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German Pages 256 Year 2014
SzenoTest Pre-, Re- & Enactment zwischen Theater und Therapie
Inhalt Seite
Céline Kaiser Vorwort
4
13
Ulrich Streeck Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
16
Katja Rothe Soul-Staging: Der Scenokasten und die systemische Therapie
28
Céline Kaiser Auftritt der Toten. Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie
44
59
Ingo Uhlig Schauplätze der Kur. Räume und Objekte in Breuers und Freuds Studien über Hysterie (Anna O. ..., Katharina...)
64
Stefanie Husel Zu Wort kommen – ›Echte Geschichten‹ und ›echte Menschen‹ auf der Bühne
82
JOHANN CHRISTIAN REIL
PHILIPPE PINEL
97
JOSEF BREUER
102
JAKOB LEVI MORENO
Seite
Nicolas Pethes Spektakuläre Fälle
106
Sven Lütticken An Arena in Which to Reenact
116
Heiner Wilharm Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel. Auf den Spuren Diderots
144
170
FRITZ PERLS
174
BERT HELLINGER
Ralf Bohn Agon und Agonie. Das theatrale Opfer
178
Hoffmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser »Vom
Nutzen
flüchtiger
Erscheinungen
und zukünftiger Ereignisse«
202
Eva Plischke Diese Zukunft heißt Ü70-Party. Zukunftsszenarien als performative Praxis im Theater mit Kindern
208
Andreas Spohn Bloomsday – beim Begehen der Orte privater Odysseen wieder aufblühen
228
241
Biobibliographische Angaben
246
Impressum
254
ANDREAS SPOHN
4
Hier steht die Kapitelüberschrift
SzenoTest Ein Vorwort Céline Kaiser
Céline Kaiser
5
Ausgangspunkte Im November 2012 wurde in der Ständigen Vertretung in Dortmund eine Ausstellung eröffnet, die sich unter dem Titel »SzenoTest« mit szenischen Therapieformen seit dem 18. Jahrhundert beschäftigte. Diese Ausstellung war das Ergebnis eines Lehrprojekts, das an der Fachhochschule Dortmund im
Fachbereich
Design
seinen
Ausgang
nahm.
Studentinnen
der
Studiengänge
Film,
Fotografie,
Grafik
sowie Raum- und Objektdesign arbeiteten über einen Zeitraum von drei Jahren immer wieder zusammen, um anhand von Fallgeschichten aus gut zweihundert Jahren Psychotherapiegeschichte die Bedeutung von Zeit- und Raumverhältnissen für szenische Therapiemodelle selbst wiederum szenisch zu erforschen. Der
vorliegende
Band
wirft
einen
›modellhaften‹
Blick
in
exemplarische
Kulissen
der
Geschichte
der
Psychotherapie und dokumentiert zugleich Stationen des Entstehungsprozesses von »SzenoTest«. Darüber hinaus greift er in einer Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen sowie einem Interview mit dem Autoren- und Regieduo Hofmann&Lindholm historische und systematische Fragen auf, die sich stellen, wenn
man
auf
das
Verhältnis
von
Pre-,
Re-
und
Enactment
zwischen
Theater
und
Therapie
reflektiert. Welche Einblicke eröffnen sich, wenn man die Begegnung von Arzt und Patient, von Analytiker und Analysand,
von
Therapeut
und
Gruppe
als
ein
Aufführungsgeschehen
betrachtet,
das
sich
in
seiner
grundlegenden
Dramaturgie
und
Szenographie
beschreiben
lässt?
Wie
blickt
man
auf
die
Geschichte
der Psychotherapie, wenn man sie, wie Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Macht der Psychiatrie vorschlug, als Szenen analysiert – als Szenen, die, anders als Foucault dies meinte, auch eine durchaus theatrale Seite haben?1 Was tut man, wenn man szenische Interventionen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in der Psychotherapie eingesetzt und getestet wurden, selbst wiederum einem SzenoTest unterzieht, in welchem sie als szenische Praktiken vorgeführt und im Rahmen ihrer jeweiligen Settings verortet werden? Wenn man sie aus dem Zusammenhang von klinischen Lehrbüchern und Fallstudien, in dem sie festgehalten, sozusagen wörtlich – im Modus der Einschreibung – szenographiert wurden, herauslöst und stattdessen in ästhetische Kontexte ein- und überführt? Fragen wie diese
spielten
gleichermaßen
im
Produktionsteam
wie
für
die
›flankierende‹
und
kritisch
hinterfragende
künstlerisch-wissenschaftliche
Reflexion
und
Forschung2 eine Rolle, die in Form einer ersten Modellausstellung, in Präsentationen, Vorträgen und auf Workshops zum Zuge kam. 1 2
Michel Foucault, Macht der Psychiatrie, Frankfurt am Main 2005, S. 23. Meine Forschungsarbeit zu den »Szenen des Subjekts. Kulturmediengeschichte der Theatrotherapie um 1800– 1900–1970/2000« wird seit Ende 2007 von der VolkswagenStifung gefördert. Für die Auswahl medizinhistorischer Quellen und die Formulierung medienwissenschaftlicher Fragestellungen bildete mein Fellowship eine wichtige Grundlage
für
das
Projekt
»SzenoTest«.
Allerdings
stellte
sich
schnell
ein
wechselseitiger
Lernprozess
ein,
durch
den meine eigene medien- und wissenschaftshistorische Forschung nachhaltig beeinflusst wurde.
Vorwort
6
Die zweifache Aufgabe des vorliegenden Bandes ist es also, einerseits einen Eindruck von jenem Prozess
zu
vermitteln,
der
unter
dem
Titel
»SzenoTest«
begonnen
und
ein
vorläufiges
Ende
gefunden
hat,
und
andererseits
einen
Reflexionsraum
für
wissenschaftliche
Auseinandersetzungen
mit
Fragen
des
Pre-, Re- und Enactments zwischen den Bereichen von Kunst, Theater und Therapie zu eröffnen. Pre-, Re- und Enactments zwischen Kunst, Theater und Therapie Letzteres mag erstaunen: Schaut man auf die kultur-, theater- und medienwissenschaftlichen Forschungs-, Tagungs- und Publikationsaktivitäten der letzten Jahre, wird schnell deutlich, dass das wissenschaftliche Interesse an Phänomenen des Reenactments seit einigen wegweisenden Ausstellungen und Katalogbänden wie A Little Bit of History Repeated (Berlin 2001)3, History will repeat itself (Dortmund, Berlin 2007)4 und Life, Once more (Rotterdam 2005)5 ungebrochen anhält und auf diese Weise alte Fragen zur Thematik der Wiederholung oder neuere zu den ›Kulturtechniken des Mimetischen‹
(wieder)
beflügelt
hat.
Der
Blick
richtet
sich
dabei
zumeist
auf
Strategien
des
Reenactments
in
künstlerischen Kontexten, deren »Entstehungsherde«, wie jüngst im Sammelband Reenacting History: Theater & Geschichte
von
Günther
Heeg
beschrieben,
als
populärkulturelle
Praktiken
des
Nachstellens historischer Ereignisse oder als eine kritische Auseinandersetzung mit der Performancekunst und
-theorie
des
20.
Jahrhunderts
identifiziert
werden.6 Wir freuen uns, dass wir einen grundlegenden Text zu diesem Thema, Sven Lüttickens eingehende Darstellung über die Entwicklung des Reenactments aus der Modernen Kunst und Alltagskultur des Nachstellens, An Arena in Which to Reenact, in deutscher Übersetzung in diesen Band aufnehmen durften. Doch Praktiken des Reenactments sind auch in einer Reihe weiterer kultureller Kontexte relevant und profilieren
sich
somit
jenseits
der
Performancekunst
und
der
Hobbyistenkultur
aus
anderen
Praxen
und Kulturtechniken; einzelne Publikationen gehen der Beziehung zwischen Reenactments und der christlichen Tradition des Abendmahls oder aber der Bedeutung von Formen der Reinszenierung in der Rechtsprechung nach.7 Auch in dem hier betrachteten Bereich der Psychotherapie, den man 3 4 5 6
7
A Little Bit of History Repeated, Ausst.-Kat. Kunst-Werke Berlin, hg. von John Bock, Tania Bruguera, Jens Hoffmann, Berlin 2001. History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactments in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Ausst.-Kat.
Rotterdam,
hg.
von
Inke
Arns,
Gaby
Horn,
Frankfurt
am
Main
2007. Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Ausst.-Kat. Rotterdam, hg. von Jennifer Allen, Sven Lütticken, Rotterdam 2005. Günther
Heeg,
»Reenacting
History:
Das
Theater
der
Wiederholung«,
in:
ders.,
Micha
Braun,
Lars
Krüger,
Helmut
Schäfer (Hg), Reenacting History: Theater & Geschichte, Berlin: Theater der Zeit, Recherchen 109: 2014, S. 11. Hier sind etwa der Aufsatz von Alexander Schwan, »Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahl«, in: Uta Daur (Hg.): Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen
Céline Kaiser
7
gemeinhin scharf gegenüber dem Feld künstlerischer Praxis abgrenzt, spielen Reenactments eine Rolle. Jene Modelle des künstlerischen Reenactments, welche auf eine detaillierte, historisch genau
arbeitende
Reinszenierung
vergangener
Schlüsselszenen
der
(kollektiven)
Geschichte
abheben,
stehen also selbst in einem grundsätzlichen Verhältnis zu denjenigen Praxen therapeutischer Inszenierung, welche mit Mitteln des Reinszenierens, des Nachstellens und der Vorwegnahme antizipierter Ereignisse arbeiten. Dies gilt vornehmlich dort, wo mit Hilfe des Re- und Preenactments eine Transformation, eine Umschreibung der Ereignisse im Sinne einer Neuausrichtung oder Korrektur der Wahrnehmung oder ähnliche Effekte angestrebt werden.8 Dieser Befund war ein Impuls für die Zusammenarbeit mit dem für Reenactments wie »Die letzten Tage der Ceausescus« (2009/10), »Hate Radio« (2011/12) und zuletzt »Die Moskauer Prozesse« (2013) bekannt gewordenen Regisseur Milo Rau und dem Dramaturgen Jens Dietrich, die im Rahmen von zwei Workshops stattfand. Nähe und Ferne therapeutischer und künstlerischer Reenactments sollten hier ebenso beleuchtet werden wie die
Möglichkeit,
mit
Hilfe
von
Reenactments
selbst
etwas
über
die
szenische
Seite
der
Geschichte
der
Psychotherapie zu erzählen und spielerisch erfahrbar zu machen. In
der
Geschichte
der
Psychotherapie
wurde
und
wird
re-
und
pre-enacted
und
vermehrt
in
den
letzten
Jahren über die theoretische und methodische Bedeutung von Enactments in der therapeutischen Beziehung
reflektiert.
Dabei
sind
durchaus
semantische
Differenzen
in
der
Begriffsverwendung
festzustellen;
auch sind die Bezugsgrößen der reinszenierenden Verfahren selten von überindividueller Tragweite oder gar einem größerem Publikum zugänglich. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten, die eine nähere Betrachtung lohnen. So erschien es als sinnvoll und vielversprechend, den Dialog mit klinischen Praktikern zu suchen und die Frage des Reenactments im Rahmen metatheoretischer Debatten der Psychoanalyse der letzten Jahre
zu
reflektieren.
Beides
war
im
Kontext
der
Ausstellung
ansatzweise
möglich:
durch
das
Gespräch
mit
Besuchern, die größtenteils aus der psychotherapeutischen Praxis kamen, und vor allem mit Hilfe des Eröffnungsvortrags des Klinikers Ulrich Streeck, der in den letzten Jahren die theoretische und methodische Reflexion
von
Formen
der
Reinszenierung
im
Verhältnis
zwischen
Psychotherapeut
und
Patient
für
den
deutschsprachigen Raum maßgeblich vorangetrieben hat.9 Anhand von konkreten Interaktionssequenzen beobachtet er Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer und verdeutlicht auf diese
Weise
die
stets
wechselseitigen,
interaktiven
Handlungsebenen
im
therapeutischen
Geschehen.
8 9
eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 255–271, sowie Cornelia Vismanns Analyse der Medien der Rechtsprechung, Frankfurt am Main 2011, zu nennen, die sich wesentlich auf Verfahren der Reinszenierung bezieht. Beispielsweise ist hier an Reenactments wie das Milgram Re-enactment von Rod Dickinson (2002) oder The Battle of Orgreave von Jeremy Deller aus dem Jahre 2001 zu denken. Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren,
Göttingen
2000;
ders.,
Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop, Stuttgart 2004; ders. und Michael Ermann, Gestik und die therapeutische Beziehung, Stuttgart 2009.
8
Vorwort
Aus
einem
ähnlichen,
durch
praxeologische
Ansätze
der
Soziologie
und
Erving
Goffmans
Interaktions-
und Rahmentheorie geprägten Hintergrund geht die Theaterwissenschaftlerin Stefanie Husel der Inszenierung von Fällen von der anderen Seite nach, nämlich derjenigen der theatralen Kunstpraxis. Dabei nimmt sie vor allem zeitgenössische Theaterformate in den Blick, die mit »echten Menschen« und »wirklichen Fällen« spielen, und fragt danach, auf welche Weise es diesen kommunikativ gelingt, dennoch
einen
theatral-ästhetischen
Rahmen
zu
definieren,
in
welchem
sich
letztlich
alle
Akteure
im
›sicheren Rahmen‹ des ›Als-ob‹ bewegen können. Auch Heiner Wilharm nähert sich dem Spannungsfeld von Mimesis und Repräsentation in seinen Reflexionen
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel. Auf den Spuren Diderots. Dessen Paradoxe sur le comédien wird zum Ausgangspunkt genommen, um den auch für Praktiken des Reenactments virulenten
Komplex
von
Simulation
und
Dissimulation,
von
Szenographie
und
Szenifikation
zu
reflektieren. Dagegen befragt Ralf Bohn therapeutische Szenen und theatrale Heilungserwartungen aus der Perspektive einer psychoanalytischen Medienwissenschaft. Agon und Agonie. Notizen zu einer theatralen Opferlogik – der Titel umreißt bereits Ausgangs- und Fluchtpunkt seiner kritischen Erörterungen, welche die Szene nicht aus einem geschützten Raum des ›Als-ob‹, sondern aus einer tiefgreifenden Agonalität heraus denkt und – in Auseinandersetzung mit antiker theatraler Praxis – auf eine inhärente Verschiebungs- und Opferlogik hinweist. Szenische Forschung im Maßstab 1:12 oder »Theater im Modell« Wie die Anspielung im Titel schon nahe legt, griff die Ausstellung auf ein Modell zurück, das als Testverfahren in der Psychotherapie vor allem bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt wird, auf den sogenannten
Scenotest
von
Gerdhild
von
Staabs,
mit
dem
sich
auch
der
Beitrag
Soul-Staging: Der Scenokasten und die systemische Therapie von Katja Rothe auseinandersetzt. Im Scenotest werden die Probanden aufgefordert, mit vorgegebenen Materialien (Bauelementen, Puppen, Figuren) auf einer Spielplatte eine Szene aufzustellen. Aufbauprozess und Ergebnis werden dabei als Testergebnisse ausgewertet. Dieses aufgreifend, sollten die Szenenmodelle der Ausstellung den Besucher mit Hilfe
von
Spielfiguren
und
Toneinspielungen,
die
über
Kopfhörer
korrespondierende
Fallgeschichten
hörbar machten, zum Nachspielen der jeweiligen Szene im Maßstab 1:12 einladen.
»›Ich habe mit meinen Studenten das unternommen, was ich historische Inszenierungen nennen möchte‹«, hat Albert Köster seine theaterwissenschaftliche Methode der Rekonstruktion um 1900 benannt. Wie Köster mit seinen Studenten habe ich mit ›meinen Studentinnen‹ in »akribischer Lek-
Céline Kaiser
9
türe […] Bild- und Textquellen ergänzt, analysiert und interpretiert« und wie angehende Architekten »am Reißbrett und am Modell den Bau eines Bühnenbildes, das […] An- und Übersicht des Raumes ermöglichen soll«, (re-)konstruiert. Auch unser Interesse war es, mit dem »Blick auf das Modell einer Bühne […] die gegenständlichen Bedingungen des Theaterraumes und den Ablauf der Aufführung vorstellbar und in Miniatur nachvollziehbar [zu machen]. Mit Figuren und Requisiten [wurde] das Geschehen
gleichermaßen
nachgestellt
und
eingeholt
–
in
das
Modell
hineingeholt.«10 Auch für unser Verständnis kommt der Szenographie, den Bühnenräumen der therapeutischen Szenen, eine wichtige Bedeutung zu: Diese sind einerseits konkrete Architektur und Objekt-/Kulissenwelt, die
historische
Situationen
der
Geschichte
der
Theatrotherapie
charakterisieren.
Andererseits
geben
sie in ihrer Form allgemeine Strukturen vor, z. B. wie viele Akteure an einer Szene teilnehmen, welche Funktion sie in dieser einnehmen können sowie deren generelle Möglichkeiten, zu handeln und das Geschehen
zu
beobachten.
Der
Arzt
kann
für
den
Patienten
etwa
ein
sichtbares
Gegenüber
sein,
mit dem er sich direkt auseinandersetzen muss, oder aber hinter dem Sichtfeld des Patienten verschwinden bzw. von vornherein als geheimer Regisseur der Szene unsichtbar bleiben. Der Zuschauerraum kann von der Bühne klar getrennt sein oder es können Übergänge zwischen beiden Sphären angelegt oder die ›Bühne‹ schlicht in der Alltagswelt des Patienten lokalisiert sein. Die Bühne kann auch
doppelt
medial
markiert
werden,
indem
der
Aktionsraum
eines
Gruppentherapiesettings
zugleich als Raum einer Videoaufzeichnung markiert ist und genutzt wird. Die räumlichen Parameter der therapeutischen Bühne und die mit ihnen gesetzten strukturellen Vorentscheidungen geben in hohem Maße vor, was in der therapeutischen Szene wahrnehmbar ist. Die Art und Weise, in der sich die
Akteure
einer
Szene
durch
Mimik,
Gestik,
Stimm-
und
Körperlichkeit,
Blickführung,
technischen
Medieneinsatz und Sprache zueinander verhalten und mit- oder gegeneinander agieren, erzeugt innerhalb
dieses
Rahmens
eine
spezifische
Atmosphäre.
Diese
Atmosphäre
ist
ein
wichtiger
Ausgangspunkt für Anamnese und Therapie des Patienten und war von daher auch für unsere exemplarischen Fallstudien interessant. Doch anders als in Isa Wortelkamps kritischem Rückblick auf die frühen theaterwissenschaftlichen Bemühungen um eine historische Aufführungsanalyse vergangener Inszenierungen ging es uns letztlich nicht darum, »Inszenierungen«, »wie sie nachweisbar zur Zeit ihrer Entstehung wirklich vor sich gegangen«11 waren, zu dokumentieren oder die therapeutischen Begegnungen als solche wieder auferstehen zu lassen. Trotz aller offensichtlichen Nähe des Verfahrens zur »Sherlock Holmes-Kunst der historischen Kritik« (Max Herrmann) wollten wir die historistische Schlagseite reinszenierender 10 11
Isa Wortelkamp, Schreiben mit dem Stift in der Hand, Freiburg 2006, S. 63 f. Ebd.
10
Vorwort
Verfahren nicht noch einmal überbieten, sondern vielmehr in einer Serie von Modellen und Szenenaufbauten,
von
Miniatur-Reenactments,
Theaterspiel
und
Kurzfilmen
eine
strukturelle
Auseinandersetzung mit therapeutischen Rahmungen, Zeiten und Räumen ermöglichen und auf diese Weise den Blick auf die Heterogenität szenischer Arrangements und therapeutischer Settings freigeben. Angezettelt werden sollte auf diese Weise ein mehrfaches Spiel mit jenen Topoi einer Metaphysik der Präsenz, welche die Diskurse über künstlerische Reenactments ebenso wie viele therapeutische Inszenierungen prägen. Denn in letzteren wird die »Verlebendigung des ›toten‹ Vergangenen«, die »Vergegenwärtigung«
vergangener
Szenen,
die
Günther
Heeg
als
Belege
für
das
Wiederaufleben
der
Klaviaturen des Historismus im Diskurs über Reenactments beschrieben hat,12 strukturell und leitmotivisch aufgegriffen. Prominent ist hier das Diktum Sigmund Freuds, das die Notwendigkeit der Übertragung für den psychoanalytischen Prozess herausstreicht, der angewiesen ist auf eine Form der
Wiederbelebung
vergangener
emotionaler
Besetzungen,
auf
»Neuauflagen,
Nachbildungen
von
[…] Regungen und Phantasien«13 in der Beziehung zum Analytiker, damit diese im Zuge der Analyse als Übertragungen kenntlich gemacht und depotenziert werden können: »denn schließlich kann niemand in absentia oder in
effigie erschlagen werden«.14 Das Konzept der Übertragung wurde von Freud bereits in den Studien zur Hysterie eingeführt, mit denen sich die eingehende Lektüre von Schauplätzen der Kur von Ingo Uhlig auseinandersetzt. Freuds Fallgeschichte der Katharina wird dabei mit Josef Breuers Anna O. zusammengelesen und die Funktion von Objekten und szenischen Anordnungen für die raum-zeitliche Architektur und deren komplexe Wiederholungsstruktur offengelegt. Die Wiederbelebung von Toten oder vielmehr Untoten ist in diesem Sinne ein Topos nicht nur des Historismus und aktueller populärer Reenactment-Kulturen, sondern in hohem Maße auch der dynamischen Psychotherapie. Nicolas Pethes folgt der Spur der Wiederbelebung von Toten in seiner literaturwissenschaftlichen Analyse Spektakulärer Fälle. Anhand von Texten Edgar Allan Poes und Samuel Warrens nimmt er rhetorische
Inszenierungen
an
der
Grenze
zwischen
Leben
und
Tod
in
den
Blick
und
fragt
danach,
auf
welche Weise sich Literatur und Wissenschaft zwischen der Konstruktion spektakulärer Sonderfälle und wissenschaftlichen Normdiskursen hin und her bewegen.
12 Heeg, »Reenacting History», S. 11. 13
Sigmund
Freud,
»Bruchstücke
einer
Hysterieanalyse«
(1905),
in:
ders.,
Gesammelte
Werke,
Band
V,
S.
279. 14
Sigmund
Freud,
»Zur
Dynamik
der
Übertragung«
(1912),
in:
ders.,
Gesammelte
Werke,
Band
VIII,
S.
364–374,
hier: S. 374.
Céline Kaiser
11
Wie ich in meinem Beitrag zum Auftritt der Toten argumentiere, lassen sich an dem Leitmotiv der Wiederbelebung Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie unterscheiden.
Diese
generieren
nicht
nur
spezifische
Zeitverhältnisse,
sondern
ihnen
korrespondieren
in
der therapeutischen Praxis auch unterschiedliche Szenenräume. Die so erzeugte Wechselbeziehung von
Raum-
und
Zeitstruktur
wird
anhand
von
Geistergeschichten
seit
dem
17.
Jahrhundert
schlaglichtartig beleuchtet. Mit Fragen nach dem Verhältnis von Pre- und Reenactment beschäftigt sich darüber hinaus nicht nur das
Gespräch
mit
dem
Regieduo
Hofmann&Lindholm,
das
unter
dem
Titel
»Vom
Nutzen
flüchtiger
Erscheinungen und zukünftiger Ereignisse« geführt wurde, sondern auch der Beitrag von Eva Plischke. Sie diskutiert anhand der szenischen Projekte Before Your Very Eyes der Performancegruppe Gob Squad (2011) und Junges Institut für Zukunftsforschung (2013), das sie selbst mit Hamburger Schülerinnen und Schülern zwischen 10 und 16 Jahren durchgeführt hat, das komplexe Verhältnis zwischen Performance und Zukunftsprognose, welches sich im Zusammenhang mit szenisch-medialen Techniken zur Darstellung von Zukunftsszenarien entfaltet und ausstellt. Während die Textbeiträge des Bandes Fragen nach Formen und Praktiken des Pre-, Re- und Enactments
immer
wieder
weiten
und
Gemeinsamkeiten
und
Differenzen
zwischen
künstlerischen
und
therapeutischen Inszenierungen ausloten, konzentriert sich der Katalogteil des Bandes ganz auf die Exploration
von
Raum-
und
Zeitstrukturen
in
der
Geschichte
szenischer
Therapieformen. Die Auswahl der Szenen und damit der Ausstellungsstationen von »SzenoTest« gehorchte weder einer anerkannten
Geschichtsschreibung
der
Drama-
und
Theatertherapie,
noch
behauptete
sie,
Meilensteine der klinischen Psychotherapie oder Diskursstifter theatraler Therapieformen zu versammeln. Sie erfolgte vielmehr zum einen im szenischen Forschungsprozess durch die Studierenden selbst, die sich im Zuge der Arbeit ganz pragmatisch und nach eigenen Interessen für eine Fallgeschichte entscheiden mussten.
Zum
anderen
richtete
sich
unser
Interesse
darauf,
möglichst
signifikante
szenische
Arrangements
aufzugreifen
–
gleichgültig,
wie
fiktiv
oder
durchschlagend
sie
auf
die
weitere
Geschichte
der
Psychotherapie gewirkt haben. So ist eine Reihe von sieben Ausstellungsstationen entstanden, die sich mit Fallgeschichten und szenischen Modellen von Philippe Pinel, Johann Christian Reil, Josef Breuer, Jakob Levi Moreno, Fritz Perls, Bert Hellinger und Andreas Spohn auseinandersetzten. Diese Auswahl erschöpft die zugrunde liegende Fragestellung selbstverständlich keineswegs; unser Wunsch wäre es, dass sie Anregungen gibt für weitere SzenoTests und performative Explorationen des Verhältnisses von Ärzten und Patienten, Analytikern und Analysanden, Therapeuten und Klienten.
12
Vorwort
Danksagungen Schlussendlich ist nach einer langen Produktions- und Redaktionszeit einer Vielzahl von Menschen Dank auszusprechen: Dank für Impulse und Anregungen, Dank für engagierte Mitarbeit und Kritik, Dank
für
konkrete
Unterstützung
–
materielle
wie
immaterielle
- –
und
Dank
für
Nachsicht,
Geduld,
kühlen Kopf in hektischen Zeiten. Mein Dank gilt besonders den Studierenden der FH Dortmund, welche
die
Ausstellung
maßgeblich
gestaltet
(und
auch
fotografisch
dokumentiert)
haben:
Lioba
von
Hardenberg, Victoria Waldhausen, Sandra Cvitkovac, Nadine Isabell Kipka, Linda Appelhans, Magda Semrau, Friederike Sommer, Isabelle Marohn und Ninja Schmaling. Für ihren klaren Kopf und Unterstützung aller Art danke ich Stefanie Husel, die uns als Produktionsassistentin durch die letzten Wochen begleitet hat, unserer Praktikantin Elisabeth Hensges, die sich als großes Talent in der Handhabung von Papiertheatern entpuppte, Milo Rau und Jens Dietrich für ihren Einsatz und ihr offenes Ohr für
Gestaltungsfragen,
dem
Chefdramaturgen
Michael
Eickhoff
und
dem
Theater
Dortmund
für
ihre
Unterstützung,
dem
Sammler
Christian
Gramatzki
für
seine
kostbare
Leihgabe
einer
antiken
Puppenstube und Reinhild Kuhn und Marc Röbbecke von der Ständigen Vertretung/Heimatdesign Dortmund, für technische Hilfestellung und vor allem dafür, dass sie uns kostenlos ihre Ausstellungsräume zur Verfügung gestellt haben. Für das Lektorat danke ich Reiner Raffelt. Ohne die Hilfe meines Mannes hätte es SzenoTest nicht geben können. Mein
Dank
gilt
auch
der
Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität,
Bonn,
ohne
deren
finanzielle
Unterstützung und verwaltungstechnische Begleitung das Ausstellungsprojekt nicht hätte umgesetzt werden können. Namentlich möchte ich hier Jürgen Fohrmann, Elfriede Döring, Hildegard Orth hervorheben sowie Rainer Kolk erwähnen, ohne den ich nie von der Existenz von Anreizmitteln erfahren hätte. Weiterhin danke ich der Fachhochschule Dortmund, die sich für die Finanzierung des PinelFilms engagiert hat und das Ausstellungsprojekt auf vielfache Weise unterstützt hat. Dem transcript Verlag,
insbesondere
Frau
Tönsing,
Herrn
Wierichs
und
Herrn
Kuralt,
danke
ich
für
ihre
flexible
und
freundliche Begleitung der Drucklegung dieses Bandes. Ohne die VolkswagenStiftung – und zwar besonders durch Anja Fließ und Kristina Baae-Lorenz – und ihre langjährige Förderung hätte es weder die Workshops und Vorträge noch diesen Band gegeben. Der offenen und hilfsbereiten Unterstützung durch das Team der VolkswagenStiftung möchte ich daher mit Nachdruck meinen Dank aussprechen.
Johann Christian Reil
[1803] Sandra Cvitkovac (Phase 1), Céline Kaiser (Phase 2)
Johann Christian Reil Sandra Cvitkovac Johann Christian Reil wurde 1759 in Rhaude bei Aurich in Ostfriesland als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Medizin und war als Medizinprofessor, Direktor des Klinikums und Stadtphysikus in Halle tätig. Persönlich im engen Kontakt mit Zeitgenossen wie Goethe, Wilhelm von Humboldt und Wilhelm Grimm war er auch weit über Halle hinaus wissenschaftlich hoch angesehen. Er starb 1813 an Typhus, nachdem er sich federführend um die Versorgung der Verletzten der Befreiungskriege in Leipzig und Halle gekümmert hatte. Stark von aufklärerischen und romantischen Ideen geprägt, schrieb er 1803 seine Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethoden auf Geisteszerrüttungen, eine nicht durch psychotherapeutische Praxis, sondern vielmehr durch ihren spekulativ-philosophischen und programmatischen Charakter geprägte Schrift. In Reils psychiatrischer Anstalt der Zukunft wird von allen an der Therapie Beteiligten ein hohes Maß an Kreativität gefordert. Es
soll auf den psychisch Erkrankten mit psychischen Mitteln eingewirkt werden. Der Patient wird im Zuge seiner Behandlung in immer neue Szenerien versetzt, die ihn von einer anfänglichen totalen Unterwerfung unter das Anstaltsregime Schritt für Schritt wieder zu einem handlungsmächtigen Subjekt machen sollen. Reil schlug vor, dass jedes »Tollhaus« ein »besonders eingerichtetes, durchaus praktikabeles Theater haben könnte, das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre. Auf demselben müszten die Hausofficianten
hinlänglich
eingespielt
seyn,
damit sie jede Rolle eines Richters, Scharfrichters, Arztes, vom Himmel kommender Engel, und aus den Gräbern wiederkehrender Todten, nach den jedesmaligen Bedürfnissen des Kranken, bis zum höchsten Grad der Täuschung vorstellen könnten. Ein solches Theater könnte zu Gefängnissen und Löwengruben, zu Richtplätzen und Operationssälen formirt werden. Kurz der Arzt würde von demselben und dessen Apparat nach den individuellen Fällen den mannichfaltigsten Gebrauch machen, die
Ursprünglich
hatte
die
Fotografiestudentin
Sandra
Cvitkovac
eine
Fotoinstallation
zu
Reils
Rhapsodien entworfen, die aufgrund äußerer Umstände nicht realiesert werden konnte. Für SzenoTest wurde
stattdessen
eine
fiktive
Fallgeschichte
von
Reil
als
Papiertheaterstück
inszeniert.
Phantasie mit Nachdruck und dem jedesmaligen Zwecke gemäsz erregen, die Besonnenheit wecken, entgegengesetzte Leidenschaften hervorrufen, Furcht, Schreck, Staunen, Angst, Seelenruhe u.s.w. erregen und
der
fixen
Idee
des
Wahnsinns
begegnen können.« Die ganze Therapie, wie Reil sie für einen fiktiven
Patienten
entwirft,
beruht
in
hohem Maße auf dem Einsatz szenischer Mittel, die diesen zunächst aus seinen Wahnwelten aufschrecken lassen, in szenische Arrangements als passiven Zuschauer verstricken sollen und ihn einer wahren
Bilderflut
aussetzen,
um
ihn
später dazu zu nötigen, selbst Akteur innerhalb der therapeutischen Inszenierung, handelndes Subjekt zu werden.
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer Ulrich Streeck
Ulrich Streeck
17
In Zusammenhang mit der Psychoanalyse1 von Szenen, Inszenierungen und Darstellungen zu sprechen mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Immerhin hatte Freud2 betont, dass die Psychoanalyse
ein
Gespräch
sei
und
im
Behandlungszimmer
nichts
anderes
vorgehe
als
ein
›Austausch
von Worten‹: In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen
Eindrücken,
klagt,
bekennt
seine
Wünsche
und
Gefühlsregungen.
Der
Arzt
hört
zu,
sucht
die
Gedankengänge
des
Patienten
zu
dirigieren,
mahnt,
drängt
seine
Aufmerksamkeit
nach
gewissen Richtungen, gibt ihm Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder Ablehnung,
welche
er
so
beim
Kranken
hervorruft
...
Das
Gespräch,
in
dem
die
psychoanalytische
Behandlung besteht, verträgt keine Zuhörer; es läßt sich nicht demonstrieren.3 Vermittelt
über
ein
Gespräch
–
ein
Gespräch
besonderer
Art
–
sollte
der
Patient
verdrängte
Erfahrungen
erinnern,
sich
vom
Bewusstsein
ferngehaltene
Wünsche
und
Gefühle
eingestehen
und
auch
verpönte
Fantasien
und
Gedanken
zulassen
können.
Zu
diesem
Zweck
sollte
der
Patient
alles
aussprechen, was immer er bei und an sich bemerkte, während er sich auf der Couch liegend in Anwesenheit des Psychoanalytikers, der außerhalb seines Sichtfeldes saß, selbst beobachtete; er sollte aber nicht handeln, nicht agieren: Der Kranke spricht ähnlich wie im Traume den Ergebnissen der Erweckung seiner unbewußten Regungen
Gegenwärtigkeit
und
Realität
zu;
er
will
seine
Leidenschaften
agieren,
ohne
auf
die
reale
Situation
Rücksicht
zu
nehmen.
Der
Arzt
will
ihn
dazu
nötigen,
diese
Gefühlsregungen
in
den Zusammenhang der Behandlung und in den seiner Lebensgeschichte einzureihen, sie der denkenden Betrachtung unterzuordnen und nach ihrem psychischen Werte zu erkennen. Dieser Kampf zwischen Arzt und Patienten, zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt sich fast ausschließlich an den Übertragungsphänomenen ab.4 1
2 3
4
Im Folgenden lasse ich den klinisch relevanten, aber für die Zwecke dieser Arbeit peripheren Unterschied zwischen Psychoanalyse und Psychotherapie weitgehend außer Acht. Soweit von Psychotherapie die Rede ist, ist damit durchweg analytische Psychotherapie gemeint. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Frankfurt a. M. 1969, S. 43. Wahrscheinlich
hat
Freud
den
Gesprächscharakter
des
Geschehens
im
Behandlungszimmer
betont,
um
sich
vor Unterstellungen und unlauteren Verdächtigungen zu schützen, mit denen der Psychoanalyse zur damaligen Zeit nicht ganz selten begegnet wurde. Sigmund
Freud,
»Zur
Dynamik
der
Übertragung«,
in:
Sigmund
Freud,
Gesammelte
Werke,
VIII,
1912,
Frankfurt
a. M., S. 374.
18
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
Der Analytiker seinerseits war gehalten, sich darauf zu beschränken, dem Patienten dann, wenn er dafür aufnahmebereit zu sein schien, zu sagen, wie er die unbewusste Bedeutung seiner Mitteilungen verstand.
Darüber
hinaus
sollte
der
Analytiker
sich
aber
jeder
Einflussnahme
enthalten
und
schon
gar nicht handeln. Lange Zeit war in der Psychoanalyse die Auffassung vorherrschend, dass Handeln und Erinnern einander ausschließen und Handeln das Erinnern verhindert, somit auch jenes Handeln, das im Dienst von Darstellungen und Inszenierungen steht. Indem der Patient handelte oder agierte, so die damalige Überzeugung, vermied er, sich erinnern zu müssen. Der Begriff ›Agieren‹ wurde dabei in zweierlei Bedeutung
verwendet:
zum
einen
im
Sinn
eines
Verhaltens,
mit
dem
der
Patient
Zuflucht
zu
motorischen Aktionen nahm und mittels ›motorischer Abfuhr‹ gleichsam erledigte, was er doch erinnern sollte, zum anderen im Sinn von Aktualisieren in der Übertragung. Aktualisieren in der Übertragung meinte, dass der Patient mit seinem an motorisches Verhalten gebundenen Handeln frühere Beziehungserfahrungen
in
der
Beziehung
zum
Analytiker
neu
auflegte
und
so
wieder
aktuell
werden
ließ. Die
Vorstellung,
die
mit
dem
Gegensatz
von
Erinnern
und
Bewusstwerden
auf
der
einen
Seite,
Handeln und motorischem Verhalten auf der anderen verbunden war, hat Renik 5 kritisch ein ›protoneurologisches Modell‹ genannt. Damit werde, so Renik, der Zusammenhang von unbewussten Wünschen und
motorischem
Handeln
nach
dem
Muster
eines
Reflexbogens
konzipiert:
Unbewusste
Wünsche
verhalten sich wie Impulse, die entweder einen efferenten Weg von zentral nach peripher einschlagen und in motorisches Verhalten oder Agieren münden, oder sie verlaufen, unterstützt durch das Couchsetting, in afferenter Richtung, stimulieren den sensorischen Apparat von innen her und führen zu
Wünschen,
Gefühlen
und
Fantasien.
Ist
der
psychische
Apparat
eines
Patienten
wenig
strukturiert,
können diesem Modell zufolge Impulse nicht psychisch verarbeitet werden, sondern werden motorisch abgeführt. Ist der psychische Apparat demgegenüber entwickelt, können Impulse psychisch verarbeitet und müssen nicht motorisch abgeführt werden. Folgerichtig haftete Agieren, das mit motorischem Verhalten einhergeht und das vermeintlich gegen das Erinnern gerichtet war, lange Zeit eine pejorative Bedeutung an. Weil es gegen das Erinnern und Bewusstwerden und damit gegen die Ziele der Behandlung gerichtet war, galt es, dieses Agieren nach Möglichkeit zu unterbinden. Anders Agieren im Sinne von Aktualisieren in der Übertragung: Indem der Patient Aspekte von Beziehungserfahrungen, die ins Unbewusste abgedrängt und aus seinen sprachlichen Mitteilungen nicht oder nur bruchstückhaft zu rekonstruieren waren, im Verhältnis zum5
Owen Renik, »Analytic Interaction: Conceptualizing Technique in the Light oft the Analyst’s Irreducible Subjectivity«, in: Psychoanalytic Quarterly LXII (1993), S. 553-571.
Ulrich Streeck
19
Therapeuten in Szene setzte, bot sich angesichts dieses Agierens die Chance, aus dem ›Benehmen‹ des Patienten6 und aus der Rolle, in die er den Therapeuten zu drängen versuchte, Erfahrungen zu rekonstruieren und bewusst zu machen. Wenn der Patient in der Behandlung agiert und damit frühere Erfahrungen in der Beziehung zum Therapeuten dargestellt und in Szene gesetzt werden, ist nichtsprachliches Verhalten meist ein mehr oder weniger ausgedehnt verwendetes Mittel der Darstellung. Vergangene Erfahrungen werden gezeigt, und der Patient stellt mit körperlichen und gestischen Mitteln dar, was sich der sprachlichen Mitteilung gewöhnlich entzieht. Loewald7 hat solches Verhalten ›language action‹ genannt, und ähnlich hat Busch8 von
›action
thoughts‹
gesprochen,
von
Gedanken,
die
sich
im
Handeln
ausdrücken.
Dabei
muss
das
nichtsprachliche Verhalten keine bestimmten Bedeutungen und keine symbolische Funktion haben. Psychotherapie und die Sprache des Theaters Schon lange bevor Begriffe wie ›Darstellen‹, ›in Szene setzen‹, ›Rolle‹ oder ›Inszenierung‹, die der Sprache
des
Theaters
entlehnt
sind,
in
der
Psychoanalyse
zur
Beschreibung
des
Geschehens
im
Behandlungszimmer zu Hilfe genommen wurden, dienten sie in der Soziologie zur metaphorischen Beschreibung von sozialer Interaktion. Dort verweisen sie nicht auf eine zweite, nur nachgemachte, falsche Wirklichkeit, sondern machen kenntlich, dass wir uns immer auch im Hinblick auf die Anwesenheit von
Anderen
verhalten,
deren
Blicke
wir
auf
uns
gerichtet
sehen.
Vor
allem
Erving
Goffman,
der
als
Soziologe das soziale Alltagsleben im öffentlichen Raum zum Thema gemacht und dazu eine eigene Begrifflichkeit
entwickelt
hat,
hat
mit
der
Sprache
des
Theaters
vor
Augen
geführt,
wie
Verhalten
im
öffentlichen
Leben
immer
von
der
Anwesenheit
Anderer
und
deren
Blicken,
der
Gegenwart
eines
Publikums geprägt wird. Nicht umsonst trägt eines seiner weithin bekannten Bücher in der deutschen Übersetzung den Titel »Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag«.9 Verhalten von Akteuren in der Öffentlichkeit ist nicht aus der Subjektivität des Einzelnen und seiner individuellen Identität zu erklären, sondern trägt dem Umstand der Anwesenheit von fremden Anderen und deren Zeugenschaft Rechnung. Akteure verhalten sich im öffentlichen Raum nicht nur, sondern sie stellen sich auch dar. Sie sind nicht nur sie selbst, sondern sie geben sich auch aus als die, als die sie gesehen werden wollen – mit manchen Hilfsmitteln, die ihnen dafür zur Verfügung stehen, von der Kleidung 6
7 8 9
Sigmund
Freud,
»Erinnern,
Wiederholen
und
Durcharbeiten«,
in:
Sigmund
Freud,
Gesammelte
Werke
X ,
1914,
Frankfurt a. M., S. 126-136. Hans W. Loewald, »Psychoanalysis as an Art and the Fantasy Character of the Psychoanalytic Situation«, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 23 (1975), S. 277-299. Fred Busch, »The Compulsion to Repeat in Action: a Developmental Perspective», in: International Journal of Psychoanalysis 20 (1989), S. 535-544. Erving
Goffman,
Wir alle spielen Theater, München 1969.
20
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
bis hin zu einer bestimmten Art und Weise zu reden und sich zu bewegen. Dabei sind Darstellung, Präsentation, Praktiken des Inszenierens und soziale Rollen nicht Ausdruck von Verstellung und falschem Selbst, sondern sind konstitutive Elemente des gesellschaftlichen Lebens. Aber
kann
das
auch
für
das
Geschehen
in
dem
vergleichsweise
intimen
Rahmen
des
psychotherapeutischen Behandlungszimmers gelten? Hier ist der Patient doch gehalten, sich zu zeigen als die Person, die er ist. Er soll seine Mitteilungen gerade nicht zensieren, sondern äußern, was immer ihm in den Sinn kommt und ihm gerade durch den Kopf geht; er soll mitteilen, was er an sich bemerkt, was ihm gleichsam geschieht,
was
sich
einstellt,
und
soll
in
diesem
Sinn
authentisch
sein
und
sein
wahres
Gesicht
zeigen. Pat.: Ich habe am Wochenende immer wieder mal überlegt, wo ich in diesem Jahr gerne Urlaub machen würde. Letztes Jahr – dieser irrsinnig lange Flug und dann eine Enttäuschung nach der anderen. (Schweigen) Meine Eltern sind mit uns immer an die Ostsee gefahren. Das sind schöne Erinnerungen. Da würde ich gerne noch mal hin. (Schweigen) Anke hat überhaupt keinen Sinn für so was. Bei der muss es immer was Exotisches sein. (Schweigen) Na ja, wahrscheinlich gebe ich doch wieder klein bei. So oder so ähnlich mag ein Patient sich äußern. Ihm ist etwas in den Sinn gekommen, er beginnt zu erzählen. Erzählungen sind das vorherrschende Format, in dem Patienten sich in der Psychoanalyse äußern. Erinnerungen kommen ihnen in den Sinn. Sie erzählen von Erfahrungen und von Ereignissen. Im Erzählen werden Erfahrungen rekonstruiert, Vergangenheit wird vergegenwärtigt. Dennoch ist, was der Patient erzählt und mitteilt und wie er das tut, nicht unabhängig von der Anwesenheit des Anderen, des Therapeuten. Er richtet sich an einen Adressaten – nicht nur an einen abwesenden Adressaten seiner Vergangenheit, den er im Therapeuten wiedererleben mag, sondern auch an den realen Anderen, der im Behandlungszimmer präsent ist. Alles, was hier geschieht, trägt auch dessen Spuren und ist eine Koproduktion von beiden, von Patient und Therapeut. Dabei verwenden Patienten nicht nur Worte, wenn sie von früheren Erfahrungen und vergangenen Ereignissen in der therapeutischen Situation berichten, so wie auch Personen im Alltag, die miteinander kommunizieren, sich nicht nur auf sprachlich-lexikalische Mittel stützen.
Ulrich Streeck
21
»Aber was ist dann«, sagt eine Patientin, die an einer Angststörung leidet, auf die Aufforderung des Therapeuten hin, sich doch einmal vorzustellen, wie sie leben würde, wenn sie keine Angst mehr hätte. »Aber was ist dann? Dann läuft das alles so, läuft alles so längs – und mehr ist da dann nicht«. Und während sie so spricht, bewegt sie beide Arme und Hände in einer Weise, die die Spannungsarmut, das Langweilig-Unaufregende eines Alltags ohne Angst höchst anschaulich
ins
Bild
setzt
und
für
das
Gegenüber,
den
Therapeuten,
kenntlich
macht.10 Schon früh hatte Freud die Erfahrung machen müssen, dass manche Patienten seiner Empfehlung, uneingeschränkt mitzuteilen, was ihnen in den Sinn kommt, nur bedingt nachkamen. Sie setzten dem nicht
nur
Widerstände
entgegen,
sondern
was
ihnen
einfiel
und
was
sie
mit
Worten
auszudrücken
versuchten, ließ es oftmals auch nicht zu, auf sinnhafte Zusammenhänge zu schließen und vergangene
Erfahrungen
zu
rekonstruieren.
Gelegentlich
sind
die
Äußerungen
von
Patienten
widersprüchlich,
zerrissen, durchsetzt von Brüchen und Sinnlücken und begleitet von auffälligem körperlichem und gestischem Verhalten. Unter Umständen steht nicht die inhaltliche Bedeutung der Worte im Vordergrund, mit denen die Patienten sich äußern, sondern ihre Erfahrungen drücken sich in der Art und Weise aus, wie sie ihre sprachlichen Mitteilungen gestalten: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, daß er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt. Er erinnert nicht, daß er sich gewisser Sexualbetätigungen intensiv geschämt und ihre Entdeckung gefürchtet hat, sondern er zeigt, daß er sich der Behandlung schämt, der er sich jetzt unterzogen hat, und sucht dies vor allen geheim zu halten usw.11 Man könnte solches Verhalten auch Darstellen im ›Benehmen‹ nennen. Vergangenheit wird nicht erinnert, sondern szenisch dargestellt, in Neubearbeitung wiederaufgeführt. »Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat [...]«, so Freud.12 Erst nach und nach wurde deutlich, dass solches ›Benehmen‹ als eine zwar sprachlose, aber dennoch beredte Informationsquelle zu nutzen ist, indem der Patient das Verhältnis zum Therapeuten nach dem Muster früherer Erfahrungen gestaltete. Argelander13 hat Inszenierungen im Kontext von Erstinterviews beschrieben, die der Patient unter Rückgriff auf eine seelische Funktion gestaltet, der 10 11 12 13
Jürgen Streeck, Ulrich Streeck, Mikroanalyse sprachlichen und körperlichen Interaktionsverhaltens, Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (2000). Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, S. 129. Ebd., S. 129. Hermann Argelander, Das Erstinterview in der Psychotherapie, Darmstadt 1970.
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
22
›szenischen Funktion des Ich‹. In Verbindung mit solchen Szenen hat Argelander von einer »dynamischen Informationsgestalt« gesprochen. Inszenierungen lassen sich als ›gehandelte Botschaften‹ verstehen. Ihr Mitteilungsgehalt ist nicht vorrangig an die inhaltliche Bedeutung von Worten gebunden, sondern kommt in einem bildförmigen Format zum Ausdruck. Auch Erzählungen können Inszenierungen sein – nicht dadurch, was sie erzählen, sondern durch das ›Wie‹ des Erzählens. So hat Bergmann14 unter dem Titel »Reinszenierungen in der
Alltagsinteraktion«
gezeigt,
dass
sich
die
spezifische
Qualität
religiöser
Bekehrungserfahrungen
manchmal weniger darin darstellt, was Erzähler darüber berichten, als vielmehr in der Art, wie der Erlebnischarakter der Konversion dargestellt wird. Die Schwierigkeiten, religiöse Konversionserfahrungen in Worten wiederzugeben, werden dann nicht einfach benannt, sondern die Schwierigkeiten werden
dem
Adressaten
gezeigt
und
für
das
Gegenüber
in
Szene
gesetzt: Ähm - es war so - ich - äh - ich konnt - ich konnt nicht anders, ja - es war - es war einfach – äh ich konnt - ich konnt mich garnicht dagegen wehren oder garnichts dagegen machen; jedenfalls mich hats dann echt - ich konnt bloß noch in die Knie gehen [...].15 Nichts, was hier inhaltlich gesagt wird, lässt das Besondere dieser Erfahrung erkennen. Erst die die Art und Weise, wie das Bekehrungserlebnis dargestellt wird, macht anschaulich, wie schwer diese Erfahrung in Worte zu fassen ist: »Die Nicht-Darstellbarkeit wird nicht benannt, sondern [...] vorgeführt, inszeniert«.16 Nun gehören Konversionserfahrungen nicht zu den Ereignissen, über die in Psychotherapiegesprächen
häufig
berichtet
wird.
Gleichwohl
kann
der
›Austausch
von
Worten‹
auch
im
Behandlungszimmer gespickt sein mit inszenierenden Darstellungen, die auch hier außer mit Worten oftmals mit nichtsprachlichen Mitteln auf die Bühne gebracht werden. Nichtsprachliches Verhalten und Interaktion im Behandlungszimmer Balint17 hatte schon früh betont, dass der Patient im Behandlungszimmer nicht einfach seine psychische Binnenwelt offenbart und sein Verhalten nicht unabhängig von der Anwesenheit des Analytikers und dessen Verhalten zu verstehen ist. Der von ihm angemahnte Weg hin zu einer Zwei-PersonenPsychologie wurde jedoch lange Zeit nicht oder nur zögernd beschritten. So wurden auch szenische 14 15 16 17
Jörg Bergmann, »Reinszenierungen in der Alltagsinteraktion«, in: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren,
Göttingen
2000,
S.
203-221. Bergmann, »Reinszenierungen in der Alltagsinteraktion«, S. 211. Ebd. Michael Balint, Der Arzt, sein Patient und die Krankheit, Stuttgart 1957.
Ulrich Streeck
23
Darstellungen, die doch die Zeugenschaft eines Zuschauers voraussetzen, meist als exklusive Hervorbringungen allein des Patienten aufgefasst, in denen sich dessen individuelle psychische Wirklichkeit
unbeeinflusst
von
der
Präsenz
des
Analytikers
und
dessen
Einfluss
zum
Ausdruck
bringt.
Dementsprechend richtete sich auch die Aufmerksamkeit des Analytikers allein auf die psychische Binnenwelt des Patienten, nicht jedoch auf das ›Zwischen‹,18 19 das intersubjektive Feld zwischen den Akteuren im Behandlungszimmer,20 in dem die szenischen Darstellungen platziert waren. Stattdessen wurde das ›Benehmen‹ des Patienten als Dokument gelesen, das Kunde aus seiner psychischen Binnenwelt bringt und eventuell einen ganz individuellen Sinnzusammenhang erschließt. Das Verhalten brachte vermeintlich unbewusste Aspekte der Beziehung des Patienten zu früheren Liebesobjekten gleichsam monologisch zur Darstellung; der Psychoanalytiker war scheinbar nur deren neutraler Zeuge. Auch die Körperlichkeit des Benehmens des Patienten war scheinbar nur ein nicht-narratives Mittel
des
Ausdrucks
individueller
unbewusster
Konflikte,
Fantasien
oder
Gefühle,
die
sich
in
Worten
nicht
zu
erkennen
gaben,
und
schien
unabhängig
von
jedem
Einfluss
des
Psychoanalytikers
nur
psychische Wirklichkeit offenzulegen. Damit aber wurde das Verhalten, aus dem szenische Darstellungen hervorgehen, seinem intersubjektiven Kontext, in dem es verankert war, entzogen. Tatsächlich sind selbst idiosynkratische körperliche Verhaltensweisen, wie sie manchmal in Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen zu beobachten sind, keine einsamen Produktionen des Patienten,
sondern
verweisen
auf
andere
Personen
und
soziale
Situationen.
Ganz
in
diesem
Sinn
hat
Jacobs21 einen Patienten beschrieben, der als Kind eine schmerzhafte Operation am Ohr über sich hatte ergehen lassen müssen und als Erwachsener auf der Couch des Psychoanalytikers durchweg auf der Seite lag und dabei stets einen Arm schützend über das freiliegende Ohr gestreckt hielt, eine Geste,
die
dem
Schutz
vor
einem
bedrohlichen
Anderen
galt.
Weil ein großer Teil der traditionellen psychoanalytischen Fachsprache mit dem Problem behaftet war, dass sie sich im Rahmen einer Ein-Person-Psychologie entwickelt hatte und darum nicht geeignet
war,
dem
interpersonellen
Charakter
des
Geschehens
in
der
Behandlung
gerecht
zu
werden,
nahmen
Begriffe,
die
auf
das
intersubjektive,
interpersonelle
Geschehen
in
Psychoanalyse
und
Psychotherapie Bezug nehmen, auf Interaktion und soziales Handeln, auf Enactments und szenische Darstellungen, auf Zeigen und Sehen, auf Präsentationen und Selbstpräsentationen, auf dialogisches Handeln und Rollen allmählich mehr Raum ein. Erzählungen sind im Behandlungszimmer nicht das 18 19 20
21
Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München, Zürich 2002. Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1979. Boston
Change
Process
Study
Group
(BCPSG),
Change in Psychotherapy: a unifying paradigm, New York 2010. Theodore Jacobs,»Unbewußte Kommunikation und verdeckte Enactments im analytischen Setting«, in: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren,
Göttingen
2000,
S.
97-126.
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
24
einzige Medium, in dem Erfahrungen vergegenwärtigt werden; Patient und Psychotherapeut stützen sich
nicht
ausschließlich
auf
Worte,
wenn
sie
miteinander
im
Gespräch
sind.
So
wie
im
Alltag
Akteure im Zusammensein mit Anderen außer auf sprachlich-lexikalische auch auf nicht-narrative Mittel zurückgreifen,
um
sich
mit
ihrem
Gegenüber
zu
verständigen
–
aufs
Benehmen,
aufs
Zeigen,
aufs
Inszenieren und Darstellen – tun das auch Patienten und Therapeuten im dialogischen Austausch miteinander.
Nicht-narrative
Ausdrucks-
und
Verhaltensformen
spielen
im
therapeutischen
Geschehen
eine mindestens ebenso große Rolle wie sprachliche Mitteilungen. Dabei sind nichtsprachliche Mittel nicht etwa unreifer und weisen auch nicht auf ein weniger entwickeltes, primärprozessnahes psychisches Funktionsniveau hin, sondern sind ubiquitäre, meist unbewusst eingesetzte kommunikative Mittel, in denen sich implizites Beziehungswissen und damit jenes relationale Unbewusste anzeigt, »[...],
das
keineswegs
an
der
Beziehungsoberfläche
bleibt,
sondern
bis
tief
in
die
mentale
Struktur
hineinreicht«.22 Zu dieser Erkenntnis haben nicht zuletzt klinische Erfahrungen mit der Behandlung von Patienten beigetragen, die ihre Beziehungserfahrungen im Zusammensein mit Anderen zeigen, statt sie mit Worten auszudrücken. Manchmal kann auch der Körper selbst zur Bühne von Darstellungen werden. So hat Joyce McDougall von den »Théâtres du Corps« gesprochen, den Theatern des Körpers – der Körper als Bühne zur Aufführung der »Tragödien und Komödien« psychischer Wirklichkeit.23 Aber auch im Umgang mit dem eigenen Körper taucht die Bezogenheit des Patienten auf den Anderen noch auf, etwa dort, wo die Selbstbeschädigung nicht nur der Spannungsregulierung dient, sondern einen dialogischen Akt in Szene setzt, der eine andere Figur mit meint. Zumal dort, wo unbewusste, abgespaltene oder dissoziierte Beziehungserfahrungen intersubjektiv nicht in Szene gesetzt werden können, wird der Körper leicht zum Austragungsort vergegenwärtigter Beziehungserfahrungen. Mittlerweile
hat
–
insbesondere
unter
dem
Einfluss
intersubjektiver
Ansätze
in
den
Humanwissenschaften
– in der Psychoanalyse eine Auffassung an Bedeutung gewonnen, wonach nicht nur im Fall von Übertragungs-
und
Gegenübertragungsverwicklungen
das
Geschehen
im
Behandlungszimmer
von
Patient
und
Therapeut
gemeinsam
gestaltet
wird,
sondern
alles
Geschehen
die
Spuren
sowohl
des
Patienten
als
auch
des
Therapeuten
trägt
und
in
diesem
Sinn
ein
relationales
Geschehen
ist
und
dialogisch
produziert
wird.
