeit, mit der die Keime in den Experimentalbeeten verwelkten, suchte man zu ermitteln, welche Samen besonders vital waren und sich für Saatzwecke folglich am besten eigneten. Der Korngott Adonis spaltete sich damit auf, einerseits in das Saatgut und andererseits in die zu Brot verarbeitete Getreidenahrung. So lebte er jährlich teils auf den Feldern, teils in den Menschen fort, die ihn aßen. In der Sicht des Mythos hatte erst die urzeitliche Metamorphose des Hirtenjünglings in die Getreidepflanze es Nomaden ermöglicht, zu Bauern zu werden. Und dieses kulturstiftende Ereignis wiederholte sich im bäuerlichen Kalender seitdem jedes Jahr, wenn jugendliche Hirten im Rahmen des Erntefestes eines fiktiven Todes starben und dadurch die Lizenz zur Heirat und Feldbestellung erhielten. Der tote Adonis stand für das Hirtenleben, das nun endete, der in Getreide verwandelte Gott hingegen wies die Initianden in die Welt des Ackerbaus ein.15 Diesem antiken Gottestypus haben die Christen ihren osiris- bzw. tammuzartigen Gottessohn angeglichen.16 Als monotheistische Religion verfügte das Judentum nicht über die Möglichkeit, für Initiationsfeste ein eigenes göttliches Paradigma zu entwickeln. Unter den Bedingungen eines polytheistischen Kults wären Figuren wie Isaak, Joseph, Moses oder Josua durch einen gleichartigen Sohngott ergänzt oder dazu aufgewertet worden. Wie aber konnte dann überhaupt durch den christlichen Sohngottmythos ein Element des heidnischen Polytheismus in die jüdische Religion eindringen? Eine Handhabe dazu bot ein alttestamentliches Sprachspiel: Der davidische König hieß »Sohn Gottes« (Ps 2.7). Dazu wurde er durch einen Akt der Adoption. Ebenso stellt das älteste Evangelium des Markus die Sohngottschaft Jesu dar. Gott adoptiert ihn bei seiner Jordantaufe (Mk 1.911). In den drei anderen Evangelien aber wird aus der metaphorischen Kindschaft eine reale: Dem göttlichen Vater tritt ein ebenso göttlicher Sohn an die Seite. Damit wurde Jesus zu einer ebenbürtigen Konkurrenzfigur paganer Sohngottheiten, die auf den Getreidefeldern starben und aufer15 | Vgl. Verf.: Adonisgärten, a.a.O., S. 9-48; »Der Heros in der Kiste«, a.a.O., S. 31-47. 16 | Zur paradigmatischen Funktion des Tammuz/Adonis für das frühe Christentum vgl. Verf.: »Das Evangelium des Thamus«, a.a.O., S. 36-48.

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74 | Gerhard Baudy standen, und konnte deren Kulte usurpieren. Das komplementäre Weinsakrament erlaubte eine analoge Überschreibung des Dionysoskults. Die agrarischen Feste der Antike vermittelten durch solche Personifikationen des Getreides den Jugendlichen eine wichtige Botschaft. Sie sollten in der Kulturpflanze einen Bruder sehen, auf den sie auf Gedeih und Verderb angewiesen waren und der deswegen Respekt verdiente. Deswegen galten mythische Kulturbringer als gemeinsame Ahnen des Getreides und der bäuerlichen Menschheit. In der Tat stehen das Leben der Getreidepflanze und das Leben des Bauern in einem symbiotischen Verhältnis wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins.17 Der kultivierte Grassamen bedarf der dauernden menschlichen Fürsorge, um nicht zu verwildern und zu degenerieren, umgekehrt führte der Verlust der Getreidenahrung durch Missernten zu einem Zusammenbruch aller Zivilisation. Nach dem griechischen Mythos wäre das ein Rückfall in die grauenhafte nomadische Vorzeit, als kein Tabu verhinderte, Artgenossen wie Beutetiere zu erlegen und aufzuessen.18 In der subjektzentristischen Sicht der antiken Bauernkultur gelangte der Mensch nur durch Essen von Brot zu sich selbst. Im Mythos von Eleusis gab erst die Brotfrucht den erdgeborenen Urbewohnern Attikas die Kraft, ihren Vorderkörper von der Erde zu erheben.19 Danach verdankt der Mensch seinen aufrechten Gang der Getreidenahrung. Im Bewusstsein der Antike manifestierte sich die Analogie zwischen Mensch und Getreidepflanze in einer Vielzahl gegenseitiger Übertragungen: Wie das Getreide galt der Mensch als Kind der Erdmutter; pflanzengleich ihrem Schoß entsprungen, lernte er nach ihrem Vorbild, sowohl Kinder zu zeugen und zu gebären als auch pflanzliche Nahrung mit dem Pflug zu produzieren.20 Das griechische Wort für den Getreidesamen, Sperma, diente zugleich als Metapher für den männlichen Samen. Der Pflug galt als künstlicher Phallos, das männliche Genital umgekehrt als Pflug. Im athenischen Hochzeitsritus übergab der Brautvater dem Schwiegersohn seine Tochter formelhaft »zur Erpflügung legitimer Kinder«. Der Schoß der Jungfrau war das Analogon des jungfräulichen Landes, das durch den Pflug urbar gemacht und kultiviert wurde.21 Same hieß auch 17 | Diese religiös stabilisierte Symbiose behandelt auf breiterer Basis Heinrich Eduard Jacob: Sechstausend Jahre Brot, Hamburg: Rowohlt 1954. 18 | Im arkadischen Mythos droht die erzürnte Getreidegöttin Demeter, durch Vorenthalten der Feldfrucht eine solche Regression zu bewirken (Paus. 8.42.6). 19 | Vgl. Verf.: »Cereal Diet and the Origins of Man. Myths of the Eleusinia in the Context of Ancient Mediterranean Harvest Festivals«, in: John Wilkins/David Harvey/Mike Dobson (Hg.), Food in Antiquity, Exeter: University of Exeter Press 1995, S. 177-195, hier S. 179 mit Anm. 16. 20 | Plat. Menex. 238a. Vgl. Verf.: »Der Heros in der Kiste«, a.a.O., S. 45-47. 21 | Die klassische Dokumentation für den Bereich der griechischen Antike

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das neugeborene Kind. Man legte es wie geerntetes Getreide in eine zum Reinigen der Körner benutzte Schwinge, die Urform der Kinderwiege.22 Doch auch das Heranreifen des Kindes parallelisierte man erneut mit dem Wachsen der Getreidepflanze. Wenn Jünglinge das Erwachsenenalter erreichten und sich in einem zeremoniellen Rahmen ihr langes Haupthaar und die Barthaare abschnitten, wurden diese als Erstlingsfrüchte (aparchai) bezeichnet und wie Getreideähren dem Initiationsgott Apollon geweiht – auch er ein mythischer Hirtenjüngling, der als Wegbereiter in die Welt des Ackerbaus galt. Ihm schickte man deswegen die ersten Erträge der Ernte nach Delphi.23 Apollons Zwillingsschwester Artemis war Empfängerin gleichartiger Gaben. In der achaiischen Stadt Patrai pilgerten Jugendliche beider Geschlechter, Ährenkränze auf den Köpfen tragend, in einer Prozession zum außerstädtischen Heiligtum der Artemis Triklaria und deponierten die Kränze beim dortigen Kultbild der Göttin. Die der Initiationsgöttin geweihten Ähren der neuen Ernte signalisierten, dass die Jugendlichen selbst nun die soziale Reife erlangt hatten.24

bildet immer noch Albrecht Dieterich: Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, 3. erweiterte Auflage, Leipzig/Berlin: Teubner 1925 (Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967). 22 | Vgl. Wilhelm Mannhardt: »Kind und Korn«, in: ders., Mythologische Forschungen, Straßburg: Trübner 1884, S. 351-374. 23 | Die nach Delphi geschickte athenische Festgesandtschaft (Pythais) vollzog die Entwilderung des Landes durch den delphischen Apollon rituell nach (Aischyl. Eum. 12-14; Ephoros, FGrHist 70 F 31). Mythischer Prototyp der athenischen Epheben war der jugendliche Theseus, der Apollon in Delphi sein abgeschnittenes Haar geweiht hatte (Plut. Thes. 5). Italische Kolonisten sandten goldene Ähren als Weihgaben nach Delphi (Strab. 6.1.15 [264]; Plut. de Pyth. orac. 16 [mor. 402a]). Im delischen Apollonkult wurden die zur Insel gebrachten Erstlingsfrüchte des Getreides als Gaben der Hyperboreer ausgegeben (Hdt. 4.33; Kall. hymn. in Del. 283-299; Paus. 1.31.2; Porphyr. de abst. 2.19). Den mythischen Hyperboreerinnen und Hyperboreern opferten die Mädchen und Jünglinge ihr mit dem geernteten Getreide assoziiertes Haupthaar (Hdt. 4.34; Kall. hymn. in Del. 296-299), letztere auch »die erste Ernte der Barthaare« (Kall. hymn. in Del. 298f.). Zu dieser agrarischen Metaphorik vgl. J.W. Fitton, »The ο9λος/;ουλος Song«, in: Glotta 53 (1975), S. 222-238. 24 | Paus. 7.20.1-2 mit dem Referenzmythos 7.19. Vgl. Verf.: »Ackerbau und Initiation. Der Kult der Artemis Triklaria und des Dionysos Aisymnetes in Patrai«, in: Fritz Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale. Festschrift für Walter Burkert zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1998, S. 143-167.

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V. Doch ungeachtet der Wertschätzung, die dem Getreide als Grundnahrungsmittel zuteil wurde, empfanden die Völker der Antike den Zwang, den agrarischen Zyklus Jahr für Jahr unter vielen Mühen aufrechtzuerhalten, als einen über sie verhängten zivilisatorischen Fluch. Regressive Visionen von einem urzeitlichen Paradies, in dem niemand für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten brauchte, bezeugen, mit Sigmund Freud zu sprechen, ein fundamentales Unbehagen an der Kultur. Den Leidensdruck, den der zu äußerster Arbeitsdisziplin nötigende Ackerbau schuf, drücken mesopotamische Mythen unverhohlen aus: Die Götter schufen die Menschen nach ihrem Bild, damit diese fortan an ihrer Stelle landwirtschaftlich arbeiteten. Sie sollten die zur Feldbestellung nötigen Bewässerungskanäle ausheben, die Erde in Tragkörben wegschaffen und das Ackerland pflügen.25 Als die Götter also begreiflicherweise irgendwann keine Lust mehr verspürten, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen, kamen sie auf den glänzenden Einfall, zu ihrer eigenen Entlastung künstliche Kopien ihrer selbst anzufertigen und diese als Arbeitskräfte zu engagieren. So entstand die Hierarchie von Göttern und Menschen als mythische Präfiguration der antiken Klassengesellschaft. Die seligen Götter, die nicht zu arbeiten brauchen, sind dem orientalischen König und seinem Hof, wohin die agrarischen Überschüsse in Form von Erntesteuern abflossen, die sich plagenden Menschen der bäuerlichen Bevölkerung nachgestaltet. Entsprechend steht am Ende des biblischen Urzeitmythos die Vertreibung aus dem Paradies, welche das menschliche Urelternpaar zum Dasein einer bäuerlichen Kleinfamilie verurteilt: Die Frau hat fortan die Aufgabe, Kinder zu gebären, der Mann muss schweißtreibende Feldarbeit verrichten, um sich und seine Familie mit Brot ernähren zu können.26 Mythische Konstruktionen dieser Art gehören zum gemeinsamen Traditionsbestand aller antiken Hochkulturen. Ich nenne hier nur ein weiteres, uns allen wohlvertrautes Beispiel aus dem griechischen Raum: In Hesiods bäuerlichem Lehrgedicht Werke und Tage öffnet die bräutlich ge25 | So u.a. in den Mythen Enki und Ninmah, Lugal-e, Atramhasis und Enuma Elisch. Eine Zusammenstellung dieser und anderer mesopotamischen Anthropogonie-Texte bei Giovanni Pettinato: Das altorientalische Menschenbild und die sumerischen und akkadischen Schöpfungsmythen, Heidelberg: Winter 1971, S. 69-107. 26 | Gen 2-4. Der biblische Paradiesmythos lässt sich als Reflex orientalischer Initiationsriten deuten. Vgl. Verf.: »Das verratene Geheimnis. Zur Rolle der Schlange in antiken Initiationsriten und Kulturentstehungsmythen«, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Geheimnis und Neugierde (Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation V, 3), München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S. 137163, hier S. 141-54.

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schmückte Pandora, Urmutter aller Frauen, kaum dass Epimetheus sie leichtfertig zu sich genommen hat, einen großen Tonkrug (Pithos), und streut dessen Inhalt aus (op. 94f.).27 Was sie konkret ausstreut, wird nicht gesagt. Weil sich danach unzählige todbringende Krankheiten und Übel unter den Menschen verbreiten (op. 100-104), nimmt die Forschung in der Regel an, die Übel bildeten den Inhalt des Pithos und würden durch das Abheben des Deckels und den Akt des Ausstreuens freigesetzt.28 Nur die Hoffnung, schreibt Hesiod aber merkwürdigerweise, sei in dem Pithos zurückgeblieben, denn bevor auch sie herausfliegen konnte, habe Pandora das Fass wieder mit dem Deckel verschlossen (96-99). Was hat nun aber – so müssen wir uns fragen – die Hoffnung in der Gesellschaft von lauter Übeln zu suchen? Und warum bleibt sie allein in dem Tonkrug eingesperrt? Eine Antwort darauf gibt eine andere Deutung, die von der Funktion des Pithos als eines bäuerlichen Vorratsbehälters ausgeht: Der mythische Tonkrug enthalte den jährlichen Nahrungsvorrat, den von den Göttern versteckten Bios (op. 42), ein Wort, das Leben und Lebensmittel zugleich bedeutet. Das Ausstreuen des Fassinhalts sei als Metapher für den Konsum der Lebensmittel durch die erste Frau aufzufassen – ein paradigmatisches Ereignis, das sich seitdem jährlich wiederhole und den Mann dazu zwinge, die von der Frau verzehrte Nahrung durch Feldarbeit neu zu erwirtschaften.29 Die im leeren Krug verbleibende Hoffnung wird unter einer solchen Prämisse verständlich als Platzhalter des verlorenen und neuerhofften Erntesegens. Das Leid, das die Menschheit nach dem Öffnen des Fasses heimsucht, wäre dann ein logisches Korrelat des von der Hoffnung periodisch neu in Gang gesetzten landwirtschaftlichen Zyklus, eines

27 | Der mit der Prometheusgeschichte verklammerte Pandoramythos der Werke und Tage (42-105) weist auf Hes. theog. 535-612 zurück, wo Zeus zur Rache für den Feuerdiebstahl des Prometheus die (namenlose) erste Frau erschaffen lässt. 28 | Einen exemplarischen Überblick bietet Immanuel Musäus: Der Pandoramythos bei Hesiod und seine Rezeption bis Erasmus von Rotterdam (Hypomnemata 151), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 15-29. 29 | Diese Deutung hatte Eduard Schwartz: »Prometheus bei Hesiod« (1915), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Berlin: Martin de Gruyter 1956, S. 42-62, hier S. 53-55 nur für eine hypothetische vorhesiodeische Fassung des Mythos vertreten. Auf Hesiods Text selbst angewandt wurde sie von Fritz Krafft: Vergleichende Untersuchungen zu Homer und Hesiod (Hypomnemata 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, S. 108-110, und am ausführlichsten von Heinz Neitzel: »Pandora und das Faß«, in: Hermes 104 (1976), S. 387-419. Der Vorschlag wurde von der Forschung meist abgelehnt oder ignoriert. Neuere Ausnahmen sind Jens Holzhausen: »Das ›Übel der Frauen‹. Zu Hesiods Pandora-Mythos«, in: WJA NF 28b (2004), S. 5-29, hier S. 23-25, und Immanuel Musäus: Der Pandoramythos bei Hesiod, a.a.O., bes. S. 40-56.

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78 | Gerhard Baudy Kreislaufs, der den zu bäuerlichem Dasein prädestinierten Mann zu immerwährender Arbeit verurteilt. Mir scheint nun, dass die einander widerstreitenden Deutungen – so gegensätzlich sie auch wirken – gleichermaßen berechtigt und trotzdem korrekturbedürftig sind. Ihre Vereinbarkeit blieb bisher unerkannt, weil beide Interpretationen die entscheidende Pointe des Mythos verfehlen: Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir das im Fass versteckte und von Pandora verstreute Lebensmittel konkret als Getreide betrachten. Dass Pandora den Inhalt des Pithos zerstreut, fasse ich nicht als metaphorische Bezeichnung des Konsums auf,30 sondern sehe darin – indem ich den Sinn des Verbs eskédase (v. 95) wörtlich nehme – eine archetypische erste Getreidesaat.31 Getreidekörner säend, zeigt die erste Braut Pandora ihrem Gatten und seinen künftigen männlichen Nachkommen ein für allemal, was die Bestimmung des heiratenden Mannes sein wird: Wer eine Familie gründen will, muss ein Feld bestellen, muss pflügen und das gespeicherte Getreide immer wieder neu als Saatgut reinvestieren, in der Hoffnung – aber ohne die Gewissheit –, dass der leere Speicher sich nach der nächsten Ernte wieder füllen wird. Ackerbau und Ehe bilden auch hier ein Junktim; gleichzeitig entstanden, verurteilen sie den Mann dazu, zum agrarischen Produzenten und Kindererzeuger zu werden, Funktionen, die einst die Erdmutter selbsttätig ausgeübt hat. Wie seine orientalischen Analoga, macht dieser Kulturentstehungsmythos die mühselige Feldarbeit zu einer den Menschen definierenden Wesensbestimmung. Sie ist eine von den Göttern geschickte Strafe, das Saatgut eine verhängnisvolle Gabe, welche die Empfänger endgültig aus dem göttergleichen Dasein des goldenen Zeitalters ausgrenzt. Wenn der Krug der Pandora Saatgut enthielt, braucht man auch nicht zu leugnen, dass sich darin Übel befanden. Das Saatgut selbst ist ja die Ursache all der Plagen, unter denen die bäuerliche Menschheit leidet. Unter dieser kulturpessimistischen Perspektive erscheint das Leben schenkende Brot als vergiftete Nahrung, welche die unsterblichen Götter bewusst den »Weizen essenden Sterblichen«, wie das homerische Epos die Menschen formelhaft nennt,32 vorbehalten haben. Deren Todesverfallenheit begründen die altmediterranen Metamorphosemythen, indem sie das Getreide aus der Leiche eines getöteten Hirtenjünglings hervorgehen lassen, auf eine noch drastischere Weise: Schon durch 30 | Schon gar nicht lässt das Zerstreuen sich im Sinne des Verteilens von Nahrung an die Familienmitglieder verstehen, wie Jens Holzhausen: »Pandora und Basileia. Hesiod-Rezeption in Aristophanes’ ›Vögeln‹«, in: Philologus 146 (2002), S. 34-45, hier S. 40, Anm. 40, annimmt. 31 | Vgl. bereits Verf.: »Metaphorik der Erfüllung. Nahrung als Hintergrundsmodell in der griechischen Ethik bis Epikur«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 25 (1982), S. 7-68, hier S. 62. 32 | Od. 8.222; 9.89; 10.101.

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die Art und Weise ihrer Entstehung trägt die cerealische Nahrung die Keime des Todes in sich.

VI. Fragen wir uns zum Schluss, warum alle Völker, die Pflanzen anbauen, ähnliche Metamorphosemythen kennen. Der Ethnologe Adolf E. Jensen hat im zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts aus diesem Befund naheliegenderweise gefolgert, der betreffende Mythentypus gehe letztlich auf die Zeit der »neolithischen Revolution« zurück, habe sich also bereits zusammen mit der Institution des Pflanzenanbaus entwickelt. Für Jensen konservieren solche Erzählungen das Weltbild der frühen Pflanzer.33 Eine vernünftige Erklärung dafür hatte Jensen freilich nicht anzubieten (problematisch ist zudem seine Theorie, die neolithische Revolution habe sich in der tropischen Hackbau-Region vollzogen).34 Seine feste Überzeugung, dem Mythos sei stets die zeitliche Priorität vor dem Kult zuzuerkennen, hinderte ihn daran, ihn aus rituellem Handeln abzuleiten.

33 | So in Zusammenfassung und Abrundung seiner früheren Forschungsbeiträge Adolf E. Jensen: Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer 1966. 34 | Der Akzeptanz von Jensens Theorie war es abträglich, dass er das sogenannte »Hainuwele-Mythologem«, die Vorstellung, die angebauten Pflanzen seien aus dem zerstückelten Leib einer mythischen Figur entstanden, ausschließlich für die Pflanzerkultur reservierte, obwohl die indonesische Reisanbau-Kultur den gleichen kultisch determinierten Mythentyp besitzt. Dokumentiert schon bei Ernst Vatter: Ata Kiwan. Unbekannte Bergvölker im tropischen Holland, Leipzig: Bibliogr. Inst. 1932, S. 99-113; vgl. ferner Paul Wirz: »Der Reisbau und die Reisbaukulte auf Bali und Lombok«, in: Tijdschrift vor Indische Taal-, Land- en Volkenkunde 67 (1927), S. 217-346 und Gera van der Weijden: Indonesische Reisrituale (Basler Beiträge zur Ethnologie 20), Basel 1981. Kritik an Jensen: Karl-Heinz Kohl: »›Vom Mythos ergriffen…‹. Dema-Gottheiten nach Adolf E. Jensen«, in: ders. (Hg.), Mythen im Kontext. Ethnologische Perspektiven, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1992, S. 107-128, hier S. 114-116. Jensen hätte ferner besser darauf verzichtet, den Umstand, dass schon Stämme der Jäger- und Sammlerstufe analoge Mythen kennen, die wildwachsende Nutzpflanzen betreffen (vgl. vor allem Otto Zerries: »Die kulturgeschichtliche Bedeutung einiger Mythen aus Südamerika über den Ursprung der Pflanzen«, in: Zeitschrift für Ethnologie 77 [1952], S. 62-82), mit einer sekundären Beeinflussung durch benachbarte Pflanzervölker zu erklären. Diese Schwachstelle seiner Theorie machte Kritikern Jensens leichtes Spiel. Vgl. Carl A. Schmitz: »Die Problematik der Mythologeme ›Hainuwele‹ und ›Prometheus‹«, in: Anthropos 55 (1960), S. 215-238, hier S. 233f.; Kohl, a.a.O., S. 115.

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80 | Gerhard Baudy Doch ist eine solche Reduktion nicht möglich? Spiegeln die vielen Geschichten über die Entstehung der Kulturpflanzen aus der Leiche eines mythischen Kulturbringers nicht eine fundamentale soziale Erfahrung, welche die »neolithische Revolution« überhaupt erst in Gang gesetzt hat? Bis heute rätselt man daran herum, wie die Wildbeuter eigentlich dazu gekommen sind, Pflanzen nicht nur zu sammeln, sondern zu kultivieren. Dafür aber bietet, wie ich meine, der Totenkult die einfachste Erklärung: Die Völker der Antike pflegten ihre verstorbenen Gruppenmitglieder mit Nahrung zu versorgen. Im Gebiet des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds, wo heute noch die wilden Vorformen unserer Getreidepflanzen wachsen, dürften die Toten demnach Anteile an den jährlich gesammelten Grassamen erhalten haben. Wenn sich die auf ihre Gräber gestreuten Samen dann aber im nächsten Jahr zu Ähren vervielfachten, schienen in ihnen die Toten geradezu selbst aus der Unterwelt zurückzukehren und durch ihre Verwandlung ins Getreide nun ihrerseits die Lebenden mit neuer Nahrung zu beschenken. Durch gezielte Wiederholung dieses Gabentausches, was die Tabuierung eines Teils des Erntesegens, um ihn dem Konsum zu entziehen, und seine Speicherung bis zur nächsten Aussaat erzwang, konstituierte sich der Mechanismus von Aussaat und Ernte.35 Infolgedessen konnten sich die Gräber allmählich zu Feldern ausdehnen. Auch für diesen Prozess liefert der Mythos eine narrative Begründung: Für die Ägypter war das gesamte Niltal Grab des Osiris. Dazu wurde es aber dadurch, dass die Osirisleiche durch Zerstückelung vervielfacht und seine Glieder in all den Regionen bestattet wurden, wo seitdem Getreide wuchs.36 Damit will ich natürlich nicht zur euhemeristischen Mythendeutung zurückkehren, auch wenn ich sie in gewisser Weise zu rehabilitieren scheine. Ich behaupte keineswegs, Korngötter wie Osiris, Tammuz oder Adonis hätten jemals gelebt. Gleichwohl können wir aus ihren kultisch tradierten Mythen vielleicht herauslesen, wie der Ackerbau, eine der wichtigsten Innovationen der Menschheitsgeschichte, entstanden ist. Vertrauen wir dem Zeugniswert der rituell gelenkten Phantasien und versuchen, sie auf einen gemeinsamen Archetypus zurückzuführen, so drängt sich der Schluss förmlich auf: Das erste Beet, das erste Feld war ein Grab. Folgt man dieser These, so hätte eine regelmäßig wiederholte Aussaat ausgewählter Grassamen, die jeweils auf Gräbern geerntet wurden, die Kulti35 | Als Ritualisierung dieser Austauschbeziehung lässt sich etwa der athenische Brauch verstehen, auf das frische Grab des Toten Samen zu streuen, ut sinus et gremium quasi matris mortuo tribueretur, solum autem frugibus expiatum ut vivis redderetur (Cic. de leg. 2.63). 36 | Im Mythos zerstückelt Typhon (Seth) die Leiche des Osiris und zerstreut seine Glieder: Plut. de Is. 8 u. 18 (mor. 54 A; 358 A). Andere Version bei Diod. 1.21.2-9. Auch Jensen: Die getötete Gottheit, a.a.O., S. 97, sah in Osiris ein Analogon der ceramesischen Hainuwele.

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vierung des Getreides eingeleitet. Der Anspruch eines hochrangigen Toten auf beste Versorgung vermochte nämlich nicht nur den agrarischen Zyklus zu stabilisieren, sondern auch eine stetige Optimierung der Erträge durch gezielte Saatgutselektion zu bewirken.37 Und weil die zu Bauern werdenden Jäger und Sammler die Körner, die sie an den Erntefesten aßen, als verwandelten Leib eines toten Ahnen behandelten, machten sie aus der Nahrungsaufnahme einen Akt sakramentaler Einverleibung. Das hatte die beschriebenen Folgen: Mensch und Getreidepflanze tauschten ihre Identität in einem Prozess wechselseitiger Metaphernbildung aus. Als sich die Institution des Ackerbaus vom Vorderen Orient aus in der Welt verbreitete, wanderten seine kultischen Rahmenvorgaben und Mythen mit. Überall, wo neue Getreidefelder angelegt wurden, entstanden daher isomorphe Filialkulte imaginärer Toter, die einer rituellen Suggestion zufolge in den Feldfrüchten weiterlebten und den bäuerlichen Menschen durch den Nahrungssegen, den sie vermittelten, einerseits Leben spendeten und ihnen andererseits das Leben schwer machten, da das Geschenk des Getreides sie zu nie endender harter Arbeit verurteilte. Ja, sogar die Notwendigkeit des Todes schien sich unter einer solchen Perspektive dem Umstand zu verdanken, dass die Bauern in Gestalt des Brotes einen verstorbenen Kulturbringer verspeisten. In der Sicht des Mythos fungierte das vergottete, vom Hunger erlösende Brot daher gewissermaßen als eine Art Infektionsträger, weil es diejenigen, die es aßen, zum Sterben verurteilte und aus der urzeitlichen Gemeinschaft mit den unsterblichen Göttern auf immer verbannte.

37 | Diese Hypothese löst ein von Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, 3. verbesserte Auflage, Frankfurt a.M.: Athenaion 1975, S. 192, formuliertes Problem. Wie Gehlen mit Recht bemerkt, kann der Verzicht auf den Verzehr der gesamten Ernte nur durch die »Kraft eines Tabu« geleistet worden sein; es sei aber »schwer vorstellbar, in welchem kultischen Zusammenhang das geschehen sein soll«. – Ebenso schwindet das Dilemma, unter dem Jensens Theorie zu leiden hat, dass nämlich Mythen über Entstehung von Nutzpflanzen aus der Leiche von Verstorbenen schon für Jäger- und Sammler belegt sind; denn meine Theorie setzt ja geradezu voraus, dass Fürsorgehandlungen gegenüber Toten, wozu das Geschenk eingesammelter Vegetabilien gehörte, solche Metamorphosevorstellungen bereits erzeugten, bevor Pflanzen überhaupt kultiviert wurden. Ihr Anbau war eine von derartigen Ideen begünstigte, aber natürlich keineswegs notwendige Folge.

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Platons politische Philosophie des Fleischesseropfers Iris Därmann

Bekanntlich hat Aristoteles die Angelegenheiten der Küche und des bloßen Lebens in den oikos verbannt. Die politische Sphäre bleibt dagegen unter Ausschluß aller Sklaven, Frauen und Kinder dem glücklichen Leben und der Moralisierung der freien, gleichen und männlichen Bürger vorbehalten. Eine derart strikte Trennung zwischen oikos und Polis sucht man bei Platon vergeblich. In den einschlägigen Dialogen – Politeia, Politikos, Gorgias und Nomoi – trifft man vielmehr auf eine eigenartige Vermischung der politischen und alimentären Bereiche, die die Frage nach Platons Politik der Küche, Syssitien und Tischordnung wachruft. Im Politikos ist es, wie so oft, ein Fremder, der das Risiko auf sich nimmt, die Grundzüge eines neuen pastoralen Typus von politischer Herrschaft zu entwickeln. Der Versuch, den Staatsmann als eine Art Hirten zu definieren, der für das leibliche Wohl seiner menschlichen Herde Sorge trägt, läßt diesen mit einer ganzen Reihe anderer Menschenhüter, darunter den Koch und den Sklaven, konkurrieren.1 Mit Hilfe seines dihairetischen Teilungs- und Aussonderungsverfahrens sucht Platon die politi1 | Für Foucault bezeichnet die Entwicklung der christlichen »›Pastoraltechnologien‹ zur Menschenführung« einen radikalen Bruch mit den Strukturen der antiken Gesellschaft und politischen Philosophie. Doch taucht die vor allem von hebräischer Seite ausgearbeitete Idee des Herrschers als Hirte erstaunlicherweise bereits im Dialog Politikos auf, die von einem Fremden vorgestellt wird, der damit in personae deren Herkunft aus orientalischen Quellen – man denke an den Pharao als ägyptischen Hirten – unterstreichen kann. Michel Foucault: »Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft«, übersetzt von Claus-Dieter Rath, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 65-93, hier S. 70ff.

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88 | Iris Därmann schen Ansprüche aller übrigen Speisebereiter als ungerechtfertigt abzuweisen, um die exklusive Position des politischen Hirten nicht zuletzt auch in alimentärer Hinsicht zu zementieren. Im Scheitern dieses Vorhabens wendet sich das Blatt. Kommt es nunmehr darauf an, zu zeigen, aus welchem Grund der Politiker gerade nicht der Hirte einer Herde sein kann, sondern vielmehr einer Menschen verbindenden Kunst nachgeht, so ist die politische Sphäre mit dieser Neudefinition des Politikers als Einheitsstifter jedoch keineswegs vom Alimentären befreit. Im Gegenteil macht in der Politeia die funktionelle Zerlegung der Gesellschaft in Gleiche und Ungleiche und ihre arbeitsteilige Aufspaltung in eine Handwerker-, Wächter- und Herrscherklasse den Rückgriff auf gemeinsame Lebensformen erforderlich, um der spezifisch politischen Aufgabe, nämlich die der Zusammenführung der Vielen zu einem konfliktfreien Ganzen, gerecht zu werden. Die philosophische Staatsgründung geht mit einer immensen Politisierung des bloßen Lebens einher, die Platon ein ausgefeiltes sittlich-orthophädisch-diätetisches Programm gemeinsamer Lebensführung und Leiblichkeit entwickeln läßt.2 So bedeutet die Kritik an den gängigen Opfermahlzeiten nicht etwa, daß Platon in politischer Hinsicht auf die gemeinschaftsstiftende Funktion des Fleischessens überhaupt verzichtete. Neben der Institution der Kinder-, Frauen- und Gütergemeinschaft soll die gemeinsame, aber profane Fleischmahlzeit die Klasse der Wächter und Herrschenden vielmehr in leibliche Übereinstimmung und affektiven Gleichklang bringen. In Anlehnung an dorische und spartanische Gepflogenheiten schwebt ihm eine kriegstaugliche Feldküche vor, deren Anspruchslosigkeit im auffälligen Kontrast zur Ernährungsweise der üppigen Stadt einerseits und zur demokratischen Verfassung andererseits steht. Die opulente Küche trägt das Stigma eines ethischen Verfalls, bei dem der begehrliche Seelenteil die unzulässige interne Herrschaft über Vernunft und Tatkraft übernommen hat. 2 | Jaegers einschlägige, aber beileibe nicht unproblematische Untersuchung sieht in der Konstruktion des besten Staates nur einen Umweg zur Beantwortung der Frage nach der besten Bildung. Da aber »alle Erziehung nach Plato […] eine Funktion der Gemeinschaft [ist], gleichgültig, ob sie durch den Staat geregelt wird oder ›frei‹ ist«, meint Erziehung bei Plato stets, wie Jaeger freilich selbst anführt, »politische Erziehung«; Werner Jaeger: Paideai, Bd. II, Berlin: de Gruyter 1944, S. 312, S. 350, S. 358. In diesem Sinne auch Ada Babette Hentschke: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1971, S. 116: »Der ganze Staat ist der Bildung der Seelen gewidmet.« Bildung heißt aber nicht in erster Linie, die Aneignung von Wissen oder Fähigkeiten, sondern die Ausbildung und Formung eines sittlich angemessenen Charakters. Diesem Gedanken erstmals eine systematische Gestalt gegeben zu haben, ist für Julia Anna (An Introduction to Plato’s Republic, Oxford: Clarendon Press 1981, S. 86) ein, wenn nicht das entscheidende Verdienst Platons.

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Die Parallelisierung von Seelen- und Staatsverfassung läßt für Platon nur den Schluß zu, daß derjenige, welcher hinsichtlich »der Freuden des Trankes, der Liebe und des Mahles« zu keiner Selbstbeherrschung fähig ist, sich auch in politischer Hinsicht als untauglich erweist, sich beherrschen zu lassen und Gehorsam zu leisten (Politeia 389e). Die steten Verführungen der Küche machten es selbst den von Natur zur Herrschaft Berufenen schwer, das je Ihre zu tun, nämlich innere Herrschaft über sich selbst und äußere Herrschaft über andere auszuüben. Es ist diese unterstellte direkte Wirkung der Küche auf die Seelenverfassung, die die Mahlzeit und die Kochkunst zu einem Politikum ersten Ranges macht und Platon eine alimentäre Politik der Einfachheit und Mäßigung verfechten läßt. Im Dialog Gorgias hat diese Politik der sophrosyne eine Degradierung der Kochkunst als einer technê ohne Wissen zur Folge, die, als bloße Schmeichelkunst für den Leib, der Rhetorik entspricht, welche eine vergleichbare Wirkung auf die Seele hat. Platon reagiert damit auf den wissenschaftlichen Anspruch vieler griechischer Köche,3 die sich seit Anfang des 5. Jahrhunderts nicht nur praktisch durch die Kultivierung ihrer Kunst, sondern auch theore3 | Im Dialog Gorgias findet Platons systematische Abrechnung mit der zeitgenössischen Kochkunst statt. Damit steht Platon freilich nicht allein. Wie schon Jacob Burckhardt bemerkt hat (»Über die Kochkunst der spätern Griechen« [7. November 1876], in: ders., Vorträge 1844-1887, 3. Auflage, Basel: Benno Schwabe & Co. Verlag 1919, S. 103-115, hier S. 111ff.), hatte sich vor allem die mittlere und neuere attische Komödie der Figur des freien Mietkoches angenommen und deren wissenschaftliche und poetische Prätentionen zur Zielscheibe ihres Spottes gemacht. Zeitgleich mit dem Einströmen von orientalischem Tafelluxus, fremdartigen Speisen, neuen Gewürzen und Obstarten aus dem Morgenland kam in Athen gegen Ende des 5. Jahrhunderts das neue Gewerbe der Köche und Kuchenbäcker auf, das sich vom oikos gelöst hatte. Neben dem Bäcker Thearion wird im Gorgias noch der Koch Mithaikos namentlich genannt (518b), der als der älteste, aus dem griechischen Westen stammende Verfasser eines Werkes über die sizilische Kochkunst gilt. Wenn für Platon Mithaikos als Prototyp jenes neuen Berufstandes und Repräsentant einer verschwenderischen Küche gilt, so ist es ihm vornehmlich darum zu tun, die wissenschaftlichen Ansprüche der Köche in ihre Schranken zu weisen und eine scharfe Grenze zwischen dem medizinisch-diätetischem Ernährungswissen und der rein praktischen, auf bloßer Erfahrung basierenden Tätigkeit der Köche zu errichten: Da sich die Kochkunst nicht im Besitz wahrer Erkenntnis über ihren Gegenstand befindet und keine Rechenschaft über das, was sie tut, ablegen kann, hat sie jedes Anrecht darauf verwirkt, als Kunst gelten zu dürfen. Was im Politikos nicht recht gelingen wollte, nämlich die philosophische Politik als eine Politik des bloßen und des guten Lebens zugleich zu bestimmen und deren exklusive Position im Feld der pastoralen Künste zu zementieren, das erreicht der Dialog Gorgias mit einer neuen Definition der Künste, denen Platon als notwendige Bedingung des Wissens das logon didonai abverlangt.

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90 | Iris Därmann tisch, durch gastrosophische, ernährungswissenschaftliche und diätetische Lehrbücher und eine umfangreiche Literatur von deipna hervorgetan haben, von denen sich noch Bruchstücke in den Deipnosophistai des Athenaios erhalten haben.4 Die Wichtigkeit, die den Genüssen des Gaumens, mindestens in den größeren Häusern, nunmehr zugemessen wird, zeugt von einer Veränderung der bis dahin eher mageren attischen Küche durch Tafelluxus und Raffinement, die aus platonischer Sicht die hierarchische Eintracht der Seelen- und Staatsverfassung bedrohen. Platon hat die Politik an den oikos verraten und an die Stelle der Teilnahme aller an den Angelegenheiten des Staates eine exklusive Herrscher- und Wächterklasse treten lassen. Die Politeia handelt in der Tat von vielem – von der natürlichen Ungleichheit, der Polizei, dem demographischen Reglement, der Überwachung der Märchenerzählungen usw., nur eben nicht von der Politik5 und schon gar nicht von einer demokratischen Politik und einem für alle gleichen Gesetz. Doch trotz seiner prekären »Archi-Politik« als der »vollständigen Verwirklichung der Physis im Nomos«,6 hinterläßt Platon die Frage nach der politischen Bedeutung gemeinsamer kultureller Praktiken und der Institution der Tischgemeinschaft. Anders und gegenwartsbezogener gesagt, erschöpft sich die Politik nicht in der Sphäre von Recht und Gesetz und der Meisterung gemeinsamer Aufgaben und Gefahren, sondern ereignet sich diesseits von politischer Herrschaft als instabile Erfahrung gemeinsamer Möglichkeiten und Lebensformen, die der Politik gegenüber ko-substantiell sind.

4 | Zum szenischen Apparat, zur dialogischen Form, den literarischen Einflüssen und zur Textgeschichte der Deipnosophistai siehe Karl Mengis: Die schriftstellerische Technik im Sophistenmahl des Athenaios, Reprint der Ausgabe Paderborn 1920, New York: Johnson. Mengis (ebd., S. 65ff.) stellt heraus, daß die sympotischen Gebräuche, das Auftragen der unterschiedlichen Speisen und die Speisenfolge für die Dialogteilnehmer stets Anlaß und Gelegenheit bieten für Hinweise auf umfangreiche literarische Belege, grammatische Erörterungen und medizinische Exkurse. Diese Technik der Strukturierung des Gesprächs lasse freilich die Speisen selbst und die Tatsache der gemeinsamen Mahlzeit in der Szenerie des Dialogs in den Hintergrund rücken. 5 | In diesem Sinne auch Wolfgang Kersting: Platons ›Staat‹, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 180 und Robert Spaemann: »Die Philosophenkönige (Buch V 473 b. VI 504a)«, in: Ottfried Höffe (Hg.), Platon. Politeia, Berlin: Akademie Verlag 2005, S. 161-177, hier S. 168. 6 | Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosphie, übersetzt von Richard Steurer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 79f.

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I. Die funktionelle Zerlegung und Zusammensetzung des Gesellschaftskörpers Ohne auf die pastorale Funktion von Herrschaft zu verzichten, zeichnet sich die »Politik«, wie Platon sie in der Politeia erfindet, durch eine Kunst der Zerlegung und Zusammensetzung des Gesellschaftskörpers aus. Hier wird jene Gesellschaftsschicht, die dem sinnlich-begehrlichen Teil der Seele entspricht, der Stand der Bürger, Handwerker und Tagelöhner, nicht, wie im Politikos, von der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern funktional in sie eingebunden, ohne freilich Zutritt zur politischen Sphäre zu erhalten. Die hierarchische Teilung des Gesellschaftskörpers in die Klasse der Handwerker, Wächter und Regenten orientiert sich an der Unterteilung der drei Seelenvermögen. Die Polis mutiert zu einem makros anthropos, die Seele im Gegenzug zu einem kleinen Staat, so daß die kleingeschriebene und die großgeschriebene Polis im Namen der Gerechtigkeit zirkulär füreinander lesbar werden (Politeia 368d-369a). Gerechtfertigt wird die Teilung der Gesellschaft mit den Kriterien einer arbeitsteiligen Organisation, die jedem abverlangt, nur dasjenige zu tun, was er von Natur aus am Besten und als das je Seine zu tun vermag. Das führt zu einer beträchtlichen Spaltung der platonischen Polis, die für die Bürger und Handwerker eine ausschließlich ökonomisch-private Existenzweise und für die Klasse der Wächter und Archonten eine ausschließlich öffentlich-politische Lebensweise vorsieht. Die vollständige Entmachtung der Bürger entspricht einer radikalen Abschaffung der Politik als einer Sphäre der Freiheit und Macht des Demos, die sich in dem Recht auf politische Mitwirkung und Ausübung politischer Ämter niederschlägt. Neben der Tatsache, daß die Bürger und Handwerker nun zu Menschenhütern gemacht werden, da sie die herrschende Klasse zu ernähren haben, bleibt ihnen darüber hinaus nichts anderes zu tun, als ihre berufliche Funktion wahrzunehmen und der Herrschaft der Besseren zu gehorchen. Damit sind sie als »Nährstand« ganz auf die Seite des oikos geworfen. Denn Platon macht ihnen außerdem die Pflicht des Waffendienstes streitig, die die athenische Verfassung für alle Bürger vorsah. Sokrates’ Aussage: »Krieg führen ist ein Beruf« findet ihre Begründung in der Feststellung: »Es ist für einen einzelnen Menschen unmöglich, mehrere Berufe kunstgerecht auszuüben« (374a).7 Die Spezialisierung ist das entscheidende Argument für die Einrichtung einer zahlenmäßig geringen Klasse von regierenden Berufspolitikern und einer größeren Klasse von Wächtern bzw. Berufssoldaten, denen wiederum die der Zahl nach umfangreichste Klasse der Bürger gegenübersteht. In dem Maße, in dem 7 | Diese revolutionäre Neuerung streichen Monique Canto-Sperper und Luc Brisson heraus: »Zur sozialen Gliederung der Polis«, übersetzt von Charlotte Horn, in: Ottfried Höffe (Hg.), Platon. Politeia, a.a.O., S. 95-117, hier S. 95.

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92 | Iris Därmann Platon den Bürgern den Zutritt zur Politik bestreitet und sie ganz auf den oikos reduziert, schafft er umgekehrt den oikos für den Wächter- und Regentenstand ab, denen er das Recht auf privates Eigentum und Eigenes verweigert.8 Worin aber kann das Gemeinsame eines Gemeinwesens bestehen, dessen eine Klasse von der Vernichtung der Politik und dessen andere Klasse von der Abschaffung des oikos betroffen ist? Zweifellos wird die platonische Polis durch die Spezialisierung für das Private und die Spezialisierung für das Allgemeine in zwei Teile auseinandergerissen. Und dieser Umstand wiegt um so schwerer, als Platon die Zerreißung der Polis in eine Vielheit divergierender Einzelinteressen zu ihrem schlimmsten Übel, ihre Einheit aber zum größten politischen Gut erklärt (462b).9 Genau genommen, entwickelt Platon zwei Strategien, um der Zerstückelung des Gesellschaftskörpers entgegenzutreten und die Polis trotz ihrer Differenzierung nach unterschiedlichen Funktionen, trotz ihrer Unterteilung in Gleiche und Ungleiche und trotz der Abwesenheit gemeinsamer (politischer wie militärischer) Aufgaben zu einer neuen Einheit zusammenzuschweißen. Da ist zum einen der Rückgriff auf die sogenannte »heilsame Lüge«, den Mythos der Erdgeburten und der Metalle, der namentlich die von der Politik ausgeschlossenen Bürger von der Brüderlichkeit aller, bei gleichzeitig naturgegebener Ungleichheit, überzeugen und ihnen so das trügerische Gefühl ihrer Zugehörigkeit zur Polis vermitteln soll. Zum anderen entwirft Platon für den Wächter- und Regentenstand eine spezifische Politik des oikos, die der gesamten Polis als Herrschaftsform aufgenötigt wird, wie namentlich Rancière und Kersting unterstreichen.10

8 | Vor allem die Klasse der Wächter, die Platon für die Autarkie und Einheitsbildung der gesamten Polis zuständig macht (423c), soll in bezug auf sich selbst eine Einheit bilden, in der Gefühle von Eifersucht und Neid gar nicht erst aufkommen dürfen, um Anlaß für interne Konflikte zu bieten. Die Lebensweise, die Platon dafür am geeignetsten erscheint, gründet sich auf der Besitzlosigkeit, die jedem die Gründung eines eigenen oikos und Familienstandes, Vorratshaltung und Privateigentum verbietet. 9 | So auch Julia Anna (An Introduction to Plato’s Republic, a.a.O., S. 178): »Plato offends us by the extreme divisions in the state; ironically, he also offends us by his insistence on the degree of unity the state must have.« 10 | J. Rancière: Das Unvernehmen, a.a.O., S. 83; W. Kersting: Platons ›Staat‹, a.a.O., S. 179.

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II. Fleischesseropfer In diesem Zusammenhang ist vor allem Platons Kritik der rituellen Praktiken von Interesse, deren religiöse Fundamentierung er zurückweist, nicht ohne sich zugleich ihrer sozial stabilisierenden Effekte zu versichern. Man muß hier insbesondere an sein Verbot des Opfers denken, dem er in der Verwerfung jedes Anthropomorphismus eine neue vernünftig-moralische Vorstellung der Gottheit vorausschickt (380a-382c). Das Schema dieser seiner Opferkritik wird im übrigen seine Fortschreibung bei Kant11 und Frazer12 finden: Platon prangert das Opfer als vermeintliche Frömmigkeit an, die die kommerzielle »Kunst des Handels« auf die Beziehung zwischen Menschen und Götter überträgt (Euthypron 14e; Nomoi 716e-717a), um sich die Götter durch alimentäre Opfergaben, Gebete und Zaubereien zum eigenen Vorteil dienstbar zu machen. Der wahrhaft religiöse Mensch tut hingegen das Gerechte (Politeia 362c) und unterwirft sich ansonsten dem Willen der Götter, ohne sich der blasphemischen Erwartung hinzugeben, auf diese durch magische oder materielle Mittel einwirken zu können (Politeia 364b-c; Nomoi 909b). Der körperlich-seelischen Wirkungen der für das Opfer charakteristischen Küche und Mahlzeiten bedient sich Platon indes unter Ausklammerung des religiösen Kontextes im Rahmen jener Vorschriften, die der Körpererziehung und Lebensweise der Wächter bzw. Regenten gelten. Platons Umkehrung des Leib-Seele-Verhältnisses bildet den Ausgangspunkt für die 11 | Kant inkriminiert den opferökonomischen Tauschhandel mit Gott bekanntlich als »Religionswahn«, der nicht das Geringste zur moralischen Verfaßtheit des Opfernden beitrage und auf dem Aberglauben beruhe, daß »bloße Natur«- und Nahrungsmittel auf dasjenige, was schlechterdings »nicht Natur« sein kann, unmittelbar Einfluß nehmen könnten. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1968, S. 174. 12 | Frazer macht die seiner Ansicht nach fundamentale Dichotomie von Magie und Religion zum Ausgangspunkt einer Erklärung, die die Magie ausschließlich auf die Form der sympathetischen Magie festlegt. Die von ihm kategorisch gesetzte Unterscheidung zwischen Magie und Religion ist nicht nur ein Tribut an das evolutionäre Schema – Magie, Religion und Wissenschaft –, sondern geht auch auf Platon zurück, der die historisch nachweisbare antike Einheit von Magie und Religion durch eine begriffliche Scheidung aufzusprengen sucht, nach der das Treiben der Magier darauf hinauslaufe, die Götter durch Zaubereien in den Dienst der eigenen Interessen zu zwingen, während der religöse Mensch sich dagegen ihrem als solchem unmanipulierbaren Willen unterstellt. Frazer setzt die Besänftigung der Gottheit durch das Gebet der Beeinflussung der Gottheit durch Magie und Opfer gegenüber. James G. Frazer: The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, London/Bombay/Calcutta/Madras/Melbourne: Aftermath 1924, S. 55.

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94 | Iris Därmann musisch-gymnastische Erziehung der Wächter: Nicht die Tugend des Körpers könne die Seele gut, sondern nur die vollkommene Seele den Leib tüchtig machen (403d). Seine für die Körpererziehung entwickelten Maßnahmen enthalten überraschenderweise in der Hauptsache Ernährungsvorschriften. Platon spricht sich für ein striktes Alkoholverbot aus. Denn ein Wächter oder Herrscher, der durch übermäßigen Alkoholgenuß die Herrschaft über sich selbst verlöre, wäre außerstande, die ihm zukommenden Aufgaben wahrzunehmen. Das reibungslose Funktionieren des Staates verlangt jedem Mitglied der politischen Klasse ab, sich niemals zu weit von der wahren Realität zu entfernen und stattdessen in fiktive, künstliche Welten einzutauchen. Wächter und Regenten werden auf ihre unentwegte Wachsamkeit, Willensfreiheit und Selbstbeherrschung verpflichtet, da jede alkoholische oder mimische Verwandlung der Person die Vernachlässigung ihres Amtes und damit die Gefährdung der gesamten Polis bedeutete. Nicht weniger repressiv muten die Ernährungsvorschriften an, die keinerlei Freiheiten in bezug auf Wahl und Zubereitung der Nahrung lassen. Wächter und Regenten essen jeweils das Gleiche. Dabei beruft sich Platon ausdrücklich auf die homerischen Festmahlzeiten, die freilich stets mit Fleisch, Brot und Wein aufwarteten.13 Wie außerordentlich eng Platon sich mit seinen Speisevorschriften an das homerische Vorbild hält, kann man erkennen, wenn man sie mit Auszügen »Über das Leben der Helden bei Homeros« des Dichters Antiphanes vergleicht, die Eingang in das Gelehrtenmahl des Atheneios gefunden haben: Gebratenes Fleisch ist für Homer der Inbegriff derjenigen Ernährungsweise, die zu Bescheidenheit, »Wohlbefinden und einer beherrschten Haltung in allen Lebenslagen« führt. Wenn Agamemnon die vornehmsten Herren bewirtet, setzt er ihnen weder Fisch oder frisches Obst noch »in Feigenblätter gewickelte Süßspeise, feine Leckerbissen, Milch- und Honiggebäck vor«. Nur Fleisch wird gereicht, denn es lenkt »von ungezügelter Gier ab«.14 Ganz ebenso rühmt Platon die einfache Behandlung des Leibes: »Dergleichen […] kann einer ja schon von Homeros lernen. Denn du weißt ja, daß er im Felde bei den Gastmahlen seine Helden weder mit Fisch bewirtet […] noch mit gekochtem Fleisch, sondern nur mit geröstetem, was ja den Kriegsmännern am leichtesten zur Hand ist. Denn es ist ja überall […] leichter, das Feuer selbst zu brauchen, als erst Gefäße mit sich zu führen. […] Und von Gewürzen oder Süßigkeiten […] kommt bei Homeros überhaupt nichts vor.« Die wegen ihrer Opulenz und Raffinesse berühmte syrakusische Küche stellt Platon als unzulässiges Gegenbild auf. Männer, die 13 | Gerda Bruns: Küchenwesen und Mahlzeiten (Archaelogia Homerica), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, S. 51. 14 | Athenaios: Das Gelehrtenmahl. Buch I-VI, Erster Teil, eingeleitet und übersetzt von Claus Friedrich, kommentiert von Thomas Nothers, Stuttgart: Bibliothek der griechischen Literatur 1998, I, 15-16, S. 15-17.

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starken Leibes sein müssen, um die innere und äußere Sicherheit der Polis zu gewährleisten, sollten auf »den gerühmten Wohlgeschmack des attischen Backwerkes« und »korinthischer Mädchen« verzichten (Politeia 404b-d). Ist es schon den Malern und Tragödiendichtern untersagt, mit eindrucksvollen Beispielen von Völlerei und Gier die unbedarften Zuschauer zu maßlosem Verhalten anzuleiten, so gilt dies um so mehr für die Kochkunst, die Platon immer wieder als Bedrohung für die gerechte Seelen- und Staatsordnung auftreten läßt. Vernant erinnert daran, daß nur die Opferungen den Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts unter den Bedingungen einer ritualisierten Küche überhaupt Gelegenheit boten, Fleisch zu sich zu nehmen.15 Platon aber verzichtet auf die rituelle Praxis des Tieropfers, ohne der Kriegstauglichkeit der violenten Fleischnahrung und virilen Grillküche im Freien entbehren zu wollen, die die Krieger und Philosophenkönige vor Maßlosigkeit bewahren sollen. Wie unter Freunden, so ist und gehört den Wächtern alles gemeinsam: so auch die Mahlzeiten, die stets gemeinsam abgehalten (416e) und vom Nährstand bestritten werden sollen. Das Syssition war Platon als Einrichtung aus Sparta und Kreta bekannt. Diese militärische Zelt- und Speisegenossenschaft verband etwa 15 Zeltgenossen nach freier Wahl zu gemeinsamer Lebensführung. Die wegen ihrer Einfachheit als Grundlage kriegerischer Tüchtigkeit in Griechenland gerühmten gemeinsamen Mahlzeiten der Spartaner bestanden aus der berühmt-berüchtigen schwarzen Suppe (Blut und Gewürzen), Gerstenbrot und Wein.16 Das Bürgerrecht erhielt indes nur derjenige, der seinen Beitrag zu den täglichen Mahlzeiten beisteuern konnte. Daher zweifelt Aristoteles den »demokratischen Charakter« dieser Institution an, die die Ärmeren nicht nur von den gemeinsamen Mahlzeiten, sondern auch von der Vollbürgerschaft ausschließt (Politik II, 1271a25ff.). Aber auch das Opfermahl war bekanntlich eine gemeinsame Mahlzeit, für deren streitabwendende Wirkung sich Platon wiederum auf das Vorbild Homers hätte berufen können. Die Grundlage der Kultur ist für Homer das gemeinsame Essen, das nur dann pazifizierend sein kann, wenn die Zerteilung des Fleisches in je gleiche Teile niemanden vernach-

15 | Zum Tieropfer, dem die Sorge um die Einhaltung der Trennung zwischen dem menschlichen und göttlichen (aber auch tierischen) Geschlecht obliegt, und die rituelle Wiederholung jenes ersten (bezogen auf die Götter, betrügerischen) Opfers des Prometheus darstellt, wie es sich in dem von Hesiod berichteten Mythos in Mykene zugetragen haben soll, vgl. Jean-Pierre Vernant: Mythe et société en Grèce ancienne, Paris: Éditions du Seuil 1974, S. 31-56. 16 | Siehe dazu den Artikel »syssition« in: Wörterbuch der Antike, begründet von Hans Lamer, fortgeführt von Paul Kroh, 10. Auflage, Stuttgart: Kröner 1995, S. 732.

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96 | Iris Därmann lässigt oder begünstigt.17 Wie eine um Jahrhunderte verschobene Replik auf die Isonomia, die »›egalitäre Verteilung‹« des Fleisches,18 erscheint da Simmels Lob auf die demokratische Gleichheit der Teller, die in ihrer »eifersüchtigen Geschlossenheit« jedem seinen individuellen Teil zugestehen, durch ihre kreisrunde Begrenzung aber den Übergriff auf die Portion des jeweils Anderen verhindern und vermöge ihrer formalen Gleichheit als Symbol einer gemeinsamen und egalitären Tischordnung fungieren.19 Freilich nimmt auch Homer bei der Verteilung des Bratens Rücksicht auf den gesellschaftlichen Stand seiner Gäste: Der hochgestellte Gast empfängt als Ehrengabe das beste Stück des Stieres, und der solchermaßen Geehrte teilt seine Portion wiederum unter den von ihm favorisierten Tischgenossen aus. Wie namentlich Gerhard Baudy gezeigt hat, leitet sich νµος von νµειν, ›verteilen‹, ab, ein Terminus, der bei Homer auf die Teilung und Verteilung des Fleisches bezogen sei. Baudy verdanken wir die grundlegende Einsicht, daß sich die Polis des Opfermahls, das heißt des »symbolischen Zusammenhangs von Fleischanteil und Status als [eines] integrativen Mechanismus« bediente, um ihre hierarchische Sozialordnung zu reproduzieren und »die Zusammengehörigkeit und Unterschiede zwischen den Kommensalen zu markieren«.20 Platon bringt das Institut der gemeinsamen Mahlzeit und, wie aufgrund der egalitären Konzeption der Wächterklasse wohl zu vermuten ist, die egalitäre Verteilung des Fleisches zum Einsatz, um die Gleichheit und Gemeinschaft ihrer Mitglieder immer wieder neu zu realisieren. Dabei soll der Zusammenhalt der Wächter so unverbrüchlich sein, daß sie einen einzigen Leib und eine einzige Seele bilden. Von der Frauen- und Kindergemeinschaft verspricht sich Platon eine »Gemeinschaft von Lust und Unlust«, Trauer und Freude. Der sexuelle Kommunismus soll im täglichen Umgang dazu führen, daß der Wächter in jedem anderen Wächter ein Familienmitglied anzutreffen glaubt. (463c) Zweifellos gehen oikos und Individuum auf diese Weise vollständig in der öffentlichen Sphäre auf. Nicht von ungefähr setzt Platon die konfliktfreie Gemeinschaft der Wächterklas17 | Athenaios: Das Gelehrtenmahl, a.a.O., I (21), S. 21f. 18 | Isonomie aber war der ältere Begriff für Demokratie, wie Gerhard Baudy betont: »Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation, mit besonderer Berücksichtigung der altgriechischen Gesellschaft«, in: Burkhard Gladigow/Hans G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München: Kösel-Verlag 1983, S. 131-174, hier S. 161. 19 | Georg Simmel: »Soziologie der Mahlzeit«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. I, hg.v. Klaus Latzel, Gesamtausgabe, Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 140-147, hier S. 144. 20 | Gerhard Baudy: »Hierarchie«, a.a.O., S. 156.

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se mit der Einheit des gesamten Staates gleich, die dann am vollkommensten realisiert ist, wenn der Staat »dem einzelnen Menschen am allernächsten sich verhält« (462c). Platon gebührt demnach das zweischneidige Verdienst, eine politische Körper- und Affekttheorie begründet zu haben, die auf die Stiftung einer Gemeinschaft der Gleichen inmitten einer Gesellschaft der Ungleichen zielt. Die Einheit des Staates ist die Einheit der Wächter- und Regentenklasse:21 Die Polis ist die vom Volk abgetrennte, einträchtige Gemeinschaft der Wächter und Regenten, für die Politik dekkungsgleich ist mit den Handlungen des Überwachens und Beherrschens des politisch entmachteten und auf seine ökonomischen Funktionen reduzierten Volkes.

III. Polisgenese Platons Erzählung über die Genese der Polis und die Gründung des philosophischen Gerechtigkeitsstaates rechtfertigt diese politische Abspaltung des dritten Standes mit entwicklungslogischer Notwendigkeit. Für die Degeneration der notdürftigsten zur üppigen Stadt macht er eine veränderte Begehrensstruktur und opulente Lebensweise verantwortlich, die die Herrschaft der Wächter erst erforderlich gemacht hätten. Platon führt die Entstehung der Urpolis auf ökonomische Bedürfnisse zurück, die es als ein Gebot lebenspraktischer Klugheit im Interesse der Lebenserleichterung erscheinen lassen, an die Stelle einsamer Selbstversorgung eine arbeitsteilige und tauschorientierte Bedürfnisbefriedigung zu setzen. Schon hier klingt das Prinzip der Idiopragie an, nach der jeder nur das Seine tun (433a-435d), und das heißt, nur denjenigen Beruf ausüben darf, der ihm durch seine Naturanlage vorgegeben ist. In dieser elementaren Urszene der Polis gibt es keine politische Herrschaft, aber auch keine spezifisch politischen Handlungen. Das betrifft sowohl die innere psychische Struktur der Polisbewohner, deren Begehren, Tatkraft und Vernunft sich in einem herrschaftsfreien Verhältnis zueinander befinden, als auch die arbeitsteilige Koexistenz der Mitglieder selbst. Da das Begehren nicht die Grenze der notwendigen Bedürfnisse übersteigt, können sich Vernunft und Tatkraft ganz in dessen Dienst stellen und mit vereinten Kräften ein bloßes, aber friedliches Leben sicherstellen. Platon läßt es sich nicht nehmen, eine alimentäre Idylle auszumalen, um sowohl dem inneren und äußeren Frieden als auch der Gesundheit und Selbstgenügsamkeit dieser elementaren Polis Nachdruck zu verleihen: Von Graupe, Brot und schönsten Kuchen ist die Rede, von gemeinsamem Schmaus mit den Kindern, wo alle auf Taxus und 21 | Kersting (Platons ›Staat‹, a.a.O., S. 178) räumt zumindest eine Unsicherheit hinsichtlich der Frage ein, ob mit dieser Form affektiver Einheitsbildung tatsächlich alle Bürger des Idealstaates oder nur die Wächterklasse gemeint sei.

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98 | Iris Därmann Myrten lagernd, sich dem Wein und der Lobpreisung der Götter hingeben. Auch Zukost wird auf Anraten Glaukos bewilligt: Salz, Oliven, Käse, Zwiebeln, Kohl, Feigen, Erbsen und Bohnen, neben Nachtisch von Beeren und Kastanien (372b-d). Diese in den Grenzen maßhaltenden Begehrens eingerichteten und mit einer auffälligen Lust am frugalen Wohlgeschmack von Sokrates beschriebenen Polis will seinen Zuhörern freilich als eine »Stadt von Schweinen« erscheinen. Nicht nur mangelt es ihr an zivilisatorischen Einrichtungen wie Polster und Eßtischen, sie enträt auch sämtlicher Künste, von der Malerei angefangen über die Tragödiendichter bis hin zur Back- und Kochkunst. Die Schilderung der Entstehung der »aufgeschwemmten Stadt«, deren Bedürfnisse ins Unbegrenzte zu schießen beginnen, gibt den Anlaß für die Errichtung politischer Herrschaft. Platon bringt die Notwendigkeit politischer Herrschaft mit der Tatsache in Verbindung, daß die Polisbewohner ihre vegetarische Lebensweise aufgegeben haben und zu Fleischessern, und zwar zu raffinierten Genießern von Ragouts und anderen Delikatessen geworden sind (373e). Das Fleischesser-Opfer als Symptom einer ins Maßlose ausgreifenden Begehrensstruktur erscheint für die politische Herrschaft grundlegend in dem doppelten Sinne, daß es sowohl Grund und Ursache von Herrschaft als auch konstitutiv für sie ist,22 wie die Ernährungsweise der Wächter zeigt. Platon setzt das Ende der alimentären Unschuld und Herrschaftslosigkeit in Beziehung zur Gewalt gegen das Tier, zum kriegerischen Ausgriff auf andere póleis und zur internen Konfliktträchtigkeit der luxerierenden Polis. Das Mehrhabenwollen oder: die Gier nach Fleisch, die Platon zum Ursprung des inneren und äußeren Krieges erklärt, ruft eine neue Klasse, die Wächter, auf den Plan. Aufgrund ihrer angeborenen Tatkraft sind sie dazu bestimmt, dem Begehren der Handwerker, Kaufleute und Bauern nach »ungemessenem Besitz« durch militärische Aktionen Folge zu leisten (373d), aber auch den Frieden im Inneren der Polis zu sichern. Gemäß der Analogie zwischen Seele und Staat stellt sich die Tatkraft der Einzelseele ebenfalls in den Dienst des unbegrenzten Begehrens, und macht damit erst eigentlich die Funktion einer regulativen Vernunft erforderlich, die sich an die oberste Spitze der hierarchischen Ordnung der Einzelseele stellt und in der Gestalt der Philosophenherrschaft als tugend- und erkenntniselitäre Gewährleisterin des platonischen Gerechtigkeitsstaates auftritt. Platon traut den Menschen des dritten Standes beileibe keine Selbstregierungsfähigkeit zu; doch verfügen sie seiner Ansicht nach wenigstens über so viel Einsicht, sich zu ihrem eigenen Besten freiwillig der externen Herrschaft philosophischer Vernunft 22 | Vgl. dazu Jacques Derrida (Force de loi. Le ›fondement mystique de l’autorité‹, Paris: Éditions Galilée 1994, S. 42), der freilich die von Baudy untersuchten kulturhistorischen Zusammenhänge zwischen Tieropfer, hierarchischer Verteilungsordnung und Sozialstruktur der Polis außer acht läßt.

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zu unterwerfen. Denn jede gewaltsam errichtete Herrschaft trägt für Platon die Signatur der Tyrannis. Nicht zufällig wird der Tyrann als Werwolf vorgeführt, der sich des nur den Priestern zustehenden Teils des Opferstieres bemächtigt: seiner blutigen Eingeweide,23 die Platon ihn noch dazu – vermischt mit menschlichen Eingeweiden – verschlingen läßt (565d-e). Die Polisgenese beschreibt die Figur eines vollendeten Kreises, der die Notwendigkeit politischer Herrschaft mit der Pleonaxie des Volkes und seinen Ausschluß von der Politik mit dessen naturgegebener Vernunftdefizienz begründet. Das Volk darf nicht nur nicht politisch in Erscheinung treten; es wird ihm konsequenterweise auch zugleich der ihm zustehende Anteil am Fleischopfer verwehrt. Nicht der dritte Stand, sondern die Wächter genießen stattdessen in egalitärer Gleichheit jenes Fleisch, nach dem das Volk einst gierig verlangte und das den Grund für die Errichtung der Wächterklasse bot. Das Monopol der Verteilung des Fleisches obliegt indes der Herrscherklasse. Im Dialog Gorgias greift Platon selbst ausdrücklich auf das sozial strukturierende Modell der Fleischdistribution zurück, um gegenüber der rhetorischen Auffassung, daß die Pleonaxie dem Starken zum Guten gereiche, sein eigenes Gerechtigkeitsverständnis am Beispiel des vernünftigen Arztes zu illustrieren, der jedem (auch sich selbst) nur soviel Speise zuteilt, wie es jeweils seiner Natur zuträglich ist (490b-c).24 Innerhalb der egalitären und fleischessenden Schar der Wächter übernimmt der Philosoph die herausgehobene Rolle des Schlächters, dem mit der Verteilung des Fleisches die (Re-)Produktion der hierarchischen Tischordnung und des Gesellschaftskörpers obliegt: aus Einsicht in das wahre Wesen der Gerechtigkeit, das heißt der Idiopragie gemäß, wacht er über die Ordnung der ganzen Polis, über die angemessene Verteilung der Ämter und Funktionen und deren peinlich genaue Einhaltung. Das von seinen religiösen Konnotationen befreite Fleischesseropfer bringt die platonische Polis in ihrer hierarchischen Struktur jeweils neu zur Erscheinung. Es schließt den dritten Stand dauerhaft von der Politik aus, stellt die egalitäre Eintracht der Wächter her und sichert dem Philosophen das exklusive Herrschafts- und Verteilungsmonopol über alle Ämter, Positionen und Portionen.

23 | Marcel Détienne: »Pratiques culinaires et esprit de sacrifice«, in: Marcel Détienne/Jean-Paul Vernant (Hg.), La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris: Gallimard 1979, S. 7-34, hier S. 20. 24 | Auf diese Textstelle bin ich durch Gerhard Baudy (»Hierarchie«, a.a.O., S. 162) aufmerksam geworden.

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IV. Lotophagie und Demokratie Dieses Herrschafts- und Verteilungsmonopol der Philosophen aber wird durch die Seelenverfassung des Bürgers in einem demokratischen Staat in Frage gestellt. In der im achten Buch der Politeia unter der verantwortungsentlastenden Einflüsterung der Musen aufgestellten Liste der vier ungerechten Verfassungen taucht die Demokratie bekanntlich nach der Timokratie und Oligarchie erst an dritter Stelle auf, um an Ungerechtigkeit nur noch von der Tyrannis übertroffen zu werden. Für den pathologischen Umschlag der jeweils besseren in die schlechtere Verfassungsform macht Platon jedesmal den Keim jener Ungerechtigkeit innerhalb der besseren Verfassung verantwortlich, der in der darauffolgenden, schlechteren Verfassung der Polis und in der analogen Seelenverfassung der Bürger zur vollen Entfaltung gelangt. So herrschen in der Oligarchie im unersättlichen Hunger nach Eigentum die für das politische Amt gänzlich ungeeigneten Reichen über die Armen. Die ökonomische Spaltung der Polis in Arme und Reiche hat eine eigentümliche Krankheit, nämlich das Geschlecht der unbestachelten und bestachelten Drohnen zur Folge. Als Bettler, Prasser, Schurken und Tagediebe repräsentieren sie im Inneren der oligarchischen Seele wiederum die schlechten, verschwenderischen Begierden, können aber von den besseren, nämlich den gewinn- und geldgierigen Begierden – trotz der Machtlosigkeit von Vernunft und Tatkraft – durch Furcht und Zwang in Schach gehalten werden. In der Demokratie gelangen die zuvor von der Politik ausgeschlossenen Armen und innerhalb der Seele die drohnenartigen Begierden zur Herrschaft. Die Verteilung der politischen Ämter folgt dabei weder einer natürlichen Disposition zur Weisheitsliebe, noch auch kriegerischen Erfolgen oder der Höhe des Einkommens. Sie wird nurmehr, wie es in den demokratischen Verfassungen des 5. Jahrhunderts üblich war, durch Los entschieden. Dominant ist hier die Gier nach Freiheit, die mithilfe eines konsequenten Egalitarismus gestillt wird. Dieser schließt die rechtlich-politische Gleichheit von Männern und Frauen sowie die Freilassung aller Sklaven ein und affiziert sogar das Betragen der Haustiere gegenüber ihren Herrn: Pferd und Esel folgen keinem menschlichen Befehl mehr und rempeln stattdessen, vornehm und frei, wie sie jetzt sind, die Passanten auf der Straße an (563a-c). In dieser Verfassung für »freie Menschen« gibt es keine repressive Politik des oikos, die die Zusammensetzung der Mahlzeiten oder die Wahl der Liebespartner regelte. Insofern jeder Herr über sein eigenes Leben ist, zeichnet sich die Demokratie durch ihre Pluralitäts- und Differenzaffinität aus und könnte daher – wie »ein buntes Kleid, dem recht vielerlei Blumen eingewirkt sind« – durchaus als »die schönste unter allen Verfassungen« erscheinen. Was zumindest den Frauen und Kindern ein Ausbund floraler Schönheit ist, nämlich das Bunte und Vielgestaltige, mutet den Philosophen jedoch nur als eine »Trödelbude von Verfassungen«

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(557d) an, in der jeder, ohne Allgemeinwohlverpflichtung und Gerechtigkeitsorientierung, nach eigenem gusto glücklich zu werden versucht. Der demokratische Mensch und seine Seelenverfassung widersprechen daher auch am Nachdrücklichsten dem Prinzip der Idiopragie: Es entspricht dem experimentellen Charakter seiner Lebenskunst, daß er sich nicht auf eine natürliche Anlage zu einer einzigen Tätigkeit verpflichten läßt, sondern sich in vielerlei Berufen und den gegensätzlichsten Existenzformen erprobt (561c-e).25 In der Zurückweisung hierarchischer Werturteile will ihm alles gleichermaßen wichtig und lebenswert erscheinen. Das drückt sich nicht zuletzt im Widerstreit der notwendigen Begierden mit den nichtnotwendigen aus, denen die demokratische Seele abwechselnd erliegt. In der Brust des demokratischen Mannes wohnen zwei Seelen: die auf Sparsamkeit bedachte geldgierige Seele seines oligarchischen Vaters und die drohnenhaften, verschwenderischen Begierden, die schon auf den leisesten Wink einer externen sinnlichen Verführung hin ihr unruhiges Haupt erheben. Verführung meint aber auch hier, wie schon so oft, die Lockspeisen einer verfeinerten Küche und Kochkunst. Von dem Moment an, da die besseren Begierden den schlechteren zu unterliegen beginnen, sagt Platon der demokratischen Seele eine »Gemeinschaft mit den Lotophagen« (560c) nach. Nichts könnte wohl deutlicher die Abkehr des Demokraten von der hierarchischen Tischordnung, seine Rebellion gegen das Fleischesseropfer, die »Verteilerautorität«26 und restriktive Küche des Philosophen zum Ausdruck bringen, als die Hinwendung zu einer göttergleichen Speise, die »süßer als Honig« aus wenig mehr als nur aus Gerüchen besteht. Die Rückkehr zur Lotophagie gemahnt an eine Idylle diesseits des Ackerbaus, der Viehzucht und selbst noch der Jagd, wo die Einverleibung samtener Blütenblätter eine sublime Unschuld des Werdens verspricht, der es gelingt, sich der Zweckmäßigkeit einer planvoll produzierten Ernährung zu entziehen. Es nimmt nicht wunder, daß das bunt schillernde »Kleid« der demokratischen Verfassung, in das gar »viele Blumen eingewirkt sind«, es vor allem den Kindern und Frauen angetan hat, die, von der Herrschaft und dem Ackerbau ausgeschlossen, sich mit der Aufzucht von Blumen, 25 | Bis heute setzt die Demokratie, wie Derrida (Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 45f.) unter Berufung auf Platon und diese Passage sagen kann, das Recht und die Fähigkeit voraus, »zu tun, was einem gut dünkt, die Entscheidungsbefugnis, über sich selbst zu bestimmen, aber auch die Erlaubnis, Möglichkeiten durchzuspielen –, so setzt sie dabei radikaler und ursprünglicher noch, ein freies Spiel voraus, einen gewissen Spielraum von Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit im Begriff der Demokratie selbst«, kurz: sie setzt den Bruch mit einer physis und substanziellen Gesamtordnung voraus, die im Voraus darüber verfügt, was ein jeder zu tun und zu unterlassen hat. 26 | G. Baudy: »Hierarchie«, a.a.O., S. 172.

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102 | Iris Därmann Gemüse oder, des bloßen Spieles wegen, mit der kurzweiligen Anlage von Adonisgärtchen27 begnügen müssen, aus denen nichts Vernünftiges hervorgeht. Anders als die den Sirenen Lauschenden droht den Lotophagen in der Odyssee (IX, 82-104) kein Leid, wohl aber Vergessen und die Aufgabe des Willens.28

27 | Détienne weist in seiner einschlägigen Studie die durch Frazer bestimmten religionswissenschaftlichen Interpretationen der rituellen Adonisgärtnerei zurück, denen zufolge die ebenso rasch sprießenden wie in der Hitze schnell verdorrenden Miniaturgärtchen an den Tod eines Gottes der Frühlingsvegetation erinnern sollten bzw. mit deren Hilfe das Wiedererwachen der vertrockneten Vegetation im nächsten Frühjahr vorweggenommen werden sollte. In diesem Kontext verweist er auf die Unfruchtbarkeit der Pflanzen (Weizen, Gerste, Lattich und Fenchel), die die Frauen während der Hundstage zu Ehren des Liebhabers der Aphrodite und Verführers der Persephone in Töpfen oder Körben auf den Dächern aufstellten. Platon setzt bekanntlich dem bloß Spielerischen, Ephemeren und Täuschenden der Gärten des Adonis, die er mit dem Gebrauch der Schrift parallelisiert, die Ernsthaftigkeit des Ackerbaus im Zeichen der Demeter bzw. die anamnestische Arbeit an den vorgeburtlich geschauten Ideen entgegen (Phaidros 276b). Wie die vier Pflanzensorten zeigen, wohnt dieser Gegensatz freilich den Adonisgärten selbst inne. Fenchel-Lattich sind die Gewürzpflanzen des Adonis, Weizen-Gerste die Kulturpflanzen der Demeter. Zugleich aber geht die Spannung, die zwischen dem Fenchel und dem Lattich besteht, vom scheinbar saftigen Grünen zum Ausgedorrten, das einer raschen Fäulnis unterliegt: »Weil sie wie Gewürzpflanzen behandelt wurden, werden der Weizen und die Gerste der Demeter zum Lattich des Adonis transformiert. Der ganze erste Teil des Rituals der Adonien beweist somit auf experimentelle Weise, daß die Saat des Adonis mit Sterilität und Impotenz geschlagen ist, und die leichtfertige Art des Ackerbaus dazu führt, die fruchtbringende Saat und die Zerealien der Nährmutter Demeter zu verderben.« In der zweiten Phase des Festes steigen die Frauen zu einer, wenn auch fiktiven »Gewürzernte« erneut auf die Dächer, um die Aromapflanzen Aphrodite und Adonis zu spenden und die Anhänger des Adonis mit duftenden Salben zu bedenken. Die Analyse Détiennes entdeckt in den Riten und Mythen der Adonisgärten ein elaboriertes symbolisches Darstellungssystem, das die Verführungskraft des Adonis und seine sexuelle Präpotenz (bzw. Impotenz), aus der keine – schon gar keine legitimen – Nachkommen hervorgehen können, auf dem Höhepunkt des Sommers als Bedrohung und Infragestellung der ehelichen Beziehungen inszeniert. Marcel Détienne: Die Adonis-Gärten. Gewürze und Düfte in der griechischen Mythologie, übersetzt von Gabriele und Walter Ede, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 113-135. Zur eigenen Unfruchtbarkeit des Sokrates, wie sie im Theaitetos (149b, 150c-d) unter Rekurs auf die Maieutik hervorgehoben wird, siehe im übrigen Jacques Derrida: »La pharmacie de Platon«, in: La Dissemination, Paris: Éditions du Seuil 1972, S. 71-198, hier: S. 177. 28 | Vgl. zur Lotophagie der Odysssee auch den schönen Kommentar von Max

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So verbindet Platon mit der Lotophagie das sanfte Glück und die scheinbare Sorgenfreiheit der Rauschgifte, um den demokratischen Menschen der Asozialität, Anarchie und Disziplinlosigkeit zu zeihen. Gemessen an dem antikulinarischen Selbstverständnis der platonischen Philosophie zieht die Frage des Essens auffallend häufig die Aufmerksamkeit seiner Politik auf sich. Das aber ist kein Widerspruch, sondern die Folge der Idee des zugleich einheitlichen und gespaltenen Gesellschaftskörpers. Die hierarchische Tischordnung der Polis verweigert dem dritten Stand den Zugang zum Fleischesseropfer und stattet die Philosophenkönige mit der Autorität der Fleischverteilung aus. An der gemeinsamen Tafel der fleischessenden Wächter aber findet jene affektive Eintracht und Gleichheit statt, die politisch zählt. Auch wenn die Klasse der Wächter nicht die ganze, sondern die geteilte Polis ist, wird sie doch mit der ganzen Polis identifiziert. Die gemeinsame Lebensweise der Wächter soll jene Einheitsstiftung der gesamten Polis bewirken, für die Platon politisch nichts aufzubieten vermag. Daher schrumpft die Polis auf die Größe eines allgemeinen oikos zusammen, dem die Pflicht der Abschaffung des Rechts auf eine je eigene, das heißt mit anderen geteilte Lebensform eingeschrieben ist. Die Politisierung des bloßen Lebens führt sowohl zur Vernichtung der Politik als auch zur Zerstörung des oikos. Der oikos und die Mahlzeit als dessen wichtigste kulturelle Institution ist aber politisch in einem Sinne, der sich diesseits jeder repressiven Politik abspielt. Hier ereignet sich die ephemere und kulturell gestiftete Gemeinschaft der irreduzibel voneinander getrennten und einander fremden Singularitäten, die etwas teilen – sich, die Nahrung, die Sozio- und Lotophagie, ihr Mit- und Angesprochensein. Dieses überdeterminierte Ereignis einer Gemeinschaft alimentärer Teilung (im doppelten Wortsinn) und Mitteilung kann die Politik zwar anordnen wollen, doch ohne es je selbst herstellen zu können. Wann immer jedoch die Politik das Ereignis der Gemeinschaft mit aller Macht hervorzubringen versucht, ist sie, wie bei Platon, nichts anderes als Sozialtechnik, Herrschaftsanmaßung und Regelungssystem, ohne eine ihr entgegenkommende Gesellschaft.

Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 7. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 1980, S. 58f.

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Literatur Anna, Julia: An Introduction to Plato’s Republic, Oxford: Clarendon Press 1981. Athenaios: Das Gelehrtenmahl. Buch I-VI, Erster Teil, eingeleitet und übersetzt von Claus Friedrich, kommentiert von Thomas Nothers, Stuttgart: Bibliothek der griechischen Literatur 1998. Baudy, Gerhard: »Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation, mit besonderer Berücksichtigung der altgriechischen Gesellschaft«, in: Burkhard Gladigow/Hans G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München: Kösel-Verlag 1983, S. 131-174. Bruns, Gerda: Küchenwesen und Mahlzeiten (Archaelogia Homerica), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970. Burckhardt, Jacob: »Über die Kochkunst der spätern Griechen« (7. November 1876), in: ders., Vorträge 1844-1887, 3. Auflage, Basel: Benno Schwabe & Co. Verlag 1919, S. 103-115. Canto-Sperper, Monique/Brisson, Luc: »Zur sozialen Gliederung der Polis«, übersetzt von Charlotte Horn, in: Ottfried Höffe (Hg.), Platon. Politeia, a.a.O., S. 95-117. Derrida, Jacques: »La pharmacie de Platon«, in: La Dissemination, Paris: Éditions du Seuil 1972, S. 71-198. Derrida, Jacques: Force de loi. Le ›fondement mystique de l’autorité‹, Paris: Éditions Galilée 1994. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Détienne, Marcel: Die Adonis-Gärten. Gewürze und Düfte in der griechischen Mythologie, übersetzt von Gabriele und Walter Ede, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. Détienne, Marcel: »Pratiques culinaires et esprit de sacrifice«, in: Marcel Détienne/Jean-Paul Vernant (Hg.), La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris: Gallimard 1979. Foucault, Michel: »Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft«, übersetzt von Claus-Dieter Rath, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 65-93. Frazer, James G.: The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, London/Bombay/Calcutta/Madras/Melbourne: Aftermath 1924. Hentschke, Ada Babette: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1971. Höffe, Ottfried (Hg.): Platon. Politeia, Berlin: Akademie Verlag 2005. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 7. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 1980.

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Jaeger, Werner: Paideai, Bd. II, Berlin: de Gruyter 1944. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1968. Kersting, Wolfgang: Platons ›Staat‹, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999. Mengis, Karl: Die schriftstellerische Technik im Sophistenmahl des Athenaios, Reprint der Ausgabe Paderborn 1920, New York: Johnson. Platon: Werke, griechischer Text von Auguste Diès, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, bearbeitet von Peter Staudacher, 2. Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosphie, übersetzt von Richard Steurer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Simmel, Georg: »Soziologie der Mahlzeit«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. I, hg.v. Klaus Latzel, Gesamtausgabe, Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 140-147. Spaemann, Robert: »Die Philosophenkönige (Buch V 473 b. VI 504 a)«, in: Ottfried Höffe (Hg.), Platon. Politeia, a.a.O., S. 161-177. Vernant, Jean-Pierre: Mythe et société en Grèce ancienne, Paris: Éditions du Seuil 1974. Wörterbuch der Antike, begründet von Hans Lamer, fortgeführt von Paul Kroh, 10. Auflage, Stuttgart: Kröner 1995.

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Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft Kurt Röttgers

I. Was »fehlt« im Kantischen Werk? – Vermissungen Hippel, Kants Tischgenosse, der die Kantischen Tischgesellschaften offenbar mehr zu schätzen wußte als dessen Kollege Kraus,1 vermißte unter Kants Schriften eine »Kritik der kulinarischen Vernunft«.2 Nun kann man in Kants Werk dieses und jenes vermissen. Wenn ein Dentist im Werk Kants Äußerungen über Zahnersatz vermißt, so mag das subjektiv verständlich sein, entbehrt jedoch objektiv im Werk Kants jeglicher Grundlage, das heißt das Fehlen ist nicht als Lücke im Werk darstellbar. Anders der zweite Fall: Wenn im Werk eine Lücke, eine Ausblendung oder Vermeidung, eines Themas sichtbar ist oder die Überbrückung der Lücke durch etwas Heterologes, dann darf diese Lücke als im Werk angelegte, aber nicht ausgeführte oder gar vermiedene Möglichkeit angesehen werden und eine gesteigerte Aufmerksamkeit beanspruchen. Denn gerade die vermiedenen Möglichkeiten werfen ein besonderes Licht auf das Realisier1 | Kraus verließ aus unbekannten Gründen und sehr zum Bedauern von Kant diesen gemeinsamen Mittagstisch spätestens 1798, nachdem sie zuvor sogar eine gemeinsame »Ökonomie« darüber hatten, also Kraus nicht nur einer der drei bis neun Gäste von Kants Tischgesellschaft war. Dazu J. Voigt: Das Leben des Professor Christian Jacob Kraus. Königsberg 1819 (= Christian Jacob Kraus: Vermischte Schriften, Bd. VIII, Königsberg: Universitätsbuchhandlung 1819); Werner Stark: »Kant und Kraus. Eine übersehene Quelle der Königsberger Aufklärung«, in: Reinhard Brandt/Werner Stark (Hg.), Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen, Hamburg: Meiner 1987, S. 165-200; Kurt Röttgers: »Zwei Königsberger ›Bäume‹«, in: Königsberg-Studien, hg.v. Joseph Kohnen, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/usw.: Lang 1998, S. 273-293. 2 | Zur Kantischen »Tischgesellschaft« siehe auch Steffen Dietzsch: Immanuel Kant. Leipzig: Reclam 2003, S. 158-179.

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108 | Kurt Röttgers te. In diesem Sinne habe ich mich an anderer Stelle bemüht,3 das Fehlen der Zigeuner in Kants Werk als signifikant darzustellen. Anders aber als das Thema der Zigeuner, das bisher sonst niemand in Kants Werk vermißt hat, weil eine Beschäftigung mit diesem Thema im Diskurs der Zeit gar nicht vorgesehen war, wurde eine vierte Kritik von vielen, allerdings auf unterschiedliche Weise, vermißt, einige dieser Vermissungen sprechen Lücken im Werk selbst an, andere verlangen ihm etwas ab, für dessen Fehlen es systematische Gründe im Werk Kants selbst gibt. Ich werde im folgenden zunächst einige solcher Vermissungen schildern, um anschließend auf das von Hippel angemahnte Desiderat zurückzukommen, also: Die Kritik der historischen Vernunft; die Kritik der sozialen Vernunft; die Kritik der seduktiven Vernunft; die Kritik der bildlichen Vernunft; die Kritik der kulinarischen Vernunft. Schon zu Kants Zeiten allerdings gab es vorübergehend die Annahme, Kant selbst habe eine vierte Kritik geschrieben. Im Jahre 1792 erschien anonym in Königsberg die Schrift Versuch einer Critik aller Offenbarung. Dort konnte man lesen: »Eine Critik aller Offenbarung überhaupt hat […] weiter nichts darzuthun, als seine absolute Möglichkeit […]«.4 Klang das nicht gerade so, als hätte Kant – unter den Bedingungen der Zensur: anonym – hier seine vierte Kritik vorgelegt? Aber die Vermutung erwies sich als falsch, wie man bereits in der zweiten Auflage ein Jahr später sehen konnte, die den Autor benannte, ein der Fachwelt bis dato weitgehend unbekannter Philosoph namens Johann Gottlieb Fichte. Nicht eine fehlende vierte Kritik mahnen die »Metakritiken« Hamanns und Herders an, sondern die Notwendigkeit, den Geist der Kritik auch auf die kritische Philosophie selbst anzuwenden. Das ist etwas grundsätzlich anderes, aber es wird darauf unten zurückzukommen sein. Die Einlösungen finden sich dann in Schlegels Prinzip der divinatorischen Kritik und vor allem in Hegels Dialektik.5

I.1 Die Kritik der historischen Vernunft Nach dem religionsphilosophischen Intermezzo, das nicht etwas Fehlendes im Werk Kants indiziert – die Religionsschrift Kants nämlich erschien im 3 | Kurt Röttgers: »Kants Zigeuner«, in: Kant-Studien 88 (1997a), S. 60-86. 4 | Johann Gottlob Fichte: Werke, Bd. I/1, hg.v. R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1964ff., S. 50. 5 | Dazu im einzelnen Kurt Röttgers: Kritik und Praxis, Berlin/New York: de Gruyter 1975, S. 105-138.

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gleichen Jahr wie die zweite Auflage des Werks des jungen Ungeduldigen – kommen wir also nun auf die erste benannte Lücke im System, nämlich die einer »Kritik der historischen Vernunft«. Diese ist mit dem Namen Wilhelm Diltheys verbunden. Seine Einleitung in die Geisteswissenschaften, erstmals 1883 erschienen, hieß in den ersten Arbeitsentwürfen in der Tat Kritik der historischen Vernunft.6 Dilthey macht dort geltend, und zwar zunächst durchaus im Sinne Kants, daß Naturerkenntnis nicht empiristisch verstanden werden dürfe, sondern daß auch Naturerkenntnis nur eine Erkenntnis der »Schatten« ist, »den eine uns verborgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewußtseins«.7 Jedoch, und die Wortwahl in der Wiedergabe der Kantischen Wende der Erkenntnistheorie verrät es schon ein wenig, Kant berücksichtigt nicht den Gesamtumfang menschlichen Erkennens: »In den Adern des erkennenden Subjekts […] rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.«8 Sieht man von der heute etwas anstößigen Metaphorik des Lebens des ganzen Menschen einmal gnädig oder wohlwollend ab, so bleibt als methodisch gravierender Einwand auf jeden Fall, daß Vernunft und Verstand bei Kant nicht als Prozeß, nicht als Entwicklung oder als ein Werden oder Dilthey sagte eben als »Leben« gedacht werden können. Für Kant ist Zeit eine Anschauungsform des inneren Sinns, aber eben eine apriorische Form und damit nicht selbst wandelbar. Mit dieser Schwierigkeit der Wandelbarkeit der Bedingungen von Wandel oder der Zeitlichkeit des Zeitbewußtseins, und zwar seiner Struktur und nicht nur seinen Inhalten nach, hatte wenig später auch Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zu kämpfen, so weit ich sehen kann, erfolglos bzw. nur in paradoxer Form.9 Gegen das Bedenken des Fehlens einer Behandlung historischen Bewußtseins hilft auch nicht der Einwand, der auf Kants kleinere geschichtsphilosophische Arbeiten verweist. Denn diese Arbeiten 6 | Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. I, Leipzig/Berlin: Teubner 1922ff., S. IX. 7 | Vgl. ebd., S. XVIII; zum »Ding an sich« siehe auch Klaus Peters: »Über die Erkennbarkeit der Welt«, in: Dialektik 14 (1987), S. 143-156. Nach ihm ist – zu recht – die Auffassung falsch, nach der Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dings an sich auf einen Erkenntnispessimismus hinausläuft. 8 | Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften I, a.a.O., S. IX. 9 | Die Paradoxie gerinnt in der Formel vom »urtümlich stehenden Strömen«, in der das zeitkonstituierende Bewußtsein zugleich als unzeitlich und als zeitlich gesetzt sein muß, wenn man einen unendlichen Regreß vermeiden will. Eine Paradoxie-Auflösung, mit der Husserl gedanklich experimentiert hat, ist, den Regreß an dieser Stelle zuzulassen und ihn als unschädlich zu erweisen, eine andere ist die von Klaus Held favorisierte Annahme der Fundierung in eine »lebendigen Gegenwart«, Klaus Held: Lebendige Gegenwart, Den Haag: Nijhoff 1966.

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110 | Kurt Röttgers sind, wie Kant selbst eingesteht, methodisch und erkenntnistheoretisch ungesichert, nämlich als »Mutmaßungen«, kontrolliert durch vergleichbare Erfahrungen, »um Lücken in den Nachrichten auszufüllen«.10 Jedenfalls glaube ich nicht, daß Kant im Hinblick auf Geschichte in seiner Rechtfertigung von Mutmaßungen gleich streng war wie in der »Kritik der reinen Vernunft« im Hinblick auf Naturerkenntnis. Und so nennt er denn selbst seine Überlegungen eine »bloße Lustreise«.11 Mit solcher Art von Geschichtsphilosophie geht Dilthey zu Recht streng ins Gericht. Die kritische Klärung der Bedingungen historischer Erkenntnis zu überspringen und von einer blinden Akzeptierung der angeblichen Fakten direkt überzugehen zu Mutmaßungen, wo Fakten nicht vorliegen, ist eine erkenntnistheoretische Naivität, die sich Kant im Bereich der Naturerkenntnis und der Metaphysik niemals geleistet hat oder hätte. Deswegen ist die »Kritik der historischen Vernunft« eine von Kant hinterlegte, aber ungelöste Aufgabe. Fichte, immer noch ein Stück verwegener als Kant, hatte der historischen Erkenntnis gegenüber seine Verachtung bekundet, indem er erklärte, er wolle lieber Erbsen zählen als Geschichte studieren. Wenn Geschichtserkenntnis so etwas Ähnliches wie Erbsenerkenntnis ist, dann lohnte eine »Kritik der historischen Vernunft« in der Tat nicht. Dabei hatte allerdings schon Herder auf das Defizit des Historischen in der kritischen Philosophie Kants hingewiesen. Seine Metakritik12 artikulierte sich als Manifestation des unbeendbaren Prozeßcharakters von Kritik. Mit dem Gedanken, daß die kritische Klärung der Bedingungen historischen Erkennens diesen selbst unterliegt, wird Herder zum Ideengeber des Historismus. Dilthey sagte zum Defizit der Würdigung der Bedingungen historischen Erkennens bei Kant: »Kant […] gibt eine Konstruktion, nicht eine geschichtliche Darlegung, und diese Konstruktion ist von seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt, innerhalb desselben von seiner Ableitung alles apodiktischen Wissens aus den Bedingungen des Bewußtseins, einseitig bestimmt.«13 Die Legitimation einer Redeweise von einer »Kritik der historischen Vernunft« ergibt sich für Dilthey, wie übrigens auch schon für Herder, daraus, daß er Ansätze von Kant für eine solche erkennt, die nur in der Geschichte der Transzendentalphilosophie seit Fichte ungenutzt blieben oder verschüttet wurden. »Die erkenntnistheoretische Systematik, welche von Bedingungen des Bewußtseins ausgeht und durch diese den Gültigkeitsumfang der Erfahrung, weiterhin des Erkennens, abgrenzen will und dann erst zu den Erfahrungswissenschaften fortgeht, indem sie deren Existenz 10 | Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hg.v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter 1910ff., Bd. VIII, S. 109. 11 | Vgl. ebd. 12 | Johann Gottfried Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, hg.v. F. Bassenge, Berlin: Aufbau-Verlag 1955. 13 | Dilthey, Gesammelte Schriften I, a.a.O., S. 134.

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nun erst als gesichert annimmt, ist der Grundirrtum der ganzen Fichteschen Fraktion innerhalb der Erkenntnistheorie.«14 In diesem Sinne würdigt Dilthey, das sei an dieser Stelle en passant gesagt, auch die Willensmetaphysik Schopenhauers als eine Form des Protestes gegen die Fichtesche Abstraktheit in der Erkenntnistheorie.15 Dilthey formulierte also das Desiderat einer »Kritik der historischen Vernunft« als etwas, das der Kantischen erkenntnistheoretischen Grundlegung fehlt, das aber als Programm nicht gegen sie gerichtet ist, sondern sie ergänzt und vervollständigt. Kant wollte bekanntlich die Metaphysik auf den sicheren Weg einer Wissenschaft schicken, und er schaute als Vorbild einer erfolgreichen Wissenschaft auf die Physik im Sinne der mathematisierten, klassischen Mechanik. Die Aufgabe einer »Kritik der historischen Vernunft« kann man nach Dilthey als zweierlei begreifen: erstens als die hier bisher besonders akzentuierte Klärung der Bedingungen historischen Erkennens, sie ist aber zweitens auch Kritik der Abstraktheit der Erkenntnistheorie und Metaphysik durch den Nachweis von deren Historizität qua Handlungscharakter des Denkens. Kant hat nicht nur einen Aspekt von Vernunft, nämlich das historische Erkennen übersehen, er hat vielmehr auch ignoriert, daß Vernunft selbst eine sich historisch zur Geltung bringende Instanz darstellt (das Herdersche Argument). Beides macht sich eine »Kritik der historischen Vernunft« zum Thema. An Diltheys Problemaufriß anknüpfend, aber stärker der Kantischen Systematik verpflichtet, hat Hans Michael Baumgartner 1976 seine Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik vorgelegt.16 Dort hieß es programmatisch: »Transzendentale Historik zielt der Idee nach auf eine Kritik der historischen Vernunft, die analog zu den Kantischen Vernunftkritiken als Elementarlehre eine transzendentale Ästhetik (als Theorie der historischen Zeit) und eine transzendentale Logik (Analytik und Dialektik), sowie eine transzendentale Methodenlehre umfassen müßte.«17 Die so in den Blick genommene »Kritik der historischen Vernunft« müßte nach Baumgartner auf allen drei Kritiken und ihrer Architektonik aufbauen. Der entscheidende Punkt der Revision des Kantischen Kritik-Unternehmens ist, daß nicht nur die Physik, sondern auch die Geschichtswissenschaft als erfolgreiche Wissenschaft genommen wird und daher eine Kritik im Sinne der Klärung der Bedingungen und Grenzen historischen Erkennens von ihr ausgehen kann, nämlich von den »methodisch reflektierten Verfah-

14 | Vgl. ebd., S. 419. 15 | Vgl. ebd., S. 397. 16 | Hans Michael Baumgartner: »Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik«, in: H.M. Baumgartner/Jörn Rüsen (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 274-302. 17 | Vgl. ebd., S. 274f.

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112 | Kurt Röttgers rensweisen der Geschichtswissenschaft«.18 Das spezifische vorläufige Ergebnis Baumgartners ist es, daß Geschichte als eine Form des Wissens ein spezifisches Konstrukt ist, wie ja auch Kant Natur als ein Konstrukt19 dargestellt hatte: »Sie setzt für ihre, Wirklichkeit als Geschichte erdeutende Konstruktion die Konstitution der sinnlich konkreten Lebenswelt des Menschen als Basis und Material voraus, ist aber keineswegs mit ihr identisch.«20 So weit also Diltheys und Baumgartners Ausformulierungen des ersten Typs einer vierten Kritik.

I.2 Die Kritik der sozialen Vernunft Der zweite Typ ist, wie gesagt, die »Kritik der sozialen Vernunft«. Dieses Desiderat ist prominent formuliert worden von Rudolf Stammler, hat aber ebenfalls seinen spezifischen Vorläufer in der Zeit Kants21 und seine Nachhut in der Gegenwart.22 Rudolf Stammler sagte in seinem Werk von 18 | Vgl. ebd., S. 276. 19 | I. Kant in den »Prolegomena« § 36 (Bd. IV, S. 318): »Erstlich: Wie ist Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen; wie ist Raum, Zeit und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich? Die Antwort ist: vermittelst der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, nach welcher sie auf die ihr eigenthümliche Art von Gegenständen, die ihr an sich selbst unbekannt und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden sind, gerührt wird. Die Beantwortung ist in dem Buche selbst in der transscendentalen Ästhetik, hier aber in den Prolegomenen durch die Auflösung der ersten Hauptfrage gegeben worden. Zweitens: Wie ist Natur in formeller Bedeutung, als der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen, möglich? Die Antwort kann nicht anders ausfallen als: sie ist nur möglich vermittelst der Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen der Sinnlichkeit auf ein Bewußtsein nothwendig bezogen werden, und wodurch allererst die eigenthümliche Art unseres Denkens, nämlich durch Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der Objecte an sich selbst ganz zu unterscheiden ist, möglich ist.« 20 | Baumgartner: »Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik«, a.a.O., S. 277. 21 | Nämlich bei Moses Dobruschka, alias Franz Thomas Edler von Schönfeldt, alias Lucius-Junius Frey in seiner anonym erschienenen Schrift: Philosophie sociale, Paris: Froullé 1791; zu diesem siehe vor allem Gershom Scholem: »Ein Frankist: ›Moses Dobruschka und seine Metamorphosen‹«, in: Max Brod, Ein Gedenkbuch, hg.v. H. Gold, Tel Aviv: Olamenu 1969, S. 77-92; mehr dazu siehe unten. 22 | Nämlich bei Habermas, Honneth und ähnlichen Versuchen, die Bedingungen sozialer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis mit den Bedingungen sozialen Handelns zu vermengen, das heißt das Vorurteil der sich als wertfrei definie-

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1896 Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung: »Kant hat seine wissenschaftliche Lebensaufgabe, die Neubegründung der Philosophie als systematischer Wissenschaft, auf das soziale Gebiet nicht ausgedehnt. Er hat […] keine zusammenhängende Sozialphilosophie geschaffen […]«.23 Nun hat aber die »Kritik der sozialen Vernunft« nach Stammler eine doppelte Aufgabe. Sie hat erstens die in die theoretische Philosophie fallende Aufgabe der Klärung der Erkenntnisbedingungen, durch die wir Gesellschaft zum Gegenstand etwa sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse machen können. Oder generell gesagt, und wohl in gewolltem Anklang an Kant, der fragte, wie Natur (nämlich als Inbegriff) überhaupt möglich sei, so fragte Stammler, »in welchem Sinne eine Gesetzmäßigkeit in der Erkenntnis des sozialen Lebens überhaupt möglich ist«,24 das heißt der Forscher hat den »objektiven Grundgesetzen seiner Erkenntnis [nämlich des Sozialen, K.R.] nachzuspüren«.25 Diese Frage hat auch die Form, wie Gesellschaft als einheitlich-zusammenhängender Gegenstand der Erkenntnis möglich sei. Methodisch hätte sie so vorzugehen, daß sie »diejenigen Begriffe und Sätze, in denen wir unsere soziale Erkenntnis vollziehen, in ihrem Inhalte zergliedern und objektiv-logisch analysieren, um daraus die Eigentümlichkeit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis […] klarzustellen«.26 Aber nach Stammler hat die »Kritik der sozialen Vernunft« auch die andere, die praktische Frage zu klären, die sich durch die Dringlichkeit der sogenannten »sozialen Frage« des 19. Jahrhunderts gestellt hatte. Nach dieser Richtung ist die kritische Aufgabenstellung die, wie eine wohlgeordnete Gesellschaft »als Sphäre des sozialen Handelns aus Freiheit möglich sei«.27 Oder in einer anderen Formulierung: »Es ist […] mit Hilfe der systematischen Zergliederung unserer sozialen Begriffe derjenige Grundsatz herauszufinden, unter dessen bewußter Festhaltung allein eine Einheit in den wechselvollen Bestrebungen des sozialen Lebens möglich ist.«28 In der Kombination des deskriptiven und des normativen Aspekts der kritischen Sozialphilosophie sieht Stammler keine Vorgänger: »Auch Kant, dessen Erkenntniskritik – wie der Kundige bemerkt haben wird – für die Entwerfung unseres Planes von bestimmendem Einflusse gewesen ist, hat in seiner Metaphysik der Sitten eine grundlegende Theorie renden Soziologie gegen die Sozialphilosophie bewußt zu bestätigen, siehe dazu Kurt Röttgers: Sozialphilosophie. Essen: Verlag Die Blaue Eule 1997b, besonders S. 72ff. 23 | Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig: Veit 1896, S. 197. 24 | Vgl. ebd., S. 14. 25 | Vgl. ebd., S. 3. 26 | Vgl. ebd., S. 16. 27 | Vgl. ebd., S. 17. 28 | Vgl. ebd.

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114 | Kurt Röttgers des sozialen Lebens nicht geliefert.«29 Ich möchte jedoch hinzufügen, daß es gute Gründe bei Kant gibt, eine solche Kritik der sozialen Vernunft, als einer Melange aus Deskriptiven und Normativen, zu vermeiden. Die theoretische Vernunft und die praktische Vernunft sind für Kant zwei »Stämme« unseres Geistes, deren Zusammenhang problematisch bleibt. So etwa nimmt Kant in theoretisch philosophischer Perspektive einen durchgängigen Determinismus auch unseres gesamten Verhaltens (durch äußere Ursachen, Motive, Triebe etc.) als möglich an; in praktisch philosophischer Hinsicht geht er uneingeschränkt von der Freiheit menschlichen Handelns aus. Kant hütete sich sehr wohl, beide Perspektiven zu mischen oder Kompromisse schließen zu lassen, etwa in der heute üblichen Art der Quantifizierung der Freiheitsräume etwa im forensischen Gutachterwesen. Man muß daher vielleicht sogar sagen, daß Kant die Sozialphilosophie im neukantianischen Sinne nicht vergessen hat, sondern daß sie in seinen Augen eine unmögliche Unternehmung gewesen wäre. Das Fehlen einer solchen vierten Kritik bei Kant hat also Gründe. Gleichwohl ist bereits zu Kants Zeiten dieselbe Forderung erhoben worden. 1793 nämlich erschien in Paris anonym eine Schrift unter dem Titel Philosophie Sociale dédié au peuple François. Ihr mutmaßlicher Autor ist der am gleichen Tage wie Danton (05.04.1794) als vermuteter österreichischer Spitzel guillotinierte LuciusJunius Frey, alias Franz Thomas Edler von Schönfeldt, alias Moses Dobruschka aus Brünn in Mähren.30 In seinem Unternehmen einer Philosophie Sociale als einer jakobinischen Philosophie des glücklichen Lebens in der Gesellschaft, geschrieben für das Volk und entgegengesetzt der Staatsphilosophie, die die Herrschenden entwerfen, um das Volk zu täuschen, verläßt sich der Autor dieser Schrift auf die große Philosophie des »Immortel Kant«. Was Kant für die Metaphysik und ihre Kritik geleistet habe, das müsse nun im Sinne von Kant auf die Philosophie Sociale übertragen werden. Dieser erste Versuch einer Philosophie Sociale blieb allerdings wirkungslos, und ich glaube zu recht. Diese kritische Philosophie des Sozialen will exakte Erkenntnisse (wie in Mathematik und Physik) des Sozialen ermöglichen, um die Menschheit zu lehren, wie sie zu leben hätte. Das wollten nach Dobruschka auch Sokrates, Jesus und Kant, und letzterer habe sich nur durch Unverständlichkeit vor dem Schierlingsbecher und dem Kreuz retten können.

I.3 Die Kritik der seduktiven Vernunft Eher auf der Linie der praktischen, denn der theoretischen Philosophie angesiedelt ist die »Kritik der seduktiven Vernunft«, die der rätoromanische Schweizer Iso Camartin mit seinem 1987 erschienenen Buch Lob der 29 | Vgl. ebd., S. 22. 30 | Siehe Anmerkung 21.

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Verführung vorgelegt hat, genauer: er hat diese vierte Kritik nicht selbst geschrieben, sondern nur als »überfällig« gefordert.31 Aber immerhin gibt er diesem Desiderat eine starke These mit auf den Weg: »Verführung und Verführbarkeit: das ist die Garantie für verläßliche Erfahrungen!«32 Das verführbare und verführte Subjekt ist der Konzeption des autonomen Subjekts entgegengesetzt. Das Subjekt der Moderne hatte sich selbst bestimmt als selbstbestimmtes Subjekt. Um sich selbst bestimmen zu können, mußte es sich als frei besetzen. Frei zu sein, hieß erstens, in Handlungszusammenhängen als Urheber von Handlungen gelten zu können, zu diesem Zweck hat das Subjekt, bevor es handelte, die Intention zu handeln, so erschien es in seiner Freiheit verdoppelt, nämlich in seiner Intentionsbildung autonom, das heißt selbstgesetzgebend zu sein, und in seiner handelnden Intentionsverwirklichung ungehindert zu sein.33 Aber soziale Prozesse gehen nicht deswegen weiter, weil es Subjekte gibt, die als Urheber von Intentionen zu gelten hätten, die sie verwirklichten, indem sie in vertragsförmige Beziehungen mit anderen Subjekten eintreten, die im Grunde ihrer Vernunft auch nichts anderes sind als sie selbst und die ihrerseits Urheber von Intentionen zu sein hätten, die sich verwirklichen wollten. Der soziale Prozeß – der kommunikative Text – geht weiter, weil er Anschlüsse schafft, das heißt verführerische Gelegenheiten zur Textfortsetzung. Für das Selbstverständnis des modernen Subjekts freilich ist Verführung eine Bedrohung. Die antike Sophistik noch kannte den Aufschlußwert von Verführungen. In seiner Lobrede auf Helena entschuldigt der Sophist Gorgias Helena durch Verweis auf ihre Verführbarkeit, welche Eigenschaft aber dem Gebrauch der Rede als solcher innewohne. Der Mensch ist generell der Verführungskraft der Worte ausgeliefert, sowohl in dem, was er glaubt, als auch in dem, was man über ihn glaubt.34 Da es dem Menschen nicht gegeben ist, die Wahrheit, so wie sie ist, zu sehen, ist er grundsätzlich von der Wirkung der Worte abhängig. So wurde Helena durch die Worte des Paris verführt; aber auch ihr (schlechter) Ruf ist allein ein rhetorischer Effekt, den wiederum der Sophist durch die Wirkung seiner Worte in einer Lobrede auf Helena ändern möchte. So ist die Rede des Sophisten Gorgias das historisch erste Beispiel einer verführerischen Rede über die Verführung. Anders erscheint Gorgias freilich bei Platon. Sokrates nämlich be31 | Iso Camartin: Lob der Verführung, Zürich/München: Artemis 1987, S. 12. 32 | Vgl. ebd. 33 | Daß bereits John Locke diese Freiheitsverdopplung absurd erschien, hat nicht den Siegeszug dieser Idee verhindern können, daß es hinter der offensichtlichen Freiheit noch eine eigentliche Freiheit des Subjekts gäbe. John Locke: Works, Vol. I, Neudruck Aalen: Scientia 1963, S. 252. 34 | Gorgias: Fragment B 11, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg.v. Hermann Diels und Walter Kranz, 6. Auflage, Zürich: Weidmann 1952, S. 288-294.