22 23
Martin Altmeyer, »Soziales Netzwerk Psyche«, in: Forum der Psychoanalyse 27 (2000), S. 107-127. Joyce McDougall, Theater des Körpers, zitiert nach Joachim Küchenhoff, »Der Körper als Ort der Beziehungsinszenierung«, in: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren,
Göttingen
2000,
S.
143-160.
Ulrich Streeck
25
Enactments Weil der Begriff des Agierens sich im Laufe der Zeit zunehmend ausgeweitet hatte und schließlich weitgehend
unspezifisch
verwendet
wurde,
sodass
schließlich
suizidales
Verhalten
ebenso
wie
die
Verwendung
von
Gesten
im
therapeutischen
Gespräch
Agieren
genannt
wurden,
hypermotorisches
Verhalten ebenso wie delinquente Aktionen, konnte sich ein Begriff in das psychoanalytische und psychotherapeutische Vokabular einschleichen24 und teils neben den Begriff des Agierens, teils an dessen Stelle treten, der die interaktiven bzw. intersubjektiven Aspekte der therapeutischen Beziehung stärker betonte, der Begriff des Enactments.25 Auch um Enactments zu gestalten, greifen die Akteure im Behandlungszimmer auf nichtsprachliche Mittel zurück. Sie sind das Ergebnis beiderseitigen Handelns von Patient und Therapeut. Während Agieren gewöhnlich die Aktivität meint, wird Enactment als Ergebnis genannt.26 Enactments können unbemerkt und unbewusst koproduzierte nichtsprachlich vermittelte Interaktionen von Patient und Therapeut sein, die für beide eine unbewusste Bedeutung haben.27 Auch das Verhalten eines Patienten, das mit einem korrespondierenden Verhalten oder einer entsprechenden Handlungsbereitschaft auf Seiten des Therapeuten in Verbindung gebracht und von dem angenommen wird, dass es dieses Verhalten induziert oder provoziert hat, kann ein Enactment sein.28 Am Ende einer Behandlungsstunde richtet sich der Therapeut in seinem Sessel auf, stützt beide Arme auf die Lehnen, blickt auf die Uhr, die vor ihm auf einem kleinen Tisch steht, zeigt mit einer
flüchtigen
Körperbewegung
darauf
und
sagt:
»Ich
sehe,
unsere
Zeit
ist
um.
Wir
müssen
jetzt Schluss machen.« Der Patient, der in seinem Sessel mehr bequem liegt als dass er sitzt, bleibt reglos. Seine Körperhaltung erscheint wie eingefroren. In demselben Tonfall wie vor der Aufforderung des Therapeuten, die Stunde zu beenden, schneidet er ein Thema an, von dem bis dahin noch nicht die Rede war: »Und jetzt noch [...]«, und dann erläutert er ungerührt und mit ausholender Rede, was ihn da noch beschäftigt.
24 25 26 27 28
James T. McLaughlin,»Clinical and theoretical aspects of enactment«, in: Journal oft he American Psychoanalytic Association 39 (1991), S. 595-614. Das konnte allerdings nicht verhindern, dass der Begriff, kaum in die Fachdiskussion eingeführt, bald ähnlich unspezifisch gebraucht wurde wie der des Agierens. Douglas H. Frayn,»Enactments: An evolving dyadic concept of acting out«, in: American Journal of Psychotherapy 50 (1996), S. 194-207. Judith Fingert Chused,»The evocative power of enactments«, in: Journal oft he American Psychoanalytic Association 39 (1991), S. 615-639. Ralph E. Roughton,»Repetition and interaction in the analytic process: enactment, acting out and collusion«, in: The Annual of Psychoanalysis 22 (1994), S. 271-286.
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
26
Das ist ein Enactment, eine von Patient und Therapeut gemeinsam ins Bild gesetzte szenische Darstellung. Der Hinweis des Therapeuten auf die fortgeschrittene Zeit und seine Aufforderung, die Stunde zu beenden, hat augenblicklich den Kontext verändert. Unvermeidlich ist das momentane Verhältnis
von
Patient
und
Therapeut
in
den
Vordergrund
des
Geschehens
gerückt.
Mit
allem,
was
er
jetzt tut und wie er das tut, nimmt der Patient, ob er das will oder nicht, mit seinem nächsten Schritt Stellung zu der Aufforderung des Therapeuten, zum Schluss zu kommen – nicht nur mit dem, was er im nächsten Moment sagt und wie er das sagt, sondern auch damit, wie er sich verhält. Nicht nur die Worte von Therapeut und Patient geben zu erkennen, was hier in diesem Augenblick gerade los ist. Eindeutiger
noch
enthüllt
sich
das
momentane
Geschehen dem Blick. Indem der Patient reglos bleibt und nicht einmal mit einem minimalen körperlichen Zeichen reagiert, nimmt er eben damit zu der Aufforderung, die der Therapeut sowohl mit Worten wie mit seinem körperlichen Verhalten kenntlich gemacht hatte, Stellung: Er verhält sich, wie er sich bereits vor der Aufforderung des Therapeuten verhalten hatte, als sei nichts geschehen, und selbst seine Stimme bleibt unverändert. Seine Antwort auf die vorangegangene Aufforderung des Therapeuten bringt er mit einer körperlichen Darstellung zum Ausdruck. Auf
diese
Weise
gestalten
Patient
und
Therapeut
gemeinsam
eine
flüchtige
Szene,
die
sich
dem
Blick
aus einer Dritte-Person-Perspektive unmittelbar erschließt. Im Kontext der Äußerung des Therapeuten,
dass
die
Zeit
um
sei
und
man
zum
Schluss
kommen
müsse,
versteht
der
Betrachter
das
Geschehen, das sich da vor seinen Augen ausbreitet, vermittelt über die Bildförmigkeit der Szene. Patient und Psychotherapeut bringen mit ihrem Verhalten ihr Verhältnis zueinander, ihre momentane Beziehung zur Darstellung, nicht grundlegend anders als in einer Szene auf der Bühne des Theaters.29 Manchmal
sind
szenische
Darstellungen
flüchtige
Miniaturen,
manchmal
aber
auch
ausgedehnte
Aufführungen, die mit Hilfe von Requisiten, die nicht zu den üblichen Elementen von Psychotherapie gehören, auf der Bühne des Behandlungszimmers inszeniert werden: Die Patientin beklagt sich, dass sie mit ihrem Freund nicht reden kann, weil der so gefühlsarm sei. Er habe ihr mal wieder seine übliche »Reklamesendung« geschickt. Während sie das sagt, greift sie neben sich und legt einen prall gefüllten Umschlag vor sich hin. Mit monotoner, 29
Ulrich Streeck, Auf den ersten Blick, Stuttgart 2004.
Ulrich Streeck
27
gelangweilter Stimme sagt sie, dass sie sich im ersten Moment gefreut hätte, Post von ihrem Freund bekommen zu haben, dann aber wütend und traurig geworden sei. Dabei zieht sie – von ihr kommentiert mit »Liebespost« – einen Packen Schriftstücke aus dem Umschlag, blättert sie in den Unterlagen, zieht aus dem Packen einen Brief des Freundes, aus dem sie einen Halbsatz vorliest,
einen
Zeitungsbericht
über
die
Gefahren
des
Rauchens
oder
eine
Rechnung,
die
sie
desinteressiert
als
Dokumente
der
Lieblosigkeit
kommentiert,
nicht
wert,
sich
darüber
Gedanken
zu
machen.
Der
Therapeut
scheint
die
Rolle
des
wortkargen
Richters
zu
übernehmen.
Gelegentliche
Nachfragen scheinen der Vervollständigung der Beweisaufnahme für die lieblose Behandlung der Patientin durch ihren Freund zu dienen. Der Freund hat keinen Verteidiger. Die Szene zieht sich über mehrere Minuten hin. Danach, so scheint es, bedarf es keines Beweises mehr, dass sich das Unglück der Patientin aus einem Mangel an aufrichtiger Zuneigung erklärt. Nur wenig von alledem wird explizit kenntlich gemacht. Worten scheint nur die Funktion knapp gefasster Bildunterschriften zuzukommen. In der Szene verschafft sich nicht nur psychische Wirklichkeit der Patientin Ausdruck. Vielmehr machen zwei Darsteller, Patientin und Therapeut, die interpersonelle Erfahrungswelt der Patientin kooperativ gegenwärtig. Schluss In
der
Perspektive
einer
modernen
Psychoanalyse
verweist
jedes
Geschehen
im
Behandlungszimmer
nicht
auf
eine
abgegrenzte
Psyche
des
Patienten,
sondern
ist
ein
auf
den
Anderen
bezogenes
Geschehen, auf Intersubjektivität hin angelegt. Das gilt auch für die Darstellungen und Inszenierungen, die scheinbar ausschließlich von dem Patienten gestaltet werden. Aber auch szenische Darstellungen sind nicht jenseits des Kontextes der Anwesenheit des Therapeuten und dessen Verhalten zu verstehen. Dabei verwenden Patient und Therapeut keine grundlegend anderen Mittel als die, die Akteure im sozialen
Alltag
verwenden.
Freud
hat
im
Hinblick
auf
das
Geschehen
im
Behandlungszimmer
vom
›Benehmen‹ des Patienten gesprochen, vom Zeigen und vom Reproduzieren als Tat. Danach vollziehen sich Psychoanalyse und Psychotherapie keineswegs nur als ›Austausch von Worten‹, auch dort nicht, wo die narrative Vergegenwärtigung von Erfahrung erklärtes Ziel der Behandlung ist. Mit allem, was sie sagen und wie sie sich verhalten, be-handeln Patient und Therapeut einander wechselseitig. Dabei lassen sich Sprechen und Handeln nicht voneinander trennen, und sie verwenden nicht entweder Worte oder das Format der Tat. Sie kommunizieren mit Worten ebenso wie mit der Art und Weise, wie sie sich dabei verhalten, mitteilend, darstellend, zeigend, inszenierend.
Soul-Staging Der Scenokasten und die systemische Therapie Katja Rothe
Katja Rothe
29
Zu
Beginn
des
20.
Jahrhunderts
entwickelte
Gerdhild
von
Staabs,
leitende
Ärztin
der
neurologischpsychiatrischen
Klinik
Ruhleben,
in
Berlin
den
sogenannten
Scenotest.
Gerdhild
von
Staabs
stellte
zur Realisierung des Tests einen Scenokasten zur Verfügung, den sie persönlich vertrieb und der eine Reihe biegsamer Puppen, Holzbausteine und »der Handlung dienende[s] Zusatzmaterial«1 enthielt. [Abb. 1: »Puppen und Auswahl des Materials«]2 Der Scenokasten wiederum war eine Inspirationsquelle für das Familienbrett von Kurt Ludewig, eine bis heute wichtige Technik systemischer Familientherapie. Im Folgenden soll die Genealogie
der
systemischen
Familientherapie
anhand dieser beiden Techniken, dem Scenokasten und dem Familienbrett, skizziert werden. Obgleich
die
Geschichte
der
systemischen
Therapie
als
Geschichte
verschiedener
Phasen
ky3 bernetischen Denkens erzählt wird, verfolge ich die These, dass die systemische Therapie in einer angewandten
Bildkultur
des
Diagrammatischen
verwurzelt
ist
und
als
eine
Geschichte
der
Praktiken
skizziert werden kann. Das ist insofern überraschend, als die systemische Familientherapie gemeinhin unter dem Blickwinkel ihrer theoretischen Anleihen u. a. bei Konstruktivismus und Systemtheorien betrachtet wird und als eine Therapieform beschrieben wird, die ganz besonders auf Kommunikationsprozesse und
letzthin
auf
Sprache
abzielt.
Denn
eine
der
systemischen
Grundfragen
lautet:
»Wie
wird
in
sozialen Systemen das ›hergestellt‹, was wir gemeinsam mit anderen als Wirklichkeit erleben?« 4, womit Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer, die Verfasser der beiden maßgeblichen Lehrbücher zur systemischen Therapie,5 die »sprachliche Verhaltenskoordination«, das »Reich der Sprache« 1
2 3
4 5
Gerdhild
von
Staabs,
Der Scenotest. Beitrag zur Erfassung unbewußter Problematik und charakterologischer Struktur in Diagnostik und Therapie, Stuttgart 21951, S. 16. Staabs, Scenotest, S. 149. Beispielsweise in den beiden Lehrbüchern von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer. Arist von Schlippe/Jochen Schweitzer (Hg.), Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung,
Göttingen
102007; Arist von Schlippe/Jochen Schweitzer (Hg.), Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen, Göttingen
2012.
Die
beiden
Lehrbücher
unterscheiden
sich
inhaltlich
erheblich. Schweitzer/Schlippe, Lehrbuch systemische Therapie, S. 94. Schweitzer/Schlippe, Lehrbuch systemische Therapie; Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen. Siehe Fußnote 3.
Soul-Staging
30
meinen. 6 Die systemische Familientherapie ist aber im hohen Maße von bildlich-diagrammatischen und performativen Praktiken konstituiert, sowohl in der Konstruktion des Falls – in der »Aufnahme«
werden
mit
dem
Genogramm
Informationen
visualisiert
–
als
auch
in
den
therapeutischen
Sitzungen mit den symbolisch-handlungsorientierten Interventionen, wie beispielsweise Familienskulptur, Familienbrett, Videokonsultation selbst, und auch im sogenannten »Reframing«, der Neubewertung bisher als störend wahrgenommener Verhaltensweisen.7 Die systemische Familientherapie basiert auf einer Verräumlichung von Beziehungen, der Betonung einer sich selbst beobachtenden Beobachterposition und der Aufführung von Verhaltensweisen. Das Bild, die Rolle und das Darstellungsspiel gehören zu den Schlüsselkonzepten der systemischen Familientherapie. 8 Ich schlage also vor, eine neue Perspektive auf die systemischen Techniken des Therapeutischen einzunehmen, die bislang von der Forschung sowohl in den Kulturwissenschaften wie auch der Wissenschaftsgeschichte vernachlässigt wurde. Im Rücken der »großen Fächer« wie Psychoanalyse und dem Feld der Psychiatrie aber hat sich die systemische Familientherapie, heute einfach systemische Therapie, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens etabliert, ist also nicht allein eine nun (seit 2008) wissenschaftlich anerkannte Form der Psychotherapie, sondern wird auch in nicht-therapeutischen Bereichen wie der systemischen Sozialarbeit, der systemischen Organisationsberatung, der Mediation oder des systemischen Coachings eingesetzt. Man könnte sogar so weit gehen, dass die 6
7
8
Ebd. Tatsächlich bezieht sich eine der wichtigsten Methoden der systemischen Familientherapie auf Sprache, das zirkuläre Fragen. Aber auch hier lässt sich wiederum eine Betonung der Beobachtungsposition erkennen und damit eine Verräumlichung und Visualisierung des Frageprozesses selbst; denn das zirkuläre Fragen fragt nicht danach, was jemand gerade fühlt, denkt, vermisst usw. Das zirkuläre Frage richtet diese Frage an einen Beobachter: Was denken Sie, was dieser Mensch gerade fühlt, denkt, vermisst usw. »Verhaltensweisen, Symptome,
aber
auch
die
unterschiedlichen
Formen
von
Gefühlsausdruck
sind
nicht
nur
als
im
Menschen
ablaufende Ereignisse zu sehen, sondern sie haben außerdem immer eine Funktion in den wechselseitigen Beziehungsdefinitionen und Erwartungs-Erwartungen […].« Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen, S. 215. Jede Äußerung, jedes Verhalten wird als im System »aufgeführtes« verstanden, was von Beobachtern beobachtet wird, die Beobachtung der Beobachtung wiederum ist Inhalt der systemischen Therapie. Zum Behandlungsschema der systemischen Familientherapie Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen, S. 225–346. Ein Behandlungsschema könnte folgendermaßen aussehen: 1. Die Aufnahme: Auftragsklärung mit Patient
und
Angehörigen;
Kennenlernen
der
›sozialen
Familie‹:
(Genogramminterview,
Familiengespräch);
Entwicklung des gemeinsamen Fallverständnisses, Therapiezielplanung; 2. Therapie: systemische Einzelgespräche,
Familiengespräche,
Kooperationsgespräche,
Angehörigenvisiten,
systemische
Gruppentherapie;
Besprechungskultur: systemische Intervision, Supervision (hier Skulpturarbeit, Videokonsultation; Live-Supervision und/oder reflektierendes Team usw.), Patient und Angehörige teilweise anwesend; 3. Entlassung: Familiengespräche vor Entlassung: Lesenlassen des Entlassungsbriefs. Zu den verschiedenen Techniken und Instrumenten: Rainer Schwing, Andreas Fryszer, Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis,
Göttingen
52012.
Katja Rothe
31
konkreten
und
handgreiflichen
Techniken
des
Aufstellens
das
gegenwärtige
Verständnis
vom
sozialen
Selbst,
von
Familie
und
Gruppen
maßgeblich
bestimmen.
Gleichwohl
mangelt
es
an
historischkulturwissenschaftlichen
Reflexionen
über
die
Durchsetzung
des
Systemischen
als
eines
kulturellen
Paradigmas eines sozialen Selbst.9 Der Scenokasten Anfang
1938
stellte
Gerdhild
von
Staabs,
eine
Berliner
Kinderpsychologin,
innerhalb
ihrer
therapeutischen Praxis mit verhaltensauffälligen Kindern den Scenokasten zusammen, einen Spielkoffer, in dem Kinder biegsame Puppen fanden, mit denen sie Szenen aus ihrem Familienleben nachstellen sollten.
Von
Staabs
wollte
durch
die
figürliche
Nachstellung,
das
»Reenactment«,
die
sprachliche
Ebene und damit die Hauptaussagequelle Eltern umgehen und den Kindern eine eigene bildliche Darstellungsweise
ermöglichen.
Die
Puppenfiguren
konnten
in
Relation
zueinander
angeordnet
werden
und
stellten die Familienmitglieder dar, ja, konnten sogar über bestimmte Körperhaltungen (Biegsamkeit) Emotionen ausdrücken. Von Staabs stellte den Kindern die Puppen zur Verfügung, um einen eigenen Ausdruck ihrer Ängste und Probleme zu entwickeln. Dabei spielte allerdings die Deutung der Therapeutin eine entscheidende Rolle als Interpretin, als Produzentin von Sinn. Der Scenokasten wird bis heute beispielsweise in Sorgerechtsverfahren eingesetzt, in denen geklärt werden soll, bei welchem Elternteil die Kinder besser aufgehoben sind. Die Hauptaufgabe des Scenokastens liegt und lag in der Diagnostik und nicht in erster Linie in der Therapie. Er ist ein Forschungsinstrument. Von Staabs beruft sich in der Entwicklung des Scenokastens auf Anna Freuds und Melanie Kleins Spieltherapien, vor allem aber auf Margaret Lowenfelds »Weltspiel«10, eine Londoner Ärztin, die in ganz Europa die Entwicklung von therapeutischen Sandspiel-Verfahren inspirierte (z. B. in der Schweiz die
Therapeutin
Dora
Kalff,
in
Schweden
Gösta
Harding,
in
Österreich
Charlotte
Bühlers
»Welt-Test«11, in Frankreich de Beaumonts und Arthus’ »Village Test«).12 9
Zum
sozialen
Selbst
siehe
den
Band:
Thomas
Alkemeyer/Gunilla
Budde/Dagmar
Freist
(Hg.),
Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013. 10 Staabs, Scenotest, S. 14. In Lowenfelds Sandspiel formen Kinder in Sandkästen aus Zinkblech, gefüllt mit Sand und Wasser, verschiedene Szenerien. Lowenfeld entwickelte im Institut for Child Psychology auch andere Tests wie den Mosaik-Test, einen Test mit mehrfarbigen Würfeln, der heute in Intelligenztests eingesetzt wird. Margaret Lowenfeld, Play in Childhood
[1935],
London,
New
York
1991.
Dazu
auch
Alexander
von
Gontard,
Theorie und Praxis der Sandspieltherapie. Ein Handbuch aus kinderpsychiatrischer und analytischer Sicht, Stuttgart 2006. 11
Charlotte
Bühler
entwickelte
das
Sandspielverfahren
aber
ähnlich
wie
Gerdhild
von
Staabs
zu
einem
Test
weiter, in dem Kinder mit Spielmaterial (Menschen, Tiere, Häuser) eine »Welt« entwerfen, die die Therapierenden dann deuten und nach einer Skala bewerten. Charlotte Bühler, Der Welt-Test,
Göttingen
1955. 12 Die Spieltherapie wurde in den 1920er Jahren vor allem von der österreichischen Psychoanalytikerin Hermi-
32
Soul-Staging
Das Spiel, so stellt bereits 1883 Moritz Lazarus heraus, hatte bereits Ende des 19. Jahrhundert Konjunktur.13
Auch
in
den
1920er
Jahren
wurde
es
quasi
als
Gegenfolie
zur
industrialisierten
Welt
und
ihren Zwängen vor allem auch im Kontext der Jugend- und Reformbewegungen vielfach diskutiert. Für von Staabs ist das Spiel in den von den Kindern entworfenen Szenarien dagegen ein Diagnoseverfahren. Sie ging davon aus, dass die Kinder gewissermaßen die »Landschaft« ihres Seelenlebens in den Puppen- und Sandspielwelten abbildeten, die sich dann den Therapierenden zur Interpretation, Diagnostik und Therapie anboten. Das therapeutische Puppenspiel spielte in den 1920er Jahren in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern eine herausragende Rolle, wobei man sich auf Jakob Morenos Psychodrama und dessen Erfahrungen mit theatralen Kinderspielen (auch mit Puppen) in den Wiener
Gärten
bezog.14 Auch von Staabs gibt Jakob Morenos Psychodrama als Quelle an.15 Moreno entwickelte die Methode zwischen 1917 und 1921 im Wiener Augarten anhand der Beobachtung von spielenden Kindern, in deren Spiel er schließlich eingriff und es arrangierte.16 Er forderte die Kinder auf, ihre Lebensumstände nachzuspielen, dann forderte er auch Eltern auf, teilzunehmen. Moreno begreift
dabei
das
Spiel
›klassisch‹
als
Gegenpart
zur
Technik.17 »Es war ein Kindergarten in kosmischen Dimensionen, eine kreative Revolution unter Kindern. […] Ich wollte den Kindern die Fähigkeit zum Kampf gegen Stereotypen, gegen Roboter und für Spontaneität und Kreativität geben.«18 ne Hug-Hellmuth, Leiterin der Erziehungsberatungsstelle in Wien, entwickelt. In den 1930er Jahren nahmen Anna Freud und Melanie Klein den Ansatz auf und entwickelten ihn weiter. Die Spieltherapie basiert auf der Vorstellung, dass die Förderung der Kreativität das Ich stärkt und zur Heilung führen kann. Das Spiel wird also als
Gateway
zum
Unbewussten
verstanden,
der
sowohl
diagnostisch
als
auch
therapeutisch
genutzt
werden
könne. Man unterscheidet direktive (Leitung der Therapierenden) und non-direktive Spieltherapie. Ausführlich:
Herbert
Goetze,
Handbuch der personenzentrierten Spieltherapie,
Göttingen
2002. 13 Moritz Lazarus, Über die Reize des Spiels, Berlin 1983, S. 5. Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky, »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1: Medienanthropologie (2013), S. 133–149, S. 144. 14
Gudrun
Gauda,
Theorie und Praxis des therapeutischen Puppenspiels. Lebendige Psychologie C. G. Jungs, Dortmund 2001; Hilarion Petzold, Puppen und Puppenspiel in der Psychotherapie. Mit Kindern, Erwachsenen und alten Menschen, München 1983; Hilarion Petzold, »Puppen und Puppenspiel in der Integrativen Therapie mit Kindern«,
in:
Hilarion
Petzold/Gabriele
Ramin
(Hg.),
Schulen der Kinderpsychotherapie, Paderborn 1991, S. 427–488. 15 Staabs, Scenotest, S. 14. 16 Vgl. Brigitte Marschall, »Jakob Levy Morenos Theaterkonzept: Die Zeit-Räume des Lebens als Szenenraum der Begegnung«, in: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 4, 2 (2005), S. 229–243, S. 236. 17
Die
Gegenüberstellung
von
freiem
Spiel
und
unfreier
Arbeit
in
einer
industrialisierten
Welt
bestimmte
die
ersten Spieltheorien. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], Reinbek bei Hamburg 1956; Roger Callois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch [1958], München 1966. Vgl. Anm. 13, Deuber-Mankowsky, »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«. 18 Jacob Levy Moreno, Auszüge aus der Autobiographie, hg. von Jonathan D. Moreno, Köln 1995, S. 44.
Katja Rothe
33
Aus zivilisationskritischer Sicht konzipiert er Theaterspiel in der Tradition des Stegreiftheaters,19 einer Form des Improvisationstheaters, das, aus der Commedia dell’arte kommend, gerade auch in Wien, im Alt-Wiener Volkstheater des 19. Jahrhunderts, von großer Bedeutung war, aber vom bürgerlichen Theater missachtet wurde.20 Das Stegreiftheater weist auf das Improvisationstheater des 20. Jahrhunderts voraus (z. B. Boals: Theater der Unterdrückten). Wesentliches Merkmal ist, dass das Stegreiftheater dem Schauspieler/der Schauspielerin die Möglichkeit einräumt, die Rolle improvisierend zu gestalten, der Text tritt hinter der Performance zurück. Was dem bürgerlichen Theater des 18. Jahrhunderts als eine »Verwilderung der Theatersitten« galt und bekämpft wurde (Johann Christoph Gottscheds
Theaterreform),
galt
der
Avantgarde
des
Fin
de
Siècle
als
fortschrittlich
und
innovativ.
Auch die Jugendreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts griffen wieder verstärkt auf Formen des improvisierenden Laienspiels zurück. Moreno versteht das Psychodrama nicht allein als ästhetische Praxis, sondern als theatrale Erkenntnis-
und
Interventionsform.
Er
definierte
es
als
»diejenige
Methode
[…],
welche
die
Wahrheit
der
Seele durch Handeln ergründet«21. Dabei werden Erkenntnisse durch Positionierung und Interaktionen im Theaterraum gewonnen, also über eine Verräumlichung und Prozessualität des Handelns.22 Die
Vorstellung,
das
theatrale
Setting
könnte
ein
Experimentalsystem
zur
Erforschung
von
Gruppen
sein,
findet
sich
in
ähnlicher
Weise
aber
nicht
nur
bei
der
Theateravantgarde
und
im
Psychodrama,
sondern
auch
in
der
deutschen
Soziologie,
z.
B.
bei
Fritz
Giese.
In
dem
Buch
»Girlkultur«23 zeigt er 1925 im Vergleich des Tanzes in Deutschland und den USA fast diskursanalytisch argumentierend auf, wie die Bewegungen bestimmte Erkenntnismöglichkeiten konstituieren.24 19 20
Jakob L. Moreno, Das Stegreiftheater, Potsdam 1924. 1923 gründete Moreno ein Stegreiftheater in Wien. Im Zusammenhang mit der»Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik« im Herbst 1924 plante er sogar die Eröffnung eines eigenen Stegreiftheaters, dessen Bühnen- und Raumarchitektur seinen Vorstellungen entsprechen sollte. Marschall, Morenos Theaterkonzept, S. 238–241. Bereits 1921 experimentierte Moreno im»Wiener Komödienhaus« mit einer happeningartigen dadaistischen Performance mit der Wiener Öffentlichkeit im Sinne eines Stegreiftheaters, scheiterte hier aber. Charakteristisch für seine Form des Theaters war die Abschaffung der passiven Zuschauenden. Moreno war mit der
Zurückweisung
der
Guckkastenbühne
und
Dramentextausrichtung
sowie
der
Forderung
nach
dem
aktiven
Zuschauenden auf der Höhe des Theaterdiskurses der modernen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts. 21 Jacob L. Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama: Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart, New York 2008, S. 77. 22 Moreno, Stegreiftheater, S. 34. 23
Fritz
Giese,
Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925. 24 Dazu auch Katja Rothe, »Economy of Human Movement. Performances of economic knowledge«, in: Perfor-
Soul-Staging
34
Auch der therapeutische bzw. pädagogische Zweck des Theaterspielens hatte Anfang des 20. Jahrhunderts eine breite Anhängerschaft. Vor allem im Umfeld reformpädagogischer Konzepte gewann die Idee von einer theatralen Erziehung hin zum freien, kreativen Menschen an Attraktivität, z. B. im Benjaminschen Konzept eines revolutionären Kindertheaters von 1928.25 Benjamin schlägt entgegen der »erzieherischen Schulung« die »radikale Entbindung des Spiels, dem der Erwachsene einzig und allein zusehen kann«26, vor. Benjamins Idee des Kindertheaters zielt auf die Eröffnung neuer Räume, die nicht vom intentionalen (Selbst-)Bewusstsein gespeist sind, sondern in denen Potentiale durch Intuition körperlich in Improvisationen ausagiert werden können.27 Auch bei Benjamin gibt es die Vorstellung, dass im theatralen Spiel der Kinder Erkenntnis- und Heilpotential liegt. Gerdhild
von
Staab
konzipiert
ein
Spiel-Set,
das
Kindern
der
Möglichkeit
gibt,
»Miniaturwelt«
zu
gestalten
und
zu
bespielen.
Die
Puppenfiguren
ermöglichen
dabei
eine
»stärkere
Distanzierung
vom
eigenen
Erleben« als im Theaterspiel, aber diese Distanzierung eröffnet nur einem noch direkteren Zugang zum »unmittelbar Unbewußte[n]«28 unter Ausklammerung der Bewusstheit. »Affektive Auseinandersetzungen«, die inszeniert werden, bilden das ›unverfälschte‹ Ausgangsmaterial für den »Test«, so nennt von Staabs ihre Untersuchung mittels Scenokasten. Der »Test« sei, so von Staabs, ein »experimentelles Werkzeug«, »um für praktische Zwecke auf kurzem Wege zu einem Urteil zu gelangen«.29 Tatsächlich wird der Scenokasten-Test zu den projektiven Tests (auch Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren oder Deutungstests genannt) gezählt, die interpretationsfähiges Material im Therapieprozess herstellen und dann in Hinblick auf die verborgene Persönlichkeit der Probanden deuten. Hierzu ge-
25
26 27
28 29
mance Research: A Journal of the Performing Arts. Special Issue: On Labour 17, 6 (2012), S. 33–40. Walter Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters (1928)«, in: Walter Benjamin, Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt a. M. 21969, S. 79–86. Dazu Katja Rothe, »Nicht-Machen. Lassen! Zu Walter Benjamins
pädagogischem
Theater«,
in:
Barbara
Gronau/Alice
Lagaay
(Hg.),
Ökonomien der Zurückhaltung – Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010, S. 331–352. Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, S. 84. Andererseits schwingen im Begriff der Innervation ebenfalls psychotechnische und arbeitswissenschaftliche Kontexte mit, die zu eben jener Zeit, in der Benjamin sein Konzept einer revolutionären Pädagogik entwickelt, nicht mehr nur auf die Zurichtung der Körper durch bestimmte Normen (Arbeitsnormen beispielsweise) zielen, sondern auf Selbstregulierung und Selbststeuerung des Verhaltens innerhalb experimenteller Übungen. Zu diesem prekären Begriff grundsätzlich: Tom Holert, »›My phone’s on vibrate for you‹. Über Innervation und vibrotaktile Kommunikation nach Walter Benjamin«, in: Ralf Schnell (Hg.), MedienRevolutionen. Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung, Bielefeld 2006, S. 121–146, hier S. 128. Miriam Bratu Hansen, »Benjamin and Cinema: Not a One-Way-Street«, in: Critical Inquiry 25 (1999), S. 306–343, hier S. 340. Staabs, Scenotest, S. 15. Ebd., Fußnote 1.
Katja Rothe
35
hören z. B. auch der Rorschachtest (1921, Tintenkleckse) und der Wartegg-Zeichen-Test (WZT) (acht Zeichenfelder,
z.
T.
aus
dem
I
Ging
abgeleitet,
werden
weitergezeichnet).
Der
psychologische
Test
ist
das
Genre,
das
seit
1900
die
Etablierung
der
Psychologie
als
wissenschaftliche
Disziplin
begleitet,
wenn
nicht
vorantreibt.
Gerade
die
nicht
standardisierten
Tests
wie
eben der Scenotest haben dabei die Eigenheit, dass sie die Normen, die sie »testen« wollen und die letztlich über die Pathologisierung der Patienten entscheiden, im Test erst herstellen.30 Es gibt keine »richtigen« oder »falschen« Szenarien, sondern interpretationsfähige Szenerien. Die Kinder entwerfen Bühnenbilder, über die im Nachhinein entschieden wird, ob sie noch zum »Normalen« gehören, wobei
als
normal
gilt,
was
am
häufigsten
vorkommt.31 Bereits Rohrschach betrachtete aber auch schon bestimmte abweichende Wahrnehmungen als Originalitätsindikator, bewertete diese positiv und zog damit unversehens die Unterscheidung zwischen psychischer Normalität und Anormalität – die ja getestet werden sollten – selbst in Zweifel.32 Mit dieser Verschiebung hin zum Interesse am »originellen« Verhalten sei, so Andreas Reckwitz, eine »Persönlichkeitstheorie« verbunden, »die nicht mehr bei der Heilung des Kranken, sondern bei der qualitativen Verbesserung des Mittelmäßigen«33 ansetzt. »Es bedarf gerade nicht eines störenden psychischen Symptoms oder einer Abweichung, um die psychologische Arbeit beginnen zu lassen. Es geht vielmehr um die qualitative Verbesserung des normalen,
sozial
angepassten
und
unauffälligen
Verhaltes.
Damit
findet
ein
Strukturwandel
der
psychologischen Subjektivierungstechniken statt: Anstatt das Unerwünschte aufzuspüren und auszumerzen, geht
es
darum,
psychische
Potentiale
zu
mobilisieren,
die
im
Prinzip
unerschöpflich
sind.«34 Reckwitz diagnostiziert diese Subjektivierungstechniken, die auf das Ideal der Selbstentfaltung ausgerichtet sind, in den USA der 1930er und 1940er Jahre. Tatsächlich kann man gerade mit Blick auf den Scenotest und die Spieltherapien bereits im Europa der 1920er Jahre Entsprechendes im Feld
der
Kinderpsychologie
und
-psychiatrie
beobachten.
Grundsätzlich
scheint
das
spielende
Kind
das Idealsubjekt dieser Entwicklung zu sein. So scheint es auch nicht verwunderlich, dass auch das Kinderspiel,
besonders
aber
das
Puppenspiel
im
Genre
des
Kasperletheaters
eine
vergleichbare
Um30 31
32 33 34
Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a. M. 2012, S. 199. »Was eine gute Form ist, bestimmt sich jedoch danach, ob diese Antworten von ›einer größeren Anzahl […] vollsinniger Versuchspersonen am häufigsten gegeben worden war‹.« Rorschach, zitiert nach Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 200. Ebd., S. 200 f. Ebd., S. 217. Ebd.
Soul-Staging
36
wertung erfährt. Das Kasperle scheint Anfang des 20. Jahrhunderts zur Figuration des »normalen« Kindes geworden zu sein. Puppenspiel als Technik der Selbst-Bildung Im Übergang zum 19. Jahrhundert wird aus dem Kasperle, das noch im 18. Jahrhundert als eine Instanz
der
Kritik
des
›gemeinen‹
Volkes
auf
den
Jahrmärkten
sein
Unwesen
trieb,
eine
Gestalt
des medizinischen Diskurses. 35
Das
Kasperle
wird
Gegenstand
psychiatrischer
Beobachtung
und
ärztlicher Diagnose. »Der Suppenkasper« ist das erfolgreichste Kapitel des weltweit bekannten Struwwelpeters, den der Psychiater Heinrich Hoffmann 1844 für die Unterhaltung und die ›Charakterbildung‹ seines Sohn schrieb. Hoffmann, der als leitender Arzt in der Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptische im Feld der Jugendpsychiatrie tätig war, benutzt die Kasperle-Figur, um der Öffentlichkeit die bis dato weithin unbekannte Krankheit der Anorexia nervosa bekannt zu machen.
Gleichzeitig
sollte
der
Text
das
jugendliche
Publikum
erziehend
unterhalten
und
anhand
recht drastischer Bilder zu einem ›normalen‹ Essverhalten anhalten. Der Suppenkasper als die Figuration
des
Anormalen
wird
Gegenstand
wissenschaftlicher
Darstellung
und
erziehendes
E xempel, der beobachtende ärztliche Blick und die »Therapie« greifen hier ineinander über. Das Kasperletheater der Essensverweigerung ist zugleich Ort des Interesses der Psychiatrie wie Feld ärztlicher Interventionen. Das Kasperle wird dabei zur Figuration des Anormalen im Normalen. Das neue psychiatrische Wissen umkreist das Kasperle nicht mehr als Einzelnen, der außerhalb der Norm steht und sich gegen die Disziplin stellt, sondern als einen bestimmten Typ von Anormalität, als eine Form der zu beobachtenden Abweichung, die die Kindheit befällt und der von Seiten der ›Experten‹ (Pädagogen, Theologen, Ärzte und Eltern) entgegenzuwirken ist. Als ›Kinderbuch‹ mäanderte die Figuration der psychiatrischen Intervention der Normalisierungsmacht in den Alltag der Heranwachsenden und erlangte eine enorme internationale Popularität. Seinen
Triumphzug
als
pädagogische
Paradefigur
bürgerlicher
Erziehung
tritt
das
Kasperle
Anfang
des 20. Jahrhunderts an, als Max Jacob, Anhänger der Wandervogelbewegung, es zur Figur seines reformpädagogisch inspirierten und volkstümlichen Puppentheaters machte. Der so genannte Hohnsteiner Kasper bekommt durch Jacob sowohl das Aussehen als auch den erzieherischen Schliff, den er bis heute – beispielsweise in der Augsburger Puppenkiste – hat. Dieses neue, freundlichere Kasperle ist zumeist (wie schon der Suppenkasper) selbst ein Kind, ist nicht mehr derb und grob, sondern lustig und witzig, manchmal auch naiv, aber immer ein durchweg positiver, sympathischer Held. Wie 35
Dieser Abschnitt ist sinngemäß meinem Aufsatz zu Walter Benjamins Hörspiel »Radau um Kasperl« von 2009 entnommen. Katja Rothe, »Die Schule des Entzugs. Walter Benjamins Radio-Kasper«, in: Sinnhaft. Strategien des Entzugs 22 (2009), S. 74–89.
Katja Rothe
37
der Suppenkasper bewohnt das Hohensteiner Kasperle den Alltag der Kinder und treibt nicht mehr auf den Jahrmärkten sein Unwesen. Der Kasper der Moderne steht ganz offensichtlich im Dienste der Erziehung des zu bessernden Individuums: Es gibt inzwischen den Polizei- oder Verkehrskasper (Hans Krause
aus
Hamburg),
den
Feuerwehr-,
Zahnputz-,
Geldspar-
und
Umweltkasper.
Das Hohensteiner Kasperle ist dabei nicht mehr Figuration des Anormalen, von der sich abzugrenzen
ist,
sondern
hat
im
performativen
Spiel
der
Normalisierung
selbst
Platz
genommen.
Ganz
im
reformpädagogischen Sinne leitet es durch seine Abenteuer zur Selbsttätigkeit an, ist eine Figur der Selbst-Einübung durch Beobachtung und nicht der autoritären Unterweisung oder Abschreckung. Die Performativität von Handeln und Erleben steht im Vordergrund einer experimentellen »systemischen« Erschließung der Welt. Eingedenk
dieser
Kasperle-Geschichte
ist
der
Scenokasten
in
einem
pädagogisch-medizinischen
Feld
der Kinderpsychiatrie und vor allem der Kindererziehung platziert, das sich seit dem 19. Jahrhundert der Puppenspiele bedient. Das darstellende Spiel mit Figuren gelangt Mitte des 20. Jahrhunderts über den Scenokasten in das Arrangement des Familienbretts, eine Technik, die heute noch sowohl in systemischer Psychotherapie als auch Beratung angewandt wird. Ludewig bezieht sich dezidiert auf
Gerdhild
von
Staabs
Scenotest
als
eine
Inspirationsquelle.36 Kurt Ludewigs Familienbrett: Familien aufstellen Das Familienbrett wurde von Kurt Ludewig, einem Pionier der systemischen Therapie im deutschsprachigen Raum,37 1978 entwickelt.38 Es bildet die Beziehungen in der Familie nicht mit Hilfe von Puppen
wie
von
Staabs
Scenokasten
ab,
sondern
will
diese
mittels
wenig
strukturierter
Holzfiguren
auf einem 50 x 50 cm großen Brett sichtbar machen. Ludewig greift in seinen theoretischen Texten auf Konzepte der Autopoesis von Humberto Maturana39 und die Systemtheorie Niklas Luhmanns 36
Kurt
Ludewig/Katrin
P flieger/Ulrich
Wilken/Gabriele
Jakobskötter,
»Entwicklung
eines
Verfahrens
zur
Darstellung von Familienbeziehungen: Das Familienbrett«, in: Familiendynamik 8 (1983), S. 235–251, http://kurtludewig.de/Downloads/14%20Familienbrett%20Original%201983.pdf (Stand 23. 8. 2013), S. 1. 37 Sein 1992 erschienenes Standardlehrbuch Systemische Therapie wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Kurt Ludewig, Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis, Stuttgart 1992. 38 Ludewig, »Entwicklung eines Verfahrens»; Kurt Ludewig/Ulrich Wilken (Hg.), Das »Familienbrett«. Ein Verfahren für die Forschung und Praxis mit Familien und anderen sozialen Systemen,
Göttingen
2000. 39 Vor allem auf Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, The Tree of Knowledge: The Biological Roots of Human Understanding, Boston 1987. Kurt Ludewig war Übersetzer der deutschen Ausgabe von Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, München 1987.
Soul-Staging
38
zurück und formuliert aus beiden in Hinblick auf das »Phänomen des face-to-face Interagierens mit Leidenden« das so genannte »Mitgliedskonzept«.40 »Das Mitglied entsteht beim Vollzug der kommunikativen Operationen in einem bestimmten sozialen System, und es existiert nur so lange, wie diese Operationen andauern. Mitglied, Kommunikation, Sinn
und
mithin
soziales
System
sind
voneinander
untrennbare
Gebilde;
ihre
Existenz
ist
an
die
Existenz
der
jeweils
anderen
gebunden.
[…]
Soziale
Systeme
lassen
sich
hiernach
definieren
als
Komplexe von Mitgliedern und ihren Operationen (Kommunikationen) in Hinblick auf einen Sinn.«41 Und diese sozialen Systeme können auch von »Problemen« erzeugt werden. Denn nach Ludewig (und in Anschluss
an
Harry
Goolishian)
haben
»nicht
soziale
Strukturen
(Familien,
Ehen
usw.)
Probleme«,
sondern
»Probleme [erzeugen] soziale Strukturen«.42
Das
»Problemsystem«
definiert
sich
also
nicht
durch
irgendwelche Sachverhalte, sondern über »die darüber etablierte und dauerhaft konservierte Kommunikation«.43 Die Therapie mittels Familienbrett setzt somit nicht an der Darstellung eines Problems an, sondern fokussiert auf die Mitglieder, die dieses Problemsystem im Interagieren konstituieren.44 Ludewig nimmt also von Staabs die Distanzierung vom Schauspielen durch die Probanden (z. B. bei Moreno) auf und radikalisiert sie,
indem
nunmehr
schematisierte
Holzfiguren
»auftreten«
und
der
Brettspielcharakter
betont
wird.
Ludewig konzipiert das Brett dabei als eine Spielform des Soziogramms.45 Das Soziogramm wiederum wurde ebenfalls von Jacob Moreno entwickelt. Er entwarf Anfang der 1930er Jahre in den USA während seiner Arbeit als Leiter eines Wieder-Erziehungsinstituts für junge Mädchen in Hudson im Staat New York und unter Bezug auf »Bildpraktiken der Chemie in einer Form von fröhlichem Parasitentum« 46 das Soziogramm als ein »soziales Atom«. Das Soziogramm 40
Kurt Ludewig, »Das Problemsystem. Eine Alternative zu den Konzepten medizinischer Psychopathologie und sozialwissenschaftlicher Devianz«, in: Standpunkt: sozial 1 (1991), S. 23–28, in: http://www.kurtludewig.de/ Downloads/50%20Problemsystem%201990.pdf (Stand 24. 8. 2013), S. 4–5. 41 Ebd., S. 5. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 6. 44
Siehe
auch
Gerhard
Walter,
»Lösungsorientierte
und
narrative
Ansätze
in
der
systemischen
Therapie«,
in:
Andrea
Brandl-Nebehay/Billie
Rauscher-Gföhler/Juliane
Kleibel-Arbeithuber
(Hg.),
Systemische Familientherapie. Grundlagen, Methoden und aktuelle Trends, Wien 1998, S. 88–106, S. 95. 45 Ludewig, »Entwicklung eines Verfahrens«, S. 1. 46
Sebastian
Gießmann,»Ganz
klein,
ganz
groß.
Jacob
Levy
Moreno
und
die
Geschicke
des
Netzwerkdiagramms«,
in: Ingo Koester/Kai Schubert (Hg.), Medien in Raum und Zeit. Maßverhältnisse des Medialen, Bielefeld 2009, S. 267–292, S. 271.
Katja Rothe
39
verstand
er
als
Technik
einer
psychologischen
Geografie 47, stellte es erstmals 1934 in dem sozialutopischen Buch »Who Shall Survive? A New Approach to the Problem of Human Interrelations« vor. Das Soziogramm ist eine diagrammatische Abstraktion von Beziehungen und treibt also solches eine Wissensgenerierung voran. 48 Nach Peirce unterscheiden sich nämlich »Diagramme von Bildern und Metaphern, weil sie nicht Qualitäten von Objekten zur Darstellung bringen (Bilder) oder Ähnlichkeiten zwischen Objekten herstellen (Metaphern), sondern weil sie Relationen des Bezugsobjekts repräsentieren. Diagramme sind Zeichen, die Relationen, Strukturen, Funktionslogiken und Ereignisfolgen anschaulich machen. Ihre Besonderheit besteht dabei darin, in dem Prozess
der
Veranschaulichung
zugleich
die
Möglichkeit
zur
Rekonfiguration
der
diagrammatischen
Zeichenkonfiguration
zu
eröffnen.
Dies
macht
Diagramme
zu
Medien
des
anschaulichen
Denkens, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern ein Erkenntnispotential bereitstellen.« 49 Matthias Bauer und Christoph Ernst sprechen deshalb von der Diagrammatik als einem »Entwurfs- und Erkenntnisverfahren« 50, welches über das konkrete Diagramm hinaus auch andere Techniken »des schlussfolgernden Denkens« 51 beschreiben kann. In diesem erweiterten Sinne könnte man auch das Familienbrett als diagrammatisch beschreiben und allgemein von einer Diagrammatik der systemischen Techniken sprechen. Auf jeden Fall muss der Bildpraktik des systemischen Familienbretts eine gewisse Operationalität zugestanden werden: Es stellt nicht einfach etwas (die Familie) dar, sondern »eröffne[t] damit Räume, um das Dargestellte auch zu handhaben, zu beobachten, zu explorieren«52, ein Dargestelltes, das ansonsten unsichtbar wäre.
47 48
Ebd., S. 273. In der systemischen Familienaufstellung greift man noch auf ein anderes Visualisierungs- und Verräumlichungsmodell
zurück:
das
Genogramm,
das
erstmals
1985
von
Monica
McGoldrick
und
Randy
Gerson
in
» Genograms: Assessment and Intervention» für die Therapie vorgeschlagen wurde und sich ebenfalls auf Morenos »soziales Atom« beruft. Dazu auch Jürgen Beushausen, Genogramm- und Netzwerkanalyse: Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen,
Göttingen
2012. 49 Marcus Burkhardt, »Alles ist diagrammatisch: Rezension von Matthias Bauers und Christoph Ernsts Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld«, in: Kult Online 26 (2011), http://kult-online.uni-giessen.de/wps/pgn/home/KULT_online/26-16/ (Stand 14. 8. 2013). 50 Matthias Bauer/Christoph Ernst, Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010, S. 17. 51 Ebd., S. 64. 52
Sybille
Krämer,
»Operative
Bildlichkeit.
Von
der
›Grammatologie‹
zu
einer
›Diagrammatologie‹?
Reflexionen
über erkennendes ›Sehen‹« (2009), in: http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/media/downloads/Operative_ Bildlichkeit.pdf (Stand 24. 8. 2013).
Soul-Staging
40
»Die operative Bildlichkeit erweist sich dann nicht nur als ein Anschauungsmedium, sondern auch als ein
Werkzeug
und
ein
›Reflexionsinstrument‹.«53 Und
mehr
noch:
Über
den
»instrumentellen
oder
reflexiven
Umgang
[…]
mit
dem
Repräsentierten«
hinaus »geht [es] um Konstitutionsleistungen«.54 Die Familie, die in der Diagrammatik der Familienbretts erscheint, ist nicht einfach Abbildung einer Herkunftsfamilie, sondern generiert ein neues Wissen von Familie, ja, eine neue Familie als soziales Konstrukt.
Ganz
in
diesem
»konstruktiven«
Sinne
versteht
Ludewig
das
Therapieren
als
einen
Prozess,
der
nicht um eine diagnostizierbare »Krankheit« operiert und »Patienten« pathologisiert, sondern versucht, »ein System-ohne-Problem […] zu errichten und aufrechtzuerhalten«.55 Das Brett ermöglicht dabei »die unmittelbare Beobachtung des Familienprozesses sowie das Dokumentieren des dabei sichtbar gewordenen ›Familienbildes‹. Zudem wirkt sich [sic!] dieses Bild im Sinne einer neuen ›Realität‹ auf die Familie rekursiv zurück und stößt mithin ihre weitere Evolution an«.56 Die Mitglieder des Problemsystems können zudem ihr Modell selbst re- und dekonstruieren (eben nicht der Therapeut, die Therapeutin im Nachhinein).57 Als Darstellungsverfahren bildet es unterschiedliche Relationsmuster ab, die durch die
»Entfernung
zwischen
den
Figuren,
Blickrichtung,
Platzierung
auf
dem
Brett,
Größe
und
Form
der
Figuren,
Reihenfolge
der
Aufstellung
auf
das
Brett
und
die
resultierende
Gestalt
der
Anordnung«
symbolisiert werden.58 Als Beobachtungs-, Dokumentations- und Analyseinstrument ermöglicht es eine »Metakommunikation über Sichtweisen über die Familie zwischen allen am Aufstellungsprozess Beteiligten […], d. h. zwischen den Familienmitgliedern untereinander und dem Beobachter«.59
Gleichzeitig
ist
es
aber
auch
eine
›kreative‹
Interventionstechnik,
die
bereits
die
Neukonfiguration
des
Systems
anregt.
Ludewig versteht das Familienbrett deshalb nicht als einen klassischen psychologischen Test, sondern als »Kommunikationsmittel«60, das nicht die Kriterien der klassischen Testtheorien (Objektivität, Zuverlässigkeit, Validität) erfüllen muss, sondern neue Bewertungskriterien erfordert, Ludewig schlägt »Brauchbarkeit, Nützlichkeit und Zugewinn«61 vor. Diese Kriterien beziehen sich auf die kon53 54 55 56 57 58 59 60 61
Ebd. Ebd. Ludewig, »Das Problemsystem«, S. 6. Ludewig, »Entwicklung eines Verfahrens«, S. 1. Ebd. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3–4.
Katja Rothe
41
krete Praxis der Beobachter bzw. Beobachterinnen und Probanden, darauf, ob die Technik Familienbrett in der konkreten therapeutischen Situation für alle Beteiligten als Darstellungstechnik taugt, sie einen kommunikativen Prozess anstößt, anwenderfreundlich ist, ihre ›Usability‹ gut ist. Das Familienbrett ist somit ein Test und wird z. B. auch in Rechtsverfahren eingesetzt, vor allem in Sorgerechtsfällen. Dieser Anwendungsbereich verweist darauf, dass wir es hier – trotz und gerade, weil nicht über »normal« und »anormal« entschieden wird – mit einer neuen Form von Wahrheitstechnik zu
tun
haben.
Im
Gegensatz
aber
zu
einer
auf
die
Durchsetzung
von
Gesetzen
fokussierten
Rechtsprechung geben Praktiken wie das Familienbrett nicht Recht, sie stellen performativ im Spiel her, was ›das Beste‹ für alle Beteiligten ist. Sie beziehen sich nicht auf einen Sachverhalt und somit auch nicht auf eine Sachlage, sondern auf das Kommunikationssystem, das aus einem Problem entstanden ist. Das Familienbrett
stellt
auch
keine
Schuld
fest,
sondern
möchte
die
Interaktionen
sozialer
Gruppen
über
Selbstregulierungsprozesse harmonisieren. Diese Form der Mediation hält heute – unter Einsatz des Werkzeugkastens
der
systemischen
Therapie
–
breitflächig
Einzug
in
das
deutsche
Rechtssystem.62 Das Familienbrett ist als Wahrheitstechnik auch an der Konstruktion des gegenwärtigen Verständnisses beteiligt,
was
Familie
meint:
eine
soziale
Gruppe,
die
sich
in
der
Aufführung
ihrer
Praktiken
überhaupt
erst herstellt.63
Anders
als
herkömmliche
psychologische
Tests
definieren
Ludewig
und
seine
Mitautoren dabei das Familienbrett als ein dingliches, materielles, technisches Verfahren, das nicht einfach Sein- und Soll-Zustände ›aufdeckt‹ und nach ›objektiven‹ Kriterien beurteilt, sondern ganz explizit in der Darstellung
überhaupt
erst
etwas
hervorbringt,
was
dann
Gegenstand
einer
gemeinsamen
Forschung
werden kann. Die systemischen Verfahren beziehen sich so nicht auf ein Subjekt als wie auch immer verwirrter oder gespaltener ›Herr‹ im Hause, sondern auf Prozesse: Das Forschungsobjekt der systemischen Familientherapie entsteht erst im Prozess der räumlich-theatralen Aufführung von Szenen des Familienlebens. Dabei konzentriert man sich nicht auf die Binnenstruktur des psychischen Apparats (Psychoanalyse), sondern auf den performativen Prozess und die kreativen Techniken der Ich-Bildung. Dieser
Prozess
wird
gewissermaßen
einer
visuell-theatralen
»Oberflächenforschung«
unterzogen,
denn
man versucht nicht, hierin ein Bewusstsein oder Unterbewusstsein des Subjektes auszumachen, sondern
an
Haltungen,
Gesten,
Ausdrücken,
Bewegungen
bestimmte
Systemzustände
z.
B.
der
Familie
zu
messen.
Dabei
flankiert
den
Prozess
der
Ich-Bildung
vor
allem
seit
den
1980er
Jahren
die
Beobachtung
der Beobachtung, also eine Prozeduralisierung der Position des Therapierenden, die zu einer aktiven 62
Am
21.
Juli
2012
trat
in
Deutschland
das
Mediationsgesetz
in
Kraft
(BGBl.
I
S.
1577;
Umsetzung
der
Richtlinie
2008/52/EG
des
Europäischen
Parlaments). 63 Dazu Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a. M. 2012, S. 70 f.
Soul-Staging
42
Partizipation der Patienten am Prozess der Therapie führt.64 Der Therapierende erscheint in der systemischen Therapie nicht mehr als Meisterdenker, sondern als Arrangeur und Partner bzw. Partnerin. Er/ Sie arbeitet nicht mit einem theoretischen Interpretationsrahmen, sondern verwendet Konzepte und Verfahren, die auf den Rezipienten, also den Patienten zielen. Der Therapierende entwirft geschickte
Versuchsanordnungen,
um
effektvoll
Reflexionsvorgänge
in
Gang
zu
setzen.