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116 | Kurt Röttgers zweifelt, daß die Rede alles bewirken könne und daß folglich die Überredungskunst die höchste Kunst sei. Während Gorgias ausführte, daß selbst der Sachverstand eines Arztes ganz unnütz wäre, wenn er nicht von der Kunst begleitet wäre, den Patienten mittels der verführerischen Kraft der Worte dazu zu bringen, die Operation vornehmen zu lassen oder die Medizin einzunehmen. Solche Worte müssen schön sein, und sie müssen die richtige Gelegenheit ergreifen, wahr dagegen brauchen sie nicht zu sein; denn bis wir die Wahrheit erkannt haben (wenn sie – nach einem anderen berühmten Fragment des Gorgias überhaupt erkennbar ist und, falls dieses, überhaupt mitteilbar ist),35 kann es für den richtigen und entscheidenden Gebrauch der Worte schon zu spät sein. Sokrates wendet ein, daß es doch in einem Gespräch auf den »Kern der Sache« und nicht auf den Anschein ankomme und daß man, um die Worte wahr erscheinen lassen zu können, doch die Wahrheit als solche schon kennen müsse.36 Und schließlich macht der Sokrates des Dialogs Philebos gegen Gorgias geltend, daß es auch eine Rede gebe, der es überhaupt nicht auf die Effektivität ankomme, sondern die allein von der reinen Liebe zur Wahrheit und zum Guten getragen sei.37 Eine solche Rede würde das Kriterium absoluter Unverführbarkeit durch die Schönheit und Kraft der Worte erfüllen. Sowohl Sokrates als dann später auch Augustinus gingen dem modernen Subjekt vorbildhaft voraus in ihrem Widerstand gegen die Verführung, der erste, indem er den Dritten als soziale Grundkategorie, die die Sophistik noch kannte,38 durchstrich und nur noch die agonale Dialogik der gemeinsamen Bemühung um die Sache kannte, der andere, indem er auch noch den Anderen durchstrich und die Seele mit Gott alleine ließ. Die Moderne, die dieses Erbe antrat, verlor dann auch noch den Glauben an Gott, nämlich in seiner Funktion als Garant praktischer und epistemischer Beziehungen, die das moderne Subjekt jetzt selbst autonom gestalten wollte, indem es Gott darauf reduzierte, Weltenschöpfer und Jenseitsverwalter zu sein. Kant kannte in seiner zweiten Kritik nur die Vorstellung des autonomen Subjekts. Wenn das Subjekt verführbar wäre, so wäre der Wille heteronom bestimmt, und das wäre dann unmoralisch. Insofern ist eine Kritik der seduktiven Vernunft bei Kant systematisch ausgeschlossen. Aber es ist die Frage, ob wir noch in derjenigen Moderne leben, die mit derartigen

35 | Fragment B 3. 36 | Platon: Gorgias 442-527, hier in der Übersetzung von Otto Apelt, 2. Auflage, Leipzig: Meiner 1922, 453a. 37 | Platon: Philebos 58 c. 38 | Kurt Röttgers: »Der Sophist«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Die Kultur denken, Freiburg/München: Alber 2007.

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Konzepten wie dem des autonomen Subjekts39 begreifbar gemacht werden könnte. Inzwischen wachsen doch die Zweifel übergroß; wenn aber dieses Konzept als Gewünschtes und Gewolltes, als normatives Korrektiv gegen das Unheil, das droht, beschworen wird, beweisen doch gerade diese forcierten Beschwörungen, daß wir als diagnostischen Befund von etwas anderem auszugehen hätten. Diese Beschwörer des Geists der Moderne verwenden die Parole: stärkt die Subjekte in ihrer Autonomie, verwirklicht endlich die Moderne statt in ihr zu verzweifeln. Iso Camartin hat seinem Buch den Untertitel gegeben Essays über Nachgiebigkeit. Und es ist in der Tat eine berechtigte Frage, ob die Vernunftvorstellung mit Unnachgiebigkeit einhergehen muß oder ob nicht die Rigorosität letztlich zu derjenigen Situation führt, in der die diversen philosophischen Standpunkte (im 19. Jahrhundert) sich überheblich und kompromißlos einander gegenüberstehen und jede mit Jakob Sigismund Beck40 meint, den »Einzig möglichen Standpunkt« eingenommen zu haben. Nachgiebigkeit und Verführbarkeit – und zwar bereits in den Grundlagen der Moral – würde zu denjenigen moralischen Experimenten anleiten, von denen und von deren Abgleich untereinander zum Beispiel Friedrich Schlegel allein moralische Objektivität im Sinne eines transzendentalen Wir erwarten zu können glaubt.41

I.4 Die Kritik des reinen Bildes Kristóf Nyíri hat die Frage aufgeworfen, »und wieso gibt es bei Kant keine Kritik des reinen Bildes?« – Wer so fragt und eine »Kritik des reinen Bildes«42 ins Auge faßt, muß sich mit dem Schematismus-Kapitel in der Kritik der reinen Vernunft auseinandersetzen. Leistet dieses Kapitel nicht das, was von einer Kritik der bildlichen Vernunft allenfalls zu fordern wäre? Kant selbst erklärte am Ende seines Lebens den Schematismus als »einen der schwierigsten Punkte« und das entsprechende Kapitel für »eines der wichtigsten«. Bei Kant selbst findet sich die zunächst lapidar er39 | Kurt Röttgers: »Autonomes und verführtes Subjekt«, in: P. Geyer/M. Schmitz-Emans (Hg.), Proteus im Spiegel, Würzburg 2003, S. 65-85. 40 | Jakob Sigismund Beck: Erläuternder Auszug aus den Critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben. Bd. III, welcher den Standpunct darstellt, aus welchem die critische Philosophie zu beurtheilen ist, Riga: Hartknoch 1796. Dieser dritte Band ist auch selbständig erschienen und erhielt den Titel: »Einzig möglicher Standpunct …« usw. siehe auch Kurt Röttgers: »Der Standpunkt und die Gesichtspunkte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 257-284. 41 | Ausführlicher Kurt Röttgers: »Erfahrungsverluste durch Moral – alles halb so schlimm«, in: J. Fellsches/W.L. Hohmann (Hg.), Ethik und wissenschaftliche Objektivität, Essen: Verlag Die Blaue Eule 2001, S. 19-38. 42 | Kristóf Nyíri: Kritik des reinen Bildes unter: www.phil-inst.hu/highlights /pecs_kant/schema.htm.

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118 | Kurt Röttgers scheinende Formel, ein Schema sei »ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen«.43 Daher muß das Schema weder rein intellektuell noch rein sinnlich sein, sondern als ein Vermittelndes ein Drittes zwischen Sinnlichkeit und Verstand bereithalten. Die Einbildungskraft bringt »das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild«.44 Dadurch begründet sich eine im Unterschied zur diskursiven Erkenntnis symbolische oder figürliche.45 Wenn man das so hört, dann kann man fragen: Fehlt hier eine »Kritik der bildlichen Vernunft« – oder ist sie nicht schon von Anfang an vorhanden? Wer vermißt hier was? Und so ist denn Nyíris These auch nicht, daß es bei Kant eine Kritik des Bildes nicht gebe, sondern daß diese Ansätze des Schematismus-Kapitels aufgrund des Fehlens einer Bild-Logik, einer spezifischen Logik des bildlichen Denkens im Zeitalter Kants, nicht oder nur verworren ausgeführt worden seien und daß sie – bis auf wenige Ausnahmen (er nennt Heidegger und StekelerWeithofer)46 – in der Kant-Interpretation keine große Rolle gespielt haben. Die bisherigen vier Vermissungen einer vierten Kritik haben also durchaus unterschiedliche Vermissungstypen vor sich: Die Kritik der historischen Vernunft vermißt etwas, das bei Kant tatsächlich fehlt, weil er alle wissenschaftliche Erkenntnis für Erkenntnis vom naturwissenschaftlichen Typ hielt. Die Kritik der sozialen Vernunft dagegen, jedenfalls im Sinne der von Stammler erfundenen kritisch-normativen Sozialphilosophie, vermißt etwas, das Kant aus gutem Grund unterlassen hat. Die Kritik der seduktiven Vernunft ist etwas, dessen Bedarf erst mit dem Ende der Moderne aufkommt, das Kant also im Unwissen der alternativen Möglichkeiten zur Moderne unterlassen hat. Und die vermißte Kritik der bildlichen Vernunft fehlt nicht wirklich, sondern ist in Kants Werk kryptisch vorhanden und bedarf lediglich der Ausarbeitung auf einem erst heute möglichen Niveau. Und letzteres trifft auch für die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft zu, das ist meine im folgenden vertretene und erläuterte These.

43 | Kant: KrV B 179f. 44 | Kant: KrV A 120. 45 | So Steffen Dietzsch: »Schema & Bild«, in: K. Röttgers/M. Schmitz-Emans (Hg.), Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Essen: Verlag Die Blaue Eule 1999, S. 166-173, hier S. 171. 46 | Mit Bezug auf Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinnkriterien: Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein, Paderborn: Schöningh 1995 und Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1998.

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II. Die Kritik der kulinarischen Vernunft Im Jahr 1999 hat die italienische Philosophin Francesca Rigotti ein kleines Büchlein herausgebracht mit dem Titel La filosofia in cucina mit dem Untertitel Piccolo critica della ragion culinaria, zu deutsch (2002) Kleine Kritik der kulinarischen Vernunft. Was zunächst wie eine modische Mutwilligkeit aussieht, nämlich Reflexionen über die Zubereitung und den Genuß von Mahlzeiten als Kritik der kulinarischen Vernunft zu bezeichnen, erweist sich beim zweiten Blick als in der Sache viel tiefer begründet. Bei Rigotti heißt es: »Wenn Kant seine vierte Kritik geschrieben hätte, jene ›Kritik der kulinarischen Vernunft‹«,47 die sein Tischgenosse Hippel von ihm angemahnt hätte, dann hätten wir heute ein methodisches Vorbild für eine unerledigte Aufgabe, für die es meiner Ansicht nach nur zwei Vorarbeiten gibt, jenes kleine Büchlein von Rigotti und wichtige Passagen von Michel Serres’ Werk über die fünf Sinne. Aus der Geschichte der Philosophie dagegen sind vielerlei Verachtungen für die Kochkunst bekannt. Wie vielfach beginnt die Geschichte der Verachtung für diese mögliche vierte Kritik bereits bei Platon. Wenn es einen Grund für diese Verfemung der Gaumengenüsse und ihrer kundigen Vorbereitung und Zubereitung der Speisen gibt, dann vielleicht diesen: Entweder kann man es genießen, etwas nach außen den Übergangsraum des Mundes passieren zu lassen, dann wird man Worte reden; oder man kann Speisen den gleichen Raum durchqueren lassen, in umgekehrter Richtung. Wenn beide sich dort begegnen, ist das nicht gut. Ebenfalls abträglich für ein gelungenes Leben ist es, nur eines von beiden zuzulassen. In der Verbindung von beiden gibt es verschiedene Arrangements, die leichteste Art ist es, eines dem anderen unterzuordnen. Philosophen neigen dazu, das Essen als pure animalische Notwendigkeit dem Reden unterzuordnen. Sie meinen, auf diese Weise vertuschen zu können, daß auch ihr Reden dazu dient, den Lebensunterhalt – also Essen – zu sichern. Lebenskultur hat noch immer darin bestanden, beides in einem elaborierten Rhythmus temporaler, sozialer und symbolisch-normativer Art zu integrieren. Das macht es dann sinnvoll, der Auswahl der Speisen ebensoviel Sorgfalt zu widmen wie der Auswahl der Begriffe, also eben doch eine »Kritik der kulinarischen Vernunft« in Angriff zu nehmen.

II.1 Kurz-Geschichte der Verfemungen der Kochkunst Im platonischen Dialog Gorgias, der sich um die Sophistik und um die Redekunst dreht, kommt ausführlich auch die Kochkunst zur Sprache. Hier dient die Kulinarik als Beispiel jedoch nur dazu, auch die Rhetorik 47 | Francesca Rigotti: Philosophie in der Küche, München: Beck 2002, S. 10; Vgl.: Immanuel Kant: Köche ohne Zunge, Göttingen: Steidl 1997.

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120 | Kurt Röttgers herabzuwürdigen; denn so wie die Kochkunst in Wahrheit keine Kunst ist, weil sie keine Anwendung gesetzesförmigen Wissens darstellt, sondern bloß eine kontingente Sammlung von Erfahrungsgehalten,48 so gilt das gleiche auch für die Rhetorik. Eigentlich wollte das in jenem Dialog Gorgias keiner der Gesprächspartner wissen, Sokrates muß daher Polos geradezu auffordern, daß ihm diese Frage gestellt werde: »Sokrates. Frage mich jetzt, was für eine Kunst mir die Kochkunst zu sein scheint.« Brav fragt Polos, und Sokrates gibt die Antwort auf die selbst gestellte Frage: »Überhaupt keine Kunst mein Polos.«49 Allerdings räumt ihr Platon als Diätetik unter der Leitung von Medizin oder Gymnastik einen relativen, dienenden Wert ein.50 Zwar werden Kochkunst und Rhetorik dadurch, daß sie beide bloß Erfahrungsgehalte meinen, nicht identisch, weil es ja um verschiedene Erfahrungen geht, aber sie dienen doch beide ein und derselben Tätigkeitsform, nämlich bloß den Sinnen zu schmeicheln, so wie auch die Putzkunst und die Sophistik, um die es hier hauptsächlich geht. Die wahren und wirklichen Künste dagegen sind in vier eingeteilt: Gesetzgebung, Rechtspflege, Gymnastik und Medizin. Die Tätigkeitsform der Schmeichelei imitiert nun diese wahre Ordnung der Dinge, nicht mehr als Wissen, sondern als bloße Mutmaßung: »[…] schleicht sich, sich vierfach teilend in entsprechender Verhüllung in jeden dieser Teile ein und gibt vor das zu sein, wohin sie sich eingeschlichen hat; dabei kümmert sie sich um das wahre Beste nicht im geringsten, macht vielmehr durch die Lockung des jedesmal Angenehmsten Jagd auf den Unverstand, den sie dermaßen täuscht, daß sie an Wert alles andere zu übertreffen scheint«.51 Die Kochkunst simuliere die Medizin, indem sie ein Wissen darüber vorgibt, was die besten Speisen für das leibliche Wohlergehen sind, wo sie doch in Wahrheit nur den unverständigen Gaumenfreuden huldige. Die Kochkunst verfällt hier also einem Verdikt, das mit der Unterscheidung Wissensorientierung versus Lustorientierung arbeitet. Aristoteles scheint genau dieses Beispiel aufzugreifen, wenn er in der Metaphysik davon spricht,52 daß der Koch nur beiläufig heile, nicht aber aufgrund seiner Kochkunst. Tatsächlich aber liegt hier eine entscheidende 48 | Immerhin war der erste Versuch der Verwissenschaftlichung der Chemie bei Johann Joachim Becher methodisch genau so konzipiert: es sollte eine Sammlung und kritische Sichtung der alchemistischen Rezepturen sein; siehe Johann Joachim Becher: Chymischer Glücks-Hafen, oder grosse chymische Concordantz und Collection, von 1500 chymischen Processen: Durch viel Mühe und Kosten auss den besten Manuscriptis … zus. getr. Frankfurt: Schiele 1682. Vgl. auch: Pamela Smith: The Business of Alchemy, 2. Auflage, Princeton: University Press 1997, S. 29f. 49 | Platon: Gorgias 462d. 50 | Platon: Gorgias 517e. 51 | Platon: Gorgias 464c/d. 52 | Aristoteles: Metaphysik 1027a.

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Umwertung vor. Denn nun ist Kochkunst keine schmeichelnde Simulation von Heilkunst, sondern ist ihr bloß gänzlich akzidentell. Aristoteles hält aber für alle Wissenschaften und Künste ihnen eigentümliche Zwecke vor, so auch für die Kochkunst, und für diese speziell und die Kunst der Wohlgerüche betont er ausdrücklich ihren Zweck der Lustempfindung. Auch Giordano Bruno greift die Analogie geistiger Nahrung und derjenigen aus der Küche auf, und zwar in seiner Verteidigung des »Aschermittwochsmahls«. Er kennt jedoch neben dem Gesundheitsförderlichen und dem Gaumenschmeichelnden ein drittes Ingredienz der Botschaften aus der Küche, nämlich den Verdruß, der jedem Genuß seit Adams Sündenfall beigesellt ist: das sind die Steinchen, die die Zähne angreifen, die Fischgräten und Knöchelchen, die den Essenden mit Ersticken bedrohen, Haare des Kochs und anderer Unrat in den Speisen. Und ebenso ist in geistiger Nahrung (dem »Gastmahl in Gesprächsform«) stets auch neben dem durch Wahrheit Gedeihlichen und dem durch Schönheit Gefälligen das Verdrießliche enthalten.53 Wir sehen also, daß von Platon bis Bruno und weit darüber hinaus die Diätetik das Zentrum der Beurteilung der Kochkunst darstellte. Das vielleicht krasseste Beispiel einer medizinisch-diätetischen Vermiesung der Lust am Essen stammt von S.A.D. Tissot, Arzt in Lausanne, vermutlich also Calvinist.54 Aber es gibt auch Gegenbeispiele; das berühmteste ist vielleicht Montaigne. Er schrieb: »Die alten Griechen und Römer haben es vernünftiger gemacht als wir: Sie widmeten dem Essen (das eine der wesentlichsten Verrichtungen unseres Lebens ist) […] etliche Stunden, ja den besten Teil der Nacht, aßen und tranken weniger hastig, als wir es zu tun pflegen, die wir alles in Windeseile erledigen, und zogen dieses natürliche Vergnügen durch mehr genußreiche Muße in die Länge, indem sie allerlei nützliche und angenehme, der Geselligkeit dienende Unterhaltungen einflochten. […] muß man mich, will ich Diät essen, von den andern wegsetzen, und man darf mir kein bißchen mehr vorlegen, als für ihre Einhaltung vorgeschrieben ist – sonst vergesse ich, wenn ich mich zu Tisch setze, sogleich meinen Entschluß. […] Mir würde alle Eßlust genommen, wenn ich mich nach ärztlicher Vorschrift mit täglich drei, vier mageren Mahlzeiten abquälen müßte. Wer könnte mir dafür bürgen, daß mir zum Abendessen nicht der morgendliche, für alles offne Appetit vergangen sein wird? Laßt uns, vor allem uns Greise, feste zugreifen, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet! Überlassen wir die täglichen Diätempfehlungen den Ärzten

53 | Giordano Bruno: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Hamburg: Felix Meiner 1977, S. 5ff. 54 | Siehe S.A.D. Tissot: Von der Gesundheit der Gelehrten, Zürich: Füeßlin 1768.

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122 | Kurt Röttgers und Kalendermachern!«55 Solange aber diese den Ton angeben im Diskurs über das Essen, dient die Kochkunst noch nicht als prominentes Beispiel oder Paradigma der Urteilskraft als Form des Umgangs mit Wissensdefiziten und daher als eine hervorragende Kulturleistung. Bei Kant rückt dann zwar der Geschmack an die Stelle, von der aus die Urteilskraft und auch die Kritik erst verständlich wird, aber es ist eher der Geschmack in Fragen der Kunstbeurteilung als der Geschmack in Fragen der Beurteilung der Produkte aus der Küche. Und es hat auch keinen der Zeitgenossen oder Kant selbst irritiert, daß der Kunst-Geschmack auf die Sinnlichkeit des Schmeckens verweist. Insofern ist zwar eine »Kritik der Urteilskraft« angesagt, zu ihr aber gehört nicht – weder als Teil noch als Seitenstück – eine »Kritik der kulinarischen Vernunft«. Als Francesca Rigotti am Beginn des 21. Jahrhunderts dieses Pensum nachzuholen versuchte, da blieb allerdings auch sie vorrangig dem Leitbild der Nahrungsaufnahme verhaftet, während doch das eigentlich Kulturelle der Aisthetik des Kochens in der Pflege und Kultivierung der Sinnlichkeit besteht. Daher verschreibt Rigotti sich auch dem Schema von Einheit – Vielheit durch Analyse – Einheit durch Synthese, oder, sofern es die Nahrungszubereitung betrifft, dem Mahlen, Manschen und Backen. Eine Philosophin der Urteilskraft, war Hannah Arendt zugleich eine Meisterin der Kochkunst. Mit letzterem fand sie bei ihren Gästen zu ihrem eigenen Bedauern jedoch nicht den gleichen Anklang wie mit ihren philosophischen Büchern. Dabei ist es so evident, daß letztere, ähnlich wie ein geistreiches Gespräch wegen des flüchtigen Charakters stärker auf die unmittelbare Wirkung und das heißt auch die unmittelbare Anerkennung angewiesen ist als die auf Langfristigkeit angelegten Bücher. Im temporalen Medium des Vorübergehenden liegt ja doch die eigentliche Bewährung der Urteilskraft; die Endlichkeit, die Üblichkeit und der Widerfahrnischarakter bilden die Rahmenbedingung der Ästhetik des Kochens. Gute Speisen sind weder für die Ewigkeit berechnet, sondern in der Regel verderblich, aber, was genauso wichtig ist, mit Geduld muß auch eine Reife abgewartet werden können: der Teig muß gehen, die Beize muß einwirken und mit der Zubereitung einer Peking-Ente muß schon drei Tage vorher begonnen werden, Tomaten müssen am Strauch reifen können etc. – Noch sind gute Speisen überall in gleicher Weise zu haben. McDonalds Anspruch, global die gleiche Qualität überall auf der Welt anzubieten, ist anti-kulinarisch schlechthin. Bouillabaisse, Hamburger Fischsuppe und Ungarische Fischsuppe müssen etwas ganz Verschiedenes sein. Es ist nicht ganz klar, was es ist, was wir nicht wissen, daher ist es auch nicht ganz klar, was es ist, was wir wissen. In diesem Mangel an Klarheit in diesem Clair/Obscur unserer Wissensbemühungen hilft nur die Urteils55 | Michel de Montaigne: Essais, übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt a.M.: Eichborn 1998, S. 556f.

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kraft. Wissen distanziert uns die Gegenstände der Welt. Einer der Gründe für Nichtwissen kann daher die zu große Nähe der Gegenstände zu unseren Sinnen sein. Die Gegenstände unserer Sinne können je nach dem Sinn, in dem sie begegnen, leichter oder weniger leicht in Distanz gehalten werden. Gesicht und Gehör machen uns die Distanzierung leichter als Tastsinn, Geruch und Geschmack.56 Diesen Zusammenhang zwischen Wissen und Schmecken (savoir et saveur), zwischen Erkennen aus Distanz und Berührungs-Erkennen hätte eine Kritik der kulinarischen Vernunft zu thematisieren. Diese kann im folgenden nicht ausgeführt werden, sondern ihre möglichen und nötigen Inhalte seien nur kurz umrissen.57

II.2 Mögliche Inhalte einer Kritik der kulinarischen Vernunft Eine mögliche Kritik der kulinarischen Vernunft könnte folgende Fragen behandeln: Was hat in der Küche zu geschehen: Wie soll man kochen, was soll man kochen, wer soll kochen? (»Ästhetik«) Was soll man essen und trinken: medizinisch-diätetisch und kulturanthropologisch betrachtet und nach Getränken und Speisen differenziert? (»Analytik«) Inwiefern kann die Mahlzeit und die Tischgesellschaft als eine Organisationsform des kommunikativen Textes betrachtet werden? (»Dialektik«) Was sind die Leistungen und die Grenzen einer philosophischen Kulinarik? Als Unterfrage die nach der kulinarischen Ausschweifung als Synthese nomadischer und ersitzender Vernunft? (»Metakritik«)58 56 | Siehe die Äußerung Cézannes, daß man einem Kornfeld zu nahe sein müsse, um es nicht mehr zu sehen, erwähnt bei Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 682. 57 | Erste Schritte einer Ausführung werden demnächst in der erweiterten Fassung dieses Beitrags unter dem Titel: Kants vierte Kritik im gleichen Verlag wie dieser Sammelband erscheinen. 58 | Die methodische Unterscheidung dieser vier Ebenen versucht etwas zu vermeiden, woran mir Harald Lemkes Beiträge zu einer Gastrosophie generell zu leiden scheinen, nämlich die Vermengung unterschiedlichster Aspekte in einem einheitlichen Projekt, mag dieses nun »eine kritische Theorie des ethisch guten Essens« heißen (so in: »Gastrosophische Aspekte der Kulinaristik«, in: A. Wielacher/ R. Bendix [Hg.], Kulinaristik: Konzepte und Modelle ihrer Umsetzung, Münster: LIT-Verlag 2007) oder in der Maxime gipfeln: »Das moralisch (gastrosophisch) Gute beruht, […] in der Erkenntnis und Berücksichtigung der umweltlichen, ökonomischen, gesundheitlichen und kulturellen Auswirkungen der Esssitten auf das Wohl, den Alltag und die Gesundheit des einzelnen Menschen sowie die Gerechtigkeit und natürlichen Lebensgrundlagen aller.« (So in »Ethik des ›guten Essen‹«, in: I. Jahn/ U. Voigt [Hg.], Essen mit Leib und Seele, Bremen: Edition Temmen 2002) Hier

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124 | Kurt Röttgers In der Ästhetik der Kritik der kulinarischen Vernunft müßten vorrangig folgende Themen angesprochen werden: Was sind die »Rohstoffe« in der Küche, was ist eßbar, was ist genießbar und wie macht man Eßbares genießbar? Und das ist nicht nur eine quasi naturwissenschaftlich-empirisch zu beantwortende Frage, die etwa die Unterscheidung giftiger und ungiftiger Rohstoffe beträfe, sondern unter kulturwissenschaftlicher Perspektive ist es vor allem die Frage der Abgrenzung von Natur und Kultur, die von Seiten der Kultur aus immer neu gezogen werden muß, auch in der Küche. Und diese Frage ist nicht nur in den Kulturen verschieden beantwortet worden, sie muß auch innerhalb einer Grundunterscheidung immer wieder neu vollzogen werden. Viele Rohstoffe kann man roh essen oder man kann sie grillen oder braten, oder man kann sie sieden oder kochen; jeweils wird die Grenze zwischen Natur und Kultur anders gezogen. Hierher gehört auch die Frage, wer kochen soll, die Frauen oder die Männer, Spezialisten oder alle miteinander. Wichtig ist auch die Temporalstruktur des Zubereitens der Mahlzeit, und das ist nicht nur Frage nach Fast Food oder Slow Food, sondern auch die nach den Garzeiten und Reifezeiten der Speisen. In der Küche geht es ferner darum, das natürliche Verderben der Speisen zu verzögern durch spezielle Arten des Haltbarmachens, aber auch darum, bestimmte Verderbensprozesse durch spezielle Hefepilze gezielt zur Haltbarmachung quasi als Reflexivwerden von Gärung und Verfaulung zu nutzen. In dem Teil der Kritik der kulinarischen Vernunft, den wir Analytik getauft haben, wird es darum gehen, was man essen soll. Als erstes und auch in der Geschichte der abendländischen Kultur lange Zeit dominant war die diätetische Frage danach, was der Natur des Menschen am zuträglichsten ist. Es wird sich allerdings erweisen, daß auch diese vermeintlich objektive Fragestellung, die eine richtige Antwort erheischte und von den Diät-Medizinern klar beantwortet werden könnte, sehr stark kulturell überformt ist. So ist etwa die Anthropophagie von Polyphem über Columbus’ Cariben bis zu Soylent Green ziemlich einhellig abgelehnt, obwohl wahrscheinlich gesundheitlich unbedenklicher als so manches Stück Fleisch aus der Massentierhaltung. Es wird also zentral um eine Kultur der Speisen gehen; lange Zeit wurden die »Liebesäpfel« als giftig angesehen, heute werden sie massenweise als Tomaten verspeist. Der Ekel vor bestimmten Speisen ist nicht nur individuell ausgeprägt (und da auch noch lebensgeschichtlich variabel), sondern auch kulturell. Zu berücksichtigen ist auch die Literaturgeschichte der Kochbücher und die von ihnen gepflegten Moden. Kochbücher der frühen Fünfzigerjahre etwa priesen Toast »Hawai« als Inbegriff kulinarischer Raffinesse der aufgeschlossenen Hausfrau an. werden Aspekte einer Ästhetik, einer kulinarischen Lebenskunst, einer Ethik, einer Politik, einer Ökologie, einer Anthropologie und einer humanmedizinischen Diätetik kombiniert.

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Dann trat die Pizza, ursprünglich ein italienisches Reste-Essen, an die Stelle des Besten, was die Küche zu bieten hat usw. Ein besonderes Unterkapitel hat in der Analytik die Kultur der Getränke einzunehmen. An der traditionellen Hauptfrage Wein oder Wasser scheiden sich seit Jahrhunderten die Geister. Wenn die Analytik überwiegend die Frage der Zuträglichkeit der Speisen, sei es für die Gesundheit, sei es für die kulturell geprägten Gaumenfreuden behandelt, zeigt sich darin allgemein, daß noch das Essen als ein Mittel zu einem zu erreichenden Zweck eingesetzt wird. Das ändert sich in der Dialektik, die die Mahlzeit als soziale Organisationsform sinnlicher Genüsse behandelt. Damit werden die Sinnlichkeit des Abschmeckens und die Erwägung angemessener Ernährung verlassen in Richtung auf eine Gesamtheit des guten Lebens. Zugleich wird die Kulturphilosophie in Richtung auf eine Sozialphilosophie hin überschritten. Es wären dann verschiedene Modelle zu prüfen, wie das Miteinander zu denken sei. Das beginnt bei der Form des »Abendmahls«, bei der die spirituelle Vergemeinsamung im Mittelpunkt steht und daher die genossenen Speisen eine nachrangige Rolle spielen, geht über die Form der Geselligkeit, bei der sich Gespräch und Genuß ineinander verweben, eine Form, für die Kant in der Anthropologie tatsächlich auch die ersten Anregungen geliefert hat, und führt schließlich zu der Dialektik von Einheit und Vielheit, die die unabweisbare Frage nach den Kosten der Einheit aufwirft: Die Tischgesellschaft als soziale Integrationsform (»kommunikativer Text«) ist zwar einerseits immer eine Vielheit, die sich um ein Zwischen gruppiert, als sinnliche Gemeinschaft ist sie jedoch immer auch eine Einheit, die sich sowohl gegenüber den gesellschaftlichen Anderen, als auch über Dritten und gegenüber Fremden abgrenzt (letzteres allerdings nicht ganz so eindeutig, wie die kulinarischen Exotismen belegen). Seitdem es in den meisten Haushalten kein Küchenpersonal mehr gibt, und sei es auch in der Schwundform der Fünfzigerjahre als Hausfrau, rücken Kochen und Mahlzeit wieder näher zusammen, vor allem da, wo ein gemeinsames Kochen gepflegt wird. Anstelle einer Methodenlehre folgt als letzter Abschnitt eine »Metakritik«, die sich die philosophischen Bedingungen einer Kritik der kulinarischen Vernunft selbst zum Thema macht. Eine Konsequenz dieser Metakritik wird sein ein Plädoyer für die kulinarische »Ausschweifung«, die das Modell für eine Synthese ersitzender und nomadischer Vernunft zu sein verspricht und die damit die Kantische Dialektik in Richtung auf die Hegelsche methodisch überschreitet.

II.3 Ansätze im Kantischen Werk Nun ist aber die Frage, die sich auch im Fall der Kritik der bildlichen Vernunft aufdrängte, ob es nicht im Werk Kants Ansätze zu einer solchen Kritik der kulinarischen Vernunft gibt. Und meine prima vista gewagte

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126 | Kurt Röttgers These ist, daß es sie tatsächlich gibt. Ich schlage vor, einen Blick auf jenes Spätwerk Kants zu werfen, die Anthropologie, und dort vor allem auf den Paragraph 88,59 der von zentraler Wichtigkeit ist, weil er die Frage der Verbindbarkeit von Gesichtspunkten der Sittlichkeit mit denen des Wohllebens aufwirft; dieses nennt Kant das »höchste moralisch-physische Gut«. Die Ausgangsüberlegung ist, daß es sich bei der Verbindbarkeit nicht um eine »Vermischung« handeln dürfe, die die Reinheit der Prinzipien gefährde und damit sowohl die Sittlichkeit als auch das Wohlleben bedrohten, ja, vernichteten. Es ist die Spannung und der Konflikt der zwei Prinzipien, der die Humanität des sozialen Umgangs ausmacht. In der Ausgestaltung dieser nicht-nivellierenden Vereinigung von Wohlleben und Tugend lernen wir einen Kant kennen, der neben dem Willen zur Einheit der Vernunft durchaus auch eine Lust an der Vielheit der Genüsse kennt, der also vielleicht auch unter Aisthesis etwas anderes als die Wahrnehmung durch die distanzierenden und synthetisierenden Sinne verstehen könnte, zum Beispiel die Wahrnehmung und den Wissenserwerb durch die differenzierenden Nahsinne des Geschmacks und Geruchs. Kant spricht von den guten Mahlzeiten und den geselligen Vergnügen, bei denen gepflegte Gespräche geführt werden, durch die die Menschen sich so unterhalten, daß sie »einander selbst zu genießen die Absicht haben«. Er hat ziemlich genaue Vorstellungen davon, was zerstörerisch oder hinderlich für die Entfaltung eines solchen geselligen Gesprächs anläßlich einer guten Mahlzeit sein wird: Musik, Tanz und Spiel. Sie stören oder zerstören die angestrebte Verbindung von Wohlleben und Tugend, weil sie die »Conversation« hindern. Aber auch die bloße gute Mahlzeit (als »Gelag und Abfütterung« bezeichnet) ist nach Kant geschmacklos. Die Mahlzeit ist nur die Form der Organisierung des geistreichen Gesprächs. Wesentlich ist das belebende Spiel der Gedanken in einer Gesellschaft, das heißt die Vielfalt. Kant verdammt daher den »Solipsismus convictorii«. Ein philosophierender Gelehrter dürfe einfach nicht alleine speisen, das sei sogar ungesund, sagt er. Denn der Philosophierende trage seine Gedanken immer mit sich herum, er kann sie nicht ablegen, wie es die Wissenschaftler der empirischen Wissenschaften können. Also wird er auch beim »Solipsismus convictorii« von seinen Gedanken gequält, so daß sein Essen zur erschöpfenden Arbeit, nicht zur Erholung der Kräfte gerät, wohingegen ein Mahl in guter Gesellschaft ihm eine Vielheit von Anregungen und Ablenkungen von seinen festgefahrenen Gedanken geboten hätte. Die Vielheit der Gerichte an einer vollen Tafel hält diese Vielheit der Gespräche in Gang. Die Gespräche haben nach Kants Beobachtungen in der Regel drei Phasen: Erzählen, Räsonnieren, Scherzen. Immer aber kommt es darauf an, daß sich wirklich alle Tischgenossen beteiligen können. Die von Kants Tischgenosse Hippel seinerzeit eingeforderte »Kritik der kulinarischen 59 | I. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. VII, a.a.O., S. 277ff.

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Vernunft« hat Kant zwar nicht ausgeführt, aber hier in der Anthropologie im Ansatz bereits skizziert. Und es ist diese nicht ausgeführte vierte Kritik, die die Vielheit rehabilitiert. Hier ist von den »Gesetzen der verfeinerten Menschheit« (im Plural!) die Rede statt von dem einen Sittengesetz. »Der Purism […] ohne gesellschaftliches Wohlleben« ist für ihn hier eine verzerrte Gestalt der Tugend. Und daß es sich dabei um die nicht aufzulösende Auseinandersetzung von Einheit und Vielheit handelt, wird überdeutlich durch Anmerkung 3 dieses Paragraphen. Hier wird nämlich der philosophierende Gelehrte, der – wie gesagt – besser nicht alleine speisen sollte, unterschieden von dem Begriff des Philosophen, der eine Idee bezeichnet und von dem daher überhaupt nur im Singular die Rede sein kann. Im Plural von den Philosophen zu reden, hieße, eine Vielheit anzunehmen von dem, »was doch absolute Einheit ist«. Das korrespondiert mit KrV B 407, wo davon die Rede ist, daß das Denken, das Ich der Transzendentalen Apperzeption, ein »Singular« ist, »der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann«. Wenn es bei Kant jene ausgeführte Kritik der kulinarischen Vernunft gäbe, dann hätte sie folglich im Bereich der praktischen Philosophie eine ähnliche Vermittlungsaufgabe wie das Schematismus-Kapitel als Nucleus einer Kritik der bildlichen Vernunft im Bereich der theoretischen Philosophie. Diese Kritik liefe nicht auf eine Ethik hinaus, sondern auf eine um Gesichtspunkte der Aisthesis erweiterte Diätetik. Nicht um Sittlichkeit ginge es ihr, sondern um Fragen der Zuträglichkeit sowohl der Sittlichkeit als auch der Sinnlichkeit. Daß das alles aber nicht nur eine reife Alterseinsicht Kants ist, was sich hier als Kern einer Kritik der kulinarischen Vernunft in der Anthropologie findet, belegt die jüngst von Werner Stark herausgegebene Vorlesungsnachschrift der Vorlesungen zur Moralphilosophie bereits der Jahre 1773-75. Dort heißt es anläßlich der Behandlung der Moral des Kynikers Diogenes, die sich auf den Leitsatz bringen lasse: »Ihr könnt glücklich seyn ohne Überfluß, ihr könnt sittlich seyn ohne Tugend«:60 Die Reduktion auf Naturalität fahre – so Kant – die Ansprüche sowohl im Hinblick auf das Wohlleben als auch im Hinblick auf die Sittlichkeit so weit zurück, daß es kein Problem ist, beide verträglich zu halten. Kant aber sah zu Recht und im Unterschied zu Rousseau das Problem der Moderne darin, die irrevozible Ausdifferenzierung der Sphären der Sittlichkeit und des Wohllebens noch integrieren zu können. Genau das hätte eine Kritik der kulinarischen Vernunft, jene ungeschriebene Schrift Kants, zu leisten.

60 | I. Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, hg.v. W. Stark, Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 15.

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128 | Kurt Röttgers

Literatur Baumgartner, Hans Michael: »Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik«, in: H.M. Baumgartner/Jörn Rüsen (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 274-302. Becher, Johann Joachim: Chymischer Glücks-Hafen, oder grosse chymische Concordantz und Collection, von 1500 chymischen Processen: Durch viel Mühe und Kosten auss den besten Manuscriptis … zus. getr. Frankfurt: Schiele 1682. Beck, Jakob Sigismund: Erläuternder Auszug aus den Critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben. Bd. III, welcher den Standpunct darstellt, aus welchem die critische Philosophie zu beurtheilen ist, Riga: Hartknoch 1796. Bruno, Giordano: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Hamburg: Felix Meiner 1977. Camartin, Iso: Lob der Verführung, Zürich/München: Artemis 1987. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992. Dietzsch, Steffen: »Schema & Bild«, in: K. Röttgers/M. Schmitz-Emans (Hg.), Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Essen: Verlag die Blaue Eule 1999, S. 166-173. Dietzsch, Steffen: Immanuel Kant, Leipzig: Reclam 2003. Diels, Hermann/Kranz, Walter (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Auflage, Zürich: Weidmann 1952. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, Bd. I, Leipzig/Berlin: Teubner 1922ff. Dobruschka, Moses: Philosophie sociale, Paris: Froullé 1791. Fichte, Johann Gottlob: Werke, Bd. I/1, hg.v. R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1964ff. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1998. Held, Klaus: Lebendige Gegenwart, Den Haag: Nijhoff 1966. Herder, Johann Gottfried: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, hg.v. F. Bassenge, Berlin: Aufbau-Verlag 1955. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg.v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter 1910ff. Kant, Immanuel: Vorlesung zur Moralphilosophie, hg.v. W. Stark, Berlin/ New York: de Gruyter 2004. Kraus, Christian Jacob: Vermischte Schriften, Bd. VIII, Königsberg: Universitätsbuchhandlung 1819. Lemke, Harald: »Ethik des ›guten Essen‹«, in: I. Jahn/U. Voigt (Hg.), Essen mit Leib und Seele, Bremen: Edition Temmen 2002. Lemke, Harald: »Gastrosophische Aspekte der Kulinaristik«, in: A. Wielacher/R. Bendix (Hg.), Kulinaristik: Konzepte und Modelle ihrer Umsetzung, Münster: LIT-Verlag 2007.

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Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft | 129

Locke, John: Works, Vol. I, Neudruck Aalen: Scientia 1963. Montaigne, Michel de: Essais, übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt a.M.: Eichborn 1998. Nyíri, Kristóf: Kritik des reinen Bildes unter: www.phil-inst.hu/highlights/ pecs_kant/schema.htm. Peters, Klaus: »Über die Erkennbarkeit der Welt«, in: Dialektik 14 (1987), S. 143-156. Platon: Gorgias, in der Übersetzung von Otto Apelt, 2. Auflage, Leipzig: Meiner 1922. Rigotti, Francesca: Immanuel Kant: Köche ohne Zunge, Göttingen: Steidl 1997. Rigotti, Francesca: Philosophie in der Küche, München: Beck 2002. Röttgers, Kurt: Kritik und Praxis, Berlin/New York: de Gruyter 1975. Röttgers, Kurt: »Der Standpunkt und die Gesichtspunkte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 257-284. Röttgers, Kurt: »Kants Zigeuner«, in: Kant-Studien 88 (1997a), S. 60-86. Röttgers, Kurt: Sozialphilosophie. Essen: Verlag Die Blaue Eule 1997b. Röttgers, Kurt: »Zwei Königsberger ›Bäume‹«, in: Königsberg-Studien, hg.v. Joseph Kohnen, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/usw.: Lang 1998, S. 273-293. Röttgers, Kurt: »Erfahrungsverluste durch Moral – alles halb so schlimm«, in: J. Fellsches/W.L. Hohmann (Hg.), Ethik und wissenschaftliche Objektivität, Essen: Verlag Die Blaue Eule 2001, S. 19-38. Röttgers, Kurt: »Autonomes und verführtes Subjekt«, in: P. Geyer/M. Schmitz-Emans (Hg.), Proteus im Spiegel, Würzburg 2003, S. 65-85. Röttgers, Kurt: »Der Sophist«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Die Kultur denken, Freiburg/München: Alber 2007 (im Erscheinen). Scholem, Gershom: »Ein Frankist: ›Moses Dobruschka und seine Metamorphosen‹«, in: Max Brod, Ein Gedenkbuch, hg.v. H. Gold, Tel Aviv: Olamenu 1969, S. 77-92. Stammler, Rudolf: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig: Veit 1896. Stark, Werner: »Kant und Kraus. Eine übersehene Quelle der Königsberger Aufklärung«, in: Reinhard Brandt/Werner Stark (Hg.), Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen, Hamburg: Meiner 1987, S. 165-200. Smith, Pamela: The Business of Alchemy, 2. Auflage, Princeton: University Press 1997. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Sinnkriterien: Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein, Paderborn: Schöningh 1995. Tissot, S.A.D.: Von der Gesundheit der Gelehrten, Zürich: Füeßlin 1768.

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Veredelnde Inoculation: Nietzsche und das Essen | 131

Veredelnde Inoculation: Nietzsche und das Essen Tobias Nikolaus Klass

Vorbemerkung Würde ein Koch einen Blick auf die Praxis der Theorie werfen, könnte er Nietzsche in diesem Spektakel wohl nur als einen Zutaten-Philosophen ansehen. Kaum ein Theoretiker, der nicht gern seinen Text mit einem Nietzsche-Zitat würzt, ein Nietzscheanisches Bonmot in seine Zeilen streut wie eine Prise Safran. Nietzsches Philosophie scheint eine Philosophie en miette, die sich zuerst für den Gebrauch post festum eignet: Nachdem alle Gedanken formiert sind, das Theorie-Gericht als solches vollendet ist, garniert man diese oder jene Stelle noch mit etwas Nietzsche, der Schärfe halber, der Prägnanz oder – ob seines Talents zur pointierten Formulierung – zur geschmacklichen Abrundung. An dieser Verwendungsweise seiner Texte ist Nietzsche selbst nun alles andere als unschuldig. Und das nicht nur wegen der über große Strecken aphoristischen Form seiner Schriften – eine Form, die, wie er nicht müde wird zu betonen, man gemeinhin »nicht schwer genug nimmt«, weil man Aphorismen gewöhnlich nur »ablese«, statt sie, wie nötig, »wiederzukäuen« (5, 256)1 –, sondern auch und vielleicht zuerst, weil er wie kaum ein Zweiter vor ihm darauf insistiert hat, dass der Philosoph »Ernst zu machen« habe mit den »Necessitäten des Daseins«, und »die von allen Zeiten verachteten und bei Seite gelassenen niedrigen Dinge wichtig« zu nehmen, das »bisher Verachtetste […] in die erste Linie« (13, 236) zu rücken habe. Diese Perspektivverschiebung ist der Grund dafür, dass Nietzsche fordert, 1 | Nietzsches Schriften werden im Folgenden zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg.v. Giorgio Colli und Massimo Montinari, Frankfurt a.M./New York: Walter de Gruyter/dtv 1967-77. Alle Nietzsche-Zitate werden im vorliegenden Text jeweils mit der Band-Nummer dieser Ausgabe sowie der Seitenzahl ausgewiesen. Sperrungen in den Zitaten werden kursiv wiedergegeben.

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132 | Tobias Nikolaus Klass stets »vom Kleinsten, Nächsten auszugehen« (9, 622), wie »zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren« (2, 541). Was unter anderem zur Folge hat, dass sein Werk nicht nur, wie das Montaignes oder LaRochefoucaulds, zu einem reichen Zitatenschatz geistreicher »Sprüche und Pfeile« geworden ist, sondern auch zu einer Fundgrube für fein beobachtete Beschreibungen denkwürdiger Alltäglichkeiten. Etwa, wenn es um’s Essen geht, wie die folgenden: »Die alten Culturvölker Amerikas kannten den Gebrauch der Milch nicht./Der Chinese ißt sehr viel Gerichte in sehr kleinen Portionen./Man will sich nicht die Fehler eines Thiers aneignen z.B. die Feigheit des Hirsches (auf Borneo) […]/Unsinnige Massen Reis ißt z.B. der Siamese« (10, 325). Die Frage ist nun: Ist das alles? Das heißt ist Nietzsche zuerst ein Philosoph, der sich als Sprichwort- und Kuriositätenlieferant eignet, oder gibt es hinter oder unter diesen Bemerkungen über die »kleinen Necessitäten« des Lebens wie das Essen bzw. Essgewohnheiten mehr zu entdecken, einen eigenständigen philosophischen Gehalt, Ansätze gar zu einer Philosophie des Essens? Diese Frage scheint – folgt man dem aktuellen Trend zur Verwandlung von Philosophie in Lebensratgeberschaft – in Nietzsches Spätwerk eine klare Antwort gefunden zu haben. Im Abschnitt »Warum ich so klug bin« aus seiner »Autobiographie« Ecce homo geht Nietzsche der Frage nach, warum er »einiges mehr weiß« als alle anderen; und in diesem Zusammenhang berichtet er von einem von ihm eingeschlagenen Perspektivwechsel: weg von den Fragen, »die keine sind« – wie etwa »die Theologen-Curiositäten«, »Gott«, »Unsterblichkeit der Seele«, »Erlösung« unter anderem – hin eben zur sehr viel wichtigeren »Frage der Ernährung« (die er später ergänzt um die Frage nach »Ort und Klima« [6, 281]).2 Diese Frage, so Nietzsche, könne man sich »zum Handgebrauch, so formulieren: wie hast gerade Du Dich zu ernähren, um zu deinem Maximum an Kraft, an virtú im Renaissance-Stile, von moralinfreier Tugend zu kommen?« (6, 279) Es folgen einige Kraftsprüche gegen die herrschende Bildung, »welche von vorneherein die Realität aus den Augen zu verlieren lehrt, sogenannten idealen Zielen nachzujagen«, um im Anschluss daran ganz lebensnah verschiedene Lebensmittel in Augenschein zu nehmen und auf mögliche Wirkungen hin zu bedenken. Auf diese Weise entstehen »ein paar Fingerzeige […] aus meiner Moral: Eine starke Mahlzeit ist leichter zu verdauen als eine zu kleine. Dass der Magen als Ganzes in Thätigkeit tritt, erste Voraussetzung einer guten Verdauung. […] Aus gleichem Grunde sind jene langwierigen Mahlzeiten zu widerrathen, die ich unterbrochene Opferfeste 2 | Es sind vor allem Äußerungen wie diese, die für Stephan Günzel aus Nietzsche den Begründer einer »Geophilosophie« und damit einer der Hauptprotagonisten des »spatial turn« machen; vgl. Stephan Günzel: Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin: Akademie Verlag 2001.

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nenne, die an der table d’hôte. – Keine Zwischenmahlzeiten, keinen Café: Café verdüstert. Thee nur morgens zuträglich, wenig, aber energisch: Thee sehr nachtheilig und den ganzen Tag ankränkelnd, wenn er nur um einen Grad zu schwach ist.« (6, 281) Um was geht es hier? Auf den ersten Blick sind dies Notate aus einem »römischen« Handbuch zur rechten Kunst des Lebens.3 Dies ist der erste Blick, den freilich schon ein flüchtiger zweiter zunichte macht. Denn zum einen weiß Nietzsche nur zu gut, dass das, was dem einen zuträglich sein mag, dem nächsten ganz und gar abträglich sein kann, allgemeine diätetische Vorschriften daher Unsinn sind. »Was der höheren Art von Menschen zur Nahrung oder zum Labsal dient«, schreibt er etwa in Jenseits von Gut und Böse, »muß einer sehr unterschiedlichen oder geringeren Art beinahe Gift sein« (5, 48). Und zum anderen, und das wiegt schwerer, dient ihm gerade die Frage des Essens und der Diät dazu, falsche Kausalitäten zu entlarven. In dieser Absicht hält Nietzsche unter anderem dem zu seiner Zeit sehr prominenten Diäten-Buch von Cornaro vor, »viel Unheil gestiftet« zu haben eben durch eine Vertauschung von Ursache und Wirkung: »Der biedere Italiener«, heißt es in der Götzendämmerung, »sah in seiner Diät die Ursache seines langen Lebens: während die Vorbedingung zum langen Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoffwechsels […] die Ursache seiner schmalen Diät war« (6, 88). Um diese Frage beantworten zu können, muss man einen etwas genaueren, eben nicht auf der Ebene des Zitate-Ablesens verharrenden Blick in Nietzsches Texte werfen, sondern man muss Nietzsche »wiederzukäuen« verstehen. Dem soll im Folgenden in drei Schritten zu entsprechen versucht werden: Der erste Abschnitt geht – natürlich nur grob – Grundbestimmungen der Philosophie Nietzsches nach, auf denen Nietzsches Denken auch über Ernährungsfragen ruht (oder zumindest: ruhen könnte). Im anschließenden zweiten Abschnitt soll sich dann Nietzsches spezifischer Auffassung von Wesen und Funktionsweisen der Ernährung zugewendet werden, um zum Abschluss noch einmal auf die Frage nach dem möglichen Ertrag der Überlegungen Nietzsches zu Wesen und Wirkung bestimmter Ernährungsformen für die Philosophie bzw. eine Philosophie des Essens eingehen zu können.

I. Von den vielen Begrifflichkeiten und Intuitionen, die Nietzsche mal mehr, mal weniger systematisch in seinem Denken erprobt, sind, um die Frage nach dem Stellenwert seiner Äußerungen zu Fragen der Ernährung be3 | Nietzsche hat wiederholt betont, dass er sich »den Römern« noch je näher gefühlt hat als »den Griechen« (vgl. 6, 154ff.).

2008-01-29 12-46-45 --- Projekt: T694.lemke.tischgesellschaft / Dokument: FAX ID 030e169566644696|(S. 131-155) t01_07 klass.p 169566644928

134 | Tobias Nikolaus Klass antworten zu können, alle die Gedanken, die um das Schlagwort »Wille zur Macht« kreisen, die wohl wichtigsten. Diese Gedanken in all ihrer Komplexität und all ihren Bezüglichkeiten vorstellen zu wollen, überschreitet nun natürlich bei weitem das hier Mögliche.4 Es sei sich daher auf die Aspekte dieses Gedankens konzentriert, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Nietzsches Überlegungen zur Frage der Ernährung stehen. Ausgangspunkt für Nietzsches Überlegungen zur Macht sind – neben seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauers »Willens«-Begriff – bekanntlich eine Reihe naturwissenschaftlicher Autoren, denen er sich Anfang der 80er Jahre verstärkt widmet: den biologischen Lehren des Anatomen Willhelm Roux, den physikalischen Untersuchungen Robert Mayers und Ruggero Guiseppe Boscovichs, sowie der »realmonistischen Weltanschauung« von Johann Gustav Vogt.5 Im Laufe des Studiums dieser Werke entsteht in ihm die Überzeugung, dass »diese Welt […] ein Ungeheuer von Kraft [ist], ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von 4 | Es sind vor allem drei Arbeiten, die in der Diskussion um den »Willen zur Macht« als richtungsweisend gelten: Heideggers Überlegungen zur Ontologie der Macht im zweiten Band seines Nietzsche (vgl. Martin Heidegger: Nietzsche II, Pfullingen: Verlag Günther Neske 1961, S. 257ff.); Müller-Lauters gegen Heidegger gerichtete anti-substantialistische und plurale Interpretation des Machtbegriffs bei Nietzsche (vgl. Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1971, und ders.: »Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht«, in: Nietzsche-Studien 3 [1974], S. 1-61); und schließlich Gerhardts Vermittlungsversuch zwischen den beiden genannten Positionen (vgl. Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1996). 5 | Der Einfluss der naturwissenschaftlichen Studien Nietzsches auf sein eigenes Denken liegt in zahlreichen Einzelstudien dokumentiert vor: Zu Vogt und Mayer vgl. Martin Bauer: »Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff«, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 211-227; zu Wilhelm Roux vgl. Wolfgang Müller-Lauter: »Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche«, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189-223; zu Mayer und Boskovic vgl. Günther Abel: Nietzsche. Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1984. Gebhard fügt dem noch Betrachtungen zum Einfluss Otto Casparis hinzu (vgl. Walter Gebhard: Nietzsches Totalismus. Philosophie der Natur zwischen Verklärung und Verhängnis, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1983); Gerhardt gibt einen zusammenfassenden Überblick über Nietzsches Interesse an den genannten Autoren (vgl. Gerhardt: Vom Willen zur Macht, a.a.O., S. 193ff.). Eine umfassende Studie zum Thema ist die von Spiekermann (vgl. Klaus Spiekermann: Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1992).

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Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, […] als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ›Vieles‹« (11, 611). Diese »Einsicht« in das Wesen der Welt führt ihn in der ihm eigenen Art der Generalisierung zu einem seiner »Grundsätze«: »Alles ist Kraft.« (10, 9)6 Wenn aber derart »Kraft« die Grundlage von allem ist, bedeutet dies zugleich: schon »im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich dann auslösen« (9, 493). »Kraft« ist also für Nietzsche nicht nur da, nicht einfach anwesend, sondern greift stets aus auf andere Kräfte, ist nur als »Kraft gegen Kraft«, das heißt ist nur durch das Sich-Messen mit anderen »Kräften«. In Nietzsches Worten: »Alle unsere Kräfte wollen fortwährend kämpfen.« (9, 599) »Kraft« ist so notgedrungen zu denken als eine Vielheit von »Kräften« (oder »Kraft-Quanta«7), die jeweils nur existieren als Beziehung zueinander, eine Beziehung, die sich ihrerseits definiert über den »Kampf«, das heißt über den permanenten, nicht endenden Versuch des Überwindens und Beherrschens der jeder einzelnen Kraft entgegentretenden Gegenkraft. Diese Ausgangslage erfährt im Laufe der 80er Jahre nun eine kleine, aber nicht unbedeutende Verschiebung, besonders gut dokumentiert in folgender Notiz: »Kraft«, heißt es da, zeige sich nur in »Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben« (13, 261). Mit dieser Bestimmung der Kraft nämlich sind nicht nur die oben genannten naturwissenschaftlichen Bestimmungen der Kraft philosophisch adaptiert, sondern es ist zugleich ein entscheidender Schritt über eine rein mechanistische Bestimmung der »Kraft« und ihrer Relationalitäten gemacht: in der Kräfte einander je nur als bereits fest bestimmte entgegenstehen und entsprechend vorhersagbar reagieren. Nietzsche aber will mehr: für ihn wollen, wie es hieß, Kräfte auf andere Kräfte »Macht« ausüben, und dieser »Kampf um Macht« bedeutet stets einen »Kampf um […] ›Mehr‹ und ›Besser‹ und ›Schneller‹ und ›Öfter‹«. (11, 492) »Macht«, schreibt Nietzsche, »ist essentiell ein Willen zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. […] Jedes Atom wirkt ins ganze Sein hinaus – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlungen von Machtwillen wegdenkt.« (13, 258) Auf diese Weise wird bei Nietzsche aus einem Netz aufeinander bezüglicher »Kräfte« oder »Kraft-Quanta« ein Netz aufeinander bezogener »Mächte« oder »Macht-Quanta«, wobei, was »Macht-Quanta« von »Kraft-Quanta« unterscheidet, darin zu suchen ist, dass »Machtquanta« in der sie definierenden Bewegung des Kraft-Auslassen-Wollens explizit Widerstände oder »Hemmungen« suchen, die sie zu überwinden 6 | Auch »die Gedanken sind Kräfte. Die Natur ergiebt sich als eine Menge von Relationen von Kräften« (11, 158). 7 | Vgl. etwa 13, 260. Bisweilen bezeichnet er auch einzelne »Kräfte« als »ein Quantum Kraft« (vgl. 5, 279).

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136 | Tobias Nikolaus Klass trachten, denn »eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesammtgefühl von überschüssiger überflüssiger Macht am stärksten an« (13, 358).8 »Macht« ist nach dieser Bestimmung nicht zuerst etwas, das man innehaben kann oder nicht; sondern Macht ist zuerst ein »Gefühl von Macht«9 im Augenblick der Überwindung einer Gegen-Macht, da »bloße Machtverschiedenheiten […] sich noch nicht als solche empfinden [könnten]: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt« (12, 139). Ein jedes »Etwas« wird so zu einem »wachsen-wollenden Etwas«, das seinerseits in diesem »Wachsen« stets nur nach einem strebt: »nach einem Maximal-Gefühl von Macht« (13, 274).10 An dieser unbedingten Abhängigkeit der »Macht« vom »Gefühl der Macht« zeigt sich, dass es Nietzsche mit all seinen Überlegungen zur »Macht« nicht zuerst um eine Theorie bzw. Apotheose der »Herrschaft« im landläufigen Sinne geht: das »Streben« nach »Macht« ist nicht das Streben nach einem Zustand der Beherrschung, der dem Herrschenden Vorteile über den Beherrschten sichert; sondern das »Streben« nach »Macht« ist vor allem »ein unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht« bzw. nach »Ausübung der Macht« (11, 563). Mit dem Streben nach Macht geht es dem Strebenden statt um akkumulierbaren Gewinn zuerst um genau die Gefühle und Erfahrungen, die eben nur der Prozess des Strebens nach Macht und die durch ihn inaugurierten »Kämpfe« ermögli8 | »Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maaß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhältnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerständen auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion eine Ingredienz von Unlust.« (13, 38) 9 | Bevor Nietzsche systematisch (etwa ab 1882) von der »Macht« bzw. dem »Willen zur Macht« spricht, gelten Anfang der 80er Jahre einige seiner Überlegungen dem »Gefühl der Macht«: im Anschluss augenscheinlich an die Lektüre von Jacob Wackernagels Buch über den Brahmanismus: vgl. 9, 145ff. In diesem Kontext verwendet er die Termini »Gefühl der Macht« und »Kraftgefühl« auch noch synonym: vgl. etwa 9, 194. Ein Widerhall davon findet sich auch in seinen veröffentlichten Schriften dieser Zeit, genauer in einem mit »Wirkung des Glücks« überschriebenen Aphorismus der Morgenröthe: »Die erste Wirkung des Glückes ist das Gefühl der Macht: diese will sich äussern, sei es gegen uns selber oder gegen andere Menschen oder gegen Vorstellungen oder gegen eingebildete Wesen. Die gewöhnlichsten Arten, sich zu äussern, sind: Beschenken, Verspotten, Vernichten, – alle drei mit einem gemeinsamen Grundtriebe.« (3, 240) 10 | In dieser Hinsicht unterscheiden sich »Macht« und »Kraft« nicht: »Man glaubt an Kraft, wo man das Kraftgefühl hat. Kraftgefühl gilt als Beweis von Kraft.« (9, 437; vgl. auch 10, 647)

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chen; »Macht«, wie Nietzsche sie bedenkt, ist somit zuerst der Name einer Lebens- und Erlebensweise statt der einer Herrschaftsform. Die ihrerseits selbst teleologisiert wird: Denn alles Streben nach Macht, so Nietzsche, sei seinerseits zuerst das Streben »zur beständigen Schöpfung oder zur Verwandlung oder zur Selbst-Überwältigung« (11, 538). Das Spiel des SichAuslassens, Wachsens und Hemmnisse-Überwindens der Macht erweist sich so zuerst als ein permanentes Suchen nach einem Gefühl, das zugleich das der Selbstbestimmung und das der Selbstüberschreitung ist. Auf diesen Bestimmungen der Macht ruht Nietzsches Weltbild und auch seine wohl berühmteste Formel: Die Welt, schreibt er, zeige sich ihm als »ein Ungeheuer von Kraft […], mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus den einfachsten die vielfältigsten heraustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus bis ins Glühendste, Wildeste, Sich-selbstWidersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs«; und angesichts dieser Bestimmung der Welt fragt Nietzsche: »– wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten?«, und antwortet: »Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« (11, 611) Wenn nun freilich die Welt »Willen zur Macht und nichts außerdem« ist, das ist ein Netz agonal aufeinander bezogener Kräfte, die einander permanent zu überwältigen versuchen, dann muss natürlich auch das »Leben« als ein Teil dieser Welt ebenso begriffen werden: »Leben selbst ist Wille zur Macht.« (5, 27)11 Diese sehr allgemeine Bestimmung des »Lebens« als »Willen zur Macht« übersetzt Nietzsche in der Folge Schritt für Schritt in die Welt der Lebewesen, das ist, wie er selbst es nennt, auf die Ebene der »Physio-Psychologie«. Der erste Schritt besagter Übersetzung ist die Bestimmung des »Lebens« durch die oben schon genannte Teleologie als eines, das »sich immer selbst ueberwinden muss«, das heißt als etwas, das selbst »Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch«: »Was ich auch schaffe«, verrät »das Leben« seinem Zuhörer Zarathustra über sein eigenes Wesen, »und wie ich’s auch liebe: bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille« (4, 148). Selbsterhaltung, für nicht eben wenige Philosophen der Neuzeit das entschei11 | Vgl. auch 12, 161; in Also sprach Zarathustra fasst Nietzsche beide Behauptungen wie folgt zusammen: »Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s – Wille zur Macht!« (4, 149) Diese letzte Version ist etwas weniger missverständlich als die einfache Identitätsaussage: »Leben ist Wille zur Macht«, aus der man schließen könnte, auch ihre Umkehrung sei richtig: »Wille zur Macht ist Leben.« Gegen diese Annahme heißt es in den Fragmenten explizit: »Das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht.« (13, 301)

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138 | Tobias Nikolaus Klass dende Definiens des Lebens, ist aus einer solchen Perspektive nur ein Nebeneffekt; denn im Streben nach »Selbstüberwindung« könnte »das Nichtsein […] uns werthvoller erscheinen als das Sein« (9, 226). »Leben« ist so gesehen nicht mehr zuerst ein unbestreitbarer Selbstzweck, »nicht ein Sich-erhalten-wollen, sondern ein Wachsen-Wollen« (12, 155), und so stellt sich Nietzsche »gegen den Erhaltungstrieb als radikalen Trieb: vielmehr will das Lebendige seine Kraft auslassen – es ›will‹ und ›muß‹ (beide Worte wiegen mir gleich!): die Erhaltung ist nur eine Consequenz« (11, 222f.).12 Was nun für das »Leben« im allgemeinen gilt, gilt im besonderen natürlich auch für alle Äußerungen des Lebens – zu denen Nietzsche unter anderem alle menschlichen Handlungen und Urteile zählt. Zum Verständnis dieser als Ausdruck des Willens zur Macht auf der Ebene des Lebens inauguriert Nietzsche, was er ein Denken »am Leitfaden des Leibes« nennt; denn, wie Zarathustra in Also sprach Zarathustra den »Verächtern des Leibes« erklärt: »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« (4, 40)13 Alle menschlichen Handlungen und Urteile sind demnach nicht mehr zuerst Ausdruck eines seiner selbst bewußten und autonomen »Ich«, sondern »zuerst ein Zustand des Körpers: der interpretirt wird« (Frag 10, 360). »Das Geistige«, fordert 12 | Der Adressat dieser Behauptungen ist schnell ausgemacht: Einerseits argumentiert Nietzsche hier gegen die Vorstellung Schopenhauers, der »Wille zum Leben« könne nur eins zum Ziel haben: nämlich »das Leben« als bloße Form der Existenz; andererseits grenzt sich Nietzsche gegen die darwinistische Vorstellung ab, der entscheidende Trieb alles Lebens sei der »Selbsterhaltungstrieb«. Dagegen behauptet Nietzsche explizit: »Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber.« (4, 149) Dementsprechend ist es für ihn ohne weiteres vorstellbar, sich »das höchste Todesziel der Menschheit aus[zu]denken – irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentriren. Nicht leben, um zu leben.« (9, 270) Vgl. auch den Abschnitt »Anti-Darwin« aus der Götzendämmerung: »Was den berühmten ›Kampf um’s Leben‹ angeht, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesammtaspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst eine absurde Verschwendung, – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht …« (6, 120). 13 | »Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge: ›Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich’s und der Einbläser seiner Begriffe.‹« (4, 40) Was im Zarathustra derart eindeutig zu sein scheint, ist in den Nachgelassenen Fragmenten mit größerer Vorsicht formuliert: »Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes nur um den Leib.« (10, 653ff.) Bzw.: »Hinter Deinen Gedanken und Gefühlen steht dein Leib und dein Selbst im Leibe: die terra incognita. Wozu hast du diese Gedanken und diese Gefühle? Dein Selbst im Leibe will etwas damit.« (10, 225)

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Nietzsche explizit, habe man »als Zeichensprache des Leibes festzuhalten« (10, 285), jede Vorstellung einer »Einheit in mir« habe man dagegen »gewiß nicht in dem bewußten Ich und dem Fühlen Wollen Denken [zu suchen], sondern wo anders: in der erhaltenden aneignenden ausscheidenden überwachenden Klugheit meines ganzen Organismus« (11, 434). Als ein mit einer solchen organisierenden »Klugheit« ausgestatteter Organismus erweist sich für Nietzsche der Leib als »eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt« (4, 39).14 Jede Philosophie, die zu validen Aussagen über die Ursprünge der Urteile und Handlungen der Menschen kommen will, hat daher ihren »Ausgangspunkte vom Leibe und der Physiologie« (11, 638) zu nehmen, genauer: bei den uns einzig zugänglichen Ausdeutungen seiner Prozesse: der »Triebe und Affekte«. Durch eine solche Verschiebung der Perspektive gelangt Nietzsche zu der Annahme, dass »nichts Anderes als real ›gegeben‹ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ›Realität‹ hinab oder hinauf können als gerade der Realität unsrer Triebe« (5, 54). Das Muster, nachdem diese »Realität« funktioniert, ist das des Willens zur Macht: »Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.« (12, 315) Wie im Willen zur Macht viele einander bekämpfende Mächte in eins wirken, so sind auch »in jeder Handlung […] viele Triebe thätig«, und zwar auf folgende Art und Weise: »Der Trieb befriedigt sich d.h. er ist thätig, indem er sich der Reize bemächtigt, und sie umbildet. Um sich ihrer zu bemächtigen, muß er kämpfen: d.h. einen anderen Trieb zurückhalten, dämpfen. […] Der Trieb selber ist […] nichts Anderes als ein bestimmtes Thätig sein.« (10, 322) Wie für die Macht allgemein gilt so auch für die »Befriedigung des Triebes«: Sie »ist nicht im Resultat der Thätigkeit, sondern im Thun zu suchen« (10, 321), ein »Thun«, dessen »Ziel« nicht ein Getanes, sondern »die Thätigkeit eines anderen Triebes« (10, 321) ist.15 Und was für die Handlungen gilt, gilt in vergleichbarer Weise auch für die Urteile: Denn auch Urteile sind nur »ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben«, die einander »bekämpfen« (bzw. bekämpft haben),16 Kämpfe, von denen uns »nur die letzten Versöhnungs14 | Vgl. auch 11, 244: »Unsere Instinkte sind besser als ihr Ausdruck in Begriffen. Unser Leib ist weiser als unser Geist!« 15 | Zur Geschichte der Vorstellung von der Struktur und dem Funktionieren der »Triebe« in der deutschen Geistesgeschichte, auf die sich Nietzsches Psychologie zum Teil stützt, vgl. Graham Parkes: Composing the Soul. Reaches of Nietzsche’s Psychology, London/Chicago: The University of Chicago Press 1994, insbesondere S. 256ff. 16 | »Alle unsere bewußten Motive sind Oberflächen-Phänomene; hinter ih-

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140 | Tobias Nikolaus Klass szenen und Schlußabrechnungen dieses Processes zum Bewusstsein kommen« (3, 558), die wir dann nachträglich »Denken« nennen. »Denken«, bis dahin als »etwas wesentlich den Trieben entgegengesetztes« gedacht, zeigt unter der neuen »physio-psychologischen« Perspektive, dass es nicht mehr als »ein gewisses Verhalten der Triebe zu einander ist«:17 »Die längste Zeit hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrößte Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft.« (3, 559)18

II. Auf dieser Grundlage gilt es nun, Nietzsches Überlegungen zur Frage der Ernährung zu denken. Wie bereits dargelegt, nähert sich Nietzsche dem Gedanken des »Willens zu Macht« als dem »Grundtrieb« allen Lebens schrittweise. Der Selbsterhaltungstrieb, auch dies wurde bereits erwähnt, hat ihm dabei immer nur als Kontrastfolie gedient. Nicht aber der »Hunger«, von dem er sich eine Zeitlang fragt, ob man auf ihn nicht »alle Begehrungen« »rückführen« könne (vgl. 11, 137). Was freilich, wie er später feststellt, nicht funktioniert: »Es ist nicht möglich«, resümiert er seine diesbezüglichen Überlegungen, »den Hunger als primum mobile zu nehmen, ebenso wenig als die Selbsterhaltung« (13, 360), denn auch »der Hunger ist eine spezialisierte und spätere Form des Triebes […] im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes« (13, 58). Dieser »höhere Trieb« – eben der »Wille zur Macht« – löst damit zwar den Hunger als primum mobile ab, doch – und das ist entscheidend – beschreibt Nietzsche das Funktionieren des Willens zur Macht selbst fortan im Vokabular von Ernen steht der Kampf unserer Triebe und Zustände, der Kampf um die Gewalt.« (12, 15; siehe auch: 12, 312; 12, 385.) 17 | In der Morgenröthe fasst Nietzsche diese Einsicht – noch stärker am schopenhauerschen Vokabular orientiert – wie folgt: »Auch unsere moralischen Urtheile und Werthschätzungen [sind] nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang […], eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu interpretieren.« (3, 113) Etwas später, 1883, parallelisiert Nietzsche dann die zuvor noch »unbekannt« genannten physiologischen Prozesse und der Triebe strikt: »Wie Zelle neben Zelle physiologisch steht, so steht Trieb neben Trieb. Das allgemeinste Bild unseres Wesens ist eine Vergesellschaftung von Trieben, mit fortwährender Rivalität und Einzelbündnissen unter einander.« (10, 274) 18 | Es ist klar, dass Nietzsche mit dieser Konzeptualisierung vor allem Zweifel an der Vorstellung des Handelns nach Zwecken anmeldet: »Nicht um des Glücks wegen oder Nutzens wegen oder um Unlust abzuwehren handelt der Mensch: sondern eine gewisse Kraftmenge giebt sich aus, ergreift etwas, woran sie sich auslassen kann.« (10, 269; vgl. auch 9, 21 und 9, 33)

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nährungsprozessen: Der Wille zur Macht wird von Nietzsche stets zuerst als ein Wille zur »Einverleibung« bzw. »Assimilation« beschrieben. Dies beginnt auf der Ebene der »niedersten belebten Wesen«: »Ein solches Wesen assimilirt sich das Nächste, verwandelt es in sein Eigentum (Eigentum ist zuerst Nahrung und Aufspeicherung von Nahrung), es sucht möglichst viel sich einzuverleiben« (9, 490). »Assimiliren« oder »Einverleiben« ist für Nietzsche dabei gleichbedeutend mit »etwas Fremdes sich gleich machen, tyrannisieren – Grausamkeit« (9, 491). Eine derart gefasste »Einverleibung« gilt nun als Grundprinzip für alle Lebensvollzüge gleichermaßen: für die Aufnahme und Verarbeitung von Wahrnehmungen und Erlebnissen ebenso wie für die Beziehung zum anderen: »So leben wir Alle! – wir reißen die Dinge gierig an uns und haben unersättliche Augen dabei, dann nehmen wir eben so gierig aus ihnen heraus, was uns schmeckt und dienlich ist – und endlich überlassen wir den Rest – alles womit unser Appetit und unsere Zähne nicht fertig geworden sind – den anderen Menschen und der Natur, namentlich aber alles, was wir verschlangen, ohne es uns einverleiben zu können.« (9, 626) Was und wie viel wir von unseren Erlebnissen in uns aufzunehmen – das heißt zu »verschlingen« und zu »verdauen« – im Stande sind, das hängt einerseits ab von den klimatischen und geographischen Bedingungen – »Eine zur schlechten Gewohnheit gewordene noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmässiges, etwas ›Deutsches‹ zu machen; das deutsche Klima allein ist ausreichend, um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmuthigen.« (6, 281)19 –, andererseits von der »Cultur«, in die wir hineingeboren wurden; denn »die verschiedenen Culturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist« (2, 634). In diesem Sinne attestiert Nietzsche etwa seiner eigenen Zeit, dass man in ihr nur unter bestimmten Bedingungen etwas erleben könne: »vorausgesetzt, daß [man] zu den wenigen gehört, die noch tief genug sind zu ›Erlebnissen‹. Den Allermeisten nämlich fehlt jetzt diese Tiefe und gleichsam der rechte Magen: sie kennen daher auch die Noth jenes Magens nicht, welcher mit jedem Erlebnis ›fertig werden‹ muß, die größten Neuigkeiten fallen durch sie hindurch.« (11, 11) 19 | Vgl. auch den Abschnitt »Abkunft der Pessimisten« aus Menschliches, Allzumenschliches: »Ein guter Bissen Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen: dies reicht ins Höchste und Geistigste hinaus. Die Unzufriedenheit und Welt-Schwärzerei ist dem gegenwärtigen Geschlechte von ehemaligen Hungerleidern her vererbt. Auch unseren Künstlern und Dichtern merkt man häufig an, wenn sie selber auch noch so üppig leben, dass sie von keiner guten Herkunft sind, dass sie von unterdrückt lebenden und schlecht genährten Vorfahren mancherlei in’s Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar wird.« (2, 632)

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142 | Tobias Nikolaus Klass Zentrales Medium und zugleich wichtigster Speicher all dieser die Verdauungsfähigkeit bestimmenden »Kräfte« und Informationen – und daran zeigt sich, dass es für Nietzsche mit der Verwendung von Termini aus dem Bereich der Ernährung um mehr geht als bloß um ein Reden in Bildern – ist für Nietzsche nun das Blut. So spricht er etwa davon, dass, »wo es moralische Gefühle giebt, […] ein Begriff ins Blut übergegangen [ist]« (9, 137), oder davon, dass die »Urbevölkerung griechischen Bodens« sehr verschieden gewesen sei – »mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen […]. Hier und da Thrakier« – und die Griechen »all diese Bestandteile in ihr Blut aufgenommen« hätten (8, 96).20 Die Fähigkeit, »Neues« »in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren«, diese Fähigkeit schreibt Nietzsche im besonderen Maße den schwachen, genauer: »entarteten« Naturen zu: »Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden schwach gewordenen Stelle wird dann dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inoculiert.« (2, 187) Dieser von Nietzsche »Veredelung durch Entartung« (2, 187) oder auch »veredelnde Inoculation« (2, 189) genannte Prozess21 beschreibt, was passiert, wenn sich verschiedene, »lange voneinander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe ins Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch.« (5, 137) Eines seiner bekanntesten Beispiele hierfür sind die Deutschen, die der Fall einer »übermässigen und fast verunglückten Inoculation« darstellten: denn man habe ihre »Cultur nicht nur verwundet, sondern fast zum Verbluten gebracht«; eben diese gerade überlebte »Verwundung« habe bewirkt, dass sie »eine grössere Begabung zu jeder Art von Freigeisterei« (8, 364) hätten.22

20 | In ähnlicher Weise räsonniert er über den Sinn und Unsinn von Geschichte: »Jede Zeit bedarf so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut, durch Verdauen, umsetzen kann.« (7, 637) 21 | Vgl. auch, was Nietzsche zur Frage des »Bauernbluts« schreibt: »Wo ist eine vornehme Familie, in deren Blut nicht venerische Ansteckung und Verderbniß ist?« (11, 81) 22 | Das so entstandene »Neue« ist für Nietzsche freilich nicht per se wünschenswert; vgl. etwa seine Bemerkung aus der Fröhlichen Wissenschaft: »Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Bluthe eigenthümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganze verwunderliche Wildheit darüber zu breiten.« (3, 556)

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Dass es zu diesen Vermischungen und Verwundungen – das heißt zum Zustand der »décadence«23 – kommt, liegt in der Natur sozialer Beziehungen, denn auch diese sind zuerst getragen und strukturiert vom Willen zur Einverleibung des anderen: »Liebe« etwa beschreibt Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft als »Drang nach neuem Eigenthum« – und »Eigenthum« ist ja zuerst »Nahrung und Aufspeicherung von Nahrung« –, Eigentum, mit dem »unsere Lust an uns selber sich so aufrechterhalten [will], dass sie immer wieder etwas Neues in uns selber verwandelt« (3, 386),24 ebenso war für Nietzsche im »Mitteilen« ursprünglich »nicht die Absicht da, sich mitzutheilen, sondern alles Mitteilen ist eigentlich ein Annehmen-Wollen, ein Fassen und Aneignen-Wollen […]. Den Anderen sich einverleiben – später den Willen des Anderen sich einverleiben, sich aneignen, es handelt sich um Eroberung des Anderen.« (10, 298)25 »Inoculation« als das Grundmuster der Kontaktaufnahme mit anderen und anderem ist damit ein Prozess mit zwei Richtungen: Einerseits geht es in Einverleibungsprozessen darum, dem anderen das zu entnehmen, was mir von ihm verdauenswert und -möglich ist; andererseits geht es genauso darum, diesem anderen das, was ich bin, parasitengleich26 zu inoculieren, ihn mit mir anzustecken: »Erobern«, behauptet Nietzsche vor diesem Hintergrund, »ist die natürliche Consequenz einer überschüssigen Macht: es 23 | »Das Christentum hat alle Art Krankheit morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben das ist sein Wesen: Christenthum ist ein Typus der décadence.« (12, 510) Und was für den »Christen« gilt, gilt auch für den »Anarchisten«: »Christ und Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken.« (6, 245) – Zum Begriff der »décadence« bei Nietzsche siehe vor allem: Wolfgang Müller-Lauter: »Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik am späten Richard Wagner«, in: Horst Bürkle/Gerhold Becker (Hg.), Communicatio Fidei. Festschrift Eugen Biser, Regensburg: Pustet Verlag 1983, S. 285294. 24 | Vgl. auch 3, 499: »Misanthropie und Liebe. – Man spricht nur dann davon, dass man der Menschen satt sei, wenn man sie nicht mehr verdauen kann und doch noch den Magen voll davon hat. Misanthropie ist die Folge einer allzubegehrlichen Menschenliebe und ›Menschenfresserei‹.« 25 | In diesem Sinne ist »alles Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen […] immer ein Anstreben gegen Widerstehendes« (13, 52). 26 | Das Funktionieren solchen Parasitentums erläutert Nietzsche am Beispiel des »Mitleids«, »ein der moralischen Gesundheit schädlicher Parasit«: »Mitleid beruht nicht auf Maximen, sondern auf Affekten: das fremde Leiden steckt uns an, Mitleid ist eine Ansteckung.« (12, 259) – Zum Phänomen des Parasiten in Nietzsches Werk siehe die originelle Studie von Gary Shapiro: Alcyone. Nietzsche on Gifts, Noise and Women, New York: State University of New York Press 1991.

2008-01-29 12-46-45 --- Projekt: T694.lemke.tischgesellschaft / Dokument: FAX ID 030e169566644696|(S. 131-155) t01_07 klass.p 169566644928

144 | Tobias Nikolaus Klass ist dasselbe wie Schaffen und Zeugen, also das Einverleiben seines eigenen Bildes in einen fremden Stoff« (10, 278). Und in einem späteren Fragment fragt er: »Was ist Liebe?« und antwortet in derselben Richtung: »Ein Bedürfnis, aus sich herauszugehn«; Liebe ist »Liebe zum Blut, l’ivresse du sang« (13, 84). Der Prozess wechselseitiger Inoculation im Zustand der »ivresse du sang« wirkt daher – wenn er gelingt27 – nicht nur ernährend, sondern auch verbindend, gemeinschaftsstiftend:28 »Gemeinsamer Blutgenuß«, behauptet Nietzsche, »ist das älteste Mittel der Verbündung, der Bundschließung«, woraus er generell schließt: »Alle Gemeinschaft ist Blutgemeinschaft. Diese ist nicht nur angeboren, sie wird auch erworben. Wer miteinander ißt und trinkt, erneuert sein Blut aus demselben Quell, bringt dasselbe Blut in seine Adern. Ein Fremder, sogar ein Feind, der unser Mahl teilt (auch ohne und gegen unseren Willen) wird dadurch wenigstens für eine Weile, in die Gemeinschaft unseres Fleisches und Blutes aufgenommen.« (13, 113f)29 Die Tatsache, dass alle Gemeinschaft »Blutgemeinschaft« ist, heißt freilich nicht, dass damit auch alle Arten von »Blutgemeinschaft« gleich wünschenswert sind. Nietzsche hat hier sehr präzise Vorstellungen, wie solche Gemeinschaften zu entstehen haben, Vorstellungen, deren Grundkoordinaten schon angeklungen und in folgender Notiz sehr schön zusammengefasst sind: »Zur ›Kur des Einzelnen‹. 1) er soll vom Nächsten und Kleinsten ausgehen und die ganze Abhängigkeit sich feststellen, in die hinein er geboren und erzogen ist; 2) ebenso soll er den gewohnten Rhythmus seines Denkens und Fühlens, seine intellektuellen Bedürfnisse der Ernährung begreifen; 3) Dann soll er Veränderung aller Art suchen, zunächst um die Gewohnheiten zu brechen (vielen Diätwechsel, mit feinster Beobachtung; 27 | Denn es gibt, wie stets, auch hier Gegenbeispiele: »Seht mir doch diese Überflüssigen! […] Sie verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen.« (4, 63) 28 | Und zwar auf einer sehr basalen Ebene, wie der umkehrte Prozess zeigt: »Wer das fremde Blut haßt oder verachtet, ist noch kein Individuum, sondern eine Art menschliches Protoplasma.« (9, 555) 29 | Eben deshalb muss man laut Nietzsche das gemeinsame Mahl gut bedenken: »Mit einem Priester an Einem Tisch essen stößt aus: man excommunicirt sich damit aus der rechtschaffenen Gesellschaft.« (6, 254) Ebenso ist, »wer die Begierden einer hohen und wählerischen Seele hat«, in der Frage des Essens großen Gefahren ausgesetzt: »In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit der er nicht aus einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch ›zugreift‹ –, vor Ekel zu Grunde gehen.« (11, 683) Und grundsätzlich stellt Nietzsche schon in der Fröhlichen Wissenschaft fest: »Die Kunst, mit Menschen umzugehen, beruht im wesentlichen auf der Geschicklichkeit […], eine Mahlzeit anzunehmen, zu deren Küche man kein Vertrauen hat.« (3, 612)

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4) soll er sich geistig an seine Widersacher einmal anlehnen, er soll ihre Nahrung zu essen versuchen. Er soll reisen, in jedem Sinne. In dieser Zeit wird er ›unstät und flüchtig‹ sein. Von Zeit zu Zeit soll er über seinen Erlebnissen ruhen – und verdauen.« (9, 539) Dies ist die »Kur des Einzelnen«. Auf eine ganze Gemeinschaft übertragen, muss sie natürlich modifiziert werden: denn hier geht es um die »Zucht« einer ganzen »Rasse«.30 Wenn Nietzsche dabei von »Rasse« spricht, muss man freilich genau hinschauen, um voreilige Fehlschlüsse zu vermeiden: »Das Problem der Rasse«, heißt es in Jenseits von Gut und Böse, ist, dass es gar »nicht möglich [ist], dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvorderen im Leibe hat« (5, 218). Nietzsches »Rasse«-Begriff ist nicht der der modernen Biologie: Es geht nicht einfach um die Auszeichnung bestimmter körperlicher, im Gen-Material festgelegter Merkmale (wie Haarfarbe, Schädelform etc.), die per se wünschens- und deshalb züchtenswert sind, sondern um die schlichte Feststellung, dass wir immer schon geprägt sind von den »Eigenschaften« und »Vorlieben« unserer Vorfahren, unserer Umwelt, unserer Kultur, unseres »Milieus« etc.,31 und dass diese Prägung zuerst eine leibliche ist. Entsprechend hat der Ausgangspunkt aller Veränderungen dieser so geprägte Leib zu sein: Ein jeder von uns ist Teil einer »Rasse«, alle wirklich wirksame Änderung muss daher Ausbruch aus dieser und kann nur Aufbruch zu einer neuen »Rasse« sein. Wie diese »Zucht« einer neuen »Rasse« vonstatten zu gehen hat, ist – als Schema – bereits dargelegt worden: durch »Veredelung durch Entartung« oder »veredelnde Inoculation«. Am Anfang aller »Zucht« nämlich steht für Nietzsche die »Vermischung« bislang voneinander getrennt lebender Rassen – so heißt es etwa im Nachlass: »Gegen Arisch und Semitisch. Wo Rassen gemischt sind, der Quell großer Cultur« (12, 45), und an anderer Stelle, an der er sich fragt, was die Deutschen anderen verdanken, notiert er: »Am wichtigsten aber mag die Blut-Mischung selber gewesen sein, indem sie im gleichen Menschen nicht immer nur ›zwei sondern zwanzig Seelen‹ in eine Brust anpflanzte, jene ungeheure Blut-Verderbniß der Rasse« (11, 702)32 – und diese Vermischung kann entweder zu einer 30 | »Alle Moralen und Gesetze gehen darauf aus, Gewohnheiten anzupflanzen, d.h. für sehr viele Handlungen die Frage nach dem Warum? Aufzuheben, so daß sie instinktiv gethan werden. […] Eine Rasse mit starken Instinkten züchten – das will eine Moral.« (9, 115; vgl. auch 6, 100) 31 | »Durchschnittlich ist ein Charakter die Folge eines Milieu – eine fest eingeprägte Rolle, vermöge deren gewisse Facta immer wieder unterstrichen und gestärkt werden. Auf die Länge hin entsteht so eine Rasse.« (11, 136) – Zum »Rasse«Begriff bei Nietzsche siehe ausführlich: Gerd Schank: ›Rasse‹ und ›Züchtung‹ bei Nietzsche, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000. 32 | »Verderbnis« ist auch hier wieder ganz wörtlich zu verstehen: »Gekreuzte

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146 | Tobias Nikolaus Klass schmerzlosen, allmählichen Anähnlichung und Einebnung aller Differenzen führen: »Dabei mischen sich die Träger der Niedergangsinstinkte […] in alles Blut aller Stände; zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen – Alles ist verpöbelt« (13, 365),33 oder aber es kommt zu einer ernsthaften »Verwundung« einer Rasse, das heißt zu einer desorientierenden Verunsicherung ihrer Instinkte, die Platz für »Neues« schafft und die Nietzsche mit dem ihm eigenen Pathos die »Zucht des Leidens, des grossen Leidens«, die »alle Erhöhung des Menschen bisher geschaffen hat« (5, 161) nennt.34 Ziel dieser »Zucht« ist – so sie nicht ins Verderben führt – die »reine Rasse«, genauer: da es »wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen [giebt]« (3, 213), die »reingewordene Rasse«, deren »Reinheit das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen [ist]«, und deren »Fortschritt« sich darin zeigt, »dass die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Funktionen beschränkt«: »die Griechen«, schließt er diese Betrachtungen ab, »geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Cultur; und hoffentlich gelingt einmal auch eine europäische Rasse und Cultur« (3, 213).35 Die beschriebene Konzentration der Kräfte im Prozess der – stets nur langsam voranschreitenden – »Reinigung« einer Rasse hat vor allem das Ziel, das Vermögen zu entwickeln, sich vom »NoRassen sind stets auch zugleich gekreuzte Culturen, gekreuzte Moralitäten: sie sind meistens böser, grausamer, unruhiger.« (3, 213) 33 | Wobei »Verpöbelung« nicht so sehr bedeutet, dass fortan alles »niedrig« wird, »niedrige« kulturelle Werte sich durchsetzen; sondern, dass das Gefühl für Rang und Rangunterschiede verloren geht: das ist für Differenzen auf dem Weg der Entwicklung Richtung »Über-Rasse« oder »Übermensch«. 34 | Was sich natürlich zuerst gegen die Mitleids- bzw. Glücksmoral richtet, der Nietzsche unterstellt, ihr Ziel sei es, das Leid abzuschaffen (vgl. 5, 161). Gegen diese Vorstellung insistiert Nietzsche darauf, dass der Prozess des »Fortschritts« nicht ohne Grausamkeit, nicht ohne das Einwirken »böser« Menschen zu haben ist: »Die Verherrlicher der Selektions-Zweckmäßigkeit (wie Spencer) glauben zu wissen, was begünstigende Umstände einer Entwicklung sind! Und rechnen das Böse nicht dazu! Und was wäre denn ohne Furcht Neid Habsucht aus dem Menschen geworden! Er existierte nicht mehr: und wenn man sich den reichsten edelsten und fruchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses – so denkt man einen Widerspruch. Von allen Seiten wohlwollend behandelt und selber wohlwollend – da müßte ein Genie furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren, sie beherrschen, aussaugen usw.« (9, 457) 35 | Nietzsches »Europäer«-tum ist explizit zu verstehen als Gegenposition zu »Vaterländlerei« und »Nationalismus«, die er eine »Herzenskrätze« und »Blutvergiftung« nennt (vgl. 3, 620; siehe ebenso 5, 182f.). – Zu Nietzsches »Europäertum« siehe vor allem: Henning Ottmann: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/ New York: Walter de Gruyter Verlag 1987, S. 124-129.

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mos der Erde«, wie Schmitt es später nennen wird,36 gerade zu lösen, das heißt unabhängig zu werden vom bis dato Verhalten bestimmenden »milieu« wie Kultur, Ort, Klima und Ernährung. In diesem Sinne ist jede »reine Rasse« der Anfang einer »Über-Rasse« (11, 136), das heißt der Lösung von aller Rasse – »Unsere großen Menschen bezeichnen keine Rasse, sondern Einzelne« (11, 538), behauptet Nietzsche auf der Grundlage dieses Gedankens. Unter all dem Gerede von wachsender »Zivilisation«, »Vermenschlichung« und »Fortschritt« in Europa – das Nietzsche für kurzsichtig und oberflächlich hielt – vollzieht sich seines Erachtens »ein ungeheurer physiologischer Prozeß, der immer mehr in Fluß gerät – der Prozeß einer Anähnlichung der Europäer, ihrer wachsenden Loslösung von den Bedingungen, unter denen ständisch und klimatisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das jahrhundertelang sich mit den gleichen Forderungen in Leib und Seele einschreiben möchte – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum an Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt« (5, 182).37 Eine »nomadische Art Mensch«, losgelöst vom »Nomos der Erde«, unabhängig von den Einschränkungen der »Rasse«, ausgestattet statt dessen mit einem »Maximum an Anpassungskunst und -kraft«, kurz: »Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität« (5, 183): Dies also ist das Ziel eines langsam voranschreitenden Prozesses zahlloser »Einsaugungen und Ausscheidungen«, »Blut-Vermischungen« und »Blut-Vergiftungen«, kurz: der »Zucht« der »reinen« (das ist von »Blut« und »Boden« »reingewordenen«) »Rassen« durch »veredelnde Inoculation«. Wie sich derartige »gemeinschaftsstiftende«, weil neue »Rassen« »züchtende« Ernährungspraktiken konkret vorzustellen sind, illustriert Nietzsche ungewöhnlich klar in seinem »Hauptwerk« Also sprach Zarathustra. Dessen Hauptprotagonist nämlich wird, schaut man etwas genauer hin, nicht zuerst als ein Lehrer neuer Lehren – etwa der vom »Übermenschen« oder aber der von der »ewigen Wiederkunft« – eingeführt, sondern 36 | Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 4. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot 1997. 37 | Etwas weniger aufgeladen beschreibt er diesen Prozess noch zu Zeiten von Menschliches, Allzumenschliches: »Die thierischen Gattungen haben meistens, wie die Pflanze, eine Anpassung an einen bestimmten Erdtheil erreicht, und haben darin etwas Festes und Festhaltendes für ihren Charakter, sie verändern sich im Wesentlichen nicht mehr. Anders der Mensch, der immer unstet ist, und sich nicht Einem Klima endgültig anpassen will, der Mensch drängt hin zur Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens. […] Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachtheile eines Klima’s zu kompensieren weiß […] – ein anspruchsvolles, schwer zu erhaltendes Wesen!« (9, 546)

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148 | Tobias Nikolaus Klass als jemand, der von sich »genug« hat, seiner eigenen »Fülle« und Einsamkeit »überdrüssig« ist und sich daher auf den Weg zu »den Menschen« macht, dort »Gefährten« zu finden. Dies freilich ist schwerer, als er gedacht hat, wie sich bald herausstellen soll: Denn niemand will nehmen, was er zu geben hat (4, 14-20). Mit einer Ausnahme: einem Seiltänzer, für Zarathustra Emblem des Menschen überhaupt: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrund. […] Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.« (4, 16f.) Dieser Seiltänzer tut nun bei seiner Begegnung mit Zarathustra leider genau das, was dieser gefordert hatte: Er geht unter, das heißt er stirbt (und zwar eben dadurch, dass er Zarathustra trifft).38 Damit scheint Zarathustra einen ersten Zuhörer gefunden zu haben: »er [lud] den Leichnam auf seinen Rücken und machte sich auf den Weg.« (4, 23) Auf diesem Weg begegnet er den Totengräbern, die ihn mit den Worten begrüßen: »Zarathustra trägt den todten Hund davon: […] Will Zarathustra wohl dem Teufel seinen Bissen stehlen? Nun, wohlan! Und gut Glück zur Mahlzeit!« (4, 24) Auf diese »Mahlzeit« folgt eine etwas unruhige Nacht, die Zarathustra am nächsten Morgen mit einer entscheidenden Einsicht beginnt: »Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich hin will.« (4, 25) Der erste Schritt dazu lautet »Viele wegzulocken von der Heerde« (4, 25), denn nur so kann er das eigentliche Ziel erfüllen: »Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein; aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen.« (4, 100f.)39 Drei lange Bücher versucht er nun, derlei »Gefährten« für »ein Volk« zu finden, predigt unablässig seine Weisheiten und Einsichten, denen die neue Gemeinschaft zu folgen habe, aber statt sein Ziel zu erreichen, findet er nur »Jünger«, die sich wie eine namenlose Herde um ihn scharen wie

38 | Denn der »Possenreißer« oder »Narr« (4, 222), wie er später heißt, ist niemand anders als Zarathustras Doppelgänger in der Stadt: »Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln! Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und Wahrsager und Narr und Zweifler und Unheiliger und Bösewicht. Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!« (4, 80) 39 | »… – und aus ihm der Übermensch«, beendet Zarathustra den Satz: womit klar wird, dass das »Volk« je nur als Durchgangsstadium zu einer größeren Aufgabe sein kann: dem »Übermenschen«.

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um einen Heiligen – was ihn stets auf’s Neue fliehen macht.40 Daraus wird im Folgenden ein Verhaltensmuster: Zarathustra geht hin (»hinunter«) zu den Menschen, hofft darauf, sich an sie »vergeben« zu können, wird darin enttäuscht, flieht daher wieder in seine Höhle und Einsamkeit, hält es dort aber nicht aus, geht daher wieder zu den Menschen usf. Dass er sein Verhalten nicht schon nach den ersten Erfahrungen ändert, verwundert freilich etwas, denn schon früh weiß er, woran es liegt, dass er mit seinem Anliegen scheitert. Im Nachtlied etwa, in einem Moment auf dem Weg seiner ergebnislosen Reise, in dem er sich auf die lichtlose Seite der Welt gebracht hat, erkennt er: »Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe. Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre. […] Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen. […] Ich lebe in meinem eigenen Licht, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen. Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht. […] Oh Unseligkeit aller Schenkenden! […] Oh Begierde nach begehren! […] Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele? […] Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehetun möchte ich denen, welchen ich leuchte.« (4, 136f.) Er sieht also: Er muss sein Verhalten ändern, muss seine Haltung von der des sich ewig Vergebenden ändern zu der des Nehmenden: und zwar schmerzhaft Nehmenden.41 Daraus wird, wie er zu Anfang des dritten Buches erkennt, das Programm seines zukünftigen Verhaltens: »Gefährten suchte einst der Schaffende und Kinder seiner Hoffnung: und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden könne, es sei denn, er schaffe sie selber erst.« (4, 203) Eben diese Einsicht – dass er den Gefährten, die er sucht, »weh tun« muss, um sie so erst zu schaffen: in dem er sich ihnen »einverleibt«, was eine Verkehrung des bisherigen Flusses von Geben und Nehmen voraussetzt – nimmt er sich nun aber nicht im dritten, sondern erst im vierten Buch endlich zu Herzen. Zu Beginn dieses Buches finden wir ihn wieder allein vor seiner Höhle – das heißt in seiner, von »den Menschen« abge40 | So auch am Ende des ersten Buches: Direkt im Anschluss an die genannte Stelle, in der er seine Hoffnung auf »ein Volk« bzw. den »Übermenschen« geäußert hat, verkündet er seinen Jüngern, dass er nun »allein« weiter gehen wolle und schickt sie deshalb fort: »Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! […] Man vergibt seinem Lehrer schlecht, wenn man immer nur Schüler bleibt.« (4, 101) 41 | Dies ist explizit auch Nietzsches Programm, wie folgende Notiz aus der Entstehungszeit des dritten Teiles des Zarathustra zeigt: »Plan zu III Zarathustra:/ Zarathustra 3: der Übergang vom Freigeist und Einsiedler zum Herrschen-Müssen: das Schenken verwandelt sich – aus dem Geben entsteht der Wille, Zwang-zumNehmen zu üben.« (10, 516)

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150 | Tobias Nikolaus Klass schiedenen Welt – darüber räsonnierend, dass es ihm nun gehe, wie »allen Früchten, die reif werden. Es ist der Honig in meinen Adern, der mein Blut dicker und meine Seele stiller macht.« (4, 296) Derartigen – sein Blut verdickenden, ihn erst zum starken Einsiedler machenden – Honig nun verkündet er zu opfern, korrigiert sich aber dann mit den Worten: »Dass ich von Opfern sprach und Honig-Opfern, eine List war’s nur meiner Rede […]. Als ich nach Honig begehrte, begehrte ich nur nach Köder […] – nach dem besten Köder, wie er Jägern und Fischfängern nothtut.« Denn er hat erkannt, dass die Welt »reich ist […] an Wunderlichem, grossem und kleinem«, und eben danach »werfe ich nun meine Angelruthe aus«: Aus dem Menschenmeer möchte er »die buntesten Abgrund-Gründlinge« zu sich, »dem boshaftigsten aller Menschen-Fischfänger« hinauf ziehen: »Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, aufziehend, hinaufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister« (4, 301). Und siehe: Kaum hat er derart von Geben auf Nehmen, vom grenzenlosen Sich-Verschenken auf gezieltes Aussetzen eines mit dem Honig seines Blutes infizierten Köders zum Zwecke der »Zucht« umgestellt, schon findet er die Gefährten, die er suchte: in der Folge trifft er in seinen Wäldern nacheinander eine Reihe »höherer Menschen« – einen »Blutegel«, einen »Papst ausser Dienst«, den »hässlichsten Menschen«, einen »Schatten« und einige andere – das heißt solche, die sich selbst unlängst von der »Heerde« gelöst haben, seitdem orientierungslos auf der Suche nach etwas Neuem sind und nun in seinen Wäldern angelangt sind.42 Alle diese höheren Menschen bestellt er nun nach und nach zu sich in seine Höhle zu einem gemeinsamen, Gemeinschaft stiftenden Mahl (einem »Abendmahl«, wie es heißt); nicht, ohne zuvor noch zufrieden festzustellen, wie nahrhaft die Treffen mit ihnen waren: »Welche seltsamen Unterredner fand ich! An deren Worten will ich nun lange kauen gleich als an guten Körnern; klein soll mein Zahn sie mahlen und malmen, bis sie mir

42 | Wobei, wie sich leicht zeigen lässt, diese Suche und dieses Nomadentum begonnen hat oder beginnt damit, dass sie mit Zarathustras Lehren in Berührung gekommen, mit ihnen infiziert worden sind: was, wie das Beispiel der »Könige« oder des »Blutegels« zeigt, eine ziemlich schmerzliche Erfahrung gewesen (»Verwundung«) ist. Deutlich ausgesprochen wird dies im Kapitel »Die Begrüssung«: Da ist davon die Rede, dass Zarathustra allen »Einsiedlern« und »Zweisiedlern« sein »Lied« und seinen »Honig ins Ohr geträufelt« hat und sie daher sich nun auf den Weg zu ihm gemacht hätten: »Nun geschieht’s, dass die Einsamkeit selber mürbe wird und zerbricht, einem Grabe gleich, das zerbricht, und seine Todten nicht mehr halten kann. Überall sieht man Auferstandene«, das heißt solche, »die nicht leben wollen«. (4, 349) Vgl. auch die das Kapitel reflektierenden Überlegungen in den Fragmenten, in denen es über Zarathustra heißt: »Das schwerste Leid ist, […] daß seine Liebsten an seiner Lehre verbluten.« (10, 516)

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wie Milch in die Seele fliessen!« (4, 327)43 Zurück in seiner Höhle konstatiert er, »ihr taugt euch schlecht zur Gesellschaft, macht einander das Herz unwirsch, […] wenn ihr beisammen sitzt« (das heißt sie sind, wie er in der Fröhlichen Wissenschaft behauptet, kein »Material« mehr für eine solche »Gesellschaft« [3, 356]), bietet ihnen daher »sein Reich« und etwas von dem seinigen an als Dank für ihre »Gabe« (4, 347):44 ein Abendmahl mit »Fleisch und Wein« (4, 354). Dieses Abendmahl wird begleitet von einem Gesangswettbewerb nach dem Vorbild der »Meistersinger« und endet in einem Gottes- oder Götzendienst (einem »Eselsfest«), der Zarathustras Lehre zugleich verehrt und parodiert: was zu entscheiden selbst Zarathustra nicht gelingt. Um dieser Verwirrung zu entgehen, flieht Zarathustra aus seiner Höhle in die Nacht, so auch die höheren Menschen. Dort angekommen, merken sie, dass – Parodie hin oder her, man könnte auch sagen: Metaphorik hin oder her – sich etwas getan, sich etwas verändert hat: die »Heimlichkeit der Nacht« kam ihnen »näher und näher ans Herz«, Zarathustra bemerkt bei sich, »wie gut sie mir nun gefallen, diese höheren Menschen«, die höheren Menschen werden sich »ihrer Verwandlung bewußt«, eine Verwandlung, die der »hässlichste Mensch« in die Worte fasst: »›War Das – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan! Noch einmal!‹«, und die Zarathustra durch das berühmte »Nachtwandlerlied« besiegelt: »Kommt! Kommt! Es geht gen Mittnacht! […] Kommt! Kommt! Lasst uns jetzo wandeln! Es ist die Stunde: lasst uns in die Nacht wandeln! […] Wehe mir! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tiefe Brunnen? […] Ach! […] Lieber will ich sterben, sterben […] Nun starb ich schon. Es ist dahin. Spinne, was spinnst du um mich? Willst Du Blut? […] Ihr höheren Menschen, erlöst doch die Gräber, weckt die Leichname auf«, kurz: »Oh Mensch! Gieb acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?, Ich schlief, ich schlief –, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh –, Lust, tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht; Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, – will tiefe, tiefe Ewigkeit.« Will Ewigkeit, schafft sie aber nur für Augenblicke: Denn natürlich kommt der nächste Morgen, natürlich stellt Zarathustra fest, dass dies nicht seine Gefährten sind, dies nicht das erhoffte »Volk« geworden ist, er also wieder 43 | »Milch« stellt für Nietzsche einen ähnlich basalen Lebenssaft dar wie »Blut«, was sich schon daran sehen lässt, dass er nicht nur von »Blutsbrüdern« sondern ebenso von »Milchbrüdern« spricht: vgl. etwa der Aphorismus »Dichter und Lügner« aus der Fröhlichen Wissenschaft: »Der Dichter sieht in dem Lügner seinen Milchbruder, dem er die Milch weggetrunken hat; so ist jener elend geblieben und hat es nicht einmal bis zum guten Gewissen gebracht.« (3, 510) 44 | Wobei Zarathustra explizit darauf hinweist, dass es sich hierbei nicht um ein »Opfer« seinerseits handelt: Er gibt nur das, was man ihm zuvor gegeben hat (nämlich die beiden Lämmer, Geschenk seiner Tiere); »und giebt man’s uns nicht, so nehmen wir’s« (4, 355).

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152 | Tobias Nikolaus Klass fortziehen müsse, fort mit der »Morgensonne«, zu seinem Mittag: der wieder ein Nachmittag werden wird, wieder ein Abend, wieder neue »Gefährten« bringen wird, wieder eine neue Nacht der Gemeinschaft usf. ad infinitum. Zusammengefasst: Der Hauptprotagonist der dramatischen Erzählung Also sprach Zarathustra erweist sich zuerst als einer, dessen erstes Ziel es war, nicht einfach sich an andere zu »vergeben« (um ihnen so als »Nahrung« zu dienen), noch, umgekehrt, sich essend selbst zu erhalten, sondern sich andere »einzuverleiben«, um so wirkliche, ihm einzig angemessene »Gefährten« zu finden, auf dass aus ihnen später einmal »ein Volk« werde. Diese »Einverleibung« trägt, nach dem gescheiterten ersten Versuch in der »Vorrede«, der nach der bloßen Selbstvergabe Zarathustras tatsächlich zum Tod des ersten »Gefährten« (des »Seiltänzers«, Inbegriff des Menschen als solchen für Zarathustra) führt und als Modell daher von Zarathustra verworfen wird, und weiteren Versuchen in den folgenden Büchern, die nur in einer Zarathustra ebenso unbefriedigt lassenden Entstehung einer »Heerde« von »Jüngern« endet, erst im vierten und letzten Teil die erhofften Früchte.45 Dort wird besagte »Einverleibung des anderen« vorgestellt als ein Prozess wechselseitiger »Inoculation«, ein Bluttransfer, durch den Zarathustra das, was er ist, was ihn zu einem starken »Singulär« macht (den »Honig« in seinem »Blut«), den anderen »einbildet« (durch Auswurf und Aufnahme eines entsprechenden »Köders«) und zugleich sich – in durchaus auch Schmerz zufügenden »Unterredungen« – von ihnen das »nimmt«, woran er selbst »zu kauen« hat, bevor es wie »Milch« in seine »Seele« fließt und ihn so am Leben hält (eine Erfahrung, die ihm weder der »Seiltänzer« noch die »Jünger« je haben verschaffen können). Dieser gegenseitige Einverleibungsprozess gipfelt in einem »Abendmahl« (das ist einem explizit als Gemeinschaftsstiftung angelegten gemeinsamen Verzehr von »Fleisch und Wein«, i.e. Blut), das peu à peu in ein alle Kategorien durcheinander wirbelndes »Eselsfest« – eine »ivresse du sang«, könnte man sagen – überführt wird, gleichwohl – das ist trotz der erzeugten Konfusion – eine Gemeinschaft stiftet: die freilich ebenso ephemer wie unwirk45 | Inwieweit auch diese ersten beiden Versuche einer Gemeinschaftsstiftung Ergebnisse besonderer Inkorporationspraktiken waren, klingt im Text tatsächlich an vielen Stellen an: Der »Seiltänzer« wird, wie dargelegt, als ein »Braten«, ein »Bissen« und eine »Mahlzeit« bezeichnet, den Zarathustra dem Teufel gestohlen habe (4, 24); freilich eine »tote« Mahlzeit: ohne Langzeitwirkung, ohne dass es daran etwas zu »kauen« oder zu »verdauen« gäbe. Die »Gaben« an die »Jüngerschaft« dagegen werden von Zarathustra immer wieder in Kategorien von Nahrungsmitteln umschrieben (etwa »Weizen« [4, 105]; »Ernte«, »Früchte«, »Wein« [4, 172]); hier beklagt er vor allem, wie dargelegt, dass diese Vergabe von Nahrungsmitteln ein einseitiger Prozess ist: denn er hat je nur gegeben, nie genommen, weshalb er mit »Hunger« bzw. »Heisshunger« zurückbleibt (4, 137).

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lich ist, nur für Augenblicke hält und da auch nur als Phantasma. Die »höheren Menschen«, so scheint es, sind durch »Inoculation« eben solche seltsamen nomadischen Wesen zwischen den Räumen und Ordnungen geworden (also Teil einer »reingewordenen Rasse«, fern der eigenen Heimat lebend und umherirrend), wie Zarathustra selbst eines ist. Die gleichwohl durch das gemeinsame »Abendmahl« zwischen Zarathustra und den »höheren Menschen« gestiftete, nur für kurze Zeit bestehende Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft aus den Ordnungen gefallener »Einsiedler«, von der unentscheidbar geworden ist, in wie weit diese Gemeinschaft nur noch »Parodie« ihrer selbst ist bzw. welche Bedeutung das Parodie-Sein für diese Gemeinschaft hat.