Den
Patienten
kommt
schließlich die Aufgabe zu, die Szenen für sich zu interpretieren und daraus ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, was wiederum als Vorgang der Heilung verstanden wird. Diese Prozeduralisierung lässt mehr und mehr die Techniken der Therapie vor den großen Theorien in den Vordergrund treten. Man könnte von einer Materialisierung des Therapeutischen sprechen. Der therapeutische
Prozess
wird
maßgeblich
von
den
materiell-medialen
Arrangements
beeinflusst.
Von
der
Szenografie
zum
Kuratorischen Vom Scenokasten zum Familienbrett radikalisiert sich also sowohl die Prozeduralisierung als auch die
Materialisierung
des
Therapeutischen.
Gerdhild
von
Staabs
ließ
Bühnenbilder,
Landschaften
entwerfen, die an Denis Diderots Tableau-Technik erinnern. Bereits Diderot hatte gerade auch in Bezug auf Familienszenen das ›eingefrorene‹ demonstrative Bildarrangement auf die Bühne gebracht.65 Von Staabs macht das Tableau-Theater nun zum Testverfahren für ›auffällige‹ Kinder. Indem sie aber das theatrale Zurschaustellen in der eingefrorenen Szene mit dem Spiel verbindet, kommt es bereits bei von
Staabs
zu
einer
Prozessualisierung
des
Therapeutischen:
Therapierende
und
Probanden
befinden
sich in einem Prozess der gemeinsamen Bilderproduktion und –interpretation, im Spiel, das gleichzeitig Zugang zu Vorsprachlichem eröffnet. Im Hintergrund steht hier ein Verständnis des Spiels als ziellose, unbewusste Bewegung, eine »tänzelnde Bewegung« 66 wie etwa die Wellen auf dem Wasser. Dieses Verständnis des Spiels referiert auf das altdeutsche Wort »spielan«.67 Walter Benjamin griff dieses Verständnis auf und beschrieb den liminalen Charakter des Spiels. Astrid Deuber-Mankowsky führt aus, dass Benjamin in »Spielzeug und Spiel« (1928) die Essenz des Spiels in der Transformation einer einprägsamen
Erfahrung
in
Gewohnheit
verortete.68 Man könnte das Spiel in diesem Benjamin’schen 64
Paradigmatisch für diese Entwicklung ist die Einführung des »reflecting Teams« durch den norwegischen Psychiater und Psychotherapeuten Tom Andersen. Tom Andersen, Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über Dialoge, Dortmund 1990. 65
Dazu
ausführlich:
Annette
Graczyk,
Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 77–106. 66 Astrid Deuber-Mankowsky, »Playing and Time«, IKKM Lecture, 3. 7. 2013, in: http://vimeo.com/71808138 (Stand 4. 9. 2013). 67 Lazarus , Reize des Spiels, S. 20. 68 Deuber-Mankowsky, »Playing and Time«. Walter Benjamin, »Spielzeug und Spiel«, in: Gesammelte Schriften,
Katja Rothe
43
Sinne als Scharnier hin zur sozialen Praxis beschreiben, die »als sich wiederholende und intersubjektiv verstehbare, körperlich verankerte Verhaltensweise […] – auch im Umgang mit Artefakten – zu verstehen [ist], in [der] ein implizites Wissen verarbeitet wird und die immer auch die Sinne auf eine bestimmte Weise organisier[t]«.69 Das Spiel ist ein »ambivalentes Medium des Wandels, der Transformation und der Wiederholung«70, so Deuber-Mankowsky. Das Spiel markiert den Übergang zur Gewohnheit,
die
Benjamin
auch
als
»Erstarrung«
versteht.71 Das Spiel wäre dann umgekehrt auch als Spur einer unbewussten Bewegung in der sozialen Praxis zu verstehen. Auf eben jene Spurenlese wiederum begibt sich von Staabs mit ihrem Scenokasten. Eben jenes liminale Moment des Spielens wird auch das Familienbrett von Kurt Ludewig prägen. Doch von
Staabs
Scenokasten
wurde
trotz
aller
Affinität
zum
Spiel
noch
als
Technik
der
»Urteilsfindung«,
als Forschungsinstrument verstanden. Das Familienbrett dagegen »urteilt« nicht mehr, sondern ist Instrument einer Kreation, Technik eines dynamischen Prozesses der Re-, De- und Neukonstruktion von
sozialen
Gruppen.
Damit
wird
das
Therapeutische
radikal
neu
definiert:
als
Form
des
»Kuratierens« von spielerischen Selbst-Bildungsprozessen. Das Kuratorische verweist hier im Sinne des lateinischen Wortursprungs »curare« (Sorge tragen, sorgen um) auf das Sorgetragen als Kulturtechnik, die im systemischen Denken ästhetisiert wird.72 Indem das Therapieren an das Spiel gekoppelt wird, wird
es
zu
einem
Akt
des
Gestaltens,
des
Designs.
Beim
kuratorischen
Therapieren
kommt
es
auf
das
Arrangement
von
Rezeptionsvorgängen
an,
auf
die
Gestaltung
von
Szenografien,
die
die
gegenseitige
Beobachtung und Bewertung ermöglichen. Das Beobachten und Bewerten wird somit selbst zum zentralen Moment der Therapie.73 Das systemische Therapieren bezieht sich auf ein Wahrheitsregime, das nicht normiert und nicht einmal zur Normalisierung anregt, sondern das Kuratieren von Rezeptionsvorgängen als von Praktiken geleiteten Prozess der Subjektwerdung etabliert.
69 70 71 72 73
hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band III: Kritiken und Rezensionen (1912–1940), 1928, Frankfurt a. M. 1991, S. 127. Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 25. Deuber-Mankowsky, »Playing and Time«. Übersetzung K. R. Benjamin, »Spielzeug und Spiel«, S. 127. Zum Verhältnis von rational-teleologischen, moralisch-normativen und ästhetischen Praktiken siehe Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 25–29. Diese Entwicklung beschreibt Kai van Eikels als Ausbildung eines Regimes der »Assessokratie«. Siehe Kai van Eikels, »Nichtarbeitskämpfe«, in: Jörn Etzold/Martin Jörg Schäfer (Hg.), Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken, Weimar 2011, S. 17–39, S. 29.
Auftritt der Toten Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie Céline Kaiser
Céline Kaiser
45
Theater
und
Totenbeschwörung
sind
seit
der
Antike
eng
miteinander
verbunden.
Wie
Günter
Heeg
herausgestrichen hat, ist letztere »die Urform theatraler Repräsentation, Wiederholung des unwiederbringlich Abwesenden. Charakteristisch für sie ist nicht der Anschein, die Beschworenen wären lebendig anwesend, sondern deren geisterhafte Existenz.«1 Das Spannungsfeld von Ab- und Anwesenheit, Wiederholung und Einmaligkeit, geisterhafter Latenz und heraufbeschworener Präsenz kennzeichnet jedoch nicht nur den theatralen Raum im engeren Sinne. In
der
Geschichte
der
Theatrotherapie2, so möchte ich im Folgenden argumentieren, ist die Auferstehung der Toten ein über die Jahrhunderte immer wieder auftauchendes Motiv, das die Logik des Theatralen und das skizzierte Spannungsfeld in verschiedenen Hinsichten zu überbieten versucht, indem es die Anwesenheit des oder der Abwesenden beschwört. Relevant ist dabei der implizite oder explizite Anspruch, mehr oder anderes zu sein als ein theatrales Spiel. Dieser wirkungsbezogene Überbietungsgestus hängt zweifellos mit der therapeutischen Zielsetzung zusammen, mit dem und durch das szenische
Geschehen
zu
heilen.
Zugleich
spielen
theatrale
Formen,
spielen
Strategien
des
Pre-,
Re-
und
Enactments im therapeutischen Kontext ebenso eine wichtige Rolle wie in aktuellen Kunst- und Theaterformen.3 Anhand des Motivs des Auftritts der Toten lässt sich diskutieren, inwiefern szenische Strategien der Theatrotherapie zentrale Prämissen des Repräsentationstheaters sowohl aufgreifen als auch durchkreuzen.
Fragt
man
nach
Grenzziehungen
zwischen
Wiederholung
und
Re-Animation
und
den
hier
im Vordergrund stehenden (Zeit-)Formen von Pre-, Re- und Enactment, dann eröffnet ein Blick auf die Geschichte
der
Theatrotherapie
eine
andersartige
Perspektive
als
jener
auf
die
Theatergeschichte. 1
2
3
Günther
Heeg,
»Szenen«,
in:
Heinrich
Bosse,
Ursula
Renner
(Hg.),
Literaturwissenschaft.
Einführung
in
ein
Sprachspiel, Freiburg im Breisgau 1999, S. 251–269, hier: S. 255. Der von mir verwendete Begriff »Theatrotherapie« ist ein Kunst- und Sammelbegriff für verschiedene Formen und Modi theatertherapeutischer Konzepte und szenischer Praktiken seit dem 18. Jahrhundert. Ich führe diesen Terminus in die wissenschaftliche Diskussion ein, um eine vorschnelle Identifikation mit aktuellen Formen wie dem Psychodrama, der Theater- oder Dramatherapie und damit eine Engführung auf im engsten Sinne theatrale Formen zu vermeiden. Aus
der
Fülle
aktueller
Publikationen
vor
allem
zu
Formen
des
Reenactments
in
der
Gegenwartskultur,
in
Theater und Performance, aber auch in Film oder Literatur siehe History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactments in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Ausst.-Kat. Rotterdam, hg. von Inke Arns,
Gaby
Horn,
Frankfurt
am
Main
2007;
Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Ausst.Kat. Rotterdam, hg. von Jennifer Allen, Sven Lütticken, Rotterdam 2005; Sabeth Buchmann, Wenn sonst nichts klappt: Wiederholung wiederholen – in Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Hamburg, Berlin 2005; Clarissa Baldwin u. a. (Hg.), Experience, Memory, Reenactment, Frankfurt am Main 2005; Jan Carstensen u. a. (Hg.), Living History im Museum. Möglichkeiten und Grenzen einer populären Vermittlungsform, Münster u. a. 2008; Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012.
Auftritt der Toten
46
In diesem Sinne werde ich mich im Folgenden mit jenen szenischen Modi beschäftigen, in denen sich in
der
Geschichte
der
Theatrotherapie
Zukünftiges
und
Vergangenes,
Unabgegoltenes
und
Gegenwärtiges
verschachteln.
Grundlage
dafür
wird
eine
kleine
Auswahl
von
Fallgeschichten
und
Texten
sein,
die das Motiv der »Auferstehung der Toten« aufgreifen. Ausgehend von Johann Christian Reils Anmerkungen zum Einsatz von Theater in der »psychischen Kur«, werde ich kurz auf zwei Fallgeschichten, die Nathaniel Wanley im 17. Jahrhundert gesammelt hat, eingehen und nach kurzen Zwischenstopps bei Josef Breuer, Theodor Reik, Jakob Levi Moreno und der Freudschen Psychoanalyse schlussendlich Bert Hellingers Erfolgsmodell, das Familienstellen, in den Blick nehmen.4 Pre-Enactment 1803 hatte Johann Christian Reil in seinen Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung die Einrichtung einer Theaterbühne in jeder psychiatrischen Anstalt gefordert. Auf diesem speziell gestalteten Theater müszten
die
Hausofficianten
hinlänglich
eingespielt
seyn,
damit
sie
jede
Rolle
eines
Richters,
Scharfrichters,
Arztes,
vom
Himmel
kommender
Engel,
und
aus
den
Gräbern
wiederkehrender
Todten,
nach
den
jedesmaligen
Bedürfnissen
des
Kranken,
bis
zum
höchsten
Grad
der
Täuschung vorstellen könnten.5 Was Reil programmatisch formuliert – denn auf eigene psychotherapeutische Praxis konnte er nicht zurückgreifen –, wird in Fallgeschichten seit dem 17. und 18. Jahrhundert szenisch ausbuchstabiert. Ich möchte hier zwei Fallgeschichten aus Nathaniel Wanleys umfangreichem Werk The Wonders of the Little World; or a General History of Man von 1673 anführen, die die Wiederkehr der Toten thematisieren.
Diese
Miniatur-Fallgeschichten
finden
sich
im
zweiten
Buch,
»The
Powers
and
Affections
of the Senses of Man«, unter der Rubrik »Of the Imagination, and the Force of it in some Persons«. Wanley
selbst
war
kein
Arzt,
sondern
ein
Geistlicher.
Sein
Hunderte
von
Seiten
umfassendes
Kompendium, das alle möglichen Kuriositäten und Merkwürdigkeiten aus dem Fundus alteuropäischer Literatur enthält, hat entsprechend eher belehrenden und unterhaltenden Charakter. Doch Wanleys Sammlung von Fallgeschichten war auch im Kontext der frühen psychiatrischen Literatur beliebt, seine
Fälle
wurden
z.
T.
wie
Erfahrungsberichte
eines
Kollegen
kolportiert
und
finden
Erwähnung
etwa
4
5
Eine eingehende Untersuchung dieses Themenkomplexes wird im Rahmen einer Monografie erfolgen, die unter dem Titel Szenen des Subjekts. Kulturmediengeschichte der Theatrotherapie seit dem 18. Jahrhundert im transcript Verlag erscheinen wird. Johann Christian Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung (Nachdruck der Ausgabe Halle 1803), Aachen 2001, S. 209 ff. Hervorhebung von mir, C.K.
Céline Kaiser
47
in William Pargeters Observations on Maniacal Disorders6 sowie noch 1835 / 1838 im Grundriss der Seelenheilkunde des Berliner Psychiaters Karl Wilhelm Ideler. Beide Fallgeschichten berichten von Männern, die sich fest einbilden, sie seien gestorben. Im ersten Fall verweigert ein adliger Mann jedwede Nahrungsaufnahme, weil er als Toter nichts mehr essen müsse. Aus Sorge, dass er deshalb bald wirklich sterben würde, denken sich seine Freunde ein therapeutisches Spiel für ihn aus. In seinen verdunkelten Aufenthaltsraum schicken sie einige Männer, die in Leichentücher eingewickelt und auf diese Weise wie Tote gekleidet sind. Vor den Augen des eingebildeten Toten verspeisen sie ein ausgiebiges Mahl. Auf seine Frage hin, wer sie seien, antworten sie, sie wären Tote. Verwundert erkundigt er sich, ob Tote etwa auch essen würden. Sie bejahen und laden ihn ein, an ihrer Tafel Platz zu nehmen. Er lässt sich nicht lange bitten und isst mit ihnen zu Abend, kommt wieder zu Kräften und, siehe da: »he was cured«7. Im zweiten Fall lässt sich »ein junger Hypochondrist« nicht davon abbringen, dass er endlich beerdigt werden möchte, bevor er verfault. Man lässt sich darauf ein, legt ihn auf eine Totenbahre und bringt ihn zum Friedhof. Auf dem Weg dorthin wird die Trauergemeinde von einigen »Purschen«8 aufgemischt, die sich hartnäckig über den angeblichen Toten lustig machen und ihn beleidigen. Der Kranke richtete sich in dem Sarge auf, und sagte, er habe eine solche Beschimpfung nicht verdient, und wäre er nicht todt, so sollten sie eines anderen belehrt werden. Da die losen Vögel nicht
zu
schimpfen
aufhörten,
sprang
er
von
der
Todtenbahre
herab,
fiel
über
sie
mit
Wuth
her,
und prügelte sie so lange, bis er ganz müde wurde, worauf er genas.9 Beide Fallgeschichten stellen eine szenische Form dar, die ich in Anlehnung an die Verwendung des Begriffs in der heutigen Theaterpraxis als Preenactment beschreiben möchte. An beiden lässt sich eine Strategie beobachten, welche darauf setzt, durch die Inszenierung von Zukunftserwartungen der Patienten eine Heilung zu provozieren. Zugleich macht der Blick auf diese Fallvignetten schon deutlich, dass das Zukünftige, das sich im szenischen Spiel rund um den Patienten entfaltet, in seiner Zeitstruktur komplexer ist: Nicht nur sind 6 7 8 9
William Pargeter, Observations on Maniacal Disorders, Reading 1792. Nathaniel Wanley, The Wonders of the Little World; or a General History of Man, 1673, Reprint 1806, Buch 2, Abschnitt 14 und 15, S. 149 f. Ich zitiere nach der Übersetzung von Karl Wilhelm Ideler, Grundriss der Seelenheilkunde, Berlin 1838, Zweiter Theil, S. 906 f. Ebd.
48
Auftritt der Toten
die vorweggenommenen Ereignisse direkte Ableitungen eines angenommenen gegenwärtigen Ist-Zustandes der Patienten, sie beruhen darüber hinaus auf einer gewissermaßen rituellen Wiederholungsstruktur. Im einen Fall wird der Ritus des Leichenschmauses und gemeinsamen Essens so inszeniert und
modifiziert,
dass
der
Kranke
zu
der
Überzeugung
gelangen
kann,
auch
die
Toten
würden
einen
Leichenschmaus miteinander teilen. Mit dieser Reinszenierung wird zugleich mit dem Ritus auch das Rollenskript, das der Kranke sich verordnet hat, umgeschrieben. Dem ›Immer-schon‹ des Ritus wird eine différence der therapeutischen Wiederholung zur Seite gestellt. Im anderen Fall wird der Kranke dazu verführt, ›aus der Rolle zu fallen‹, weil die üblichen Verhaltenskodizes beim Beerdigungsritus nicht eingehalten werden und er quasi auf seinen eigenen, selbst wiederum nicht rollenkonformen verbalen und physischen Einsatz angewiesen ist, um diese ›falsche‹ Inszenierung zu ahnden. In dem Moment, in dem er die aktuelle Inszenierung mit der erwarteten abgleicht und Korrekturen an ihr vornimmt, verlässt er den Rahmen des Ritus und damit zugleich seines (für ihn selbst gar nicht als Spiel
markierten)
Handelns
–
und
ist
auf
einen
Schlag
von
seiner
fixen
Idee
geheilt. Der Raum der Therapie ist in beiden Fallgeschichten jener der Alltagswelt des Patienten, eine Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum ist weder räumlich noch strukturell eindeutig auszumachen. Die gespielte Welt einiger Akteure ist nicht allgemein erkennbar von jener der anderen (wahnhaft entrückten oder schlicht unbeteiligten) Akteure abgesondert. Die Struktur solcher Szenen greift zurück auf die ärztliche Praxis des ›frommen Betrugs‹ und implementiert diese in die Praktiken des ›moral treatment‹ oder ›moral management‹. So generieren die therapeutischen Preenactments einen Szenenraum
von
›schlagender‹
Evidenz,
in
welchem
die
fixen
Zukunftserwartungen
des
Patienten
aufgegriffen, inszeniert und im Zuge der Inszenierung an einen aporetischen Punkt getrieben werden, der hier im einen Fall direkt zur physischen Kur mutiert, im anderen Fall mitsamt der Inszenierung auch die wahnhafte Idee ad absurdum führt, aus den Angeln hebt und dadurch in ›einem glücklichen Moment‹ ›heilt‹.10 Reenactment In
seinen
unlängst
erschienenen
kritischen
Reflexionen
über
das
Verhältnis
von
Theater
und
Geschichte
hat
Günther
Heeg
die
Frage
nach
dem
Einsatzpunkt
theatraler
Praxis,
die
›unwiederbringlich
Abwesenden‹ wieder heraufzubeschwören, erneut aufgegriffen. Die »Zeitform« des Reenactments, 10
Szenische
Praktiken
dieser
Art
werden
in
der
medizinhistorischen
Literatur
vor
allem
unter
dem
Gesichtspunkt desjenigen Krankheitsbildes, in dem sie vorrangig Anwendung fanden, rubriziert und analysiert: dem der
Melancholie.
Meine
Forschungsarbeit
zielt
dagegen
auf
eine
Geschichte
szenischer
Formen,
die
sich
nicht
deckungsgleich
mit
einer
Geschichte
der
Therapie
einzelner
Krankheitsbilder
erzählen
lässt.
Siehe
zur
Melancholie etwa die ausführliche Studie von Jean Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung, Berlin 2011.
Céline Kaiser
49
mit
dem
sich
der
von
ihm
herausgegebene
Band
zum
Verhältnis
von
Theater
und
Geschichte
auseinandersetzt, sei, so schreibt er mit Bezug auf Rebecca Schneider11, durch ein »Ineinander von Belebtem und Unbelebtem«12 gekennzeichnet: Dieses lässt sich nicht mehr als Vergegenwärtigung eines Vergangenen begreifen. Vergegenwärtigung impliziert und suggeriert die restlose Verlebendigung des Vergangenen, während das Unbelebte,
das
im
Reenactment
zu
Tage
tritt,
die
Resistenz
aller
toten
Geschlechter
gegen
ihre
Indienstnahme
durch
die
Gegenwart
markiert.
In
der
abgestorbenen
Gestalt
nicht
präsent
zu
machender,
nicht
(re)präsentierbarer
Überreste
suchen
sie
die
Gegenwart
heim:
als
Gespenst,
Symptom und Unabgegoltenes, als Wiederkehrendes und Wiedergeholtes, als Wiederholung.13 Heegs
kritische
Reflexionen
auf
den
Status
der
szenischen
Wiederholung
in
aktuellen
Theorien
des
Reenactments
beruht
selbst
wiederum
auf
einem
Modell
der
Szene,
das
–
blickt
man
auf
die
Geschichte der szenischen Therapieformen – auch von der Psychoanalyse geprägt ist, in der die Wiederholung des Unabgegoltenen, des Traumatischen sich in der Wiederkehr der Symptome manifestiert. Wenn Heeg das Reenactment in diesem Sinne als »nicht geheure Raum-Zeit«, als eine Zeit »des Nachlebens und Überlebens«14 charakterisiert, dann liegt das an der im Reenactment aufrechterhaltenen Schwebesituation
zwischen
Vergangenem
und
Gegenwärtigem,
die
mit
der
Figur
des
Gespenstes
markiert
wird. Kein Wunder also, dass Hamlet-Reminiszenzen an solchen Punkten Konjunktur haben. Theodor Reik etwa hatte Hamlet auf den Plan gerufen, als es ihm im Zuge seiner Ausführungen über die Eigenart der psychoanalytischen Situation, die er 1948 im US-amerikanischen Exil unter dem Titel Listening with the Third Ear veröffentlichte, darum ging, wie unbrauchbar es für den Fortgang einer Psychoanalyse sei, den Phantasien des Patienten als Therapeut mit ›rationalen‹ Argumentationen zu begegnen: Es ist die Aufgabe des Analytikers, die unbewußte magische Sicht des Patienten in bewußte psychologische Einsicht zu verwandeln. […] Den unbewußten Prozessen mit Kälte und Rationalität
zu
begegnen,
wäre
genauso
dumm
wie
zu
protestieren:
»Es
gibt
keine
Geister!«,
wenn
der
Geist
des
Königs
in
›Hamlet‹
erscheint.
Ehe
man
nicht
die
psychische
Realität
der
Erscheinung
akzeptiert hat, ist es nicht möglich, zu verstehen, was in Hamlets Kopf vor sich geht. Bei dieser 11
Gemeint
ist
ihre
Publikation
Performing remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London, New York 2011. 12
Günther
Heeg,
»Reenacting
History:
Das
Theater
der
Wiederholung«,
in:
ders.,
Micha
Braun,
u.
a.
(Hg),
Reenacting
History:
Theater
&
Geschichte,
Berlin:
Theater
der
Zeit,
Recherchen
109:
2014,
S.
1 3. 13 Ebd. 14 Ebd.
Auftritt der Toten
50
Erkenntnis
folgen
die
Zuschauer
dem
Rat
des
Prinzen
selbst.
Als
der
Geist
spricht,
schreit
Horatio: »Beim Sonnenlicht, dies ist erstaunlich fremd!«, und Hamlet antwortet: »So heißt als einen Fremden es willkommen.« 15 Die
Anerkennung
der
›Geister‹
des
Patienten
findet
allerdings
im
Rahmen
der
psychoanalytischen
Situation statt, die räumlich und kommunikativ klar von der Alltagssituation und -wahrnehmung abgrenzt wird.16 Wie Reik herausstreicht, erzeugt der Sonderraum auch eine eigentümliche »Magie« der Psychoanalyse, in welcher die Schwelle hin und zurück zwischen Alltagswelt auf der einen und einer (in diesem Sinne eingehegten) ›Verlebendigung‹ der Vergangenheit auf der anderen Seite deutlich wahrnehmbar ist und wahrgenommen wird.17 In der Frühgeschichte der Psychoanalyse nahm die Arbeit mit Techniken des Nachstellens und Reinszenierens
noch
konkretere
Formen
an
als
in
den
späteren
Konzepten
von
Übertragung
und
Gegenübertragung.
In
der
Fallgeschichte
der
Anna
O.,
die
häufig
als
Gründungsgeschichte
der
Psychoanalyse
betrachtet wird, lässt sich Josef Breuer nicht nur ganz im Sinne Reiks auf das »Privatheater«18 ein, wie die Patientin Bertha von Pappenheim ihre intensiven Tagträume nennt, in die sie während alltäglicher Situationen entgleitet. Vergangenes wird in der 1895 gemeinsam mit Sigmund Freud in den Studien über Hysterie herausgegebenen »Beobachtung I. Frl. Anna O...« buchstäblich als Wiedergeholtes reinszeniert.19 15
Theodor Reik, Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Hamburg 1976, S. 123. 16
Zur
Frage
der
Rahmung
szenischer
Therapieformen
siehe
die
grundlegenden
Schriften
von
Gregory
Bateson,
Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt
am
Main
1985,
Erving
Goffman,
Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main, 1980 sowie frühere Überlegungen in: Céline Kaiser, »Spiel und Rahmen in der Theatrotherapie um 1800,« in: Regine Strätling (Hg.), Spielformen des Selbst, Bielefeld 2012, S. 151–166. 17 Reik, Hören mit dem dritten Ohr, S. 120: »Ein Patient beginnt seine Sitzung mit ›Wie geht es Ihnen?‹ Er sagt einige Worte über das, was heute oder gestern geschah, aber innerhalb einiger Minuten sind sie vergessen, und
die
Vergangenheit
wird
so
lebendig,
als
wäre
sie
die
Gegenwart.
Eltern,
die
schon
lange
tot
sind,
werden
in seiner Erinnerung wieder lebendig, Kindheitsszenen werden wiedererlebt, als wären sie hier und jetzt, und frühe Sorgen werden empfunden, als ob sie heute entstanden wären. Wut und Liebe, Haß und Zärtlichkeit werden
freimütig
ausgedrückt,
und
Gedanken,
die
vor
dem
Tageslicht
zurückschrecken,
kriechen
aus
ihren
Verstecken hervor. Und dann kommt der Moment, wo der selbst auferlegte Bann gebrochen wird. Der Patient steht
von
der
Couch
auf
und
sieht
nur
noch
das
Behandlungszimmer.
Plötzlich
muß
er
seine
Gefühle
wieder
ordnen, wenn er sich in der Welt der Wirklichkeit wiederfindet.« 18 Sigmund Freud, Josef Breuer, Studien über Hysterie, Leipzig und Wien 1895, S. 15. Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: http://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_015. jpg&oldid=1122927 (Version vom 29.05.2010). 19 Mikkel Borch-Jacobsen hat den Vorbehalt formuliert, Anna O.s Privattheater sei eine Wiederauflage der Hyp-
Céline Kaiser
51
Breuer
berichtete,
dass
seine
Patientin,
die
während
der
Pflege
und
vor
allem
nach
dem
Tod
ihres
Vaters schwer erkrankt war, sich bei den allabendlichen Visiten gut hypnotisieren ließ. Unter Hypnose sprach
sie
sich
nicht
nur
›im
Krebsgang‹
all
jene
Geschichten
›von
der
Seele‹,
die
sich
als
›unerledigter
Rest‹ angesammelt hatten, und ›reagierte‹, so später auch Freuds Fazit, verdrängte Affekte ab. Sie stellte
darüber
hinaus
im
Verlauf
der
Therapie
eine
exakte
Reproduktion
der
Geschehnisse,
die
sich
ein Jahr zuvor zugetragen hatten, nach. Ihr Privattheater nahm im Zuge dessen ausgesprochen szenische Formen an: Möbel wurden so gerückt, dass ein exaktes Reenactment ermöglicht wurde, das von Breuer als Schlusspunkt der Therapie betrachtet wird.20 Hier wird, soweit ich sehe, die Strategie des Reenactments erstmals in der Form eingesetzt, traumatische Schlüsselszenen der individuellen Pathogenese szenisch zu wiederholen. Mehr noch: Im Sinne populärkultureller Reenactments oder juridischer Formen der Tatortbegehung geht es hier darum, sich
wieder
in
ein
vergangenes
Geschehen
hineinzuversetzen,
dadurch
dass
etwa
die
räumlichen
Parameter möglichst genau nachgestellt werden. Anna O. geht auf Zeitreise, allerdings um in und durch diese Zeitreise die verhängnisvolle Verwicklung (auch) ihres Zeiterlebens wieder aufzulösen, für die es in den populären Reenactment-Praktiken keine direkten Parallelen geben dürfte.21 Was Josef Breuer auf den Wunsch seiner Patientin hin in der Therapie geschehen lässt, wird später von Freud differenziert,
theoretisiert
und
deutlich
modifiziert. 1914 kommt er in seinem Aufsatz Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten auf Anna O. zurück, um eine Begriffsunterscheidung zu etablieren, die für die Frage eines Reenactments in der Psychoanalyse für lange Zeit wesentlich werden wird. In Stellung gebracht werden die Begriffe ›Erinnerung‹, ›Wiederholung‹ und ›Agieren‹. So heißt es über den in seinen alten Beziehungsmustern und Szenen verhafteten Patienten, er »erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es.
20 21
nosepraxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Hansen und anderen sowie den therapeutischen Suggestionen Breuers geschuldet. Für unseren Zusammenhang ist jedoch weniger die Entscheidung Simulation ›Ja oder Nein‹, sondern vielmehr die szenische Form des psychotherapeutischen Arrangements von Interesse. Mikkel Borch-Jacobsen, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung, München 1997. Zur Fallgeschichte der Anna O. siehe auch den Beitrag von Ingo Uhlig in diesem Band sowie seine Monografie: Poetologien des Ereignisses bei Gilles Deleuze, Würzburg 2008, insbesondere Seite 123–130. Zur These, Reenactments inszenierten populäre Zeitreisen, auf die die eingangs zitierten Bemerkungen von Günther
Heeg
kritisch
Bezug
nehmen,
siehe
Ulf
Otto,
»Die
Macht
der
Toten
als
das
Leben
der
Bilder.
Praktiken des Reenactments in Kunst und Kultur«, in: Jens Roselt, Christine Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011, S. 185–201, S. 192: »[Das Reenactment] will
Kontakt
zu
den
Ahnen
herstellen.
Nur
reicht
deren
Macht
eben
nicht
mehr
bis
in
die
Gegenwart.
Deshalb
muss man sich zu ihnen herab begeben. Statt sie im Hier und Jetzt heraufzubeschwören, gilt es, die Zeitreise anzutreten und sich so selbst in die Vergangenheit zu begeben, um in Kontakt mit ihnen zu treten.«
52
Auftritt der Toten
Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.«22 Freud implizierte in dieser Frontstellung von Agieren und Erinnern eine Wertung, die klar zugunsten des sprachlich vollzogenen Erinnerns votierte und auf diese Weise die agierende Handlung als unreflektierte
Wiederholungsform
fest-
und
weitgehend
abschrieb.
Die
psychoanalytische
Sitzung
ist in seinem Verständnis ein »Tummelplatz« der Übertragungen, eine Bühne gewissermaßen, auf der es dem Analysanden »auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im Seelenleben […] verborgen hat.«23 Die wiederholende Aktion wird somit deutlich als eine zwanghafte
Inszenierung
unbewusster
Triebe
und
Konflikte
des
Analysanden
identifiziert.
Zwar
ist
das
Konzept
von
Übertragung
und
Gegenübertragung
z wischen
Analysand
und
Analytiker
bereits
eines,
in welchem Wechselwirkungen zwischen den Akteuren thematisiert werden. Dennoch richtet sich der Blick des Analytikers im Wesentlichen auf den Patienten und seine pathologischen Reinszenierungen, ja: Reanimationen24 und nicht auf die gemeinsam hergestellte Situation zwischen den direkt beteiligten Akteuren. Michael Balint hat diesen Zusammenhang Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der EinPersonen-Psychologie beschrieben, dem er, aufbauend auf Ansätzen seines Lehranalytikers Sandor Ferenczi, eine erweiterte Sicht, eine Zwei-Personen-Psychologie gegenüberstellte. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich, Balints Thesen und Forschungen weiterführend, einerseits eine mehr oder minder konstruktivistische, andererseits eine an performativen Aspekten besonders der Traumatherapie interessierte Richtung der Psychoanalyse profiliert. Diese Ansätze betonen auf je unterschiedliche Weise den Aufführungscharakter der analytischen Situation und den Aspekt einer gemeinsamen Koproduktion von Analysand und Analytiker.25 Die Rede 22
Sigmund
Freud,
»Erinnern,
Wiederholen,
Durcharbeiten«,
in:
ders.,
G esammelte Werke. Band X: Werke aus den Jahren 1913–1917, Frankfurt am Main 1999, S. 126–136, hier: S. 129. 23 Ebd., S. 134. Zu dieser Textstelle siehe auch Regine Strätling, »Spielen, Wiederholen, Erinnern«, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 105–118. 24 Siehe Sigmund Freud, »Bruchstücke einer Hysterieanalyse« (1905), in: Gesammelte Werke Band V, S. 279: »Was sind die Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des
Vordringens
der
Analyse
erweckt
und
bewußt
gemacht
werden
sollen,
mit
einer
für
die
Gattung
charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig.« 25 Besonders hervorzuheben ist hier die Arbeit von Diana Pflichthofer, Spielräume des Erlebens. Performanz und Verwandlung in der Psychoanalyse,
Gießen
2008.
Céline Kaiser
53
vom Enactment in der Psychoanalyse markiert diesen Übergang: weg vom Reenactment hin zum Enactment. 26 Enactment Diese Ausrichtung innerhalb der Psychoanalyse hat sich vergleichsweise spät und erst gegen verschiedene
Widerstände
herauskristallisieren
und
etablieren
können.
Andere
Ansätze
in
der
Geschichte szenischer Therapieverfahren setzten schon deutlich früher auf die Bedeutung des Handelns im Hier und Jetzt für den therapeutischen Prozess. Mit Nachdruck hat Jakob Levi Moreno bereits in den 1920er Jahren auf diesen Punkt hingearbeitet. Der Mediziner und Theaterpraktiker setzte gegen das ›traditionelle‹, auf die Inszenierung von Dramentexten fokussierte Theater auf die Etablierung des Stegreifspiels, das er früh im psychosozialen Bereich erprobte und später zum Psychodrama in klinischen Kontexten weiterentwickelte.27 Schauspieler, Dramentext und der etablierte theatrale Rahmen sollen, wie er 1924 in seinem Stegreiftheater fordert, gegen frei improvisierende Akteure ausgetauscht werden, die keinem Rollenskript folgen, sondern Szenen ihres eigenen
Lebens
in
der
Gruppe
auf
der
flexiblen
Stegreifbühne
ausagieren.
Anstelle
von
wiederholenden
»Kulturkonserven« insistiert er auf der einmaligen Präsenz im Zeit-Raum der Szene. Für Morenos psychodramatische Sitzungen war es einerseits wesentlich, dass Szenen, die für die Vorstellungswelt des Protagonisten bedeutsam sind, auf der Bühne mit Hilfe von Mitspielern so nachgestellt werden, dass sie möglichst genau den Erinnerungen des Protagonisten entsprechen. Der Protagonist hat die Möglichkeit, die ihm zu- und mit ihm mitarbeitenden Akteure auf der Bühne in genau diejenigen Positionen und Haltungen zu manövrieren, die ihm wesentlich und ›korrekt‹ erscheinen. Dem wiederholenden Ausagieren der Phantasmen des Protagonisten steht andererseits ein szenischer Prozess gegenüber, in welchem die Ausgangssituation relativ offen weiterentwickelt werden kann. Der Präsenzeffekt, der im Psychodrama erzeugt werden soll, speist sich nicht aus einer täuschenden Ähnlichkeit, einer perfekten Simulation der vergangenen Szene, sondern aus der Emphase der Begegnung frei improvisierender Akteure, der Einmaligkeit und Authentizität des Spiels 26
27
Der Begriff des Enactments wird in der psychoanalytischen Diskussion keinesfalls einheitlich und häufig auch eng verquickt mit dem des Reenactments verwendet. Einen guten Überblick und Eindruck über relevante Positionen und begriffliche Binnendifferenzierungen liefert Ulrich Streeck, Szenische Darstellungen, nichtsprachliche Interaktion und Enactments im therapeutischen Prozess, in: ders. (Hg.), Erinnern, agieren und Inszenieren. Enactments und szenische Darstellungen in der Psychotherapie,
Göttingen
2000,
S.
1 3–55,
hier:
S.
31
f.
Siehe
auch den Artikel von Ulrich Streeck in diesem Band. Zu Moreno siehe die immer noch einschlägige Arbeit von Brigitte Marschall, »Ich bin der Mythe«. Von der Stegreifbühne zum Psychodrama Jakob Levy Morenos, Wien u. a. 1988.
Auftritt der Toten
54
im Hier und Jetzt. Darüber hinaus ist das Figurenarsenal des Psychodramas weit gespannt: »Auf der Bühne
ist
es
beispielsweise
auch
möglich,
mit
Verstorbenen
oder
Wahnfiguren
zu
sprechen;
dafür
schuf Moreno den Begriff ›surplus reality‹.«28 Auf Hamlet Bezug nehmend, heißt es bei ihm im Kontext von Psychosentherapie und einleitend in die Fallgeschichte einer Paranoikerin: Hamlet selbst sei auf der Psychodramabühne kein Schauspieler und
würde
auch
keinem
Shakespeare’schen
Rollenskript
folgen,
sondern
vielmehr
mit
dem
Geist
seines Vaters in unmittelbare, frei improvisierte Interaktion treten. Der wirkliche Hamlet mag jetzt sein eigenes Leben spielen. Im Psychodrama ist Hamlet nicht nur sein eigener Protagonist, er ist auch sein eigener Shakespeare; er ist es ja, der sein Spiel ungeschrieben in sich trägt. Wenn er die Bühne betritt, kommt er mit leeren Händen. Er ist ungeformt,
er
hat
keine
bestimmte
Gestalt,
nur
einen
unbestimmten
Umriß.
Was
kommen
wird,
ist
noch
in
seinem
Sein
verborgen[,]
es
ist
noch
sein
Geheimnis.
[…]
Shakespeare in der Person des Arztes wird zu einer Art intellektueller Hebamme, ein Psychotherapeut,
und
im
gemeinsamen
Spiel
wird
die
Hörerschaft
eine
therapeutische
Gruppe.
Damit
die
Therapie
wirksam
wird,
muß
die
Produktion
sich
vor
aller
Augen
in
der
Gegenwart
entfalten.29 Dieser Hamlet markiert eine wichtige Differenz zu demjenigen Theodor Reiks. Die Schwerpunkte der Szenographie haben sich verschoben. Der Therapeut ist nicht mehr wie bei Reik in der Position eines (Theater-)Zuschauers, der die Phantasiewelten des Analysanden im gesicherten Rahmen des psychoanalytischen Settings als zweite, geisterhafte Welt akzeptiert. Stattdessen wird er zum Koproduzenten,
der
als
›Hebamme‹
Geburtshilfe
bei
der
Figuration
des
jeweils
anderen
Hamlets
leistet
–
welche
Gestalt
dieser
denn
auch
immer
annehmen
mag.
Zu
sehen
ist
kein
Stück
Literatur
und
auch
keine
indirekte
Wiederauflage
eines
unabgegoltenen
Stücks
Vergangenheit.
Es
handelt
sich
nicht
um
eine
konkrete Rekonstruktion, Zeitreise oder geisterhafte Reinszenierung, sondern um die gemeinschaftliche Produktion einer Figur, an welcher der Protagonist ebenso wie der Therapeut und die Mitglieder der Psychodramagruppe Anteil haben. Neben
solchen
Formen
des
Enactments
finden
sich
in
den
letzten
Jahren
weitere
Modelle
szenisch
operierender Therapie, die in manchen Punkten eine Nähe zum Enactment aufweisen. 28 29
Michael Wieser, Artikel: »Moreno, Jakob Levy«, in: Personenlexikon der Psychotherapie, Wien 2005, S. 332–335, hier: S. 333. Jakob Levi Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart 1959, S. 291.
Céline Kaiser
55
Als ein solches ist das sog. Familienstellen nach Hellinger anzusehen, eine szenische Arbeitsform, die Bert Hellinger aus unterschiedlichen Elementen vor allem gruppentherapeutischer Ansätze entwickelt hat und die gleichermaßen populär wie umstritten ist. Auch wenn Hellinger einige Jahre betont hat, er würde keine Psychotherapie betreiben, ist es ihm gelungen, eine ›Schule‹ zu etablieren, die in zahlreichen Beratungs- und Therapiekontexten auftritt.30 Das Motiv der Auferstehung der Toten spielt in Hellingers Konzept des Familienstellens eine zentrale Rolle.
Die
Toten
und
Ausgeschlossenen
einer
Familie
oder
Gruppe
müssen,
so
sein
Credo,
in
einer
Aufstellung
vertreten
werden.
Eine
Aufstellung
soll
insofern
die
verdrängten
und
verworfenen
Gestalten, kurz: die mutmaßlich Untoten aus dem Umfeld der Protagonisten in Szene setzen und eine Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern, Eltern und Kindern etc. herstellen. Eine Aufstellung wird somit als
eine
Form
der
nachholenden
Trauerarbeit
aufgefasst,
die
›falsche‹
Identifikationen
auflösen
soll. In der ›Fallgeschichte von Benjamin‹, einem jüdischen Nachfahren von Holocaust-Überlebenden und Flüchtlingen aus Russland, wird dieser aufgefordert, die Toten seiner Familie aufzustellen. Aus den Kursteilnehmern wählt er sechs Teilnehmer aus, stellt sich vor sie, weicht zurück, weint mit schmerzverzerrtem
Gesicht,
während
Hellinger
weitere
sechs
Stellvertreter
der
›Mörder‹
auswählt
und
im
rechten Winkel zu den Opfern platziert. Schmerz- und Wutreaktionen bei Benjamin, der mal auf die Opfer, mal auf die Täter zugeht. Dann fordert Hellinger ihn auf: Hellinger: Schau die Mörder an und sag: ›Ich bin einer von euch.‹ Benjamin mit ruhiger Stimme: Ich bin einer von euch. Er nickt zustimmend. Hellinger:
Genau. zur Gruppe:
Er
ist
mit
den
Tätern
identifiziert. Benjamin nickt. Er neigt den Kopf, während er so vor den Tätern steht, und weint. Die Prozedur wird auf der Opferseite fortgesetzt, Benjamin wird hier aufgefordert, sich zu den Toten zu setzen, bei ihnen gewissermaßen Totenwache zu halten und auf diese Weise zu realisieren, dass sie ›wirklich gestorben‹ sind.31
30
31
Auf seiner aktuellen »offiziellen Homepage« spricht Hellinger wieder von seiner Arbeit als einer Form der Therapie. Der erste Satz der Startseite lautet sprechend: »Bert Hellinger is probably Europe’s most innovative and provocative psychotherapist and a best-selling psychotherapy author.« [http://www2.hellinger.com/en/home/ bert-hellinger/bert-hellinger/]. Vgl. Bert Hellinger, Der große Konflikt. Die Antwort, München 2005, S. 118 f.
Auftritt der Toten
56
In der gesamten Aufstellung werden keine Figuren entwickelt oder verbale Interaktionen ausgespielt. Allerdings werden ›Rollen‹ vergeben (die toten Familienmitglieder, die Mörder), ohne dass diese weiter ›gefüllt‹, mit konkreten Charakteristika ausgestattet würden. Die Stellvertreter agieren wie die Protagonisten sehr reduziert, bewegen sich vorsichtig aufeinander zu oder voneinander weg, reagieren auf Hellingers Einwürfe, zeigen emotionale Bewegtheit, die die Bedeutsamkeit des szenischen Geschehens
beglaubigt
und
in
Hellingers
Protokollen
und
Videoaufzeichnungen
festgehalten
wird.
Ziel ist es offenkundig nicht, Szenen aus der Vergangenheit nachzustellen oder zu reinszenieren, da auf Darstellung im engeren Sinn grundlegend verzichtet wird. Hellingers Habitus und einzelne deutende Sätze rahmen die Szenen und inszenieren ihn zugleich als Vermittler
eines
Wissens,
das
dem
szenischen
Geschehen
›schon
immer‹
zugrunde
liegt.
In
seiner
Ausdrucksweise: ›Es zeigt sich etwas‹, ›Etwas kommt ans Licht‹, kurz: In einer Aufstellung offenbare sich eine ›höhere Wahrheit‹. Folgerichtig wurde der Szenenraum der Familienaufstellungen von einem Schüler Hellingers, Albrecht Mahr, auch als »das wissende Feld« beschrieben, das die Bewegungen
der
Stellvertreter
lenke
und
das
szenische
Geschehen
steuere.32 Dagegen kommt die konkrete Szenografie
dieses
Offenbarungsgeschehens
im
Wesentlichen
mit
einem
Stuhlkreis
aus,
in
dessen
Mitte sich die Stellvertreter und Protagonisten bewegen. Hellingers Stellvertretungsmodell liegt zum einen eine bestimmte Interpretation des christlichen Auferstehungsglaubens zugrunde, die das Verhältnis von Judentum und Christentum in einen bestimmten Zusammenhang rückt. »Der Jude« in der christlichen Vorstellungswelt ist, so seine These, die Stellvertreterfigur
des
am
Kreuz
verzweifelnden
Menschen
Jesus
Christus,
den
der
christliche
Auferstehungsglaube verdrängt habe.33
In
seine
Adaptation
dieser
›Urszene‹
der
Stellvertretungsfigur
mischen
sich
jedoch zum anderen auch Traditionen, deren Totenkult eine Heimsuchung der Lebenden durch die Toten denkt.
So
heißt
es
in
seiner
Monografie
Der
große
Konflikt.
Die
Antwort aus dem Jahre 2005: In vielen Aufstellungen kam ans Licht, dass die Einzelnen, denen Unrecht getan wurde, als Einzelne die Seelen derer besetzen, die ihnen Unrecht taten oder aus ihrem Unglück Nutzen zogen, und dass sie nicht nur deren Seelen besetzen, sondern auch die ihrer Nachkommen, und zwar 32
33
Konzeptionen wie diese machen das Familienstellen nach Hellinger höchst anschlussfähig für esoterische Diskurse, auch wenn sich Mahr auf seiner Homepage als Leiter des Würzburger Instituts für Systemaufstellungen und Integrative Lösungen und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse und Systemtherapie präsentiert. Siehe: Albrecht Mahr, »Das wissende Feld – Familienaufstellung als geistig – energetisches Heilen«, in Geistiges Heilen für eine neue Zeit, München 1999, Download unter http://www. mahrsysteme.de/literatur.html. Ebd., S. 114 f.
Céline Kaiser
57
so lange, bis das Unrecht anerkannt wird, bis man ihnen in die Augen schaut, bis sie als Menschen wie wir anerkannt werden, bis wir ihnen die Ehre geben und mit ihnen gemeinsam über ihr Schicksal trauern.34 Diese in seinem Denkmodell zwingende Versöhnung wird in den Sitzungen mit einer Dynamik gekoppelt,
die
auf
der
Dichotomie
von
Opfer-
und
Täterschaft
beruht.
Gleich,
ob
es
sich
um
»Inkas
und Spanier«35 oder um jüdische Holocaust-Opfer und deren Nazi-Mörder handelt, Opfer und Täter müssen strukturell in den Aufstellungen in Erscheinung treten, um auf diese Weise Unrecht und Rachegefühle,
Trauer
und
Schmerz
›anzuerkennen‹
und
damit
idealiter
innerhalb
einer
Gruppensitzung
szenisch ›zum Abschluss zu bringen‹. Hellingers Ansatz arbeitet auf der einen Seite mit szenischen Techniken, die im Hier und Jetzt der therapeutischen Szene den pathogenen Komplex zur Aufführung und Wiederholung bringen wollen. Eine weitere Ähnlichkeit zum oben skizzierten Modell des Enactments besteht darin, dass auf eine mimetische Darstellungsweise, auf eine szenische Repräsentation vergangener Situationen verzichtet wird (die Stellvertreter agieren nicht wie Schauspieler, die einem Skript folgen könnten, die
Szenographie
beschränkt
sich
auf
einen
Raum
inmitten
einer
Gruppe
oder
Gemeinschaft).
Auf
der anderen Seite etabliert die Einbettung der Hellinger’schen Aufstellungen in esoterische Diskurse, die zentral von einer Wirkmächtigkeit der Ahnen ausgehen, einen ganz anderen szenischen Charakter, als wir ihn im Zusammenhang von Psychoanalyse und Morenos Psychodrama beschrieben haben. 36 Hellingers Vergangenheit »als Mitglied eines katholischen Missionsordens bei den Zulus in Südafrika«37, seine Konzeption des Ur-Stellvertreters Jesus und vor allem die Rahmung seiner Szenen legen nahe, dass seine Praxis des Familienstellens christliche Traditionen der Reinszenierung aufgreift. Zum protestantischen Konzept der Personalpräsenz, welches sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablieren konnte, lässt sich, soweit ich sehe, eine grundlegende Struktur34 35 36
37
Ebd., S. 121. … wie in der Fallgeschichte, die der in diesem Band dokumentierten Ausstellungsstation zugrunde lag, siehe S. 174ff. Neuerdings hat Hellinger gemeinsam mit seiner Frau Sophie Hellinger den Bezugsrahmen über den Kreis der Ahnen hinaus erweitert: Die Rede ist nun von »Cosmic Power«, einer kosmischen Energie (und eingetragenen Marke), die ›uns‹ in den Aufstellungen grundsätzlich auch mit dem »Trauma von Vernichtungskriegen« wie zum Beispiel dem »Mongolensturm« in Verbindung setzt oder setzen könnte, wenn diese denn aufgestellt würde. Siehe: http://www2.hellinger.com/home/cosmicpower/die-neue-qualitaet-cosmic-powerr-familienstellen/. Ebd.
Auftritt der Toten
58
ähnlichkeit ausmachen: Die Wirkmacht der Szene wird nicht aus der Performanz der in ihr hervorgebrachten
Aktionen
oder
einer
Deutung
des
dargestellten
Geschehens
abgeleitet,
sondern
diese
wird
vielmehr umgekehrt so gedacht, dass sie der Aufführung schon jeweils zugrunde liegt. Es sind die Ahnen und das Wirkungsfeld der Aufstellung, der spirituelle kosmische Zusammenhang, die etwas sichtbar werden lassen, nicht die Handlungen mehr oder minder autonomer Akteure.38 Nur so lässt sich auch verstehen, dass die aufgeführte Szene mehr wissen kann als die Protagonisten, wie einzelnen Aufstellungsaufzeichnungen zu entnehmen ist. Wird
das
Motiv
der
Auferstehung
der
Toten
in
der
Geschichte
der
Theatrotherapie
derart
gewendet und der Impuls des Enactments, die therapeutische Szene als Koproduktion aller Beteiligten zu betrachten, konterkariert, bleibt dem Protagonisten nicht viel anderes übrig, als die ›Offenbarung‹ dessen, ›was sich zeigt‹, die postulierte Anwesenheit des Abwesenden schlicht an- und hinzunehmen – oder aber sich aus der Szene zu verabschieden und gegebenenfalls andere Formen der Reinszenierung aufzusuchen.
38
Siehe hierzu den differenzierten Aufsatz von Alexander Schwan, »Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahl«, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung: Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 255–272, hier: S. 271, wo er zum Konzept der Personalpräsenz der Leuenburger Konkordie von 1973 schreibt: »Nicht der exakte Vollzug einer Handlung, nicht das Aussprechen
wirkmächtiger
Worte
des
Liturgen
und
nicht
die
Glaubensvirtuosität
der
Rezipienten
konstituieren die Authentizität der Wiederholung, sondern allein die Person Christi als Urheber und Anstifter der Abendmahlsgemeinschaft. Derart mit dem Axiom radikaler Theonomizität gedacht, wird Authentizität deutbar als ein Aspekt göttlichen Wirkens und menschlicher Einflussnahme radikal entzogen. Authentizität ist damit kein herstellbarer Effekt von Wiederholung, sondern umgekehrt die transzendentale Ermöglichungsbedingung performativer Repetition.« Weitere Untersuchungen (auch von theologischer Seite) wären zu diesem Zusammenhang wünschenswert.
Philippe Pinel
[1800] Lioba von Hardenberg, Victoria Waldhausen
Kurzfilm
»Der
Fall
des
Schneiders«
der
Filmstudentinnen
Lioba
von
Hardenberg
und
V ictoria
Waldhausen
zu
einer
Fallgeschichte
von
Philippe
Pinel.
(Deutschland, 15:30 Min)
Philippe Pinel Lioba von Hardenberg, Victoria Waldhausen In den 1790er Jahren und damit mitten in den Wirren der Französischen Revolution übernahm Philippe Pinel in Paris die Leitung der Anstalt von Bicêtre und war wenig später auch an der Salpêtrière leitend tätig. 1745 als Sohn eines Landarztes im Süden Frankreichs geboren, befand er sich Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner medizinischen Karriere. Über Frankreich hinaus wurde er nicht nur als Begründer der institutionellen Psychotherapie, sondern auch als ›Befreier der Irren von den Ketten‹ gefeiert. Pinel, der sich dem Ansatz eines ›traitement moral‹ verpflichtet
fühlte,
experimentierte
als
einer
der Ersten mit szenischen Mitteln in der Psychotherapie.
Ein solches Experiment wird in einer Fallgeschichte aus seiner Philosophischmedicinische[n] Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie, die um 1800 in französischer und deutscher Sprache veröffentlicht wurde, geschildert. Ein Tagelöhner war völlig entkräftet eingeliefert worden, der von der Wahnvorstellung besessen war, dass er von Revolutionskommissaren arretiert und guillotiniert werden würde, weil er in der Öffentlichkeit einige kritische Bemerkungen zur aktuellen politischen Lage fallengelassen hatte. Nachdem andere therapeutische Maßnahmen nicht fruchteten, inszenierte er mithilfe einiger junger Ärzte eine Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf der Schnei-
der von seiner angeblichen Schuld freigesprochen wurde. Auf diesem Wege sollte der Wahnsinnige von seiner Angst vor der Verhaftung und Verurteilung zum Tode befreit werden. Zunächst schien dieser Plan aufzugehen. Nachdem dem Patienten die Gerichtsverhandlung als reine Inszenierung
erklärt
worden
war,
fiel
dieser
jedoch
unrettbar in seinen alten Wahn zurück. Lioba von Hardenberg und Victoria Waldhausen haben aus dieser Fallgeschichte einen
Kurzfilm
gemacht.
Schauplätze der Kur. Räume und Objekte in Breuers und Freuds Studien der Hysterie (Anna O. ..., Katharina ...) Ingo Uhlig
Ingo Uhlig
65
1. Serie über Hysterie Heute ist es längst ein Topos, dass einem Serienhelden keine Pause vergönnt wird. Versucht er es dennoch – indem er Ferien macht, auf Reisen geht oder eine Auszeit nimmt –, holt ihn seine Berufung ein:
Unverhofft
und
eher
unwillkürlich
findet
er
zurück
in
die
Fortsetzung
seiner
Abenteuer.