III. Und damit sei auf die abschließende Frage zurück gekommen, welche Rolle in der Philosophie Nietzsches die Frage der Ernährung spielt und ob sich, über einige zitierbare Bonmots hinaus, bei ihm vielleicht Ansätze einer Philosophie des Essens finden lassen. Die erste Ebene, auf der sich Sinnvolles zum Thema Essen bei Nietzsche finden lässt, war bereits eingangs genannt worden: So, wie Nietzsche »die Frage der Ernährung« in Ecce Homo formuliert – »Wie hast gerade Du Dich zu ernähren, um zu deinem Maximum an Kraft, an virtú im Renaissance-Stile, von moralinfreier Tugend zu kommen?« (6, 279) –, kann man sie durchaus als »römischen«, am Projekt einer Lebenskunst orientierten Hinweis verstehen, die eigene physis und das, was sie erhält – eben die Ernährung bzw. deren Zusammensetzung – nicht zu vernachlässigen oder gar zu verdrängen, auch und gerade mit Blick auf ein sich formierendes Denken, sei dieses nun theoretischer oder praktischer Natur. Bei einer solchen – in der Philosophie häufig übersehenen oder vielleicht gar explizit ausgegrenzten, in der Praxis aber ausgesprochen banalen – Feststellung stehen zu bleiben hieße aber, den eigentlichen Kern der nietzscheanischen Überlegung zur Frage der Ernährung zu übersehen: der selbst freilich etwas schwerer verdaulich ist als die politisch korrekte Ratgebervariante. Der Kern nämlich drängt uns dahin, unser Verhältnis zu anderen physiologisch in ganzer Konsequenz auszubuchstabieren: Die Begegnung mit dem anderen ist stets geprägt von dem Verlangen, sich diesen anderen einzuverleiben und gleichzeitig sich diesem anderen einzuverleiben, ihn in sich zu verwandeln und sich zugleich ihm zu »inoculieren«: mit ganzer physis. Dabei spielt nicht so sehr eine Rolle, was wir essen, sondern was wir mit wem essen bzw. wie wir – dabei, aber auch darüber hinaus – den anderen »essen«. Wie literal dieses letzte »essen« zu verstehen ist, das lässt Nietzsche offen: Er laboriert hier mit einer Redeweise, deren Metaphorik noch »lebendig« ist, das heißt noch nicht vom Usus konventionalisiert und damit ihrer ei-

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154 | Tobias Nikolaus Klass gentlich metaphorischen Essenz beraubt: die immer an der Grenze zum Barbarismus balanciert, das heißt immer an der Grenze zu einer Fremdheit, die jederzeit in Unverständlichkeit abzustürzen droht. Klar scheint aber: Es geht, wenn Nietzsche davon spricht, dass soziale Beziehungen von Einverleibungsprozessen strukturiert sind, nicht bloß um ein Reden in Analogien: soziale Beziehungen funktionieren ähnlich wie Einverleibungsprozesse. Sondern er sucht tatsächlich die Ebene dessen, was Merleau-Ponty vielleicht auch mit der Rede von der »Zwischenleiblichkeit« gemeint hat: die Ebene ineinander übergehender, dabei freilich auch miteinander ringender leiblich verfasster Subjektivitäten. Die ihrerseits bei aller physischen Grundierung nie ganz bei sich sind, immer Züge von Gespenstischem an sich tragen und ihr Ziel, eine wirkliche auch den Leib umfassende Gemeinschaft mit dem anderen zu bilden, je nur ephemer und in von Fiktionalitäten und Täuschungen gegliederten Räumen erreichen können: in denen man gemeinsam ist, indem man sich gemeinsam isst. Einander verschlingt, sich einander »inoculiert«, dabei vermischt, entartet, entfremdet, verdaut und auch ausscheidet. Und zwar immer auf’s Neue, ad infinitum, in ewiger Wiederkehr. Ein Gedanken, den ethisch oder auch politisch auszubuchstabieren noch mehr als aussteht.

Literatur Abel, Günther: Nietzsche. Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1984. Bauer, Martin: »Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff«, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 211-227. Gebhard, Walter: Nietzsches Totalismus. Philosophie der Natur zwischen Verklärung und Verhängnis, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1983. Gerhardt, Volker: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1996. Günzel, Stephan: Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin: Akademie Verlag 2001. Heidegger, Martin: Nietzsche II, Pfullingen: Verlag Günther Neske 1961. Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1971. Müller-Lauter, Wolfgang: »Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht«, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-61. Müller-Lauter, Wolfgang: »Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche«, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189-223.

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Müller-Lauter, Wolfgang: »Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik am späten Richard Wagner«, in: Horst Bürkle/Gerhold Becker (Hg.), Communicatio Fidei. Festschrift Eugen Biser, Regensburg: Pustet Verlag 1983, S. 285-294. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hg.v. Giorgio Colli und Massimo Montinari, Frankfurt a.M./New York: Walter de Gruyter/dtv 1967-77. Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1987. Parkes, Graham: Composing the Soul. Reaches of Nietzsche’s Psychology, London/Chicago: The University of Chicago Press 1994. Schank, Gerd: ›Rasse‹ und ›Züchtung‹ bei Nietzsche, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 4. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot, 1997. Shapiro, Gary: Alcyone. Nietzsche on Gifts, Noise and Women, New York: State University of New York Press 1991. Spiekermann, Klaus: Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1992.

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Essen und Trinken in Kleists Lustspiel »Der zerbrochne Krug« | 157

Zu Gericht sitzen. Vom Essen und Trinken in Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug Marianne Schuller

In Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug wird viel gegessen und getrunken. Bereits zu Beginn ist von »Braunschweiger Wurst« die Rede, die, eingeschlagen in »Pupillenacten«, also in Vormundschaftsakten, zum Haushalt des Dorfrichters Adam zählt, von »Danziger Goldwasser« wie von französischem und deutschem Wein.1 Im X. Auftritt schließlich, der dramaturgisch als Aufschub der zu erwartenden Urteilssprechung fungiert, wird ein Gericht aus Braunschweiger Wurst, fetter Pommerscher Räuchergans, fettem Limburger Käse und deutschem Wein in Gestalt von Niersteiner oder wahlweise Oppenheimer angerichtet.2 Durchflochten von juristischen Spekulationen wird dieses Mahl vom Dorfrichter Adam und von dem zum Zwecke der Revision gerichtlicher Verfahren aus Utrecht angereisten Gerichtsrat Walter eingenommen. In dem Maße, wie es dem zu erwartenden Urteilsspruch vorausgeht, der dem Richter Adam zum Verhängnis werden muss, nimmt das aufgetischte Mahl überdies von ferne Züge einer Henkersmahlzeit an. Schon in dieser ersten Beschreibung erweist sich die Szene des Gerichts als komplex: Während die Handlung dem Gericht als juristischem Verfahren auf der Spur ist, wird die aufgeführte Verschränkung von Sprache und Körper, das zweifache zu Gericht Sitzen seinerseits aussagekräftig. In dieser Verschränkung kann sich das Kleistsche Lustspiel auf die Etymologie berufen: Das Substantiv ›Gericht‹ geht etymologisch sowohl in der 1 | »Der Zerbrochne Krug«, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. I/3, hg.v. Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld Verlag 1995, V, v 399/400 (im Folgenden als ›Krug‹ mit Akt- und Versangaben zitiert). 2 | Krug, X, v 1411-1606.

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158 | Marianne Schuller Bedeutung einer angerichteten Speise wie in der juristischen Bedeutung auf dasselbe Verb zurück: auf ›richten‹ im Sinne von gerade, richtig, recht machen.3 Dabei mischen sich, wie etwa in ›anrichten‹, von vorn herein zwiespältige, zwischen dem Rechten und dem Unrechten oszillierende Bedeutungen ein. Der zerbrochne Krug ist eine Rechtskomödie, die nicht nur das Recht darstellt, sondern das Recht bei seiner Darstellung zeigt.4 Ist die aufgeworfene Darstellungsproblematik durch Repräsentation und Performanz ausgezeichnet, so ist im Zuge des literarischen Textes die rechts- und institutionstheoretisch grundlegende Frage nach der »Realitätsmächtigkeit von symbolischen Formen« aufgeworfen, »mit denen eine Gesellschaft sich einrichtet und mit denen sie sich für sich selbst verstehbar macht«.5 Wenn auch in komischer Brechung zeichnet sich in den Verhandlungen um den zerbrochenen Krug die bestimmende Rolle imaginärer Institutionen (Cornelius Castoriadis) ab, die aufgrund der Unmöglichkeit ihrer Selbstbegründung auf die Intaktheit symbolischer Ausstattung angewiesen sind.6 Unter dieser Perspektive sind die sichtbaren Wundmale, die der Dorfrichter Adam bei seinem nächtlichen Treiben in Eves Kammer davon getragen hat, ebenso wie der Verlust der Perücke nicht nur komische Details, sondern dazu angetan, die Autorität der symbolischen Rechtsinstanz in der Gestalt von Richter und Gericht zu untergraben. Das Lustspiel Der zerbrochne Krug ist an einer rechtsgeschichtlich brisanten Schwelle angesiedelt: am Übergang von einem auf Schriftlichkeit basierenden Verfahren von formal strikt festgelegter Regelhaftigkeit und Regelanwendung hin zu einer mündlichen, an der Zeugenaussage ausgerichteten öffentlichen Verhandlung.7 Ging es in der alten Ordnung um die Ausschaltung von Kontingenz, »die überall dort unweigerlich einbricht, wo Wahrnehmungssubjekte unmittelbar im Spiel sind«,8 so wird Kleist 3 | Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Nachdruck der Erstausgabe Leipzig: Hirzel 1893, München: dtv 1984, Bd. 5, Sp. 3635ff. 4 | Vgl. Thomas Weitin: »Der Geschmack des Gerichts. Zur Urteilsproblematik in Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug«, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hg.), Urteilen/Entscheiden, München: Fink Verlag 2006, S. 217-235, hier S. 224. Während sich Thomas Weitin grundlegend mit der in der Komödie verhandelten rechtshistorischen Position beschäftigt, wird ein Bogen zur Essensthematik geschlagen. Anders als in der hier angestellten Lektüre wird sie im Kontext von Kants Kritik der Urteilskraft verortet und diskutiert; vgl. ebd., S. 230-235. 5 | Ethel Matala de Mazza: »Recht für bare Münze. Institution und Gesetzeskraft in Kleists ›Zerbrochnem Krug‹«, in: Kleist-Jahrbuch 2001, Stuttgart-Weimar: Metzler-Verlag 2001, S. 160-177, hier S. 166. 6 | Vgl. ebd. 7 | Vgl. Thomas Weitin: »Der Geschmack des Gerichts«, a.a.O., S. 222-224. 8 | Ebd., S. 221.

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Essen und Trinken in Kleists Lustspiel »Der zerbrochne Krug« | 159

eben diesen neuen Schauplatz mit all seinen Kontingenzen erschließen: Der Schauplatz des Lustspiels konstituiert sich durch das Mündliche, durch die Sprache, die ihren Weg durch den Mund nimmt. Der Mund wird zu einer Art Figur, sofern er die Ambivalenz von Verschlingen und Liebkosen figuriert, durch die eine nur schmale Grenze verläuft. Der Mund erfüllt Funktionen bei der Einverleibung wie bei der Ausstoßung der Nahrung, er ist die Figur eines Grenzortes, an dem sich der Laut vom Körper, aus dem er kommt, trennt und als Effekt der Trennung Element von Sprache wird.9 Der Mund ist also als Ort und Passage des Sprechens wie als Lustorgan Ort und Passage der Subjektwerdung.10 Die in Unterscheidung zur ›Komödie‹ markant gesetzte Gattungsbezeichnung »Lustspiel«11 weist darauf hin, dass der Der zerbrochne Krug im Zeichen von Mundarbeit und Mundlust steht. Auf den Mund als Ort des Sprechens wie als körperliches Organ wird schon zu Beginn des Lustspiels versteckt angespielt. Wenn die Braunschweiger Wurst in »Pupillenacten«, also in Vormundschaftsakten eingeschlagen ist,12 wenn das exotische, aus Indien stammende Perlhuhn vom »Pips«, also von einer ansteckenden Entzündung der Mund- und Nasenschleimhäute beim Geflügel befallen ist,13 so steht jedes Mal der Mund auf dem Spiel. In der Absicht, seine Zerstreutheit zu Beginn der Gerichtsverhandlung zu rechtfertigen, bringt Adam folgende Geschichte vor: […] Es hat ein Perlhuhn mir, Das ich von einem Indienfahrer kaufte, Den Pips: ich soll es nudeln, und versteh’s nicht, Und fragte dort die Jungfer [d.i. Eve] bloß um Rath.

9 | Vgl. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1993, S. 231. 10 | Vgl. hierzu grundsätzlich Gunnar Schmidt: »Mundarbeiter Lewis Carroll. Unsinn – Sprechen – Mundlust«, in: Fragmente 46 (1994), S. 115-132. 11 | In ihrer Dissertation hat Ingeborg Harms die Gattungsbezeichnung ›Lustspiel‹ für die Lektüre des Kleistschen Textes fruchtbar gemacht. Vgl. dies.: Zwei Spiele Kleists um Trauer und Lust. »Die Familie Schroffenstein« und »Der zerbrochne Krug«, München: Fink Verlag 1990, bes. S. 93-227. Vgl. zur Gattungsbezeichnung als Taufname Roland Reuß: »›… uns, was wahr ist, zu verbergen‹«, in: Brandenburger Kleist-Blätter 8, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld-Verlag 1995, S. 317, hier S. 4. 12 | Krug, I/3, II, v 216 und v 838. 13 | Vgl. »Der Zerbrochne Krug«, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden, Bd. I, hg.v. Ilse-Marie Barth et al., Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991, S. 829.

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160 | Marianne Schuller Ich bin ein Narr in solchen Dingen, seht, Und meine Hühner nenn’ ich meine Kinder.14

Abgesehen davon, dass ›nudeln‹ neben dem Stopfen des Federviehs auch eine obszöne Bedeutung hat,15 findet hier eine Mundkrankheit Erwähnung. Indem Adam seine Hühner, wie er sagt, seine Kinder nennt, wird ein Bogen zur eingangs verdeckt angespielten ›Vormundschaft‹ geschlagen. Ist damit die »gesetzliche fürsorge für eine nicht rechtsfähige person« aufgerufen, so wird das Wort auch »sowohl in günstigem sinne von schutz […] als auch mit einer neigung zur verschlimmerung«, im Sinne von »bevormundung« gebraucht.16 Bis ins Detail also erweist sich die Mundarbeit im Modus von ›Nudeln‹ wie von Reden als hochgradig ambivalent, oszillierend zwischen Krankheit, Heilung, Lust, Schutz und Gewalt. Der Hauptgang, in dem es reichlich zu essen und zu trinken gibt, hat die Funktion einer Unterbrechung: Die Gerichtsverhandlung wird unterbrochen, um die Zeugin Brigitte zur Verhandlung bei zu ziehen. Hatte Gerichtsrat Walter bei seiner Ankunft alle Aufforderungen Adams zu einem kräftigen Frühstück abgelehnt,17 so wird er jetzt selbst nach Wein verlangen und damit den willkommenen Auftakt zum Genuss der aufgetischten Speisen und Getränke geben.18 Das Verhör als juristisches Verfahren wird schwankhaft präsentiert. Es zeigt sich als kontaminiert – mit Verhören als Missverstehen. Das auf Ehelosigkeit verweisende Motiv des Hagestolzes deutet eine Sexualisierung der Ess-Szene an: Die orale Lust erscheint nicht nur als das, was andere Modi der Sexualität ersetzt, sondern auch als das, was seine Steigerung im Vorenthalten des Bezugs zum anderen, auch des anderen Geschlechts, erfährt. Der Genuss also besteht nicht zuletzt im Selbstbezug, der durch die Aufnahme der Speisen das Lust-Ich hervorbringt und stabilisiert. So sagt Adam zu Walter, nachdem eine Tischdecke von Damast gebracht und ausgebreitet worden ist: Das ist der Vortheil Von uns verrufnen hagestolzen Leuten, Daß wir, was Andre knapp und kummervoll, Mit Weib und Kindern täglich theilen müssen, Mit einem Freunde zur gelegnen Stunde, Vollauf genießen.19

14 | Krug, X, v 358-363. 15 | Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, a.a.O., Sp. 976/977. 16 | Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 26, a.a.O., Sp. 1329/1330. 17 | Krug, V, v 399/400. 18 | Krug, X, v 417/18. 19 | Krug, X, v 1452-1456.

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Essen und Trinken in Kleists Lustspiel »Der zerbrochne Krug« | 161

Mit der Ankunft der Zeugin Brigitte,20 die alle Aufmerksamkeit auf den noch ausstehenden Akt des Urteils lenkt, scheint das eingelagerte schwankhafte Gericht-Intermezzo sein Bewenden zu haben. Oder eben auch nicht. Wenn nämlich die Ess-Szene einerseits und die Szene des Urteils andererseits in zeitlicher und räumlicher Nähe zueinander stehen, wenn der Gerichtsraum auch der Raum des Mahles ist, dann wirft vielleicht das eine Gericht einen Schatten auf das andere. Auf mannigfachen Wegen in und durch den Körper berührt und öffnet die Speise verschiedene »Pforten der Wahrnehmung« (Claus-Dieter Rath): Sie reizt den Geschmacks- und Geruchssinn, ihr Anblick reizt das Auge und den Tastsinn und sie bewirkt innerkörperliche Empfindungen. Geht also von der Speise eine reichhaltige und symbolisch wirksame orale Reizwirkung aus,21 so gibt es nach Freud zwischen Einverleibung und dem Akt des Urteilens einen konstitutiven Zusammenhang. In dem kurzen Text Die Verneinung, der es aber in sich hat, heißt es: Die Urteilsfunktion hat im wesentlichen zwei Entscheidungen zu treffen. Sie soll einem Ding eine Eigenschaft zu- oder absprechen, und sie soll einer Vorstellung die Existenz in der Realität zugestehen oder bestreiten. Die Eigenschaft, über die entschieden werden soll, könnte ursprünglich gut oder schlecht, nützlich oder schädlich gewesen sein. In der Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: das will ich essen oder will es ausspucken, und in weitergehender Übertragung: das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen. Also: es soll in mir oder außer mir sein. Das ursprüngliche Lust-Ich will […] alles Gute in sich introjizieren, alles Schlechte von sich werfen. Das Schlechte, das dem Ich Fremde, das Außenbefindliche, ist ihm zunächst identisch.22

Nach Freud also ist das Orale dadurch ausgezeichnet, dass es über die Prozeduren von Introjizieren/Einverleiben und Projizieren/Ausstoßen Grenzziehungen/Urteile und damit Differenzen erzeugt: Die Grenze etwa zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und dem, was nicht zum Ich gehört, ihm fremd ist, die Grenze zwischen dem Guten und dem Schlechten. Mit diesen Scheidungen – Ur-Teilungen – werden auf der strukturellen 20 | Sie ist, wie alle dramatischen Personen – Adam, Eve, Ruprecht usw. – mit sprechenden Namen versehen. Der Name ›Brigitte‹ spielt auf die Heilige Brigitte oder Birgitta von Schweden an, die bereits als Kind neben dem Gekreuzigten und der Madonna auch teuflische Ungeheuer visioniert hat. Die Kleistsche Brigitte glaubt den Teufel in der Gestalt des Dorfrichters Abraham gesehen zu haben. 21 | Paraphrase einer Sequenz aus einem noch unveröffentlichten Text von Claus-Dieter Rath mit dem Arbeitstitel Der besorgte Esser. 22 | Sigmund Freud: »Die Verneinung«, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, hg.v. Anna Freud et al., London/Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 1940ff., S. 9-15, hier S. 13.

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162 | Marianne Schuller Ebene Distanzen erstellt, Spielräume eröffnet, welche Voraussetzungen für die Ausbildung symbolischer Aktivitäten des Ich darstellen. Distanzen aber sind notwendig, um in einem strikten Sinne Entscheidungen fällen zu können. »Distanznehmen, Sicht und Einsicht, Einsicht und Entscheidung bilden eine verkettete Reihe, an deren Ende das auf sich gestellte, reflexive Sich-Entscheiden stehen wird.«23 Diesen mit der Oralität verbundenen Momenten wie Trennung, Teilung, Urteil und Scheidung als Ermöglichung von Entscheidung wird Adam – wie die Welt des Zerbrochnen Krugs überhaupt – auf ambivalente Weise begegnen: Sie werden wahrgenommen und abgewehrt. So ist dem Dorfrichter alles daran gelegen, in Sachen des zerbrochenen Kruges als des corpus delicti zu einem Vergleich zu kommen. Als das nicht gelingt, sucht er das Urteil durch Auftischen von Speisen und Geschichten zu verschleppen. Mit anderen, an Freud orientierten Worten: Mit Adam figuriert sich das Kunststück der Verleugnung. Meint ›Verleugnung‹ bei Freud den Abweis einer Realitätswahrnehmung, die als traumatische Wahrnehmung der Penislosigkeit des Mädchens namhaft gemacht wird,24 so steht sie im Zusammenhang der Kastration, die, über die biologistische Mythe Freuds hinaus, einen für das Subjekt konstitutiven Bezug zum Mangel beschreibt.25 Weil der Mensch ein Wesen ist, dem sich die Welt der Dinge verschließt, indem sich ihm die symbolische Sprache öffnet, ist er durch ein Fehlen ausgezeichnet, ein Fehlen, das zugleich die Ursache des (unerfüllbaren) Ideals imaginärer Ganzheit wird. Wie im Zerbrochnen Krug zu lesen, wird dieses Ideal immer wieder enttäuscht und gekränkt. Erscheinen Essen und Trinken als die begierig eingesetzten und verkosteten Mittel, den Mangel zu stopfen, so kann das nicht gelingen. Vielmehr geht die Verleugnung

23 | Cornelia Vismann: »Das Drama des Entscheidens«, in: dies./Thomas Weitin (Hg.), Urteilen/Entscheiden, a.a.O., S. 91-100, hier S. 92. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rede der Marthe Rull, die den Signifikanten ›Entschieden‹ mehrfach umspielt: »O ja. Entscheiden. Seht doch. Den Klugschwätzer./Den Krug mir, den zerbrochenen, entscheiden./Wer wird mir den geschied’nen Krug entscheiden?/Hier wird entschieden werden, daß geschieden/Der Krug mir bleiben soll. Für so’n Schiedsurteil/Geb ich noch die geschied’nen Scherben nicht.« (Krug, VI, v 417-422). 24 | Vgl. den Artikel »Verleugnung«, in: Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 1975, Bd. 2, S. 595-598. 25 | Vgl. die Umformulierung der Kastration zum symbolischen Gesetz durch Jacques Lacan: »Leitsätze für einen Kongress über weibliche Sexualität«, in: Schriften III, Olten/Freiburg i.Br.: Walter-Verlag 1980, S. 221-236; »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II, Olten/Freiburg i.Br.: Walter-Verlag 1975, S. 119-132.

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nach Freud »auf Kosten eines Einrisses im Ich, der nie wieder heilen, aber [sic!] sich mit der Zeit vergrößern wird«.26 Wie die den gesamten Text grundierenden Anspielungen auf die Genesis zeigen, weist sich Der zerbrochne Krug als ein Stück ›nach dem Fall‹ aus. Wird aufgrund des Genregefälles zwischen dem heiligen Text des Alten Testamentes und dem auf das späte 17. Jahrhundert verlegten27 Fall des ›verhunzten‹ Richters28 ein (durch die Ödipus-Anspielung29 noch verstärkter) komischer Kontrast etabliert – verdoppelt noch durch die Verlegung aus einem holländischen Dorf Huisum in der Nähe der mit einem sprechenden Namen versehenen Stadt Utrecht –, bringt sich gleichwohl die Konnotation zum ›Sündenfall‹ emphatisch zur Geltung. Dies nicht zuletzt in dem durchschlagenden Motiv der Entzweiung, des Bruchs und des Risses, des Einrisses, das alle Handlungen und Verhandlungen wie die Rede selbst betrifft. Dafür steht das beherrschende Dingsymbol des zerbrochenen Krugs, dafür stehen die Verletzungen Adams und Walters ein. Und auch die Sprache wird als in sich zwiespältig vorgeführt: zerschlagen in wörtliche und figurale Rede. Wenn der seine Wunden verbindende Adam zu Beginn des Lustspiels, das ab ovo, nämlich mit dem Signifikanten »Ei«30 beginnt, davon spricht, dass er gefallen sei, so bekommt der Schreiber Licht auf seine den Riss voraussetzende Frage »Unbildlich hingeschlagen?« zur Antwort: »Ja, unbildlich./Es mag ein schlechtes Bild gewesen sein.«31 Von seinem erotischen Abenteuer, über dessen Verlauf trotz oder wegen der Zeugenaussagen ein rätselhafter Schatten gebreitet bleibt, trägt Adam Wunden davon. Eine Wunde am Hinterkopf und eine an der Stirn. 26 | Sigmund Freud: »Die Ichspaltung im Abwehrvorgang«, in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, a.a.O., S. 59-62, hier S. 60. 27 | Vgl. zur historischen Verortung Ethel Matala de Mazza: »Recht für bare Münze«, a.a.O., S. 164-166; Thomas Weitin: »Der Geschmack des Gerichts«, a.a.O., S. 220-224. 28 | Vgl. Adams berühmten Traum: »– Mir träumt’, es hätt’ ein Kläger mich ergriffen,/Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich/Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort,/Und schält’ und hunzt’ und schlingelte mich herunter,/Und judicirt’ den Hals ins Eisen mir.« (Krug, III, v 269-273); zu »hunzen« in der Bedeutung von »wie ein hund sich gebärden«. Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, a.a.O., Sp. 1953. 29 | Vgl. den in Anm. 28 zitierten Traum; siehe außerdem die in der Publikation unterdrückte »Vorrede«, die ein Gemälde für den Anlass des Lustspiels ausgibt; darin heißt es: »und der Gerichtsdiener sah jetzt den Richter mistrauisch […] zur Seite an, wie Kreon, bei ähnlicher Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug.« (in: Krug, S. 220.) 30 | Krug, I, v 1. 31 | Krug, I, v 14/15.

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164 | Marianne Schuller Nach der Erzählung des Lustspiels können diese Wunden als Male32 entziffert werden: als Male, die das Drama der symbolischen Kastration eingraviert und hinterlassen hat. Der Ort dieses Dramas ist Eves Kammer im Rull’schen Haus, das in einem seltsam künstlichen Garten liegt. Hier wächst ein üppiger Weinstock, der, als »Kreuzgeflecht«33 gekennzeichnet, das Fenster von Eves Kammer »umstrickt«. Damit verbindet sich Dionysisches und Christliches. Die Januarnacht ist warm wie eine Nacht im Mai.34 Der Garten scheint also in seiner Mangellosigkeit ein künstliches Paradies zu sein, das sich durch die Anspielungen auf Redefiguren im Hohelied Salomonis als Liebesort darstellt. Die alttestamentarische Liebesrede, welche das Mädchen im Munde führt, lässt eine an Eves Kammer erinnernde Topographie entstehen, wenn es etwa heißt: »Ich wollte dich führen und in meiner Mutter Haus bringen, in die Kammer derer, die mich gebar.«35 Aber auch das sexuell konnotierte, von Adam gewaltsam herbeigeführte Eindringen in die hoch symbolische Kammer des Mädchens ist im Hohenlied vorgezeichnet. Mein Freund steckte seine Hand durchs Riegelloch, und mein Innerstes wallte ihm entgegen./Da stand ich auf, daß ich meinem Freunde auftäte; meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe am Griff des Riegels.36

Trägt die Verstrickung von Liebesrede aus dem Hohenlied mit den Reden und Situationen um Eves Kammer dazu bei, die Unschuldsposition Eves zu erschüttern, so rückt die künstliche Szenerie an den verheißungsvollen Ort des Paradieses, der, wie der Baum der Erkenntnis, dadurch verlockt, dass er verboten ist. Wird dieses Moment paradiesischer Mangellosigkeit mit der Frage der Geschlechterdifferenz verlötet, so trägt Adam bei seiner Vertreibung aus Eves Kammer noch die Züge ›vor‹ der Geschlechtung: Schon auf dem Sprung, der die Wunden der Kastration schlägt, erscheint Adam durch die Konstellation von ›Rock‹, ›Schoß‹ und ›Wehen‹ noch ausgestattet mit weiblichen Zügen. So heißt es in Ruprechts Rede vor dem Gericht:

32 | Vgl. zur Unterscheidung von ›Zeichen‹ und ›Mal‹ Walter Benjamin: »Über Malerei oder Zeichen und Mal«, in: Gesammelte Schriften, hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1977, S. 603-607. 33 | Krug, XI, v 1625. 34 | Krug, VII, v 871/72. 35 | Hohelied 8, 2. 36 | Hohelied 5, 4/5; vgl. hierzu Ingeborg Harms: Zwei Spiele Kleists um Trauer und Lust, a.a.O., S. 142-146.

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Essen und Trinken in Kleists Lustspiel »Der zerbrochne Krug« | 165 Just da sie [die Tür] auf jetzt rasselt, Stürzt dort der Krug vom Sims ins Zimmer hin, Und husch! Springt Einer aus dem Fenster euch: Ich seh die Schöße noch vom Rocke wehn.37

Aber nicht nur Adam, sondern auch andere Figuren sind, bezogen auf die Frage des Geschlechts, so gezeichnet, dass das Geschlecht selbst zur Rätselfrage wird. Wie in der sexuell aufgeladenen, verhängnisvollen Nacht die Rockschöße Adams transvestitisch erscheinen, so ist bezogen auf Ruprecht wie auf Eve davon die Rede, dass sie mit einem ›Latz‹ angetan sind. Im Blick auf Eve sagt Ruprecht »Die Eve ist’s, am Latz erkenn ich sie«38 und wenig später beschreibt er seinen eigenen Zustand, in den er angesichts eines Dritten in Eves Garten gerät: Jetzt hebt, Herr Richter Adam, Jetzt hebt sich’s, wie ein Blutsturz, mir. Luft! Da mir der Knopf am Brustlatz springt: Luft jetzt! Und reiße mir den Latz auf: Luft jetzt sag’ ich!39

Als »Hosenlatz« und als »ein die brust bedeckendes kleidungsstück« ist der ›Latz‹ Teil der männlichen sowie – als »Schnürbrust« – Teil der weiblichen Kleidung,40 welche die Geschlechtsmerkmale verdeckt bzw. symbolisch markiert. Damit ist ein Thema aufgenommen, das sich schon in der der Handschrift voran gesetzten ungedruckten »Vorrede« findet. Stellt diese die Ekphrasis eines Kupferstiches dar, so heißt es: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache [des zerbrochenen Kruges] gezeugt hatte, (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Delictum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer falsches Zeugniß abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn[.]41

Schürze ist etymologisch mit Schurz verwandt, das ein die körperliche Blöße, »insbesondere die Genitalien«, bedeckendes Kleidungsstück bedeutet.42 Bleibt also die Frage nach dem Grund der Scheidung verdeckt, so gibt es ein Requisit, das die Frage nach dem Grund des Ur-teilens im Sinne einer Grauen erregenden Verabgründung lesbar macht. Dieses Requisit ist die symbolisch aufgeladenen Perücke des Dorfrichters Adam. 37 | Krug XII, v 969-972. 38 | Krug, VII, v 915. 39 | Krug, VII, v 964/65. 40 | Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, a.a.O., Sp. 282/83. 41 | Krug, Vorrede, 220. 42 | Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, a.a.O., Sp. 2050-2063.

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166 | Marianne Schuller Als Teil der richterlichen Amtsrobe ist die Perücke eine symbolische Form, die den Körper der Amtsperson aus der Sphäre des Profanen heraushebt und zu einem symbolischen Körper verklärt. Wenn, wie im Falle Adams, dieses Symbol schlechthin für den Namen und die Realitätsmächtigkeit des Gesetzes, verloren geht, dann ist durch den Makel der Unvollständigkeit nicht nur das Machtwort des Staates depotenziert, sondern de facto die Devestitur des Richters vorweggenommen.43 Als Schlüsselrequisit, das gerade durch seine Abwesenheit während der ganzen Zeit der Verhandlung anwesend ist, bringt die Perücke aber nicht nur das mit Realitätswirkung versehene Fiktive der Rechtsinstitution zur Darstellung, sondern die Perücke steht auch im Zusammenhang des Kastrationsmotivs. Die bei Adams Vertreibung aus dem Garten Eves verlustig gegangene Perücke wird im Spalier des Weinstocks hängend von der späteren Zeugin Frau Brigitte gefunden. Der Schreiber Licht, der davon vor Gericht berichtet, vergleicht die Perücke mit einem Nest: Die Frau [Brigitte] fand die Perücke im Spalier Bei Frau Margarethe Rull. Sie hing gespießt, Gleich einem Nest, im Kreuzgeflecht des Weinstocks, Dicht unterm Fenster, wo die Jungfer schläft.

In einer seiner vielen Geschichten über Ursprung und Grund des Perückenverlustes ersetzt Adam den Weinstock durch das Strauchwerk in seiner Stube.44 Im Strauchwerk wiederum hängen die Kokons der Seidenwürmer, die zugleich ihre Nester sind. Und vor Prozessbeginn spricht Adam davon, dass die Katze, »das Schwein«,45 in die Perücke gejungt habe. Wenn Würmer der Etymologie wie dem Aussehen nach kleine Schlangen46 sind, dann erscheint die Perücke als ein Schlangennest. Als Haupt mit Schlangenhaar47 aber ist das »abgeschnittene, Grauen erweckende Haupt der Medusa«48 gebildet, das nach Auskunft des späten Freud als mythologische Darstellung der Kastration zu verstehen ist. In den Worten

43 | Vgl. Ethel Matala de Mazza: »Recht für bare Münze«, a.a.O., S. 168. 44 | Krug, X, v 1479-1481; die Passage ist orientiert an Ingeborg Harms: Zwei Spiele Kleists um Trauer und Lust, a.a.O., S. 184-195. 45 | Krug, II, v 240-245. 46 | Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, a.a.O., Sp. 440. 47 | Vgl. Ethel Matala de Mazza: »Recht für bare Münze«, a.a.O., Anm. 27, S. 167f. »Als Schmuck und Schutz, der dem ›natürlichen‹ Körper angewachsen ist, erhält das Haar zugleich allerdings die Verbindung zu jenen niederen Triebregionen aufrecht, die der symbolische Körper nicht kennen darf.« 48 | Sigmund Freud: »Das Medusenhaupt«, in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, a.a.O., S. 47-48, hier S. 47.

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Freuds, die, so scheint es, dem empiristischen Gestus durch Schematisierung entgegen zu wirken trachten: Kopfabschneiden = Kastrieren. Der Schreck der Meduse ist also Kastrationsschreck, der an einen Anblick geknüpft ist. […] Wenn die Haare des Medusenhauptes von der Kunst so oft als Schlangen gebildet werden, so stammen diese wieder aus dem Kastrationskomplex. […] sie ersetzen den Penis, dessen Fehlen die Ursache des Grauens ist.49

Freuds Deutung des mythologischen Gebildes kommt zu dem Schluss, dass ›Medusenhaupt‹ heißt: »ein weibliches Genitale erblick[en]. Wahrscheinlich ein erwachsenes, von Haaren umsäumtes, im Grunde das der Mutter.«50 Was aber heißt das? Was heißt ›ein Fehlen‹ erblicken? Mit dem Medusenhaupt stellt sich das Paradox des Erblickens von Nichts dar. Und dieses Paradox ist es, das den Schrecken auslöst: »Der Anblick des Medusenhauptes macht starr vor Schreck, verwandelt den Beschauer in Stein.«51 Unter dieser Perspektive kommt eine Szene des Lustspiels in den Blick, die sich in dem von Kleist gegenüber der kürzeren Bühnenfassung separat publizierten so genannten »Variant« findet.52 Eine Sequenz der ebenso ausführlichen wie zweideutigen Erzählung Eves handelt von den fraglichen Begebenheiten, die sich nach dem Eindringen Adams in ihre Kammer abgespielt haben: Er [Adam] geht und schiebt den Riegel vor die Thüre, Und räuspert sich, und lüftet sich die Weste,53 Und nimmt sich die Perücke förmlich ab, Und hängt, weil der Perückenstock ihm fehlt, Sie auf den Krug dort, den zum Scheuern ich Bei mir auf’s Wandgesimse hingestellt. Und da ich frag’, was dies auch mir bedeute? Läßt er am Tisch jetzt auf den Stuhl sich nieder, Und fasst mich so, bei beiden Händen, seht, Und sieht mich an. 49 | Ebd., S. 47. 50 | Ebd. 51 | Ebd. 52 | Wahrscheinlich wegen des Desasters bei der Premiere, die Anfang 1808 unter Goethes Regie in Weimar stattgefunden hat, hat Kleist eine Kürzung des XII. Auftritts vorgenommen und die längere Fassung separat unter dem Titel »Variant« im Phöbus publiziert. Aufgrund dieser zweifachen Präsentation erscheint auch der Lustspieltext entzwei gebrochen. Vgl. hierzu Roland Reuß: »Zu dieser Ausgabe«, in: Krug, S. 421-448. 53 | Weste ist ein Synonym für Latz.

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168 | Marianne Schuller Frau Marthe. Und sieht –? Ruprecht. Und sieht dich an –? Eve. Zwei abgemessene Minuten starr mich an. Frau Marthe. Und spricht –? Ruprecht. Spricht nichts –? Eve. Er, Niederträcht’ger, sag ich, Da er jetzt spricht; was denkt er auch von mir?54

Diese Szene erweist sich als eine Schlüsselszene des Lustspiels: Sie ist der unlesbare (Nicht-)Ausdruck aller Ordnungsauflösungen im Zeichen der Unmöglichkeit von Mitteilung und Repräsentation. Unfassbarer Anblick, stummer Augenblick eines sich entziehenden Objekts oder: ursprünglicher Entzug des Ursprungs, durch welchen allererst eine Logik des Ursprungs, der Identität und des Geschlechts ins Werk gesetzt wird. Wenn Eve, wie sie es tun muss, die Szene ihrerseits im Paradox eines ›Seht den Ausfall des Sehens‹ vorführt, ist sie nicht länger außerhalb, sondern Teil dessen, was sie scheinbar beschreibt: Aufklaffen eines Loches des Todes und der sexuellen Realität, eines Loches, vor dem sich die Form und der Weg des Subjekts abzeichnen. Mit der Einführung einer defigurierenden Leere in der Figur ›selbst‹, wie sie in diesem achronischen Augenblick (nicht) lesbar wird, steht erneut die Frage des Gerichts zur Verhandlung: Wenn es keine Selbstbegründung des Rechts gibt, wenn ein Urteil im Namen des Gesetzes die Geltung des Gesetzes nicht nur voraussetzt, sondern das Gesetz in der Anwendung allererst mit Gesetzeskraft auflädt,55 so kommt auch das Essen und Trinken erneut zu seinem Recht: Wenn nach Auskunft der Psychoanalyse der Verlust der Brust, also ein verlorenes Objekt den Oraltrieb strukturiert, so konstituiert sich zugleich jene unabschließbare Bewegung, die bestrebt ist, diese Leere zu verdecken. In dem Maße nun, wie das letzte Urteil in Sachen des zerbrochenen Kruges im Zerbrochnen Krug nicht gesprochen wird, in dem Maße, wie der alte Adam weiter durch die Winterlandschaft treibt und kreist, zeichnet sich ein Zug der Position des Subjekts ab: Aus der Leere gewonnen, wird diese durch kein letztes Wort und durch kein Objekt gefüllt. Auch dann nicht, wenn alle alten Adams zu Gericht sitzen bei Braun54 | »Variant«, in: Krug, S. 170/71. 55 | Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1991.

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schweiger Wurst, fetter Pommerscher Räuchergans, fettem Limburger Käse, bei Niersteiner oder auch Oppenheimer Wein. In dem Maße, wie das Mahl die Wunde des durch die Sprache auferlegten Gesetzes der Kastration nicht heilen kann, wird es wieder und wieder aufgetischt.

Literatur Benjamin, Walter: »Über Malerei oder Zeichen und Mal«, in: Gesammelte Schriften, hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1977, S. 603-607. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1993. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1991. Freud, Sigmund: »Die Verneinung«, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, hg.v. Anna Freud et al., London/Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 1940ff., S. 915. Freud, Sigmund: »Das Medusenhaupt«, in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, hg.v. Anna Freud et al., London/Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 1940ff., S. 47-48. Freud, Sigmund: »Die Ichspaltung im Abwehrvorgang«, in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, hg.v. Anna Freud et al., London/Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 1940ff., S. 59-62. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Nachdruck der Erstausgabe Leipzig: Hirzel 1893, München: dtv 1984. Harms, Ingeborg: Zwei Spiele Kleists um Trauer und Lust. »Die Familie Schroffenstein« und »Der zerbrochne Krug«, München: Fink Verlag 1990. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden, Bd. I, hg.v. Ilse-Marie Barth et al., Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. I/3, hg.v. Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle, Basel/ Frankfurt a.M.: Stroemfeld Verlag 1995. Lacan, Jacques: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II, Olten/Freiburg i.Br.: Walter-Verlag 1975, S. 119-132. Lacan, Jacques: »Leitsätze für einen Kongress über weibliche Sexualität«, in: Schriften III, Olten/Freiburg i.Br.: Walter-Verlag 1980, S. 221-236. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 1975. Mazza, Ethel Matala de: »Recht für bare Münze. Institution und Gesetzeskraft in Kleists ›Zerbrochnem Krug‹«, in: Kleist-Jahrbuch 2001, Stuttgart-Weimar: Metzler-Verlag 2001, S. 160-177. Reuß, Roland: »›… uns, was wahr ist, zu verbergen‹«, in: Brandenburger Kleist-Blätter 8, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld-Verlag 1995, S. 3-17.

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170 | Marianne Schuller Reuß, Roland: »Zu dieser Ausgabe«, in: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. I/3, hg.v. Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld-Verlag 1995, S. 421-448. Schmidt, Gunnar: »Mundarbeiter Lewis Carroll. Unsinn – Sprechen – Mundlust«, in: Fragmente 46 (1994), S. 115-132. Vismann, Cornelia/Weitin, Thomas (Hg.), Urteilen/Entscheiden, München: Fink Verlag 2006. Vismann, Cornelia: »Das Drama des Entscheidens«, in: dies./Thomas Weitin (Hg.), Urteilen/Entscheiden, a.a.O., S. 91-100. Weitin, Thomas: »Der Geschmack des Gerichts. Zur Urteilsproblematik in Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug«, in: Cornelia Vismann/ders. (Hg.), Urteilen/Entscheiden, a.a.O., S. 217-235.

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Louis Malle/Jean-Claude Carrière: Milou en mai – Nahrungskette und narrative Struktur Gerhard Neumann

J’ai décidé d’être heureux parce que c’est bon pour la santé. Voltaire C’est beau une femme qui mange. Milou Ça dure longtemps, une révolution? Françoise

I. Unter den großen Menschheitserzählungen, wie sie das Abendland geprägt haben, ist der Mythos vom Sündenfall wohl eine der bedeutendsten. In ihm erscheinen religiöse Wahrheit, sozialgeschichtliche Realität und anthropologische Konstellation auf untrennbare Weise miteinander verbunden. Claude Lévi-Strauss hat die Mythen einmal ›Organisationsmodelle sozialer Aporien‹1 genannt, sie also als jene Erzählungen gelesen, in denen Probleme gesellschaftlichen Lebens zwar nicht gelöst, aber darstellend zu Sinnfiguren verdichtet werden. So verstanden ist auch der Sündenfall, wie ihn das Alte Testament überliefert, als eine Strukturformel zu denken, die auf zwei natürliche Triebe des Menschen, den Sexualtrieb und den Nahrungstrieb, erzählend ›antwortet‹ und deren soziale Verarbeitung zu Bewußtsein bringt. Der Mensch, der durch das Essen vom Baum der Er1 | Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, darin »Die Struktur der Mythen«, S. 226-254.

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172 | Gerhard Neumann kenntnis, das ein Brechen des göttlichen Verbotes darstellt, zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, wird durch diesen Akt zum kulturellen Wesen. Der Blick, den er auf sich selbst und seine Leiblichkeit richtet, führt ihn zum Wissen über Leben und Tod und zu der Fähigkeit, Zeichen und Namen zu finden, die die Welt lesbar machen und für ihn ordnen. Auslöser dieses Prozesses einer Selbsterkenntnis, die zugleich Welterkenntnis und das Wissen von deren Todesverfallenheit darstellt, ist der Eßakt, der, auf der Grenze zwischen Lizenz und Tabu vollzogen, im Übertreten des Gesetzes zugleich zum Bewußtsein menschlicher Sexualität führt. So sind es die beiden natürlichen Grundtriebe des Menschen, der Drang zur Zeugung und die Notwendigkeit, das Leben des Körpers durch Nahrung zu fristen, die durch den Sündenfall, das Brechen des Gesetzes und die Vertreibung aus dem Paradies zu Kulturthemen werden: die Zeichenordnungen der Gesellschaft aus sich hervortreibend, mit denen der Mensch seine nun im Licht des Bewußtseins liegende Welt zu verstehen und zu formen sucht. Aus dem Sündenfall, als der Urszene der Menschwerdung, wie die christliche Religion sie überliefert, wirkt so das Natürliche der Sexualität wie des Nahrungstriebs in alle kulturellen Ordnungen ein: die politische wie die ästhetische, die familiale wie die institutionelle, die psychologische wie die mythische. Im Augenblick des Sündenfalls, des Essens vom Baum der Erkenntnis, »gehen dem Menschen die Augen auf«. In ihm erwacht die Neugier, die Fähigkeit zu verstehen, zu wissen und zu bezeichnen. Die natürlichen und bewußtlosen Vorgänge gerinnen zu Strukturen, welche ihrerseits Akte der Kommunikation ermöglichen. Sie stiften Zeichen, die der sozialen Verständigung dienen. Über die kulturellen Folgen, die aus dem Bewußtsein menschlicher Sexualität erwachsen, ist in neuerer Zeit viel nachgedacht worden. Michel Foucault gehört zu den Pionieren solcher Überlegungen.2 Die Frage, in welcher Weise Akte der Nahrungsschaffung, der Nahrungsbearbeitung und der Nahrungsaufnahme, Hunger und Stillung des Bedürfnisses, Lust und Abscheu im Eßakt in soziale Formen einwirken, hat dagegen lange im Schatten anderer kulturgeschichtlicher Interessen gestanden. Erst neuerdings nimmt man den Akt der Mahlzeit, das performative Ereignis, welches sie darstellt, als einen semiotischen Akt ernst, aus dem die Möglichkeit menschlicher Beziehungen erwächst. »Jede Nahrung ist ein Symbol«, hat Sartre einmal Simone de Beauvoir gegenüber geäußert. Es ist diese Wahrheit, die mit dem Sündenfall in die menschliche Kultur kam. Der homo significans wird am Eßtisch geboren. Ein zweiter Gedankengang ist hier anzuschließen. Am Anfang der Kultur steht, wie der Altphilologe Walter Burkert gezeigt hat, der Mensch, der den Verzehr der Jagdbeute zum Opferritual macht und damit das erste 2 | Michel Foucault: Histoire de la sexualité, Bde. I, II und III, Paris: Éditions Gallimard 1976ff.

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Dispositiv kultureller Selbstverständigung schafft:3 als die Inszenierung der Zuteilung von Überlebens- und Kommunikationsressourcen durch die Moiren, die ›Fleischverteilerinnen‹, wie die griechischen Schicksalsgöttinnen heißen, an die Mitglieder der menschlichen Lebensgemeinschaft, der Tischgemeinschaft. Aus diesem Opferritual, als einer Szene der lebensweltlichen Orientierung, erwächst das griechische Theater, als einer der wesentlichen Orte, wo eine ›Nomologie der Kultur‹4 (Max Weber) sich ereignet, zugleich und vor allem aber das kulturelle Szenario des Gastmahls. Dieses erweist sich dann seit den antiken Symposien eines Platon, Athenaios oder Petronius, aber namentlich seit der Begründung der christlichen Religion durch Jesu Einsetzung des Abendmahls als jenes Ritual, in dem und durch welches sich der Stoffwechsel der Natur in den Stoffwechsel der Kultur verwandelt – das heißt aber: sensorielle Erfahrung in kulturellen Sinn transformiert wird. Es ist der Punkt, wo eine ›culture of performance‹ in eine ›culture of meaning‹, wie man jüngst formuliert hat (Hans Ulrich Gumbrecht), umschlägt. Es ist zugleich der Ort, wo die Frage nach dem Sinn der Sinne,5 dem Wahrnehmen und Verstehen der Welt durch das menschliche Sensorium entspringt. Diese Frage ist an zwei kulturelle Dispositive oder ›Regler‹ geknüpft, die auf die Ordnung der Gemeinschaft einwirken, einerseits an einen Code, eine Zeichenordnung also, andererseits aber an ein Ritual: an den Code, der die Hierarchie der Sinne und ihre mediale Funktion betrifft einerseits, und an das Ritual des Gastmahls, das die Mahlzeit organisiert, andererseits. Code und institutionelles Ritual sind mithin diejenigen Kräfte, die den Stoffwechsel der Kultur in Gang halten. Der wichtigste kulturelle Code, der die Arbeit einer Gesellschaft am Sinn des ›fünfsinnlichen Sensoriums‹ (Jean Paul) bestimmt, betrifft, wie gesagt, die Frage nach der Hierarchie und der Funktion von Sehsinn, Gehör, Tastsinn, Geschmack und Geruch bei der Konstruktion von Welt, bei der Etablierung von kultureller Bedeutung. Es ist die lange Geschichte der verschieden begründeten Dominanzen des Auges und des Gehörs als Fernsinne, wie Aristoteles sie nennt; des mittleren Sinns des Tastens; der niedrigen und in vielen historischen Situationen verachteten Sinne des Geschmacks und, noch um einiges mehr vernachlässigt, des Geruchs.6 Es ist aber eben dieses Spiel epochal wechselnder Akzentuierun3 | Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin: Wagenbach 1990. 4 | Eine Verständigung über die Gesetze, die das Leben der Gemeinschaft regeln, und die Werte, die dieser geordneten Gemeinschaft Sinn verleihen. 5 | Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, 2. Auflage, Berlin: Springer-Verlag 1956; Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 6 | Gerhard Neumann: »Kunst des Nicht-Lesens. Hofmannsthals Ästhetik des Flüchtigen«, in: Gerhard Neumann/Ursula Renner/Günter Schnitzler/Gotthart

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174 | Gerhard Neumann gen, auf das es bei der Begründung und Abschätzung kultureller Werte vor allem ankommt. Ich erwähne als ein markantes Beispiel die Privilegierung des Tastsinns im Materialismus der Aufklärung in Condillacs legendärem Statuenexperiment – nämlich der experimentellen Begabung einer Statue mit den fünf Sinnen, wobei es erst der Tastsinn ist, der Wirklichkeitswahrnehmung und -darstellung verbürgt; ich nenne des weiteren Herders berühmten »Plastik«-Aufsatz; und ich erinnere an ein letztes Beispiel, die Aufwertung des Geruchssinns bei Rousseau und dann bei Charles Fourier.7 Es ist also dieses Spiel wechselnder Akzentuierungen der fünf Sinne, das zur fortschreitenden Ausdifferenzierung des Geschmacks (in wörtlicher wie dann in übertragener Bedeutung) als kulturbildendes Organ führt: des Geschmacks als Medium der Wahrnehmung der Welt durch die Sensualität also, die in die Konstruktion von Welt durch den Sinn, durch Werte und Bedeutungen, umschlägt. Neben dem changierenden Code, der die Hierarchie der Sinne bestimmt, steht aber mit gleichem Gewicht das Ritual: im vorliegenden Zusammenhang das Ritual des Gastmahls. Es ist entscheidend an der Ausdifferenzierung des so privilegiert verstandenen Sinns der Sinne, als des Geschmacks, in der Kultur beteiligt. Man könnte geradezu die These aufstellen, daß die Geburt des Geschmacks als Organ sozialer und kultureller Orientierung genau in jenem Augenblick erfolgt, da die gemeinsame Mahlzeit, also die Tischgesellschaft – über ihren ethnischen, philosophischen oder religiösen Stiftungswert hinaus – auch zu einer Bühne lebensweltlicher (alltäglicher) Orientierung und kultureller Ausdifferenzierung wird, mithin der lebensnotwendigen Erzeugung der ›feinen Unterschiede‹ in der Gesellschaft dient.8 Plakativ ausgedrückt: Daß es der Übertritt aus der Abendmahlszene und dem Refektorium des Klosters in das fürstliche weltliche Gastmahl ist, um den es bei dieser kulturellen Wende geht; oder, ikonographisch gefaßt, um die Übermalung der Abendmahlszene, in der Christus das Brot bricht und den Wein trinkt und damit die Eucharistie begründet, durch die prächtige Szenerie der Hochzeit zu Kana, bei der ChriWunberg (Hg.), Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne, Bd. 4 (1996), Freiburg i.Br.: Rombach 1997, S. 227-260. 7 | Gerhard Neumann: »Der Körper des Menschen und die belebte Statue. Pygmalion – ein kulturgeschichtliches Paradigma«, in: Claudia Monti/Walter Busch/ Elmar Locher/Isolde Schiffermüller (Hg.), Körpersprache und Sprachkörper. Semiotische Interferenzen in der deutschen Literatur. La parola de corpo – il corpo della parola. Tensioni semiotiche nella letteratura tedesca, Bozen: Edition Sturzflüge 1996, S. 195-231. 8 | Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Les éditions de minuit 1979; dt. Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.

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stus zwar auch anwesend ist, in der aber nicht Wein in Blut, sondern Wasser in Wein – also ein ›Spitzengewächs‹ – verwandelt wird und der Tisch des Brautpaars von Köstlichkeiten und Delikatessen nur so strotzt; wo also, statt der Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut, Sinnlichkeit des Geschmacks am Essen und an der Sexualität in aller verfeinerten Differenzierung zum Thema werden – ist es doch, so gesehen, die Segnung der Ehe als soziale Ritualisierung ›wilder‹ Sexualität, die hier inszeniert und gefeiert wird.9 Nun ist noch etwas über die Funktion des Rituals in der Kultur zu sagen. Im Feld der Kulturhermeneutik der letzten zwanzig Jahre ist zu beobachten, daß sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit mehr und mehr auf jene Stellen im kulturellen Gewebe richtet, aus denen die Organisationsimpulse für das Zusammenleben und Sich-Verständigen der Menschen hervortreten: die Rituale also. Aus ihnen werden strategische Modelle entwickelt, mit denen kulturelle Ordnung und kulturelles Verstehen eben dieser Ordnung zur Diskussion gestellt und in Szene gesetzt werden. Die Rituale sind es, die die Vermittlung von Natur und Kultur leisten: Sie organisieren die Transgression von ›nacktem Körper‹ zu ›sozialem Gesetz‹, wie Giorgio Agamben es kürzlich formuliert hat.10 Die Rituale haben also ihre Stelle auf der Grenze zwischen dem ›natürlichen‹ Leben einerseits, seiner Organisation nach Sinn- und Wertmustern andererseits. Rituale dienen aber, in ihrer Funktion neben, aber auch innerhalb der institutionellen staatlichen Ordnungsmuster, der ›Biopolitik‹, wie Michel Foucault es ausgedrückt hat: also dem Verwalten des Lebendigen (›gérer la vie‹) und seiner Domestizierung nach den Regeln einer bestimmten kulturellen Verfassung und Wertehierarchie. (Man könnte behaupten, daß das 20. Jahrhundert in eben dem Maße vom Phänomen der Rituale fasziniert war, wie das 21. Jahrhundert dann von den Formmustern der Gene und ihrer kulturellen Bearbeitung gefesselt sein wird.) Die Entwicklung dieses Interesses für Rituale und ihre Funktion im Gewebe der Kultur ist dabei ganz offensichtlich an ein spezifisches Interesse für den Körper und seine Bewegungen gebunden. Rituale sind, so sagt man, ›in irgendeiner Weise besondere Handlungen‹; sie sind damit, durch ihre starke Sättigung mit Körperlichkeit, Deixis und Sprachzeichen, semiotische und ›präsemiotische Orte‹ gleichermaßen (nach einer Formulierung Michael Otts)11 und so auf eine spezifische Weise Verteilerstellen von Sinn in

9 | Beispielhaft realisiert in dem Schritt von Leonardos Abendmahl zu Veroneses Pariser Hochzeit zu Kana. 10 | Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 11 | Michael Ott: »Ritualität und Theatralität«, in: Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber (Hg.), Szenographien. Theatralität als Kategorie der Litera-

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176 | Gerhard Neumann der Kultur. Rituale sind also, so betrachtet, nicht notwendig durch Worte getragen; aber sie sind niemals ohne Sinn, niemals ohne semiotischen Mehrwert. Ihr wesentliches Merkmal besteht darin, daß sie von den Mitgliedern einer Gesellschaft oder Gemeinschaft ›wiedererkannt‹ werden. Sie sind, mit einem Wort des Altertumswissenschaftlers Walter Burkert, ›stereotypisierte Handlungen‹.12 Rituale sind mithin Aktionen, die etwas mit der Dynamik, mit dem Sinn und mit den Werten von Kultur zu tun haben: als empfindliche Stellen zwischen Ordnungsstiftung und anarchischem Zerfall. Damit erfüllen sie Funktionen in der Kultur, welche mit der Sprache und der Anstrengung des Begriffs allein nicht geleistet werden können. Sie bilden Schaltstellen für die ›Zirkulation sozialer Energie‹, um eine Wortprägung Stephen Greenblatts aufzugreifen:13 also Bühnen für deren Bewertung und Aushandlung, ihre Operationalisierung, ihre Disziplinierung. Rituale sind der Ort, wo ›Handlungen‹ in ein Szenario des ›Aushandelns‹ von Sinn umspringen. Damit ist aber auch deutlich, daß Rituale jene Akte in der Kultur sind, die das Anarchische der Triebe binden und aus denen gleichzeitig neue Organisationsimpulse hervortreten, welche das menschliche Zusammenleben allererst ermöglichen. Einer dieser anarchischen Triebe ist der Sexualtrieb, der – zwar nicht ausschließlich, aber zu einem großen Teil – den Bestand der Lebewesen als Gattung sichert; ein anderer, ihm korrespondierend, ist der Nahrungstrieb – den Bestand des Lebewesens als Individuum gewährleistend. Zur Regelung sexuellen wie nutritiven Verhaltens dienen also Rituale, die das Funktionieren, die Werte-Bildung und die Besitz-Verteilung, aber auch die Verständigung der Gesellschaft über sich selbst ermöglichen – Rituale wie beispielsweise Brautwerbung, Heiratsvermittlung, Verlobung oder Eheschließung einerseits, Speiseopfer, Jagdbeuteverteilung, Symposien, Eucharistiefeiern, Hochzeits-Schmaus, Picknicks, Gastmähler oder Galadiners andererseits. Im Zusammenhang mit der Funktion der Nahrungsrituale in der Kultur sind also, wie ich darzulegen versuche, drei Momente in den Blick zu fassen. Da ist zunächst der Sündenfall als eine der mythischen Urszenen, aus denen die symbolisierende Funktion von Mahlzeiten in der Kultur hervorgeht: der Sündenfall im Paradies und seine Postfiguration (Heilung) turwissenschaft, Freiburg i.Br. 2000 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, hg.v. Gerhard Neumann und Günter Schnitzler, Bd. 78), S. 309-342, hier S. 333. 12 | Walter Burkert: »Glaube und Verhalten. Zeichengehalt und Wirkungsmacht von Opferritualen«, in: Jean Rudhardt/Olivier Reverdin (Hg.), Le sacrifice dans l’antiquité, Genève: Fondation Hardt 1981, S. 91-125, hier S. 93. 13 | Stephen Greenblatt: Shakespearean Negociations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford: Clarendon Press 1988; dt. Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin: Wagenbach 1990, vgl. dort: Einleitung: Die Zirkulation sozialer Energie, S. 7-24.

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durch das eucharistische Mahl am Gründonnerstag, aus dem die feudale und dann die bürgerliche, familiale Tischgesellschaft hervorgeht. Da ist sodann eine zweite Urszene: der archaische Ursprung der Kultur aus der Verteilung der Jagdbeute beim Mahl als Dankopfer – als der Weg vom Opferritus zum kulturellen Szenario des Gastmahls. Und da ist drittens das Gastmahl als ein Schlüsselritual für die Verständigung einer Kultur über sich selbst: über ihren Sinn, ihre Kommunikationsformen, ihre Leitwerte. Es ist die Instituierung des Geschmacks-Sinns als eigentliches Organ der Orientierung in der Kultur, ihrer Werte und ihrer Bedeutungspotentiale. So gesehen erweist sich das Gastmahl, die Tischgesellschaft, als Schaltstelle für die Konstruktion kultureller Ordnung, für das Aushandeln und die Etablierung kultureller Werte. Es sind die drei eben genannten kulturellen Befunde, Sündenfall, Opfermahlzeit und Geschmacksritual, vor deren Hintergrund ich den französischen Film Milou en mai/Komödie im Mai von Louis Malle und Jean-Claude Carrière aus dem Jahre 1989 ›lesen‹ möchte: als eine hochdifferenzierte Kulturdiagnose, die ihr Thema am Faden der Mahlzeiten entwickelt – seinerseits organisiert nach der im Film ›erzählten‹, ihn gewissermaßen strukturierenden ›Nahrungskette‹. Meine Analyse erfolgt anhand eines DVD-Videos der synchronisierten deutschen FilmFassung, eines Interviews mit Jean-Claude Carrière auf dem selben DVDVideo und eines französischen ›Szenarios‹ in Buchform, das in der Werkausgabe Louis Malles bei den Éditions Gallimard 1990 erschienen ist.14

II. Die Frage nach der Funktion des Gastmahls, als ein kulturelles Verständnis hervorbringendes Ritual, gewissermaßen als Produktion von »Nourritures imaginaires« (Alexandre Kostka) im Feld der Kultur, ist zugleich eine Frage nach den strukturbildenden Kräften der Gesellschaft – nach ihren ›Dispositiven‹, den Schaltstellen, aus denen ihr Sinn und ihre Werte emanieren. Durch die Beobachtung und Beschreibung der Symbolbildung durch Nahrungsvorgänge kann so zugleich die kulturwissenschaftliche Analyse der Physiognomie einer Gesellschaft gelingen: die Interpretation des Interaktionsfeldes zwischen Materialität (›Natur‹), Symbolizität (›Kultur‹) und Kommunikationsstruktur (›Signifikanz‹, soziale Zeichenbil14 | Michel Piccoli/Miou Miou. Ein Film von Louis Malle, Eine Komödie im Mai, in: Louis Malle Edition, DVD Programm im Vertrieb der ALIVE, Bestellnummer 6401504; Extra: Interview mit Drehbuchautor Jean-Claude Carrière; Louis Malle/Jean-Claude Carrière: Milou en Mai. Scénario, Paris: Éditions Gallimard 1990. Zitatbelege nach diesem Scénario unter der Chiffre S und Seitenzahl künftig im Text.

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178 | Gerhard Neumann dung). So gesehen sind die Nahrungsvorgänge eines der wesentlichen materialen Substrate allen kulturellen Geschehens. Sie dienen der Lebensfristung des individuellen und des sozialen Körpers und der Versorgung dieses Lebens mit kulturellem Sinn. Eines der privilegierten Medien für die Darstellung und Reflexion dieser kulturellen Zusammenhänge ist der Film; und zwar deshalb, weil er in seiner spezifischen Art der Repräsentation des Realen analoge mit digitalen Zeichen verknüpft und in ein Bewegungsfeld versetzt: also das Bild und das Wort in Handlungssequenzen miteinander verbindet. Damit simuliert er – vollkommener als die Literatur, die bildlos ist, oder die bildende Kunst, die unbewegt bleibt – die Konstruktion von Wirklichkeit (›Kultur‹) aus der dynamischen Vermittlung von materiellen und symbolischen, analogen und digitalen Medien. Louis Malles Film Milou en mai von 1989 ist ein hochelaboriertes Beispiel für eine solche Inszenierung des beschriebenen Kulturmusters der Gastmahlfunktion im kulturellen Feld. Der Film erzählt, in einem Feld paradigmatischer Situationen, nämlich den verschiedenen Mahlzeitentypen (Ritualisierungen), und im Verfolg einer syntagmatischen Kette, gebildet durch die Stationen der Beschaffung, Bearbeitung und Konsumierung der Nahrung, folgende Geschichte: In einem Landhaus in der Provinz, im Gers, stirbt eine alte Dame, Madame Vieuzac. Sie hatte dort mit ihrem gealterten Sohn Milou und einem Dienstmädchen, Adèle, auf einem Gutshaus mit umgebenden Weinbergen gelebt. Die Familie kommt nun, um das Erbe aufzuteilen: Milous Tochter Camille mit ihren Kindern Françoise und den Zwillingen; Milous Bruder Georges und seine englische Frau Lily; dessen Sohn Pierre-Alain; Milous Nichte Claire. Der Tod von Madame Vieuzac tritt in jenem historischen Augenblick ein, wo in Frankreich, im Mai 1968, in der Republik Charles de Gaulles, die Studentenunruhen und ein parallel geführter Arbeiterstreik zu einer Staatskrise führen: De Gaulle setzt sich für einige Tage nach BadenBaden, in den Schutz des Generals Massu, ab, die Anarchie droht. Diese großen historischen Ereignisse wirken von Ferne – durch das Radio und die Gerüchte – auf die Familiensituation ein. Es kommt, in der sich zusammenfindenden Gemeinschaft, zu einer spontanen Debatte über die Bildung einer utopischen Idylle, die sich in ein ländliches Picknick, dann in ein bacchantisches Fest verwandelt. Später bricht plötzlich die Angst ein, die Familie (samt einer Reihe hinzugekommener Außenstehender) flüchtet in eine prähistorische Höhle in den Hügeln des Waldes. Am nächsten Morgen bringt Adèle den Exilierten die Nachricht, daß de Gaulle zurückgekehrt und die Ordnung wieder hergestellt ist. Die alte Dame wird beerdigt, das Erbe verteilt. Milou bleibt mit der Erinnerung an seine Mutter allein. Aufs große Ganze gesehen handelt Louis Malles Film vom Ereignis des Todes in der Kultur und dem rituellen Umgang mit diesem Ereignis: sei-

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ner Situierung im Feld der Familiengenealogie und des politischen Umsturzes. Dabei benutzt der Film das Gastmahlritual in seinen mannigfaltigen Ausformungen, um die Aushandlung dieser Funktion des Todes in der Kultur durch die Betroffenen zu veranschaulichen. Dies geschieht durch die Formulierung eines doppelten ›nationalen‹ Kulturthemas: Frankreich als Kernland der Revolution und Frankreich als Kernland der Kochkunst – also als der Inbegriff politischer Kultur wie ästhetischer Lebensart. Man könnte so gesehen das, was der Film bietet, eine kritisch-nostalgische Kulturdiagnose im Spiel zwischen einem politischen und einem ästhetischen Mythos nennen. Der Film richtet den Blick auf eine kardinale soziale Krise der Moderne (im Mai 1968), die Studentenrevolte in Frankreich, und setzt sie im Sinne einer ›dichten Beschreibung‹ in Szene: also als Lektüre von übereinander geschichteten, einander ›reibenden‹ Text- und Argumentationsebenen.15 Zum einen geschieht dies durch die Öffnung des Blicks auf frühere politische (und damit soziale) Krisen der französischen Geschichte: die Revolution von 1789;16 den Aufstand der Kommune von 1871; andererseits aber durch eine nostalgische Distanznahme zu den Ereignissen von 1968 selbst, zu der sich Carrière in seinem Interview bekennt: Die beiden »alten Anarchos« Carrière und Malle, so berichtet er, hätten »als Semiologen« durch einen »Blick aus der Ferne« zurück und durch eine Kamera, die man »nicht merken soll«, die nostalgische Erinnerung an einen Augenblick in der französischen Geschichte geweckt, der das Ende jener feudalen Epoche der von ihrem Besitz lebenden Rentiers einerseits, und den (folgenlos gebliebenen) Aufstand der Studenten andererseits zugleich markiert: als einen doppelten Verlust von feudaler Ordnung auf der einen und revolutionärer, ästhetischer Anarchie auf der anderen Seite. Erzählt doch der 1989, also rund zwanzig Jahre nach den 68er Unruhen entstandene Film seine Geschichte seinerseits aus einer Krise heraus: aus der spezifischen Situation der 90er Jahre nämlich, die durch die Konstellation von Aggression, Sexualität und Nahrungsterror (Anorexie; Adipositas) und die zunehmende Erosion der die Kultur tragenden (konservierenden wie innovativen) Rituale, wie zum Beispiel das der Tischgesellschaft, bestimmt ist. Es ist in diesem Kontext kein Zufall, daß Peter Greenaways Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber im gleichen Jahr 1989 produziert wurde wie Malle/Carrières nostalgischer Rückblick auf 1968.17 15 | Den Begriff der ›dichten Beschreibung‹ beziehe ich aus Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 10. 16 | »GEORGES: […] les gens disaient la même chose en 89. Juste un mois devant la bastille.« (S. 42) 17 | Siehe dazu meine vergleichende Studie: »Filmische Darstellungen des Essens«, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans J. Teuteberg (Hg.), Kultur-

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180 | Gerhard Neumann Ich will diese selbst-reflexiven Strategien, mit denen der Film die historische Situation beleuchtet und die Louis Malle als Form einer dichten Beschreibung praktiziert, noch ein wenig genauer in den Blick fassen: Zum einen zitiert der Film die bürgerliche Revolution von 1789 als ein Konfliktmuster, das aus der Rousseauschen Antinomie von Natur und Kultur erwächst, und das noch immer im Spannungsfeld der modernen Familie präsent erscheint. Markiert ist dieser Zusammenhang durch den Hinweis auf die Marseillaise (S 74) und die Erinnerung an den Sturm auf die Bastille (S 42). Ein komplementäres musikalisches Signal ist das Gesangszitat aus Mozarts Revolutionsoper Die Hochzeit des Figaro, nämlich Cherubinos den Eros thematisierende Arietta Voi che sapete/Che cosa è amor (II, 2), die Camille zu Beginn des sich anbahnenden anarchischen Festes singt (S 115). In einer zweiten historischen Anspielung wird die feudale französische Kolonialwelt des toten, legendären Onkel Albert zitiert, und zwar, als Milou, zu Beginn des Festes, seiner Schwägerin Lily das Familienalbum mit den Fotos des Onkels (der gerade verstorbenen Mutter) zeigt: Dieser habe ein Zebra aus Afrika mitgebracht und als Zugtier dressiert, das einmal wöchentlich den Wagen umwarf; er habe zwei Mägde als ›Jagdhunde‹ dressiert, die ihm bei der Jagd auf Wasservögel schwimmend die Bekassinen ›apportierten‹; und er habe mit seinem »Harem« (S 117) und dem Zebra sonntags die Messe besucht. Onkel Albert hat im kulturellen System aus Ritualen der Familie, der Politik und des Todes die Stelle des Anarchisten, des Erfinders von Gegenritualen inne und dient namentlich Milou, der ihm ähnelt, als Legitimationsfigur. Wenn Milou seiner Schwägerin Lily das Familienalbum mit dem Anarchisten Onkel Albert zeigt, wird, wie in einem durch die Photographien geöffneten Fenster, das historische Thema des Kolonialismus im Spannungsfeld zwischen Naturidylle in der Provinz des Departement Gers und dem drohenden Staatsstreich in Paris sichtbar. Ein dritter Punkt sodann: Der Film spielt unüberhörbar auf die proletarische Revolution und ihre Grundlagen an: den Materialismus und Marxismus (S 41) einerseits, die sozialutopische Philosophie von Charles Fourier (1772-1837),18 der auf Marx und Engels gewirkt hat, andererseits: seine Aroma-Theorie und sein Konzept der ›phalanstères‹,19 einer Art von Landkommunen, von Wohn-, Lebens- und Produktionsgemeinschaften. Markantes Signal dieses Hintergrundmotivs des Kommunismus ist das sechsmalige Absingen der Internationale durch verschiedene Protagonisten thema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie-Verlag 1993 (= Kulturthema Essen, hg.v. Gerhard Neumann, Hans Jürgen Teuteberg und Alois Wierlacher, Bd. 1), S. 343-366. 18 | Charles Fourier: Traité de l’association domestique agricole, 2 Bde., Paris: Bossange 1822. Vgl. hierzu auch das Buch von Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. 19 | Gebildet aus den Begriffen ›Phalanx‹ und ›Monastère‹.

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des Films in gänzlich verschiedenem (oft unpolitischem) Kontext (S 18, 19, 60, 90, 93, 103). Schließlich aber zitiert Louis Malles Film die ästhetische Revolution um 1900 (die sogenannte Décadence und ihre impressionistische Variante)20 als eine Krise der Wahrnehmung, der Darstellung und der Erkenntnis im Gefolge von Nietzsches Sprachkrisentheorie. Auch diese Krise wird gleichsam musikalisch ›evoziert‹: durch Debussys Prélude 2,6 (»General Lavine – eccentric. Dans le style et le mouvement d’un cake walk«, 1910-1912). Ähnliche Bedeutung mag auch die Melodie »La fille du bédouin« aus der Operette »Le Comte Obligado« haben, die Georges während des Bacchanals anstimmt.21 Diesen vier historischen Mustern wird, wie schon angedeutet, aus der Perspektive des 1989 gedrehten Films, die neo-marxistische Revolution der Studenten von 1968 gegenübergestellt. Merkmal dieser Studentenrevolte ist die diffizile Verknüpfung zwischen politischer und sexueller Revolution. Pierre-Alain propagiert dieses Konzept: »La liberté sexuelle, ça n’empêche pas l’amour«, verkündet er, und »Chacun est maître de son corps« (S 98). Das Interesse des Films von Louis Malle richtet sich aber dabei, auf einer letzten Ebene, zugleich auf die Diagnose der ›modernsten‹ Kulturkrise der 90er Jahre, also der Entstehungszeit des Films: und zwar mit der Frage nach der Funktion von Revolutionen für die Gesellschaft überhaupt, von politischen, familialen und sexuellen Ordnungsstörungen, und nach dem Umgang mit diesen. Worum es in dieser historischen Situation geht, ist die Ummünzung des politischen Paradigmas in ein hedonistisches: eine Ummünzung des klassischen Emanzipationsmodells in ein neues Muster, das durch die Leitvorstellungen Luxus, Lebensqualität, Genuß und Ästhetik, also durch das ›Recht auf Glück‹, wie es die amerikanische Verfassung institutionalisiert hatte, bestimmt ist. (Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 erhebt Anspruch auf eine Garantie für »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«.) Hier hat das doppelte Paradigma von der Autonomisierung der Sexualität und der Autonomisierung des kulinarischen Genusses seine Wurzeln.

20 | Jean-Claude Carrière macht in seinem Interview darauf aufmerksam, daß die wichtigsten Protagonisten des Film um 1900 geboren seien. Ein Symbol dieser Zeit ist der von Milou verkaufte Corot, der das einzig wertvolle Stück der Wohnung der Mutter ausmachte (S 45). 21 | »Soudain Georges, le visage recouvert d’un grand masque nègre, et un pagne de paille attaché autour de la taille, fait irruption dans le salon en chantant à tue-tête l’air de La fille du Bédouin, extrait de l’opérette Le Comte Obligado, un pasodoble entraînant.« (S 116) Näheres über diese Operette und deren Komponisten Salabert (?) konnte ich nicht ermitteln. Aus dem Interview mit Charrière geht hervor, daß das Lied eine Rolle während der Studentenrevolte gespielt hat.

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182 | Gerhard Neumann Für den Bereich der Sexualität wird dieses Thema im Film deutlich ausgesprochen. So sagt etwa Georges: »Ce qui a toujours manqué aux grands réformateurs sociaux, c’est la pilule. Enlevez à l’amour sa nécessité génétique et vous n’aurez que le plaisir! Le plaisir pur! Sans arrière-pensée! Donc le bonheur!« (S 118)

Und Milou zitiert Voltaire: »J’ai décidé d’être heureux parce que c’est bon pour la santé.« (S 94)

Der große Inszenator und Legitimator dieses Paradigmawechsels – nämlich der Verwandlung von garantierter Lebensfristung in kulturelles Glück – ist der legendäre Onkel Albert, ein ›précurseur‹ (S 117) in der Mythologie der Familie Vieuzac, der sich von der einheimischen Natur, von der Religion, von den moralischen Zwängen und von der sexuellen Moral auf eigenwillige Weise emanzipiert hat. Worauf Louis Malles Film die Aufmerksamkeit richtet, ist das seit 1789 sich wandelnde Ordnungsmuster der Gesellschaft. Seit der französischen Revolution tritt – paradoxerweise – an die Stelle der Überlebensfunktion kultureller Praktiken die Erfindung einer Glückskultur, an die Stelle des Rechts aufs Überleben das neue Recht auf Glück. Die Eingriffe der Wissenschaft in die Materialität der Natur dienen nun nicht mehr der Bändigung des Hungers, sondern der Verfeinerung des Geschmacks und der Erschaffung einer Wohlstandskultur. Dieser Paradigmawechsel wird aus den beiden Kulturthemen der Sexualität und der Ernährung unmittelbar evident. Was er bewirken soll, ist die Entlastung der Sexualität von der Zeugungsfunktion einerseits – »die Pille ist der Fortschritt«, sagt Milou einmal (S 29); die Entlastung der Ernährung von der Überlebensfunktion andererseits – einen Rückfall bildet da die Flucht in die prähistorische Höhle. Es handelt sich also um die Verwandlung der Sexualität in Liebe, die Verwandlung von Ernährung in Bedeutung – und das heißt, beide Male, die Begründung von ›Geschmack‹ aus der Erfahrung von Differenz.

III. Louis Malles ganzer Film Milou en mai ruht von Anfang an einem einzigen Ereignis auf: dem Tod der Mutter, dem Ritual der Beerdigung, den Strategien der Verteilung des Besitzes an die Erben. Dieser Augenblick der Auflösung der Familiengenealogie wird aber überschattet von den Ereignissen der Auflösung der Ordnung des Staates, die durch die Studentenrevolution und die Arbeiterstreiks in Gang gebracht werden. Diese doppelte Ord-

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nungsauflösung am Beginn, die Zerstörung der Familienordnung durch den Tod des weiblichen Oberhaupts, die Zerstörung der Staatsordnung durch Aufruhr, Streik und Flucht des Staatsoberhaupts, führt in eine generelle Krise. Es werden nun – von der kleinen Communitas in dem abgelegenen Dorf – die verschiedensten Rituale aufgeboten, um diese Krise zu bewältigen und zu beenden: die kirchliche Beerdigung, die Testamentseröffnung, die verschiedenen Tischgesellschaften, die Anknüpfung von erotischen Beziehungen vor dem Hintergrund der durch die Revolution propagierten sexuellen Freizügigkeit. Am Schluß wird die gestörte Ordnung unter veränderten Bedingungen wieder hergestellt. Die Mutter, für die schon ein irreguläres Grab ausgehoben ist, wird nun doch noch nach kirchlichem Ritus begraben; die rituelle Parade vor dem zurückgekehrten General de Gaulle, über das Radio vermittelt, an der sogar der linke Katholik François Mauriac teilnimmt, feiert die Wiedereinsetzung der alten Staatsgewalt. Festzuhalten ist aber vor allem: Die Aushandlung der Familien- wie der Staatskrise, die Bewertung der kulturellen Situation, die Orientierung innerhalb der ausgebrochenen doppelten Krise und die Findung der Strategien ihrer Lösung ereignet sich im Film während dem guten Dutzend von Mahlzeiten-Situationen, die sich aneinanderreihen – also im Reden und Handeln der Tischgesellschaft, während gegessen wird. Die soziale und die familiale Ordnungsreflexion, die der Film anstellt, ist evident gemacht durch zwei parallel gesetzte Anfänge. Die erste Situation zeigt den Blick auf ein schwärmendes Bienenvolk und zwei Männer, Léonce und Milou, die versuchen, es zu domestizieren – es in einen neuen Stock hineinzutreiben. Die Aufmerksamkeit gilt der Unruhezone zwischen Ordnung und Chaos.22 Das Naturschauspiel symbolisiert das Ereignis einer staatlichen Ordnungsauflösung, des Schwärmens,23 und einer Wiederherstellung der gestörten Ordnung (unter einer neuen Königin) durch das Einströmen der Bienen in den bereitgestellten Stock – die Gründung eines neuen Staats. Der Bienenschwarm und seine Staatsbildung ist nach alter Auffassung die Figur einer menschlichen Communitas. Die Bienen erscheinen zwar einerseits als das durch die Natur und durch die Pflege des Menschen produzierte Nahrungsmedium, das Honig erzeugt; sie repräsentieren aber andererseits das mit der Produktion dieses Nahrungsmittels hervorgebrachte soziale Ordnungsmuster. Man denke an Vergils

22 | »LÉONCE: Elles sont nerveuses cette année. MILOU: Eh oui. C’est dans l’air.« (S 12) 23 | Zum Kulturthema des »Schwarms« vgl. Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Schwarm EMotion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007 (= Rombach Wissenschaften Reihe Scenae, Bd. 3).

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184 | Gerhard Neumann Georgica (die der Film zitiert)24 und seine Theorie der Kultur,25 aber auch an den bäuerlichen Bienensegen, den Léonce im Munde führt, und an Mandevilles Konzept der Bienenfabel, wo Bienenstaat und Menschenstaat, Naturvorgang und Kulturordnung sozialpolitisch aufeinander bezogen werden. Die Biene gibt das älteste Modell der Verwandlung von Natur in Kultur ab: in bezug auf die politische Ordnung (›die Biene als politischer Konstrukteur und Geometriker‹); in bezug auf die poetische Ordnung (›der Dichter als Biene‹);26 nicht zuletzt aber in bezug auf die Nahrungsordnung (›die Biene als Verwandler von Blütenstaub und Nektar in Honig‹). Die zweite Anfangssituation des Films, der Bienenszene parallel geschaltet, zeigt Madame Vieuzacs Tun in der Küche und ihren Tod, der während des Zwiebelschneidens – die erste Filmeinstellung dieser Szene zeigt ihr weinendes Gesicht – beim Anhören einer Rede des Generals de Gaulle im Radio eintritt. Die Mutter der Familie erscheint als das Leben spendende Prinzip, als die Mahlzeiten Zubereitende, als Repräsentantin einer matriarchalen Ordnung – »Elle a donc respecté l’ordre naturel de la succession«, sagt der Notar (S 61) –, die auf den Körper, seine Materialität (die Puppen auf dem Sofa, auf dem sie stirbt, und die schwarze Katze, die als anarchischer Figurant den ganzen Film durchquert), seine generative Kraft und seinen Tod verweist. (Man vergegenwärtige sich hier die der Korporalität zugeordneten Themenkomplexe, die den ganzen Film durchqueren: Nahrung und Nahrungsaufnahme, Verdauung (S 56, 129), Zeugung, Menstruation (S 17), Geburtenregelung, Orgasmus (S 107, 108), Wunde (S 57, 90), Tod (S 115). Dieses mütterliche Prinzip erscheint nun aber in abrupter Brechung und Konfrontation mit der männlichen Instanz der Familie wie des Staatswesen: mit der Stimme des abwesenden Vaters nämlich, repräsentiert durch die Stimme aus dem Radio, die eine Rede des Generals de Gaulle ankündigt. Von größter Bedeutung ist dabei aber, zwischen Familie und Staat angesiedelt, dann die dritte, vermittelnde, jedoch eigentlich die Ordnung gerade brechende Instanz, die, in der Gestalt des Anarchisten und Reformators Onkel Albert mit seinen kolonialen Anti-Ritualen durch den Film geistert. Kultursoziologisch gesehen ist Onkel Albert der Repräsentant eines 24 | »MILOU: His quidam signis atque haec exempla secuti esse apibus partem divinae mentis et haustus aetherios dixere … LÉONCE; Plus fort, Milou. Il faut qu’elles t’entendent.« (S 9) 25 | Kultur heißt hier noch buchstäblich Bearbeitung des Bodens, Bearbeitung der Natur. 26 | Vgl. Gerhard Neumann: »›ut apes geometriam‹. Zu Lichtenbergs Schöpfungstheorie und zur Geschichte des Topos-Begriffs«, in: Ortrud Gutjahr/ Wilhelm Kühlmann/Wolf Wucherpfennig (Hg.), Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag, Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 187-209.

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Avunkulats jenseits der matriarchalischen oder patriarchalischen Ordnung. (Lévi-Strauss hat den Onkel mütterlicherseits als den eigentlichen Sozialisator des Kindes bezeichnet. Der Onkel zeigt den Ausweg aus dem ödipalen Zwangsmuster der Kleinfamilie.) Die kulturelle Ordnung, als ein elaboriertes Zeichensystem, wird vom Film mit einem hohen Grad an ästhetischer Bewußtheit als ein System von ›Codes‹ präsentiert, die aus der ›Materialität‹ des Natürlichen die kulturelle Struktur heraustreiben: und zwar als ein Spiel von Paradigmen einerseits; als eine syntagmatische Kette andererseits. Die genannten Paradigmen dieses semiotischen Codes werden durch die verschiedenen Typen von Mahlzeiten gebildet, die als Dispositive des Geschehens und seiner Narration im Film fungieren. Demgegenüber wird der syntagmatische Zusammenhang durch dasjenige gebildet, was die Ernährungshistoriker die ›Nahrungskette‹ (chaîne alimentaire) genannt haben.

IV. Zunächst möchte ich einen Blick auf die paradigmatische Sequenz von Mahlzeiten werfen, die der Film enthält.27 Die erste Mahlzeit verzehrt Milou betrübt und appetitlos allein, angesichts des Todes der Mutter. Eine zweite Mahlzeit zeigt die Kinder Camilles in der Küche: Da wird eine Zwischenmahlzeit eingenommen, während Camille crème brûlé zubereitet – und probiert. Die dritte Tischgesellschaft wird dann durch die inzwischen eingetroffenen Familienmitglieder gebildet, die sich zu einem von Camille und Adèle zubereiteten pot-au-feu versammeln. Der Tisch wird wie zu einem Abendmahl bereitet: Adèle legt zwölf Gedecke auf (S 36). Diese Mahlzeit parallelisiert die ›Essensverteilung‹ mit ihren Riten des Speisenreichens, des Einschenkens, des Brotwerfens, des obligatorischen Sich-Bekleckerns (Milou) mit dem Disput über das ›Verteilen‹ des mütterlichen Nachlasses, die Erbmasse. Gleichzeitig entwickelt Georges, anhand seines eben beendeten Buches über den Gaullismus, wortreich die politische Theorie der älteren Generation, also der ›Väter‹, in bezug auf die aktuelle kulturelle Krise: also eine Theorie der Verteilung politischer Gewalt. Sein Buch soll den Titel La cassure (S 43) tragen, spielt also unmittelbar auf den Ordnungsbruch, als das Grundthema des Films, an. Inzwischen ist Georges’ Sohn Pierre-Alain eingetroffen – zusammen mit einem Lastwagenfahrer, Grimaldi, der ihn unterwegs mitgenommen hat und der eine Fracht Tomaten, »Liebesäpfel« (S 105), wie er erklärt,28 transportiert. Es kommt 27 | Eine Übersicht über die im Film stattfindenden Mahlzeitentypen gebe ich im Anhang 1. 28 | »GRIMALDI: Qui veut de la belle tomate gratis? De la belle pomme d’amour!« (S 109)

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186 | Gerhard Neumann zu einem improvisierten Krebsessen in der Küche, bei dem nun PierreAlain, der Vertreter der Studentengeneration, zur Erbitterung seines Vaters die Theorie der politischen und sexuellen Revolution verficht. Am nächsten Morgen inszeniert Pierre-Alain dann mit Marie-Laure, der Freundin Claires, in die er sich verliebt hat, eine Huldigungs-Mahlzeit unter dem Kirschbaum – indem er frische Früchte vom Baum pflückt und sie ihr überreicht – beinahe wie beim Urteil des Paris, oder beim Sündenfall im Paradies.29 Hieran schließt sich die Schlüsselmahlzeit des ganzen Films an: modelliert nach dem Bildmuster des ›déjeuner sur l’herbe‹ – eine Picknicksituation, dem streng rituellen dîner diametral entgegengesetzt. Man könnte dieses Picknick den Wendepunkt in der Ritualsequenz der Mahlzeiten nennen. Während zuvor im geregelten Verlauf der verschiedenen Tischgesellschaften die familialen (erbtechnischen) und politischen Positionen ermittelt und ausgehandelt werden, löst sich nun die rituelle Situation auf. An ihre Stelle tritt die Improvisation, das Imprévu, das Erfundene, also dasjenige, was man Gegenritual nennen könnte:30 Die Gesellschaft ist im Gras gelagert, es gibt keine geordnete Speisenfolge mehr, die Mahlzeit ist aus geschenkten und getauschten Lebensmitteln, zumal Tomaten, zusammengestellt,31 ein ›Joint‹ wird weitergereicht, man schlendert, das Glas in der Hand, durch die Landschaft. Hier entsteht (ganz im Sinne Fouriers) im Gespräch im Freien die Idee einer ernährungs- wie sozial- und sexualpolitischen Autonomie, der Entwurf einer gesellschaftlichen Utopie, die die natürliche Entfaltung der menschlichen Bedürfnisse und Leidenschaften zuläßt und als freie Wohn-, Lebens- und Produktionsgemeinschaft fungieren soll.32 Zuletzt wird die Devise »vive la révolution!« (S 111) ausgegeben – in die sogar das Kind, das Mädchen Françoise, dem Beispiel des Großvaters folgend, einstimmt. Man könnte dies im Film den Moment der Selbstauflösung des traditionellen, kulturellen Sinn stiftenden Mahlzeitenrituals nennen. 29 | Der Kirschbaum bildet ein geheimes, gewissermaßen arituelles Zentrum der Mahlzeitenkonstellation des Films. Milou (mindestens dreimal, für sich, für Lily, wieder für sich [S 13, 58, 106]), die Kinder, Adèle, Alain pflücken ›im Vorübergehen‹ eine Frucht. Das Motiv des Kirschbaums, als Paradiesesbaum, führt Schritt für Schritt auf die Picknick-Szene zu. Diese selbst spielt sich in seinem Schatten ab (S 106). 30 | Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt a.M./New York: Campus 1989 (= Theorie und Gesellschaft, hg.v. Axel Honneth, Hans Joas und Claus Offe, Bd. 10). 31 | Grimaldi hat eine Art Potlatch veranstaltet und die Tomatenladung an die Dorfbewohner teils verschenkt, teils gegen einheimische Lebensmittel getauscht. 32 | Konsequent wird hier das Pfingstfest, die ›Ausgießung des heiligen Geistes‹ erwähnt. »CAMILLE: Dans trois jours, c’est Pentecôte. MILOU: C’est vrai, on l’avait oublié!« (S 107)

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Von diesem Augenblick der ›cassure‹ an findet sich in dem Film keine Tischgesellschaft mehr zusammen. Mahlzeiten erscheinen nur noch in ›unordentlicher‹ Form, an der Grenze zur Anarchie, als Einspruch gegen das nicht mehr durchsetzbare Ritual. Dies gilt schon für das auf die Picknick-Szene folgende Fest, das, in der Sequenz der Mahlzeitenrituale, den Titel eines tentativen Bacchanals verdient.33 Dieses Fest beginnt harmlos mit einer Art Hausmusik, der von Camille gesungenen Mozart-Arietta. Dann bricht Georges in afrikanischer Maske und Bastschurz, den Erbstükken Onkel Alberts, in den Salon ein und stimmt das Lied La fille du bédouin an, das in einen Rundtanz übergeht, der, als eine Kette, eine »farandole africaine« (S 117), durch die ganze Wohnung führt und die Bahre mit der toten Mutter umkreist. Inzwischen hat Milou durch Adèle Champagner bringen lassen. Ein Gespräch zwischen Milou und Georges, den beiden Brüdern in der Vätergeneration, über die freie Liebe und die sexuelle Freizügigkeit kommt in Gang – worauf Claire, die Vertreterin der anarchischen jüngeren Generation (sie bringt eine lesbische Beziehung mit Marie-Laure, der Tänzerin, in die Familienszene ein), vorschlägt, die emanzipatorische Theorie in die Tat umzusetzen und sich auch gleich zu entkleiden beginnt. In diesem, was das familiale und politische Ordnungsgefüge angeht, besonders heiklen Augenblick dringt von außen die Angst in die Szene ein. Das Fabrikbesitzer-Ehepaar aus der Nachbarschaft, Boutelleau, begehrt Einlaß. Ihre Fabrik wird bestreikt, sie befürchten den Ausbruch von Anarchie und überreden die kleine Familien-Communitas zur Flucht ins Gebirge. Noch einmal flackert das Nahrungsthema auf: »Vous avez diné, au moins?« (S 125) fragt Milou besorgt, und Madame Boutelleau muß verneinen – aber sie habe immerhin eine Hammelkeule für unterwegs mitgebracht. Die Karawane macht sich, angeführt von einem Esel, auf den Weg. Auf halber Höhe in der Wildnis wird die Keule verzehrt, Schinken gegessen, ein Stück Schokolade heimlich zugesteckt. Und Milou erkundigt sich besorgt bei Camille, ob sie auch das Salz nicht vergessen habe (S 127). Als Waldarbeiter auftauchen, werden sie irrtümlich für Bewaffnete gehalten, die Communitas flüchtet hastig weiter bis in eine prähistorische Höhle, in der, während des Krieges, die Résistance gehaust hatte. Hier gibt es keine Nahrung mehr. Aus der Situation gänzlichen Mangels heraus erzählt Madame Boutelleau die Anekdote von ihrem Großvater, einem Marineoffizier, der auf hoher See, in Hungersnot, einen Verwundeten gegessen habe. Grimaldi fragt: »Et il a trouvé ça bon?«, worauf Madame Boutelleau antwortet: »Non … Mais il faut dire qu’il l’a mangée crue.« (S 133) Es ist der Status der prähistorischen Gesellschaft, einer Kultur ohne Feuer, der hier zum

33 | In Parallelführung behauptet Pierre-Alain über die Revolutionssituation in Paris: »C’est comme une grande fête …« (S 81).

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188 | Gerhard Neumann Vorschein kommt.34 In der Höhle bricht Anarchie aus, die Frauen fallen im Streit um das Erbe übereinander her. Milou und Lily haben sich unbemerkt von der Gruppe entfernt. Ihre Reaktion auf den gänzlichen Ordnungsverlust ist nicht Gewalt, sondern Sublimation. Da es kein Nahrungsritual mehr gibt, erfindet Milou ein Geruchsritual.35 Von einem Felsen blicken die beiden hinab auf das Haus mit der toten Mutter. Woran er denke, fragt Lily Milou. »Je pense à maman«, sagt er, »toute seule là-bas … A vous, à moi, à la maison … A tout ça … Vous sentez? Le chèvrefeuille …« (S 142). Wo keine Nahrung ist, ist es der Geruch, der, evoziert, Erinnerung weckt, Selbsterfahrung und Selbstdeutung ermöglicht: das Aroma des Geißblatts. Hier, in dieser ›Erfindung‹ Milous, zitiert der Film zugleich ein altes Motiv: das berühmte Lai (eine Art Versnovelle) der Marie de France aus dem 12. Jahrhundert, in dem sich die erste Fassung des Tristan-und-Isolde-Stoffes in der Literatur findet; in dem Haselrute und Geißblattwinde als Erkennungszeichen im Liebesritual eine Rolle spielen.36 In diesem Augenblick gänzlichen Zerbrechens aller sozialen Ordnung – vor dem Hintergrund des Hungers – trifft die Nachricht von der Rückkehr de Gaulles in sein Staatsamt ein. Man begibt sich wieder hinunter zum mütterlichen Haus. Das gegen alle Ordnung geöffnete Grab wird geschlossen. Die Mutter wird nach kirchlichem Ritus beerdigt. Die Beziehungen, die sich irregulär geknüpft haben, lösen sich auf. Die Familie verabschiedet sich vor dem Haus. Milou bleibt allein zurück. Für das Verständnis der Sequenz der Nahrungsrituale und ihrer Transformation ist von Belang, daß sie sich auf drei verschiedenen Terrains, in drei verschiedenen Räumen zwischen Kultur und Natur abspielen: erstens im Bereich des Hauses, der domestizierten Natur; zweitens im Freien der Natur; drittens in einem Grenzbezirk der ›Wildnis‹ fortgesetzter Überschreitungen von rituellen Setzungen. Innerhalb des Hauses wird – rund um die aufgebahrte Nahrungsspenderin – eine Folge von Mahlzeiten eingenommen, das Frühstück, der Küchensnack, das Mittagessen, das Abendessen. Aber im Haus erfolgt auch der Umschlag der ›Hausmusik‹ in das karnevalisierte Bacchanal und Maskenspiel. Im Freien der Gartenlandschaft und in der offenen Landschaft ereignen sich dann folgende Mahlzeiten: Pierre-Alains und Marie-Laures Kirschenessen als Nachspielen des biblischen Modells des Sündenfalls – in das zuletzt auch Claire, als Dritte 34 | Claude Lévi-Strauss: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. 35 | Hier hat vermutlich Prousts Madeleine-Episode Pate gestanden. 36 | »Le Lai du Chievrefoil«, in: Lais de Marie de France, présentés, traduits et annotés par Alexandre Micha, Paris 1994, S. 274-281. Die Novelle erzählt von dem Erkennungszeichen, das Tristan und die Königin tauschen, eine Haselrute, die von einem Geißblattzweig umwunden wird: Das eine kann ohne das andere nicht leben.

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im Zweierspiel, eingreift;37 ferner das Picknick, in dessen Verlauf sich die Utopie einer paradiesisch-autonomen Nahrungslandschaft entwickelt; schließlich die Situation in der prähistorischen Höhle, die die gänzliche Abwesenheit jeder Tischgesellschaft zu Bewußtsein bringt und ein anarchisches Szenario im Zeichen von Nahrungsmangel, Hunger, Überlebenskunst, Anthropophagie und sexueller Rivalität vor Augen stellt. Von besonderer Bedeutung für das Nahrungsthema im Film sind aber dann die mit diesen zusammenhängenden Überschreitungsereignisse.38 Sie markieren kritische Grenzpunkte der sozialen Sinn-Produktion am Rande des paradigmatischen Feldes, der Ritualisierung und Deritualisierung zwischen Natur und Kultur. Dazu gehören im Film unter anderem: der Krebsfang als die Umkehrung des kulturellen Nahrungsmusters – denn hier wird der Mensch zum Köder für das Tier;39 die Anthropophagie als Grenzwert im kulturellen Nahrungsfeld; die Droge, Haschisch und Alkohol, als Nahrung; das Medikament als Nahrung, die Nahrung als Medikament – das Laxativ im Fall Georges einerseits, der Senf, mit dem Milou die ohnmächtige Adèle wiedererweckt, andererseits; die Weinprobe (Degustation) als Inszenierung von Geschmack ohne Materie, als In-Szene-Setzung von ›essentieller Bedeutung‹; zuletzt der Geruch, der Erinnerung weckt.

V. In einem zweiten Schritt möchte ich nun noch einige Beobachtungen zum syntagmatischen Aspekt im Code des Films hinzufügen. Ich habe diesen syntagmatischen Aspekt mit der Nahrungskette in Zusammenhang gebracht, die das Geschehen, die familialen und historischen Aussagen des Films narrativ organisiert, gleichsam deren ›roten Faden‹ bildet. Diese Nahrungskette ist in Louis Malles Film mit wünschenswerter Vollständigkeit realisiert. Ich habe die fünfzehn Stationen, die sich auf diesem Weg der Nahrung durch die Kultur isolieren lassen, im Anhang 2 unter dem Titel ›Nahrungskette und Erzählstruktur‹ wiedergegeben: von der Beschaffung der Nahrung über ihren Transport, ihre Konservierung, ihre Bearbei37 | CLAIRE: Je vous dérange? PIERRE-ALAIN: Non. Pourquoi? CLAIRE: Je dérange souvent. (S 99) 38 | Diesen Begriff beziehe ich von Michel Foucault, der ihn in seiner »hommage à Georges Bataille« entwickelt. Michel Foucault: »Préface à la transgression«, in: Dits et écrits 1954-1988, Bd. I: 1954-1969, Édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald, Paris 1964: Éditions Gallimard, S. 233-250. 39 | Milou hält die bloßen Hände in die Krebsverstecke unter Wasser. »Ça va marcher?«, fragt Françoise. Und Milou antwortet: »Oui, oui, elles adorent ça. Elles sont folles de chair humaine.« (S 50)

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190 | Gerhard Neumann tung, Verteilung und Verzehr bei Tisch bis zu deren Verdauung, Ausscheidung und Entsorgung. Im einzelnen möchte ich hier nur auf vier Schlüsselstellen, auf vier Gelenkstellen hinweisen, aus denen das repräsentierte Kulturmuster des Erzählens am Faden der Nahrung und sein prozessualer Ablauf besonders deutlich hervortritt. Da sind zunächst die Positionen der Beschaffung, der Verteilung und der Zubereitung von Nahrung. Hier erscheint im Hintergrund der archaische Vorgang der Jagd, ihre Umsetzung in die Verteilung der Beute (durch die Moiren) im Hinblick auf die kultische Opfermahlzeit. Es ist ein Vorgang, der, kulturgeschichtlich gesehen, gleichermaßen zur »cuisine du sacrifice« wie zur »cuisine de tous les jours« führt.40 Studien von Baudy und Burkert haben auf die Entstehung der Schicksalssemantik einer Gesellschaft aus der Verteilung der Jagdbeute und das daraus entstehende Tieropfer hingewiesen. Von Anfang an ist der Film Louis Malles in dreifacher Weise auf ›Verteilung‹, »le partage« (S 45), ausgerichtet: Verteilung des Essens – Verteilung des Besitzes – Verteilung der politischen Macht. Da ist des weiteren die Position des Verzehrs der Nahrung. Es handelt sich um die Gestaltung des Diners als Bühne kultureller Selbstvergewisserung. Das Gespräch der Tischgesellschaft läßt im Hintergrund das Modell des platonischen Gastmahls aufscheinen, einer Tischgesellschaft, bei der es, im gegebenen Fall von Malles Film, um die Philosophie der Aufklärung, um Tod, genealogische Folge, Eros und Politik geht; mithin aber um die ›Vergeistigung‹ des Materialen, die sich im Ritual der Mahlzeit ereignet; sich zur Kulturdiagnose verdichtet. Es ist der Genuß, das Schmecken der Nahrung, das sich in Geschmack, in Differenzierungswissen, in Ordnungs-Rede und Ordnungs-Kritik verwandelt. Ein drittes Moment im Progreß der Nahrungskette betrifft die Positionen der Verteilung und des Verzehrs. In ihnen geht es um die sozialen Realisierungs-Strategien des Schenkens, des Tauschens und des Vergeudens;41 ein Modell der Reflexion und Veränderung von sozialen Kommunikationsstrukturen, das in der kostenlosen Verteilung der Tomaten aus dem Transporter, im ›déjeuner sur l’herbe‹ mit eingetauschten Nahrungsmitteln, im Verzehr der in der Natur gesammelten Beute (der Krebse) zur Erscheinung kommt. Ein vierter Aspekt richtet sich schließlich auf dasjenige, was mit der Position Degustation gemeint ist. Es handelt sich beispielsweise um die 40 | Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant: La cuisine de sacrifice en pays grec, Paris: Éditions Gallimard 1979. 41 | Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968. Vgl. ferner den vorzüglichen Katalog: Il Dono. Offerta, ospitalità, insidia. The Gift. Generous Offerings, Threatening, Hospitality, a cura di Gianfranco Maraniello, Sergio Risaliti, Antonio Somaini, Milano 2001.

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Weinprobe, wie sie Milou zusammen mit Lily im Keller vornimmt, eine Geschmacksprobe, die den Augenblick symbolischer Essentialisierung des Eßakts markiert: als Stiftung sozialer Bedeutung durch die Etablierung der Geschmacksbildung und ihrer erotischen Valenz. Schmecken tritt an die Stelle von Verzehren, Unterscheiden an die Stelle von Verschlingen. Der französische Begriff der ›dégustation‹ – im Sinne von ›dem Materialen Geschmack abgewinnen‹, im Sinne von ›Werte und Bedeutungen setzen‹ – bezeichnet den Sachverhalt sehr genau: die Transformation von Materialität in Symbolizität; ein Minimum an Materie, das durch ein Maximum an ästhetischem Wert kompensiert wird. Die Nahrungskette – und ihre kulturelle Organisierung – bildet also jenes Strukturmuster, aus dem heraus die menschliche Geschichte der Lebensfristung, der Stillung des Hungers, umschlägt in das Erzählen einer Geschichte der Kultur und einer Verständigung der Angehörigen der Kultur über diese. Der Prozeß der Kultur, der über Jahrtausende sich entwikkelt, spiegelt sich so, in einer Art Mise en abîme, auch in jedem historischen Augenblick, realisiert sich durch Wiederholung je von neuem. Als Fazit der hier angestellten Überlegungen sei festgehalten: Durch die Verknüpfung von paradigmatischem und syntagmatischem Aspekt des Essen-Phänomens, von Mahlzeitentypologie und Nahrungskette wird allererst die Narration des kulturellen Geschehens ermöglicht und seine Symbolizität in Szene gesetzt. Man könnte auch sagen: Es wird Kultur konstruiert und diagnostiziert. Orientiert an der Nahrungskette, als dem materialen Substrat der Nahrungsvorgänge, werden (im zur Rede stehenden Film Louis Malles), gewissermaßen auf der Bühne der Mahlzeitenrituale, die vier für die Gesellschaft und ihre Identitäts-, Bedeutungs-, Wert- und Kommunikationsmuster zentralen Themen durchgespielt: zunächst das familiale Muster, das durch den Tod der Mutter, als Ernährerin der Familie, aufgerufen ist und im Leichenschmaus, wenn man so sagen darf, diskutiert und ausgehandelt wird; das politische Muster sodann, das im Hintergrund des familialen aufscheint, als Ereignis einer Staatskrise und damit einer Krise der Übervater-Figur des Generals de Gaulle, des Staatsoberhaupts; das erotische Muster des weiteren, das durch die Infragestellung des politischen aufgerufen wird und sexuelle Freizügigkeit ins Blick- und Spielfeld rückt;42 das soziale und sozialutopische Muster zuletzt, das mögliche Gesellschafts- und Kulturreformen ins Spiel bringt und die Grenzen zwischen Ordnung und Anarchie, zwischen Ökonomie und freier Tauschstruktur auslotet. 42 | Dieses komplexe Muster sei nur durch folgende Stichworte, die auf Szenen des Films hinweisen, angedeutet: Maskenfest, Augenspiel, Beziehung zwischen altem Mann und kleinem Mädchen, sexuelle Revolution, freie Liebe durch Geburtenkontrolle, koloniale Ausbeutung der Frau, lesbische Beziehung, Fesselsex, Striptease, Ehebruch, Tristanliebe, Beziehung zwischen Feudalherr und Bediensteter …

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VI. Abschließend möchte ich einige Überlegungen zum Verhältnis von Essensthematik und künstlerischem Medium Film anstellen. Die Grundthese meiner Argumentation lautet, daß die Konstruktion von Kultur durch die ›Bearbeitung‹ des Materialen (hier der Materialität des Eßvorgangs) im Akt der sozialen Bedeutungsstiftung erfolgt. Sartre hat, wie schon erwähnt, diesen Sachverhalt mit seinem berühmten Satz zum Ausdruck gebracht: »Jede Nahrung ist ein Symbol«.43 In diesem Feld semiotischer Vergegenwärtigung nimmt das Kulturthema Essen, neben dem Kulturthema der Sexualität, eine besondere und ausgezeichnete Stelle ein: Eßvorgänge, die zugleich materiale Akte und Ereignisse von Sinn-Konstruktion sind, fordern zu ihrer Repräsentation, zu ihrer angemessenen ›Mimesis‹ des Realen dreierlei: nämlich visuelle und sprachliche Vergegenwärtigung, als Feld von Bewegungen ins Spiel gebracht. Eßvorgänge fordern zu ihrer Darstellbarkeit die dynamische In-Szene-Setzung von Materialität und Begrifflichkeit, von objektivem Ereignis und Bedeutungskonstruktion, von Körperzeichen und Sprachzeichen zugleich. Nur so kann das Repräsentationsgeschehen den Index von Authentizität erlangen: sich als dargestellte Kultur zu erkennen geben. Eines der besonders geeigneten künstlerischen Medien zur Erzielung solcher Repräsentationsqualität scheint mir nun aber der Film zu sein. Da der Film auf dynamische Weise das digitale und das analoge Zeichensystem als Medien der Vergegenwärtigung kultureller Prozesse und Tatbestände nutzen kann, erweist er sich als das einschlägige Darstellungsparadigma für eine Vermittlung von Materialität und Symbolizität. Er simuliert auf ideale Weise die Konstruktion von Wirklichkeit aus dem bewegten Wechselspiel von Bild und Wort, Körper und Sprache. Dabei springen – in Louis Malles Film – mindestens vier Strategien filmischer Arbeit ins Auge, durch die eine solche dynamische Konstruktion des Realen zwischen Bild und Wort ins Werk gesetzt wird. Das erste ist wohl die Schnittechnik, über die der Film in weit präziserem Maße als alle anderen Kommunikationsmedien verfügt. Ein Beispiel: Louis Malles Film zeigt den Kleinunternehmer Grimaldi und den Studenten Pierre-Alain im Führerhaus des Lastwagens mit seiner Fracht spanischer Tomaten. Grimaldi berichtet über seine erotischen Abenteuer mit weiblichen Anhalterinnen, so mit einer Mutter und deren Tochter, die ihm Anträge gemacht hätten. Im Augenblick, wo er in bezug auf diese heikle Situation den Satz beginnt: »Da sagte die Mutter …« blendet der Film hinüber in das Landhaus der Familie Vieuzac, wo die Stimme des Generals 43 | Gerhard Neumann: »Jede Nahrung ist ein Symbol. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens«, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans J. Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen, a.a.O., S. 385-444.