Ein
neuer
Fall, ein zu lösendes Rätsel geleiten ihn zu jener Tätigkeit zurück, die er beherrscht oder – wahrscheinlich treffender formuliert – von der er beherrscht wird. Es scheint, als ob Sigmund Freud in den 1890er Jahren während der Abfassung der Studien über Hysterie längst um diese merkwürdige, ebenso schicksalhafte wie ironische Dynamik wusste. Die Studien über Hysterie1, erschienen 1895, bestehen im Kern aus einer Serie von fünf Krankengeschichten, betitelt mit den Vornamen der Patientinnen, einigen zumeist in Kürzeln dargestellten Angaben zu Alter, Familienstand oder Herkunft und der Angabe des Arztes beziehungsweise Autors: Beobachtung I. Frl. Anna O… (Breuer), II. Frau Emmy v. N…, 40 Jahre, aus Livland (Freud), III. Miss Lucy R…, 30 J. (Freud), IV. Katharina … (Freud) und V. Fräulein Elisabeth v. R… (Freud). Alle diese Frauen zeigen hysterische Symptome, alle leiden, wie es Breuer und Freud bündig ausdrücken, »an Reminiscenzen«2, das heißt an der Wiederkehr traumatischer Begebenheiten, die im unbewussten Teil ihres Erinnerungsvermögens fortdauern. Die mit der Krankheit in Zusammenhang stehenden Ereignisse der Lebensgeschichte, der eigentliche Verlauf der Krankheit und die angewandte Therapie werden von Breuer und Freud in diesen Texten dokumentiert. Nachdem sich der Leser bereits mit dem klinischen Umfeld und dem Ton des ärztlichen Berichts vertraut gemacht hat, wird in der vorletzten, der vierten der fünf Fallgeschichten eine überraschende Episode
eingeflochten.
In
die
Katharina … betitelte Studie führt eine kleine Einleitung, in der Freud berichtet,
dass
er
selbst
auf
sonderbare
Weise
in
den
Einfluss
der
Wiederholung
und
ihrer
Befremdlichkeit geraten ist. Nimmt man es genau, so gibt es in den Studien über Hysterie nicht nur jene fünf Frauen- oder Patientinnengestalten, deren Handeln eine Wiederholungs- oder Reminiszenz-Figur darstellt, sondern es gibt noch eine sechste: den Arzt und Erzähler Freud. Der Text eröffnet ganz im Stile einer Abenteuererzählung, wir treffen auf einen Helden, der sich Ferien
in
den
Bergen
gönnt,
um
dem
Immergleichen
des
ärztlichen
Berufslebens
zu
entfliehen,
es
dort
aber
mit
einer
eigentümlichen
Zielstrebigkeit
wiederfindet.
Der
freie
Himmel
des
Hochgebirges
wird
scheinbar unverhofft zum Ort einer improvisierten Analyse:
1 2
Zitiert hier nach der Erstausgabe: Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, Leipzig und Wien 1895. Ebd., S. 5.
Schauplätze der Kur
66
In
den
Ferien
189*
machte
ich
einen
Ausflug
in
den
Hohen
Tauern,
um
für
eine
Weile
die
Medicin und besonders die Neurosen zu vergessen. Es war mir fast gelungen, als ich eines Tages von der Hauptstrasse abwich, um einen abseits gelegenen Berg zu besteigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut erhaltenen Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender Wanderung oben angelangt, gestärkt und ausgeruht, sass ich dann in die Betrachtung einer entzückenden Fernsicht versunken, so selbstvergessen da, dass ich es erst nicht auf mich beziehen wollte, als ich die Frage hörte: »Ist der Herr ein Doctor?« Die Frage galt aber mir und kam von dem etwa 18jährigen Mädchen, das mich mit ziemlich mürrischer Miene zur Mahlzeit bedient hatte und von der Wirthin »Katharina« gerufen worden war. Nach ihrer Kleidung und ihrem Betragen konnte sie keine Magd, sondern musste wohl eine Tochter oder Verwandte der Wirthin sein. Ich antwortete, zur Selbstbesinnung gelangt: »Ja ich bin ein Doctor. Woher wissen Sie das?« »Der Herr hat sich in’s Fremdenbuch eingeschrieben, und da hab’ ich mir gedacht, wenn der Herr Doctor jetzt ein bischen Zeit hätte –, ich bin nämlich nervenkrank und war schon einmal bei einem Doktor in L..., der hat mir auch etwas gegeben, aber gut ist es mir noch nicht geworden.« Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas anderes konnte es sich bei dem grossen und kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessirte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten, ich fragte also weiter.3 So
weit
der
Erstkontakt
zwischen
Arzt
und
Patientin,
von
Freud
(wie
auch
das
anschließende
Gespräch)
aus
dem
Gedächtnis
rekonstruiert,
der
Dialekt
Katharinas
wird
in
der
wörtlichen
Rede
nachempfunden. Die sonst übliche Befragung unter Hypnose unterlässt der Arzt angesichts des improvisierten Rahmens und ersetzt sie durch gezielte, den ihm vertrauten Mustern der Krankheit folgende Fragen.
»Die
Hypnose
zwar
wagte
ich
nicht
in
diese
Höhen
zu
verpflanzen,
aber
vielleicht
gelingt
es
im
einfachen
Gespräche.
Ich
musste
glücklich
rathen.« 4 Freud – so könnte man dieses Verfahren skizzieren – stellt Vermutungen an und lässt sie von Katharina korrigieren oder, wie in den überwiegend ›glücklichen‹ Fällen, bestätigen. Interessiert zeigt sich Freud hier aber zunächst weniger an der Krankheit selbst, sondern an der Besonderheit ihres geographischen Auftretens: »dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten«. Die Verwunderung, die hier mitschwingt, rührt wohl daher, dass eher Städte 3 4
Ebd., S. 107. Ebd., S. 108.
Ingo Uhlig
67
und
vor
allem
die
Großstädte
des
Fin
de
Siècle
die
Zentren
des
nervösen
Zeitalters
bildeten.5 Aber, so die überraschende Erkenntnis des Arztes, nicht nur die überreizten Metropolen, auch die Idyllen des Hochgebirges sind ein Entstehungsort der Hysterie. Es ist die Urlaubsreise, die zu diesen Überlegungen
über
eine
vergleichende
Geographie
der
Neurosen
inspiriert
und
auf
das
Thema
der
Räume,
der
Umgebungen verweist: In der Unterscheidung von Stadt und Land werden zwei Entstehungsmilieus der Krankheit markiert. Aber Freud lenkt in der kurzen Exposition der Katharina-Studie die Aufmerksamkeit noch in einer zweiten
Hinsicht
auf
räumliche
Gegebenheiten
und
Umwelten.
Das
kurze
Narrativ
entwickelt
die
topographischen
und
situativen
Gegebenheiten
von
Freuds
unverhofftem Wiedereintritt in die therapeutische Situation, es führt durch konkret bezeichnete Orte und Objekte,
protokolliert
Empfindungen
und
Wahrnehmungen,
um
schließlich
in
der
Wiedergabe
dieser
empirischen und ästhetischen Komponenten ein singuläres, ›herausgehobenes‹ und – pointiert durch die
literarische
Geste
–
novellistisches
Ereignis
darzustellen.6 Wenn mit der Feststellung, »wieder in den Neurosen« zu sein, offensichtlich eine Figur der Wiederholung angesprochen wird, so wird sie eingebettet in eine skizzenhafte Topographie, sie gruppiert und dramatisiert Dinge und Subjekte, schließlich
lässt
sie
sich
als
ein
kohärentes
Geschehen
erzählen
und
datieren.
5
6
Vgl.
etwa
den
exemplarischen
soziologischen
Befund
von
Georg
Simmel
aus
dem
Jahr
1903:
»Die
Großstädte
und
das
Geistesleben«,
in:
ders.,
Brücke und Tür, Stuttgart 1957, S. 227–242. Im Verlauf der Katharina-Studie zieht
Freud
noch
ein
z weites
Mal
den
Stadt-Land-Vergleich.
Gegenstand
ist
die
für
Freud
überraschende
Offenheit, mit der die Patientin über intime Einzelheiten Auskunft gibt: »[I]ch bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, dass sie soviel leichter mit sich reden lässt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für die alle naturalia turpia sind.» Ebd., S. 113. Im Blick auf die Studien über Hysterie hat Freud den novellistischen Charakter selbst bemerkt. Die berühmt gewordene Formulierung, »dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind«, findet sich in der Studie Fräulein Elisabeth v. R…, also in jenem Text, der auf Katharina … folgt und die Serie der Fallgeschichten
beschließt.
Der
Satz
lautet
in
Gänze:
»Ich
bin
nicht
immer
Psychotherapeut
gewesen,
sondern
bin bei Localdiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und
dass
sie
sozusagen
des
ernsten
Gepräges
der
Wissenschaftlichkeit
entbehren.«
Studien über Hysterie, S. 140. Bezüglich des literarischen Charakters der Freudschen Texte vgl. die Monographien von Walter Schönau, Sigmund Freuds Prosa. Literarische Elemente seines Stils, Stuttgart 1968 (Die Katharina-Einleitung wird hier besprochen auf S. 208–212), sowie Patrick J. Mahony, Der Schriftsteller Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1989.
Schauplätze der Kur
68
2. Vorboten Ich möchte zunächst bei diesem eigentümlichen, ebenso veduten- wie novellenartigen Auftakt der Studie Katharina verbleiben. Dieser Auftakt ist schon insofern bemerkenswert, als die Schilderung der Bergwanderung nichts zum wissenschaftlichen Verständnis hysterischer Erkrankungen beiträgt. Freud war sich darüber sicherlich im Klaren. Dies zeigt etwa eine Zusatzbemerkung zur KatharinaStudie von 1924, in der erklärt wird, dass der beschriebene Ort, die Hohen Tauern, nicht der tatsächliche
Schauplatz
des
Geschehens
war.
Diese
Hinzudichtung
sei
zum
Zweck
der
Anonymisierung
erfolgt,
das
fiktive
Element
spiele
aber
hinsichtlich
des
sachlichen
Gehalts
keine
Rolle:
»belanglos«
sei die »Verlegung des Schauplatzes von einem Berg auf einen anderen«7. Es gibt also, so ließe sich diese
beiläufige
Formulierung
verstehen,
in
diesem
Text
ohnehin
Anteile,
die
Beiwerk
sind;
es
sind
literarische
und
fiktive
Ornamente,
deren
konkrete
Gestalt
nicht
notwendig
ist
und
deren
Schilderung
vielleicht ebenso hätte unterbleiben können. Hinweise auf einen ernsthafteren Sinn dieses Textes gibt aber möglicherweise das pointierte ZuTage-Treten
der
Wiederholungsfigur:
Erscheint
nicht
Freuds
unbewusste
Rückkehr
zu
den
Neurosen
als eine regelrechte Spiegelung der pathologischen Wiederholungen der Frauengestalten? Und bietet sie nicht als eine solche eine gleichnishafte Anschaulichkeit und Propädeutik hinsichtlich des modernen psychoanalytischen Begriffs der Wiederholung, gerade indem deren paradoxe Struktur gezeigt wird? Sie ist eine Digression, die geradewegs zum Kern der Dinge führt. Dies gilt sowohl inhaltlich als auch formal: Inhaltlich, indem von der bemerkenswert zielgerichteten Abschweifung des Wanderers berichtet wird. Formal, indem diese Schilderung am Beginn der vierten Studie ein literarisches Ornament inmitten einer wissenschaftlichen Abhandlung darstellt, als ein solches Surplus aber in das argumentative Zentrum der Studien über Hysterie führt: zum Begriff unbewusster Reminiszenz und Wiederholung. Wie stellt sich dies auf der Textebene im Einzelnen dar? Einen ersten Hinweis, wie bei der Interpretation
dieses
Textes
vorzugehen
wäre,
gibt
Freud
selbst.
Er
findet
sich
in
der
erwähnten
1924
hinzugefügten
Anmerkung,
wo
in
einer
ebenso
beiläufigen
wie
souveränen
Formulierung
die
Verlegung
des »Schauplatzes« erklärt wird. Der Ortswechsel von »einem Berg auf einen anderen« ist womöglich nicht
von
Interesse,
signifikant
ist
aber
jene
szenische
Vokabel
des
Schauplatzes,
die
Freud
hier
drei
Jahrzehnte nach der Abfassung der Katharina-Studie zu ihrer Beschreibung verwendet. In der Tat erzeugt die Exposition der Studie mit ausgesprochen literarischen Mitteln einen Schauplatz. 7
Die
Rätsel
um
den
tatsächlichen
Ort,
die
reale
Person
und
Familiengeschichte
Katharinas
lösen:
Gerhard
Fichtner, Albrecht Hirschmüller, »Freuds ›Katharina‹ – Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Bedeutung einer frühen psychoanalytischen Krankengeschichte«, in: Psyche 3 (1985), S. 220–240, S. 2
Ingo Uhlig
69
Was trägt sich hier im Einzelnen zu? Am Anfang stand das eigentliche Vorhaben der beschaulichen Wanderungen in der Sommerfrische. Ein Bergidyll sollte der Ort sein, an dem der Erzähler ein wohltuendes Vergessen erfährt (auf diesen Wunsch, zu vergessen, wird in der zitierten Passage wiederholt hingewiesen). Was dort nun im Weiteren geschah, ist nicht zu trennen von Momenten des Unverhofften und der Überraschung sowie von einer nicht beobachteten oder verborgenen Kausalität. Fast war die kleine selbstverordnete Kur, also das Zurücklassen des Wiener Berufslebens gelungen, als sich – »eines Tages«, nach dem Verlassen der Hauptstraße und am entlegenen Ort – das, was zurückgelassen
werden
sollte,
wieder
Gegenwart
verschaffte.
Hier
betritt
jene
Person
die
Szene,
die
mit dem Namen »Katharina« gerufen wurde, anscheinend höher gestellt als die übrigen Hausbediensteten, ist sie Freud schon durch ihr mürrisches Betragen bei Tisch leise aufgefallen. All dies sind eher unbestimmte Wahrnehmungen und kleine Perzeptionen, in ihrer Retrospektive aber deutet sich an, dass
sie
unbewusst
bereits
vorgenommen
wurden
–
die
Abschweifung
ins
unwegsamere
Gebirge,
eine Familienszene, eine mürrische Miene ... Diesen latenten Beobachtungen des Arztes kommt die zukünftige Patientin entgegen. Katharina hatte nach Freuds Erscheinen auf der Hütte umgehend das Gästebuch
ausgespäht
und
dort
jenen
Signifikanten
entdeckt,
der
Freud
ausweist
und
dessen
überraschendes
Aussprechen
im
Dialog,
dass
»der
Herr
ein
Doctor«
ist,
die
Wiederholungsfigur
weiter
vervollständigt.
Es
gab
eine
Art
stiller
und
beobachtender
Gegenseitigkeit,
eine
Entsprechung,
die
dem
Gespräch
und
dem
offenen
Vis-à-vis
vorausging.
Freud
entwirft
den
Übergang
vom
Privatmann
zum Arzt, so ließe sich dies zusammenfassen, weniger als Vor- denn als Vorbotengeschichte.8 Auch wenn das eigentliche Zusammentreffen mit Katharina und die prompte Entstehung der therapeutischen
Gesprächssituation
erst
nach
der
Wanderung
und
der
Mahlzeit
auf
der
Hütte
erfolgen,
werden
der
Gang
durchs
Gebirge
und
das
erste
Gewahrwerden
der
Frauengestalt
fester
Bestandteil
dieses Wiederholungsgeschehens. Es lässt sich schwer angeben, wann es genau begann, die Auflösung der Urlaubsidylle ist aber von Anfang an zu erwarten: Es sind kaum merkliche Spuren und Affektionen, die die ursprünglichen Urlaubspläne des Erzählers durchkreuzen, ihn – auch wenn er dies alles nicht auf sich beziehen will – in »die Neurosen« zurückführen und schließlich dazu bringen, sich aus dem nachmittäglichen Dämmerzustand heraus staunend die Frage zu stellen: »Sollte ich hier einen Versuch der Analyse machen?« Die
Wiederholung
ist
ein
ereignishaftes
Geschehen,
das
den
Akteuren,
die
es
verwickelt,
für
einen
Moment enteilt, aber gerade darin zur Überdeterminierung neigt und zur Erzählung reizt. Auch wenn uns
die
Wiederholung
(ähnlich
einem
Déjà-vu)
ans
Vertraute
und
Vergangene
fesselt,
bleibt
sie
ein
inspirierender Zufall, der erzählt werden möchte. Es macht jenen »Schauplatz« aus, dass er nicht nur 8
Zu
dieser
Vorboten-Figur
vgl.
auch
Gilles
Deleuze,
Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 157 ff.
70
Schauplätze der Kur
anhand
seiner
raum-zeitlichen
Gegebenheiten
bestimmt
ist,
sondern
als
ein
singuläres
Datum
der
Wahrnehmung, das eine poetische Anreicherung und Entfaltung erfahren muss: Wie ist der Wanderer nur auf jenen Pfad und an jenen Ort gelangt, der ihn geradewegs zum Vergessenen zurückgeführt hat? Auf dieser Szene übernimmt also Freud das Rollenklischee des Serienhelden, dem seine Berufung auch während der Ferien keine Pause gönnt. Sicher ist dabei auch eine gewisse Ironie im Spiel – eine Lust
an
der
rhetorischen
Geste,
welche
die
Zufälligkeit
der
Begegnung
mit
beredtem
Vergnügen
aufgreift. Auffällig ist zudem, dass Freud mit dieser Konstellation von Hochgebirgsschauplatz und Wiederholung
in
eine
literaturgeschichtlich
signifikante
Reihe
von
frühen
Zauberberg-Variationen
fällt.
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts werden das Wiederholungsthema und dessen Akteure in sehr zentralen Texten in eine Alpenkulisse verlegt, so etwa in Friedrich Theodor Vischers Romangroteske der Neurose Auch einer. Eine Reisebekanntschaft (1879) oder in Friedrich Nietzsches philosophischer Dichtung Also sprach Zarathustra (1883). Zudem steht die Szene in der Nachbarschaft psychoanalytischer Theorie- und Darstellungselemente, welche in den Schriften der folgenden Jahrzehnte noch en détail ausgearbeitet und angewandt werden sollen: etwa die Kraft eines Wiederholungszwangs, dem das Subjekt unbewusst unterliegt und der es in ein stereotypes Muster zurückführt, oder das Feld jener Psychopathologien des Alltagslebens, die Freud in der gleichnamigen Studie von 1901 unter Anführung zahlreicher autobiographischer Episoden untersucht. Stets zeigt sich dort, dass die Fehlleistungen und Digressionen des Alltags eigentlich die schnurgeraden Wege des Unbewussten sind, man muss lediglich ihre verborgene Kausalität ans Licht bringen. Vor allem in dieses Muster von autobiographischen Miniaturen fällt jene Wiedergabe der Bergwanderung in Katharina: Was aus der Perspektive des Ruhesuchenden eine Abirrung war, erscheint in der Perspektive des Unbewussten als direkte Verbindung. In der Inszenierung dieser unbewussten Kräfte ist die Hochgebirgs-Episode ein schnell gegebenes Zeichen, eine Art Wink, den der Leser der Studien über Hysterie durchaus übersehen kann, der ihm aber die Intervention des Unbewussten kurz offenlegt. Aber diese Episode zeigt nicht nur die Struktur der Wiederholung, sie erschließt auch jenes Darstellungsprogramm, das Psychoanalyse und Literatur nahe zueinander führt und das Freud bei der Lektüre der eigenen Texte mit einer gewissen Verwunderung bemerkt hat. Der novellistische Charakter dieser Texte ergibt sich auch daraus, dass ein Ereigniszusammenhang geschaffen wird, der Situationen, Personen und Objekte gruppiert und dieses Umfeld den untergründigen und verborgenen Kräften der Wiederholung aussetzt. So erfordert das Widerfahrene einen gewissen Darstellungsaufwand – es sind die eigentümlichen undurchsichtigen Kausalitäten des Unbewussten, die am Auftakt der
Ingo Uhlig
71
Katharina-Studie inszeniert werden. Dem Bewusstsein sind sie immer einen Schritt voraus, sie verhüllen ihre Ursächlichkeit und führen unbemerkt Regie. So entstehen Szenen, die stets das Erwartbare
an
einen
kritischen
Punkt
führen,
um
es
dort
poetisch
anzureichern,
die
Dinge
und
Geschehnisse
werden rätselhaft und beinah phantastisch. (Damit wäre zugleich jener Knoten geschürzt, an dem die Analyse anzusetzen und den sie zu lösen hätte. Ihr obläge die Offenlegung der tatsächlichen Kausalzusammenhänge, das heißt die Offenlegung dessen, was als Verdrängtes wiederkehrt.) 3. espace seconde Die Katharina-Studie enthält sicher eine Reihe von Aspekten, die Anlass für ein literaturwissenschaftliches Herangehen bieten würden. Nach der Reprise am Auftakt entwickelt sich ja erst das Familiendrama der inzestuösen Annäherungen und der Traumatisierung sowie jene Enthüllungsgeschichte, welche
die
Person
Freud
ins
Spiel
bringt:
den
Arzt,
der
mit
detektivischem
Geschick
diese
Tatzusammenhänge aufspürt, offenlegt und damit Katharinas ominöse Atempanik erklären kann. Beide Anklänge, sowohl an die im 19. Jahrhundert beliebten Bauernromane als auch an das Detektivgenre sind bereits bemerkt worden.9 Ich möchte hier aber die Wiederholungs-Thematik nochmals anhand einer anderen Fallgeschichte in den Blick nehmen, einer Fallgeschichte, die nicht nur die Studien über Hysterie eröffnet, sondern in gewisser Weise die Psychoanalyse insgesamt begründen sollte: die Studie über Anna O. Dieses Gründungsdokument
stammt
nicht
von
Freud,
sondern
von
dessen
vierzehn
Jahre
älterem
Kollegen,
damaligem Freund und Mentor: dem Wiener Arzt Josef Breuer. Hinter dem Patientenpseudonym Anna O. verbirgt sich Berta Pappenheim (1859–1936), eine junge Frau aus großbürgerlich-jüdischem Elternhaus, die nach ihrer Erkrankung und Therapie als politische Aktivistin und Frauenrechtlerin bekannt werden sollte.10 Obwohl jene Figur der Anna O. schon früh von Legenden und Fiktionen umgeben war (diese entsprangen vor allem aus den in der Studie verschwiegenen Libidoaspekten: das offene Fragen lassende Verhältnis zu ihrem Vater und die ominöse Übertragungsliebe zu Breuer), zeichnet sich Breuers Text durch eine große, ja bestechende Klarheit aus. Klar wird vor allem jene innovative These der Psychoanalyse, dass es sich bei der Hysterie nicht um ein körperlich verursachtes Leiden handelt, 9
10
Vgl. Renate Böschenstein,»Analyse als Kunst. Thomas Mann und Sigmund Freud im Kontext der Jahrhundertwende», in: Thomas Sprecher (Hg.), Literatur und Krankheit im Fin de Siècle (1890–1914). Thomas Mann im europäischen Kontext (Thomas-Mann-Studien Bd. XXVI), Frankfurt am Main 2002, S. 73–94, sowie Jutta Prasse, Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze, Bielefeld 2004, S. 183–193. Vgl. bezüglich der biographischen Einzelheiten: Marianne Brentzel, Sigmund Freuds Anna O. Das Leben der Berta Pappenheim,
Göttingen
2002.
Schauplätze der Kur
72
sondern dass sowohl die Ursachen wie auch die Therapieansätze der somatischen Symptome auf einer psychischen Ebene zu suchen sind. Die Freudsche Formel, dass der Hysteriker wesentlich an Reminiszenzen leidet, wird an dieser Darstellung ungemein plastisch. Auch wenn die tatsächliche Therapie der Berta Pappenheim nicht diesen fest umrissenen Verlauf nahm (die historische Sachlage ist in Teilen entstellt, der massive Einsatz von Chloral und vor allem Morphium wird zum Beispiel nicht erwähnt), verhalf die Studie über Anna O. wesentlich dazu, die zentralen Innovationen des psychoanalytischen Ansatzes einer breiteren Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Breuer selbst wusste sehr genau um die Modellhaftigkeit seiner Studie: »In der weitgehenden Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit seiner Pathogenese scheint mir vor allem das Interesse dieses Falles zu liegen.«11 Wobei sich diese Evidenz
–
Breuer
trägt
diesen
Gedanken
in
einem
ähnlich
entschuldigenden
Tonfall
wie
Freud
vor
–
nicht zuletzt einem gewissen erzählerischen Aufwand (dem »Eingehen ins Detail«) verdankt, der das übliche Maß medizinischer Fallberichte überschreitet: Soviel nicht uninteressanter Einzelheiten ich auch unterdrückt habe, ist doch die Krankengeschichte der Anna O … umfangreicher geworden, als es eine an sich nicht ungewöhnliche hysterische Erkrankung zu verdienen scheint. Aber die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte.12 Jene narrative Ausführlichkeit wird vor allem bei der Rekonstruktion der Zustände beziehungsweise Zustandswechsel erforderlich, die die Patientin durchläuft. In auffälliger Weise alterniert Anna O. zwischen zwei Zuständen: zwischen einer Wachphase und einer (von ihr selbst so bezeichneten) condition seconde. Der zweite Zustand erscheint bald als jene Welt, die Breuers Erzählung aufsuchen und zur Darstellung bringen muss. Hier entdeckt der Arzt den Schauplatz, auf dem sowohl die rätselhaften
Symptome
der
Kranken
ihre
Erklärung
finden
als
auch
die
eigentliche
Kur
ansetzen
muss
– die Patientin wird hierhin geleitet und durchlebt die traumatischen Ereignissen in all ihrer sinnlichen Intensität und ihren Affektionen ein zweites Mal. Für diese Annäherung an das Trauma weist vor allem die Entschlüsselung der zeitlichen Struktur der Erkrankung
den
Weg.
Das
Grundmuster
gibt
sich
rasch
zu
erkennen:
In
der
condition seconde wiederholt die Patientin jene traumatischen Ereignisse, welche die Erkrankung ausgelöst haben, anders formuliert: Ihre Halluzinationen versetzen sie in die Vergangenheit. Das Verblüffende an diesen Zeitsprüngen ist allerdings ihre Exaktheit, die es erlaubt, die Hysterie als ein Phänomen einer regelrecht kalendarisch 11 12
Studien über Hysterie, S. 32. Ebd.
Ingo Uhlig
73
strukturierten Wiederholung zu beschreiben. Anna O. wiederholt über den Zeitraum von etwa einem halben Jahr, von Dezember 1881 bis Juni 1882, täglich Szenen, die sich auf den Tag genau vor einem Jahr abgespielt haben (ein Tagebuch, geführt von ihrer Mutter, sollte hierüber Aufschluss geben). So wird die Krankheit als ein Problem oder eine Pathologie der Zeit kenntlich: Es handelt sich um eine subjektive,
antinomische
Zeit
oder
Gegenwart,
die
nicht
vergehen
will
und
die
in
diesem
Fort-
oder
Andauern, das heißt als Wiederkehr des Traumas, die hysterischen Symptome hervortreten lässt.13 Die Krankheit ist, so Breuer, wesentlich ein »Wiederdurchleben«14 vergangener Zeit. Nicht zu übersehen ist nun, dass in jenem Moment, in dem Breuer von der Entdeckung jener mysteriösen Wiederholungsstruktur berichtet und mit ihrer Darlegung beginnt, in eine Prosa gewechselt wird,
die
verstärkt
räumliche
Umfelder
und
Objekte
zur
Darstellung
bringt.
Die
Zuspitzung
und
Auflösung der Krankengeschichte geht mit der prägnanten Lokalisierung der Fallerzählung einher. Wie stellt sich dies im Aufbau und Zusammenhang des gesamten Textes dar? In einer etwa zweiseitigen Einleitung wird zunächst die Patientin vorgestellt und der Krankheitsverlauf wird, hervorgehoben und gegliedert durch vorangestellte arabische Buchstaben, zusammengefasst (S. 15–16). Danach folgt
ein
erster
Teil,
der
die
Krankengeschichte
von
Beginn
(der
P flegezeit
des
Vaters)
bis
zu
dem
Zeitpunkt behandelt, an dem die Patientin von einem Klinikaufenthalt auf dem Land nach Wien zurückkehrt (S. 16–25). Der letzte Absatz dieses Teils macht den Leser auf einen Ortswechsel aufmerksam, der im Folgenden eine wichtige Rolle spielen wird: »Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war) […]«. So schließt dieser Teil mit dem Hinweis auf Wegstrecken und Umzüge: Anna O. ist nach dem Aufenthalt in der Landklinik, gemeint ist hier das südlich von Wien gelegene Sanatorium Inzersdorf, wieder bei der Familie untergebracht, allerdings hat die Familie zwischenzeitlich innerhalb Wiens die Wohnung gewechselt. Der zweite Teil der Fallgeschichte (S. 25–32) setzt nun an diesem Ort ein, er beginnt damit, dass von der Entdeckung der Wiederholungs- oder Kalenderstruktur der Krankheit berichtet wird. Breuer findet
hier
den
vollen
Zugang
zu
den
Wahngebilden
seiner
Patientin.
»Es
hatte
sich
nun
gejährt,
dass
sie vom Vater getrennt, bettlägerig geworden war, und von da an klärte und systemisirte sich der Zustand in sehr eigenthümlicher Weise«.15 Im Nachvollzug dieser Systematik, das heißt im Nachvollzug und Durchgang jenes Wiederholungs-Kalenders, führt die Erzählung durch die zahlreichen Situationen der Kur. Breuer erzählt, wie sich dieses Leben im anderen, vorigen Jahr physisch und szenisch 13 14 15
Joseph Vogl, Zeit des Wissens, in: Dialektik 2 (2000), 137–148, hier S. 144. Studien über Hysterie, S. 12. Ebd., S. 25.
Schauplätze der Kur
74
realisierte – eine Schilderung von Schauplätzen setzt ein: Die Rückversetzung in das vorhergegangene Jahr geschah so intensiv, dass sie in der neuen Wohnung ihr früheres Zimmer hallucinirte und, wenn sie zur Thüre gehen wollte, an den Ofen anrannte, der nun zum Fenster so stand wie in der alten Wohnung die Zimmerthüre. Der Umschlag aus einem Zustand in den anderen erfolgte spontan, konnte aber mit der grössten Leichtigkeit hervorgerufen werden durch irgend einen Sinneseindruck, der lebhaft an das frühere Jahr erinnerte. Es genügte, ihr eine Orange vorzuhalten (ihre Hauptnahrung während der ersten Zeit ihrer Erkrankung), um sie aus dem Jahr 1882 ins Jahr 1881 hinüberzuwerfen. Diese Rückversetzung in vergangene Zeit erfolgte aber nicht in allgemeiner und unbestimmter Weise, sondern sie durchlebte Tag für Tag den vorhergegangenen Winter.16 Es
sind
diese
Objekte,
Interieurs
und
Sinneseindrücke,
welche
Vergangenheit
und
Gegenwart
der
Patientin in Resonanz versetzen und es Breuer erlauben, den Fixierungen des Unbewussten auf die Spur zu kommen. Initiiert wird dieses Theater durch den einen oder anderen Trick: die Installation von
Gegenständen,
das
Nach-
oder
Aufstellen
von
Szenen.
In
der
Folge
wird
die
Liste
dieser
bemerkenswerten doppel-zeitigen Objekte, Sinneseindrücke noch um einiges erweitert: Es geht um Möbel, Kleider und Textilien, Wassergläser, Lokomotivengeräusche, Tanzmusik. Diesem Bericht folgend, wird der Leser gleichsam durch jenes neue Zimmer und sein Interieur geleitet, in dem sich die zwei Zustände oder Zeiten der Anna O. übereinandergelegt haben. Die Bewegung,
die
hier
z wischen
den
beiden
Zeitreihen
in
Gang
kommt,
wird
begleitet
von
hypnotischen
Zuständen und starken Affekten. Vor allem dieses stark sinnlich geprägte Wiederdurchleben der vergangenen Ereignisse bringt die Zäsur, die von Breuer und Freud so genannte Katharsis hervor. Sind erst einmal diese Situationen geschaffen und die entsprechenden Affekte evoziert, kann die reflexive
Verarbeitung
erfolgreich
ansetzen:
Das
traumatische
Geschehen
wird
deutlich
erinnert
und kann in der talking cure »wegerzählt« werden. Aus den isolierten Ereignissen, die sich nur in ihrer rätselhaften Wiederkehr präsentieren, wird wieder das Syntagma einer biographischen Erzählung und so kommt es im zweiten Teil der Fallgeschichte zur Lösung jener Rätsel, die das Unbewusste aufgegeben hat. Josef Breuer hat an diesem Punkt der Behandlung seit mittlerweile über einem Jahr intensiv an der Entschlüsselung dieses Falles gearbeitet und ihm vor allem durch die beinah täglichen Visiten im Haus der Pappenheims sehr viel Zeit geopfert. Bevor das Finale, gleichsam der letzte Auftritt dieses »Privattheater[s]«17 beginnt, weist er nochmals auf die Fülle und den Detailreichtum dieses Aufarbeitungsprozesses hin. Es spricht durchaus eine gewisse Er16 17
Ebd., S. 25. Ebd., S. 33.
Ingo Uhlig
75
müdung aus dieser Passage, die gleichsam histoire und discours dieser Kur voneinander löst und darin
nochmals
den
eigenen
Text
und
dessen
Genese
reflektiert:
»Ich
bedauere
nicht
allzusehr,
dass die Unvollständigkeit meiner Notizen es unmöglich macht, hier sämmtliche Hysterica auf ihre Veranlassungen zurückzuführen.«18 Den Schlusspunkt und das Finale dieser szenischen Therapie gibt die folgende Passage wieder. Sie beschreibt den »letzten Tag« dieser Therapie als Überwindung des hysterischen Leidens und dokumentiert dabei wiederum ein genaues Arrangement von Objekten und Wahrnehmungssituationen. Ich zitiere zunächst diese Passage und im Anschluss die Erzählung der Angsthalluzination, auf die Breuer verweist: Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferirung auf das Land müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum Anfangs Juni die »talking cure« mit grosser, aufregender Energie. Am letzten Tag reproducirte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangirte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthallucination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war, und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte. Dann verliess sie Wien
für
eine
Reise,
brauchte
aber
noch
längere
Zeit,
bis
sie
ganz
ihr
psychisches
Gleichgewicht
gefunden
hatte.
Seitdem
erfreut
sie
sich
vollständiger
Gesundheit.19 Die Erzählung der Angsthalluzination: Juli 1880 war der Vater der Kranken auf dem Lande an einem subpleuralen Abcess schwer erkrankt;
Anna
theilte
sich
mit
der
Mutter
in
die
P flege.
Einmal
wachte
sie
Nachts
in
grosser
Angst
um
den
hochfiebernden
Kranken
und
in
Spannung,
weil
von
Wien
ein
Chirurg
zur
Operation
erwartet wurde. Die Mutter hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna sass am Krankenbette, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie gerieth in einen Zustand von Wachträumen und sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um ihn zu beissen. (Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf der Wiese hinter dem Hause wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen früher schon erschrocken war, und die nun das Material für die Hallucination abgaben.) Sie wollte das Thier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über der Stuhllehne hängend, war »eingeschlafen«, anästhetisch und paretisch geworden, und als sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit Todtenköpfen 18 19
Ebd., S. 32. Ebd.
Schauplätze der Kur
76
(Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung derselben in Association mit der Schlangenhallucination. – Als diese geschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand und nun in dieser Sprache fortdenken und beten konnte.20 Man sieht, wie die Wiederholung hier die Seiten wechselt: War sie zuvor jene Kraft, die das Trauma präsent hielt, wird sie jetzt, als nachgestellte Szene, zum Mittel der Therapie. Sie verhilft zur bewussten Reproduktion, zur Wiederkehr und Ableitung der Affekte und schließlich zur vollen Erinnerung. Der Schauplatz wird zum Ort einer Entwicklung, Regression wechselt in Progression. Es handelt sich nun um eine freisetzende Wiederholung, eine zwischen den beiden Reihen »erzwungene Bewegung«21,
die
den
Zeitstau
auflöst
und
den
Akteur
aus
Geschichte
und
Vergangenheit
entlässt. Entsprechend akzentuiert Breuer deutlich den Überwindungs- und Zäsurcharakter der Szene. Anstatt an der Wiederkehr des Vergangenen festzuhalten, wird ein zeitlicher Horizont sichtbar, der wieder eine Zukunft ermöglicht. Erneuerung steht hier gegen Fixierung und so öffnet und erweitert sich die Szene schließlich auch räumlich und führt aus dem Zimmer: die Reise der Patientin, deren Ziel im Text nicht genannt wird. Dem voraus geht aber jene mit »aufregender Energie« geleistete Arbeit in jenem doppelt belegten Interieur. Hier sind die Dinge nicht zu trennen von einem phantastischen Überschuss: Beschrieben wird eine Umgebung, die halb Wahngebilde, halb Realität ist.22 Die Reproduktion der Angsthalluzination als begehbares Setting bringt den ursprünglichen Affekt hervor und wird zum Ausgangspunkt der bewussten Beschreibung in der talking cure. Die sinnlich erfahrene Situation wird somit als eine Kippfigur
zwischen
unbewusster
und
bewusster
Reminiszenz
angelegt
und
erzeugt
so
eine
Schwelle,
deren
Überschreiten
die
Auflösung
der
Symptome
bedeutet.
Die
Affekte
erweisen
sich
in
diesen
exakten
Nachbarschaften
als
verschiebbare
Größen.23 Die kathartische Lösung aus der Vergangenheit nimmt den Weg über räumliche Kontaktstellen, folgt man Breuers Erörterungen, so wird ein regelrechter Ausweg geschaffen, über den der »eingeklemmte« Affekt abgeleitet wird. 20 21 22 23
Ebd., S. 30. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 155 ff. Bei Elisabeth Bronfen findet sich der Versuch, die Studie in die Nähe der romantischen Nachtstücke zu rücken: Dies., Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008, S. 316 ff. Vgl. Freud, »Über Psychoanalyse«, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Frankfurt am Main 1999, S. 1–60, hier S. 13.
Ingo Uhlig
77
Diese Intensivierung des Therapiegeschehens dramatisiert Breuer nicht zuletzt sprachlich als rasches Zulaufen auf das Ende der Krankheit, die Details der Szene werden hier nur schnell über den Index (»die oben
erzählte
Angsthallucination«)
einbezogen.
So
kulminiert
in
diesem
Absatz
das
bisherige
Geschehen und es wird zugleich das Ende des zweiten, die kalendarische Wiederholung schildernden Teils der Krankengeschichte
markiert.
Der
Schauplatz
wird
nach
dieser
finalen
Szene
geschlossen.
Auf diese Zäsur folgt der dritte und letzte Teil der Studie (S. 25–37), es handelt sich um eine Art Epikrise, die
mit
der
bereits
zitierten,
um
Nachsicht
bittenden
poetologischen
Reflexion
Breuers
beginnt:
»Aber
die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte.« 4.»Von einem Berg auf einen anderen ...» Im
August
1909
unternehmen
Sigmund
Freud,
Carl
Gustav
Jung
und
Sándor
Ferenzi
eine
Reise
in
die
USA.
Sie
folgen
einer
Einladung
von
G.
Stanley
Hall,
dem
Rektor
der
Clark
University
in
Worcester,
Massachusetts, und stellen die noch junge Psychoanalyse der amerikanischen Öffentlichkeit vor. An der
Clark
University
hält
Freud
fünf
Vorlesungen,
welche
die
Grundzüge
der
Methode
erläutern.24 In der ersten dieser Vorlesungen geht er auf Breuer und dessen Studie über Anna O. ein; er spricht hier voller Anerkennung über Breuer als den »eigentlichen Begründer« der Psychoanalyse. Über die freimütige Zuweisung dieser Entdeckerrolle und die Tatsache, dass Freud sie später gewissermaßen zurückverlangt
hat,
wurde
in
den
Darstellungen
zur
Geschichte
der
Psychoanalyse
viel
diskutiert.
Hinzuzufügen wäre dem, vor allem im Hinblick auf die Studie Anna O., dass Breuer wohl durchaus auch als Mitbegründer jenes literarischen Stils gelten müsste, den Freud in den Studien über Hysterie bemerkt hat. Womöglich liegt aber – abseits solcher Spekulationen über Urheberrolle und Autorengenius
–
ohnehin
die
Vermutung
näher,
dass
dieser
Stil
weniger
aus
einer
individuellen
Geste
entspringt, als von der Sache selbst erfordert wird. Mit anderen Worten: Die literarischen Darstellungen werden von der Problematik des Unbewussten hervorgerufen, sie sind Strategien oder Mittel, mit denen dieses Problem in seinen Aspekten – Rätselstruktur, Wiederholung, Affektverschiebungen etc. – bearbeitet wird. In der Poetik dieser Texte treten weniger individuelle literarische Vorlieben oder ein persönlicher Stil als vielmehr objektive Strukturen zu Tage, die ein ästhetisches Programm (vor allem in Form literarischer Darstellungselemente) erfordern. Abschließend möchte ich aber auf einen anderen Aspekt aus Freuds erster Vorlesung an der Clark University eingehen. Freud gibt hier nämlich wesentliche Auskünfte über den ästhetischen Charak24
Unter dem Titel »Über Psychoanalyse« enthalten in Bd. XI der Gesammelten Werke. Bezüglich biographischer Details
vgl.
Peter
Gay,
Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt am Main 2006, S. 236 ff.
Schauplätze der Kur
78
ter jener Objektarrangements aus den Hysteriestudien und verortet sie in bemerkenswerter Weise im
kulturellen
Imaginären
des
Fin
de
Siècle.
Freud
gelangt
in
der
Vorlesung
rasch
an
den
zentralen
Punkt, an dem er seinen Hörern erklärt, was sie sich unter einem »Leiden an Reminiszenzen« vorstellen müssten. Er verwendet dafür zwei Beispiele. Diese Beispiele stammen diesmal nicht aus dem Bereich klinischer Studien, aus den Krankenzimmern und den notorischen Familienszenen, sondern aus
der
Geschichte
Englands,
genauer:
aus
der
Stadtgeschichte
Londons. Meine Damen und Herren, wenn Sie mir die Verallgemeinerung gestatten […], so können wir unsere bisherige Erkenntnis in die Formel fassen: Unsere hysterisch Kranken leiden an Reminiszenzen. Ihre Symptome sind Reste und Erinnerungssymbole für gewisse (traumatische) Erlebnisse.
Ein
Vergleich
mit
anderen
Erinnerungssymbolen
auf
anderen
Gebieten
wird
uns
vielleicht
tiefer in das Verständnis dieser Symbolik führen. Auch die Denkmäler und Monumente, mit denen wir unsere großen Städte zieren, sind solche Erinnerungssymbole. Wenn Sie einen Spaziergang durch
London
machen,
so
finden
Sie
vor
einem
der
größten
Bahnhöfe
der
Stadt
eine
reich
verzierte gotische Säule, das Charing Cross. Einer der alten Plantagenetkönige im XIII. Jahrhundert, der den Leichnam seiner geliebten Königin Eleanor nach Westminster überführen ließ, errichtete gotische Kreuze an jeder der Stationen, wo der Sarg niedergestellt wurde, und Charing Cross ist das letzte der Denkmäler, welche die Erinnerung an diesen Trauerzug erhalten sollten. An einer anderen Stelle der Stadt, nicht weit von London Bridge, erblicken Sie eine modernere, hochragende Säule, die kurzweg The Monument genannt wird. Sie soll zur Erinnerung an das große Feuer mahnen, welches im Jahre 1666 dort in der Nähe ausbrach und einen großen Teil der Stadt zerstörte. Diese Monumente sind also Erinnerungssymbole wie die hysterischen Symptome; soweit scheint die Vergleichung berechtigt. Aber was würden Sie zu einem Londoner sagen, der heute noch vor dem Denkmal des Leichenzuges der Königin Eleanor in Wehmut stehen bliebe,
anstatt
mit
der
von
den
modernen
Arbeitsverhältnissen
geforderten
Eile
seinen
Geschäften nachzugehen oder sich der eigenen jugendfrischen Königin seines Herzens zu erfreuen? Oder zu einem anderen, der vor dem »Monument« die Einäscherung seiner geliebten Vaterstadt beweinte, die doch seither soviel glänzender wiedererstanden ist? So wie diese beiden unpraktischen Londoner benehmen sich aber die Hysterischen und Neurotiker alle; nicht nur, daß sie die längst vergangenen schmerzlichen Erlebnisse erinnern, sie hängen noch affektvoll an ihnen, sie kommen von der Vergangenheit nicht los und vernachlässigen für sie die Wirklichkeit und die Gegenwart.25
25
Freud, »Über Psychoanalyse«, S. 11 f. (Herv. i. O.).
Ingo Uhlig
79
Die Erzählung erweitert den Zeitrahmen der Krankenbiographie auf eine historische Dimension, die begegnenden Objekte wechseln ebenfalls den Maßstab – Freud führt seine Hörer in die Welt historischer
Monumente.
Hier
ist
es
nun
die
Geschichte
selbst,
die
sich
in
der
Gegenwart
der
Objekte
wiederholt und darin völlig den tatsächlichen Kausalitäten zuwiderläuft. Einen Begriff aus Nietzsches Zweiter unzeitgemäßer Betrachtung aufnehmend, könnte man hier von »Effecten an sich« sprechen, die sich von den historischen causae gelöst haben.26 Freud spricht diesen imaginären Überschuss in einer Formulierung an, die fast wie eine Paraphrase Nietzsches wirkt: Die Betroffenen hängen »affektvoll« an den Erlebnissen. Angedeutet wird damit eine Parallele zwischen der pathologischen Zeitenverschiebung
der
Hysterie
und
den
affektiven
Geschichtskonstruktionen
der
monumentalistischen
Historie. Auf den ersten Blick geben diese Beispiele damit einen prägnanten Hinweis, wie die Studien über Hysterie
diskursgeschichtlich
einzuordnen
seien:
Es
sind
stets
Problematiken
der
Geschichte
und
der Zeit, die das neunzehnte Jahrhundert in Atem hielten – eine »Überlast der Toten«27. Aber diese Passage enthält auch nochmals Auskunft über die Natur jener in der Wiederholung auftauchenden Objekte und verdeutlicht wiederum wesentliche Darstellungsprinzipien des Wiederholungsmoments. So wird zunächst der poetische Charakter der Objekte deutlich: Zeiten und Ereignisse hängen regelrecht
an
diesen
Gegenständen
und
erzeugen
die
starken
affektiven
und
imaginativen
Impulse.
Dies
geht aber weit über das Auratische und den Wert des Einzigartigen hinaus, denn das längst Vergangene übernimmt sowohl eine derealisierende als auch aktive Rolle, das heißt, die immer noch intakten, in
den
Objekten
präsenten
Affekte
determinieren
das
Geschehen
und
seine
Akteure.
Ein
historisches
Handeln wäre hier völlig ausgeschlossen, da unbewusste Kräfte die Szene bestimmen und der passive
Akteur
(eher
ein
Gespenst
oder
ein
Revenant)
sich
in
referenzlose
Zeiten
und
Bilder
vertieft
hat.
Die
Geschichte
erscheint
damit
als
bloßes
pointiertes
Symbol
beziehungsweise
als
ein
paradigmatisches Element, das sich aus dem Syntagma des historischen Verlaufs herausgelöst hat. Statt der Erfordernisse des historischen Verlaufs dominieren Stillstellungen und regelrechte Tableaus, welche die
Vergangenheit
fixieren,
ohne
Entwicklungen
zuzulassen.
26
27
Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe,
hg.
v.
Giorgio
Colli
u.
Mazzino
Montinari,
München 1999, S. 261. Michel Foucault, »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46, hier S. 34.
Schauplätze der Kur.
80
Die Art und Weise, wie Freud hier das hysterische Phänomen mit einem historisch-monumentalen Resonanzgeschehen in Verbindung bringt, verweist letztlich auf den Ansatzpunkt der psychoanalytischen Methode. Das Problem, das mit diesen unzeitgemäßen Szenen auftaucht und zugleich den Einsatzpunkt
der
Psychoanalyse
definiert,
besteht
in
der
Wiedergewinnung
zeitlicher
Ordnung.
Sie
ist
eine Methode oder ein Verfahren, das es erlaubt, zwischen den aus den Fugen geratenen Ereignissen und ihren isolierten Effekten wieder Zusammenhang herzustellen, auch wenn sich die Figur der Kontinuität nur in der Rekonstruktion unbewusster Elemente ergibt. Hier, im Fortschreiten der Kur, übernehmen die Objekte und ihre szenische Anordnung nochmals eine
Funktion,
sie
werden
nun
als
Gelenkstellen
oder
Metonymien
gebraucht:
Nutzt
man
sie
zur
Verschiebung jener »eingeklemmten« Affekte, löst sich auch die Zeit aus ihrer Erstarrung. Das Tableau muss noch einmal aufgestellt werden, um die beiden Zeitreihen letztmalig in Resonanz zu versetzen. Freuds Vorlesung fasst die Funktion dieser »Szenen« wie folgt zusammen: Als sie [Anna O.] später die selben Szenen vor ihrem Arzt reproduzierte, trat der damals gehemmte Affekt mit besonderer Heftigkeit, als ob er sich so lange aufgespart hätte, auf. Ja, das Symptom, welches von dieser Szene erübrigt war, gewann seine höchste Intensität, während man sich seiner Verursachung näherte, um nach der völligen Erledigung derselben zu verschwinden.28
28
Freud, »Über Psychoanalyse«, S. 13 (Herv. I. U.).
Skizze, Nadine Isabell Kipka
Zu Wort kommen ›Echte Geschichten‹ und ›echte Menschen‹ auf der Bühne Stefanie Husel
Stefanie Husel
83
Die Ausstellung SzenoTest befasste sich mit den unterschiedlichen Dispositiven, die sich in etwa 200 Jahren psycho-therapeutischer Praxis entwickelt haben. Diese sind zu großen Teilen äußerst theatral gestaltet, Theater wird oft ganz explizit als Vorlage für Therapien genutzt, wobei die Idee eines therapeutischen Settings aus Handeln und Zuschauen immer wieder neu verhandelt wird.1 Dabei lässt sich – stark vereinfacht – konstatieren, dass psychotherapeutische Settings eine im weitesten Sinne theatrale Ordnung des Blickens (bzw. allgemeiner, des Wahrnehmens) etablieren, die es, je
nach
Provenienz,
entweder
dem
Patienten
selbst
oder
dem
Therapeuten
ermöglichen
soll,
reflektierender Zuschauer psychischer Phänomene zu werden. So entwickelte beispielsweise Josef Breuer, Zeitgenosse und Vorläufer Siegmund Freuds, in den 1880er Jahren eine »Redekur«, in der Patienten frei assoziierend ihr Innenleben beschrieben, während der Therapeut gewissermaßen als (interpretierendes)
Publikum
diente.
Solch
reflektierende
Schau
in
die
Psyche
bzw.
deren
Szenen
soll
im
Rahmen
psychotherapeutischer Settings zumeist helfen, psychische Missstände bzw. Missverhältnisse am/im Patienten und dessen sozialem Umfeld zu behandeln. Auch das Be-Handeln wird in einigen Fällen als ein theatrales, demonstratives und gestaltetes Handeln konzipiert, z. B. wenn bei einem der Urväter psychotherapeutischer Praxis, Johann Christian Reil, Patienten in wilden Inszenierungen aus ihren »kataleptischen Zuständen« aufgerüttelt werden sollen,2 oder aktuell in Familienaufstellungen nach Bert Hellinger, wenn unter Anleitung eines therapeutischen Spielleiters szenische Settings mit Patienten und Stellvertreter-Figuren aktiv »gestellt« werden. Das vorliegende Essay möchte sich der Schnittmenge von Theatralem und Therapeutischem von Seiten des Theaters nähern; Thema sollen Theaterformen werden, die sich besonders eng an ›echte‹ Menschen
und
ihre
Geschichten
anschmiegen
und
dabei
häufig
auch
an
tatsächliche
Traumata
rühren.
Auch
hier
finden
sich
also
Settings
des
»Handelns
und
Zuschauens«,
in
denen
Reflexionen
möglich
werden, und auch sie beziehen sich auf echte Menschen, auf deren soziales Umfeld und möglicherweise sogar auf psychologische Missstände. Nichts desto weniger werden dort keine therapie-artigen Situationen etabliert, ja, die Produzenten von Theater mit ›echten Menschen‹ wehren sich vehement dagegen, in eine therapeutische Ecke gerückt zu werden. Zum Beispiel Theatermacher Björn Bicker, der seine entsprechende Sorge wie folgt begründete: »Man landet schnell bei der alten Frage, wer denn eigentlich ein Problem hat: die oder wir?«3 Abgewehrt werden also klare Zuordnungen wie 1 2 3
Handeln und Zuschauen lautet der Titel eines Buches, in dem der »Theater-Soziologe« Uri Rapp die Settings des europäischen dramatischen Theaters behandelt, wie es bis in die 1950er Jahre vorherrschte. Vgl. Johann Christian Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803. Ursprünglich war geplant, dieses Essay in Zusammenarbeit mit Björn Bicker zu verfassen, was sich leider zeitlich nicht verwirklichen ließ. Trotzdem möchte ich mich ganz herzlich für unsere sondierenden Vorgespräche bedanken!
Zu Wort kommen
84
»krank/gesund«, »problematisch/unproblematisch« oder »unnormal/normal«, die als konstitutiv für den therapeutischen Kontext wahrgenommen werden. Insofern schießt der vorliegende Text quer zur Ausstellungsthematik, nachdem er sich mit Theater-Inszenierungen befasst, die erfolgreich ›therapeutische‹ Zuordnungsklarheit abwehren – nicht ohne die Hoffnung, am Ende zu Erkenntnissen zu gelangen, die beiden Feldern zugutekommen können. Therapeutische bzw. theatrale Settings sollen dabei
nicht
als
gegebene
Größen,
sondern
als
situativ
verhandelte
Verhältnisse
betrachtet
werden. 1) Wirklichkeits-nahes Theater Spätestens seit der Neo-Avantgarde (also etwa ab den 1960er Jahren) ist in der Theaterpraxis die Tendenz zu beobachten, ›das Echte‹ – im Sinne wirklicher Menschen, tatsächlicher Körper, wahrer Geschehnisse
und
authentischer
Geschichten
–
auf
der
Bühne
präsent
werden
zu
lassen.
Uns
begegnen auf Theaterbühnen dokumentarisch aufbereitete Fakten zu Völkermorden (vgl. z. B. die erste Arbeit H. W. Krösingers mit dem Masterstudiengang Theatrale Forschung der Ruhr-Universität Bochum); es präsentieren sich Opfer politischer Verfolgung und Misshandlung und ihre Nachkommen, z. B. wenn Björn Bickers (Theater)-Text Exile illegale Flüchtlinge zu Wort kommen lässt. Auch ›echte‹ Täter betreten die Bühne, z. B. als Christoph Schlingensief in Bayreuth mit Neonazis aus einem Ausstiegsprogramm inszenierte oder als im HAU Berlin die Theatergruppe der JVA Tegel auf der Bühne stand.
Weiterhin
sprechen
Menschen
auf
der
Bühne,
die
ganz
persönliche
Geschichten
berichten
und dabei manches Mal auch schwierige bzw. belastende Themen behandeln, etwa in den Arbeiten des Regie-Kombinats Rimini Protokoll: In deren Stück Das Kapital berichtet ein Mitspieler von seiner Spielsucht, ein anderer Darsteller thematisiert (neben vielen anderen Themen) seine Blindheit, in Cargo
Sofia
u.
v.
a.
Arbeiten
der
Gruppe
wird
der
prekäre
Arbeitsalltag
in
Billiglohn-Berufen
aus
erster
Hand erzählt usw.4 In solch wirklichkeits-nahem Theater besteht eine der zahlreichen Spielarten des »post-dramatischen Theaters«, wie es Hans-Thies Lehmann in seinem gleichnamigen Buch beschrieb; an
Stelle
fiktiver
Inhalte
tritt
die
Konfrontation
mit
den
Darstellungsmöglichkeiten
des
Authentischen:
»… das Spiel mit dem Realen [ist] verbreitete Praxis des neuen Theaters geworden – meist nicht mehr als unmittelbar politische Provokation, sondern als theatrale Thematisierung des Theaters und somit – der Rolle der Ethik darin.«5 Im Folgenden soll anhand einiger ausgewählter Beispiele aus Theaterarbeiten mit ›echten‹ Protagonisten
reflektiert
werden,
auf
welche
Weise
dort
ein
künstlerisch-ästhetischer
Theater-Rahmen
eta4
5
Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden. Eine umfassende Auswahl solch wirklichkeits-naher Arbeiten sowie Reflexionen auf das Phänomen zeigte beispielsweise der Kongress Heimspiel im Jahr 2011 in Köln. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2001, S. 177.
Stefanie Husel
85
bliert
wird
–
trotz
der
Engführung
mit
›tatsächlich‹
schicksalhaften
Geschichten
und
trotz
der
in
der
Ausstellung SzenoTest dokumentierten großen Schnittmenge theatraler Praxis mit therapeutischen Settings; kurz: es soll gefragt werden, wie Theater in diesen Fällen Theater bleibt. 2) Methodisches Um mich diesen Fragen anzunähern, möchte ich »Theater« und »Therapie«, die bis hier lose als Settings bzw. Dispositive bezeichnet wurden, mit dem soziologischen Begriff des Rahmens belegen, wie ihn
Erving
Goffman
einführte
und
entscheidend
prägte.6
Dass
ein
bestimmtes
soziales
Geschehen
einen
Rahmen
besitzt,
heißt
für
Goffman
nichts
anderes,
als
dass
ein
geteiltes
Verständnis
der
Situation durch die Situationsteilnehmer etabliert wird: »Ich gehe davon aus, dass Menschen, die sich gerade
in
einer
Situation
befinden,
vor
der
Frage
stehen:
Was
geht
hier
eigentlich
vor?«7
Goffmans
situational und sozial aufrechterhaltene »Rahmen« sind insofern nicht als starres Regelwerk entworfen, sondern
als
häufig
erst
im
Verlauf
des
Geschehens
wachsende,
in
die
Praxis
eingelassene
Strukturen;
sie
entstehen
»as
we
go
along«,
wie
Ludwig
Wittgenstein
fomulierte,
zu
dessen
Spätwerk
Goffmans
Thesen einige Ähnlichkeiten aufweisen.8 Mit dem Rahmenbegriff zu operieren bringt mit sich, den Blick auf die situative Aushandlung sozialen Sinns zu richten, also soziale Praktiken zu beobachten und zu beschreiben;9 zum Beispiel indem gefragt wird, wie, also auf welche Weise, Situationsteilnehmer gemeinsam Sinn machen.10 Weiterhin fordert ein rahmenanalytischer Blickwinkel dazu auf, Situationen
gewissermaßen
im
Ganzen
zu
begreifen,
beispielsweise
indem
Kommunikationen
nicht
nur nach ihren möglichen Inhalten befragt werden, sondern auch nach dem »production format«, das sie aufweisen, sowie den »participation frameworks«, die sie bieten – womit zwei weitere Begriffe
6
7
8 9
10
Goffman
übernimmt
den
Rahmen-Begriff
seinerseits
von
Gregory
Bateson,
der
ihn
in
seinem
Essay
Eine Theorie des Spiels und der Phantasie
erstmals
nutzte.
Beide
Theoretiker,
Goffman
wie
Bateson,
arbeiteten
übrigens
prominent zu theatralen bzw. spielerischen Situationen und zu psychotherapeutischen Settings. Erving
Goffman,
Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 16. Vgl. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen § 83, z. B. in Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2004, S. 287. Sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien, die primär auf Praktiken fokussieren (anstatt z. B. auf Zeichen, Strukturen oder subjektiven Wahrnehmungen/Empfindungen) werden als »Theorien der Praxis«, »Praxeologie« oder»Praxis-Theorien«
bezeichnet;
vgl.
z.
B.
Andreas
Reckwitz,
»Grundelemente
einer
Theorie
sozialer
Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003, Heft 4), S. 282–301. Jean Luc Nancy nutzt den inzwischen in zahlreiche Sprachen diffundierten Anglizismus »Sinn machen« in genau diesem Sinn, wenn er das Wahrnehmen im Theater als ein kollektives Produzieren von Sinn beschreibt (vgl. Jean-Luc Nancy, »Making Sense«, in: Lorna Collins/ Elizabeth Rush (Hg.), Making sense. For an effective aesthetics, Oxford 2011, S. 215–220).
86
Zu Wort kommen
eingeführt
wären,
die
Goffman
als
analytische
Werkzeuge
einsetzt.11 Mit dem »production format« adressiert er die Art und Weise, in der Äußerungen abgefasst werden; das damit eng verbundene »participation framework« umschreibt Teilnahmemöglichkeiten, die für die Kommunizierenden situativ zur Verfügung stehen. So ließe sich beispielsweise eine prototypische psychoanalytische Therapiesitzung wie folgt beschreiben: Ein Patient produziert, auf einer Couch liegend, assoziatives narratives Material, z. B. erzählt er seine Träume. Der Psychoanalytiker sitzt unterdessen, vom Patienten ungesehen, hinter ihm und hört
zu;
später
bietet
er
eine
Analyse
des
Gehörten
an
und
arbeitet
das
Material,
das
ihm
der
Patient
geliefert hat, zu einer psychoanalytisch kompatiblen Erzählung um. Würde der Patient seinen Teilnehmerstatus verändern und selbst analysierend tätig werden (z. B. weil er mit der Erzählung des Analytikers nicht einverstanden ist), würde dies in einem klassischen psychoanalytischen Setting als Rahmenbruch gewertet (der Analytiker würde dann z. B. versuchen, das als reaktant wahrgenommene
Verhalten
des
Patienten
zur
Folge
eines
unbearbeiteten
Vaterkonflikts
zu
erklären
o.
ä.).
Das Beispiel illustriert, dass die (hier bewusst plakativ entworfene) Analyse-Situation ein starkes Machtgefälle aufweist, insofern die Teilnahmemöglichkeiten der Kommunikationspartner asymmetrisch verteilt sind. Unabhängig davon zeigt die Beschreibung auf, dass das Aufrechterhalten eines »Rahmens« (z. B. einer klassichen Psychoanalyse-Situation) sowohl in der Produktion geeigneter »production-formats« durch die Teilnehmer besteht (z. B. der Patient produziert assoziatives Material, der Therapeut produziert eine Analyse) als auch im Einhalten bestimmter »participation frameworks« (z. B.
der
Teilnehmer-Rollen
›Patient‹
und
›Therapeut‹).
Ganz
ähnliche
Beobachtungen
lassen
sich
für
eine
prototypische
dramatische
Theater-Aufführungs-Situation
anstellen;
in
Goffmans
»Rahmen-Analyse«
wurde eine solche zum Beispiel situativer Rahmung schlechthin, wobei er das Setting (traditioneller Dramen-)Theateraufführungen wie folgt umreißt: »Eine Aufführung [...] ist eine Veranstaltung, die einen Menschen in einen Schauspieler verwandelt, und der wiederum ist jemand, den Menschen in der Publikums Rolle des langen und breiten ohne Anstoß betrachten und von dem sie ein einnehmendes Verhalten erwarten können«.12 Ich möchte nun, gerüstet mit den Begriffen des Rahmens, des »production format« und des »participation framework« zur Beschreibung einiger besonders wirklichkeits-naher Theaterarbeiten kommen, die ich selbst aus einer Publikums-Position kenne; ich berichte insofern mit einem Blick ›aus dem 11
Die
Begriffe
»production
format«
und
»participation
framework«
führt
Goffman
in
seinem
Aufsatz
»Footing«
ein.
Vgl.
Erving
Goffman,
»Footing«,
in:
Erving
Goffman
(Hg.),
Forms of talk, Oxford 1981, S. 124–157. 12
Goffman,
Rahmen-Analyse, S. 143.
Stefanie Husel
87
Zuschauerraum‹. Meine Beschreibungen der beispielhaft ausgewählten Arbeiten, die alle mit ›echten Menschen‹
und
›echten
Geschichten‹
spielen,
konzentrieren
sich
darauf,
auf
welche
Weise
dort
jeweils ein »Theaterrahmen« praktisch verwirklicht wird: Welche Form der theatralen Äußerung bieten die Inszenierungen und welche Teilnahme-Weisen stehen dort für Zuschauer zur Verfügung? 3) Trollmanns Kampf – Mer Zirkales In der etwa zweistündigen Aufführung Trollmanns Kampf – Mer Zirkales wird
die
Geschichte
des
Hannoveraners Sinto Johann Trollmann, genannt »Rukeli«, erzählt, der 1933 Deutscher Halbschwergewichtsmeister im Boxen war.13 Der Titel wurde ihm durch die Nationalsozialisten schon kurz nach seinem
Gewinn
wieder
aberkannt;
dabei
hieß
es,
Trollmanns
wendiger
und
tänzerischer
Stil
wäre
»undeutsch«. Um die Lächerlichkeit solcher Zuordnungen zu demonstrieren, zeigte Trollmann eine außerordentlich mutige Performance: mit blondierten Haaren und mit Puder geweißter Haut trat er
gegen
seinen
nächsten
Gegner
an,
blieb
stocksteif
stehen
und
ließ
sich
ohne
Gegenwehr
k.
o.
schlagen. 1944 wurde Johann Rukeli Trollmann im KZ Wittenberge ermordet, nachdem er zuvor zu unwürdigen
Schaukämpfen
gezwungen
worden
war.
Trollmans
Geschichte
war
unter
Nicht-Sinti
lange
Zeit so gut wie vergessen. Im von Marc Prätsch und Björn Bicker arrangierten Stück sind die Darsteller Sinti, die heute in Deutschland leben; auch ein Nachfahre Trollmanns tritt auf. Biographische Erzählungen der Darsteller wechseln sich in der Inszenierung mit anekdotisch-poetischen Narrationen der Rukeli-Trollmann Geschichte
ab.
Das Stück bedient sich einer ganzen Reihe unterschiedlicher »production formats«: Während der ersten Szenen stellen sich die Darsteller als Radiomoderatoren vor und gestalten ihre Ansprachen entsprechend; später wird das Publikum adressiert, als würde es sich in einer Show, z. B. einer Reality-
oder
Unterhaltungs-Show
befinden,
dabei
werden
Zuschauer
immer
wieder
per
Mikrophon
als
»Liebes Publikum« oder als »Verehrte Zuschauer« etc. adressiert. Die Darsteller sitzen unterdessen an einer Tafel, essen »Zigeunerschnitzel«, unterhalten sich über deutsche Sinti-Traditionen und geben Lieder zum Besten, wobei sie u. a. durch die Jazz-Musikerin Dotschy Reinhardt unterstützt werden. Die Stimmung, die dieser Format-Mix produziert, bewegt sich zunächst in einem fröhlich nonchalanten Zwischenbereich zwischen bunter Lieder-Abend-Show und launig-geselligem Beisammensein, wobei allerdings die immer wieder eingestreuten Versatzstücke der Trollmann-Erzählung ebenso wie 13
Eine Beschreibung der Inszenierung sowie Fotos und viele weitere Daten zu Johann »Rukeli« Trollmann finden sich auf der Homepage von Manuel Trollman. Vgl: http://www.johann-trollmann.de/mer-zikrales.html (Stand 10. 06. 2013).
88
Zu Wort kommen
die
häufig
sarkastisch
zum
Einsatz
gebrachten
»Zigeuner«-Klischees
einen
leise
bedrohlichen
Unterton einführen. In der zweiten Hälfte der Aufführung verlassen Darsteller und Zuschauer das Theater und begeben sich in eine Kirche. Hier steht das Publikum in den Seitenschiffen, während vor dem Altar in der Mitte des Raums ein Boxring aufgebaut ist. Auch in diesem düsteren zweiten Teil des Abends werden Formate kombiniert: Neben Assoziationen von Predigt und Litanei, welche allein schon die Örtlichkeit, ebenso aber der Duktus der Auftretenden hervorruft, tritt ein gespenstisches angedeutetes Reenactment des letzten Kampfes Rukeli Trollmanns: Alle Darsteller betreten mit grob geweißten und mit
Kunstblut
beschmierten
Gesichtern,
mit
blonden
Perücken
und
in
kunstseidene
Boxer-Mäntel
gehüllt den Ring. Ihre Texte sprechen sie nun chorisch; sie artikulieren die grausamen Beschimpfungen, die
Sinti
nicht
nur
unter
den
Nationalsozialisten,
sondern
oft
noch
bis
in
die
Gegenwart
zu
ertragen
haben. Diese
finstere
Beschwörung
des
letzten
Kampfs
Trollmanns,
seiner
Ermordung
sowie
gegenwärtiger Antiziganismen wird allerdings zum Ende der Aufführung in eine feierlich-hoffnungsvolle Stimmung
überführt:
Ein
authentischer
Nachkomme,
der
Großneffe
Trollmanns,
tritt
auf,
er
trägt
Rukelis
Meisterschafts-Gürtel
(der
dem
Boxer
erst
2003
noch
einmal
rückwirkend
verliehen
wurde)
wie
ein
Heiligtum in Händen. Schließlich singen Darsteller und Publikum gemeinsam ein Lied. Die mannigfachen »production formats«, die in Aufführungen von »Trollmanns Kampf« geboten werden, bringen also zahlreiche unterschiedliche Möglichkeiten situativer Teilnahme für das Publikum mit sich: Werden Zuschauer gerade noch als das anonyme, weit entfernte Publikum einer Radiosendung angesprochen, sind sie schon bald umkodiert zum Saalpublikum einer Unterhaltungsshow. Kurz darauf werden sie zu Beisitzenden eines bunten Liederabends, schließlich feiern sie eine Toten-Messe, werden dabei, im gruseligen Nachspielen von »Trollmanns letztem Kampf« schmerzlich zum 30erJahre-Publikum. Sie bezeugen stumm eine ganze Litanei grausamer Beschimpfungen, um schließlich, in
der
Gegenwart
angelangt,
mit
Rukelis
Großneffen
das
Überleben
einiger,
viel
zu
weniger
zu
feiern,
mit ihnen zu singen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. 4) Disabled Theater Das Stück Disabled Theater entwickelte Choreograph Jerome Bel gemeinsam mit der Schweizer Kompanie Theater Hora, bei der Menschen mit geistigen Behinderungen zusammenarbeiten. Als eine der bemerkenswertesten Inszenierungen der vergangenen Spielzeit wurde Disabled Theater auf das Berliner Theatertreffen eingeladen, Julia Häusermann, eine der Darstellerinnen vom Theater Hora, erhielt
Stefanie Husel
89
dort den mit 5000 Euro dotierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis für Nachwuchsschauspieler. Inzwischen tourt die Inszenierung weltweit. Die Aufführung zeigt einen denkbar simplen Aufbau: Auf einer leeren Bühne stehen Stühle bereit und formen einen dem Publikum gegenüberliegenden Halbkreis. Rechts vorne, ganz am Rand der Bühne, ist ein Tisch mit Mikrophon platziert. Dort sitzt ein/e Simultandolmetscher/in, der oder die zugleich als eine Art Nummern-Ansager fungiert. Als würde in den Aufführungen der Produktionsprozess noch einmal nachvollzogen, spricht er/sie berichtend ins Mikrophon (entweder auf Englisch oder Deutsch, je nach Aufführungsort), z. B.: »Dann hat Jerome die Schauspieler gebeten, einzeln auf die Bühne zu kommen und sich vorzustellen« oder: »Dann hat Jerome die Schauspieler gebeten, ihre Behinderung zu nennen«. Die Darsteller führen darauf live die benannten Aufgaben aus, nach Ausführung setzen sie sich auf die Stühle. Sie sprechen »Schwiizer Dütsch«, ihre Aussagen werden vom Ansager/der Ansagerin übersetzt bzw. auf Hochdeutsch wiederholt. Unverständliches wird dabei ausgelassen, grammatikalische Besonderheiten so exakt wie möglich beibehalten. Neben Sprech-Aufgaben (sich vorstellen, vom Beruf oder der Behinderung berichten u. ä.) formen vor allem körperlich-tänzerische Aufgaben den Abend; im Zentrum der Abfolge stehen sieben Tanz-Soli, von denen es heißt, dass die Darsteller selbst die Choreographien entwickelt und die Musik ausgewählt hätten. Das
bis
hier
geschilderte
Format
der
Aufführung
könnte
an
moderierte
Talkshows
oder
Gesprächskreise erinnern, ebenso aber an Podiumsdiskussionen oder politische Events mit Simultanübersetzung. Zugleich ruft das Ausführen einer Reihe von Aufgaben vor Publikum Assoziationen zu Talentoder Castingshows u. ä. auf. Indem das »production format« der Aufführung derart changierend unklar bleibt, bieten sich dem Publikum abwechselnd äußerst unterschiedliche Teilnahme-Möglichkeiten: In einzelnen Momenten bietet sich ein bewertend-voyeuristischer Blick an, der sich anonym auf das Bühnengeschehen richtet – also eine Zuschauerhaltung wie in einer Talent-Show, in der Auftretende nach ihren Leistungen bewertet
werden.
Andere
Momente
hingegen
produzieren
große
Nähe
zum
Geschehen;
die
Auftretenden scheinen dann ganz gegenwärtig und authentisch, sie wirken wie nahestehende Bekannte, rühren
zu
Tränen
oder
kitzeln
begeistertes
Lachen
hervor.
Aus
diesem
Grund
können
Zuschauer
auch
nie ganz sicher sein, wie viel von dem, was sich im Disabled Theater zeigt, ›tatsächlich authentisch‹ ist, was hingegen fest eingeplant und mit Kalkül inszeniert ist. Das Publikum kann (und muss) insofern beständig hinterfragen, wie fremdartig diese ›echten Behinderten‹ tatsächlich sind und wie viel von dem, was in der Aufführung sichtbar wird, auf Projektionen, auf eingelösten oder enttäuschten Erwartungen
auf
Seiten
der
Zuschauer
beruht.
Aus
diesem
Grund
wird
die
Aufführung
zu
einer
Re-
Zu Wort kommen
90
flexion
eigener
Sehgewohnheiten,
vielleicht
sogar
zu
einer
Meditation
über
das
Sichtbare
und
das
Unsichtbare im Theater und in anderen Öffentlichkeiten, über das Normale und das Fremde, das Gesunde
und
das
Kranke
(bzw.
›Behinderte‹).
Das Konzept, ›echte Behinderte‹ auftreten zu lassen, wird hier also subversiv angewendet, indem der
Theaterauftritt
per
se
in
seinen
Grundprinzipien
verfremdet
wird,
oder
wie
Benjamin
Wihstutz
in
seinem Impulsbeitrag …und ich bin Schauspieler im Rahmen des Berliner Theatertreffens formuliert: »Es geht hier tatsächlich darum, das Theater selbst zu behindern, das heißt, seine Konventionen und Normen
zu
dekonstruieren
und
der
Performance
als
Grundprinzip
einer
ökonomisierten
Gesellschaft
eine andere Performance entgegenzusetzen.«14 5) Schutz im Spielraum Die beschriebenen Stücke ähneln sich insofern, als dort mit ›echten Menschen‹ als Ko-Produzenten und
Darstellern
sowie
mit
›echten
Geschichten‹
als
Inhalten
gearbeitet
wird,
wobei
ein
Großteil
dieser
Inhalte für die Auftretenden von ›tatsächlicher‹ biographischer Relevanz ist. Die ›echten‹ Koproduzenten und Darsteller in beiden Beispielen entsprechen zudem nicht dem Mainstream einer ethnisch relativ
homogenen
und
relativ
›gesunden‹
Gesellschaft,
sie
sind
damit
gewissermaßen
randständig.
Die
erzählten
Geschichten
verdeutlichen
dabei,
wie
traumatisch
solche
Randständigkeit
sein
kann;
Beleidigung, Diskriminierung, Marginalisierung werden Thema. Nun könnte gerade der Rahmen des Theaters, der gewöhnlich mit einer scharfen Trennung in eine Bühne und einen Zuschauerraum assoziiert ist, einem Machtgefälle zwischen Darstellern und Zuschauern Vorschub leisten, der genau dem Thematisierten entspricht, dieses sogar verdoppelt: Die ›Freaks‹, die ›Anderen‹, stünden dann geblendet im Rampenlicht, während ein privilegiertes Publikum die Anonymität eines dunklen Zuschauerraums genießt.15 Allerdings wird, wie oben beschrieben, in beiden Inszenierungen der Etablierung klarer »participation frameworks« entschieden entgegengewirkt. Auf diese Weise kann sich auch kein durchgängig objektivierender Blick aus dem Zuschauerraum entwickeln: Das ständige spielerische Umkodieren des Settings, das Spiel mit semi-theatralen Fomaten, wie ›Talent- oder Unterhaltungs-Show‹, ›Radiosendung‹, ›Predigt‹ oder ›Plenarsitzung‹, lässt die Theatersituation selbst auffällig werden: Der theatrale Blick 14 15
Vgl. Transkription des Vortrags auf der Webseite nachtkritik.de. Tatsächlich wird diese Möglichkeit in den Inszenierungen sogar explizit angesprochen; z. B. erzählt Damian Bright, Schauspieler vom Theater Hora, in der Aufführung eine Reaktion seiner Schwester, die über die »FreakShow« geweint habe, das Stück aber dennoch gemocht habe.
Stefanie Husel
91
eines Publikums auf die ›Anderen‹, die da auf der Bühne posieren (die ›Zigeuner‹, die ›Behinderten‹), gerät seinerseits ins Spiel, wird zu einem konstitutiven Teil der verspielten Aufführung: Zuschauer blicken
spielerisch
einmal
als
Zuschauer
einer
Unterhaltungs-Show,
im
nächsten
Moment
als
Gäste
der gespenstischen Spiegelung eines Boxkampfes aus den 30ern, dann wieder als die Jury einer Talentshow. Diese formale Betonung des Spielerischen in der Aufführungssituation, die durch die Nutzung multipler »production formats« etabliert wird, produziert einen schützenden Möglichkeitsraum, einen Spielrahmen des ›Als-ob‹: Die Teilnehmenden in verspielten Aufführungen wie den hier beschriebenen stehen damit nie gänzlich als ›sie selbst‹ auf der Bühne, sondern eher als spielerische Versionen ihrer selbst, z. B. als das Selbst, das gerade als Schauspieler agiert, oder das Selbst, das gerade
die
Geschichte
Rukeli
Trollmanns
erzählt.16 Zwar werden also in beiden Inszenierungen, Trollmanns Kampf und Disabled Theater, Authentizität, Echtheit und damit einhergehend auch Schutzlosigkeit der Protagonisten in den Fokus gestellt, sie verharren aber als ästhetische Möglichkeiten im Spielerischen. Eine Schließung, eine letztgültige Zuordnung, wie zum Beispiel ›Das hier sind die Hilfsbedürftigen‹ oder ›Die hier sind die Andersartigen/Problematischen‹, wird erschwert, wenn nicht gar verhindert. Entsprechendes betont Matthias Brückner, Schauspieler vom Theater Hora, in einem TV-Interview, das im Rahmen einer Korea-Tour von Disabled Theater aufgezeichnet wurde: »Wenn ich auf der Bühne bin, bin ich jemand anderer«; und Brückners Kollegin Sara Hess merkt im selben Interview an, dass das Publikum der Aufführung selbst entscheiden könne, wann etwas Rolle ist und wann sie sich selbst spielt.17 In Disabled Theater ebenso wie in Trollmanns Kampf wird also ein Schutzraum der Potentialität für die auf den Bühnen Auftretenden etabliert, ein spielerischer Möglichkeitsraum, der endgültige Zuschreibungen unmöglich macht und entsprechend keine Objektivierung erlaubt: Darsteller und Zuschauer spielen gemeinsam mit unterschiedlichen Theater-Rahmungen. Das spielerisch-theatrale Moment des ›Als-ob‹, das schon der klassische Dramen-Theater-Rahmen beinhaltet, wird hier verschoben, es weitet sich gewissermaßen von der Bühne auf die gesamte Aufführungssituation aus.18 16
17 18
Auf Darstellungs-Praktiken, die die Authentizität von Personen, die »sich selbst« spielen, in Frage stellen, gehe ich an anderer Stelle detailliert ein (vgl. Stefanie Husel, »Sich selber spielen? Zur bodenlosen Mehrbödigkeit der Figuren Forced Entertainments«, in: Friedemann Kreuder/Nadine Peschke (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 205–216). So zu hören in einem Fernsehbeitrag des SWR (online unter http://www.srf.ch/player/tv/kulturplatz/video/dastheater-hora-ruehrt-koreaner-zu-traenen?id=c95a8782-a1a2-4ad5-892c-72bfd67134d9). Hans-Thies Lehmann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Theater emphatisch »Situation« wird: »Wo
immer
diese
beunruhigende
Grenzverschiebung
geschieht,
wandert
in
postdramatisches
Theater,
auch
wo es insgesamt dem klassischen Theater mit seiner behaupteten klaren Trennung von Bühne und Theatron (Zuschauerraum) zuzugehören scheint, die Qualität einer Situation im emphatischen Sinn des Wortes ein.«
Zu Wort kommen
92
Anhand eines dritten Beispiels soll im Folgenden darauf fokussiert werden, dass eine solche Verschiebung des theatralen ›Als ob‹ beileibe nicht nur für die Rolle(n) bzw. »participation frameworks« der Darsteller gilt. Vielmehr wird dabei, wie schon oben mehrfach anklingt, die Positionierung der Zuschauer intensiv herausgefordert. 6) Susan and Darren Das Stück Susan and Darren ist eine Zusammenarbeit der Künstlerkollektive Quarantine und Company Fierce mit Darren und Susan Pritchard; es wird immer in Kombination mit einem vorherigen Tanzworkshop angeboten, an dem einige der späteren Zuschauer teilnehmen. Während der eigentlichen Aufführung sitzt das Publikum an drei Seiten um eine quadratische Bühne, in deren Mitte sich die beiden
Darsteller
befinden,
Susan
Pritchard,
die
etwa
Mitte
50
ist,
und
Darren
Pritchard,
der
etwa
30
Jahre alt ist. Beide tragen bequeme Freizeitkleidung, Trainingshosen und ärmellose Unterhemden, Susan
in
Pink,
Darren
in
Grau.
Sie
stellen
sich
den
Zuschauern
(die
sie
noch
nicht
aus
dem
Workshop
kennen) als Mutter und Sohn vor und bitten darum, zu imaginieren, man befände sich in ihrem, der Pritchards Wohnzimmer – denn im ›echten Leben‹ wohnen Mutter und Sohn gemeinsam in einem Vorort von Manchester. Über eine Reihe von Fernsehbildschirmen werden zwischendurch Freunde und Nachbarn der beiden eingeblendet, die über sie erzählen, und auch die beiden Darsteller berichten, anekdotisch und sehr privat wirkend, von ihrem gemeinsamen Leben. Unterdessen sind einige der
Zuschauer
dazu
aufgefordert,
Gemüse
zu
schneiden
und
Brote
zu
schmieren,
denn
der
Abend
soll
in einer gemeinsamen kleinen Party mit Buffet und Tanz kulminieren. Die biographischen Erzählungen von Susan und Darren berichten im Verlauf der Aufführung von einem Leben, das kaum bürgerlichen Normen entspricht: Susan hat Darren allein großgezogen und arbeitet als Putzfrau. Darren ist homosexuell und professioneller Tänzer, u. a. arbeitete er mit einigen äußerst renommierten Kompanien für zeitgenössischen Tanz zusammen.19 Zwischenzeitlich hat das Publikum die Möglichkeit, den beiden Protagonisten Fragen zu ihrem Leben und zur Aufführung zu stellen. Thematisch wie praktisch durchzieht das gemeinsame Tanzen die Aufführung, z. B. wenn Darren bestimmte
erzählte
Situationen
mit
sprechenden
Gesten
unterlegt,
die
auf
diese
Weise
manchmal
in kurze Soli kulminieren, oder wenn Susan und Darren gemeinsam vorführen, wie sie manchmal im Wohnzimmer zusammen tanzen. Einer der Höhepunkte der anekdotisch mäandernden Erzählungen ist der Auftritt derjenigen Zuschauer, die vor der Vorstellung den Workshop besucht haben und nun
19
(Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 178). Vgl. zum Kontext von Susan and Darren z. B. die Homepage des Regie-Combinats Quarantine oder folgendes Guardian-Interview:
http://www.guardian.co.uk/stage/2010/may/09/susan-and-darren-quarantine-jennings (Stand 10.06.2013).
Stefanie Husel
93
mit Susan und Darren gemeinsam einen disco-artigen Tanz vorführen, zur Einspielung von Barry Whites You’re My First, My Last, My Everything.20 Die
Geschichten,
die
Mutter
und
Sohn
erzählen,
bewegen
sich
dabei
nicht
nur
im
Bereich
alltäglichen
Geplauders,
sondern
kommen
dem
Publikum
immer
näher;
nach
etwa
einer
Stunde
Aufführungszeit
lässt
Susan
in
eindringlich
ruhiger
Erzählweise
ein
grauenhaftes
Erlebnis
aufleben:
Sie
berichtet
davon, wie sie als junge Frau vergewaltigt wurde – ein Moment regelrecht schmerzlicher Intensität. Und doch endet der Abend, wie von Susan und Darren angekündigt, in einer gemeinsamen Party: Zuschauer können nach der Vorstellung mit den beiden Darstellern im Raum verbleiben, das vorbereitete
Buffet
verspeisen,
ein
Gläschen
trinken
–
und
miteinander
tanzen.
Das
Publikum
verläuft
sich
auf
diese
Weise
nur
allmählich,
die
Grenzziehung
zwischen
Theaterstück
und
alltäglicher
Realität
verschwimmt in der Partysituation. Die Inszenierung Susan and Darren beginnt also mit einer ›Als-ob‹-Erzählung, in die die Zuschauer sanft hineingezogen werden und die schließlich die gesamte Aufführungssituation spielerisch umfasst: Man solle sich vorstellen, der gemeinsam besetzte Theater-Raum wäre das Wohnzimmer von Susan und Darren. Im Verlauf des Abends wird diese spielerische Vorstellung weiter verstärkt, z. B. indem einige der Zuschauer ›in der Küche helfen‹, um die spätere gemeinsame Party zu verköstigen; der Theaterabend spielt hier gewissermaßen Wohnzimmer-Party. Weiterhin fällt auf, dass der Auftritt Darrens auf einer Theaterbühne nicht weiter verwundert, nachdem er, wie berichtet wird (und wie Darrens trainierter Körper und seine Bewegungen sichtbar werden lassen), von Beruf professioneller Tänzer
ist.
Der
Auftritt
von
Darrens
Mutter
Susan
aber
wirkt
wie
die
Verwirklichung
eines
Gedankenexperiments: »Stell Dir vor, der Tänzer hätte seine Mutter auf der Bühne dabei ...« oder »Stell Dir vor, Du könntest ihn in seinem Wohnzimmer besuchen.« Selbst Darrens Trainingshose wirkt in Kombination mit seiner beschriebenen Leiblichkeit kaum befremdlich, nachdem im zeitgenössischen Tanz Auftritte
häufig
in
funktionaler
(Trainings-)Kleidung
bestritten
werden.
Susan
hingegen
ist
nicht
durchtrainiert
oder
schlank,
ihr
rosé-farbenes
Wohlfühl-Outfit
scheint
ganz
authentisch
vom
privaten
Alltag
einer gewöhnlichen, nur wenig privilegierten (Putz-)Frau zu sprechen. Insofern verknüpfen Susan und Darren, allein schon in ihrer Körperlichkeit und Kleidung, ein Setting öffentlichen (und hochkulturell konnotierten) Bühnentanzes mit dem eines privaten, ärmlichen Wohnzimmers. Nun tritt der soziale Hintergrund von Darstellern im traditionellen Theater bzw. Bühnentanz-Setting meist zurück; im Vordergrund steht vielmehr der gut trainierte Körper bzw. dessen virtuose Beherrschung. Bei Susan and Darren hingegen wird der soziale Kontext, die alltägliche Wirklichkeit der beiden Auftretenden, zum 20
Ein Video dieser Sequenz findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=EQwG_ToEouQ (Stand 10.06.2013).
Zu Wort kommen
94
zentralen Thema. Zuschauer, die Darren sonst auf ganz andere Art und Weise beobachten, die seinen Körper und dessen Bewegungsexpertise betrachten, lernen nun auf einmal Darrens Mum kennen und werden so in den alltäglichen und familiären Hintergrund Darrens eingeweiht. Die Inszenierung verwirklicht hier also einen ungewöhnlichen Blick auf die ›Hinterbühne‹ eines Darstellers, ja in dessen privates Wohnzimmer. Allerdings geschieht dies ganz demonstrativ spielerisch; dass sich das Spiel mit Bühne und Privatheit im Rahmen einer gemeinschaftlichen Fiktion, eines kollektiv angestrengten »Als-ob« abspielt, wird niemals verborgen, sondern jeweils klar und explizit betont, z. B. indem die Darsteller Sprechweisen nutzen wie »Stellen Sie sich vor, dies wäre unser Wohnzimmer ... Hier stünde dann eine Couch«, während sie zugleich auf den leeren Bühnenboden weisen etc. Ein Moment der Aufführung kann die spielerische Verquickung von Bühne und Privatheit und die Reflexion
beider
»Settings«,
die
auf
diese
Weise
geschieht,
besonders
eingängig
illustrieren:21 Susan erzählt davon, wie sie es sich jeden Tag mit ihrem Tee in der immer gleichen Ecke ihrer Couch bequem macht. Darauf erzählt Darren, wie er zum ersten Mal einen Liebhaber mit nach Hause gebracht hat; beim sich anbahnenden Liebesspiel habe der ihn leidenschaftlich genau in dieser Ecke der Couch niedergedrückt – worauf er den eigentlich sehr attraktiven Partner abgewehrt habe: »No! Not in me Mum’s corner!« So anekdotisch und damit möglicherweise wenig relevant diese kleine Erzählung in der
Gesamtdramaturgie
des
Abends
zunächst
vielleicht
erscheint,
kann
man
sie
doch
als
prototypisch
für das begreifen, was die Aufführung Susan and Darren insgesamt vorführt: Es werden Settings bzw. Räume
thematisiert,
in
denen
unterschiedliche
soziale
Gesetze
gelten.
In
Mums Corner muss man sich anders verhalten als in der Disco; ebenso sitzen auch die Zuschauer hier nicht vor einer ganz typischen Bühne, wo sie die Protagonisten ungeniert betrachten und dabei rücksichtslos objektivieren können.
Vielmehr
etabliert
sich
im
Hier
und
Jetzt
der
Aufführung
spielerisch
die
Gesetzmäßigkeit
einer privaten Begegnung. Den Situationsteilnehmern bietet sich an, für ein Weilchen zu spielen, sie hätten eine »echte« Beziehung zu Susan und Darren. Das Publikum befreundet sich für die Dauer des Abends mit den beiden. Man teilt Susans und Darrens Wohnzimmer und bringt den beiden den Respekt
entgegen,
den
man
freundlichen
Gastgebern
gegenüber
hat;
statt
sie
anzustarren,
wird
mit
den
Darstellern
gesprochen
und
gegessen,
man
teilt
persönliche
und
sogar
schmerzhafte
Geschichten,
tanzt miteinander. Zuschauern wird in der Inszenierung insofern ermöglicht, sich selbst in einer bisher ungekannten Rolle
zu
erleben:
als
Freund
und
Gast
von
Susan
und
Darren.
Nachdem
diese
beiden
nicht
besonders
bürgerlich sind, mag dies für manchen eine höchst ungewöhnliche, vielleicht sogar exotisch reizvolle 21
Diese Szene lässt sich auf Youtube als Video nachvollziehen, vgl.: https://www.youtube.com/watch?v=g4ZifyydZ6s (Stand 10.06.2013).
Stefanie Husel
95
Rolle sein, die doch in jedem Moment darauf aufmerksam macht, dass Susan und Darren nicht als interessante
›Freaks‹,
sondern
als
respektvoll
zu
behandelnde
Freunde
und
Gastgeber,
also
auf
Augenhöhe zu adressieren sind. 7) Ausblick In den hier beschriebenen wirklichkeits-nahen Theaterarbeiten treten ›echte‹ Darsteller als ›sie selbst‹ auf; authentische, teilweise für die Darsteller biographisch hoch-relevante Erzählungen werden dabei Thema von Aufführungen. Dennoch produziert keines der erwähnten Beispiele einen Rahmen, in dem eine
schließende,
definierende
Sichtweise
auf
die
Protagonisten
und
ihre
Narrationen
ermöglicht
wäre.
Eine Klarheit von »production format« und »participation framework«, wie sie beispielsweise im therapeutischen Kontext anzustreben ist, wird hier verweigert; stattdessen bleibt bei aller Authentizität der besprochenen Aufführungssituationen ästhetische Unschärfe, spielerische Vagheit erhalten. Einen klassischen dramatischen Theaterrahmen, wie man ihn sich für traditionelle Aufführungen vorstellt, brechen die beschriebenen Stücke dabei in vielerlei Hinsicht auf: Alle drei beispielhaft angeführten Inszenierungen bedienen sich hierfür einer eklektischen Vielfalt von Äußerungsformen bzw. »production formats«; Schauspieler scheinen sich einmal als Moderatoren, ein anderes Mal als Teilnehmer einer Talentshow zu äußern oder das Publikum ganz freundschaftlich privat zu adressieren. Über diese Vielheit der Formate kommen auch zahlreiche, zum Teil wenig gewohnte oder einander widersprechende »participation frameworks« ins Spiel: Die Teilnahmepraxis von Zuschauern an der Aufführung verändert sich, wird auf diese Weise auffällig gemacht, wird ästhetisiert und erscheint somit veränderbar. Es steht spielerisch in Frage, wie man sich den auftretenden ›echten Menschen‹ und/oder
›wahren
Geschichten‹
gegenüber
positioniert:
Neben
klassisch
theatrale
Blicke
aus
dem
Dunkeln, neben ein kolonialisierend-beherrschendes Schauen bei kleinem eigenen Risiko treten Positionen der Zeugenschaft, des ungemütlichen Voyeurismus ebenso wie solche der freundschaftlich unverbindlichen Kumpanei, der persönlichen Teilnahme usw. Die beschriebenen Inszenierungen betreiben insofern keine Aussetzung des Theaterrahmens, sondern eher eine Intensivierung und Vervielfachung theatraler Settings, indem alternative Äußerungs- und Zuschauformate (Show, Podiumsdiskussion etc.) spielerisch aufgerufen werden; auf diese Weise werden verspielte Aufführungssituationen etabliert, in denen nichts ganz so ist, wie es scheint (und umgekehrt).22 Zusammenfassend lässt sich damit konstatieren, dass Theater offenbar manchmal, um (ästhetisches) Theater zu bleiben, aufhören muss, (nur) Theater zu sein: Theaterprojekte mit ›echten Menschen‹ 22
Zum Begriff »Verspieltes Theater« und zur Analyse »verspielter« Aufführungssituationen vgl. Stefanie Husel, Grenzwerte – Im Spiel Forced Entertainments, Dissertationsschrift, Frankfurt a. M. 2013.
96
Zu Wort kommen
und
›wahren
Geschichten‹
scheinen
zusätzliche
Strategien
der
Verfremdung
bzw.
Fiktionalisierung
zu benötigen, alternative theatrale Rahmen, die die Aufführungs-Situation zusätzlich »modulieren« und sie auf diese Weise stärker ambivalent halten, offen für Interpretationen und offen für vielfältige Zuschaupraxis.23 Erinnert man sich daran, dass theatrale Settings seit etwa 200 Jahren therapeutisch genutzt werden – wie die Ausstellung SzenoTest beeindruckend vor Augen führen konnte –, lässt sich die Abwehr und Modulation traditioneller Theater-Settings innerhalb von wirklichkeits-nahen post-dramatischen Theaterarbeiten auch als eine Abwehr von Strukturen begreifen, die sich in traditionellen therapeutischen
Rahmen
wiederfinden:
Zuschreibungen
wie
›normal‹
und
›anders‹
(bzw.
›gesund‹
und
›krank‹
etc.) sind in den wie beschrieben modulierten Theater-Settings ausgehebelt, stehen in Frage, stemmen
sich
gegen
jede
definitorische
wie
ästhetische
Schließung;
Zuschauer
werden
auf
diese
Weise
immer wieder auf die eigenen Wahrnehmungs- und Zuschreibungs-Routinen zurückverwiesen und zum Zweifel an denselben animiert. Etabliert wird so (wenn auch nur für die Dauer der Aufführung) eine spielerische Haltung zur sozialen Realität, ihren Sichtbarkeits-Regeln, ihren normierten Differenzierungen von Mainstream und Randständigem. Diese Erweiterung eines im Theaterspiel immer schon angelegten »Als-ob« produziert in den vorgestellten Theaterarbeiten Schutzräume für die auftretenden Darsteller; und auch die Rolle der Zuschauer darf dort in der Schwebe gehalten werden. Vielleicht könnte sich ein solch spielerisch-multifokaler Entwurf des Settings auch für therapeutische Formate anbieten – zum neuen Import aus der zeitgenössischen Theaterpraxis für heutige Psychotherapie-Settings.
23
Den
Begriff
der
Modulation
nutzt
Goffman
in
der
Rahmenanalyse:
»Darunter
verstehe
ich
das
System
von
Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation. Eine gewisse Analogie zur Musik ist beabsichtigt.«
(Goffman,
Rahmen-Analyse, S. 55).
Josef Breuer
[1895] Nadine Isabell Kipka (Phase 1), Céline Kaiser (Phase 2)
Foto der Modellausstellung
Josef Breuer Nadine Isabell Kipka »Der Breuersche Fund ist noch heute die Grundlage der psychoanalytischen Therapie. Der Satz, dass die Symptome verschwinden, wenn man ihre unbewussten Vorbedingungen bewusstgemacht hat, ist durch alle weitere Forschung bestätigt worden […]« (Sigmund Freud). Die Krankengeschichte der Anna O., alias Bertha Pappenheim, beschreibt wie kaum eine andere eine eindringliche Atmosphä-
re, in der sich ein für das 19. Jahrhundert ganz neuer Therapieansatz abzeichnet. Josef Breuer, für die psychotherapeutische Behandlung der Kranken um 1880 verantwortlich, rekonstruiert den Fall in »Beobachtung I Frl. Anna O.«. Dabei gibt Josef Breuer durch seine intensive Betreuung der Kranken und die ausführliche Beschreibung des Krankheitsverlaufs Einblick in eine von ihm – zum Teil gemeinsam mit der Kranken – entwickelte, neue
Therapiemethodik: die des Absprechens (Redekur/talking cure) von und Konfrontierens mit Symptome auslösenden Situationen. Der Leser erhält durch den Arztbericht sowohl ein klares Verständnis des psychologischen Zustands der Patientin als auch eine Vorstellung von der Räumlichkeit, in der sich die Kranke zur Zeit der Behandlung befand.
Ursprünglich hatte die Studentin für Raum und Objektdesign, Nadine Isabell Kipka, das Konzept für ein Reenactment der Breuerschen Anna O. entwickelt. Dazu gehörte eine szenische Fassung der Fallgeschichte, die im Tonstudio eingespielt wurde. Im Rahmen von SzenoTest konnte nur eine Miniaturversion ausgestellt werden. Eine Original-Puppenstube des Sammlers Christian Gramatzki wurde in eine Holzkiste versenkt, in welcher man durch Gucklöcher zwei Szenen betrachten konnte. Die Tonspur des ursprünglichen Konzepts konnte man über einen Audioguide anhören.
Josef Breuer wurde 1842 in Wien geboren, wo er sich nach seinem Medizinstudium gleichermaßen als Forscher im Bereich der Physiologie wie als praktischer Arzt einen Namen machte. Breuer gilt durch seine 1895 gemeinsam mit dem jüngeren Sigmund Freud (1856–1939) veröffentlichten Studien über Hysterie als Mitbegründer der Psychoanalyse. Er starb 1925. Neben anderen Symptomen zeichnete sich die Hysterie der »Anna O.« dadurch aus, dass die Patientin zeitversetzte Epi-
soden durchlebte, die genau um ein Jahr zurückdatierten. Unter Hypnose gingen Therapeut und Patientin mit Hilfe der »Redekur« im Krebsgang den hysterischen Symptomen nach – zurück zum Punkt ihres ersten Auftretens. Breuer schildert das Ende der Therapie: »Auf diese Weise schloß auch die ganze Hysterie ab. Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag […] müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum anfangs Juni die ›talking
cure‹ mit großer, aufregender Energie. Am letzten Tage reproduzierte sie mit der Nachhilfe, daß sie das Zimmer so arrangierte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthalluzination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf Deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte.«
Jacob Levy Moreno
[1924] Linda Appelhans
Foto der Modellausstellung
Spielaufbau und -anleitung der Raum- und Objektdesign-Studentin Linda Appelhans. Grundlage ist eine Auseinandersetzung mit Jakob Levy Morenos Modell für die Stegreifbühne und seinen Ausführungen zum Bühnenraum im Psychodrama. Tonspur: Einspielungen von Texten Morenos.
Jacob Levy Moreno Linda Appelhans Jacob Levy Moreno, geboren 1889 in Bukarest, studierte Medizin und war als Arzt in Wien und später in den USA tätig. Daneben experimentierte er schon in Wien mit Formen des Stegreifspiels. Im April 1924 hielt Moreno einen Vortrag über Idee und Praxis des Stegreiftheaters im Wiener Konzerthaus und plante im Zusammenhang mit der »Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik« die Eröffnung eines Stegreiftheaters mit adäquater Bühnenund Raumarchitektur. Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht ausgeführt, nur als Skizze und Modell umgesetzt. Inhaltlich und formal setzte Morenos Stegreiftheater neue Akzente. Was er sein »Theater der Spontaneität« nannte, sollte als Forum dienen, auf dem mit Hilfe von Improvisationsarbeit sowohl tagesaktuelle als auch persönliche Inhalte bearbeitet werden sollten. In seinem 1924 veröffentlichten Buch Das Stegreiftheater entwarf er die Programmatik, die sich aus diesen praktischen Erfahrungen speiste. Die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Marschall beschreibt Ablauf und Aufbau des Moreno’schen Stegreifspiels wie folgt: »Die
Auswahl der Themen fand jeweils ad hoc statt. Im Mittelpunkt des Theaterkonzepts stehen die spontanen Aktionen und Reaktionen der Spieler und Mitspieler. […] Im improvisierten Theater in der Maysedergasse dienten wenige Versatzstücke zur Markierung und Beschreibung der imaginären Handlungsorte der Aktionen. Stühle wurden in einem Halbkreis aufgestellt, bisweilen skizzierte ein Schnellmaler die Situation, Stegreifzeichen, eine Art Partitur, bestehend aus Zeit-, Raum- und Bewegungsabläufen, sollten Rhythmus, Ablauf und kollektives Spiel ermöglichen.« In den 1930er Jahren übernahm Moreno in Beacon (NY) eine kleine psychiatrische Klinik, in welcher er Formen des Stegreifspiels für die Psychotherapie einsetzte und sein Konzept des Psychodramas ausarbeitete. Das Psychodrama, im welchem eine ganze Reihe von szenischen Techniken eingesetzt werden kann, wird als direkte Weiterentwicklung der frühen Experimente Morenos mit dem Stegreifspiel betrachtet. Moreno starb am 14. Mai 1974 in New York.
Morenos Stehgreifbühne blieb unvollendet. Gestalten Sie hier Ihre eigene Version: Spieltisch, »Hilfs-Iche« und Bauelemente stehen Ihnen frei zur Verfügung.
Spektakuläre Fälle Nico Pethes
Nico Pethes
107
Wann
immer
die
modernen
Wissenschaften
vom
Menschen
angetreten
sind,
ihren
Gegenstand
zu
definieren,
haben
sie
sich
in
einer
eigentümlichen
Spannung
wiedergefunden.
Die
Frage
nach
dem
Menschen ist zwar, Kant zufolge, diejenige, auf die alle philosophischen Fragen hinauslaufen. Sie kann aber nicht beantwortet werden, denn ›der Mensch‹ ist weder ein verallgemeinerbares Objekt noch überhaupt eines: Er wird, wiederum seit Kant, als Individuum und Subjekt verstanden und entzieht sich somit dem Verfahren der empirischen Wissenschaften, allgemeines Wissen anhand objektiver Beobachtung zu gewinnen. Die
Verfahren,
mittels
derer
Menschen
trotz
dieses
epistemologischen
Paradoxes
zum
Gegenstand
der Wissenschaften gemacht wurden, sind bekannt: Man hat den Menschen als empirisch-transzendentale Doublette konzipiert, um seinen Status als Subjekt des Wissens auch dann aufrechtzuerhalten, wenn man sein Leben, Sprechen und Arbeiten empirisch erforscht.1 Man hat die Positionen von Subjekt und Objekt rassisch codiert und zwischen dem Menschen als ›zivilisiertem‹ Ethnologen und ›primitivem‹ Eingeborenen unterschieden, um empirische Anthropologie ohne anthropologische Kränkung betreiben zu können.2 Und man hat dieselbe Unterscheidung innerhalb
Europas
eingezogen
und
im
System
des
Gefängnisses
und
der
Psychiatrie
›Delinquenten‹
und
›Anormale‹ konstituiert, um auf diese Weise Wissen über die sozialen und psycho-physischen ›Normalitäten‹ zu generieren.3 Die Relation von Normalität und Anormalität ist allerdings nicht weniger paradox als diejenige zwischen
Objekt
und
Subjekt
oder
Allgemeinem
und
Besonderem:
Zwar
beschränken
sich
Gefängnis
und
Klinik auf die Beobachtung devianter Subjekte. Insofern diese Beobachtungen aber darauf zielen, Kriminalität bzw. Krankheit zu korrigieren bzw. zu heilen, bleiben auch Institutionen des Macht-Wissens stets auf die Normalität bezogen, die sie anhand der Ausgrenzung von Anormalen konstituieren. Daß auf diese Weise der vermeintliche Ausschluß anormaler Individuen umschlägt in einen Einschluß aller Individuen unter das Dispositiv von Beobachtung, Kontrolle und Disziplinierung, hat Michel Foucault anhand
des
Verfahrens
der
pädagogischen
Prüfung
nachgezeichnet,
das
sich
in
Gestalt
der
allgemeinen
Schulpflicht
tatsächlich
auf
die
gesamte
Gesellschaft
erstreckt
und
in
ihr
jedes
Individuum
als
aktenkundigen »Fall« konstituiert.4
1 2 3 4
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976. Ebd., S. 246.
Spektakuläre Fälle
108
Daß Wissen vom Menschen in der Moderne fallförmig organisiert wird, wie dies insbesondere auf den Feldern
Recht,
Medizin,
Psychologie
und
Sozialwissenschaft
geläufig
ist,
kann
mithin
nur
zum
Teil
auf
jene empirische Wende der Anthropologie zurückgeführt werden, die zur Ablösung theologischer, metaphysischer oder idealistischer Ansätze geführt hat. Zwar begreift man den Menschen, wenn man ihn als ›Fall‹ betrachtet, tatsächlich nicht länger als exemplarischen Repräsentanten allgemeiner Konzepte
bzw.
Gattungen,
sondern
als
konkrete
–
und
das
heißt
immer
auch
kontingente
–
Singularität. Der Modus dieser Betrachtung aber, die verschiedenen Kategorien, anhand derer jeder Einzelfall vermessen,
klassifiziert
und
registriert
wird,
ist
stets
derselbe,
sodaß
diejenige
Individualität,
die
dem
18. Jahrhundert noch als Besonderheit erscheinen wollte, selbst standardisiertes Format ist.5 Und auf dieselbe Weise wird das Deviante oder Pathologische, das juristische oder medizinische Fälle als Normabweichung erscheinen ließ, selbst zur Normalität: Zum modernen Subjekt wird man Foucault zufolge nur anhand der Institutionen der Überwachung und Therapie und also nur als potentiell kriminelles und krankes. Wenn auf diese Weise Abweichung zur Normalität wird, stellt sich die Frage, welche Fälle überhaupt noch ›auffallen‹. Für die Kriminal- und Medizingeschichte der Frühen Neuzeit konnte man noch von der Komplementarität von monstrositas und curiositas ausgehen: Verbrecher waren Ungeheuer, Kranke entstellt und juristische species facti wie medizinische historiae morbi, in der Folge interessant, weil ungewöhnlich, spektakulär und beispiellos.6 Diese Ausrichtung der Wissenschaftskommunikation an Innovation ist mit der Wende zum 18. Jahrhundert, für die Foucault die Normalisierung des Sonderfalls
behauptet,
aber
keineswegs
beendet.
Es
bedarf
lediglich
neuer
Strategien
der
Generierung von Aufmerksamkeit, wenn die Darstellungsform des Falls allein nicht länger ausreicht, um das Besondere eines Ereignisses oder einer Person hervorzuheben. Diese Strategien sind medialer und rhetorischer Natur. Das gilt zum einen generell: Fälle sind grundsätzlich darauf angewiesen, als solche beobachtet und kommuniziert zu werden. Die Welt besteht nicht nur einfach aus allem, »was der Fall ist«, vielmehr bedarf es Verfahren der Selektion und Dokumentation,
um
aus
der
Menge
des
Gegebenen
dasjenige
auszuwählen
und
festzuhalten,
was
anschließend als empirische Wirklichkeit behandelt werden kann: Ein Mord wird erst zum Fall, wenn er entdeckt, angeklagt oder zumindest vermutet wird, eine Krankheit erst, wenn es zu einer Diagnose kommt. Das kann in Form handschriftlicher Protokolle oder Formulare ebenso erfolgen wie in nar5
6
Vgl. hierzu auch Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989, S. 149–258. Vgl. Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen: Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2003.
Nico Pethes
109
rativ, wenn nicht gar literarischelaborierten Fallgeschichten oder als Anordnung von Fällen zu Serien in
Kompendien
bzw.
als
Transformation
eines
Falls
aus
einem
Medium
(z.
B.
der
Gerichts-
oder
Krankenakte) in ein anderes (z. B. in eine Kriminalgeschichte oder ein medizinisches Lehrbuch).7 Von dieser allgemeinen Angewiesenheit von Fällen auf mediale Formen sind aber zum anderen diejenigen Strategien zu unterscheiden, die innerhalb des normalisierten Fallformats neuerliche Normabweichungen einführen. Das kann im 19. Jahrhundert nicht mehr durch die Hervorhebung eines Ereignisses als Fall oder Berichte über Verbrechen und Krankheit allein erfolgen. Wenn diese Sonderfälle
selbst
zum
Normalfall
geworden
sind,
müssen
Ereignisse
und
Personen
an
der
Grenze
zum Unwahrscheinlichen oder Unerklärlichen angesiedelt werden, um noch Aufmerksamkeit für den Einzelfall zu erregen. Wie im Folgenden an einigen ausgewählten Beispielen aus der englischsprachigen Literatur der 1830er und -40er Jahre gezeigt werden soll, sind daher auf dem Feld der Wissenschaften insbesondere diejenigen Phänomene von Interesse, die als übernatürliche, wunderbare oder phantastische einen Schauwert reinszenieren, den das Individuum als einzigartiger Sonderfall längst verloren hat. Dieser Zusammenhang läßt sich besonders anschaulich an denjenigen Fällen studieren, die die Grenze
z wischen
Leben
und
Tod
überschreiten. 8 So entwickelt der Mesmerismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts
veritable
Versuchsanordnungen
für
das
Gespräch
mit
Toten,
etwa
in
Justinus
Kerners
Bericht über die Seherin von Prevorst von 1829 oder in Johann Karl Wötzels Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach dem Tode von 1805, worin der Verfasser von dem Experiment berichtet, das er mit seiner im Sterben liegenden Frau vereinbart, die ihm dann nach ihrem Tode auch tatsächlich erscheint.9
Eine
solche
Gespensterwissenschaft
ist
mit
der
Etablierung
des
Positivismus
in
der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs erledigt: Der Spiritismus bemüht sich, die Kom7
8
9
Vgl.
Gianna
Pomata,
»Sharing
Cases.
The
Observationes
in
Early
Modern
Medicine«,
in:
Early Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236; Volker Hess/ Andrew Mendelsohn, »Case and series: Medical knowledge and paper technologies, 1600–1900«, in: History of Science 48 (2010), S. 287–314; Sophie Ledebuhr, »Schreiben und Beschreiben. Zur epistemischen Funktion psychiatrischer Krankenakten, ihrer Archivierung und deren Übersetzung in Fallgeschichten«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), Heft 2, S: 102–124; Yvonne Wübben, Die kranke Stimme: Erzählinstanz und Figurenrede im Psychiatrie-Lehrbuch des 19. Jahrhunderts, in: Rudolf Behrens/Carsten Zelle (Hg.), Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung, Wiesbaden 2012, S. 151–170. Vgl. zum Folgenden auch meine Ausführungen in: »Totengespräche. Zur Konstitution von Fällen zwischen Individuum
und
Gattung,
Ereignis
und
Medium,
Spektakel
und
Norm«,
in:
Inka
Mülder
Bach/Michael
Ott
(Hg.),
Was
der Fall ist (im Druck). Vgl. Katrin Schumacher,»Der ›wunderbare Sinn‹ zwischen Experiment und Text. Anmerkungen zur Organisation eines Feldes der Un-/Sichtbarkeiten um 1800», in: Aurora 64 (2004), S. 1–20.