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de Gaulle, den begonnenen Satz Grimaldis fortsetzend, aus dem Radio tönt: »Ich habe beschlossen …«.44 In einem Schnitt sieht man aber Milou und Lily auf dem Sofa in die Betrachtung des Photoalbums der Familie vertieft; und zwar in einem Gespräch über den Reformator und Anarchisten Onkel Albert und sein Zebra. Diese Szene familialer Repräsentanz wiederum ist eingebettet in die im Film gezeigten Tischgesellschaften und die Verteilung der Besitzbestände (namentlich des Eßgeschirrs) auf verschiedene Stapel, mit der Camille, Claire und Adèle beschäftigt sind. Hier werden also, durch die Schnittechnik des Films, in der rituellen Situation der Verteilung des Besitzes (als der Grundsituation aller sozialen Ordnungsstiftung, wie sie der Film vorstellt) vier Themen übereinandergeschichtet: das Thema des Essens und das der Erotik; das Thema der Familie und ihrer Genealogie und schließlich das der Politik und ihrer Krise. Das filmische Medium vermag so die Interferenzen zwischen materialer Basis und sozialer Bedeutungsstiftung in dichter Beschreibung, in ›dichter Vergegenwärtigung‹ zur Anschauung zu bringen. Man könnte auch anders sagen: Indem der Film das Transportmedium – den Kühlwagen mit den beiden redenden Männern – in den Blick rückt und in den Familien- und Politikdiskurs einmünden läßt, inszeniert er die Interferenzen zwischen »Nourriture réelle« (der Zirkulation der Nahrung in der Nahrungskette) und »Nourriture imaginaire« (der Zirkulation von sozialen Zeichen, von sozialer Energie im familialen, politischen und erotischen Feld der Kultur und ihrer Rituale). Lebensfristung wird zu Lebenswissen und Lebensgestaltung. Ein zweites Verfahren, das der Film auf triftige Weise zu nutzen vermag, ist das der Überblendung: der Erzeugung der Illusion von Gleichzeitigkeit. Ein besonders instruktives Beispiel ist der rituelle Augenblick der Testamentseröffnung im Film, die ja, wie alle Ereignisse, in Gegenwart der Toten erfolgt und von Eßritualen umrahmt wird (S 60ff.). Zur Überraschung aller wird in einer Nachtragsklausel des Testaments Adèle, der Haushälterin, ein Viertel der Erbmasse zugesprochen. Die kleine Françoise läuft nach draußen, um Adèle, die von einer Leiter aus Kirschen pflückt, die frohe Botschaft mitzuteilen. Adèle stürzt vor Schreck von der Leiter und bleibt ohnmächtig liegen. Während sich alle, die zugegen sind, um sie bemühen, kommt Madame Abel zum Kondolenzbesuch und beginnt im Angesicht der Toten zu beten und sie mit einem Buchsbaumzweig mit Weihwasser zu besprengen – ein weiteres, diesmal kirchliches Ritual. Adèle wird währenddessen hereingetragen und behandelt, erst durch kleine Bakkenstreiche, dann durch ein Glas Senf, das Milou ihr unter die Nase hält. Gleichzeitig jagen einander die beiden Zwillinge durch das Zimmer. Camille telefoniert mit ihrem Mann, um ihm die neue Aufteilung der Erb44 | Im Szenario nicht in gleicher Schärfe indiziert wie im Film dann realisiert (S 71).

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194 | Gerhard Neumann schaft mitzuteilen. Aus dem Radio, an dessen Lautsprecher Georges lauscht, dringt Demonstrationslärm in die Szene. Lily ist damit beschäftigt, einen Dry Martini zu mixen und ihn Madame Abel zu präsentieren, die sich daran verschluckt. In diesem kulminierenden Augenblick wird die vielfach durch Handlungssequenzen und Diskursformationen überschichtete Szene geschnitten; das Bild springt auf den über die Landstraße sich nähernden Lastwagen mit seiner Tomatenladung über. Ein drittes Darstellungsverfahren, das der Film souverän nutzt, ist das der äußerst behutsam gleitenden, fast unmerklichen Perspektivenschwenkung.45 Es fällt lange Zeit kaum auf, daß der Film im Grunde gar nicht aus der Perspektive der Haupt- und Titelfigur, Milous nämlich, erzählt wird, sondern vielmehr aus derjenigen der Kinder, namentlich aber der aufgeweckten und neugierigen Françoise. Dabei entspinnt sich schon am Beginn des Films ein merkwürdig gebrochenes Perspektivenspiel zwischen Großvater Milou und Enkelin Françoise: dem Großvater, der dem Mädchen die Fragen des Lebens »zeigt«, aber diese nicht beantwortet; dem Mädchen, das die Entdeckerperspektive neugierigen Wahrnehmens innehat, die Ordnungsmuster, Rituale und Redeformen der Erwachsenen aber nur ›wie eine Fremde aus einer anderen Welt‹ beobachtet. Was hier in Szene gesetzt wird, könnte man die Perspektive des ›Ethnologen der eigenen Kultur‹ nennen, der zwischen distanzierender Beobachtung und beobachtender Teilnahme mitten inne steht, das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen entdeckend, ohne es wahrhaft vermitteln zu können. Der Film simuliert, indem er sich den kindlichen Blick zu eigen macht, gewissermaßen das fremd machende Auge, das etwas ›wie zum ersten Mal‹ wahrnimmt. Louis Malles Film Milou en mai konstruiert diesen fremden Blick besonders kunstvoll, indem er den Kinderblick immer dort implantiert, wo es um die unverständlichen Rituale geht, die die Erwachsenen praktizieren; einen Kinderblick, der in Komplizenschaft mit einem ›kindlichen‹ Erwachsenen,46 dem Muttersohn Milou, seine Erkundungen macht – ein Blick, der während des Essens ›arbeitet‹ und in den meisten Fällen auch aus dem Eßakt heraus entspringt.47 »Françoise les observe en mangeant sa soupe« (S 27), heißt es da im Libretto. Und ein andermal: »Les en45 | Im Interview erklärt Jean-Claude Carrière, es sei Louis Malle beim Drehen des Films als Wichtigstes am Herzen gelegen, daß man ›die Kamera nicht merken solle‹. 46 | »On ne me privera de mon enfance« (S 48), sagt Milou doppelsinnig, als es um den Verkauf des Hauses geht. 47 | Es sind gut fünfzehn Stellen in dem Film, an denen Françoise solche Blikke wirft, Fragen stellt und von ihrer Mutter keine, von Milou oft nur zögernde Antworten erhält. Ein Beispiel: »Camille embrasse son père et sort. Françoise se penche vers Milou, qui somnole. FRANÇOISE: Papie … MILOU: Oui? FRANÇOISE: C’est quoi, la pilule? MILOU: C’est le progrès.« (S 28f.)

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fants mangent et écoutent« (S 40). Das Kind ›verschlingt mit den Augen‹, was seine Neugier weckt und was es zu verstehen sucht. Genau diese Wahrnehmungsfigur ist es, die Louis Malle in seinem Film installiert. Dieses spezifische Installieren der Beobachterperspektive in den Film betrifft in erster Linie Françoise, aber auch die beiden Zwillinge, die während des Bacchanals fassungslos vom oberen Treppenansatz die Farandole der maskierten und mit Zebrafell drapierten Erwachsenen beobachten, die die tote Großmutter umtanzen (S 117). Eine vierte und letzte Strategie filmischer Darstellung in Louis Malles Film ist die Etablierung einer Physiognomik, oder besser gesagt einer Pathognomik, die Körperbild und Sprechakt in ihren dynamischen Interferenzen wahrzunehmen, darzustellen und kulturell zu deuten versucht: die Sprache der Körper in ihrer Modellierung durch die Rede zu lesen unternimmt. Hier geht es um die Bewegungen, die den Film, parallel zu den Eßakten und Mahlzeitenritualen durchqueren: von der Studenten›bewegung‹ über die Ballett-Exercises von Marie-Laure und die Farandole im Bacchanal bis hin zum Tanz Milous mit der Gestalt seiner Mutter, mit dem der Film schließt.48 Man könnte sagen, daß es drei bald nebeneinander verlaufende, bald einander überkreuzende oder sich ineinander verwindende Dynamiken sind, die den Film durchwirken: eine Dynamik nach innen, die Einverleibung der Nahrung durch den Eßakt; eine Dynamik nach außen, die Bewegung des Körpers durch den Raum in Tanzfiguren und Aufmärschen, Schlendergang und Karawane; und zuletzt die doppelte Bewegung der Medien, Radio, Telephon und Murmeln der Gerüchte, die einerseits aus der Ferne herandringen, andererseits aber jene »schwierige Annäherung an die Realität«49 in Szene setzen, um die sich die Protagonisten des Films vergeblich bemühen.

48 | Eine Darstellung dieses zweiten Kulturthemas der ›Bewegung‹ in Louis Malles Film, der Sequenz von Bewegungsritualen, die den Essenritualen entgegen und zur Seite gestellt sind, hat Gabriele Brandstetter gegeben. Eine gemeinsame Abhandlung über diesen Zusammenhang soll demnächst publiziert werden. 49 | So Jean-Claude Carrière in seinem Interview zu dem Film Milou en mai.

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196 | Gerhard Neumann

Anhänge Anhang 1: Mahlzeitentypen Mittagessen

pot-au-feu, rustikal, für 12 gedeckt

Abendessen

Krebsessen (Delikatesse oder Domestikenspeise), platonisches Gastmahl; Symposion, Bacchanal

Zwischenmahlzeiten

Françoise: Kuchen, Zwieback und Marmelade; Camille: Abschmecken in der Küche

Picknick

unter dem Kirschbaum: gesammelte, geschenkte, getauschte, gekaufte Speisen; unterwegs und in der Höhle: Hammelkeule, Schokolade, Fallenstellen, Menschenfleisch

Degustation

Weinprobe im Keller: Schmecken statt Verzehren, Geruch und Trunkenheit

Geruch

Geißblatt: Duft und Erinnerung

Jagd als pervertierte Mahlzeit

Der Mensch als Köder für Krebse

Einnahme von Drogen

Haschisch, »Joint«

Einnahme von Medikamenten

Senf, Laxativ

Anhang 2: Nahrungskette und Erzählstruktur 1.

Beschaffung: Sammeln/ Jagd

Eier/Honig/Nüsse Fabrikbesitzer: Jäger/Milou: Sammler

2.

Produktion

Picknick: Gespräch in der ›Landkommune‹ über die Produktionsbedingungen von Wein/ Schafskäse/Gemüse/Fleisch

3.

Auswahl

Picknick: Gespräch über Diät/Vegetarianismus/Drogen/Anthropophagie

4.

Veredelung

Bienenhonig/franz. und span. Tomaten/ »Joint« – ›je fume français‹

5.

Eingriff, ›Konditionierung‹, Manipulation

Pflanzung der Reben/Domestizierung des Bienenvolks/Umweltverschmutzung

6.

Transport

Lastwagen mit Kühlaggregat

7.

Konservierung: Kühlen, Erhitzen

Obstverarbeitung (Marmelade); Kühlaggregat

8.

Verteilung: Schenkung/ Vergeudung (Potlatch)/ Tausch/Kauf

Distribution der Tomaten/ die ›phalanstère‹ – Phantasie (Charles Fourier)

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9.

Zubereitung: ›Küche‹/ ›Opfer‹

10. Tischdekoration: Arrangement

Küche – Messe (Eucharistie) – Anthropophagie Verteilung der Teller/Decken des Tisches/ Tischmanieren: Bekleckern, Brotwerfen

11. Servieren: Vorlegen Zwölfzahl bei Tisch, welche Teller der Speisen/Präsentation (die der Tante) des Opfers (Verkauf des Hauses Milous) [service à la russe, à l’anglaise, à la française] 12. Verzehr: Ritualisierung als antikes Gastmahl, jüdisches Pessachmahl, Eucharistiemahl, feudalistisches oder bürgerliches Diner

Familientisch: seine Erweiterung zum Symposion, Bacchanal, ›Abendmahl‹, Diner

13. dégustation: Geruch, Essenzialisierung, ›Geschmack‹, Erotik, kulturelle Bedeutung

Weinprobe im Keller: Lily und Milou; Geißblatt-Geruch

14. Düngung/Entsorgung

Grundwasservergiftung/Insektenspray/ Kompost

15. Verdauung und Ausscheidung

Georges/die Zwillinge

Literatur Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Les éditions de minuit 1979; dt. Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/Eikels, Kai van (Hg.): Schwarm EMotion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007 (= Rombach Wissenschaften Reihe Scenae, Bd. 3). Burkert, Walter: »Glaube und Verhalten. Zeichengehalt und Wirkungsmacht von Opferritualen«, in: Jean Rudhardt/Olivier Reverdin (Hg.), Le sacrifice dans l’antiquité, Genève: Fondation Hardt 1981, S. 91-125. Burkert, Walter: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin: Wagenbach 1990. Detienne, Marcel/Vernant, Jean-Pierre: La cuisine de sacrifice en pays grec, Paris: Éditions Gallimard 1979.

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Louis Malle/Jean-Claude Carrière: »Milou en mai« | 199

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Essen und Atmosphäre. Zur Atmosphäre der klassischen Kyoto-Gastronomie als Beispiel für Slow Food Tadashi Ogawa

Weil ich im Folgenden das Kyoto Restaurant (Ryotei) nur als besonderes Beispiel thematisiere, werde ich einige methodische Überlegungen vorausschicken, um dem möglichen Missverständnis seines Stellenwertes vorzubeugen.1 Jeder Mensch wohnt irgendwo auf der Erde und isst jeden Tag etwas, um am Leben zu bleiben. Darüber hinaus sollte er nicht nackt leben, sondern sich schützen, indem er etwas anzieht: Nahrung, Wohnung und Kleidung sind die drei existenziellen Güter eines jeden Menschen, der in dieser Welt leibt und lebt. Diese essenziellen Momente des Leibens und Lebens sind das, was jeglichen Menschen auf der Erde existieren lässt. Die Art und Weise, wie der Einzelne jeweils leibt und lebt, ist in der Regel durch die Kultur bestimmt. Die Kultur ist ein Weg der Lebensführung, so wie man mit Bezug auf die amerikanische Kultur sagt: the american way of life. In diesem Sinne ist jede Lebensweise, gleichgültig, ob sie auf einer primitiven und niedrigen Dimension der Lebensführung oder aber auf einer höher qualifizierten Ebene des Lebens angesiedelt ist, immer schon Kultur. Jede Kultur ist gleich berechtigt. Damit wird hier ein Kulturbegriff vorausgesetzt, der einem Kulturrelativismus entspricht: Die Römer in der römischen Republik und die amerikanischen Indianer haben jeweils ihre eigene Kultur der Lebensweise.

1 | An dieser Stelle möchte ich Harald Lemke ganz herzlich für seine hilfreichen Korrekturen meines Textes danken.

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202 | Tadashi Ogawa Die Kultur erhöht sich jedoch gegenüber den ›Wilden‹ und den ›Barbaren‹ durch den Erwerb geistiger Übung sowie künstlerischer Erfahrungen und Leistungen. Man bildet sich durch die geistigen Leistungen. Dieser Kulturbegriff basiert auf der universellen Idee der Bildung. Sie bestimmt die Art und Weise, wie man in eine Kultur hineinwächst und daran gewöhnt wird. In dem Sinne ist Kultur eng verbunden mit der Praxis der ›Kultivierung‹. Hier spielt die auf das Landwirtschaftliche hinweisende Bedeutung des Begriffs Kultur (lat. colere) eine wesentliche Rolle. Man kultiviert das Feld. Das Feld bringt durch den Ackerbau des Menschen die Früchte der Erde hervor und ebenso bilden sich durch die Kultur des Menschen die Lebensweisen aus. Der Begriff Kultur ist also zweideutig: einerseits deutet er fundamental auf eine relativistische Dimension hin, andererseits verweist er vertikal auf die differenzierte Dimension einer graduellen Entwicklungshöhe. Den fundamentalen Kulturbegriff, auf den jeder Mensch bezogen ist, fasse ich als die kulturelle Invarianz, als ein Apriori, wobei der relativistische Kulturbegriff ein besonderes Beispiel kultureller Invarianz darstellt.

I. Kyoto-Spezialitäten und Japanismus Es ist eine allgemeine Theorie der menschlichen Kultur denkbar, deren Aufgabe es wäre, die Lebensweise des Menschen in dieser Welt zu thematisieren. Wenn einige behaupten, ihre eigene Kultur sei etwas Besonderes und Spezielles, etwas, das Fremde oder Menschen außerhalb ihrer Kultur nicht verstünden, so ist diese Behauptung unbegründet. Wäre das der Fall, dann wäre die Bemühung, eine fremde Kultur zu verstehen und sie der eigenen Kultur verständlich zu machen, in der Tat unmöglich. In Japan ist dieser Kultur-Spezialismus, der so genannte Japanismus (nihonjinron), sehr präsent: Danach ist die japanische Kultur etwas Besonderes, das die Menschen aus anderen Kulturkreisen angeblich nicht verstehen können. Auch in der alten kaiserlichen Stadt Kyoto wird ein so genannter Kyoto-Kultur-Spezialismus hartnäckig vertreten, so etwa wenn behauptet wird, dass Menschen, die nicht aus Kyoto seien, die besondere, komplizierte Lebensweise in Kyoto nicht verstehen könnten. Meiner Meinung nach ist diese Ansicht falsch. Der Kulturspezialist hat nicht Recht. Ein solches Denken sperrt sich gegen jegliche Kulturverständigung und jedes zwischenmenschliches Kulturverständnis. Nach meiner langjährigen methodischen und sachlichen Erforschung des Kulturellen bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass jede Kultur sowohl allgemeine und essenzielle Momente als auch besondere und spezielle Aspekte aufweist. Den Hintergrund meiner methodischen Überlegung bildet die phänomenologische Methode Edmund Husserls, genauer: die Wesensschau und die freie Variation. In Bezug auf die Kulturforschung habe ich diese bereits bei einer an-

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deren Gelegenheit thematisiert und kritisch diskutiert.2 Daher verfolgt meine Feldforschung zur Kyoto-Küche – in Kyoto gibt es neuerdings die so genannte Kyoto-Forschung oder Kyoto-Kunde als eine neue Disziplin, die an der Universität unterrichtet wird und von der Stadt Kyoto als Examensthema für Tourismus und Reiseführung angeboten wird – nicht die Absicht, damit eine Kyoto-Spezialität (im Sinne des Kultur-Spezialismus) zu behaupten. Das Gegenteil ist meine Absicht: Die behagliche Atmosphäre beim Essen ist wichtig, und eine schöne Esskultur ein hohes Kulturgut, das zur Gesundheit des Menschen beiträgt. Im Folgenden möchte ich also ein besonderes Beispiel des gehobenen, kulturell hochstehenden Essens in Japan thematisieren. Ein Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus kamen viele Katholiken nach Japan. Bei diesen Katholiken handelte es sich um Jesuiten, den missionarischen Priestern der katholischen Kirche. Sie kamen über Indien, Indonesien, Indochina nach Japan. Diese katholischen Missionare schätzten die japanische Kultur sehr, so etwa das hohe Niveau des moralischen Bewusstseins und des höflichen Anstandsgefühls. Sie achteten das japanische Gefühl und die japanische Mentalität und Ritualität. Das betraf auch die Erziehung der Kinder. Die japanische Pädagogik sah eine strenge, aber mit Wohlwollen verbundene Erziehung vor. Dieses pädagogische Ideal zeigte sich beispielsweise beim Essen. Das Kind sollte vor dem Essen mit gefalteten Händen beten und sagen: »Itadaki masu«, was bedeutet: »Ich bedanke mich für das Essen«. Aber diese traditionelle Sitte ist nicht nur in Japan üblich (gewesen), sondern auch in Europa. Als ich einmal zu einer katholischen Familie in Deutschland eingeladen war und dort frühstückte, hat man Gott eine Dankesrede gehalten. Das Essen war im Westen wie auch im Osten lange Zeit ein geheiligtes Ereignis im täglichen Leben. Zumindest im heutigen Japan ist diese Gewohnheit nahezu verschwunden. Es geschieht inzwischen sehr selten, dass sich die ganze Familie zu einem gemeinsamen Essen zusammenfindet. Bei uns in Japan gibt es dafür einen besonderen Fachausdruck der Familiensoziologie: Ko-shoku, die einsame Mahlzeit oder das Allein-Essen. Heute essen viele Kinder zu Hause alleine. Das familiäre Essen ist aus dem Alltag verschwunden. Auch die Eltern und Erwachsenen essen einsam und allein, denn die Frau (und Mutter) arbeitet außerhalb der Familie und isst daher auch zumeist auswärts. Wenn sich das Allein-Essen verbreitet, entsteht ein großes Problem: Das Essen findet nicht mehr in familiärer Atmosphäre statt. Es wird zu einer Nebensache, zu einer bloßen Notwendigkeit. Weil man allein isst, möchte man mit dem Essen schnell fertig werden, damit neue Arbeit in Angriff genommen werden oder die laufende Arbeit unverzüglich fortgesetzt werden kann. Es gibt

2 | Tadashi Ogawa: Grund und Grenze des Bewußtseins, Würzburg: Königshausen und Neumann 2001.

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204 | Tadashi Ogawa ein direktes und konstitutiv zusammenhängendes Verhältnis zwischen Schnell-Essen und Allein-Essen.

II. Phänomenologie der Mahl-Zeit Bezogen auf mein Thema stellt sich dann die Frage: Was bedeutet den Menschen heute eigentlich das Essen? Worin liegt der kulturelle Stellenwert des Essens für das menschliche Leben? Diese Frage möchte ich aus verschiedenen Sichtweisen thematisieren und zu beantworten versuchen. Zunächst, was bedeutet den Menschen das Essen? Das Essen befriedigt jeden Tag den Hunger, der nichts anderes als eine Bedrohung durch das Sterben ist. Das Essen rettet den Menschen in die Frische des Lebens. Was ist das Wesen des Essens insbesondere in Bezug auf die Zeitlichkeit des Essens, insofern die Menschen jenes Dasein leiben, das durch die Zeit hindurch lebt und existiert? Meine Hauptfrage ist hier genauer: Unter welchen Bedingungen oder in welcher Atmosphäre kann man langsam essen? Wobei ich unter langsamem Essen sowohl genussvolles als auch gesundes Essen verstehe. Der Unterschied zwischen der Lebensweise eines schnell essenden Menschen und eines langsam essenden lässt sich ohne Weiteres benennen. Wer schnell isst, möchte so bald wie möglich den Hunger befriedigen und mit dem Essen fertig werden. Im Unterschied dazu möchte ein Mensch, der langsam zu essen wünscht, das Essen selbst und die Atmosphäre des Essens genießen, und er freut sich über das Gespräch mit seinen Tischgenossen. Zwischen diesen beiden Typen von Mahl-Zeiten herrscht ein grundlegender Gegensatz. Die Struktur der Zeit, die jedes Mahl verzeitigt, ist dabei vollkommen verschieden. Anders gefragt: Ist auf den Prozess des Essens zu achten oder auf das Ziel des Essens? Oder noch genauer: Liegt der Zweck des Essens immanent im Vollzug der Tätigkeit des Essens oder liegt er außerhalb der Esstätigkeit? Die Art und Weise, wie man isst, ist eng mit dem gesundheitlichen Wert des Essens verbunden. Auf dieses Gute des Essens hat bereits Epikur hingewiesen. Wenn man Fast Food, beispielsweise das Kaiten-Sushi oder das Essen in einem McDonald’s-Schnell-Restaurant, wählt, wird man nicht voll befriedigt. Eine Mahl-Zeit dauert dort im Durchschnitt nicht länger als neun Minuten. Dagegen ist die typische Slow-Food-Mahl-Zeit ein andauernder Genuss in einem schönen Restaurant, beispielsweise in einem klassischen Kyoto-Restaurant. Dort dauert die Mahlzeit in der Regel drei Stunden, und so lässt sich das Essen voll genießen. In den erwähnten Beispielen wird ›der Sinn des Lebens‹ ganz unterschiedlich gelebt. Fast Food und Slow Food verkörpern eine je eigene Lebensweise des Essens. Aber warum sollte man besonders viel Zeit darauf verwenden, genussvoll zu essen, anstatt den Hunger rasch zu stillen? Meine Antwort: In ei-

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nem schönen japanischen Restaurant lebt und genießt man die Zeit auf eine Weise, die davon bestimmt ist, dass man das Leben verlangsamt und das Essen als Lebenstätigkeit selbst genießt. Ein Menü besteht dort nicht selten aus zwölf Gängen. Bei jedem Gang werden nur kleine Portionen serviert. Man verweilt beim Genuss, weshalb das Essen ›lange‹ dauert. Dieses Verweilen füllt jenen langen Zeitraum aus, über welchen hin sich das Mehr-Gänge-Menü erstreckt. Das ist gewissermaßen die ›Langweiligkeit‹ dieser Art von Mahl-Zeit. Die ›Kurzweiligkeit‹ des Essgenusses hingegen bedeutet, dass die chronometrisch verlaufende Zeitlänge als Erlebnisgefühl eher kurz erscheint, insofern man auf Grund der erlebten Lust, wie man sagt, »die Zeit vergisst«. Die lange Zeit oder die lange Weile der Mehr-Gänge-Mahlzeit wird tatsächlich als kurz empfunden und in der erfüllten Gegenwart des Genusses eigens verzeitigt. Mit anderen Worten, fühlt man durch das Genießen des Essens die Zeit, erfährt man die Zeit durch eine solche Mahlzeit, verläuft diese doch tatsächlich ebenso lang- wie kurzweilig. Ganz anders beim Fast Food, beim schnellen Essen: Wenn man Fast Food isst, isst man schnell, weil das Essen selbst eine ›langweilige‹, an sich unwichtige Tätigkeit ist. Beim langsamen und kostenden Essen tut man der eigenen Gesundheit etwas Gutes, während das eilige Essen der Gesundheit schadet. So bekommt man beispielsweise Magenschmerzen nach einem hastigen Essen. Meine Frage ist nun: In welcher Weise kann man das lang-weilige Essen kultivieren? Es ist unzureichend, wenn man sich selbst oder jemand anderen einfach nur dazu rät, langsam zu kauen. Denn die Atmosphäre beim Essen und das Essen selbst sollen mit genossen werden. Man kann auch nicht sagen, es genüge, dass man die schöne und mit Lust empfundene Atmosphäre des Speiseraums genießt. Der ›Essort‹, beispielsweise ein Restaurant, muss rein und sauber sein. Aber nicht nur das. Das Lokal sollte mit Blumen und Bilderrollen geschmückt sein, damit die Sinne und Wahrnehmungen des Genießenden vielfältig stimuliert werden. Die Tiefe der so geweckten Sinneseindrücke und Empfindungen von Schönheit muss in der zeitlichen Dimension möglichst unendlich ausgedehnt werden. Diese unendliche Tiefe der zeitlichen Dimension, wie Husserl sie bildhaft im zeitlichen Diagramm dargestellt hat, kristallisiert sich im Augenblick oder in der Urimpression. Daher kann man in jedem Augenblick, als Quasi-Ewigkeit, die unendliche Ausdehnung der Zeit erleben. Im Restaurant wird man auch die schönen Teller und die kunstvollen Essstäbchen als Atmosphäre des Essens mit genießen. In jedem Augenblick vermag man die ewige Tiefe der Zeit zu erleben, wenn man sich enthält schnell zu essen. Man wird – in der Atmosphäre der Situation eingefangen – von der Fixierung auf’s Essen abgehalten, und es wird die eigene Aufmerksamkeit auf die Lust an der Umgebung umgelenkt. Man sollte nichts anderes tun als die Atmosphäre zu genießen. Das bedeutet Slow Food, langsames Essen. Langsam zu essen impliziert den Entzug der Zeit, sich-mit-dem-Essen-zu-

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206 | Tadashi Ogawa beschäftigen. Auf welche Weise kann dem Gast die Zeit des Sich-mit-demEssen-Beschäftigen genommen werden und auf welche Weise kann die Zeit langsam fließen? Wie kann ein Gast das Essen langsam genießen und die Tiefe der Zeitdimension erleben? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich etwas genauer auf das Cha-kaiseki-Restaurant in Kyoto eingehen.

III. Die japanische Spitzengastronomie – Cha-kaiseki Die klassische Gastronomie in Kyoto oder kurz: ›das schöne Restaurant‹ serviert zumeist das so genannte Cha-kaiseki, eine ursprünglich mit der Teezeremonie verbundene Küche. Wie man bei der Teezeremonie meint, lautet das Motto des Tee-Wegs (Chado) »Ichi-go-ichi-e«, »jede Begegnung ist einmalig«. Wenn ich mit den Gästen zusammen Tee trinke und das Essen genieße, ist dies eine einmalige Begegnung, die niemals wiederkehrt und auf ewig wertvoll ist. Die Art und Weise des einmaligen Begegnens ist mit dem Essen und dem Genießen des Tees und Essens eng verbunden. Das schöne Kyoto-Restaurant ist die Kulturstätte, in der man das Erleben der Zeit als einmaliges Begegnen mit den Menschen erlernt, weil man sich dort nicht nur mit dem Essen beschäftigt, sondern auch mit der gehobenen Dimension des Lebens selbst. Der gesellschaftliche Ort, an dem man das schöne Essen in der Tischgesellschaft mit anderen Menschen gemeinsam zu genießen lernt, ist die klassische Gastronomie Kyotos, wo viel Aufwand für die schöne Kunst und den Genuss des Essens betrieben wird. Sachlich und paradox ausgedrückt, bewirkt die schöne Atmosphäre des Cha-kaiseki-Restaurants, dass das Interesse gegenüber dem Essen ab- und umgewendet wird, um es nicht allein auf das Essen (im Sinne der bloßen Nahrungsaufnahme) zu fixieren. Die gastronomische Kunst des Anbietens besteht darin, dass sich die Gäste zum (langsamen) Essen ›Zeit nehmen‹. Im Restaurant liegt die Bedingung des Essens darin, dass die Gäste den Raum und dessen Einrichtung, die japanische Wandnische (Tokonoma) und deren Schmuck zum Beispiel Bildteller, Hängerolle und kleine Blumengestecke betrachten. Die Gäste benötigen Zeit zum Entziffern der Kalligraphien, um die Bedeutung des Inhalts der Hängerolle auszulegen. Die Gäste müssen ausreichend gebildet sein, um diese zu verstehen. Das Arrangement der Esssituation sollte folglich so beschaffen sein, dass die Gäste sich Zeit nehmen, der Einrichtung des Raumes usw. inne zu werden. Um das Essen zu genießen zu wissen, braucht es darüber hinaus der entsprechenden Kenntnisse und eines feinen Sinns für die Jahreszeiten. Selbstverständlich sollte das Restaurant dazu Anreize bieten. Es werden allerlei Erbaulichkeiten aufgeboten, wodurch die Zeit der Fixierung auf das Essen verknappt wird. Die Zeit, sich ausschließlich mit den Speisen zu beschäftigen, soll durch das Interesse an der Schönheit der Umgebung und Zubereitung dem Es-

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sen selbst entzogen werden. Ein schönes Restaurant, beispielsweise das Ryotei in Kyoto, ist gewissermaßen ein ›Instrument‹, das Interesse für das Essen auf diese Weise umzuwenden und auf andere Gegenstände des Interesses umzulenken. Die Zeit, auf die man sich während des Essens auf das Essen konzentriert, wird durch die schöne Atmosphäre in eine andere Zeitdimension umgewendet, in welcher man in jedem Augenblick die ewige Zeit erleben kann. Ich habe gerade gesagt, dass man in jedem Augenblick die Ewigkeit zu erleben lernt: Das ist jedoch nur möglich, wenn man die Zeit nicht als Bewegung, sondern als Tätigkeit begreift, und diese Tätigkeit wiederum als ein Verwirklichen, als ein Zu-Ende-gekommen-Sein und ein VollzogenWerden im Jetzt auffasst. Für Aristoteles, den holistischen Denker, ist die menschliche Tätigkeit Energeia: dasjenige, was im Ergon (am-Werk) ist.3 Wenn man tatsächlich in der Tätigkeit ist, also am Werk wirkend ist, ist man doch am Ende der Tätigkeit, also in der Energeia. Der aristotelischen Energeia-Auffassung zufolge, habe ich essend mit dem Essen begonnen und bereits gegessen. Ich sehe und habe gesehen. Wenn man die Schwelle des Restaurants betritt, hat das Essen bereits angefangen und man befindet sich im Vollzug des Essens. Das bedeutet, ich genieße das Essen im Restaurant und dessen Umgebung, dessen Jahreszeit und deren Sinn, ich genieße das Essen in der Stadt Kyoto, in dem Klima und in derjenigen Situation, in welcher das Restaurant sich befindet.

IV. Atmosphäre und Kultur Wie verhalten sich die Schönheit und der Geschmack der klassischen Küche Kyotos zum Leben des Menschen? Auf alle Fälle macht die Kaisekiryori-Kulinarik das Wesen der Kultur Kyotos aus. Die klassische KyotoKüche ist das synthetische Werk von diversen kulturellen Elementen Kyotos: der Garten, das Gebäude, die Räume des Restaurants – deren Atmosphäre insgesamt ist die Kultur selbst. Das Wesen der Kyoto-Küche liegt in dem Sinn der Jahreszeit, dem schönen Erscheinen der Küche, dem guten Aussehen. Weil diese Spitzenküche jedoch sehr teuer ist, kann man dort nicht täglich essen. Aber das spielt hier keine Rolle. Denn als Phänomenologe thematisiere ich nur das Erscheinen des Erscheinenden. Und die Atmosphäre gehört zu diesem Erscheinen. Sie ist unter den Phänomenen das erste Komplizierte, das Chaotische, an dem viele Momente beteiligt sind. Wie die Atmosphäre mit dem Restaurant oder Kaffeehaus verbunden ist, so birgt sie auch Bezüge zur Politik und zur Stadt. Das Wort ›Klima‹ in der deutschen und französischen Sprache bedeutet auch ›Atmosphäre‹. In die3 | Aristoteles, Nikomachische Ethik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1967, 1174a-b.

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208 | Tadashi Ogawa sem Sinne macht das Klima, als das Atmosphärische, das Wesentliche der kulturellen Elemente und Praktiken aus. Ich habe bereits mehrere Male davon gesprochen, dass die Atmosphäre herzustellen oder zu bilden sei. Kann man aber eine Atmosphäre ›herstellen‹? Meine Antwort lautet: Man kann die Atmosphäre nicht willkürlich herstellen und nicht willkürlich verändern. Nur die Konstellation der Dinge in einem Raum vermag man zu verändern. In welchem Sinne aber spricht man dann von Atmosphäre, wenn man beispielsweise sagt: »in diesem Restaurant ist die Atmosphäre sehr schön«? Mit Atmosphäre ist hier die Stimmung gemeint, in der man sich jeweils befindet. Sie ist nichts anderes als das ungefähre Gefühl, als das Befinden, das man von einem Raum, von einem Restaurant jeweils bekommt. Sie ist so etwas wie das Klima (im meteorologischen Sinne). Das Klima kann nicht ohne Weiteres geändert werden. Das Klima ist etwas, das jeden Menschen von außen her umschließt und bestimmt. Das Klima in Deutschland kann man genauso wenig verändern wie das in Kyoto. So ist auch die Atmosphäre nicht von einem einzelnen Menschen willkürlich zu verändern, weil sie so unveränderbar wie das Klima selbst ist. Das Restaurant ist mit dem Klima Kyotos vereint und verschmolzen. Das Verschmolzen-Sein oder die Verquickung von Seiendheiten ist das, was die Griechen unter dem Begriff krasis verstanden haben. Im Griechischen ist das Verschmolzen-Sein oder die Verquickung von Entitäten scharf von dem Gemischt-Sein, mixis, unterschieden. In der Verquickung sind inhaltliche Momente unselbstständig und miteinander verbunden wie Zucker-in-Wasser. Ganz anders ist das Gemischt-Sein im Fall des Puzzles oder Logo-Spiels: Hier sind alle Teile selbstständig und doch voneinander abhängig. Die Atmosphäre als krasis ist hingegen wie eine Stimmung oder ein Gefühl, in dem alle Teilmomente miteinander verschmolzen sind. Das klassische Restaurant in Kyoto ist verbunden, ist verquickt mit dem Klima und der Atmosphäre der alten Kaiserstadt.

V. Umgebung und Küche Wie hängen nun Klima und Atmosphäre Kyotos mit seinen traditionellen Küchenhäusern oder, wie man im Japanischen sagt, mit den Ryotei zusammen? Was ist an ihnen das Kyoto-Spezifische? Das Kyoto-Ryotei ist eingebettet in die und verschmolzen mit seiner spezifischen Umgebung und Stadt. Im Stadtteil Shimogamo liegt das Shimogamo-Saryo Restaurant (wörtliche Übersetzung: Das Tee-Haus in Shimogamo) in der Nähe vom Shimogamo-Schrein am Takano-Fluss; das Restaurant Saami liegt beim Maruyama-Park, das Hyotei (wörtlich: das Kürbisgartenhaus) wiederum befindet sich in der Nähe vom Nanzenji-Tempel. Diese Spitzenlokale sind typische Kyoto-Ryotei, also wörtlich die Küchenhäuser Kyotos. Diese Restaurants atmen die Atmosphäre der Umgebung ein und aus. Das ›Atmen‹ bedeutet

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hier figurativ das Einschöpfen der Lebenskraft, das heißt die synthetische Einheitsbildung des Restaurants mit der Umwelt. Shimogamo-Saryo ist in seine Umwelt eingebettet und mit ihr eins. Denn von dort kann man auf den Takano-Fluss hinab schauen, ihm gegenüber türmen sich der HieiBerg und die Higashiyama-Gebirge auf, die wesentliche Momente der Stadt Kyoto sind. Das Atmen bedeutet ebenso die synthetische Harmonie zwischen Lokal und Umgebung. Es ist schwer vorstellbar, dass das SaamiRestaurant, das sich auf dem Berg des Maruyama-Parks in Kyoto befindet, seinen Ort in dem Sennichimae-Vergnügungsviertel in Osaka oder auf der Reeperbahn Hamburgs hätte. Das Kyoto-Ryotei bedeutet nämlich in einem ganz präzisen Sinne das Kyoto-Küchenhaus, weil es in die Umwelt der Stadt Kyoto eingebettet ist und davon lebt. Die lokale Gastronomie lebt von der Atmosphäre und dem Klima der Stadt Kyoto. Ihre Kulinarik entspricht dem jahreszeitlichen Rhythmus von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wie der Zucker im Wasser ist, so ist die lokale Gastronomie in die Umgebung und das Klima eingetaucht. Die Stadt Kyoto liegt in einem Talkessel. Im Winter ist es dort trocken und kalt, im Sommer schwül und heiß. Die Küche entspricht diesen jahreszeitlichen klimatischen Abwechselungen. Der Wechsel der Jahreszeit nährt das Haus, den Garten, den Genuss der Küche und deren Schönheit. Das Klima und die Atmosphäre des Restaurants sind eins. Dies weist darauf hin, dass das Wetter und die Luft, die Sonne und die Wolken zusammen das Kyoto Ryotei erzeugen und nähren. Dies ergibt die holistische Einheit zwischen Restaurant und Klima. Sie zusammen machen die chaotische Mannigfaltigkeit in dieser Einheit aus: Erscheinungsmäßig sind sie eins.

VI. Kulinarische Witterungen Die Kyoto-Küche wird also vom Klima und Wetter genährt. Ich möchte deshalb abschließend einige Worte über das Klima und das Wetter in Kyoto sagen. Warum ist das Nahen des Frühlings so erfreulich? Nun, weil es sehr kalt ist im Winter. Die schleichende Kälte der Winterzeit durchdringt den ganzen Leib. Wegen des kalten Winters bedeutet es stets eine innige Freude, wenn der Frühling kommt. Besucher aus dem Westen fragen sich, warum Japaner an der Kirschblüte eine so große Freude haben. Das hat einen einfachen Grund: Diese Blüte anschauend, empfindet man, dass die Pflanzen (wie die Menschen) durch die Kälte des Winters hindurch überlebt haben. Seufzend atmet man auf. Im Mai werden alle Bäume prächtig grün. Das Gleiche geschieht auch im Sommer. Im Spätsommer spürt man den kühlen Wind des Herbstes nahen: Mit Freude gewärtigt man die Befreiung von der Schwüle des Sommers. Dieses Gefühl, endlich vom heißen Sommer befreit zu werden, zeigt sich in einem Sinn für die Jahreszeiten: im Herbstsinn, der als Herbstvollmond oder Herbstgräser wie Aki-no-Nanaku-

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210 | Tadashi Ogawa sa in der Küche, auf dem Teller oder auf der Bilderrolle des Tokonoma gezeigt wird. Im Talkessel Kyoto lebt man der Veränderung der Jahreszeit entsprechend. Die Restaurant-Küche spiegelt diesen Jahreszeitenwechsel wider. Es macht das Wesen dieser Gastronomie aus, ihren Speiseplan den Jahreszeiten entsprechend mit dem Klima und der atmosphärischen Umgebung abzustimmen. Im Frühling, wenn beispielsweise viele Kirschblüten im Garten erblühen, wird im Tokonoma eine Bilderrolle mit gemalten Kirschblüten aufgehängt. Und ein Kirschblütensprössling wird in die Vase gesteckt. Selbst die Vase ist noch mit einem Kirschblüten-Motiv verziert. Außerdem kommt das Frühlingsgemüse vom Feld auf den Teller, ebenso der Frühlingsfisch wie etwa Sawara, die Frühlingsmakrele, die in dieser Zeit ihren besten Geschmack hat. Auf diese Weise kostet man durch die Kyoto-Küche die Atmosphäre der Jahreszeit. Aber kann man sich in dieser Situation – umgeben von diesen vielschichtigen Bedeutungsverweisen – überhaupt auf das Essen konzentrieren? Sicher nicht, man vergisst dabei zuweilen sogar zu essen. Das Interesse für die Umgebung ist so stark, dass man das Essen häufig außer Acht lässt. Daher wird von den Gästen nicht selten der Eindruck formuliert, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können, was und welche Speise sie eigentlich gekostet haben … Halten wir fest: Das traditionelle Wesen der Kyoto-Kultur wird nicht nur durch die Tempel, die shintoistischen Schreine, die Museen, die Bildnisse Buddhas und die buddhistischen Skripturen bestimmt, sondern auch durch das Essen. Das Essen ist ein Teil der Kunst und der Kultur – nicht nur Kyotos. In Kyoto gibt es, wie in Deutschland, vier verschiedene Jahreszeiten. Entsprechend gibt es eine Frühlings-, eine Herbst-, eine Sommer- und eine Winter-Küche, und der Sinn für diese saisonalen Differenzen und Rhythmen ist sehr wichtig. Der Sinn für Saisonalität empfindet das je Spezifische der Jahreszeit, der spezifischen Blüten, der Blumen, der Luft, des Windes und Wetters, der Kälte und Wärme des Wassers, der Farben usw. Der Koch bringt dieses Naturgefühl in die Küche ein, indem er saisonale Zutaten wie beispielsweise im Frühling Bambussprossen oder Fuki (Huflattich und seine Blüte) verwendet. Im Herbst kommen stets Kiefernpilze (matzutake) auf die Speisekarte. Der aromatische Duft der Kiefernpilze auf dem Tisch passt gut zu Dobinmushi, einer klaren Suppe, die in einem Keramikgefäß serviert wird. Zur Dobinmushi-Suppe gehört neben dem Fisch zumeist gebratener brauner Seeaal, als Beilage gelbe Ginkofrüchte und grüne Mitsuba-Kräuter. Die Speisebestandteile bringen fünf Farben, nämlich gelb, grün, weiß, schwarz und rosa bzw. rot zusammen. In der japanischen Gastronomie ist die Kombination der fünf Farben ein wesentliches ästhetisches Stilmittel. Darüber hinaus steht die Fünffarben-Kombination für den Wunsch nach Glückseligkeit und Gesundheit des Lebens.

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Literatur Aristoteles, Nikomachische Ethik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1967. Ogawa, Tadashi: Grund und Grenze des Bewußtseins, Würzburg: Königshausen und Neumann 2001.

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Welt-Essen und Globale Tischgesellschaft. Rezepte für eine gastrosophische Ethik und Politik Harald Lemke

In der Kulturtheorie ist das Thema Essen recht jung. Weil ein genauerer Einblick in die Entstehungsherde dieses jungen Diskurses den vorgesehenen Umfang dieses Beitrages überschreiten würde, müssen einige Worte zur Charakterisierung der jungen Disziplin einer ›Kulturwissenschaft des Essens‹ genügen, um dann die Grundzüge einer ›philosophischen Wissenschaft des Essens‹ oder ›Gastrosophie‹ ausführlicher darzustellen. Im weiteren Gedankengang werde ich außerdem die methodische Programmatik und die theoretische Möglichkeit der politisch-ethischen Praxis eines ›guten Welt-Essens‹ skizzieren.1

I. Der Cultural turn des naturwissenschaftlichen Ernährungsdenkens Das Grundanliegen der jungen Kulturwissenschaft des Essens ist leicht benannt: Sie will die Dominanz des einseitig naturwissenschaftlichen Ernährungsdenkens, das seit dem neunzehnten Jahrhundert vorherrscht, überwinden. Indem zunächstin den frühen 1970er Jahren insbesondere die französische and angelsächsische Kultursoziologie und dann seit den 1990er Jahren die cultural studies das Essen als ein Teil der Kultur in den Blick zu nehmen begannen, wurde der cultural turn in der Theorie der Ernährung auf den Weg gebracht. In den seitdem zurückliegenden Jahren 1 | Dieser Text stützt sich auf eine frühere Version; siehe Harald Lemke: »Gastrosophische Aspekte der Kulinaristik«, in: Alois Wierlacher/Bendix, Renate (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis, Münster: LIT-Verlag 2008, S. 146155.

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214 | Harald Lemke hat die Esskulturforschung durch diverse Publikationen und eigene Organisationen auch in Deutschland zu der Formierung einer eigenständigen Kulturwissenschaft des Essens oder Kulinaristik beigetragen. Ihr programmatischer Anspruch verfolgt in zweierlei Hinsicht die Überwindung der herkömmlichen Reduktion des Essens auf biologische Funktionen. Sowohl in wissenschaftstheoretischer als auch gesellschaftspolitischer Hinsicht wird die verbreitete Vorstellung in Frage gestellt, der zufolge ›essen‹ lediglich bedeuten soll, dem Körper ›Kalorien‹ oder ›Nährstoffe‹ zuzuführen, um ›verbrauchte Energie‹ zu ›ersetzen‹. Dieses gesellschaftlich vorherrschende Nahrungsdispositiv denkt die menschliche Ess-Existenz oder Essistenz und ihre kulinarische Lebenspraxis nach dem Modell des Autotankens: Wie der Verbrennungsmotor eines Fahrzeugs zur Aufrechterhaltung seiner Leistungsfähigkeit Kraftstoff nachtanken muss, so ›tankt‹ der Mensch ›Brennstoff‹ und ›füllt‹ Nahrung ›nach‹, wenn seiner Körper-›Maschine‹ die Kraft ausgeht. Der ganze Ernährungsprozess wird als bloße ›Nahrungsaufnahme‹ und als eine einseitige ›Zufuhr‹ (von außen nach innen) aufgefasst. ›Essen‹ wird lediglich als ein die äußere Welt konsumierendes Verhalten gedacht und damit die umgekehrte, die äußere Welt nicht nur aufzehrende, sondern auch die Welt erzeugende Dimension des Essens außer Acht gelassen. Demgegenüber bringt die neue Kulturwissenschaft des Essens den Gedanken ins Spiel, dass das tägliche Essen und die Ernährungsweise ein komplexes Gebilde aus zahlreichen, miteinander verbundenen Tätigkeiten und Techniken, gesellschaftlichen Konventionen und somatischen Implikationen, sozialen Rollen und alltäglichen Riten ist. Kurz: Eine Kulturwissenschaft des Essens macht mit dem ungewohnten Gedanken vertraut, dass das tägliche Essen ein kulturell konstruiertes und in diesem Sinne auch Welt konstituierendes Phänomen ist, das individuelle sowie gesellschaftliche Identitäten und Lebensweisen ausmacht. Die Kulturtheorie tut sich mit ›der Welt des Essens‹ einen ganz neuen Forschungsbereich auf und sichert sich mit der Ernährung, verstanden als eine kulturelle Praxis, auch eine genuin kulturtheoretische Thematik. Umso bemerkenswerter erscheint der Sachverhalt, dass in der zurückliegenden Formierungsphase der Food Studies eine ernsthafte Beteiligung seitens der Philosophie ausgeblieben ist. Eine aktuelle Philosophie des Essens – eine Gastrosophie – steht erst in ihren Anfängen.2 Wenigstens ansatzweise möchte ich einen solchen philosophischen Zugang zur Ernährungsfrage erläutern. 2 | Harald Lemke: Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007; Peter Singer/Mason, Jim: Eating. What we eat and why it matters, London: arrow books 2006; Michiel Korthals: Before Dinner: Philosophy and Ethics of Food, Dordrecht: Springer 2004; Gregory E. Pence (Hg.): The Ethics of Food. A Reader for the 21st Century, Oxford: Rowman and Littlefield 2002; Ben Mepham (Hg.): Food Ethics, London: Routledge 1996.

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II. Wie hätte sich eine zukunftsfähige Menschheit zu ernähren? Eines der Hauptthemen der Moralphilosophie beschäftigt sich mit der heute wieder vielfach aufgeworfenen sokratischen Frage, wie wir leben sollen, und mithin, ob eine ›bessere Lebensweise‹ möglich ist als die, die wir gegenwärtig leben und die in ihrem unersättlichen Ressourcenhunger die eigenen planetaren Lebensgrundlagen, die natürliche Umwelt, buchstäblich auffrisst. Schon mit diesem Stichwort, das durch den Hinweis auf die wachsende Welthungerproblematik und Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu ergänzen ist, sind bereits fundamentale Bezüge zur Essensthematik, sind universelle Weltbezüge des Essens als einer ethisch und politisch relevanten Angelegenheit hergestellt. Die philosophische Ethik mit ihrer Frage nach einem besseren und für alle ›guten Leben‹ lässt sich dann in die gastrosophische Frage umformulieren: Ist eine ›bessere Ernährungsweise‹ möglich als die, die wir derzeit leben? Wie müssten wir essen, wie hätten wir unser in moralischer Hinsicht schlechtes Essen zu ändern, damit sich alle gut ernähren können? Oder – um nicht gleich zwei und ohnehin ungewohnte Schritte auf einmal zu gehen – gilt es sich zu fragen, in welchem Sinne die angeblich ganz persönliche Angelegenheit, was und wie ich esse, eine allgemeine moralische (ethische und politische) Relevanz hat? Solche gastrosophischen Fragen – man könnte hier in Anlehnung an Kant auch von Fragen eines moralischen Geschmacks sprechen – liegen quer zu den herkömmlichen Denkgewohnheiten der akademischen Philosophie. Denn diese fühlt sich einem moralphilosophischen Liberalismus verpflichtet, der eine Beschäftigung mit dem Essen als etwas ganz und gar unphilosophisches betrachtet. So fordert beispielsweise Jürgen Habermas – zweifelsohne einer der prominentesten Repräsentanten der vorherrschenden Moralphilosophie – ausdrücklich eine theoretische »Enthaltsamkeit« gegenüber dem hier skizzierten Projekt, alltägliche Dinge wie unsere Esspraktiken zum Gegenstand des ethischen und politischen Denkens und Handelns zu machen.3 Die vorherrschende Abstinenz gegenüber dem Essen als einem philosophischen Thema lässt sich von der impliziten und, wie wir sehen werden, letztlich unbegründeten Annahme leiten, das moralische Recht auf individuelle Freiheit beschränke sich auf die negative Freiheit, dass es jedem frei stünde, in den Dingen der ›privaten‹ Lebensführung wie auch immer, jedenfalls auf eine moralisch irrelevante, beliebige und ›ganz persönliche‹ Weise glücklich zu werden. Dieser moraltheoretische Enthaltung und neoliberale Entmoralisierung der individuellen Le3 | Jürgen Habermas: »Begründete Enthaltsamkeit. Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem ›richtigen Leben‹?«, in: ders., Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 11-33.

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216 | Harald Lemke bensweise liegt die ideologische Vorstellung zugrunde, dass allgemeine Urteile und Wertaussagen über die ›privaten‹ Bereiche unserer Lebenspraxis nicht möglich seien. Und weil dieser Vorstellung zufolge jeder auf eine ›subjektive‹ Art sein Glück sucht, das (sofern das gleiche Recht der anderen respektiert wird) in keinerlei moralisch relevanten Zusammenhang zum möglichen Glück aller anderen stehe, scheint auch eine moralphilosophische Problematisierung der Frage, wie (gut) wir essen, nicht möglich. Dieser moralphilosophische Neutralismus und gastrosophische Nihilismus ist angesichts der globalen Ernährungsverhältnisse – wer würde dies zuletzt bestreiten wollen? – offenkundig falsch. Eine Entmoralisierung des gesellschaftlich vorherrschenden Geschmacks ist auch philosophisch unhaltbar, wenn man sich erst einmal klargemacht hat, dass eine allgemeine Theorie des ethisch guten Essens durchaus begründet werden kann. So hat – um hier das bekannteste Beispiel der Moralität unseres Geschmacks anzuführen – die philosophische Begründung eines moralischen Verzichts, Fleisch von (nur für den eigenen Verzehr getöteten) Tieren zu essen, eine lange Geschichte. Die in der jüngsten Zeit verstärkt geführte tierethische Vegetarismus-Debatte reicht von Peter Singer über Rousseau bis in die Anfänge der abendländischen Philosophie bei Platon und Pythagoras zurück.4 Um hier jedoch kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die gastrosophische Frage des ›guten Essens‹ erschöpft sich nicht im Pro und Contra des Fleischgenusses.5 Allerdings verdichtet sich im moralischen Gebot des Verzichts, Fleisch zu essen, ein zentraler Sachverhalt des ernährungsethischen Denkens. Es zeigt sich daran nämlich, dass die Schwierigkeit des Ideals einer kulinarischen Vernunft letztlich weniger in der moraltheoretischen Begründbarkeit eines für alle Guten besteht (hier des Guten einer vegetarischen Küche zum Wohl der Tiere und Menschen). Angesichts der globalen Ernährungskrise und offenkundig falscher Ernährungsgewohnheiten betrifft die eigentliche Problematik des Essens nicht die Theorie, sondern primär die Frage der Praxis, nämlich die Notwendig-

4 | Helmut F. Kaplan: Leichenschmaus, Ethische Gründe für eine vegetarische Ernährung, Reinbek: Rowohlt 1993; Peter Singer, In Defense of Animals: The Second Wave, Oxford: Blackwell Publishing 2006. 5 | Dass der (wenigstens tendenzielle) Verzicht auf Fleischgenuss heute nicht nur eine moralische, sondern schlechterdings bereits eine pragmatische Notwendigkeit ist, um in Zukunft genügend Nahrung für die Menschheit zu sichern, erfordert ein Umdenken in der weltanschaulich allzu aufgeladenen Diskussion um das Vegetariertum. Diese ›immoralischen‹ Zusammenhänge lassen sich mithilfe von Nietzsches Ernährungsphilosophie veranschaulichen: Harald Lemke, Nietzsche und der Wille zur Wurst, in: Mitteilungen des internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens, Nr. 11, 2003, S. 56-64. Dazu ausführlicher: Harald Lemke, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007.