Spektakuläre Fälle
110
munikation mit dem Jenseits auf wissenschaftliche Methoden zu gründen und, wie eine Schrift von Ludwig Staudenmaier aus dem Jahr 1912 betitelt ist, Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft zu etablieren.10 Inmitten dieser diskursiven Konjunktur von Totengesprächen erscheint 1845 aber auch eine Fallgeschichte mit dem Titel The Facts in the Case of M. Valdemar im New Yorker Broadway Journal. Sie berichtet von einem mesmeristischen Experiment zur Wiederbelebung eines Toten: Der sterbende Valdemar wird hypnotisiert, um dann nach seinem Ableben unter erneutem Einsatz magnetischer Verfahren zum Sprechen gebracht zu werden. Den Erfolg dieses Versuchs dokumentiert der Text mit dem paradoxen Sprechakt, den der magnetisierte Leichnam hervorbringt: »I have been sleeping – but now – now – I am dead.«11 Diese Paradoxie hat zeitgenössische Leser keineswegs daran gehindert, den Versuchsbericht für bare Münze zu nehmen – oder eben als dasjenige, was der Titel explizit verspricht: als Faktizität eines Falls. Der Verfasser, Edgar Allan Poe, erhielt mehrere Zuschriften ›begeisterter‹ Leser, die das Experiment wiederholen wollten, und der Fall Valdemar wird im Jahr darauf als Beleg in Thomas South’ Kompendium Early Magnetism in Its Higher Relations to Humanity zitiert. Diese Rezeption ist natürlich weniger ein Irrtum der Leser als deren durchaus konsequenter Anschluß an Poes Schreibstrategie. Denn es geht in The Facts in the Case of M. Valdemar gerade um den Nachweis, daß der korrekte Einsatz wissenschaftlicher Darstellungsformen etwaige Unwahrscheinlichkeiten des beschriebenen Sachverhalts selbst zu überlagern imstande sei. Dieser Nachweis gelingt Poe durch das konsequente Durchhalten einer nüchternen Beschreibungssprache sowie der in präziser Fachterminologie erfolgenden Beschreibung von Krankheits- und Versuchsverlauf. Das heißt aber auch, daß Poes Text gerade als literarischer die Funktionsweise einer Fallgeschichte besonders deutlich offenlegt, insofern sich ein hoax (so Poes Eingeständnis gegenüber einem seiner faszinierten Leser)12 viel strenger an bestehende Lesererwartungen halten muß, um erfolgreich zu sein, als jeder ›echte‹ Bericht. Die Ironie des Valdemar-Falls besteht also nicht nur darin, daß der Sprechakt »Ich bin tot« per se unmöglich
ist,
sondern
auch
darin,
daß
es
möglich
ist,
ein
Sujet,
das
in
den
Bereich
phantastischer
Ge10 11
12
Vgl. Torsten Hahn/Nicolas Pethes/Jutta Person (Hg.), Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850–1910, Frankfurt a. M., New York 2002. Edgar Allan Poe, »The Facts in the Case of M. Valdemar« [1845], in: ders., Poetry and Tales, hg. von Patrick F. Quinn, New York 1984, S. 833–842, hier S. 833. Vgl. Roland Barthes, Analyse textuelle d›un conte d›Edgar Poe, Paris 1973, sowie zum literatur- und wissenschaftshistorischen Kontext Martin Willis/Catherine Wynne (Hg.), Victorian Literary Mesmerism, Amsterdam 2006. Vgl. den Nachweis bei John W. Robertson, Edgar A. Poe: A Study, San Francisco 1921, S. 315 f., sowie Lynda Walsh, Sins Against Science. The Scientific Media Hoaxes of Poe, Twain, and Others, Albany 2006, S. 97–102.
Nico Pethes
111
spenstergeschichten gehört, als wissenschaftlichen Beitrag zu kommunizieren. Poe leitet zu diesem Zweck gerade aus dem Verdacht des Unwahrscheinlichen, wenn nicht Fiktionalen, den eigentlichen wissenschaftlichen Wert seiner Beobachtungen ab – einen Wert, der umso höher ist, je mehr sich das Berichtete als ein bislang ungesehener und unerhörter Sonderfall erweist: »I now feel that I have reached a point of this narrative at which every reader will be startled into positive disbelief. It is my business, however, simply to proceed.«13 Poes hoax hatte demnach Erfolg, nicht obwohl, sondern weil er einen gänzlich unmöglichen Fall schilderte – und das mit dem Anspruch, die bisherige »exaggerated accounts« zu korrigieren, die zu »many unpleasant misinterpretations, and very naturally, a great deal of disbelief« in der öffentlichen Meinung geführt haben.14 Damit legt Poes Valdemar aber offen, daß ein Fall zum Fall wird, gerade wenn er nicht realistisch ist, aber dennoch erzählt, publiziert und rezipiert wird – so daß das »to proceed« des Erzählers und die wissenschaftliche Anschlußkommunikation der Leser die Faktizität des Falls komplementär konstituieren. Auf diese Weise vermag Poe durch die Wahl einer fallförmigen Darstellungsweise zwischen spektakulärem Sonderfall und wissenschaftlichem Normdiskurs, aber auch zwischen Literatur und Wissenschaft zu vermitteln. ›Fall‹ wäre demnach, was zugleich unerwartet und erwartbar ist, neu und vertraut, normabweichend und normalisierbar: Fälle beziehen sich auf Normabweichungen, weil nur diese berichtenswert sind, sie müssen diese Abweichungen aber zugleich darstellungstechnisch auf bisherige Normen beziehen, um kommunikativ anschlußfähig zu bleiben. Das umso mehr, als Poes Text auch und gerade in seiner extremen Engführung wissenschaftlicher und literarischer Perspektiven kein Einzelfall ist. Und womöglich ist er auch weniger eine Satire auf die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit als auf die im 19. Jahrhundert bereits etablierte literarische Konvention, Novellen als Krankengeschichten zu schreiben. Das legt nicht zuletzt ein Artikel nahe, den Poe bereits 1838 im Blackwood Magazine veröffentlicht hat, und zwar unter dem selbstreferentiellen Titel How to Write a Blackwood Article. Poe thematisiert hier die wachsende Beliebtheit spektakulärer Stoffe im populären Massenmedium einer Publikumszeitschrift, die er »sensation paper«15 nennt. Dieser Begriff ist durchaus doppelsinnig: Poe zufolge kommen im Blackwood Magazine nur solche Sensationsberichte zur Veröffentlichung, die ihren Sensationswert aus der Darstellung eigentlich
undarstellbarer
Empfindungen,
also:
sensations,
beziehen.
Zu
solchen
undarstellbaren
Empfindungen gehört vornehmlich diejenige des Sterbens, oder wie Poe formuliert: »Should you ever be 13 14 15
Poe, »The Facts«, S. 839. Ebd., S. 833. Edgar Allan Poe, »How to Write a Blackwood Article« [1838], in: Edgar Allan Poe, Poetry and Tales, hg. von Patrick Quinn, New York 1984, S. 278–287, hier S. 286.
112
Spektakuläre Fälle
drowned or hung, be sure and make a note of your sensations – they will be worth to you ten guineas a sheet.«16 Als Beispiel für den Publikumserfolg derartiger »Unwahrscheinlicher Wahrhaftigkeiten« (wie Heinrich von Kleist die fragliche Engführung von Wissenschaftsdiskurs und sensation paper in seinen Berliner Abendblättern bezeichnet hatte) nennt Poe die Serie von Krankengeschichten, die Samuel Warren zwischen 1832 und 1837 im Blackwood Magazine veröffentlicht und noch im gleichen Jahr unter dem Titel Passages from the Diary of a Late Physician als Roman veröffentlicht hatte. Auch Warren
gestaltet
seine
durchweg
fiktiven
Erzählungen
als
realistische
Falldokumentationen.
Und
dennoch bzw. gerade deswegen sprechen auch hier wieder die Toten: Zum einen, insofern der Arzt selbst »late« ist, also gemäß dem Romantitel bereits verstorben, so daß man die Textspur eines Toten liest, zum anderen, weil auch die Passages
Gespenstergeschichten
als
klinische
Fälle
kolportieren.
Auf
diese
Weise
offenbart
Warrens
Ärztetagebuch,
wie
bruchlos
das
Genre
der
Falldarstellung den empirischen Anspruch der modernen Medizin, den Bedarf des Zeitschriftenmarkts nach Sensationsmeldungen
und
die
Szenarien
von
Geistern
und
Untoten
zu
verbinden,
imstande
war.
Das
Genre
des
gothic novel und die Schreibweise eines »clinical realism« schließen einander demnach nicht etwa aus, sondern gehen die produktive Konstellation eines »ghost in the clinic« ein, wie Meegan Kennedy sie genannt hat.17 In
dieser
Konstellation
können
sich
literarische
Erzählungen
ebenso
sehr
beim
Gestus
der
realistischen Dokumentation medizinischer Krankengeschichten bedienen, wie diese die Aufmerksamkeit für ihre Fälle durch Anleihen bei schauerromantischen Motiven steigern. Auf welche Weise beide am Ende zusammenfallen, zeigt beispielsweise das Kapitel The Thunder Struck, das von dem Versuch berichtet, die nach einem Blitzeinschlag kataleptische Agnes P. wiederzubeleben. Die junge Frau ist zwar
nicht
tot,
erscheint
dem
berichtenden
Arzt
aber
deutlich
gemäß
der
Topik
einer
Gespenstererscheinung:
»Within
less
than
a
yard
of
me
stood
the
most
fearful
figure
my
eyes
have
ever
beheld.
It
was Agnes! She was in the attitude of stepping to the door, with both arms extended. Her hair was partially dishevelled. Her face seemed whiter than the white dress she wore. Her lips were of a livid hue.
Her
eyes,
full
of
awful
expression,
were
fixed
with
a
petrifying
stare
at
me.«18 16 Ebd., S. 281. 17
Meegan
Kennedy,
»The
Ghost
in
the
Clinic:
Gothic
Medicine
and
Curious
Fiction
in
Samuel
Warren’s
Diary of a Late Physician«, in: Victorian Literature and Culture 32 (2004), S. 327–351. 18 Samuel Warren, Passages from the Diary of a Late Physician, London 1837, S. 296. Nachweise aus diesem Text erfolgen fortan in Klammern nach dem Zitat. Die Erzählung The Thunder Struck erschien das erste Mal gemeinsam mit The Boxer im September 1832 anonym in Blackwood’s Magazine.
Nico Pethes
113
Auch hier betont der erzählende Arzt simultan zur Unerhörtheit der spektakulären Erscheinung umgehend die wissenschaftliche Normalität des Falls: »I confess that, besides the other agitating circumstances of the moment, this extraordinary, this unprecedented case, too much distracted my self-possession to enable me promptly to deal with it. I had heard and read of, but never before seen, such a case. No time, however, was to be lost.« (298) Schließlich folgt diesem heroischen Aufruf zum praktischen Handeln (im Sinne eines »business […] to simply proceed«) die Beschreibung des konkreten therapeutischen Experiments, des Versuchs nämlich, die Lähmungserscheinungen durch galvanische Elektrizität zu beheben, deren »generelle« und das heißt: ›normale‹ Erscheinungen enggeführt werden mit den schauervollen Begleitumständen der Praxis: »We returned her gently to her recumbent posture; and determined at once to try the effect of galvanism upon her. My machine was soon brought into the room; and when we had duly arranged matters, we directed the nurse to quit the chamber for a short time, as the effect of galvanism is generally found too startling to be witnessed by a female spectator. I wish I had not myself seen it in the case of Miss P–! Her colour went and came – her eyelids and mouth started open – and she stared wildly about her, with the aspect of one starting out of bed in a fright«. (305) Auch
diese
Erscheinung
rekurriert
auf
Gespenster
bzw.
wiederbelebte
Tote,
insofern
der
Erzähler
sie
auf
die
erwähnten
spektakulären
Galvanisierungsversuche
bezieht,
nachdem
er
zunächst
den
›normalen‹ (»usual«) Verlauf dieses Verfahrens betont: »When the galvanic shock was conveyed to her limbs, it produced the usual effects – dreadful to behold in all cases – but agonizing to me, in the case of Miss P—. The last subject on which I had seen the effects of galvanism, previous to the present instance, was the body of an executed malefactor«. (305) Dann aber wird diese Erinnerung in einer Fußnote auf einen Vergleichsfall bezogen: »A word about that
case,
by
the
way
in
passing.
The
spectacle
was
truly
horrific.
[…]
The
first
time
that
the
galvanic
shock was conveyed to him will never, I dare say, be forgotten by any one present. We all shrunk from the table in consternation, with the momentary belief that we had positively brought the man back to life; for he suddenly sprung up into a sitting posture – his arms waved wildly – the colour rushed into his cheeks – his lips were drawn apart, so as to show all his teeth – and his eyes glared at us with apparent fury«. (305) Der wissenschaftliche Versuch wird zur Wiederkehr der Toten und der medizinische Fallbericht zum Schauermärchen, an dessen Ende Agnes stirbt und der Erzähler zum nüchternen Normalstil zurückkehrt: »I have no mystery to solve, no denouement to make. I tell the facts as they occured; and hope they may not be told in vain!« (314)
114
Spektakuläre Fälle
Worin besteht demnach die Relevanz von Totengesprächen für die Frage nach dem Fall? Sie verdeutlichen anhand eines Extrems die Normalität von Falldarstellungen: zwischen Norm und Abweichung zu vermitteln. Fall ist, was einerseits erzählenswert,
weil
von
allem
bisher
Gewußten
abweichend
ist, andererseits aber nur erzählbar, weil es den wissenschaftlichen Darstellungskonventionen entspricht. Und so, wie derart Wissen über die Normalität aus dem Erzählen von Normabweichungen erschlossen wird, kann umgekehrt die Annahmewahrscheinlichkeit von Fiktionen durch die Simulation fallförmiger Faktizität erhöht werden. Zugleich macht der Fall eines Totengesprächs im Modus des hoax bzw. der literarischen Fiktion deutlich, daß der Fall niemals der Vorfall – also das reale Ereignis selbst – ist, sondern dieses erst durch narrative Formung sowie mediale Rahmung, Verbreitung und Rezeption
als
Fall
konstituiert.
Geistererscheinungen
sind
mithin
lediglich
eine
extreme
Form
derjenigen wissenschaftlichen Praxis, die ihre Wahrnehmung des Normativen durch das Nachdenken über das Außerordentliche schärft. Aus
diesen
Gründen
könnte
es
lohnend
sein,
die
in
der
Fallgeschichtsforschung
dominierende
erkenntnistheoretische Relation zwischen Allgemeinem und Besonderem zu verschieben auf den Bezug zwischen Spektakulärem und Normalem – eine Verschiebung, die allerdings nicht nur paradoxen Sprechakten
Tür
und
Tor
öffnet,
sondern
auch
Grenzüberschreitungen
zwischen
Leben
und
Tod
oder
Fiktion
und
Fakten.
Die
Gespenster
bei
Poe
und
Warren
sind
damit
keinesfalls
Anschauungsbeispiele
für eine allgemeine Theorie des Falls. Sie zeigen aber und stattdessen, auf welche Weise Fälle sich im Spannungsfeld zwischen Literatur und Wissen konstituieren: als Bezug des Wissens auf das Unerhörte, als narrativer Entwurf eines empirischen Berichts als hoax und als Entwachsen ganzer Romane aus den Fallsammlungen der Sensationspresse des 19. Jahrhunderts.
»Bloomsday« im Ausstellungsraum
An Arena in Which to Reenact 1
Sven Lütticken
Sven Lütticken
117
»History has emerged as a drama seen from within by a spectator who, willy nilly, is also an actor
and
in
some
indefinable
sense
an
author.«1 Harold Rosenberg, 19702 Als
Guy
Debord
und
die
Situationistische
Internationale
in
den
1960er
Jahren
den
Kapitalismus
in
seinem
fortgeschrittenen
Stadium
als
Gesellschaft
des
Spektakels
attackierten,
fassten
sie
dieses
Spektakel auf als ein Theater von Waren-Bildern, die passiv konsumiert werden von Menschen, die verkümmerte Leben führen. Was in dieser Analyse nicht ausreichend herausgearbeitet wurde, war der an die Menschen gerichtete Imperativ des Spektakulären, sich selbst darzustellen, sich selbst als Waren vorzuführen. In der postfordistischen Ökonomie, in welcher die Dienstleistungsbranche wichtiger geworden ist, ist es unerlässlich, sich nicht so sehr als einen austauschbareren Anbieter von Arbeitskraft – jener Handelsware, welche die meisten Leute verkaufen –, sondern sich selbst vielmehr als einzigartigen Selbstunternehmer vorzuführen. In einer Kultur des Spektakels ist jeder ein
Schauspieler
–
dazu
verurteilt,
sich
ständig
selbst
auf
attraktive
Weise
zu
re-präsentieren.
Gewiss,
wie
Erving
Goffman
in
seiner
Studie
von
1959
über
die
»Darstellung«
oder
die
Performance
des
Selbst
im
Alltagsleben
gezeigt
hat,
ist
der
Gesellschaft
prinzipiell
etwas
Theatralisches
zu
eigen;
Menschen
präsentieren sich selbst in einer Weise, die ihnen als vorteilhaft und passend für sich erscheint. Diese Selbstdarstellung repräsentiert gleichzeitig das, was sie sein wollen oder in bestimmten Situationen sein müssen – vor einem Publikum, dessen Mitglieder sich an der gleichen Übung beteiligen.3 Dennoch
ist
Goffmans
Buch
typisch
für
seine
Zeit,
die
späten
1950er
Jahre,
als
die
Unternehmenskultur
bereits
anfing,
sich
mit
der
Performativität
von
Angestellten
zu
beschäftigen;
das
Buch
selbst
regte
diese Entwicklung an und war in diesem Sinne selbst eher performativ als deskriptiv. Das jeder sozialen
Situation
inhärente
performative
Moment
verschärfte
sich,
als
Sicherheiten
anfingen
zu
erodieren;
kurze
Zeit
später
wurde
die
Betonung
des
Kreativen
der
Gegenkultur
und
der
Protestbewegungen
der 1960er vom Kapitalismus absorbiert, als dieser Angestellte als kreative, verantwortliche Leute beanspruchte, die sich permanent selbst optimieren müssen.4 1
2 3
4
Anmerkung der Übersetzerin: Die ursprüngliche Fassung dieses Textes ist 2005 im Kontext der Ausstellung Life once more, die vom 27. Januar bis zum 27. März im Witte de With Center for Contemporary Art in Rotterdam stattgefunden hat, erschienen: Sven Lütticken, „An Arena in Which to Reenact“, in: Live, once more. Forms of Reenactment in Contemporary Art, hg. von Sven Lütticken, Rotterdam 2005, S. 17-60. Harold Rosenberg, »Foreword: After Ten Years«, in: Harold Rosenberg, The Tradition of the New, London 1970 [11959], S. 21. Erving
Goffman,
The Presentation of Self in Everyday-Life,
New
York
1959.
Obgleich
Goffman
den
Begriff
»presentation of self« verwendet, spricht er auch von »misrepresentation« (S. 58), auf diese Weise nahelegend, dass die Selbstdarstellung »some kind of image« (S. 252), ein Akt der Repräsentation sei. Siehe hierzu Luc Boltanski / Eve Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris 2000.
An Arena in Which to Reenact
118
Mittlerweile haben Reality-TV-Shows und ein immenser Vorrat von banalen Quasi-Berühmtheiten Warhols bekannte Prophezeiung von den 15 Minuten des Ruhmes wahr gemacht. Mediale Bilder – einschließlich
solcher
von
Künstlern,
deren
Selbstdarstellung
heute
häufig
wichtiger
ist
als
die
Werke,
die
sie
herstellen
–
sind
freilich
gewissermaßen
nur
die
Superstrukturen
einer
Gesellschaft
von
neoliberalen, performativ erzeugten Subjekten. Als Akteure in einem Spektakel haben wir als authentische
Wesen
mit
unverwechselbaren
Gefühlen
und
Handlungen
zu
erscheinen,
aber
Promi-Shows
und Doku-Soaps zeigen nur zu deutlich die unoriginelle, repetitive Natur der performativen Akte. Die Schauspieler – wir, potentiell jeder – sind Anhäufungen, Montagen von Wiederholungen. Während es jedoch eine Sache ist, festzustellen, dass alle Subjekte durch Etwas hervorgebracht werden, was ihnen vorausgeht – durch Sprache, durch Anrufung –, ist es eine andere, zur Kenntnis zu nehmen, dass
diese
Zitathaftigkeit
in
engen
Grenzen,
ohne
große
Variation
vorgehen
muss.5 Grundsätzlich
müssen
alle
Handlungen
Wiederholungen
der
ultimativen
Handlung
sein:
der
Selbstperformance zwecks besserer Sichtbarkeit, um so seinen Tauschwert gegenüber anderen Selbstdarstellern zu erhöhen – gleich, ob die Zuschauer ein Fernsehpublikum sind oder eines von potentiellen Arbeitgebern, mit denen es vernetzt zu sein gilt. Doch wenn im neoliberalen Theater jeder ständig sich selbst nachspielt und indirekt jeden anderen auch, wird die Wiederaufführung zu einer wesentlichen performativen Strategie – einer, die auf unterschiedliche Art und Weise von Künstlern und anderen Performern erforscht wird. Wenn man immer Rollen nachspielt, die zum Teil von anderen geschrieben wurden, könnte man das Reenactment ebenso gegen sich selbst einsetzen, indem man gezielt historische Ereignisse wieder re-aktualisiert. Aber kann solch eine Wiederholung
erfolgreich
die
ewige
Wiederkunft
des
Gleichen
durchbrechen,
anstatt
seine
Verstetigung sicherzustellen? Historische Wiederaufführungen mögen oft lediglich eine eskapistische Ablenkung vom Alltagsleben sein, aber vielleicht beinhalten sie auch eine anachronistische Infragestellung
der
Gegenwart.
Beide
Alternativen
können
selbst
als
ein
Reenactment
älterer
Formen
von Reenactments angesehen werden. Von der Malerei zur Performance In
einer
Gesellschaft,
in
der
Performanz
zu
einer
Ware
par
excellence
wird,
kann
der
Akt
des
Malens
eine
eigenständige
Funktion
annehmen,
die
das
fertige
Gemälde
auf
den
Status
eines
Abfallprodukts
reduziert, wie Harold Rosenberg es bekanntlich formuliert hat: »At a certain moment the canvas began to appear to one American painter after another as an arena in which to act – rather than a space in which 5
Zu Anrufung und Zitathaftigkeit siehe Judith Butler, Excitable Speech: A Politics of the Performative, New York/ London 1997, S. 43–52.
Sven Lütticken
119
to reproduce, redesign, analyze or ›express‹ an object, actual or imagined. What was to go on the canvas was not a picture but an event.«6 Rosenbergs The American Action Painters ist ein sonderbarer Text. Es ist nicht wirklich klar, über wen Rosenberg spricht; er nennt keine Namen. Meistens wird Action-Painting mit Jackson Pollock assoziiert, doch Rosenberg war zu dieser Zeit ein Verteidiger von De Kooning. Es war sein
Rivale
Clement
Greenberg,
der
Pollock
berühmt
machte,
doch
dieser
pries
ihn
als
einen
ernsthaften
modernen Maler an, der einige formale Probleme, die vom Kubismus ungelöst zurückgelassen worden waren,
durchgearbeitet
hat
–
nicht
als
einen
›Action-Painter‹.
Greenberg
war
entsetzt
über
Rosenbergs
dadaistisch-surrealistische bis existentialistische Rhetorik, die geeignet war, die formalen und farblichen Qualitäten
zu
vernachlässigen,
die
Greenberg
so
teuer
waren:
»An
action
is
not
a
matter
of
taste.
You
don’t
let
taste
decide
the
firing
of
a
pistol
or
the
building
of
a
maze.«7 Mary McCarthy hat Rosenberg mit der Bemerkung geantwortet: »[You] cannot hang an event on the wall, only a picture.«8
Genau
dieser
fehlende
Objektcharakter
war
es,
was
jüngere
Künstler
wie
Allan
Kaprow an Rosenbergs Kunst-als-Aktion- oder Kunst-als-Ereignis-Theorie faszinierte. Events, Happenings
und
Performances
schienen
jenseits
des
Prozesses
der
Kommerzialisierung
zu
sein;
flüchtig,
wie sie waren, konnten sie nicht als wertvolle Artefakte verkauft werden. Für Künstler wie Kaprow vermischten sich Sätze aus Rosenbergs Aufsatz – auch wenn diese nicht explizit auf Pollock zielten – mit
Hans
Namuths
Fotografien
und
seinem
Film
(1950)
über
den
seine
Bilder
malenden
Pollock,
um
daraus ein Bild des prototypischen Action-Painters zu entwerfen.9 Die ›Aktionen‹, die in diesen Bildern sichtbar wurden, erscheinen letztendlich genauso lebendig und faszinierend wie Pollocks Bilder und
dennoch
sind
sie
lediglich
zugänglich
als
Bilder.
Während
der
Herstellung
von
Namuths
Film
fing
Pollock
wohl
an,
sich
selbst
als
falschen
Fuffziger
zu
empfinden,
der
vor
der
Kamera
spielte
–
schauspielerte. Zahlreiche Publikationen und Ed Harris’ Film Pollock heben hervor, dass es diese Erfahrung war, die Pollock veranlasste, wieder mit dem Trinken anzufangen. Es ist nahegelegt worden, dass Rosenberg absichtlich etwas zweideutig in seiner Art und Weise, das Verb »to act« zu verwenden, gewesen sei, indem er etwa das Method-Acting als Modell nahm, eine Form des Spiels, die zugleich gefühlsmäßig real erscheint. Pollock hat jedoch offenbar eine verhängnisvoll rigorose Unterscheidung 6 7
8 9
Harold Rosenberg, »The American Action Painters (1952)«, in: Harold Rosenberg, The Tradition of the New, London 1970 [11959], S. 36. Rosenberg,
»American
Action
Painters«,
S.
47.
Greenberg
attackierte
Rosenbergs
Essay
(nachträglich)
in:
»How
Art
Writing
Earns
Its
Bad
Name
(1962)«,
in:
Clement
Greenberg,
The Collected Essays and Criticism, Volume 4: Modernism with a Vengeance, 1957–1969, Chicago/London 1993, S. 135–144. Zitiert in: Harold Rosenberg, »Preface (1960)«, in: Harold Rosenberg, The Tradition of the New, London 1970 [11959], S. 9. Allan Kaprow, »The Legacy of Jackson Pollock, (1958)«, in: Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 1–9.
120
An Arena in Which to Reenact
zwischen authentischen, nicht-theatralen Handlungen und unaufrichtiger Schauspielerei (oder FilmSchauspielerei) gezogen.10 Spätere Happenings und Events wurden völlig von der spektakulären Ökonomie eingeholt; hatten sie anfänglich als obskure Avantgarde-Ereignisse begonnen, wurden sie schnell vom Spektakel absorbiert, das sich selbst in eine Vorführung von Happenings verwandelte. Der Prozess der Kommerzialisierung von performativen Arbeiten in den 1960er und verstärkt in den 1970er Jahren offenbarte sich in solchen Phänomenen
wie
dem
Verkauf
von
limitierten
Ausgaben
von
Fotografien
und
Videos,
von
Objekten
oder
ganzen
»Sets«. Und während in vielen Performances das Objekt eine wichtige und oft marktfähige Rolle spielte, wurde
andererseits
die
Objektkunst
performativ
–
Greenbergs
Nachfolger
Michael
Fried
verurteilte
den
Minimalismus für seine »Theatralität«, da minimalistische Objekte im wahrsten Sinne des Wortes denselben Raum mit den Zuschauern teilen.11 Diese wortwörtliche, alltägliche ›Präsenz‹, die für Fried den Minimalismus in Verruf brachte, wurde von Verfechtern der Performancekunst als grundlegende Qualität und Daseinsberechtigung
verteidigt.
Gegenüber
medialen
Repräsentationen,
die
uns
auf
Passivität
reduzieren,
schenkt uns Performancekunst eine Live-Präsenz, die dem Zugriff der permanenten Repräsentation ausweicht.
Dieser
Aspekt
ist
häufig
für
die
Behauptung
der
progressiven
und
kritischen
Eigenschaften
der
Performancekunst stark gemacht worden, ungeachtet der Tatsache, dass Performance in einem weiteren Sinne voll und ganz in das Medienspektakel eingebunden worden ist. Peggy Phelan insistiert darauf, dass »Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the representations of representations: once it does so, it becomes live something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology.«12 Performancekunst würde dementsprechend als ein Vorstoß erscheinen, Performanz gegen die Ziele einer dominanten performativen Kultur zu nutzen, welche lediglich zu bereitwillig »lessen the promise of performance’s ontology« würde. Der Ausdruck »representations of representations« impliziert, dass eine Performance in einem starken Sinn Präsenz erzeugen könnte, sich aber nichtsdestotrotz in einem Kontext abspielt, welcher sie von dem ›normalen Leben‹ unterscheidet und sicherstellt, dass sie als Repräsentation wahrgenommen wird. Doch die Sache, welche die Performancekunst seit den späten 1950er Jahren ausgezeichnet hat, ist, wie Erika 10
Graham
Birtwistle,
»Actie,
oordeel
en
authenticiteit:
Hoofdstukken
uit
de
geschiedenes
van
het
schildergebaar«, in: Jong Holland 19, Nummer 3 (2003), S. 22–29. Für eine detaillierte Analyse von Namuths PollockFotografien und -Film siehe Pepe Karmel, »Pollock at Work: The Films and Photographs of Hans Namuth«, in: Jackson Pollock, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1998, S. 87–137. 11 Michael Fried, »Art and Objecthood (1967)«, in: Michael Fried, Art and Objecthood: Essays and Reviews, Chicago/London 1998, S. 148–172. 12 Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London/New York 1993, S. 146.
Sven Lütticken
121
Fischer-Lichte
bemerkt
hat,
dass
dieser
repräsentationale
Kontext
häufig
herausgefordert
wird:
Wenn
Marina Abramovic sich selbst im Rahmen einer Performance verstümmelt, sind ihre Handlungen nichtsdestotrotz schockierend real, auch wenn wir wahrnehmen, dass dies »Kunst ist«.13 Dies hat ebenso Folgen für das Verhalten der Zuschauer. Das Publikum kann einschreiten, um zu helfen, wie wenn Zuschauer versuchen, Abramovic zu schützen oder Vorgänge zu unterbrechen, wie im Fall des berühmten Fluxusabends in Aachen (1964), als Mitglieder des Publikums sich provoziert fühlten und mit Joseph Beuys kämpften, woraus
das
berühmte
Foto
vom
blutenden,
ein
Kruzifix
haltenden
Beuys
entstand.
Zweifellos
ist
dies
›etwas
anderes‹
als
das
reale,
flüchtige,
einmalige
Ereignis.
Doch
hat
Phelan
deshalb
recht,
wenn
sie
eine
derart
rigorose
Grenze
um
die
›reine‹
Performance
herum
zieht?
Mit
dem
verdrehten
Essentialismus
von
Roland
Barthes‘ Behauptung – in The Third Meaning
–,
die
Essenz
des
Kinos
sei
in
Standbildern
zu
finden,
könnte
man ebenso behaupten, dass die Essenz einer Performance oder eines Ereignisses in den Reproduktionen liege, die ihnen ein Nachleben verschaffen – Fotos, Filme und Videos, Beschreibungen.14 Ist nicht an dieser Stelle festzustellen, dass das Flüchtige der Kunst wirklich im Nachleben zum Leben erwacht, welches immer neuen Interpretationen – und Phantasien – Aufschwung verleiht? An diesem Punkt gewinnt das Reenactment von ›klassischen‹ Performances an Bedeutung. Auf der einen Seite scheinen solche Reenactments auf eben der Annahme zu beruhen, dass nur ein Reenactment
einen
wirklichen
Eindruck
von
solch
flüchtigen
Arbeiten
geben
könne
–
im
Gegensatz
zu
irreführenden
Darstellungen
in
Fotografien
und
Videos,
die
dazu
tendieren,
die
Performancekunst
in
das
vorherrschende
Spektakel
zu
integrieren.
Auf
der
anderen
Seite
sind
diese
Fotografien
und
Videos in einigen Fällen derart bekannt, dass ein Reenactment riskiert, wie bloßer Abklatsch, wie armseliger Ersatz für die auratischen Bilder des ursprünglichen Ereignisses zu wirken. In ihrer Videoarbeit Fresh Acconci (1997) stützen sich Mike Kelley und Paul McCarthy auf die Film- und Videoaufnahmen von Acconcis Performances aus den frühen 1970er Jahren. Einige dieser Filme und Tapes waren ›unmittelbare‹ Aufnahmen von Performances, während andere, wie Theme Song, in welchem Acconci
direkt
in
die
Kamera
spricht,
spezifisch
für
das
Medium
Video
konzipiert
waren.
Kelley
und
McCarthy reinszenieren diese Arbeiten im Porno-Stil – nackte Männer und Frauen spielen Acconcis Performances in einer kalifornischen Villa nach und suggerieren auf diese Weise, dass das alte Bildmaterial nicht sexy genug sei für die heutige visuelle Kultur und dass das, was nötig sei, nicht so sehr
ein
Live-Reenactment
von
Acconcis
Werken
ist,
sondern
vielmehr
ein
gefilmtes
Reenactment,
welches schlussendlich wie ein Remake der alten Filme und Videos funktioniere.15 13 14 15
Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 9–30. Roland Barthes, »The Third Meaning: Research Notes on Several Eisenstein Stills (1970)«, in: Roland Barthes, The Responsibility of Forms, übersetzt von Richard Howard, Berkeley/Los Angeles 1991, S. 41–62. Zu Remakes siehe Sven Lütticken, »Planet of the Remakes«, in: New Left Review, Nummer 25, Januar/Februar
An Arena in Which to Reenact
122
Historismus in Aktion: Festzug, Historienspiel und Reenactment Der Erfolg der Begriffe ›Happening‹ und ›Event‹ in den 1960er Jahren, der schnell über seine Ursprünge in der Neo-Avantgarde hinauswuchs, ist ein Anzeichen für die Theatralisierung der Kultur in den Sechzigern und darüber hinaus.16
Gerade
als
die
steigende
Performativität
des
Kapitalismus
zu
der
neoliberalen Ideologie von der Arbeit-als-Spiel führte, welche die Begriffe, die in den Bewegungen der 1960er Jahre gegen den Kapitalismus zielten, für die Wiederherstellung kapitalistischer Zwecke nutzte, wurden Happenings zum Bilderlieferanten des Spektakels – ungeachtet der Tatsache, dass sie ursprünglich gegen das spektakuläre Regime der Warenbilder gerichtet waren. 1961 hat Daniel J. Boorstin eine Zunahme von »Pseudo-Events« festgestellt, die nur deshalb vorkämen, damit über sie Bericht erstattet würde, damit sie in den Medien repräsentiert würden; in seinem Blue Key Archive präsentiert der Künstler Eran Schaerf Kriegsreenactments als eine von mehreren Kategorien solcher Pseudo-Ereignisse.17 Diese theatralen Ereignisse ergeben dann zweidimensionale Repräsentationen, Warenbilder. Künstlerische Happenings sollten jenseits dieser Repräsentationslogik zu verorten sein, aber
auch
sie
wurden
mit
Fotografien
und
manchmal
mit
Filmen
dokumentiert,
und
manche
Happenings wurden wirklich Pseudo-Events, die beabsichtigten, mediale Aufmerksamkeit hervorzurufen. Als Eröffnungen von Modegeschäften oder Kunstshows auch zu »Happenings« wurden, wurde das Happening zu einer Ware. Warhols Silver Factory war ein permanentes Happening von Exhibitionisten unter Vorsitz eines Voyeurs. Weit entfernt von einer ›reinen‹ Live-Performance, drehte sich die Factory um Medien maschineller Wiedergabe: Film, Tonbänder, Siebdrucke. Allan Kaprow zog sich, angewidert von dieser Entwicklung, mehr und mehr von der Kunstwelt zurück. In den frühen 1960ern, als Events und Happenings die Kunst eroberten, wimmelte es in den Vereinigten Staaten von Aktivitäten, die mit der Hundertjahrfeier des Bürgerkriegs zu tun hatten – Aktivitäten, die in manchen Fällen ebenfalls eine Art von Happening wurden. Die Hundertjahrfeier der Schlacht von Bull Run (oder First Manassas) im Jahr 1961 gedachte der Schlacht mit einem Reenactment auf dem Originalschauplatz, das eine große Aufmerksamkeit in der Presse bekam und sich als sehr beliebt bei Touristen erwies.18 Die Teilnehmer des Reenactments – angeführt von einem pensionier16
17
18
2004, S. 103–119. Im deutschen Sprachraum war der Begriff »Aktion« dominant; eine Arbeit, die in der englischsprachigen Welt als happening oder event galt, wurde hier als Aktion charakterisiert. Für die jungen Amerikanischen Künstler war (auch oder gerade wenn sie wie Kaprow Rosenberg viel zu verdanken hatten) der Begriff action zu sehr mit dem action painting
der
vorigen
Generation
verbunden. Daniel J. Boorstin, The Image: A Guide to Pseudo-Events in America, New York 1961; Eran Schaerf, »Scenario data for demographic design : selections from the Blue Key archive«, in: Territories, Ausst.-Kat. KW Institut for Contemporary Art, Berlin 2003, S. 198–212. Jenny Thompson, War Games: Inside the World of Twentieth-Century War Reenactors, Washington 2004, S. 29–33.
Sven Lütticken
123
ten Armeegeneral – waren hauptsächlich Mitglieder der North-South Skirmish Association (NSSA), einer Organisation, die wie die North-South-League 1950 gegründet wurde. Obzwar die Maßstäbe für Authentizität zu dieser Zeit relativ niedrig waren, strebten einige Einheiten danach, exakt zu sein – Vorgänger der späteren, zum harten Kern gehörenden Teilnehmer.19 Nach dem First Manassas und ähnlichen Reinszenierungen fand das Reenactment als Hobby immer mehr Verbreitung. Obwohl die NSSA sich nach wie vor auf Schießfeste konzentrierte, nicht darauf, sich in »realistischen« Kämpfen zu engagieren oder historische Schlachten nachzustellen, wurden diese Aktivitäten ausschlaggebend für spätere Reenactors, die immer genauer auf ihrer Suche nach historischer Authentizität wurden. In den späten Sechzigern gelangte das historische Reenactment auch über den Atlantik – die erste Reenactment-Gruppe
in
Großbritannien,
The
Sealed
Knot,
entstand
1967.
Sie
wurde
nach
einer
Geheimgesellschaft benannt, die nach der Niederlage von Charles I. aktiv war. Es war die napoleonische Zeit,
welche
schnell
das
europäische
Gegenstück
zum
amerikanischen
Bürgerkrieg
als
populärster
Epoche
für
Reenactments
wurde
–
ergänzt
um
frühere
Konflikte,
aber
ebenso
solche
neueren
Datums wie die Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts. Reenactments sind historistische Happenings. Zu einer Zeit, in der Pop Art, Fluxus und Minimalismus
das
Jetzt
feierten,
versuchten
Reenactments
eine
Erfahrung
von
der
Vergangenheit
als
Gegenwart oder als so gegenwärtig wie möglich herzustellen. Sowohl Kriegs-Reenactments als auch viele
Happenings
und
Performances
scheinen
sich
von
der
Sprache
zurückzuziehen
in
die
Gefilde
von – scheinbar – rein körperlichen Aktionen, weg von vorgeformter Sprache und ihren Konventionen, Klischees und ihren versteckten Sprengsätzen. Happenings wie auch Formen der 1960er und frühen 1970er Avantgarde-Performance und des Theaters im Allgemeinen schafften darüber hinaus auch den sicheren Abstand zwischen Darstellern und Zuschauern ab, um mehrdeutige, uneinheitliche Situationen herzustellen. In ähnlicher Weise platzieren Schlachten-Reenactments Zuschauer und Darsteller in derselben Landschaft, auch dann, wenn sich im Fall von ›öffentlichen‹ Events das Publikum
in
sicherer
Entfernung
befindet.
Im
Falle
von
Living-History-Museen
ist
diese
Distanz
deutlich reduziert – Darsteller in historischen Kostümen und Besucher, die selbst Teil der Darstellung werden, vermischen sich in etwas, das Stephan Eddy Snow ein ›environmental theatre‹ genannt hat.20 Manche amerikanischen Living-History-Museen – im Wesentlichen historische Themenparks, die auf Rekonstruktionen von historischen Städten oder Dörfern beruhen – stammen aus den 1920er oder 19
20
Ebd., S. 36–38. Für einen Bericht in der Ich-Form über Reenactments während der Hundertjahrfeiern zum Bürgerkrieg der frühen 1960er Jahre siehe Ross. M. Kimmel,»My Recollections as a Skirmisher during the Cival War Centennial: or, Confessions of a Blackhat« auf http://wesclark.com/jw/k_1960.html (Stand: November 2004). Stephan Eddy Snow, Performing the Pilgrims: A Study of Ethnohistorical Role-Playing at Plimoth Plantation, Jackson 1993, S. 185–212.
An Arena in Which to Reenact
124
1930er
Jahren.
Beispiele
sind
etwa
Henry
Fords
Greenfield
Village
oder
das
mit
Geld
von
Rockefeller
wiederhergestellte Colonial Williamsburg. Wenn der Fall des Pilgerdorfes von Plimoth Plantation, welches geringfügig später gegründet wurde, charakteristisch ist, war es um die 1970er herum, dass Museumsführer oder -übersetzer zur Erzählung in der ersten Person wechselten, das heißt dazu, historische
Charaktere
wirklich
vorzuführen,
statt
Geschichte
aus
einer
gegenwärtigen
Perspektive
zu
erläutern.21 Im Bereich der Living History wird die Handlung nicht abstrahiert zu etwas Existentiellem und Körperlichem jenseits der Sprache. Living History zeigt Alltagsleben und infolgedessen Themen, die
durch
Sprache
und
andere
Mittel
in
die
Gesellschaft
eingebunden
sind.
Nichtsdestotrotz
haben
sich diese Museen mit der historischen Reenactment-Bewegung vereinigt – viele Reenactors ziehen es vor, sich selbst als ›lebende Historiker‹ zu beschreiben, und abseits von der Nachbildung von Schlachten nehmen sie auch teil an weniger kriegslüsternen Living-History-Vorführungen. Umgekehrt werden die täglichen Aktivitäten in Living-History-Museen ergänzt durch gelegentliche größere Wiederaufführungen außergewöhnlicher Ereignisse, und im Fall der ›Besetzung‹ von Williamsburg durch britische
Truppen
sind
die
›Darsteller‹
Mitglieder
von
Reenactment-Gruppen. Letztendlich liegen die Wurzeln dieser gegenwärtigen Formen von Historismus genau im der eigentlichen historischen Epoche des Historismus – im neunzehnten Jahrhundert. Das heißt nicht, dass die Ursprünge die derzeitige Form begründet haben, die eine Transformation des Historismus in einem neuen kulturellen Regime darstellt. Unter Historismus verstehe ich hier die Wiederverwendung von verschiedenen alten oder ›exotischen‹ Stilrichtungen und Modellen in der Kunst und Kultur des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser kulturelle Historismus wurde in hohem Maße geprägt durch einen Denkansatz
in
Philosophie
und
Geschichtswissenschaft,
die
Historizismus
genannt
wird.22 Angefeuert durch Romantik und Deutschen Idealismus, wurde jede historische Epoche und Kultur als etwas betrachtet, das seinen eigenen unverwechselbaren organischen Kern besitzt und das zugleich den Charakter
einer
bestimmten
Entwicklungsstufe
des
Geistes,
der
Menschlichkeit
oder
›des
Volkes‹
darstellt. Durch Integration des einzigartigen Wesenskerns, der in einer historischen Epoche stecken sollte,
den
Gang
des
Fortschritts
oder
den
geistigen
Fortbestand
eines
Volkes
oder
einer
Rasse
konnte
die
Vergangenheit
Bedeutung
für
die
Gegenwart
erlangen.
Die
Wiederbelebung
von
historischen
Stilrichtungen,
Formen
und
Details
diente
ebenfalls
dazu,
die
Identifikation
mit
der
Vergangenheit
anzukurbeln
und
die
Differenz
zwischen
dieser
und
der
Gegenwart
zu
überwinden.
Der
kulturelle
21 22
Ebd., S. 21–37. Im Englischen wird der Begriff historicism auf beide Phänomene angewandt; der Unterschied Historismus/Historizismus ist eine deutsche Eigenart. Letzterer Begriff ist eng mit Karl Poppers Historizismuskritik verbunden. Für eine differenzierte historische Betrachtung, die auch die frühe deutsche Begriffsgeschichte mit einbezieht, siehe
Georg
G.
Iggers,
»Historicism:
The
History
and
Meaning
of
the
Term«
in:
Journal of the History of Ideas 56, no. 1 (January 1995), S. 129–52.
Sven Lütticken
125
Historismus
generierte
zahllose
historische
Romane,
üppige
historische
Gemälde
und
Neo-Stile
in
der Architektur und der Raumausstattung; europäische (und amerikanische) Kultur entwickelten sich zu einer ständigen Wiederaufführung jedweder historischen Periode oder ›exotischen‹ Kultur. Auf diese Weise wurde eine Kontinuität suggeriert, welche den modernen Bürger nicht nur zum legitimen Erben der eigenen Volksgeschichte, sondern auch zu dem anderer Kulturen machte. Die
historische
Genauigkeit,
welche
durch
zahlreiche
Formen
des
Historismus
in
Literatur,
Kunst,
Architektur und verschiedenen Arten von Feierlichkeiten suggeriert wurde, konnte ihn nicht davor schützen,
ins
Phantasmagorische
zu
kippen.
Im
Gegenteil,
die
ständige
Faktenkontrolle
begründete
und verstärkte ihren traumartigen Charakter. Wie Walter Benjamin bemerkt hat, bezweckten die Interieurs des neunzehnten Jahrhunderts, dem Bourgeois den Eindruck zu vermitteln, dass ein historisches Ereignis wie eine Krönung oder wie der Mord an einem Kaiser im Nachbarzimmer stattgefunden haben könnte.23 Heutige Reenactments wurden ebenso zu einem integralen Bestandteil dieser Kultur. Während im Theater Stücke von Dramatikern wie Shakespeare verstärkt in Kulissen und Kostümen aufgeführt wurden, welche peinlich genau auf der fraglichen Epoche beruhten, brachten historische Paraden oder Festzüge die gespielte Vergangenheit auf die Straßen der Stadt.24 Obschon diese Paraden Vorläufer in Festspielen der Renaissance und der Zeit des Barock haben, waren Mythologie
und
Allegorien
in
den
früheren
Formen
sehr
viel
bestimmender.
Nun
verdrängte
die
Geschichte den Mythos. Anders als im Theaterschauspiel bildeten diese historischen Paraden üblicherweise keine
konkreten
Ereignisse
nach;
sie
führten
Geschichte
in
Form
von
feierlichen
Umzügen
wieder
auf
und betonten auf diese Weise gewissermaßen die Linearität der geschichtlichen Zeit, indem sie die Vergangenheit zurückbrachten. Im späten neunzehnten Jahrhundert kamen wesentliche Impulse für historistische Spektakel aus der Kunst, besonders aus der Arts-and-Crafts-Bewegung und deren romatischem Versuch, das vorindustrielle Kunsthandwerk wiederzubeleben. Vor dem Jugendstil, dem Symbolismus
und
der
Avantgarde
des
20.
Jahrhunderts,
die
den
Begriff
des
Stils
von
spezifischen
historischen Vorläufern trennten, um einen unverwechselbaren modernen Stil zu schaffen – Modernität ist Historismus, der auf die Modernität selbst angewandt wird –, schaute die Arts-and-CraftsBewegung zurück auf historische Stilrichtungen, um die Kultur wiederzubeleben und das Alltagsleben 23 24
Walter Benjamin, »Das Passagen-Werk», in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band V.1, hg. von Rolf Tiedemann Frankfurt am Main 1991, S. 286. Werner Telesko, »Der Triumph- und Festzug des Historismus in Europa«, in: Der Traum vom Glück: Die Kunst des Historismus in Europa, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Wien/Akademie der Bildenden Künste in Wien, Wien 1996, Band 1, S. 290–296. Über historische Paraden im Belgien des neunzehnten Jahrhunderts siehe Tom Verschaffel, »Aanschouwelijke Middeleeuwen. Historische optochten en vaderlandse drama’s in het negentiende-eeuwse Belgie (1999)«, in: Digitale bibliothek voor de Nederlandse letteren, http://www.dbnl.nl/tekst/vers059aans01/ (Stand: Oktober 2004).
126
An Arena in Which to Reenact
zu
adeln.
Kostümfeste
waren
ein
Teil
der
Arts-and-Crafts-Bewegung
und
fanden
häufig
in
einem
privaten
Kontext
statt.
Der
Historismus-in-Aktion
erreichte
in
England
einen
neuen
Grad,
bezogen
auf
Umfang, Öffentlichkeit und öffentliche Aufmerksamkeit, mit dem Sherborne Historienspiel im Jahre 1905, welches von Louis Napoleon Parker organisiert wurde – dessen Eltern gleichfalls ein verblüffendes Reenactment ausführten, als sie ihm seinen Namen gaben.25 Parkers Historienspiele und viele von diesen inspirierte im Vereinigten Königreich und anderswo waren stärker narrativ als die meisten Festzüge. Typischerweise boten sie ausgearbeitete Szenen aus der Stadtgeschichte oder der Region dar, in welcher das Historienspiel stattfand, erstreckten sich vom Mittelalter bis ins neunzehnte Jahrhundert und wurden an manchen Stellen von Ballett oder allegorischen Maskenspielen unterbrochen. Diese Historienspiele waren keine Paraden: Sie wurden vor
einer
Haupttribüne
von
einer
großen
Gruppe,
die
in
der
Stadt
selbst
angeworben
war,
aufgeführt, vor einem malerischen Hintergrund wie einer Burg. Ein zentrales Ziel war eindeutig, durch die Feier
regionaler
und
–
indirekt
–
nationaler
Geschichte
Bürgerstolz
einzuflößen.
Das
Historienspiel
versuchte Kontinuität und Fortschritt, Tradition und den unvermeidlichen Vormarsch der Moderne zu vermischen. Parkers Festspiele wurden bereitwillig in den Vereinigten Staaten nachgeahmt; von 1910 an wurden die USA überschwemmt von einem wahrhaften Reenactmentwahn. Wie in Europa hatte es auch in den USA Formen von historistischen Spektakeln und Festlichkeiten gegeben; auf Feierlichkeiten zum 4. Juli marschierten bisweilen Veteranen in historischen Kostümen, und Paraden enthielten mitunter Festzugswagen mit tableaux vivants – manchmal inspiriert von Historienmalereien. Auf einer historischen Parade in Philadelphia im Jahr 1908 wurden Schlüsselrollen von Mitgliedern der städtischen Oberschicht übernommen; so wurde Benjamin Franklin von seinem eigenen Urenkel gespielt.26 Auf diese Weise nutzte die herrschende Klasse die historische Parade, um einen Besitzanspruch geltend zu machen; die neuen historischen Festzüge wurden auch in dieser Weise eingesetzt. Andere versuchten dagegen die Festzüge in einer anderen Weise zu nutzen: »progressive educators and playground workers viewed the new pageantry as a way to orchestrate the popular recreational features of celebrations so that the public would not only be exposed to history and art from the podium but also learn by doing through the medium of play. To them, historical pageantry was an elaborate ritual of democratic participation …«27. 25
David
Glassberg,
American Historical Pageantry: The Uses of Tradition in the Early Twentieth Century, Chapel Hill,
London
1990,
S.
43–44.
Parkers
Enkel
machte
später,
dem
Rezept
seines
Großvaters
folgend,
mit
historischen
Festspielen
in
Großbritannien
weiter,
siehe
Anthony
Parker,
Pageants. Their Presentation and Production, London 1954. 26
Glassberg,
American Historical Pageantry, S. 16–20. 27 Ebd. S. 64.
Sven Lütticken
127
Verglichen mit heutigen historischen Reenactments, drehten sich die Festspiele weniger um nachspielende
Individuen
als
um
eine
Gemeinschaft,
die
sich
durch
ein
Bild
ihrer
selbst
ausstellte.
Während aktuelle Kriegs-Reenactments eine Art negativer Doppelgänger des performativen Imperativs des
postmodernen
Kapitalismus
darstellen,
wurde
das
Festspiel
auf
Gemeinschaft
ausgerichtet
und
gegen die aufstrebende Filmindustrie in Stellung gebracht. Die örtliche Beteiligung war ausschlaggebend. Es handelte sich um eine (Re-)-Präsentation für die und von der Bevölkerung, obwohl die meisten Festspiele tatsächlich von extra für diesen Anlass eingeführten Spezialisten inszeniert wurden –
den
Festspielregisseuren,
die
sich
häufig
selbst
als
aufgeklärte
Künstler/Pädagogen
betrachteten.
Wie in manchen Paraden des späten neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhunderts gab es im Grunde
zwei
Erfahrungen
aus
den
Historienspielen
–
aus
der
Innen-
und
aus
der
Außenperspektive.
Die
Reenactors,
die
teilnahmen
–
häufig
Tausende
von
ihnen
für
ein
einziges
Historienspiel
–,
waren
als
Mitglieder
der
Gemeinschaft
gleichermaßen
Teil
des
intendierten
Publikums.
Der
›passive‹
Teil
der Zuschauer betrachtete das Historienspiel als großes Spiel, ein prächtiges Spektakel, während die Leute in historischen Kostümen der aktive Teil des Publikums waren; mitten im Spektakel, lebendig und an ihm beteiligt, aber stets eingeschränkt durch ein Skript. In dieser Hinsicht ähneln diese Laienschauspieler den Statisten auf der Bühne oder im Film, obgleich in
diesen
Medien
die
Verbindung
zwischen
Repräsentation
und
Gemeinschaft
gekappt
ist;
der
Film
verschärft
den
Graben
zwischen
Schauspielern
und
Publikum,
indem
er
die
Verbindungen
zwischen
dem Spektakel und dem Leben der Zuschauer radikaler trennt, als dies im populären Theater der Fall ist. Erst später drang das Spektakel der Medien wiederum ein ins Alltagsleben, als post-fordistische ökonomische
Verhältnisse
aus
permanenter
Selbstneuerfindung
die
Norm
machten
und
RealityShows und Webcams zu einer logischen Konsequenz wurden. Warhol, der Bewunderung für große Hollywoodstars
des
Goldenen
Zeitalters
kombinierte
mit
der
Überzeugung,
jeder
könnte
für
fünfzehn
Minuten ein Star werden, ist vielleicht diejenige Figur, die am deutlichsten den Übergang zum neuen Regime markiert. Das permanente Happening in der Factory mit ihren dauernden Probeaufnahmen war eine Versuchsanordnung für vieles, das später kam. Repräsentation und Immersion Festspiele
versuchten
den
Grenzen
der
Bühne
zu
entkommen,
in
die
Landschaft
oder
in
der
Nähe
der
Stadt, welche in dem Festspiel gefeiert wurde; das historische Festspiel ist ›Environmental-Theatre‹, welches darauf ausgerichtet ist, mit seinem Kontext zu verschmelzen, eine Repräsentation, die bezweckt,
die
dargestellte
Gemeinschaft
und
ihre
Umwelt
ineinander
übergehen
zu
lassen.
Die
ersten
Pläne für den Kaiser-Huldigungs-Festzug, der 1908 in Wien organisiert wurde, um die sechzigjährige Herrschaft des Kaisers zu feiern, enthielt noch Schilderungen von Festzugswagen mit Darstellungen
128
An Arena in Which to Reenact
verschiedener dramatischer Szenen. Das endgültige Konzept vom März 1908 schaffte allerdings derartige
Vorrichtungen
ab
und
konzentrierte
sich
auf
Volksgruppen
(häufig
Nachfahren
von
wichtigen
Familien, die ihre eigenen Vorfahren darstellten, wie auf der Parade in Philadelphia ein paar Jahre zuvor), die marschierten oder auf dem Pferderücken oder in Kutschen saßen. Eher als in Form von Tableaus herumgezeigt zu werden, bewegten sie sich ›natürlich‹, mehr oder weniger so, wie sie es im jeweiligen Zeitalter marschierend oder reitend getan hätten.28
Sie
befinden
sich
nicht
auf
beweglichen
Podesten, sind nicht Bilder aus einigem Abstand; ihre Füße, die Hufe der Pferde oder die Räder ihrer Kutschen berühren die Straßen. Repräsentation löst sich vom Podest und aus dem Rahmen. Obwohl
die
kapitalistische
Nutzung
des
Kinos
für
das
Gegenteil
dessen
stand,
was
die
Festzugsbewegung erreichen wollte, beobachtete der Meister der Historienspiele, Thomas Wood Stevens, dass »pageant workers can gain much … from a study of moving pictures, in which, of course, the interest
is
held
entirely
by
action.
Think
your
pageant
through
in
terms
of
moving
pictures;
filter
out
the
talk
and
find
out
how
much
action
remains.«29 Schon bald triumphierte der Historismus auf der Leinwand über denjenigen der Live-Festzüge und man kann sagen, dass das Kino des zwanzigsten Jahrhunderts beides bezeugt: die Apotheose und die Selbstkritik des künstlerischen Historismus des neunzehnten Jahrhunderts. Das populäre Kino griff – allen avantgardistischen Elementen offensichtlich ausweichend – sowohl in narrativer als auch in visueller Hinsicht Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts auf, um eine schnelle Akzeptanz bei den Massen zu erzeugen. Der Historismus konnte auf
diese
Weise
in
einer
filmischen
Form
aufblühen,
bis
er
später
in
der
›ernsten‹
Kunst
verpönt
wurde. Wie in zahllosen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Vergangenheit als exotisch und
dennoch
grundsätzlich
vereinbar
mit
Gefühlen
und
Vorverständnissen
des
zwanzigsten
Jahrhunderts dargestellt; sie war eindrucksvoll gegenwärtig, allerdings lediglich als ein Hintergrund für Geschichten,
die
Variationen
eines
Plots
waren,
der
überall
hätte
spielen
können.
Im
Gegensatz
dazu
stellten Filme wie Max Ophüls Lola Montez (1955), Viscontis Ludwig (1972) oder Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) eine selbstkritische Wende des Historismus dar. Für Barry Lyndon verwendete Kubrick Recherchematerial seines aufgegebenen Napoleon-Films, welcher die Zerstörung des Ancien Régime durch die Französische Revolution und den Aufstieg und Fall von Napoleons Herrschaft gezeigt hätte – eine Wiederaufführung des Römischen Reiches.
28
Elisabeth
Grossegger,
Der Kaiser-Huldigungs-Festzug, Wien 1908. Mit einem Vorwort von Margaret Dietrich, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, 585. Band, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1992, S. 30–36. 29
Glassberg,
American Historical Pageantry, S. 118.
Sven Lütticken
129
Zum
harten
Kern
gehörende
Reenactors
der
Gegenwart
sind
häufig
kritisch
gegenüber
der
Art
und
Weise,
in
der
Geschichte,
besonders
Militärgeschichte,
in
Filmen
dargestellt
wird,
doch
seit
den
1990er
Jahren haben viele Reenactors als Komparsen in Filmen wie The Patriot (2000) über den Krieg der Amerikanischen Revolution und Saving Private Ryan (1998) mitgewirkt. Möglicherweise verrät die Kritik an Filmen,
obwohl
sie
sich
auf
Details
begrenzt,
einen
gewissen
Generalverdacht
gegenüber
der
Fähigkeit
von
flachen,
bildschirmorientierten
Repräsentationen,
ein
wirkliches
Gefühl
von
Kriegserfahrungen
zu
liefern. Reenactors wollen zweidimensionale Bilder zugunsten körperlicher Erfahrung durchbrechen: Das historische Reenactment, wie es sich seit dem 1960er Jahren entwickelt hat, zeichnet sich durch eine Emanzipation des Reenactors aus. Veröffentlichungen über dieses ›Hobby‹ unterstreichen, dass der harte Kern der Reeanctors eine negative Sicht auf ›öffentliche‹ Ereignisse hat, wenn sie sich – wie in den Festspielen
früherer
Tage
–
für
das
Publikum
einer
zentralen
Choreografie
anpassen
müssen.30
Gewiss
sind diese Hardliner nur eine Fraktion in der Reenactment-Szene und viele sind gerne bereit, Schlachten für Touristengruppen aufzuführen. Nichtsdestotrotz ist die Erfahrung des Reenactors wichtiger geworden als in den historischen Festspielen; es ist nicht so sehr eine hochgesinnte Angelegenheit der Allgemeinheit
als
vielmehr
ein
Hobby
für
Gruppen
von
Enthusiasten.
Daher
ist
es
auch
nicht
erstaunlich,
dass
einige ›private‹ Reenactments vorziehen, in denen sie historische Schlachten nur für sich selbst – ohne ein nur passives Publikum – nachstellen. Hier ist die aktive Erfahrung, die Erfahrung des Spielens – des Nachstellens – alles. Um diese Erfahrung noch unwiderstehlicher zu gestalten, werden die Schlachten mit offenem Ausgang geschlagen, was so viel bedeutet, wie dass das Reenactment einer historischen Schlacht, von der bekannt ist, dass sie von den Deutschen gewonnen wurde, in ihrer nachgespielten Form von den Briten gewonnen werden kann.31 Obschon diese kompromisslosen Reenactors in ihrer Aufmerksamkeit auf kleinste Details bezüglich der Kleidung oder der Ausstattung obsessive Perfektionisten sind, die auch moderne Brillen untersagen, scheinen sie sich in dieser Hinsicht eine erstaunliche Freiheit zu erlauben. Da aber das Ergebnis der ursprünglichen Schlacht im Vorhinein auch nicht klar war, muss ein authentisches KriegsReenactment Elemente von Überraschung und Zufall sowie ein offenes Ende bereithalten. Für den harten Kern der Reenactors muss ein Reenactment einer authentischen Handlung so nah sein, wie dies ohne den Einsatz von echter Munition und echten Toten möglich ist. Zumindest ist in manchen Wiederaufführungen von Schlachten die Erfahrung der Spieler wichtiger als der Wunsch, eine bestimmte Wirkung auf das Publikum zu erzielen. Verglichen mit früheren Formen des Historismus-inAktion, legt das heutige Reenactment mehr Nachdruck nicht nur auf Erfahrungen in der ersten Person, sondern auch auf die extremste aller Handlungen, das Kämpfen in einem Krieg. Ein Alltagsleben, 30 31
Thompson, War Games, S. 95–116, 141–163. Ebd., S. 153–154.
An Arena in Which to Reenact
130
das sich durch eine ständige Selbst-Performance auszeichnet und in diesem Sinne theaterhaft ist, wird ersetzt durch eine ›authentische‹ Kriegshandlung, die als historistisches Happening dann doch nur die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln ist. Die ökonomisch-performativen Zwänge des täglichen Lebens werden spielerisch sublimiert. Wie Tom Holert und Mark Terkessidis erwähnt haben,
wird
die
Metapher
des
Soldaten
oder
des
einsamen
Kämpfers
häufig
für
die
Beschreibung
zeitgenössischer neoliberaler Subjekte genutzt – vor allem solcher, die Jobs im Bereich des Finanzmarktes haben.32 Ist ein Tag in Wall Street nicht das ultimative Schlachtenreenactment? Dass viele Reeanctors bescheidenere Stellen bekleiden als die eines Börsenmaklers oder Managers, wird ihre Identifikation
mit
dem
›einfachen
Soldaten‹
nur
erhöhen.
Stellen
sie
sich
in
historisierter
Gestalt
selbst dar und nach? Dass das Reenactment die Betonung auf eine umfassende Erfahrung legt, kann in Beziehung gesetzt werden zu der ›alternativen Tradition‹, die Lev Manovich dem dominanten Verfahren der Repräsentation in der modernen Kultur gegenübergestellt hat, jenem der bildschirmbasierten Repräsentation. Diese alternative Tradition »can be found whenever the scale of a representation is the same as the scale of our human world so that the two spaces are continuous. This is the tradition of simulation rather than that of representation bound to a screen«; Simulation wie etwa in jenen künstlichen Dörfern,
mit
denen
Potemkin
angeblich
Katharina
der
Großen
eine
wohlhabende
Bauernbevölkerung
vorgaukelte.33 Diese Tradition schließt Attraktionen des späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts
ein
wie
Wachsfigurenkabinette
und
bis
zu
einem
gewissen
Grade
auch
das
Panorama
und
die
Phantasmagorie
–
jene
Geistershow,
deren
Name
durch
Marx
später
zu
einem
Synonym
für
die
Illusionen des Warenfetischismus wurde und die von Benjamin in seiner Analyse der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts aufgegriffen wurde. Obgleich sie in der modernen Kunst gemieden wurde, ist diese Tradition der Simulation nie wirklich verschwunden und hat in den letzten Jahrzehnten stetig an Kraft dazugewonnen – nicht nur in allen Formen von Themenparks, sondern ebenso in der virtuellen Realität, zum Beispiel in Flugsimulatoren. Das erste Unternehmen für die Entwicklung von computerisierten Flugsimulatoren wurde 1968 gegründet; in späteren Jahrzehnten wurde zunehmend dieselbe Technologie genutzt, um Computerspiele für den Verbrauchermarkt zu produzieren.34 Obgleich ein ›Egoshooter‹-Spiel offensichtlich eine andere Erfahrung ermöglicht als diejenige, während eines Reenactments durchgefroren auf ein paar Feldern zu stehen, gibt es eine grundlegende Ähnlichkeit dieser beiden, die eine viel eindringlichere und fesselndere Erfahrung erzeugen wollen 32 33 34
Tom Holert/Mark Terkessidis, Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln 2002, S. 104–116. Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge MA, London 2001, S. 112. Ebd., S. 276–277.
Sven Lütticken
131
als eine zweidimensionale Darstellung. Auch wenn das Spiel in technischer Hinsicht auf einem zweidimensionalen
Bildschirm
stattfindet,
entwickelt
der
Spieler
die
Illusion,
einen
Raum
zu
durchqueren
und in diesem zu handeln. Filme haben ebenso mehr und mehr versucht, den Zuschauer in der Mitte der Aktion zu platzieren, ihn in die Handlung hineinziehend, doch dieser Effekt wird normalerweise durch eine hektische Montage erzeugt und nicht durch den ›Aufnahme-Effekt‹ von Spielen. Paradoxerweise war es Kubrick, der Meister der stillstehenden Tableaus, welcher von den 1950er bis in die 1980er Kriegsszenen mit einem beispiellosen Sinn für Nähe und für die Realität einer Schlacht entwarf. Doch während Kubrick den Zuschauer in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges oder in verwirrenden Schlachtszenen in Vietnam platziert, bleibt sein Kamerastil unbeteiligt und fördert nicht
die
Identifikation
mit
Figuren.
Dies
ist
eine
wesentliche
Differenz
zu
aktuelleren
Filmen,
wie
sehr
sie
auch
von
Kubricks
Kameraarbeit
beeinflusst
sein
mögen
–
wie
im
Fall
von
Spielbergs
Saving Private Ryan. Kubricks Kamera ist ein Beobachter und suggeriert keine Teilnahme, gleichgültig, wie beweglich
sie
ist;
im
Gegenteil,
viele
jüngere
Kriegs-
und
Actionfilme
machen
den
Zuschauer
zu
einem
Quasi-Spieler. Immer mehr kompromisslose Reenactors setzen auf kleinste Einzelheiten, um die Illusion so authentisch wie möglich zu machen, sie versuchen, ihren Figuren eine eindeutige Identität zu verleihen, und gehen für die Herstellung des entsprechenden Eindrucks auch bis zum Einweichen von Knöpfen in Urin, um diesen die richtige Patina zu verleihen. Alles moderne Ausstattungsmaterial muss verborgen werden, um den Eindruck, sich ganz in der dargestellten Zeit zu bewegen, zu verfestigen, auch wenn dies einige Reenactors nicht davon abhält, vollständig unauthentische Aufnahmen und Videokameras in den Schlachten zu benutzen. Schlussendlich ist es wichtig, dass zweidimensionale Darstellungen dazu beitragen, sich die Erfahrung einzuprägen: Wie in der Performancekunst ruft das Reenactment eine
nahezu
endlose
Prozession
von
fotografischen
Repräsentationen
hervor,
die
häufig
stolz
auf
den
Websites der »Regimenter« oder »Einheiten« gezeigt werden. Solche Websites haben auch die Aufgabe, potentielle neue Reenactors anzuziehen. Das Sich-hindurch-Klicken durch die Bildergalerien kann zum Wunsch führen, selbst an einem Reenactment teilzunehmen. Die bildschirmbasierten Repräsentationen
und
die
»Simulation«
des
Reenactments
sind
miteinander
verbunden
und
beeinflussen
sich
wechselseitig. Im Fall der moderaten Mainstream-Reenactors ist die Verlockung, die vom schicken Aussehen eines Napoleon oder einer Bürgerkriegsuniformen ausgeht, welche für schöne Bilder gemacht werden, sicherlich ein Faktor von einiger Bedeutung. Wenn solch eine von Bildern geprägte Betrachtungsweise von kompromisslosen Reenactors gering geschätzt wird, wollen auch sie immer und immer wieder ihre Erfahrungen durch das Vertiefen in Bilder wieder-erfahren; manche beleben sogar die alte Technik des Kollodium-Nassplattenverfahrens wieder, um auf diese Weise zu ›authentischen‹ Bildern zu kommen. Auf der einen Seite beansprucht also die heutige performative Kultur sowohl die
An Arena in Which to Reenact
132
Freizeit als auch den Arbeitsplatz, der in einen Ort der Kreativität und des Spiels umgewandelt wird, wenn man nur die richtige Einstellung hat. Auf der anderen Seite betont sie das Erscheinungsbild des Darstellers, das visuelle Ergebnis – das Bild. Indem sie eine momentane Freistellung von der gewöhnlichen Performance offerieren, wiederholen Kriegs-Reenactments und Living-History-Attraktionen diese Spannung zwischen der Erfahrung und dem Bild einer Performance; es ist genau diese Art von Spannung, welche die Anziehungskraft dieser theatralen Formen ausmacht. Tony Horwitz hat, als er über Hardcore Reenactor schrieb, den Begriff vom ›Zeitalter-Rausch‹ geprägt, einer vorübergehenden Illusion, tatsächlich in der Vergangenheit zu sein.35 Auch wenn der Reenactor will,
dass
die
Fiktion
so
schmerzhaft
wirklich
wird
wie
möglich,
ist
er
nicht
stärker
in
der
Gefahr,
vollständig zu vergessen, dass er an einer Fiktion teilnimmt, als ein Spieler. Wenn manche Formen der Performancekunst Unsicherheit darüber herstellen, ob das, was passiert, wenn der Künstler oder die Künstlerin sich selbst verstümmeln, als eine Aufführung zu verstehen ist oder aber als ein sehr realer Akt der Selbstverletzung, welcher gestoppt werden sollte, gehen Hardcore Reenactments weniger weit darin, die Unterscheidung zwischen der Aufführung in einem Spiel und einer Darstellung im alltäglichen Spektakel des Lebens auszulöschen. Auch wenn manche Unbequemlichkeiten von Schlachtsituationen unmittelbar gefühlt werden, ist es doch klar, dass es sich um ein Spiel handelt und
dass
niemand
tatsächlich
in
Gefahr
ist,
getötet
zu
werden.
Historische
Performancekunst
ahmte
häufig
ritualisierte
Formen
nach,
um
eine
transformatorische
Erfahrung
zu
suggerieren.
Im
Fall
der
Kriegs-Reenactments ist der Anspruch bescheidener – für eine begrenzte Zeit aus dem Alltagsleben herauszutreten, um anschließend mit neuen Kräften, aber völlig unverändert zurückzukehren. Jetztzeit und Zeitreise Mit
Blick
auf
ein
Reenactment,
das
1998
in
Gettysburg
stattfand,
hat
Christopher
Hitchens
bemerkt,
dass, »wer der Vergangenheit nicht vergeben kann, ist dazu verurteilt, sie wieder aufzuführen (nicht ohne ein gewisses Pathos).«36
Diese
Bemerkung
ist
offensichtlich
eine
Variation
von
George
Santayanas berühmtem Satz: »Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«
Diese
Worte
sind
selbst
endlos
wiederholt
worden
auf
allen
Arten
von
Gedenkveranstaltungen
–
gerade
in
Deutschland.
In
einer
leicht
modifizierten
Fassung
waren
sie
auch
das
Motto des Kult-Anführers Jim Jones, kürzlich das Thema des Jonestown Re-enactments des Künstlers Rod Dickinson. Hitchens Ersetzung von »wiederholen« durch »nachspielen« suggeriert, dass er das Reenactment
eher
als
eine
Geschichtsverleugnung
betrachtet
denn
als
intensive
Beschäftigung
mit
ihr. In diesem Sinne könnte es vergleichbar sein mit der Kultur des 19. Jahrhunderts, die Walter Benja35 36
Tony Horwitz, Confederates in the Attic: Dispatches from the Unifinished Civil War, New York 1998, S. 7. Hitchens, zitiert in: Thompson, War Games, S. 284.
Sven Lütticken
133
min zufolge nicht länger um die revolutionäre Jetztzeit bemüht war, in der die Französische Revolution das antike Rom hatte auferstehen, wieder erleben und nachspielen lassen.37 Die republikanischen Tugenden des frühen Rom, die der Öffentlichkeit von den vor-revolutionären Bildern von David und anderen
eingeflößt
wurden,
sprangen
von
der
Leinwand
in
das
gesellschaftliche
Leben
und
die
politische Aktion, gleichermaßen Kleider, Feierlichkeiten und politische Strukturen verändernd – bevor die Republik in das Imperium Napoleons einmündete –, ein Rom gegen das andere eintauschend. So antiquiert sie in Architektur, Schrift, Kleidung gewesen sein mag, die Französische Revolution strebte
an,
die
antiken
Tugenden
und
politischen
Ideen
wieder
aufleben
zu
lassen,
anstatt
Jahrhunderte des Obskurantismus umzuwerfen, mit dem Ancien Régime durch einen Akt des radikalen Anachronismus zu brechen. Auch wenn die neoklassische Kultur des späten achtzehnten Jahrhunderts dem Historismus mit auf die Sprünge geholfen hat: In ihren radikalsten Manifestationen nutzte sie alte Formen, um zeitgenössische zu zerschlagen. Wenn die Revolution ein Reenactment der Antike war, dann war es eines, welches
die
Vergangenheit
nutzte,
um
die
Gegenwart
zu
verändern,
und
mündete
in
etwas
noch
nie
Dagewesenes.
Mehr
als
auf
diese
Weise
eine
vergangene
Epoche
wieder
aufleben
zu
lassen,
nutzte
der
Historismus
historische
Stile,
um
die
zeitgenössische
bürgerliche
Gesellschaft
zu
stabilisieren.
Während das revolutionäre Reenactment das Ancien Régime in einer Jetztzeit zerschlug, stützte das historistische Nachspielen von Epochen und Stilen den neuen Status quo, kleidete diesen in Formen eines unaufhörlichen Fortschreitens der Modernisierung ein, welche Kontinuität und eine logische Entwicklung suggerierten. Aber derweil Neo-Stile aufs Engste mit den historistischen Begriffen der Evolution und des Fortschritts verbunden waren, deuteten ein historistischer Stil in den Künsten und materiellen Kulturen eine mythische, zyklische Wiederkehr an. Schließlich wurde, wie Benjamin erörtert, nicht nur die Fortschrittsideologie selbst zunehmend ein unbefragter Mythos der Moderne, sondern das neunzehnte Jahrhundert brachte auch die Theorien ewiger Wiederkehr von Blanqui und Nietzsche hervor. Aus Benjamins Blickwinkel waren solche Theorien eine Wiederkehr des Mythos, die für eine Kultur ganz
passend
erschienen,
die
sich
in
eine
Traumzeit
der
Gleichförmigkeit
einwob,
um
die
bürgerlichen
Besitzansprüche
gegenüber
der
Geschichte
durch
das
Nachspielen
vergangener
Stile
zu
zementieren.38 37
Walter
B enjamin,
» Über
d en
B egriff
d er
G eschichte
(1940)«,
in:
Walter
B enjamin,
Gesammelte Schriften, Band I.2: Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 701. 38 Benjamin, »Passagen-Werk«, S. 169–178.
134
An Arena in Which to Reenact
Moderne
Theoretiker
haben
betont,
dass
in
traditionellen
Gesellschaften
mythische
Ereignisse
laufend
in Ritualen vergegenwärtigt werden; Zeit wird damit zyklisch statt linear gedacht. Die moderne Wiederkehr des Mythos bezieht sich dahingegen mehr auf historische als auf ›zeitlose‹ mythische Ereignissen. Wiederholung wird so eher zu einer Wiederholung eines ›Originals‹ als zu einer von vielen möglichen Aktualisierungen eines Mythos; hierbei handelt es sich um die mutierte Wiederkehr einer zyklischen Zeit unter modernen, industriellen Bedingungen. Der geschichtliche Abschnitt, der dabei kopiert wird, ist vielleicht schon zu sehr besetzt mit gegenwärtigen Fantasien und Projektionen, um den aktuellen Status
quo
zu
durchbrechen.
Bei
aller
Genauigkeit,
die
eine
historisierende
Wiederholung
besitzen
mag,
reproduziert
sie
oft
doch
die
konservativsten
Züge
einer
festgefahrenen
Gegenwart. Wiewohl Benjamin Nietzsches Theorie der ewigen Wiederkehr als ideologischen Ausdruck des bürgerlichen Historismus gelesen hat, hat Nietzsche selbst den Historismus seiner Zeit dafür kritisiert, das
Leben
mit
antiquierter
Bildung
zu
lähmen.
Gilles
Deleuze
hat
argumentiert,
dass
Nietzsches
Begriff der ewigen Wiederkehr in Wahrheit gegen die zyklische Reproduktion von Archetypen oder Originalen ziele. In Deleuzes Auffassung beabsichtigte Nietzsche mythische Wiederholung samt ihrer modernen Äquivalente durch eine Form der Wiederholung zu ersetzen, die Differenzen produziert statt irgendwelche Vorlagen zu kopieren. »But is not repetition capable of breaking out of its own cycle and of ›leaping‹ beyond good and evil? It is repetition which ruins and degrades us, but it is repetition which can save us and allow us to escape from the other repetition … To the eternal return as reproduction of something always already-accomplished, is opposed the eternal return as resurrection, a new gift of the new, of the possible.«39 Wenngleich in Benjamins Augen Nietzsches ewige Wiederkehr eher eine ›schlechte‹ als eine ›gute‹ Wiederholung war, theoretisierte auch Benjamin über eine Form der Wiederholung, welche sich weigert, in archäologisch korrekter Wiederholung des Vergangenen stecken zu bleiben. Nachdem das Bürgertum Macht erlangt hatte, bemühte es sich, die revolutionären Kräfte zu kontrollieren, die es selbst freigesetzt hatte; auf kultureller Ebene manifestierte sich dies in der schlechten Wiederholung einer historistischen Kunst, welche die bürgerliche Ideologie naturalisierte und eher dazu geeignet war,
das
Publikum
ruhig
zu
stellen,
als
es
zu
aktivieren.
Im
Gegensatz
dazu
hatte
das
Bürgertum
während der Französischen Revolution, als es noch selbst eine revolutionäre Klasse war, die römische Vergangenheit in der revolutionären Wiederholung der Jetztzeit reaktiviert – eine Explosion, welche den
Zirkel
der
›sich
wiederholenden
Wiederholung‹
aufgebrochen
hatte.
Gewiss,
die
Unterscheidung
39
Gilles
Deleuze,
Cinema I: The Movement-Image, übersetzt von Hugh Tomlinson and Barbara Habberham, Minneapolis 1991, S. 191. Zu Deleuzes Lektüre von Nietzsches ewiger Wiederkehr siehe Logique du sens, Paris 1968, S. 121.
Sven Lütticken
135
zwischen einer revolutionären Jetztzeit und einem konservativem Historismus ist eine Vereinfachung, wenngleich eine nützliche. Man könnte auch argumentieren, dass das Viktorianische England und das Zweite
Kaiserreich
von
Louis
Napoleon
ihre
eigene
imperiale
Jetztzeit
besaßen,
die
eine
Identifikation
mit dem späten Römischen Reich mit einer qualvollen Leidenschaft, die in Napoleons ›erstem‹ Empire, welches niemals vollständig die Dynamik der Jetztzeit der Revolution aufgegeben hatte, noch weitgehend fehlte. Filme wie Gladiator oder Angriff der Klonkrieger mit ihren römischen Referenzen suggerieren, dass ebenfalls das derzeitige US-amerikanische Herrschaftssystem von seiner eigenen Kulturindustrie als eher problematische Wiederkehr des römischen Imperiums betrachtet wird. Die Verwendung von historischen Elementen vergangener Epochen in der zeitgenössischen Kultur wird häufig
als
ein
triviales
Recycling
nostalgischer
Symbole
bewertet
und
wird
kontrastiert
mit
dem
historischen Bewusstsein des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Dennoch: Wenn wir auf die Produktionen von Steven Spielberg schauen, steht die Popcorn-Nostalgie der Indiana Jones-Filme neben Filmen wie Schindlers Liste (1993) und Saving Privat Ryan (1998), die deutlich beanspruchen, ernsthafte Historiendramen zu sein. Man kann allerdings dagegenhalten, dass sie nicht weniger phantasmatisch sind als die Indianer Jones-Abenteuer, und in diesem Punkt ähneln sie dem Historismus des neunzehnten
Jahrhunderts:
Historische
Details
verstärken
den
ideologischen
Einfluss
auf
die
Darstellung
des
Zweiten Weltkriegs und den Holocaust. Etwas Ähnliches ist der Fall mit den Living-History-Museen wie in Plimoth Plantation oder Colonial Williamsburg, in denen die utopischen Ursprünge der USA nachgespielt werden. Einerseits durchdringt diese historistischen Environments/Happenings eine seltsam konservative Jetztzeit – die ersten Nordamerika besiedelnden Pilgerväter und der (vor-)revolutionäre Zeitraum werden als hochrelevant für die zeitgenössische Situation angesehen –, andererseits werden die fraglichen historischen Phasen in eine große Narration über Amerikas Bestimmung eingebunden; die frühen puritanischen Siedler und die vor-revolutionären und revolutionären Phasen scheinen dazu verurteilt zu sein, eine ideologische Rechtfertigung des zeitgenössischen US-amerikanischen Imperiums zu
werden.
Es
ist
aufschlussreich,
dass
die
Metapher
der
Zeitreise
häufig
auf
solche
Attraktionen
angewandt wird: Man reist in die Vergangenheit wie ein historischer Tourist, um mehr oder weniger unverändert
in
die
Gegenwart
zurückzukehren.
Das
theatrale
Äquivalent
einer
Zeitmaschine
ermöglicht
einem,
eine entfernte Epoche ohne irgendwelche zeitliche Verwirrung zu erleben, ohne irgendein Risiko, dass die
Vergangenheit
die
Gegenwart
zerreißen
könnte.
Wie
in
der
historistischen
Kultur
des
neunzehnten
Jahrhunderts wird hier eine teleologische Erzählung auf eine potentiell verstörende Jetztzeit aufgepfropft, um so ein abgemildertes, pittoreskes Reenactment der Vergangenheit zu schaffen, das tatsächlich wie eine Wiederkehr des Mythos erscheinen mag. Wenn Williamsburg kontinuierlich den Vorabend der Amerikanischen Revolution nachspielt, dann tut es das in einer Art und Weise, die sie konserviert und
einfriert
–
um
die
Revolution
in
einen
stabilisierenden
Faktor
für
die
Gegenwart
zu
verwandeln.
136
An Arena in Which to Reenact
The revolution will be reenacted Etwas Ähnliches kann zum Beispiel von napoleonischen Reenactments in Europa gesagt werden. In gewissem Sinne handelt es sich dabei um ein Reenactment des Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts selbst, insofern der Aufstieg des Nationalismus in den europäischen Ländern ganz außerordentlich von den napoleonischen Kriegen angefacht worden war. Als europäische Ereignisse können
diese
Kriege
allerdings
ebenso
als
eine
Art
von
Gründungsmythos
für
ein
vereinigtes
Europa
betrachtet werden, solange sie auf beruhigende Weise die malerischen Eigenschaften derjenigen Nationen zur Schau stellen, die Europa bilden. Der Amerikanische Bürgerkrieg ist ein potentiell viel verstörenderes
Ereignis:
Sein
Reenactment
scheint
eine
stärkere
Bedeutung
für
die
Gegenwart
zu
haben als das napoleonische Reenactment. In der stark selektiven und idealisierten Fassung der Geschichte
in
den
amerikanischen
Festzügen
des
frühen
zwanzigsten
Jahrhunderts
wurde
der
Untergang der indianischen Zivilisation nach der Ankunft der weißen Siedler gewöhnlich als eine historische Notwendigkeit präsentiert und der revolutionäre Krieg romantisch verklärt. Der noch nicht so weit zurückliegende und stärker traumatisierende Bürgerkrieg wurde nur indirekt dargestellt: in Form von Soldaten, die zum Schlachtfeld ausziehen oder zurückkehren, nachdem der Kampf vorüber ist.
Während
die
Historienzüge
Gemeinschaft
und
Kontinuität
betonten,
befassen
sich
heutige
historische Reenactments hauptsächlich mit dem einfachen Soldaten und seiner Kriegserfahrung, und in diesem Zusammenhang wird der Bürgerkrieg zum Krieg par excellence: Die Tatsache, dass sich Amerikaner mit Amerikanern bekämpften, steigert seine Tragik. Nicht dass beide Seiten gleichermaßen attraktiv wären: In einem Klima des Misstrauens gegenüber der zentralen Regierung und der herrschenden Elite werden die Konföderierten idealisiert als tragische und edle Widerstandkämpfer. Während
der
normale
weiße
Mann
als
das
heroische
Opfer
der
Geschichte
dargestellt
wird,
werden
Frauen
und
Afro-Amerikaner
mitunter
aus
Gründen
der
historischen
Authentizität
von
der
Teilnahme
abgehalten
–
und
hinter
solchen
Argumenten
verstecken
wohl
auch
tiefere
und
unschöne
Gründe.
Bei manchen Reenactors des Zweiten Weltkrieges scheint es eine befremdliche Faszination dafür zu geben, die Haltung von SS-Herrenmenschen anzunehmen. Währenddessen wird, am anderen Ende des Spektrums, in einer großen Filmproduktion wie Der Untergang (2004) ein erstaunliches Maß an Empathie
mit
Hitler
gezeigt,
dessen
letzte
Tage
im
Bunker
von
Bruno
Ganz
als
eine
allzu
menschliche
Tragödie nachgespielt werden. In manchen Fällen gab es Anregungen für Reenactments, die sich gegen konservative und reaktionäre Tendenzen in Reenactments zur Wehr setzten. Während des amerikanischen Festzugswahns organisierten die Industriearbeiter einen Historienfestzug über die Paterson Streiks auf dem Madison Square
Garden,
auf
dem
streikende
Arbeiter,
die
ihre
Streikpostenkette
nachspielten,
ausgehend
von
Sven Lütticken
137
den Paterson-Mühlen bis hin zu den gewaltsamen Konfrontationen mit den Agenten der Firma, von John Reed angeführt wurden.40
Dies
war
die
Glanzzeit
der
Gewerkschaftsbewegung.
Andererseits
kehrte vor Kurzem der Künstler Jeremy Deller mit The Battle of Orgreave (2001) zu einem Moment zurück,
der
den
Niedergang
der
Arbeiterorganisationen
in
Thatchers
Großbritannien
symbolisiert:
Es
handelt
sich
um
ein
Reenactment
der
polizeilichen
Gewaltausbrüche,
die
streikenden
Bergleuten
entgegenschlugen.
Wenn
normale
historische
Reenactments
Geschichte
als
eine
Serie
von
Kriegen
und Schlachten präsentieren, dann hat Deller eine andere Art von Schlacht zum Repertoire hinzugefügt. Das Ereignis zog ein Buch und einen Film von Mike Figgis nach sich – wieder einmal erscheint das Reenactment trotz allem dazu vorbestimmt, Film zu werden. Während Deller sein Ereignis mit institutioneller Unterstützung als Kunstprojekt inszenierte, schlägt die Website der London Riot Reenactment Society anarchistisch vor, historische Krawalle in London nachzustellen: »… there are inherent
difficulties
in
asking,
or
even
informing,
the
relevant
bodies
of
our
plans.
For
example,
if
we
asked
the
Corporation
of
London
if
we
could
use
the
City
for
a
week
or
so
to
re-enact
the
Gordon
riot they might charge us some considerable sum of money, which we don’t have, and there is really not much point in writing to Mercedes Benz about using their showroom as part of a June 18 reenactment, or to the monarch about our desire to sack the Tower dressed as Wat Tyler’s army. It may be best to just go ahead and re-enact. Hopefully no one will mind.« 41 Derartige (Vorschläge für) alternative Reenactments verblassen im Vergleich mit der Französischen Revolution als einem Reenactment des antiken Roms im Modus der revolutionären Jetztzeit. Allerdings wurde die Französische Revolution wiederum nicht nur in zahllosen Nachspielen des Sturms auf die Bastille wiederholt, sondern auch in Form der Russischen Revolution, die sich in einer JetztzeitBeziehung zum französischen Vorbild sah. Doch die junge Sowjetunion führte auch Reenactments in einem engeren Sinne des Wortes auf. Der Sturm auf das Winterpalais, ein ausschlaggebendes Ereignis
während
der
Revolution,
wurde
später
mehrfach
zu
Gedenkzwecken
nachgespielt
–
zum
ersten
Mal im Jahr 1920, drei Jahre nach dem Ereignis. Slavoj Zizek hat die Bedeutung dieses Reenactments wie folgt beschrieben: »On 7 November 1920, on the third anniversary of the October Revolution, a re-enactment of the Storming of the Winter Palace was performed in Petrograd. Tens of thousands of workers, soldiers, students and artists had worked round the clock, living on kasha (tasteless porridge), tea and frozen apples, to prepare the performance, which took place just where the original event
had
occurred.
Their
work
was
coordinated
by
army
officers,
as
well
as
avant-garde
artists,
musicians and directors, form Malevich to Meyerhold. Although this was theatre and not ›reality‹, the soldiers and sailors who took part played themselves. Many of them had not only participated in 40
Glassberg,
American Historical Pagentry, S. 128. 41 ›London Riot Re-enactment Society‹, http://c8.com/anathematician/lrrs.htm (Stand: Oktober 2004).
An Arena in Which to Reenact
138
1917,
but
were,
at
the
time
of
the
performance,
fighting
in
the
civil
war
–
Petrograd
was
under
siege
in 1920 and suffering from severe food shortages. A contemporary commented: ›The future historian will record how, throughout one of the bloodiest and most brutal revolutions, all of Russia was acting;‹ the Formalist theoretician Viktor Shklovsky noted that ›some kind of elemental process is taking place where the living fabric of life is being transformed into the theatrical.‹ Such performances – particularly in comparison with Stalin’s celebratory Mayday parades – are evidence that the October Revolution was not a simple coup d’état carried out by a small group of Bolsheviks, but an event that unleashed a tremendous emancipatory potential.«42 Wie immer man zu Zizeks revolutionärem Reenactment-Pathos stehen mag: Es steht außer Zweifel, dass derartige Reenactments den Versuch unternahmen, das Volk für eine Art von partizipatorischem Massentheater
in
den
Dienst
zu
nehmen,
das
in
größtmöglichem
Gegensatz
zu
den
Konsumspektakeln des Kapitalismus angelegt worden war. Das Programm des Reenactments strich heraus, dass künstlerische Freiheit gegenüber den historischen Details bestimmend sein durfte, was möglicherweise eine Kritik der westlichen Historienfestzüge implizierte: »The tone of the historical events that serve as the raw material for the making of this spectacle is here reduced to a series of artistically simplified
moments
and
stage
situations.
The
directors
of
the
current
spectacle
did
not
give
any
consideration to a precise reproduction of the events that took place in the square in front of the Winter Palace three years ago. They did not, and indeed could not, because theatre was never meant to serve as the minute-taker of history.«43 Dieses
Reenactment
sollte
die
Revolution
befestigen,
die
Massen
aktivieren
und
der
Geschichte
einen
weiteren fortschrittlichen Impuls geben. Abgesehen von 8.000 aktiven Teilnehmern, war dort ein Publikum von 100.000 – ein Viertel der Stadtbevölkerung. Ebenso wie der Historienfestzug mit dem Kino konkurrierte, wurde auch der Sturm auf das Winterpalais gleichermaßen in einem Live-Reenactment und für das Kino reinszeniert. Eisenstein ließ das Ereignis erneut für Oktober (1927) nachspielen. Die Revolution endet als Kino, aber dies war ein Film, der sich sehr von den Produktionen Hollywoods oder Babelsbergs unterschied: einer, der die Menschen an ihre Erfolge und ihre historische Mission erinnerte. Im Fall von Oktober waren zu viele der Teilnehmenden bereits im ursprünglichen Sturm auf das Winterpalais beteiligt gewesen. Später und in einem bescheideneren Maßstab wurde Dellers Battle of Orgreave ebenfalls zum Teil von Bergarbeitern ausgeführt, die schon am ursprünglichen 42 43
Slavoj Zizek, »Seize the Day. Lenin’s Legacy’«, in: London Review of Books 24, no. 14 (25 July 2002) at www.egs. edu/faculty/zizek/zizek-seize-the-day-lenins-legacy.html (Stand: Oktober 2004). Programm für das Reenactment von 1920, zitiert bei Richard Taylor, www.bfi.org.uk/bookvid/books/catalogue/ sample/text.php?bookid=349 (Stand: Oktober 2004).
Sven Lütticken
139
Ereignis beteiligt waren. 1976,
als
die
Sowjetunion
in
Lethargie
erstarrte
und
die
Gegenreaktionen
auf
die
Achtundsechzigerbewegungen
im
Westen
Fahrt
aufnahmen,
nannte
eine
Gruppe
von
Kunstkritikern
und
-theoretikern
ihre neue Zeitschrift October, in einem symbolischen und akademischen Reenactment der Oktoberrevolution
und
ihres
filmischen
Reenactments
durch
Eisenstein:
»We
have
named
this
journal
in
celebration of that moment in our century when revolutionary practice, theoretical inquiry and artistic innovation were joined in a manner exemplary and unique.«44 Man kann diese Absichtserklärung als einen – geschriebenen – Sprechakt ansehen, der versucht, mit Sprache nicht so sehr etwas festzustellen, als eine Wirkung zu erzielen. Aber wie Judith Butler, (die ausführlich über die Performativität der Sprache geschrieben hat) bemerkt, gelingen nicht alle Sprechakte.45 Hat der von October Erfolg gehabt? Man kann schwerlich behaupten, dass das Magazin erneut zu einer exemplarischen Kombination aus »revolutionary practice, theoretical inquiry and artistic innovation« geführt habe. Wohl ist es October gelungen, einen Raum zu eröffnen für einen Diskurs,
der
in
unterschiedlichen
Graden
konstativ
oder
performativ
sein
mag.
Die
Erzeugung
eines
solchen Diskurses hat bereits selbst eine performative Qualität. Zyniker mögen behaupten, dass der Haupteffekt von October darin bestand, die Karriere seiner Herausgeber voranzutreiben, doch ebenso kann man sagen, dass diese Art von Erfolg ein Hinweis auf ein weithin empfundenes Bedürfnis nach einer solchen Praxis ist, die October vorgeschlagen, wenn auch nicht realisiert hat. Reenacting Contemporary Art Wie auch in anderen Zusammenhängen ist es in der Kunst selten klar, ob es sich (um Deleuzes Unterscheidung aufzugreifen) bei etwas nur um »die ewige Wiederkehr von etwas ohnehin schon anderswo Ausgeführtem« handelt oder ob »die ewige Wiederkehr als Wiederauferstehung« erreicht wird. Es ist unwahrscheinlich, dass ein künstlerisches Reenactment den Beweis dafür erbringen wird, »ein Ereignis« zu sein, »welches ein großes emanzipatives Potential entfesselt«, doch was die zeitgenössische Kunst tun kann, ist, die Modalitäten des Reenactments, seine Möglichkeiten und die Probleme, die ihm anhaften, zu erforschen. Die Appropriation Art der späten 1970er und 1980er ist hier von wesentlicher Bedeutung. Zur gleichen Zeit, als Sherrie Levine Werke von Walker Evans oder Edward Westen neu
fotografierte,
um
eine
infra-dünne
Differenz
aus
der
Gleichheit
heraus
zu
erschaffen,
betonte
Mike Bidlo den performativen Aspekt in seinen Aneignungen von Arbeiten von Pollock. Weit entfernt 44 45
Aus dem ersten October-Leitartikel, zitiert bei Roger L. Conover,»1–100: Some Particulars», in: October Nummer 100, Frühjahr 2002, S. 229. Judith Butler, Excitable Speech, S. 16.
140
An Arena in Which to Reenact
davon, nur Bilder zu malen, stellte Bidlo auch ein Remake von Hans Namuths Pollock Film her, und in der Installation/Performance Jack the Dripper at Peg’s Place (1982) ließ er einen Schauspieler (der später durch eine Puppe ersetzt wurde) ein wesentliches Element des Pollock-Mythos wiederholen: Die
Arbeit
zeigt
den
Künstler,
wie
er
in
den
Kamin
von
Peggy
Guggenheim
pinkelt.
Die
Episode
wird
auch
in
Ed
Harris’
Spielfilm
Pollock (2000) gezeigt, für welchen Bidlo als Berater fungierte; er brachte Harris Pollocks Maltechnik bei. Die beste Sequenz in Pollock ist dem Making-of von Hans Namuths Film gewidmet. Pollocks traumatische Erfahrung mit der Zurschaustellung seines Mal-Akts neu inszenierend, zeigt Harris genüsslich, wie Namuth Pollock tyrannisiert und herumscheucht. Vielleicht sind Warhols Piss Paintings mit ihrer queeren Aneignung des mythischen Pollock und seines Machogehabes das ultimative Pollock-Reenactment. Sprache kann die Form von performativen Sprechakten annehmen, und Warhol sah Pollocks scheinbar sprachlose Akte als diskursive Bewegungen, deren Folgen kaum überschaubar sind. Sie sind somit keine zu kopierenden ›Originale‹, sondern unabgeschlossene Handlungen, die immer wieder neu artikuliert oder manipuliert werden können. Militärische Reenactments und Living-History-Museen verbinden gewöhnlich eine extreme Buchstäblichkeit mit pragmatischen Konzessionen. Die erfolgreichsten künstlerischen Reenactments oder
Betrachtungen
über
das
Reenactment
erschüttern
dieses
Gleichgewicht,
stören
die
klischeehafte Versammlung von Detail und Delirium, die ebenso typisch ist für den zeitgenössischen Historismus, wie sie es für frühere Formen gewesen ist. Während einige Reenactments in der zeitgenössischen Kunst die Form von sehr freien Variationen annehmen, folgen andere der Appropriation Art in dem Versuch, Differenz aus einer extrem buchstäblichen Wiederholung zu entwickeln; offenkundig schlechte, sklavische Wiederholung wird ins Extrem getrieben, um zu zeigen, wie die De- und Rekontextualisierung eines anscheinend unveränderten Bildes in der Lage ist, eine tiefgründige Veränderung
herbeizuführen.
Ausdrückliche
Reflexion
auf
das
Reenactment
und
seine
Komplexitäten und Widersprüche ist ebenso ein wichtiges Element der künstlerischen Reenactments in der Kunst. Pierre Huyghe zum Beispiel bot in seiner Video-Installation The Third Memory (2000) dem Bankräuber
John
Wojtowicz
die
Gelegenheit,
seine
eigenen
Taten
nachzuspielen.
Er
lud
ihn
ein,
den
Raubüberfall
in
einem
Filmstudio
nachzuspielen,
sodass
er
seine
Geschichte
zurückgewinnen
könnte, die in der Hollywoodversion der Ereignisse in Dog Day Afternoon von Al Pacino gespielt worden war. Die Buchstäblichkeit, mit der Wojtowicz zeigte, was passiert war, wurde zu einem Akt der Befreiung vom Filmbild. Dennoch wirkte der alte Mann im abstrakten Studioset derart unwirklich, als wäre sein Reenactment ein Traum – ein Traum, der zum Teil von ihm selbst, zum Teil von Hollywood erschaffen worden war.
Sven Lütticken
141
Doch welche Rolle kann künstlerisches Reenactment in einer Welt spielen, die zunehmend geformt wird
von
Neokonservativen
und
religiösen
Fundamentalisten,
die
der
Gesellschaft
und
Kultur
eine
trostlose Jetztzeit aufzwingen. Islamisten versuchen einen phantasmatischen ›reinen‹ Islam wieder aufzuführen, der weitgehend eine moderne Ideologie ist, und ungeachtet ihrer scheinbaren Abneigung gegenüber Bildern benutzen sie moderne Medien und spektakuläre Effekte – mit dem 11. September als einem extremen Beispiel. Die Taliban waren ebenfalls große anti-theatralische Darsteller, welche den primitiven Themenpark, in welchen sie Afghanistan verwandelt hatten, mit fürchterlichem Effekt einsetzten. Auf der anderen Seite versuchen westliche Neokonservative auf weniger gewaltsamem Wege, aber ebenfalls durch Einbeziehung aktueller Technologie, die Zeit vor den 1960er wieder herzustellen. Manche möchten weiter als in die fünfziger Jahre zurückgehen, bis in die Zeit vor der Französischen Revolution. Zeitgenössische Philosophie und Politik werden zum pathetischen Edmund-Burke-Reenactment.46
Die
Situation
ist
komplex:
George
W.
Bushs
berüchtigter
–
und
hastig
zurückgezogener
–
Gebrauch
des
Begriffs
Kreuzzug
gab
uns
einen
Eindruck
von
demjenigen
Programm der christlichen Fundamentalisten in den USA, die nur zu bereitwillig zu den Tagen der Pilgerväter oder eben in die Zeiten der Kreuzzüge zurückkehren würden. Außerhalb des Lagers der christlichen Fundamentalisten wären die meisten westlichen Neokonservativen wohl mit einer irgendwie neo-viktorianischen Moderne, mit der Wiederherstellung eines verlorenen Status quo zufrieden. ›Konservative Revolutionen‹ sind Restaurationen, auch wenn sie Strategien der Studentenbewegung und der alten neuen Linken kapern und sich zur konservativ-subversiven
Aktion
hochstilisieren.
Wenn
es
gilt,
die
Gegenwart
zu
verändern,
dann
nicht
um
etwas
noch
nie Dagewesenes zu erschaffen, sondern um Altes wiederherzustellen, um ein konservatives Modell von ewiger Ordnung und ›natürlicher‹ Ungleichheit zu kopieren. Der performative Imperativ des Kapitalismus
wird
häufig
vorausgesetzt,
doch
das
ständige
Happening
muss
jetzt
nach
traditionelleren
Vorbildern organisiert werden; die Exzesse der zeitgenössischen Selbstdarstellung – vor allem in den Freizeitaktivitäten und den Medien – müssen gezügelt werden. Der performative Imperativ ist nur dann hinnehmbar, wenn wir uns die Pilgerväter oder die 50er Jahre zum Vorbild nehmen. Die Linke scheint die Initiative völlig aus den Händen gegeben zu haben, und künstlerische Handlungen – oder theoretische Sprechakte – können kein Ersatz für fehlende politische Macht sein. Doch
auch
Raum
für
Reflexionen
wird
dringend
benötigt,
und
bis
zu
einem
gewissen
Grad
kann
46
Hiermit
sind
englische
Konservative
bzw.
Reaktionäre
wie
Roger
Scruton
und
ihre
niederländischen
Gesinnungsgenossen aus dem Kreis der Edmund Burke Stichting gemeint. In Deutschland bezieht sich die Reaktion größtenteils auf andere, spezifische deutsche Vorbilder.
142
An Arena in Which to Reenact
die Kunstwelt diesen anbieten. Kunst kann – gewissermaßen unter Laborbedingungen – Formen der Wiederholung untersuchen und erproben. Handelt es sich um Wiederholungen, die in der Lage sind,
festgefahrene
Geschichte
aufzusprengen?
Haben
sie
eine
historistische
Rückkehr
vergangener
Epochen zum Ziel? Kunst kann historische Augenblicke oder Zeitalter als Potentiale erforschen, die darauf warten, reaktiviert zu werden – in Formen, die nichts ähneln müssen. Wenn auch von einer marginalen Position aus, kann die Kunst mitten im performativen Spektakel kleine,
aber
signifikante
Unterschiede
in
Szene
setzen.
Von
dieser
Seite
aus
betrachtet,
mögen
auch
das ›real existierende‹ historische Reenactment und die Living History ein zu aktivierendes Potential beherbergen. Es ist offensichtlich, dass sie auf verhängnisvolle Weise mit dem heutigen konservativen Klima verwickelt sind – als spielerischer Zeitvertreib tragen sie bei zur Rechtfertigung des Stands der Dinge. Dennoch: Alles ist offen für Aneignung und auch das populäre historische Reenactment kann
Anstöße
geben,
über
seine
eigenen
Grenzen
hinauszugehen.
Es
kann
zu
künstlerischen
Handlungen führen, die, auch wenn sie nicht sofort ein ›enormes emanzipatives Potential‹ entfesseln, einen Raum erzeugen – eine Bühne für mögliche und unmögliche Vorführungen. Übersetzung aus dem Englischen von Céline Kaiser
Filmstill aus »Der Fall des Schneiders«
Über Bühnenund Gesellschaftsspiel. Auf den Spuren Diderots Heiner Wilharm
Heiner Wilharm
145
Denkt man an die Marionettenbühne, bei der die Schauspieler der gewöhnlichen Bühne gleichsam in zwei Figuren zerlegt werden, die handelnden Charaktere und die lenkende Kraft, scheint die Frage, wer das Sagen auf der Bühne hat, entschieden – offenbar wer die Fäden zieht. Das ist einsichtig, wenn man an das Marionettentheater denkt. Davon abgesehen, handelt es sich um ein Bild. Das Bild ermöglicht,
die
Informiertheit
der
Szene
durch
die
Szenografie
vorzustellen.
Genaueres
Hinsehen
allerdings lässt erkennen, dass die Metapher nicht trägt. Jedenfalls lässt der Bühnenauftritt des professionellen Schauspielers jedes Anzeichen von Lenkung vermissen. Was er zur Darstellung bringt, ist nichts als das instantan Vorgeführte. Einerseits. Andererseits weiß jeder Zuschauer, dass der Schauspieler in der Regel einer Darstellung folgt, die darzustellen er übernommen hat. Doch scheint es eine geheime Absprache zwischen Bühne und Publikum zu geben, diesen Umstand zu ignorieren. Die Szenografie
wird
von
beiden
Seiten
dissimuliert.
Alle
Darstellung
soll
in
der
Präsentation
erscheinen.
Offensichtlich oszilliert der Begriff »Darstellung« zwischen Performanz und Projektion einerseits, Performanz und Repräsentation andererseits. Der Bruch scheint auf den ersten Blick kaum heilbar. ›Performanz der Repräsentation‹ jedenfalls böte argumentativ kaum eine akzeptable Entfaltung von ›Darstellung‹. Wäre nicht zurecht eine contradictio in adjecto zu vermuten? Es fragt sich, ob die Vorstellung einer gedoppelten Perspektivität helfen könnte, das Paradox aufzulösen, oder ob diese Figur lediglich eine Variation des Paradoxes beinhaltete. Die Frage wäre auch, aus welcher Richtung betrachtet die Relation vorteilhafterweise untersucht werden sollte. Denn Bühne und Schauspieler, das Bühnenspiel für sich genommen, müssten schließlich niemandem paradox erscheinen. Einiges spricht
dafür,
die
Perspektive
der
Darstellung
als
szenografische
Perspektive
der
Konzeptualisierung
und
des
szenischen
Entwurfs
in
Anschlag
zu
bringen.
Die
doppelte
Perspektive
der
Szenografie
bestünde
dann
darin,
zugleich
auch
als
Repräsentation
fungieren
zu
können.
›Szenografie‹
beinhaltete
beides, eine projektive Darstellung für die Bühne und eine repräsentative Darstellung hinsichtlich ihrer stellvertretenden Formatierung. Die Einschränkung wäre zumindest angebracht, wenn solche Szenografie
in
manifester
Gestalt
vorläge
und
derart
eine
entsprechende
Notation
fände.
Auf
welche
Weise
die
Szenografie
diese
zunächst
widersprüchlich
anmutenden
Momente
vermitteln
–
oder
vielleicht nicht vermitteln, sondern nur realisieren – könnte, müsste genauer eruiert werden. Ein nicht bühnenorientiertes Darstellungsformat jedenfalls fordert gewöhnlich, dass aus den arrangierten Zeichen gewisse Schlüsse auf das, was sie bezeichnen, gezogen werden. Was bezeichnet, ist nicht das Gleiche
wie
das
Bezeichnete.
Angelegt
für
die
Bühne
indes
sieht
es
so
aus,
als
wären
die
Zeichen
der
Darstellung hauptsächlich dafür gut, vorgezeigt zu werden. Wir wollen uns im Folgenden mit den Überlegungen Diderots vertraut machen, der sich mit dem Problem beschäftigt hat – einem Problem offenbar, das zu tun hat mit der Unterscheidung von Bühnen-
und
Gesellschaftsspiel,
mit
zweierlei
Inszenierung.
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
146
1 In seiner erst 1830 veröffentlichten Schrift Paradoxe sur le comédien weist Diderot auf die gänzliche Unähnlichkeit von Darstellungslogik und Zeichenwirkung qua Bedeutung im Rahmen der hier diskutierten Bühnenperformanz hin.1 Für die korrespondierende Darstellung läge die Sache danach so: Wenn sie tut, was sie tun soll, muss sie lancieren, dass sie verstanden wird, wie sie sich zeigt. Ihr repräsentativer Charakter wäre konsequenterweise parallel zu fassen. Allein wie die Darstellung sich zeigt, macht aus, was sie repräsentiert. Letzteres ist intuitiv weniger eingängig; auf jeden Fall dürfte man eine Repräsentationskritik vermuten. Diderot expliziert sein Verständnis an der ›Szene‹ des Schauspielers. Wenn der
Schauspieler
Gefühlen
Ausdruck
verleiht,
ist
er
nicht
emotional
bewegt.
Wenn
er
Leidenschaften
zeigt,
darf
er
nicht
auch
so
empfinden.
Weder
ist
davon
auszugehen,
dass
er
ängstlich
ist,
wenn
er
sich
ängstlich gibt, noch hoffnungsfroh, wenn er behauptet, es zu sein. Schauspieler spielen, so Diderot, »beinahe wie Automaten«. Ihre Darstellung funktioniert wie ein technischer Effekt.2 Moralisch ist diese Feststellung irrelevant; es geht nicht darum, dass jemand der Unmenschlichkeit bezichtigt würde. Was interessiert, ist eine Analyse des Funktionskontextes ›Darstellung‹. Im
Blick
auf
ein
textliches
Repräsentationsgefüge
oder
eine
als
Ding,
Objekt
oder
Gegenstand
isolierbare diagrammatische Darstellung3 würde es nicht in Erstaunen setzen, wenn die technische Seite ihrer Wirksamkeit in den Fokus geriete. Ebenso würde nicht verwundern, dass solche Schein produzierenden Maschinen das, was sie ausstoßen, zu Bedeutungen verdichten. Dass derartige Bedeutungen mit dem Mechanismus der Maschine oder des Artefakts, der dafür sorgt, dass die benötigten Zeichen zur Erscheinung gebracht werden, nicht zu verwechseln sind, liegt auf der Hand. Die Produktivkräfte der
Darstellung
müssen
nicht
unter
dem
Aspekt
ihres
Vermögens,
(begriffliche)
Bedeutungszuweisungen zu ermöglichen, bemessen werden. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass die auf der Bühne
agierenden
Charaktere
trotz
ihrer
Rollenverwicklung
funktional
identifiziert
werden.
In
diesem
Sinne würden sie als ›Produktionsinstrument‹ mit einem bestimmten Funktionsumfang betrachtet. In
vergleichbarer
Weise
wären
beispielsweise
›Text-‹
oder
›Diagramm-Maschinen‹
zu
identifizieren.
So
wie
Text,
Entwurf
oder
Modellierung,
szenografisch
gesehen
und
in
die
Differenz
zu
ihren
möglichen
›Szenifikationen‹
gesetzt,
für
sich
genommen
hier
und
dort
jeweils
als
etwas
Eigenes
erscheinen,
performativ jedoch als eben dieses eine Andere, so gehört der Schauspieler offenbar sowohl zur entwerfenden
als
auch
zur
lebenden
Szenografie,
zur
Szenografie
des
Konzepts
wie
der
des
Spiels.
1 2 3
Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien/Paradox über den Schauspieler (1773), erstpubliziert 1830, in: Denis Diderot, Ästhetische Schriften. Zweiter Band, hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt am Main 1968. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 496. »Diagrammatische Darstellung« als allgemeine Form ikonischer Darstellung im Sinne des disegno, der ”zeichnenden Hand“.
Heiner Wilharm
147
Diderots Einlassungen relativieren die gewöhnliche Perspektive der Darstellung und erhellen das szenografische
Verständnis
des
homme
de
lettres.