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keit einer globalen Verbreitung von ethisch besseren und an sich guten Esspraktiken. Freilich liegt die Schwierigkeit einer alltäglichen Verwirklichung dieser Praxis (des ernährungsethisch Guten) darin, dass ihre gastrosophischen, d.h. ihre normativen Begründungen und moraltheoretischen Wahrheiten weltanschaulich umkämpft sind – und dies in einem postmetaphysischen Zeitalter auch unhintergehbar bleiben werden. Doch dieser historisch-gesellschaftliche Fallibilismus des Guten spricht nicht gegen den Universalismus desselben, sondern markiert die Achillesferse jeder postmetaphysischen, aber nicht-relativistischen Moral, deren Parteinahme für das Wohl aller ohne die Gesetzgebung eines »Gottes« (Heidegger) klarkommen muss. Daher sollte eine philosophische Ethik des Essens (als Theorie) die dringend erforderliche Praxis einer gastrosophischen Vernunft (als gelebter Ethik) begründen und nähren. Welche Instanz sonst wäre dazu berufen und in der Lage? Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Philosophie sollte sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe stellen, die theoretischen Grundlagen einer solchen Ethik und Politik des guten Welt-Essens zu entwickeln – anstatt sich dieser undelegierbaren und verantwortungsvollen Aufgabe unbegründeterweise zu enthalten.6

III. Gastrosophische Früchte und der kulinaristische Kreis Was ist eine Philosophie des Essens oder eine Gastrosophie? Die Erfindung des Begriffs Gastrosophie geht auf den Schriftsteller und Gelehrten Eugen von Vaerst zurück. In seiner Schrift aus der Mitte des 19. Jahrhunderts schlägt von Vaerst sieben Forschungsbereiche einer Gastrosophie vor: »1) Die Lehre von den Freuden der Tafel. 2) Theorie und Praxis der Kochkunst. 3) Die Ästhetik der Eßkunst. 4) Physiologie und Chemie aller eßbaren Substanzen und Wesen sowie der meisten Getränke. 5) Die Prinzipien des (guten) Benehmens bei Tisch. 6) Das Studium der Diätetik, eine kritische Kasuistik der Magersucht und der Fettleibigkeit. 7) Und ex cathedra die streng verschärfte Kontrolle sämtlicher sozialen und ökonomischen Pflichtleistungen, wie Viehzucht, Gartenkultur, Fischfang, Ackerbau, Jagd. usw., welche nicht nur für den Fortbestand der auf Nahrung angewiesenen Menschheit notwendig sind, sondern auch dem Wohl jedes einzelnen dienen, dem seine Mahlzeit ein Fest und die Einverleibung schön zubereiteter Speisen und edler Getränke die schöpferische Erfüllung eines metaphysi-

6 | Harald Lemke: »Kritische Theorie der Esskultur«, in: Iris Därmann/Jamme, Christoph (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München: Wilhelm Fink 2007, S. 169-190.

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218 | Harald Lemke schen Bedürfnisses ist.«7 Ohne diesen Systematisierungsvorschlag im Einzelnen akzeptieren zu müssen, macht seine Aufzählung doch etwas Wesentliches einer ›Gastrosophie‹ deutlich: Eine philosophische Theorie des Essens versucht sich der komplexen Aufgabe zu stellen, möglichst alle relevanten Seiten der Welt des Essens in den Blick zu bekommen, indem sie die globale Reichweite nicht weniger wie die alltäglichen Kleinigkeiten des Nahrungsgeschehens der Menschheit durchdenkt. Das gastrosophische Denken erkennt in der scheinbaren Belanglosigkeit und Trivialität des Essens das Philosophische. Mittels der methodischen Programmatik, die ›ganze Wahrheit‹ der Welt des Essens zu durchdringen, speist sie ihre Erkenntnisse aus dem, was hier der kulinaristische Kreis genannt werden soll. Damit ist gemeint, dass ein philosophisches Ernährungsdenken sowohl über eine bloß ernährungswissenschaftliche als auch über eine rein kulturwissenschaftliche Sichtweise hinausgeht, indem es auch die ökonomischen, die politischen, die tierethischen, die agrikulturellen, die lebensmittelindustriellen und die vielseitigen alltagspraktischen und ästhetischen Weltbezüge des Essens mit berücksichtigt. Mit anderen Worten: Die Gastrosophie nährt ein Ernährungsbewusstsein, dessen Ganzheitlichkeit alle Faktoren der Wahrheit, wie die Welt gegessen wird, ergründet. Die ›Nahrungskette‹ oder der kulinaristische Kreis dreht sich um diese gastrosophischen Wahrheiten, die das tägliche Essen nicht nur zu einem ganz persönlichen, sondern auch zu einem Welt bewegenden Seinsgeschehen machen. Neben der Methodik des kulinaristischen Kreises nimmt ein philosophisches Ernährungsdenken ein folgenreiches Spezifikum ihres Themas wahr. Es nimmt den bereits angedeuteten Sachverhalt wahr, dass das Essen gleichsam ein normativ vermintes Gebiet und ihre nicht letztbegründbare Wahrheit gesellschaftlich heftig umkämpft ist. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sich zahlreiche weltgesellschaftliche Zukunftsfragen an den so unscheinbaren Ernährungsfragen entzünden: So entzündet sich beispielsweise die Problematik der globalen Gerechtigkeit an der krassen Ungleichheit zwischen der Übersättigung in der Ersten Welt und dem Hunger in der Dritten Welt; so entzündet sich die ökologische Krise an der Problematik des industriellen Agrarkapitalismus und seinen naturzerstörerischen Folgen und Nebenwirkungen; ebenso entscheidet sich die Zukunft der Biotechnologie gerade anhand der genetischen Manipulation von Nahrung, Nutzpflanzen und Nutztieren. Mit anderen Worten, ob in Bezug auf die verschiedenen landwirtschaftlichen Produktionsweisen, die technokratischen oder alternativen Lösungsansätze der Welternährungsproblematik, ob in Bezug auf die Agrarabkommen im Welthandel oder die Frage, wer kocht und was gut schmeckt, welche Lebensmittel und Diätformen gesund sind und wo man einkauft und wo besser nicht, und so weiter: – jeder 7 | Krambach zitiert in Claus-Dieter Rath: Reste der Tafelrunde. Das Abenteuer der Eßkultur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, S. 15.

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Weltbezug des Essens ist unvermeidlich von normativen Wertfragen, moralisch relevanten Implikationen und weltanschaulichen Positionen durchzogen. Für ein gastrosophisches Denken ergibt sich aus diesem konfliktreichen, streitbaren Wesen der Ernährungsfrage die Konsequenz, dass eine Gastrosophie und jeder andere (naturwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, lebensweltliche) Diskurs des Essens nicht wertfrei sein kann. Daher ist der noch aus Hungerzeiten stammende, materialistisch-kämpferische Ausspruch »Erst das Fressen, dann die Moral« von Bertolt Brechts dahingehend zu korrigieren, dass in unserer Wohlstandswelt von heute gilt: Das Essen ist moralisch, ob’s einem schmeckt oder nicht. Um in dem von vielen Interessen und Normativitäten umkämpften Gebiet des gesellschaftlichen Geschmacks einigermaßen sicher zu manövrieren, macht sich das gastrosophische Denken den Sachverhalt zunutze, dass über die letzten Jahrzehnte in den einzelnen Essenswissensfeldern ein vielfältiges, ethisches Wissen (eines ›besseren Essens‹) gewachsen ist. So breitet sich beispielsweise in den internationalen Agrar- und Umweltwissenschaften langsam, aber stetig das Wissen einer umweltethischen Agrikultur aus, das in vielen Teilen der Erde durch ökologische Bauerbewegungen in der alltäglichen Landwirtschaftspraxis verifiziert wird; in der internationalen Politologie und in den zahllosen Foren der Zivilgesellschaft entstehen Konzepte einer menschenrechtskonformen Ernährungspolitik und eines gerechteren Weltmarktes sowie einer globalen Wirtschaftsethik, die seitens der noch jungen Disziplin der Konsumethik eine erforderliche Unterstützung findet. In der Ernährungsmedizin werden aus dem Wissen um ernährungsbedingte Krankheiten die Erkenntnisse einer gesünderen Kostform entwickelt und in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Ernährungslehren allgemeine Anforderungen an eine diätetisch gute Ernährung deutlich. In der Geschmacksfrage wird verstärkt von der Haute-CuisineGastronomie und den ›neuen Gourmets‹ der internationalen Slow-Foodund Food-Justice-Bewegung eine kulinarische Ästhetik und Hedonistik ins Spiel gebracht, deren ethisches Essenwissen aus der täglich kultivierten Erfahrungswelt einer geschmacklich guten Alltagsküche hervorgeht. Aus diesen verschiedenen Erkenntnissen eines ›guten Essens‹ setzt sich eine gastrosophische Ethik zusammen.8 Der entscheidende Punkt ist, dass eine Philosophie des Essens, die ganz auf sich selbst gestellt wäre und nicht auf all dieses einzelwissenschaftlich erarbeitete ethische Wissen zugreifen könnte, gar nicht in der Lage wäre, die ebenso riesigen wie reichhaltigen Wissensfelder eines besseren Welt-Essens zu beackern und jeweils das ethisch Gute in dessen bereichsspezifischen Komplexität zu begründen. Jedoch zeigt die Disziplinen übergreifende Forschungslage, dass dieser antiquierte Alleingang der Phi8 | Das Literaturverzeichnis am Ende meines Textes listet einen (kleinen) Ausschnitt der verfügbaren Literatur auf.

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220 | Harald Lemke losophie auch gar nicht nötig ist, um der erforderlichen Argumente für ein gastrosophisches Vernunftideal habhaft zu werden. Für die allgemeinfähige, ›objektive‹, nämlich interdisziplinäre Begründung von ethisch und politisch besseren Ernährungsverhältnissen ist entscheidend, dass sich die Philosophie zu den bereits vorhandenen einzelwissenschaftlichen Einsichten der realen Möglichkeit eines besseren Welt-Essens in Beziehung setzen kann, um diese noch unzusammenhängenden Bereichsethiken und kulinaristischen Weltbezüge zu Einem Begriff (einer ›gastrosophischen‹ Ethik und Vernunft) zu vereinen. In dieser interdisziplinären Synthese der in den Einzelwissenschaften entstehenden und moraltheoretisch relevanten Erkenntnisse besteht die enzyklopädische oder generalistische Aufgabe einer ›philosophischen Wissenschaft vom guten Essen‹. Diese vermag ihren generalistischen Anspruch in der Kooperation mit den anderen Disziplinen einzulösen, ohne in Hegelscher Manier den enzyklopädischen Anspruch einer philosophischen Wissenschaft als einer ›übergeordneten‹ Wissensform bloß metaphysischzu postulieren. Freilich tut sich mit diesem Programm ein immenses Feld der gastrosophischen Forschung auf. An dieser Stelle bleibt mir daher nichts anderes übrig, als einen großen Sprung zu machen und schon das vorauszusetzen, was durch diese interdisziplinäre Gastrosophie in vielen Detailstudien und Sachproblemen im Einzelnen nachzuweisen wäre: Nämlich die Tatsache, dass die normativen Ansprüche einer universellen Ethik und Politik des ›guten Essens‹ tatsächlich begründbar wären und daher die Rede von einer ›gastrosophischen Vernunft‹ etwas zweifelsohne Ungewohntes, aber in jeder Hinsicht auch etwas Fundiertes ist.

IV. Sonderstellung der Ernährungspraktiken als ethisches Handlungsfeld Gehen wir also von der – in postmodernen Zeiten eines moraltheoretischen Relativismus bzw. eines neoliberalen Neutralismus ohnehin wagemutigen und angesichts ihres gesellschaftlich umkämpften Wesens obendrein waghalsigen – Prämisse aus, dass für den Bereich des Essens der normative Begriff eines für alle Guten tatsächlich postmetaphysisch und wissenschaftlich objektiv eingelöst werden kann. In einem nächsten Argumentationsschritt wären dann entgegen der philosophischen wie lebensweltlichen Denkgewohnheiten jene allgemeinen Faktoren zu bestimmen, welche die Ernährungsfrage zum alltäglichen Handlungsfeld einer möglichen Ethik machen. Insbesondere zwei historische Gegebenheiten, die für die Sonderstellung des Essens und unserer ›Essistenz‹ als einer ethisch relevanten Lebenspraxis sorgen, sind hervorzuheben. Zugleich wird dabei ein weiteres Merkmal einer philosophischen Annäherung an die (Theorie der) Tisch-Gesellschaft deutlich: nämlich die emanzipatorische

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(normativ-universelle) Ausrichtung der Gastrosophie auf eine Praxis der Freiheit. Eine philosophische Wissenschaft des Essens expliziert und konkretisiert eine Philosophie der Freiheit im Sinne einer alltagspraxischen Selbstbestimmung (im Lebensbereich) des Kulinarischen. Zum einen hat die wirtschaftliche Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer gesellschaftlichen Ausweitung eines bemerkenswerten Wohlstandes geführt: Heute verfügt eine große Anzahl und die für das Welt-Essen entscheidende Masse der Konsumenten der reichen Länder, aufgrund einer sicheren Nahrungsmittelversorgung und einer freien Warenauswahl über die erforderlichen materiellen Voraussetzungen einer welthistorisch erstmaligen und vielleicht auch einmaligen Freiheit, essen zu können, was sie wollen. Zum anderen haben die gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse während des gleichen Zeitraums die ideelle Befreiung von einstmals allgemeinverbindlichen Esssitten mit sich gebracht: Heute unterliegt die Ernährungsweise dieser Menschen kaum noch einer Fremdbestimmung durch kulturelle Tradition, durch Religion, Klassenzugehörigkeit oder Geschlechterzuschreibungen. Das heißt nicht, diese Facetten einer traditionellen Sittlichkeit des Essverhaltens hätten jede empirische Bedeutung verloren. Aber dort, wo sie weiter existieren, müssen sie von den Individuen frei, d.h. eigens erwählt und zur ›Philosophie‹ der eigenen Ernährungsweise gemacht sowie tagtäglich erneuert und aufrechterhalten werden. Die beiden erwähnten historischen Gegebenheiten – materieller Wohlstand und essistenzieller Freiheit – bilden den allgemeinen, gesellschaftlichen Hintergrund dafür, warum unser alltägliches Essen nicht länger ein Reich und Geschmack der Notwendigkeit bedeuten muss, sondern sich damit auch ein geschmackvolles Reich der Freiheit auftut. In der welthistorisch einzigartigen Situation einer solchen täglichen kulinarischen Selbst-Bestimmung tritt die Erfüllung eines uralten, interkulturellen Traumes der Menschheit ein – des Traumes von einem ›Leben im Paradies‹, in einem ›Schlaraffenland‹: der ständigen Verfügbarkeit und Fülle des Essens. Jeder größere ›Supermarkt‹ manifestiert dieses paradiesische Schlaraffenland in der bunten Pracht voller Regale und endloser Warenvielfalt zu erschwinglichen Preisen. Auch ist bekannt, wer in diesem Schlaraffenland lebt und wer das Subjekt dieses Glücks ist: ›wir‹ – die Konsumenten der reichen Länder des Nordens. Niemand anderer als wir selbst bestimmen mit unseren Esssitten tagtäglich mehr oder weniger bewusst darüber, wie wichtig uns die Lebensmittel und Ernährungsfragen sind, welchen lebenspraktischen Stellenwert den kulinarischen Dingen im Alltag verliehen wird, wo wir einkaufen, wann und wie viel wir essen und was wir uns einverleiben, mit wem wir speisen und wie oft und in welcher Form und so weiter. Im wesentlichen Unterschied zu vielen anderen Bereichen unseres Lebens, in denen uns eine vergleichbar selbstbestimmte Lebensgestaltung nicht gegeben und nicht möglich ist, zeichnet sich unse-

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222 | Harald Lemke re Ernährungsweise als das unscheinbare Handlungsfeld einer alltäglichen Freiheitspraxis aus. Und nur unter der gesellschaftlichen Gegebenheit dieses alimentären Freiheitsvermögens eines jeden macht es überhaupt Sinn, ernährungsethische Grundsätze zu formulieren und die Normativität des Themas kritisch im Sinne eines moralphilosophischen Universalismus zu reflektieren. Darüber hinaus lässt sich an dem Faktum dieser Freiheit und der daraus entstehenden Möglichkeit des Vernunftideals einer gastrosophischen Ethik ein weiteres Spezifikum des menschlichen Nahrungsgeschehens ablesen. Bei der Freiheitspraxis unserer Ernährungsweise steht ›jedes Mahl‹ die ›ganze Welt‹ (des Essens) auf dem Spiel: Jeder Essakt entscheidet darüber, wie wir uns zur Ernährungsfrage verhalten; mit jedem Essen nehmen wir Stellung zu den damit verbundenen Selbst- und Weltbezügen und deren ethisch und politisch relevanten Auswirkungen. Denn die Wirklichkeit unserer Ernährungsverhältnisse setzt sich aus nichts anderem zusammen als aus der Gesamtheit aller einzelnen Essakte, die überall in der Welt tagtäglich getätigt werden.

V. Kleine Genealogie der traditionellen Diätmoral Es drängt sich die Frage auf, warum heute die meisten ›Schlaraffenländer‹ so wenig Wert auf eine Ethik des guten Essens legen. Warum nutzen wir unsere Ernährungsfreiheit zumeist nur, um – mit den Worten des französischen Bauern und Gastrosophen José Bové – das »malbouffe«, das »schlechte Essen« zu leben? Meines Erachtens liegt dem moralischen Geschmack des kulturell vorherrschenden schlechten Essens ein kaum hinterfragtes, ernährungsphilosophisches Selbstverständnis zugrunde. Dessen Ursprung findet sich in einer Denkungsart, die über Jahrhunderte hinweg eine Enthaltsamkeit gegenüber einem kulinarischen Genussleben gelehrt und das Essen als mögliche Praxisform eines ethisch guten Lebens entwertet hat. Deshalb möchte ich mit einigen Worten auf die Genealogie dieses diätmoralischen Denkens eingehen, um so die heute vorherrschende Mentalität gegenüber dem Essen zu historisieren.9 Zu diesem Zweck gilt es sich zunächst klar zu machen, dass die merkwürdige Essensvergessenheit in der gegenwärtigen Philosophie alles andere als selbstverständlich ist. Von den griechischen Anfängen über die römische Stoa und das mittelalterliche Christentum bis in die neuzeitliche Philosophie hinein beschäftigten sich die großen Denker durchaus und sogar recht intensiv mit dem Essen. Im Mittelpunkt dieser traditionellen Philosophie des Essens steht allerdings eine weltanschauliche Herabwürdigung des kulinarischen Genusslebens. So erfindet die durch Platon und die christlichen Sittenlehrer entwi9 | Siehe dazu auch den Beitrag von B. Waldenfels in diesem Band.

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ckelte und von Kant fortgesetzte Metaphysik eine dualistische und rationalistische Anthropologie, die den Menschen in zwei ungleiche Seinsweisen zerteilt: in ein sich ernährendes, ›niedriges‹, ›sinnliches Wesen‹ einerseits und in das ›höhere‹, ›rationale Wesen‹ einer Vernunft des Geistes. Mithilfe dieser metaphysischen Polarisierung konnte der diätmoralische Diskurs die ›körperliche Bedürfnisbefriedigung‹ einem Bereich der biologischen Zwänge, der geistlosen Naturnotwendigkeit und vernunftwidrigen Animalität zuordnen. Darüber hinaus gelang es der philosophischen Diätmoral, eine metaphysische Leibverachtung und asketische Genussfeindlichkeit zu etablieren. Von je her vermutet der klassische Rationalismus, neben der triebhaften Sinnlichkeit der Sexualität, gerade in den kulinarischen Lüsten des Essens (und Trinkens) die größte Bedrohung für eine vernunftbegabte Menschheit. Denn während das geistige Wesen und der moralische Wille die Menschen dazu befähige, sich ihrer Vernunft und Freiheit zu bedienen, gehe – der diätmoralischen Vorstellung nach – von den ›leiblichen Bedürfnissen‹ und ›sinnlichen Begierden der Gaumenfreude‹ eine alltägliche Unfreiheit und ein unvernünftiges Vergnügen aus. Daher lautet die magersüchtige Moral der traditionellen Philosophie: Das tägliche Essen – seine Besorgung,seine Zubereitung und sein Verzehr – sei ›gut‹ lediglich als ein Mittel zum funktionellen, physischen Lebenserhalt, als Diät; an sich aber gehörte das Essen nicht zu den zentralen, moralischen Dingen, die Menschen erst zu Menschen machen. Wer hingegen das kulinarische Genussleben als konstitutiven Teil eines guten Lebens (der Praxis, das Gute zu leben) gutheißt, statt sich in asketischen Idealen zu üben, der lebe – dieser philosophischen Tradition zufolge – schlichtweg falsch und bar jeder Vernunft. Denn er gäbe eine mangelhafte Selbstbeherrschung gegenüber der Tugend einer moralisch ›richtigen Ernährung‹ zu erkennen, die in einer rein funktionellen Diät und einer kulinarisch mäßigen Küche bestehe. Diese Diätmoral der Philosophen hat sich im Verlauf des Zivilisationsprozesses der abendländischen Esssitten über alle Bevölkerungsgruppen verbreitet. Daher scheint es sich heute in der allgemeinen Öffentlichkeit ganz von selbst zu verstehen, dass die Art und Weise, wie (gut) wir essen, keine wirklich bedeutende (ethische und politische) Angelegenheit ist, und das Ernährungsthema gegenüber den ›großen‹ Fragen unserer Zeit als unwichtig abgetan werden kann. Darüber hinaus wird das ernährungsphilosophische (diätmoralische, anti-gastrosophische) Selbstverständnis der westlichen Kultur von einer weiteren Wertvorstellung beherrscht:und zwar von der kompromittierenden Verbindung des Essens mit der ›weiblichen Küchenarbeit‹. Hinter der traditionellen Herabwürdigung und Verdrängung der alimentären Angelegenheiten stehen nicht zuletzt patriarchale Herrschaftsverhältnisse. Die Geschichte unserer Esskultur baut auf einem Geschlechterverständnis auf, welches die Hausarbeit und allem voran das Essenmachen zur Frauensache erklärt. Eine über Jahrhunderte eingespielte Denktradition verwei-

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224 | Harald Lemke gert dem, was in der Küche passiert, jede gesellschaftliche Anerkennung und verbannt die kulinarische Tätigkeiten als niedrige Dinge der alltäglichen Lebensnotwendigkeit und biologischen Reproduktion in die Privatsphäre einer weiblichen Häuslichkeit. In dem »gendered linkage« zwischen Frau und Herd ist eine wesentliche Ursache für die philosophische Vernachlässigung und Abwertung der Kochkunst als der möglichen Lebenskunst einer geschlechterneutralen Alltagsethik zu sehen. Bis heute beschäftigt ›mann‹ sich nicht mit dem Essenmachen; allerhöchstens interessiert ›das Essen‹: die bereits – von wem wohl? – zubereiteten Speisen. Kurz: Mit einer doppelten Entwertung des Essens – durch eine rationalistische und patriarchale Weltanschauung – hat die klassische Diätmoral die bislang kaum hinterfragten, philosophischen Grundlagen für das vorherrschende Ernährungsbewusstsein geschaffen. Die entscheidende und ethisch-politisch dringliche Frage, an welchem Punkt und durch welche Strategien die hegemonialen Esssitten zu verändern und zu verbessern wären, kann und muss folglich direkt bei der Philosophie selbst ansetzen: Indem der klassischen Diätmoral ein anderes, ein gastrosophisches Denken entgegengesetzt wird, wird die ebenso alltägliche wie globale Angelegenheit unserer täglichen Ernährungspraxis zum Gegenstand einer Ethik und Politik erhoben.

VI. Politik und Ethik einer vollmundigen Mündigkeit Ein gastrosophisches Denken ist freilich bloß der theoretische Wegbereiter der realen Veränderung, die einer entsprechenden Praxis bedarf. In der Praxis wiederum hängt eine Verbesserung der vorherrschenden Ernährungsverhältnisse in einem hohen Maße von der Politik ab: von gewählten Politikern und anderen Großakteuren, die über staatliche und internationale Gesetze und rechtliche Regelungen einen Großteil der erwähnten kulinaristischen Weltbezüge und Wissensfelder bestimmen.10 Wegen des enormen Einflusses der Politik auf Landwirtschaft, Weltökonomie, Lebensmittelrecht, Geschmacksgüte, Sozialleben, Gesundheit, Forschung usw. betreffen die normativen Konflikte in den jeweiligen Bereichen wesentlich politische Entscheidungen. Hinsichtlich dieser politischen Heteronomie der Ernährungsfrage, d.h. der geringen Wahrscheinlichkeit einer im 10 | Marion Nestle: Food Politics. How the Food Industry influences Nutrition and Health, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2002; Philip McMichael (Hg.): Food and Agrarian Orders in the World Economy, Westport 1995; Ben Fine: The Political Economy of Diet, Health and Food Policy, London: Routledge 1998; FAO (Welternährungsorganisation): Ethics of Food and Agriculture, Rome 2002; Volker Angres/Hutter, Claus-Peter/Ribbe, Lutz: Futter fürs Volk. Was die Lebensmittelindustrie uns auftischt, München: Knaur 2001.

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gastrosophischen Sinne guten Politik, bleibt dem Einzelnen lediglich ein ›kleiner‹ Handlungsspielraum. Doch so stark und umfassend auch immer die Politik die Art und Weise, wie wir uns ernähren, mit beeinflusst: Eine Verbesserung der gesellschaftlich vorherrschenden Ernährungspraxis hängt weder alleine noch vorrangig von ›den Anderen‹ – von politischen Großakteuren und den Kapitalisten der internationalen Lebensmittelkonzerne – ab. Die politischen und ökonomischen Mächte des globalen Nahrungsgeschehens vermögen nichts ohne die Menschen, nichts ohne den so genannten ›Konsumenten‹ und deren Entscheidungen. Man stößt hier auf eine unhintergehbare Gegen-Macht der Subjekte. Denn ebenso wie die Politik nicht ohne Beteiligung der Subjekte regieren können und das Kapital nicht ohne Beteiligung der Subjekte Profite machen kann, so wirken sich die alltäglichen Praktiken deren Esspraxis unmittelbar auf die betreffenden politisch-ökonomischen Machtverhältnisse aus. Innerhalb der existierenden Handlungsspielräume setzt unsere Freiheit, selbst bestimmen zu können, was wir essen, der Politik und den Konzernen reale Grenzen. So ist an der unscheinbaren Angelegenheit des täglichen Essens besonders interessant und viel versprechend, dass jedem die Möglichkeit gegeben ist, im Prinzip jederzeit eine ethische Selbstmächtigkeit zu aktivieren, um die eigene Lebensweise und die damit unauflösbar verbundenen kulinaristischen Weltbezüge zu verändern. Jeder vermag in dem gemeinhin als vernunftunfähig verachteten Lebensbereich des täglichen Essens ein scheinbar kleines, in Wirklichkeit aber unermessliches, weil irreduzibles Quantum der Weltverbesserung zu realisieren. Auch wenn es vielleicht absurd klingen mag und dem gesellschaftlich vorherrschenden Geschmack widerstrebt: Heutzutage ist das Essen wegen seiner Normativität, Globalität und Moralität je schon ein politischer Akt; unsere tagtäglichen, bewusst oder unbedacht vollzogenen Ernährungsentscheidungen gestalten die Welt – so oder so, zum Schlechten wie zum Guten der Welt.

VII. Vernünftiges Einkaufen als Tugend der gastrosophischen Ethik Was würde es in der Praxis erfordern, wenn wir unsere essistenzielle Freiheit zur Verwirklichung gastrosophischer Vernunft einsetzten? Ich möchte hier drei miteinander verbundene Momente einer solchen Alltagsethik ansprechen. Bei diesen drei Praxisformen oder Tugenden des guten Essens handelt sich um den mündigen oder klugen Konsum, um das kreative Selbstkochen und um den konvivialen Lebensgenuss im gemeinsamen Mahlritual. Zur Erläuterung dessen, was hier mit dem Stichwort des klugen Konsums markiert werden soll, sei an eine bislang wenig beachtete Ursprungsszene der westlichen Philosophie erinnert, in der sich Sokrates als ein gas-

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226 | Harald Lemke trosophischer Vordenker zu erkennen gibt. Dabei handelt es sich um jene Begebenheit in einer Marktstraße im antiken Athen, in der Sokrates mit vorgestrecktem Stock einen ihm entgegenkommenden Mitbürger am gedankenlosen Weitergehen hindert, um ihn in ein philosophisches Gespräch zu verwickeln. In diesem Gespräch fragt der verkannte Gastrosoph Sokrates »nach den Einkaufsorten für die jeweiligen Lebensmittel«.11 Er macht mit seiner ungewöhnlichen und vom philosophischen Kanon stets übergangenen Frage nach dem Einkaufsverhalten seines Mitbürgers einen Aspekt des Alltagslebens zu einem philosophischen Thema, das in der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie schon direkt nach ihm wieder völlig in Vergessenheit geriet: Seither hat kein namhafter Denker den Einkauf von Lebensmitteln zum Gegenstand eines theoretischen Nachdenkens erhoben. Stattdessen haben sich Philosophen, wenn überhaupt, dann wie Karl Marx ausschließlich mit der Produktionsseite des Wirtschaftslebens – der ökonomischen Herstellung sowie der politischen Distribution von Lebensmitteln und der damit verbundenen menschlichen Arbeit – beschäftigt. Sokrates fragt jedoch nicht direkt nach der Produktion der Konsumgüter oder der Arbeitskraft, samt der sozialphilosophischen Problematik ihrer Ausbeutung und Entfremdung. Er fragt nach der Kaufkraft und problematisiert damit eher die gesellschaftlichen Zusammenhänge zwischen individuellem Konsumverhalten und politischer Ökonomie. Indem Sokrates danach fragt, wo die Leute einkaufen gehen, problematisiert er an ihrem Verhalten einen gewöhnlich für nebensächlich gehaltenen, in Wahrheit jedoch fundamentalen Sachverhalt: nämlich den alltagsweltlichen Ursprung der weitläufigen Wirtschaftsprozesse. Und diesen Ursprung bilden nicht die Arbeiter und Produzenten, die Masse der Proletarier, sondern die Verbraucher und Konsumenten, die Masse der Kulinarier und deren Lebensmittelauswahl: Die Tag für Tag millionenfach an fast jedem Ort der Welt stattfindende Kleinigkeit des Griffs ins Warensortiment. Jeder dieser Handgriffe und jeder Einkauf stellt eine Vielfalt von konstitutiven Bezügen zur Welt des Essens her. Der triviale Akt des Einkaufens ist ein gigantischer Akt der Weltkonstitution. Weil wir mit jedem Kaufvorgang und Lebensmittelkonsum an unzähligen Fäden des Weltwirtschaftsnetzes ziehen und damit unseren Teil an den weltgesellschaftlichen Lebensverhältnissen weben, ist jeder Einkauf ein zutiefst philosophischer Vorgang, durch den wir uns auf eine ethisch und politisch relevante Weise gegenüber Landwirtschaft, Tierhaltung und Naturnutzung, bäuerliche Arbeitsbedingungen, Handelsstrukturen und Gütertransport, Werbe- und Nahrungsindustrie, gesundheitliche Qualität und Lebensmittelgesetze, gegenüber Arten der kulinarischen Zubereitung und Fragen des Geschmacks, den Einkaufsorten und ihrer Infrastruktur 11 | Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart: Reclam 1998, II, S. 48.

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etc. verhalten. Wie verhält man sich vernünftig im Einkauf? Gastrosophische Vernunft, so muss man sagen, praktiziert heute, wer der Tugend und Pflicht, sich das möglichst Billigste einzuverleiben, verweigert, um in den Genuss sozial- und umweltgerecht produzierter Dinge zu kommen. Mündigkeit und Klugheit im alltäglichen Konsum beweist sich darin, ›das Richtige‹, nämlich im gastrosophischen Sinne gute Produkte, zu wählen. Weit mehr als die in der politischen Philosophie so viel thematisierte Arbeitskraft ist es die unterschätzte Kaufkraft, die gesellschaftliche Realitäten schafft (oder abschafft) und die sich der staatlichen Politik durch eine politische Alltagspraxis bemächtigt. So macht sich das Subjekt eines klugen Einkaufens zu einem mündigen Weltwirtschaftssubjekt und einem politischen Konsumenten, der den kulinaristischen Kreis in eine vernünftige Richtung lenkt. Mit anderen Worten: Die einst von Sokrates aufgeworfene Frage nach dem Einkaufsort verfolgt offenbar die kritisch-aufklärerische Intention, uns unserer ethischen und darin kosmopolitischen (Kauf-) Kräfte bewusst zu werden.

VIII. Das kreative Selbstkochen Wie derjenige, der selbst einkauft und nicht einkaufen lässt, sich jene dem Einkaufsakt inhärente Machtposition sichert, frei wählen zu können, wie die Dinge und welche Dinge produziert werden und welche nicht, so spricht auch für das Selbstkochen ein souveräner Machtzugewinn gegenüber der Welt. Indem man das Essen selber macht und dessen Zubereitung nicht – unbezahlten oder schlecht bezahlten – Anderen überlässt, bringt man sich gewissermaßen an die vorderste Reihe von Arbeits- und Entscheidungsprozessen, die schließlich bestimmen, was man isst und sich einverleibt. Auf diese leicht zugängliche Weise tut sich jedem die ganze Fülle einer kochkünstlerischen Selbst-Bestimmung auf. Indem die übliche Untätigkeit und kulinarische Selbstlosigkeit aufgrund einer alltäglichen Fremdverköstigung (durch Fertigküchen aller Art) von sich gewiesen wird und die Küchenarbeit als eine persönliche Lebenspraxis jenseits der traditionellen Geschlechterrollen aktiviert wird, verwirklicht sich im Selbstkochen-Können ein gastrosophischer Selbst-Bildungsprozess. Denn das kochende Selbst betätigt sich in einer kreativen Gestaltungspraxis, die sich im Umgang mit den kulinarischen Dingen vergegenständlicht und in dieser Vergegenständlichung die eigenen kochkünstlerischen Wesenskräfte realisiert und sich aneignet. Wie die Produktion hier unmittelbar auch den Genuss des Produktes umfasst, so ist das Objekt, also das kreierte Essen, die unmittelbare Betätigung der kreativen Individualität des Kochenden, des kochkünstlerisch tätigen Selbst, welches sich dabei ausbildet und zugleich ins Werk setzt. Das Werk der eigenen Kochkunst tritt dem Selbst nicht entfremdet, als von Fremden Gemachtes, gegenüber. Die im Zubereiteten

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228 | Harald Lemke vergegenständlichte und im Genuss angeeignete (praxologische) Einheit von Subjekt und Objekt, des Kochenden mit dem Gekochten, beinhaltet, dass das kulinarische Selbst in dieser lebendigen Arbeit kreativ (selbst tätig) ist und in den vollen Genuss dieses tätigen Selbst-Seins kommt. Durch das Selbstkochen (worin sich folglich immer auch ein Selbst-Kochen verwirklicht) bildet sich ein Sinn für ›guten Geschmack‹ aus, welcher die Erkenntnis des Guten an ästhetischen und nicht weniger auch an moralischen und politischen Kriterien misst.12 Als eine menschliche Aktivität, in der man sich als kulinarisches Selbst tätig verwirklicht, erweist sich das Essenmachen und Selbstkochen – in Übereinstimmung mit Marx’ Humanismus – als Inbegriff einer freien, unentfremdeten Lebenspraxis. Mit anderen Worten: In der alltäglichen ästhetischen Tätigkeit des Herstellens kulinarischer Genussprodukte wird die individuelle Freiheit und Macht eines kochkünstlerischen Selbst-Seinkönnens voll gelebt.13

IX. Der konviviale Selbstgenuss eines gemeinsamen Mahlrituals Das dritte Praxismoment eines gastrosophisch guten Essens betrifft den konvivialen Lebensgenuss im gemeinschaftlichen Mahl. Weit stärker als das Einkaufen und Essenmachen stehen die Gaumenfreuden eines festlichen Mahls von je her im Zentrum einer volkstümlichen Vorstellung vom ›Guten Leben‹. Danach ist der geteilte und selbstzweckliche Genuss von geschmackvollen Speisen ein Gutes an sich. Während die philosophische Diätmoral diesen kulinarischen Hedonismus bekämpfte, weil sie darin nicht mehr sehen wollte, als ungesunde und unbeherrschte Völlerei, nimmt hingegen die Gastrosophie diese universelle Glücksvorstellung als eine allgemein-menschliche Wertschätzung ernst. Was auch immer ein philosophischer Begriff des guten Lebens sein könnte – jedenfalls scheint dafür dem gemeinschaftlichen Genuss wohlgefälliger Speisen bei einem freundschaftlich-geselligen Zusammensein oder, in Kants Worten, »der guten Mahlzeit in guter Gesellschaft« eine konstitutive Bedeutung zuzukommen.14 12 | Eurotoques: Zurück zum Geschmack, hg.v. Ernst-Ulrich Schassberger, Stuttgart/Leipzig: Hirzel 2004. 13 | Ausführlicher zur kulinarischen Kreativität und Ästhetik des Geschmacks siehe: Harald Lemke, Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld: transcript Verlag 2007. 14 | Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werkausgabe, Bd. VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 567. Vgl. Iris Därmann: »Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalität«, in: Alfred Hirsch/Delhom, Pascal (Hg.), Denkwege des Friedens, Freiburg/München: Alber 2007, S. 364-386. Ausführlicher zu Kants (unbekannter) Gastrosophie und deren

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Das allgemeine Gute einer Tischgesellschaft gründet darin, dass sie über das unmittelbare Wohlbehagen der leiblichen Sättigung hinaus wesentlich den Selbstzweck eines kulinarischen Genießens hat: Für diesen Genuss kommen die beteiligten Tischgenossen zusammen und sie praktizieren in Form des Gemeinschaftsmahls ihr konviviales Wohlleben. Jedes bloß zufällige oder funktionelle Essen mit Anderen (wie Geschäftsessen, Mittagstische, etc.) ist daher etwas grundsätzlich anderes als eine im guten Mahl sich um ihrer selbst willen versammelnde Tischgesellschaft. Als einer täglichen Lebenspraxis hat das gastrosophische Mahlritual auch nichts mit einem besonders aufwändigen Festmahl oder einem außeralltäglichen Gastmahl zu tun. Die gastrosophische Mahlzeit ist vielmehr ein gewöhnliches Alltagsmahl, dessen einzige ethische Anforderung in der Selbstzwecklichkeit einer Lebenslust liegt, die in der Gemeinschaft von Anderen (also mindestens von Zweien) genossen wird. Ein alltägliches Essen mit Anderen, bei dem gemeinsam selbst produzierte Kreationen auf den Tisch kommen, verleiht der persönlichen Kochkunst überhaupt erst den dauerhaften (versittlichenden, habitualisierenden) Sinn und Zweck einer Lebenskunst, die dem kulinarischen Wohl und dem konvivialen Vergnügen dient.15 Im gastrosophischen Mahlritual ist die Ethik und Kultur eines guten Welt-Essens konkrete Alltagspraxis. Die gastrosophische Tischgesellschaft bietet aber nicht nur die Konvivialität eines Sich-gegenseitig-Bekochens und eines gemeinsamen Essensgenusses, sondern sie ermöglicht außerdem eine freie und intersubjektive Beurteilung des Geschmacks. Das gemeinsame Mahl verwirklicht eine unersetzbare Urteilsgemeinschaft und Praxis der (ästhetischen) Geschmacksreflexion. Weil es keine objektive Beurteilungsinstanz oder letztgültige Wahrheit des ›guten Geschmacks‹ gibt, bleibt nur ein Weg, den Relativismus eines rein subjektiven Privatgeschmacks zu umgehen, und dies ist das gemeinsame Mahl, in dem über den Geschmack der Dinge ›gestritten‹ und so ein Konsens (oder Dissens) über die allgemeinfähige Gültigkeit von kulinarisch-ästhetischen Urteilen gewonnen wird. Dem entsprechend findet aufgrund einer alltäglich geglückten Mahlpraxis die individuelle Ausbildung eines – wie man analog zur Terminologie der Kantschen Geschmacksästhetik sagen könnte – sensus aestheticus culinarius, eines geschmacksessHumanitätsideal der Tischgesellschaft siehe Harald Lemke: Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 160-236. 15 | Gemeinschaftliches Tafeln ist mithin eine genussvolle Vollzugsform oder Praxis freundschaftlichen Zusammenseins ebenso wie das Einander-Bekochen und -Bewirten ein (gast-) freundschaftlicher Akt ist: Durch dieses immanente Zusammenspiel (des Gebens und Teilens, eines Seins des Selbst aus dem Anderen) bedingen sich eine Ethik des Essens und eine Ethik des Freundseins wechselseitig; siehe Harald Lemke: Freundschaft. Ein philosophischer Essay, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 185ff.

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230 | Harald Lemke thetischen Gemeinsinns statt. So bewirkt das gastrosophische Mahlritual eine ästhetische Verfeinerung eines allgemeinen Sinns für ›guten Geschmack‹ und zugleich die Lusterfahrung eines kulinarischen Wohllebens oder – noch einmal in Kants Worten gesprochen – den »Genuss einer gesitteten Glückseligkeit«. In der Konvivialität eines gemeinschaftlichen Mahlhaltens tritt deutlicher – sinnlicher – als im Akt des Einkaufens und Essenmachens hervor, dass eine gastrosophische Ethik die Praxisform eines (ethisch) guten Lebens ist, weil die Mahlpraxis das vernünftige Vergnügen eines guten Essens in einer schönen Form erlebbar macht. Doch die Tugenden des klugen Einkaufens und des täglichen Selbst-Kochens und deren ethischen Weltund Selbstbezüge bilden die unerlässlichen Vorleistungen für die kultivierte Tafelfreude. In der Alltäglichkeit dieses hedonistischen Glücks findet die politische Ethik eines guten Welt-Essens ihren Begriff eines gastrosophischen Vernunftvermögens, das sowohl jeder in praxi zu aktivieren vermag als auch tatsächlich zu praktizieren mag, d.h. das jeder auch leben möchte. – Weisen wir also eine philosophische Diätmoral zurück, die uns immer noch eine unbegründete Enthaltsamkeit gegenüber der ergreifbaren Möglichkeit eines vernünftigen, guten Essens vorschreibt und nutzen wir die einmalige Freiheit, uns nicht den Genuss nehmen zu lassen, Gastrosophen und Tischgenossen zu werden! Man kann sich dann vielleicht sogar vorstellen, dass in Zukunft die philosophische Darstellung einer feierlichen Tischgesellschaft auch würdigt, was dabei gegessen wurde, und nicht nur die geistreichen Tischgespräche lobpreist, die währenddessen geführt wurden, wie bei Platons Gastmahl. (Man vergegenwärtige sich für einen Moment den Sachverhalt, dass es sich bei diesem offenkundigsten Dokument eines anti-gastrosophischen Denkens um die Darstellung des Selbstverständnisses einer Tischgesellschaft handelt, welche zusammen mit dem christlichen Abendmahl die westliche Kulturgeschichte am wirkungsmächtigsten geprägt hat.) Hingegen würde die gastrosophische Darstellung einer vernünftigen Tischgesellschaft nicht ausschließlich, wie im platonischen Symposion, von den Reden über den Eros – d.h. über den Gott der Liebe und guten Freundschaft – schwärmen. Mit der gleichen Leidenschaft würde darauf eingegangen werden, wie die Tischgenossen in feinsinnigen Gesprächen über den Gastros – d.h. über den Gott eines guten Welt-Essens – philosophierten. Von einer solchen Gastrosophie erführe die Welt auf vergnügliche Weise vernünftige Dinge über einen richtigen, weltbewegenden Einkauf, über die kunstvolle Zubereitung und den göttlichen Genuss schöner Speisen – als alltäglicher Aktivitäten, ethisch und politisch gut zu leben.

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236 | Harald Lemke Schönberger, Gesa/Spiekermann, Uwe (Hg.): Die Zukunft der Ernährungswissenschaft, Berlin: Springer 2000. Schug, Walter/Léon, Jens/Gravert, Hans Otto: Welternährung. Herausforderung an Pflanzenbau und Tierhaltung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. Schuller, Alexander/Kleber, Jutta Anna: Essen und Trinken historischanthropologisch, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1994. Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, Frankfurt a.M.: Dtv 2000. Setzwein, Monika: Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext, Freiburg: Vs Verlag 2004. Singer, Peter/Mason, Jim: Eating. What we eat and why it matters, London: arrow books 2006. Peter Singer, In Defense of Animals: The Second Wave, Oxford: Blackwell Publishing 2006. Simmel, Georg: »Zur Soziologie des Gastmahls«, in: ders., Freiheit und Individuum, Berlin: Wagenbach 1984, S. 205-211. Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Essen und kulturelle Identität, Berlin: Akademie Verlag 1997. Telfer, Elizabeth: Food for Thought. Philosophy and Food, London: Routledge 1996. Vaerst, Eugen von: Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel (1852), München: Rogner und Bernhard 1975. Wierlacher, Alois/Bendix, Renate (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis, Münster: LIT-Verlag 2008.

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Autorinnen und Autoren | 237

Autorinnen und Autoren

Gerhard Baudy, Dr. phil., geb. 1950 in Zweibrücken, Studium der Gräzistik, Latinistik, Germanistik und Religionswissenschaft in Saarbrücken und Tübingen. Promotion in Tübingen 1977, Habilitation in Kiel 1989. Seit 1994 Professor für Gräzistik an der Universität Konstanz. Wichtige Veröffentlichungen: Exkommunikation und Reintegration. Zur Genese und Kulturfunktion frühgriechischer Einstellungen zum Tod, Frankfurt a.M. 1980; Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik (Beiträge zur klassischen Philologie 176), Frankfurt a.M. 1986; Die Brände Roms. Ein apokalyptisches Motiv in der antiken Historiographie (Spudasmata 50), Hildesheim u.a. 1999; »Metaphorik der Erfüllung. Nahrung als Hintergrundsmodell in der griechischen Ethik bis Epikur«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 25 (1982) S. 768; »Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation, mit besonderer Berücksichtigung der altgriechischen Gesellschaft«, in: B. Gladigow/ H.G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983, S. 131-174; »Der kannibalische Hirte. Ein Topos der antiken Ethnographie in kulturanthropologischer Deutung«, in: Annette Keck/Inka Kording/Anja Prochaska (Hg.), Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften, Tübingen 1999, S. 221-242; »Heiliges Fleisch und sozialer Leib. Ritualfiktionen in antiker Opferpraxis und christlicher Eucharistie«, in: Franz-Theo Gottwald/Lothar Kolmer (Hg.), Speiserituale. Essen, Trinken, Sakralität, Stuttgart 2005, S. 45-68. Iris Därmann, PD Dr. phil., geb. 1963, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturtheorie der Universität Lüneburg; 2005/2006 Visiting Fellow am IFK Wien; SS 2006 Gastdozentin an der Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären« der Universität Konstanz; WS 2006/07 Vertretungsprofessur am Institut für Theater-, Filmund Fernsehwissenschaft der Universität zu Köln; Oktober 2007 – September 2008 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenz-

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238 | Die Tischgesellschaft cluster 16 der Universität Konstanz. Veröffentlichungen: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte (Diss.), München: Fink Verlag 1995; Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie (Habil.), München: Fink Verlag 2005; Figuren des Politischen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009; (hg. mit Bernhard Waldenfels) Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München: Fink Verlag 1998; (hg. mit Christoph Jamme) Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist: Velbrück 2002; (hg. mit Steffi Hobuß und Ulrich Lölke) Konversionen. Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive, New York/Amsterdam: Rodopi 2004; (hg. mit Christoph Jamme) Kulturwissenschaften. Theorien, Konzepte, Autoren, München: Fink Verlag 2007; (hg. mit Kathrin Busch), Pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen München: Fink Verlag 2007; (hg. mit Kathrin Busch), Pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld: transcript Verlag 2007. Tobias Nikolaus Klass, Dr. phil., geb. 1965, Studium der Philosophie in Berlin, Hamburg, Paris und Berkeley, Promotion 2000 bei Bernhard Waldenfels in Bochum. Z. zt. Juniorprofessor am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: neuere französische Philosophie, politische Theorie, Kulturtheorie, Nietzsche. Wichtige Veröffentlichungen: Das Versprechen. Gründzüge einer Rhetorik des Sozialen, München: Fink Verlag 2002; »Jenseits von Ahnen und Erben: Nietzsches Ereignis«, in: Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004; »Politik der Verantwortung. Jacques Derrida und die Frage nach der Praxis«, in: Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hg.), Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips, Frankfurt a.M. 2006. Harald Lemke, PD Dr., geb. 1965, studierte Philosophie und Geschichte in Konstanz, Berkeley und Hamburg. 1999 promovierte er mit einer Arbeit zur Ethik der Freundschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. bei Axel Honneth. 1993-1995 Laureat im Postgraduate Programm der Jan van Eyck Academy for Theory, Design and Fine Arts Maastricht; 2004-2006 Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Japanese Society for the Promotion of Science an der Universität Kyoto; 2006 Abschluss der Habilitation in Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität Lüneburg mit einer Arbeit zur Ethik des Essens. Lehrt dort derzeit als Dozent am Institut für Kulturtheorie. Zu seinen Buchpublikationen zählen: Michel Foucault in Konstellationen, Maastricht: Jan van Eyck Edition 1995; Freundschaft. Ein philosophischer Essay, Darmstadt: Primus Verlag 2000; Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007; Kunst des Essens. Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld: transcript Verlag 2007. Homepage: www. haraldlemke.de

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Autorinnen und Autoren | 239

Gerhard Neumann, geb. 1934, Professuren an den Universitäten Bonn, Erlangen, Freiburg i.Br.; zuletzt Ordinarius für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität München; seit 2002 emeritiert; seit 2005 Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Hauptarbeitsgebiete: Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, vergleichende Literaturwissenschaft, Gattungspoetik, Editionswissenschaft, Kulturwissenschaft; Publikationen zu Goethe, Kleist, Kafka, Canetti, zur deutschen Romantik, zur Methode der Literaturwissenschaft, zu Theorie und Geschichte des Aphorismus, des Epigramms, der Novelle, des Romans, der Lyrik unter komparatistischer Perspektive; Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe und des Hofmannsthal Jahrbuchs; Kurator der Stiftung für Romantikforschung; Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Tadashi Ogawa, geb. 1945, studierte Philosophie an der Universität Kyoto, 1974 Abschluss der Promotion; 1982-1983 Stipendiat der A. von Humboldt-Stiftung an der Bergischen Universität Wuppertal und an der Christian-Albrechts-Universität Kiel; 1975-1976 Forschungsaufenthalt am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln und im Husserl-Archiv der gleichen Universität; 1990 Ernennung zum ordentlichen Professor für Allgemeine und europäische Philosophie an der Staatlichen Universität Hiroshima; April 1991 Berufung zum Ordentlichen Professor für Philosophie an der Graduate School of Human and Environmental Studies der Staatlichen Universität Kyoto; 2002 Erlangung der Doppelmitgliedschaft als ord. Professor an der neu gegründeten Graduate School of Global Environmental Studies der Staatlichen Universität Kyoto. Kurt Röttgers, geb. 1944, Professor für Philosophie an der FernUniversität in Hagen, Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie; Leiter des Christian-Jakob-Kraus-Instituts für Wirtschafts- und Sozialphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Kategorien der Sozialphilosophie (2002); Metabasis (2002); Teufel und Engel (2005); (hg. mit M. Schmitz-Emans): Landschaft (2005); »Sophistisches zu Macht und Unbewusstem«, in: sinn macht unbewusstes, hg.v. U. Kadi u.a. (2005); »Das Leben eines Autors«, in: Dialektik (2005); (mit W. Mack): Gesellschaftsleben und Seelenleben (2007). Marianne Schuller, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Zwischenzeitlich Dramaturgin am deutschen Schauspielhaus in Hamburg und am Bremer Theater am Goetheplatz. Neben den ›klassischen Feldern‹ der Literaturwissenschaft, inklusive Genderforschung, liegen die Forschungsinteressen im Grenzgebiet von Literatur und Wissen (Medizin, Psychiatrie, Anthropologie und Psychoanalyse). Zahlreiche, umfangreiche Veröffentlichungen zu Themen aus diesen Bereichen. Letzte Buchpublikationen (Auswahl): Kafkas Tierleben (in Vorbereitung); Wahn – Wissen – Institution II. Zum Problem einer Grenzziehung (gemein-

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240 | Die Tischgesellschaft sam mit Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer), Bielefeld 2007 (im Druck); Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Annäherungen (gemeinsam mit Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer), Bielefeld 2005; Mikrologien. Philosophische und literarische Figuren des Kleinen (gemeinsam mit Gunnar Schmidt), Bielefeld 2003; Kleist lesen (gemeinsam mit Nikolaus Müller Schöll), Bielefeld 2003; Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung (gemeinsam mit Elisabeth Strowick), Freiburg i.Br. 2001; Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Basel/Frankfurt a.M. 1999; BildKörper. Verwandlungen des Menschen in der Medizin (gemeinsam mit Gunnar Schmidt und Claudia Reiche), Hamburg/Münster 1998; Herausgeberin der Reihe Psychoanalyse (gemeinsam mit Karl-Josef Pazzini und Claus-Dieter Rath) im transcript Verlag, Bielefeld. Bernhard Waldenfels, geb. 1934 in Essen, Studium der Philosophie, Psychologie, klassischen Philologie und Geschichte in Bonn, Innsbruck, München und Paris. Seit 1976 Professor für Philosophie in Bochum, seit 1999 emeritiert. Gastprofessuren u.a. in Hongkong, Louvain-la-Neuve, New York, Prag, Rom und Wien. Veröffentlichungen u.a.: Phänomenologie in Frankreich (1983, 2. Auflage 1998); In den Netzen der Lebenswelt (1985, 3. Auflage 2005); Der Stachel des Fremden (1990, 3. Auflage 1998); Antwortregister (1994, 2. Auflage 2007); Deutsch-Französische Gedankengänge (1995); Topographie des Fremden (1997); Grenzen der Normalisierung (1998); Sinnesschwellen (1999); Vielstimmigkeit der Rede (1999); Das leibliche Selbst (2000); Verfremdung der Moderne (2001); Bruchlinien der Erfahrung (2002); Phänomenologie der Aufmerksamkeit (2004); Idiome des Denkens (2005); Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (2006); Schattenrisse der Moral (2006); Sammelbände zu Derrida, Foucault, Husserl, Merleau-Ponty und Schütz. Mitherausgeber der »Philosophischen Rundschau«.

2008-01-29 12-46-49 --- Projekt: T694.lemke.tischgesellschaft / Dokument: FAX ID 030e169566644696|(S. 237-240) t01_12 autoren.p 169566645008

Edition Moderne Postmoderne Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹ Mai 2008, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-687-8

Claus Pias (Hg.) Abwehr Modelle – Strategien – Medien April 2008, ca. 272 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-876-6

Maria Muhle Eine Genealogie der Biopolitik Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem April 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-858-2

Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.) Nicht(s) sagen Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert März 2008, ca. 316 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-828-5

Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen Februar 2008, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-694-6

Pravu Mazumdar Der archäologische Zirkel Zur Ontologie der Sprache in Michel Foucaults Geschichte des Wissens Februar 2008, ca. 600 Seiten, kart., ca. 45,80 €, ISBN: 978-3-89942-847-6

Martin Nonhoff (Hg.) Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-494-2

Dirk Quadflieg Differenz und Raum Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida 2007, 364 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-812-4

Fabian Goppelsröder Zwischen Sagen und Zeigen Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie 2007, 168 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-764-6

Judith Siegmund Die Evidenz der Kunst Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation 2007, 258 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-788-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnema Derrida zum Andenken 2007, 262 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-510-9

Harald Lemke Die Kunst des Essens Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks 2007, 220 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-686-1

Jens Szczepanski Subjektivität und Ästhetik Gegendiskurse zur Metaphysik des Subjekts im ästhetischen Denken bei Schlegel, Nietzsche und de Man 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-709-7

Ludger Schwarte (Hg.) Auszug aus dem Lager Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie 2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-550-5

Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung 2007, 372 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-565-9

Andreas Niederberger, Markus Wolf (Hg.) Politische Philosophie und Dekonstruktion Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida 2007, 186 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-545-1

Daniel C. Henrich Zwischen Bewusstseinsphilosophie und Naturalismus Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas 2007, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-620-5

Alice Pechriggl Chiasmen Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns 2006, 188 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-536-9

Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie 2006, 288 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-332-7

Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen 2006, 318 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-364-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff 2006, 252 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-443-0

Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida 2006, 232 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-456-0

Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler 2006, 274 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-475-1

Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse 2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-427-0

Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-465-2

Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration 2006, 224 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-441-6

Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik 2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-367-9

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-273-3

Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-325-9

Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-211-5

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