Diderot
spricht
dabei
allerdings
von
den
szenografischen
Leistungen
unter
den
Bedingungen
der
theatralen
Bühne
der
Kunst.
In
dieser
Perspektive
erhellt
die
Szenografie
als
darstellende
Darstellung
deren
Repräsentationen,
wenn
sie
zeigen
und
zum
Ausdruck
bringen,
was
sie
repräsentieren,
diejenige
Szenifikation
hervorbringen,
die
der
Darstellung für die Dauer einer Szene wirkliches Leben einhauchet. Dabei geht es nicht um das Allgemeine eines Sinngehalts, sondern einen bestimmten Augenblick, die Darstellung etwas bedeuten zu lassen. Zugleich erhellt, dass diejenige Darstellung, die den Schein oder die Beleuchtung ihrer Bedeutung nicht
auf
diese
Weise
erfährt,
die
Darstellung
vielmehr
als
das
Ganze
ihrer
Funktion
darzustellen
in
Stellung zu bringen trachtet, dass eine solche Darstellung die Performanz eines konkreten Bedeutenlassens nur vortäuscht, damit gleichsam einen Schatten über den Schein legt. Eine solche Darstellung gibt nicht frei, was sie im Augenblick beabsichtigt, sondern zeigt nur, wie, als welche Art Artefakt oder Maschine, sie arbeitet. Sie demonstriert, was sie kann – jederzeit Macht ausüben –, nicht was sie soll – lebendigen Sinn erzeugen –, so wie wenn ein Schauspieler immer nur darauf aus wäre, zu demonstrieren, was alles er kraft seiner Kunst vermag, ganz unabhängig von Anlass und Stück. Als Künstler wäre er nicht zu gebrauchen. Vom wirklichen Schauspieler werden andere Qualitäten erwartet.
Wer
nur
sich
selbst
zu
spielen
vermag,
ruiniert
jede
Geschichte.
Der
wahre
Künstler
hingegen
weiß von allen sein Tun betreffenden Zeichen. Er weiß, wofür sie Zeichen sind und welchem Sinn sie damit zu einem vorübergehend festgehaltenen Ausdruck verhelfen können. So
zu
verstehen
heißt
zugleich,
zur
wahren
Gestalt
zu
bringen.
»Wahr«
wiederum
ist
für
Diderot
kein
Prädikat, das qualitätslose Bedeutungsfülle indiziert, sondern ein situativ Passendes anzeigt; passend gemäß dem, wozu ein die Zeichen nötigender ›Sachverhalt‹ anhält. Das heißt, dass die Darstellung
um
Vermittlung
bemüht
ist.
Genauer
gesagt,
steht
der
Schauspieler
für
den
turn
der
Vermittlung
zu
ihrer
eigenen
Vermitteltheit,
zu
ihrer
Auflösung.
Da
es
sich
indes
um
diejenige
Drehung
handelt,
in
der
sich
der
Schauspieler
tatsächlich
seelisch
wie
körperlich
von
der
wissenden
Szenografie
auf
die
lebendige
Szene
umstellt,
fällt
die
Auflösung
nicht
als
Identitätsschluss
nach
dialektischer
Art
aus. Der Schauspieler leistet, was ein Medium oder Zeichen leistet, ohne schon auf dem Stand einer
begrifflich
logischen
Schlussfolgerung
zu
agieren.
Auf
diese
Art
findet
die
Repräsentation
zu
ihrer Präsentation ›zurück‹. Darum fordert Diderot »kalte Verstellung« vom Schauspieler. Er muss sich verstellen, nicht weil er sich für die Lüge entscheidet, sondern weil er sich umstellt, eine Wendung vollzieht. Um dies fertigzubringen, sagt Diderot, brauche es allerdings einen »kühle[n] und ruhige[n] Beobachter«,
durchdringenden
»Scharfblick,
aber
keine
Empfindsamkeit«,
die
»Kunst,
alles
nachzuahmen oder – was auf dasselbe hinausläuft – eine gleiche Befähigung für alle möglichen Charak-
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
148
tere und Rollen«.4 Um am Ende zu einem »erhabenen Schauspieler« aufzusteigen, sei es sogar sehr dienlich,
überhaupt
keine
Empfindungen
zu
haben.
Egal
ob
Empfindungen
zu
haben
angeboren
oder
künstlich
erworben
ist,
»Empfindsamkeit
ist
in
keiner
Rolle
am
Platz.«5 Warum? Damit möglichst alle Formen
der
Empfindsamkeit
in
gleicher
Weise
überzeugend
und
glaubwürdig
zum
Ausdruck
gebracht
werden können. Diderots Charakteristik des Schauspielers scheint plausibel, auch wenn die Forderungen, die zwischen den
Gesprächspartnern
des
Paradoxe in Rede stehen, angesichts einer schließlich nur berufsbezogenen Kompetenz ambitioniert erscheinen mögen. Angewendet auf die Theaterpraxis, will Diderot alles unmittelbar
subjektive
Fühlen
und
Agieren
zugunsten
einer
Reflexion
und
Vermittlung
überwunden
sehen. Dabei scheinen diese Forderungen zunächst ausschließlich an die Akteure adressiert zu sein; wo sie eingelöst sind, darf dies als Zeichen wirklichen Agierens gelten – ein durchaus aufklärerisches Programm mit der Hoffnung auf Kompetenz- und Orientierungsgewinn. Verallgemeinert hieße es, dass ein jedes Erscheinende, situationsgerecht für Auftritt und Szene, als Index seines Zeichencharakters fungierend verstanden und zum Repräsentamen gemacht werden müsste. Das aber impliziert in
der
Tat,
dass
es
aus
der
Perspektive
der
Performanz
heraus
geschieht,
aus
dem
Machen
und
Geschehen,
Erleben
und
Ereignen
heraus,
nicht
aus
der
Distanz
der
Reflexion;
wie
wenn
jemand
alles,
was ihm unterwegs begegnet, daraufhin prüft, ob es nicht ein Text sein könnte, den es zu erlesen gelte, nicht um ihn bündig zu verstehen, sondern um mit der daraus zu gewinnenden Orientierung ein Stück
weiter
im
Gelände
zu
kommen.
Allerdings
wäre
zu
bedenken,
dass
sich
solches
Gelände
in
der
Folge
durchaus
wieder
zu
einem
Text
verdichten
könnte.
Die
Unterscheidung
von
reflexiver
und
energetischer Perspektive ist nicht unerheblich, auch wenn man die Unterscheidung als frei wählbaren ›Gesichtspunkt‹
relativieren
möchte.
Dass
Diderot
die
Unmittelbarkeit
des
Erlebens
und
Handelns
als
Element der Vermittlung, genauer vermittelt anbietet, ist logisch. Mit der Verkehrung der Perspektive des
Schauspielers
von
der
Empfindung
zur
Reflexion
nämlich
propagiert
Diderot
schließlich
keine
Verkehrung des Handlungsmodus – mit der Konsequenz, dass die Präsenz der Szene gänzlich unterginge. Der Künstler ist Praktiker, technítes, wie Aristoteles sagt, jemand, der die téchne beherrscht, die nicht Technik ist, sondern Kunst, die auch Wissen ist. Doch der Künstler soll nicht zum Intellektuellen oder Wissenschaftler mutieren, auch wenn er »aus der Überlegung (réflexion) heraus aufgrund des Studiums
der
menschlichen
Natur
[...],
aus
der
Einbildungskraft
und
aus
dem
Gedächtnis«
heraus
agieren
soll.
Worum
es
zu
tun
ist,
ist
szenische
Synthesis.
Zu
ihrem
Gelingen
soll
alles,
was
zur
Aufführung
gebracht
wird,
möglichst
wie
»aus
einem
(un)
Guß«
erscheinen,
und
wer
auftritt
in
dieser
Beziehung
4
5
Auch
wenn
im
Französischen
scène
durchaus
auch
nur
den
Auftritt,
› die
Szene
des
Schauspielers‹
bezeichnen kann. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 484.
Heiner Wilharm
149
»in allen Vorstellungen ein und derselbe und immer gleich vollkommen« sein, Medium und Message.6 Darum
müssen
Studium
und
Reflexion
in
den
Dienst
des
eigenen
Verstehens
genommen
werden
und eines aus diesem Verstehen Schlüsse ziehenden Spiels. Wer spielt, sollte in der Lage sein, auf allen Ebenen der Zeichenwirkung zu agieren. Dass er sich auf die energetische Wirkung konzentriert und insbesondere Leidenschaften und Affekte anspricht, kommt seinen Zwecken zugute. Das Ziel schließlich heißt nicht, Theaterbesucher zum Schauspielerberuf zu bewegen, sondern handelnde und leidende Charaktere so vorzuführen, als ob es die eigene Person wäre, ohne jede Möglichkeit, auch nur den geringsten Unterschied zwischen Bühnen- und Realschein festzustellen. »Worin besteht also das wahre Talent? Darin, die äußeren Symptome der erborgten Seele gut zu kennen;
sich
an
die
Empfindung
derer
zu
wenden,
die
uns
hören
und
sehen,
und
sie
durch
die
Nachahmung jener Symptome zu täuschen – eine Nachahmung, die alles in ihren Köpfen vergrößert und zur Richtschnur ihres Urteils wird. Auf andere Weise lässt sich das, was im Innern der Menschen vor sich
geht,
gewiß
nicht
ausschöpfen.
Und
was
liegt
nun
wirklich
daran,
was
sie
empfinden
oder
nicht
empfinden
–
vorausgesetzt,
daß
wir
das
letztere
nicht
merken?
Wer
also
die
äußeren
Anzeichen
kennt, und sie nach dem besten ideellen Modell (modèle ideal le mieux conçu) am vollendetsten wiedergibt, ist der größte Schauspieler.«7 Diderot
unterstreicht
die
Kompetenz
des
Schauspielers,
idealerweise
als
szenografische
Instanz
des
eigenen Auftritts wie seiner Wirkung zu agieren, »schwankend zwischen der Natur und dem eigenen Entwurf«.
Die
tatsächlich
maßgebliche
Szenografie
(die
der
wirkliche
Schauspieler
auch
in
Diderots
Theater nicht selbst verantwortet, selbst wenn er sich so verhalten soll, als ob es so wäre) ist umso bemerkenswerter einzuschätzen, je besser es ihr gelingt, den eigenen Emotionen der Spieler jeden Entfaltungsraum zu nehmen.8 Deshalb braucht der Künstler »sehr viel Urteilskraft«, um im szenischen Spiel etwas zu zeigen, was nichts Subjektives ist, sondern einer Darstellung angehört, die es zu individuieren gilt.9 – »Und warum sollte sich der Darsteller vom Dichter, vom Maler, vom Redner, vom Musiker unterscheiden?«10 Er tut es nicht. Eine bemerkenswerte Erweiterung, die Diderot kurzer Hand vornimmt. Sie zeigt, dass die Divergenzen des Bühnenscheins nicht nur die Kunst des Theaters betreffen.
6 7 8 9 10
Ebd., S. 487, S. 510. Ebd., S. 485. Ebd., S. 521. Ebd., S. 521. Ebd., S. 484.
150
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
Nun ist die Problematisierung des Bühnenscheins in Diderots Theaterschrift auf den ersten Blick gar nicht an der Bühne als Rauminstallation interessiert, sondern allein am Auftritt des Schauspielers und dem Schein, den er zu erzeugen vermag. Der Scheinraum entfaltet sich zunächst lediglich zwischen Skript (gemäß modèle ideal)
und
Szenifikation,
was
hier
erhellt,
ist,
wie
es
erscheint.
Die
Täuschung, die dem Zuschauer widerfahren könnte, läge daher durchaus bei ihm und käme einer Selbsttäuschung gleich. Denn worüber allein sich der Besucher täuschen könnte, wäre, dass das, was als
Theaterkunst
in
Szene
gesetzt
geschieht,
nicht
Theater
wäre,
die
Szenifikation
nicht
geprobt
und
die
Leidenschaft
nicht
›nachgeahmt‹.
Folglich
ist
der
Bühnenschein
in
diesem
Fall
Szenifikations-
als
Inszenierungsschein.
Die
Szenifikation
folgt
der
Inszenierung,
macht
sie
sichtbar;
entsprechend
kann
sich ihr Schein verbreiten. Je bereitwilliger das Publikum die Überblendung seines Wissens um die theatrale
Rahmung
akzeptiert,
desto
schlüssiger
gelingt
der
Transfer
aus
dem
Wissen
der
Szenografie
in die ephemere Kunst der Bühne. Es leuchtet ein, dass sich diese positive theatrale Inszenierung schon von einem Versuch tatsächlicher Täuschung des Publikums nichts erhoffen kann. Denn dies hieße zu unterstellen, dass das Publikum nicht wüsste, dass die Protagonisten der Dramen und Komödien vor seinen Augen professionelle Rollenspieler
sind.
Und
sollte
sich
doch
jemand
finden,
der
sich
zu
sehr
in
Geschehen
und
Erleben
der Aufführung verloren hat, ein einziger Blick auf die Bühne als gemeinsamen Installationsraum von Spielern
und
Zuschauern
reichte
aus,
um
in
die
Wirklichkeit
zurückzufinden.
Spätestens
wenn
der
Vorhang
fällt
und
das
Saallicht
aufleuchtet,
zeigt
sich
die
Installation
der
Kunst.
Eine
Täuschung
über
das Verhältnis von Werk und Auftritt kann es mithin in diesem Raum nicht geben. Unberührt davon bleibt, dass die Interpretation der téchne jederzeit infrage gestellt werden kann – im vollen Sinne des Begriffs als Kunst und Wissen. Die Kunst der Nachahmung, die der Schauspieler beherrschen muss, im Übrigen, wird auch bei Diderot ausdrücklich nicht als Nachahmung natürlicher Ausdrucksformen verstanden,
sondern
als
Nachahmung
erfahrungsgeleiteter
szenischer
Gewohnheiten
und
der
sich
von dort empfehlenden Bedeutungen. Die Interpretation entstammt dem Diskurs und wird ihm zurücküberantwortet.
Und
nur
in
der
Präsenz
des
szenischen
Geschehens
kann
es
für
einen
Augenblick
ein Ereignen geben, in dem die Kunst den Diskurs nicht braucht. Da alles nicht nur so ist, wie es ist, sondern offensichtlich auch so erscheint, wie es sein sollte – einem idealen Modell entsprechend –, braucht es dort keine Vermittlung. 2 Dass dies mutatis mutandis für alle Künste gelten soll, ist nachvollziehbar. Der Schauspieler allerdings könnte wie natürlich als Instanz der Vermittlung adressiert erscheinen. Doch wird er nicht deswegen,
nicht
wegen
der
Vermittlung,
deren
Werkzeug
er
ist,
sondern
ihrer
szenischen
Auflösung,
Heiner Wilharm
151
der
Gestalt
annehmenden
Identitätsstiftung
wegen
gefeiert.
Trotz
Diderots
Einverständnis
mit
der
aristotelischen Tradition, die dem mythos den Vorzug vor der ópsis gibt, dem Werk vor dem Spiel, stehen beim Theater – wie bei Musik, Tanz oder Film, auch bei der als Kunst geschätzten Rhetorik – die Würdigung des aufgeführten Werks und die daran gebundene Aufführungskunst im Zentrum. Als Kunst ist sie an die Zeichen und deren Bedeutung gebunden. Doch gehört zu ihr, das hic et nunc Vermittelte
anwesend
zu
machen,
nicht
die
Vermittlung.
Die
Vermittlung
selbst,
im
Gegenteil,
muss
gänzlich unsichtbar bleiben. Die Resultate der Inszenierung sind erwünscht, die Techniken dagegen, die dies bewerkstelligen, müssen sich selbst zum Verschwinden bringen, ganz anders als in den Performanzen eines Diagramms oder eines auf interaktive Kommunikation bedachten Modells zum Beispiel. Die Überblendung von Handwerk und Technik und ihren Effekten ist nicht gleichzusetzen damit, dass unter gewissen Voraussetzungen verhindert wird, dass die Tatsche der Inszeniertheit überhaupt selbst ans Licht dringt. Hier wäre gar kein Inszenierungsschein zu erwarten. Selbst wenn der Schauspieler von Diderot als eine Figur der Vermittlung oder der Medialität exponiert wird, zeigt dies nur an, was es heißt, den Ausdruck »Schauspieler« korrekt zu verwenden. Situationsgerecht indes ist die Szene, die der Schauspieler hinlegt, nur, wenn es keine Schauspieler gibt, wenn die Wunder und Abgründe der Saga und ihrer Helden unmittelbar mitzuerleben sind, ganz unvermittelt. Diese Perspektive
fokussiert
die
Gegenwart
des
gemeinsam
und
in
Gemeinschaft
Erlebten.
Ähnlich ließen sich anstelle der Musik die Musiker, anstatt des Tanzes die Tänzer, anstatt des Films die Schauspieler auszeichnen – um sie in vergleichbarer Weise zu dekonstruieren, nicht in ihrer Vermittlung
je
unterschiedlicher
szenografischer
Darstellungen,
sondern
als
Instrumente
einer
lebendigen Kunst, die sich ihrer bedient, um sich als gegenwärtig darzustellen. Beim Spielen und im Spiel vollzieht
sich
der
Dreh
der
Darstellung
selbst.
Szenografisch
betrachtet,
bestimmt
das
Werk
oder
Artefakt sich dazu, zeichengerecht zu repräsentieren. So wird verwiesen auf die Möglichkeit szenifikatorischer
Auflösung
im
Raum
temporären
Bedeutenlassens
durch
Interpretation,
gleichviel
ob
in
einer
noch
so
flüchtigen
Notation
eines
musikalischen
Werks,
in
den
Codes
einer
Choreografie,
in der Celluloid- oder Digitalfassung von Filmbildern, im Manuskript einer Rede. Die Freiheitsgrade der Performanz gegenüber den Fixierungen im Entwurf unterscheiden sich im Einzelnen sehr, doch existieren sie allenthalben, und wenn die Freiheit nur darin bestünde, die Verhältnisse von Repräsentation und Werk zu vertauschen, sodass die Darstellung erscheint, als habe sie ihr Repräsentationsvermögen
aufgegeben,
um
sich
einer
ganz
bestimmten
ihrer
möglichen
Gestalten
und
Bedeutungen
als Kunst-Ding anzuvertrauen. Dass solche Kunst wiederum als Quelle einer ihrer Darstellungen im repräsentativen Verständnis genutzt werden kann, beispielsweise einer, in der es um die Repräsentation von ›logischen‹, ›grammatischen‹, ›sprachlichen‹ ... Strukturmomenten des lebenden Kunstwerks geht, illustriert die mögliche, ja wahrscheinliche Rücküberweisung eines jeden Auftritts, einer jeden
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
152
Präsenz an den Diskurs. Die ›Kritik‹ einer Aufführung etwa vermag zu demonstrieren, was gemeint ist. Das sich zeigende, sich anbietende Werk dagegen repräsentiert nicht, steht nicht für etwas anderes als sich selbst. Doch offeriert es, die Fixierung auf einige wenige seiner Ereignisse wieder zu lösen, erneut als Repräsentamen, als Verkörperung von Zeichen, die Weiteres, Neues bedeuten können, behandelt zu werden. Dies allerdings sprengt den abgeschlossenen Kunstraum und öffnet ihn dem sozialen
Raum
der
Kommunikation,
des
Tuns
und
Leidens,
Arbeitens
und
Gestaltens
und
ihrer
Zwecke. 3 Diderot
weist
tatsächlich
nicht
nur
den
Weg
vom
Theater
zu
den
anderen
Künsten.
Er
findet
auch
den
Weg
von
der
Kunst
in
die
Gesellschaft.
Er
ventiliert
die
Öffnung
des
Kunstraums
–
auch
wenn
er
anmahnt, wieder auf ihn zurückzukommen. »Worin denn die vielgerühmte Magie der Kunst bestehe«11, fragt
einer
der
beiden
Gesprächspartner
des
Paradoxe – darin, dass alles so »wohlgeplant und in sich
geschlossen«
vor
sich
gehe
wie
in
einer
»wohlgeordneten
Gesellschaft,
in
der
jeder
etwas
von
seinen
Rechten
zum
Wohle
der
Gemeinschaft
(ensemble)
und
des
Ganzen
(tout) opfert. Wer kann das Maß dieses Opfers am besten würdigen?« Der Schauspieler oder der rationale Künstler ist es in der Kunst,
»in
der
Gesellschaft
ist
es
der
gerechte
Mensch«.
Unter
dem
Begriff
des
›gerechten
Menschen‹
finden
sich
alle
diejenigen
Darsteller
subsumiert,
die
den
›kühlen
Kopf‹
besitzen,
die
Dinge
zu
bedenken
und
kalt
zu
agieren.
Dass
der
zum
Gerechten
beförderte
Mimetiker
sich
deshalb
moralisch
über
die Niederungen der gesellschaftlichen Verwicklungen, denen er entstammt, erheben dürfe, wird zurückgewiesen. In Wirklichkeit, so das Argument, gehe es doch auch auf der Bühne zu wie in ganz normalen
»Straßenszenen«.
Eine
Katastrophe
beispielsweise,
die
eine
Gesellschaft
heimsuche
–
argumentiert der moralkritische Part Diderots, und die Berichte über das Erdbeben von Lissabon sind dem Schriftsteller zur Zeit der Abfassung seiner Arbeit am Beginn der 1770er Jahre noch sehr präsent –, eine Katastrophe sei doch hinreichender Beweis dafür, dass jeder Mensch unter gewissen Umständen
seinen
natürlichen
Empfindungen
folge.
Trotzdem
–
jetzt
erst
folgt
die
Pointe
der
Intervention
–
komme doch auch so ein »wundervolles Schauspiel« zustande »mit tausend wertvollen Modellen für Bildhauerei, Malerei, Kunst und Poesie«, gleichsam ohne jede Verstellung und durchaus nicht kalten Herzens. Tatsächlich zieht der Einwand nicht, wie man erkennt. Denn der Vertreter des Paradoxes ist
ja
ganz
einverstanden
mit
seinem
Gesprächspartner,
wenn
der
geltend
machen
wollte,
dass
die
Modellbildung,
die
der
Künstler
vornimmt,
sich
realer
Geschehnisse
und
Charaktere
versichern
muss.
Kunstintern mag es zwar so erscheinen, dass Diderot den Bedenken Rechnung trägt, dass das Regiment des Schauspieler-Szenografen möglicherweise doch zu sehr an der Idealität der Bühne gemessen sein, seine emotionale Beteiligung deshalb im Vergleich allzu rigide zurückgeregelt erscheinen 11
Wobei als »Entwurf« ausdrücklich nicht ein erster Entwurf der Begeisterung reklamiert wird, sondern der reflektierte, durchdachte Entwurf gemeint ist. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 486.
Heiner Wilharm
153
könnte. Doch steht dem entgegen, dass alles Studium und alles Bedenken des ernsthaften Künstlers schließlich
auf
die
Wiedergabe
authentischer,
wahrhafter
Erfahrungen
und
Empfindungen
zielen
soll.
Das Studierfeld des Künstlers ist das Leben selbst, sind die Straßenszenen. Die
Auflösung
des
Widerspruchs
zwischen
Kunst
und
Natur,
einer
Natur,
die
sich
deutlich
als
Gesellschaft bemerkbar macht, birgt deshalb keine Überraschungen. Der geltend zu machende Unterschied betrifft den zwischen verschiedenen Modalitäten gesellschaftlicher Einrichtungen, möglichen Versionen des Politischen. Wenn sich normale Straßenszenen, wie der Verteidiger der Inszenierungskünste repliziert, zur Theaterszene verhalten »wie eine Horde Wilder zu einer Versammlung zivilisierter Menschen«12, dann benötigt die Straße die Kunst der Einhegung und Zivilisierung der Formen. Mit dieser Kompetenz erst wächst die Kunst heran, noch ungetrennt in die Künste der Einrichtung des Gesellschaftlichen
und
die
schönen
Künste,
die
ihren
eigenen
Zwecken
folgen.
Was
oberflächlich
aussieht
wie
eine
Analogie
zwischen
Kunst
und
Gesellschaft,
offenbart
tieferliegend ein kausales Wirkungsverhältnis. Noch ehe die Kunst als künstlerisches Werk oder Artefakt auftritt, übt sie sich darin, die wirklichen Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, zu untersuchen, zu verstehen und sich zu erklären. Daraus erwirbt sie, was sie braucht als Kunst. Der Widerspruch, dem Diderot hier auf der Spur ist, ist also nicht aufzuheben und nicht zu verbergen, auch wenn der Philosoph ihn unter irreführendem Namen thematisiert. Warum noch einmal spielen, was allenthalben auf
der
Straße
zu
finden
und
zu
erleben
ist?
Eben
nicht,
um
es
auf
dieselbe
Weise
zu
wiederholen,
sondern um es gereinigt, begriffen und in einer einsichtig machenden Form zu präsentieren. Das wirkliche
Leben
ist
auf
der
Straße
zu
finden,
doch
offenbart
sein
Studium,
dass
es
zivilisiert
werden
muss. An vorderster Front betrifft dies die Transparenz des Sinns. Niemand wüsste angesichts der Zufälligkeiten
des
alltäglichen
Geschehens
und
Erlebens
abschließend
zu
entscheiden,
ob,
was
sich
abspielt, so ist, wie es erscheint, oder vorgetäuscht sein könnte. Dieser ›Wildheit‹ mit Vertrauen zu begegnen
erschiene
gänzlich
unangebracht.
Deshalb
heißt
das
Gebot,
in
den
zivilisierten
Sphären
einer Kunst zu inszenieren, um wahrhaftig aufzuführen, was wirklich passiert, ohne auch nur den Anschein eines anderen Interesses zu erwecken, als die Wahrheit zu zeigen – ein ideales Szenario reiner Effekte der Kunst, die allererst eine Kunst unter dem Regiment des Wahrsagens ist. Diderot nennt die Dinge durchaus beim Namen, auch wenn so scheint, als ginge es im Paradoxe sur le comédien allein um die Schauspielkunst. Die Divergenzen betreffen in der Tat die Alternativen von Wildheit und Zivilisiertheit. Und zweifellos ist es eine Kunst, den Sieg der Wildheit zu verhindern und allen Streit um
die
Geltung
zivilisiert
zu
bestehen.
12
Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 494.
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
154
Christoph Schlingensief soll, angesprochen auf die gesellschaftspolitischen Implikationen seines künstlerischen Engagements und die Chancen, mit solchen Interventionen sozial relevante Veränderungen zu befördern, zurückgefragt haben, warum denn, wenn dies anzunehmen wäre, frustrierte Politiker nicht als Künstler arbeiteten. Man muss die Rückfrage richtig lesen, um zu sehen, welche vernünftigen Konsequenzen sie zeitigen könnte. Wenn es denn zu den Herausforderungen der zivilgesellschaftlichen Wirksamkeit gehört, sich Interesselosigkeit und Wahrhaftigkeit, wie man sie in der Kunst kennenlernen kann, zu eigen zu machen, wäre eben dies ein wesentliches Kriterium, woran sich die Kunst der Politik orientieren könnte, ohne dass Politiker den Beruf wechseln müssten. 4 Schauen wir noch einmal auf den Punkt des Verschwindenmachens, der den turn der künstlerischen Inszenierung ebenso markiert wie den der Inszenierung im Rahmen nichtkünstlerischer Diskursfelder. Beim Bühnenauftritt, egal zunächst, ob im künstlerischen oder profanen Ambiente, fällt die gegebenenfalls
für
solche
Performance
erarbeitete
Szenografie
in
großen
Teilen,
wenn
nicht
vollständig, mit der Inszenierung – im Sinne des intendierten Scheins des Spiels – zusammen. Dies gilt am Ende nicht nur für diejenigen lebendigen Akteure, die dem bestbekannten idealen Modell im Einzelfall folgen, sondern ebenso für alle sonstigen agencies13, in gewisser Weise auch für die Agenzien der
Bühne.
»Szenografie«
insofern
ist
ein
Kollektivbegriff.
Kein
Ding
ist
hier
nur,
was
es
ist;
alles
ist
auch – soweit es dazu bestimmt werden kann –, was es sein soll. Dasselbe gilt für das »Doppelwesen«
der
gesamten
Inszenierung.
Seine
eine
planende
und
kalkulierende
Gestalt
darf
bei
Strafe
des
Scheiterns
des
Vorhabens
nur
in
seiner
anderen,
der
bündigen
Gestalt
eines
ereignishaften
Auftritts
oder
Geschehens
–
Tuns,
Machens,
Lebens
–
erscheinen.
Die
Szenifikation
wird
die
Inszeniertheit
verschwinden machen müssen wie der Schauspieler die Tatsachen der ›kalten Verstellung‹. Denn nur
so
wird
der
Schein
der
erfolgreich
erzeugten
Illusion
die
Wirkung
des
Gemeinten
tatsächlich
ins
Licht bringen können. Auf den Bühnen der Kunst geschieht die Illusionierung mit dem Einverständnis des Publikums. Es willigt ein, sich für eine Weile dem Schauspiel hinzugeben, weil und soweit es sich gewiss ist, dass es der Inszenierung im gewählten Medienformat vertrauen darf. Zudem sind geeignete Sicherungsmaßnahmen für den Fall vorgesehen, dass sich jemand in der Illusion zu verlieren, der Illusionierung zu vertrauen droht. Von solchem Einverständnis indes darf nicht grundsätzlich ausgegangen werden – nirgendwo. Überhaupt stellt sich die Frage der Einwilligung oder Ablehnung gar
nicht,
solange
keine
Bühneninstallation
die
mögliche
Differenz
zwischen
situativer
Szenifikation
und
szenografischer
Planung
anzeigt.
Wir
stoßen
hier
auf
das
Problem
der
›Schattenbühne‹.
Man
versteht, dass der Schatten der ›Schattenbühne‹ auf sie selbst fällt und die Bühne als Bühne nicht mehr erkennbar werden lässt. 13
Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 494–495.
Heiner Wilharm
155
Wie auf den wirklichen Bühnen der Kunst handelt es sich wieder um eine Dissimulation. Doch während das Spiel dort seinen simulativen Charakter (Medea, der verletzte Andreas oder der Holländer treten auf) institutionell offenlegt (es geschieht im städtischen Schauspiel, in Museum oder Opernhaus), mithin die Dissimulation der Inszenierung in der simulierten Szenik der theatralen bzw. künstlerischen Aufführung wie in einem reenactment als durchschaut bestätigt wird (»die Szenen hier sind ein Spiel«), verhält es sich mit der Dissimulation der Inszenierung außerhalb von Kunst und vergleichbar angesagten Medienformaten anders. Deren Erfolg ist garantiert, solange die Überzeugung herrscht, dass die gesellschaftliche Territorialisierung mit der dezidierten Trennung der inszenierungsintensiven Erbauungs-, Spiel- und Unterhaltungskultur von allen anderen weitgehend inszenierungsfreien gesellschaftlichen Bereichen und entsprechenden Techniken auch davor feit, in der wirklichen Welt auf Inszenierungseffekte zu stoßen. Da nicht getan wird, als ob, bedarf es nicht deren Bestreitung durch ein So-Tun-als-ob-nicht. Freilich ließe sich einwenden, dass das Paradox des theatralen Modells demonstriere, warum für diese
Ausgrenzung
von
grundsätzlich
inszenierungsfreien
Gesellschafts-
und
Diskursräumen
kaum
vernünftige
Gründe
beizubringen
sind.
Die
Unterscheidung
zwischen
Inszeniertheit
und
Nichtinszeniertheit gehört sehr wohl auch in den Kunst- und Medienraum. Das Spiel selbst würde sich indes, jedenfalls im klassischen Verständnis des künstlerischen Auftritts, auf keinen Fall selbst als solches decouvrieren. Mit anderen Worten: Alle agencies beziehen sich mimetisch auf Situationen des tatsachenverbundenen Lebens – oder lassen sich darauf beziehen. Dass Fiktionen vorgenommen werden und Fiktionales vorkommt, steht dazu nicht in Widerspruch. Aufgrund des professionell szenografischen
Hintergrunds
der
›Nachahmungsstudien‹
kann
man
sogar
davon
ausgehen
(die
Disparität
der Sujets vorübergehend außen vor), dass die nachahmende Aufführung wie auch die Exposition ›echter‹ Artefakte den Auftritt insgesamt ›echter als echt‹ geraten lassen könnten, vor allem im Übergang von der Kunst zur Wissenschaft oder den ihr verbundenen Formaten der Information und Dokumentation. Dass dies sogar ein besonderes Merkmal der Moderne ist, insbesondere im Zuge der Einschleusung darstellungsbezogener ›Realkontexte‹ in ›die Kunst‹, ist bekannt. Kunstareale lassen sich
im
Wesentlichen
nur
anhand
entsprechender
topografischer
Indices
ermitteln.
Sie
zeigen
den
Kunst-Ort an, wie Opernhaus-, Konzerthaus- oder Museumsarchitektur. Im Medienbereich fungieren entsprechende Formatindices auf ähnliche Weise. Auch sie zeigen an, ob es ernst ist oder nicht. Die Performances selbst mögen dann dennoch oft daran zweifeln lassen, ob die Indikation zurecht behauptet
wurde.
Im
Fall
fehlender,
schlecht
zu
identifizierender
oder
möglicherweise
irrelevanter
Indizes
muss
mithin
situationsspezifisch
aus
der
Szene
heraus
ermittelt
werden.
Der
Mechanismus
der
szenografisch
gelenkten
Inszenierung
gibt
Aufschluss
darüber,
worin
die
Inszenierungstechnik
im
Wesentlichen
besteht.
Umgekehrt
wie
der
Rezipient,
der
die
dissimulierten
Anteile
des
Geschehens
156
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
erinnern oder indexikalisch detektieren muss, um nicht in ein asymmetrisches Verhältnis zur Direktive zu geraten, muss die Inszenierung bestimmte Hypothesen bilden. Die Vermittlungstätigkeit, der sich der Entwurf eigentlich verschreibt, muss den Auftritt antizipieren, eine szenische Verwirklichung des Intendierten. Soweit die Vermittlung eben darin ihr Ziel sieht, muss ihr Projekt in zwei Teile zerbrochen werden. Die Arbeit wird vom Produkt getrennt. Die disparaten Versatzstücke der
vermittelnden
Reflexions-
und
Entwurfsarbeit
sollen
den
Authentizitäts-
und
Identitätsschein
des Resultats nicht irritieren. Umgekehrt proportional verhalten sich mithin auch die affektiven Dispositionen auf der Seite der Inszenierung und der Seite der Inszenierungsbetroffenen. Letztere müssen ihre Aufmerksamkeit unter diesen Bedingungen sehr viel kritischer als im Fall weithin bemerkbarer, bekannter oder gar anerkannter indexikalischer Markierungen auf die Anzeichen der medialen Vermittlungsarbeit hinlenken, insbesondere auf die Techniken und die ästhetische Gestaltung.
Die
in
der
Inszenierung
Ambitionierten
müssen
sich
noch
mehr,
als
es
in
den
Probeläufen der Entwurfsarbeit und den mit ihr verbundenen mimetischen Übungen üblich ist, auf die Unmittelbarkeit des Events konzentrieren. Was mithin die Differenz zwischen den beiden Parteien der Inszenierungsinteressierten angeht, erhellt, dass hier nicht die Unterscheidung von sciences, arts oder metiers14 im Mittelpunkt steht, sondern
die
von
Tun
und
Erleiden,
zwei
Grundstellungen,
die
Leib,
Körper
und
Geist
jedes
einzelnen
Subjekt-Objekts unter den Agenzien bestimmen. Macht sich der Unterschied im szenischen Spiel ungut bemerkbar, was er keinesfalls in den meisten Situationen, nicht einmal Szenen des Lebens tut, wird das dringendste Interesse der unangenehm Betroffenen darin bestehen, die verborgenen Zwecke des Inszenierungsaufwands aufzudecken. Diejenigen, die sich davon nichts für ihre Ziele erhoffen, werden daran festhalten wollen, die Mittel der Vermittlung zu dissimulieren. Diese generellen Reaktionsformen
entsprechen
nicht
der
Unterscheidung
von
Gestaltenden
und
Gestaltungsbetroffenen.
Viel
eher
liegen sie in der Konsequenz der Zustimmung oder Ablehnung des Bewahrungsamts, von dem Heidegger in seinen Kunstwerkvorträgen der 30er Jahre spricht.15 Kunstwerke bedürfen der Bewahrung, für die jemand aufkommen muss. »Bewahrung« ist identitätsstiftend, indes nicht durch Aufhebung. Das der Bereitschaft zur Bewahrung innewohnende Wahrheitsinteresse gilt nicht der Ruhigstellung der Bedeutung. Die gegensätzlichen Bewegungen bleiben bestehen, doch werden sie zivilisiert. Hierin liegt die Bedeutung des Diderot’schen Paradigmas vom künstlerischen Umgang mit den Weiterungen aller Katastrophik von ›Straßenszenen‹.16 Den Streit von Anstrengung und Widerstand im Erleben und 14 Womit angedeutet ist, dass es sich nicht allein um personale Charaktere handelt. 15
Gemäß
den
Unterscheidungen
im
T itel
der
Encyclopédie 16 Vgl. Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 50 f.: Die Bewahrenden treten neben und vor die Schaffenden, denn die Bewahrenden sind diejenigen, die »der im Werk geschehenden Wahrheit entsprechen«.
Heiner Wilharm
157
Fühlen wird es weiterhin geben und keine ›Vermittlung‹, deren Wirkung, zum Vermittelten verdichtet, der eines Keulenschlags gleicht – ganz entgegen dem Anschein des Ausdrucks. Das angepeilte Maß beurteilt vom informierten Ding aus, nicht vom Standpunkt eines Subjekts oder Objekts. Hierin bestünde die Territorialisierungen sprengende Kraft einer Kunst, welche die heteronome Bestimmung des ›Objekts‹ zurückweist und deshalb am dafür verantwortlichen ›Subjekt‹ nicht
festhalten
kann.
Sie
weiß,
dass
sie
zwangsläufig
zu
solchem
Objekt
degeneriert,
wenn
sie
nicht
opponiert. Wenn dem so ist, dass Inszenierungstatsachen zu den »Tatsachen des Wollens« (Peirce) gehören, werden sie überall auftreten, wo gewollt wird. Soweit dies bedeutet, Vermittlungsarbeit zu leisten, liegt der Schluss auf die Implikationen der Vermittlung auf der Hand. Vermittlung kann logisch semiotisch in die Elemente von Disjunktion (Andersheit) und Unmittelbarkeit zerlegt werden. Handelt es sich hierbei tatsächlich, wie etwa Peirce annimmt, um absolut notwendige Kategorien, mit Hilfe derer überhaupt es gelingen kann, Überlegungen der veranstalteten Art anzustrengen, wird dieser Umstand kaum als bloß theoretische Bedingung, zu Bedeutungen zu gelangen, gelten können. Vielmehr wird er seinerseits die theoretischen Postulate tatsächlich motiviert haben. Kor-Relationen entfalten sich auf dem Boden realer Relationen. Mithin ist es sinnvoll, wie Peirce von der Realität der Tatsachen des Wollens auszugehen. Damit aber löst sich der Schein a priori inszenierungsfreier Bezirke des Realen auf. Überall muss man auf die Effekte einer sich verselbstständigenden Vermittlung gefasst sein. Sie kommt in allen denkbaren Formaten des medialen Auftritts daher, um die transportierten Botschaften,
ästhetisch
angepasst,
an
Gefühle
und
Affekte
zu
adressieren
und
auf
diese
Weise
an
den
Instanzen möglicher rationaler Beurteilung vorbeizuschmuggeln. Darf man in den deklarierten Sphären kreativer
Produktion
–
Kunst,
Gestaltung,
Technik,
Wissenschaft
vor
allem
–
vielleicht
darauf
hoffen,
tatsächlich auf Plan, Konzept und Entwurf zu stoßen, kann diese Forderung für die gewöhnlichen Bezirke
des
Gesellschaftlichen
nicht
verallgemeinert
werden.
In
weitaus
den
meisten
Fällen
dürften
wir
mit
unausdrücklichen
oder
schon
ritualisierten
Szenografien
konfrontiert
werden,
mit
Szenifizierung
und szenischem Anschluss aus nicht professionell gehandhabter Nachahmung. Umso mehr spielt die Begabung
eine
Rolle,
auf
welcher
Seite
der
Einfluss
nehmenden
Kräfte
auch
immer
man
steht.
Die
Nachahmung wird eskortiert vom Urteilsvermögen sowie den maßgeblichen Instanzen, die dieses Vermögen elastisch halten und zu Schlussfolgerungen drängen.
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
158
5 Sprechen
wir
von
»Wirkung«
oder
»Effekt«
hinsichtlich
eines
präsenten
Geschehens,
Artefakts
oder
Werkes,
verwenden
wir
die
Ausdrücke
mit
Blick
auf
das
Ganze
der
performativen
Szenifikation
gleichsam
als
›Ursache‹
solcher
Folgen.
Eine
Bedeutungsnuance
im
Gebrauch
könnte
darin
bestehen,
dass
»Wirkung«
auch
im
Blick
auf
den
situativ
existentiellen
Zustand
nicht
eines
Geschehens,
aber
eines
Dings, Artefakts oder Werks Bezug nehmen könnte. Auf jeden Fall handelt es beim Begriff Szenifikation
um
eine
Abstraktion,
die
ein
komplexes
szenisch
geprägtes
Gestaltungshandeln
und
Gestaltannehmen beinhaltet, was nicht deckungsgleich ist mit einer isolierten Objektpräsenz. Nicht nur
die
Wirkung
der
Szenografie
ist
intentional
(wenn
auch
keineswegs
ausschließlich),
die
Wirkung
der
Szenifikation
ist
es
ebenso,
und
zwar
wesentlich.
Deshalb
werden
derartige
Effekte
leicht
mit
dem
verursachenden
Eingriff
von
›Kreativen‹
identifiziert.
Doch
sollte
man
›Künstlerpersönlichkeit‹
oder ›Autorschaft‹ nicht mit einer Instanz ungebundener Freiheit der Bestimmung von Zeichen und Objekten gleichsetzen. Dem entgegen steht der Zwang der Dinge, wenn sie denn dieses oder jenes bedeuten
sollen,
ihrem
semiotischen
Vermögen
Genüge
zu
tun
und
sich,
dementsprechend
begriffen, fassen zu lassen. Die Effekte, mithin auch die intentionalen, gingen insofern von den Dingen aus. Ein Verständnis, das sich in der Rede vom informierten Objekt oder informierten Ding spiegelt.17 Allerdings
ist
die
damit
angepeilte
›Verursachung‹
an
die
Dichotomie
des
Gestells
(Heidegger18) oder des Installierten überwiesen. Beim Versuch, sich der Installation des Bühnenraums zu versichern, kann
die
Szenifikation
verunglücken,
sei
es,
dass
es
sich
um
die
unzutreffende
Unterstellung
einer
existierenden Rahmung handelt, sei es, dass die Rahmung nicht zu erkennen ist und aus Indizien rekonstruiert werden muss, was ebenfalls einige Risiken birgt. Soll sich ein wahrhaftiger, schlüssiger und befriedigender Schein über die aktuellen Szenen legen, muss er
aus
der
Szenifikation
heraus
erhellen,
aus
dem
Jetzt-und-Hier
einer
Szene.
Das
geht
aus
Diderots
Ausführungen über das Paradox des Schauspielerseins hervor. Vertrauen in das Eigenlicht der Installation zu setzen, so es denn auszumachen wäre, ist kaum anzuraten, wenn dieses Licht mehr als das Fakt der Installiertheit beleuchten soll – was, zugegeben, nicht wenig ist. Doch selbst die ›nur‹ technischen Implemente
einer
selbstständig
agierenden
Szenografie
fungieren
nicht
nur
als
Indikatoren
eines
solchen
Sachverhalts,
sondern
erzählen
(auch)
ihre
eigenen
Geschichten.
Entsprechend
können
sie
auch
zur
Darstellung gebracht werden. Deshalb fokussiert Diderot den Schauspieler, eine in der Wahrnehmung deutlich
szenifikatorische
Figur,
nicht
die
Inszenierung.
Die
idealisierte
Bühne,
beschrieben
im
isolierten
17
18
Dass es im Beispiel der Katastrophe, denkt man an das Erdbeben von Lissabon, die ›Natur‹ ist, der sich die Reaktionen verdanken, wird im Diderot’schen Mimesis-Konzept, wie gesagt, zurechtgerückt. Insofern spielen die alltäglichen Katastrophen der Straßenszenen für die Nachahmung die viel bedeutendere Rolle. Vgl. Michel Serres, Hermès III. Interferenz, Berlin 1992, S. 130.
Heiner Wilharm
159
Auftritt eines idealen Künstlers oder idealen Artefakts, hat weder mit der komplexen Realität künstlerisch gestalterischer (Re-)Präsentation zu tun noch mit der verwickelten Realität inszenierungsgesellschaftlicher Tatsachen in den Residuen von Politik, Recht und Ökonomie, Medien oder Wissenschaften, im Profanen oder im Heiligen. Theoretische Einlassungen dazu gehören in diesen Tatsachenraum, gehören
zu
einer
erweiterten
Szenografie.19
So
kann
es
sein,
dass
Effekte
in
die
Szenifikation
eingeschleust
sind,
die
der
Reflexion
und
Planung
im
Rahmen
eines
szenografischen
Entwurfs
entstammen
könnten
oder aber seiner kritischen Beurteilung als besonderes Darstellungsformat, dies aber unentschieden bleiben
muss,
weil
im
Getümmel
der
Szenifikation
niemandem
die
Anzeichen
auffallen
oder
sich
ohnehin
niemand
für
szenografische
Subtilitäten
interessiert.
Es
gibt
Effekte,
die
aus
Lücken
wirken.
Die
Antwort auf unbewusste Absichten scheinen unbewusste Effekte zu sein. Informationell
ist
die
Szenifikation
in
den
meisten
Fällen
ohnehin
nicht
begünstigt,
wahrscheinlich
weit weniger als die Situation – die freilich ihre Informiertheit nicht zugleich auch als Information im Sinne einer message entlässt. So stehen in der Regel zu wenige Informationen zur Verfügung, um mögliche
Hypothesen
zum
Geschehen,
vor
allem
aber
zu
seiner
Vorgeschichte,
aufgrund
unabhängiger
Daten
zu
erhärten
und
auf
bestimmte
Einflussgrößen
zu
schließen.
Denn
aus
der
Präsenz
heraus
ist
auf
Szenografisches,
die
Wirkung
von
Repräsentationen,
ohnehin
nur
zu
schließen.
Szenisch
kommt es zu Interferenzen.20 Mit anderen Worten, es gehört nicht zur Eigenart von Szenen, stabil zu
sein.
Gehen
wir
davon
aus,
dass
es
außerhalb
orthodoxer
Konzepte
und
Direktiven
keine
stabilen
Szenen gibt, gilt dies für so ziemlich alle die hermeneutischen Wissenschaften beschäftigenden Festlegungen dogmatischer Art – im Rechtswesen und in der Bürokratie, in der Ökonomie, in den Religionen, ebenfalls in der Kunst, auch wenn es dort am wenigsten noch zum guten Ton gehört. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sich gerade orthodoxe und im Wortsinn fundamentalistische Doktrinen damit
anfreunden
würden,
ihre
normativen
Vorstellungen
von
der
Eigenart
des
von
ihnen
identifizierten Territoriums – Systems oder Subsystems – als »Szene« zu charakterisieren, egal ob instabil oder stabil. Folglich werden, wo es darum geht, ›Stabilität‹ zu inszenieren, kaum »Szenen« in Erscheinung treten. Szenen gedeihen nur, wo die Kunst am Werk ist, mit Interferenzen, Instabilitäten und Vagem umzugehen. Das heißt keineswegs, dass das Ziel sei, derart Eingefärbtes ertragen zu lernen. Vielmehr steht die Aufgabe, in ästhetischer, praktischer wie logischer Hinsicht transparente Vermittlungen herbeizuführen,
vergleichsweise
stabile
Szenen
im
Zustand
eines
labilen
Gleichgewichts.
19 20
Vgl. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze 1936-1953, in: Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000. Siehe Heiner Wilharm, Szene ohne Theater. Die Ordnung der Inszenierung, Bielefeld 2014 (angekündigt).
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
160
6 Schaut man auf die Inszenierungsperformanz, scheinen Effekte, die leisten, was Instrumente, Werkzeuge, Maschinen, Techniken, Kniffe und Tricks zu leisten vermögen, eher tolerierbar, wenn sie narrativ eingebunden sind und von daher begründet erscheinen, wobei die Beurteilung, ob leichter, ob schwerer zu akzeptieren, im Auge des Betrachters und bei seinen Absichten liegt. Doch allgemein dürfte gelten, dass technische Effekte als energetische Voraussetzungen zur Erzeugung des szenischen
Scheins
einer
gut
erzählten
Geschichte
hinnehmbar
sind,
zur
bloßen
Inszenierung
eines
vergleichbaren Scheins, der nur ästhetisch animiert, aber nicht. Entsprechend würden demnach die Wirkungen lanciert. Und entsprechend wären bestimmte Effekte gut oder weniger gut zu rechtfertigen. Die
Binnendifferenzierungen
von
»Inszenierung«
und
»Szenifikation«,
allemal
die
von
»Szenifikation«
und
»Szenografie«
(adressiert
an
die
mediale
Instrumentierung
schon
bei
der
technischen
Effektwahl
im Produktionsbereich) rekurrieren auf dieses Kriterium der Vermitteltheit oder der Mischung. Das hat
zu
tun
mit
der
Offenheit
oder
Geschlossenheit
der
Szenifikation
gegen
die
erweiterte
Szenografie,
also
alle
relevanten
Konzepte
und
Entwürfe,
nicht
nur
die
aktuell
engagierten.
Um
an
die
Diderot’schen
Überlegungen
anzuknüpfen:
Der
Schauspieler
ist
in
der
Lage,
die
Gleichgültigkeit
seiner
professionellen Einstellung zu verbergen, performativ stets in der Maske der Effekte entsprechender Übungen und Studien auf die Szene zu treten – ein »Mann ohne Eigenschaften«, dessen künstlerisches
»Genie«
darin
liegt,
allseits
mimetisch
zu
sein.21
Der
Abstand
der
scenografia
als
Perspektive
der Projektplanung22
zur
scene
ist
in
der
Ausführung
überwunden;
die
Szenografie
ist
nurmehr
als
Inszenierung in actu anwesend. Vergleichbares gilt für die Perspektive der narratio oder historia nicht. Zwar liegt es auch in der Perspektive
der
Botschaft,
zur
Gestalt
bringen
zu
wollen
und
›dergestalt‹
auf
die
Szene
zu
treten,
doch
gibt
es
keinen
Grund,
den
entsprechenden
Auftritt
inhaltlich
als
spontan
erfunden
erscheinen
zu lassen. Dies gilt insbesondere, wenn es zur emotionalen Wirkmächtigkeit der Story gehört, dass die
Geschichte
nicht
nur
gut
erzählt,
sondern
auch
eine
gute
Geschichte
erzählt
wird.
Eine
gute
Geschichte
aber
ist
eine
bewährte
Geschichte.
Was
es
heißt,
dass
dazu
zählt,
dass
die
Geschichte
glaubwürdig ist, hängt ab vom Diskurs, aus dem sie stammt. Dass, um sie aufzumöbeln für den aktuellen Geschmack,
zuweilen
kosmetische
Behandlungen
gut
tun,
gehört
zum
Paradox
des
Schauspielens.
Es
ist
an
der
ópsis,
den
mythos
in
kommunikativ
gegenwartsadäquater
Gestalt
zu
lancieren.
Auch
hierfür ist das Talent der sich verbergenden mímesis gefragt. Sie verbirgt sich nicht, weil die Inhalte dessen,
was
nachzuahmen
Gegenstand
sein
könnte,
verborgen
werden
müssten.
Sie
verbirgt
sich
21 22
Vgl. Serres, Interferenz, Berlin 1992. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, »Paradox und Mimesis«, in: Die Nachahmung der Modernen, Basel/Weil am Rhein 2003, S. 25.
Heiner Wilharm
161
vielmehr, weil sie sich überhaupt an keinen Inhalt binden darf, um leisten zu können, was sie leisten soll,
alle
Inhalte
an
die
Oberfläche
ihrer
energetischen
Wirkung
zu
befördern;
denn
die
Vergangenheit
ist
nur
ein
Modus
gegenwärtiger
Erinnerung
in
die
Zukunft.
Mímesis
ist
projektive
anámnesis.
Was
als
Geschichte
auftreten
möchte,
muss
deshalb
nicht
als
Herkunft
und
Vergangenheit
zuvor
dissimuliert
werden, da es buchstäblich nichts zu dissimulieren gibt.23 Worum es geht, ist die Qualität des Nachahmens selbst. Es bedeutet so viel, wie die poíesis in die Evolution zu stellen. Der hervorbringende ›Nachvollzug‹ des Dargebotenen durch das eigene Bedeutenlassen realisiert sich als bewährtes Modell von Wiederholung und Variation. Es macht keinen Sinn, um ein Beispiel einer ›Darstellung‹ zu
wählen,
die
kein
Text
ist,
der
Darstellung
der
Souveränität,
wie
sie
aus
Velásquez’
Hoffräulein abstrahiert werden kann und gut dazu sein mag, bestimmte Einsichten in die politiktheoretischen Verwicklungen
von
Herrschaft
zu
befördern,
den
Anschluss
an
die
Geschichten
über
das
Leben
der
höfischen
Gesellschaft
zu
Zeiten
des
Absolutismus,
wie
das
Bild
sie
in
Szene
setzt,
nehmen
zu
wollen,
um den dann bleibenden Modellauftritt des Bildes von der Szene, in der es immer schon spielt, zu trennen. Es macht keinen Sinn, weil es gar nicht möglich ist, da diese Vergangenheit anwesend ist, sich artikuliert und jederzeit artikuliert werden kann. Mithin
gilt
für
die
Binnendifferenzierung
zwischen
Szenifikation
und
Szenografie,
dass
die
Inszenierung
von
Gestaltgebung
und
Formensprache,
ihre
Wirkung
aber
von
der
Geschlossenheit
der
Szenifikation
abhängig
ist,
die
eine
Echtzeitanwendung
auf
die
Geschichte
beinhaltet.
Dass
dabei
die
szenografischen
Studien
und
die
dort
geübte
mímesis
unterschlagen
werden,
heißt
lediglich,
dass
es
sich
in
der
szenografischen
Praxis
des
Entwerfens,
Planens
und
Experimentierens
um
andere
Szenen
handelt. Unbeschadet aber davon bleibt, dass die mimetische Kompetenz im Szenenwechsel stabil bleibt. Die trennenden Momente zwischen den Szenen werden dadurch überwunden, dass Nachahmung gegenüber dem narrativen Entwurf ganz selbstverständlich toleriert wird, da es sonst gar keine Geschichte
gäbe.
Nur
für
die
Nachahmung
der
Nachahmung
gilt
das
nicht.
Weder
führt
der
Schauspieler
sie
auf,
noch
tun
es
die
Zuschauer.
Szenisch
entsteht
ein
Gemischtes.
Von
Seiten
der
theatralen oder theatrischen24 Präsentation beschränkt sich das Vermittlungsangebot auf die Darstellung eines darin Vermittelten. Hinsichtlich eines gemeinsamen Spiels ist das nicht genug oder zu viel, wie man will. Ist die Vermittlung vollständig, die Darstellung zur Identität gebracht, braucht es kein Spiel mehr, sie zu Ende zu bringen. Anders die praktische Aufkündigung der dialektischen Vermitteltheit 23
24
Wie etwa bei den Künstlern und Architekten der Renaissance. Vgl. Sebastiano Serlio, Tutte l‘opere d‘architettura di Sebastiano Serlio Bolognese (Libri I.-VII.), Venetia 1584; Onlineressource erreichbar auf: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/serlio 1584. Ital. Text: Sette libri dell‘architettura, Forni (Sala Bolognese), 1978, Bd. 1, Libri I.-IV.; Bd. 2. Libri V.-VII. (Zugriff 12_2012). Vgl. Lacoue-Labarthe, Paradox und Mimesis, S. 26/27.
162
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
oder Vermittelbarkeit. Sie wertet das dargebotene Vermittelte als ein Eines, dem durch ein Anderes handelnd, energetisch zu begegnen ist. Mit anderen Worten: Ist es ein Spiel, kann es nur vom Ensemble
der
Anwesenden
zu
Ende
gebracht
werden,
soweit
es
die
jeweilig
aktuelle
Szenifikation
zulässt.
Für die Adressaten indiziert die Möglichkeit, so auf die Darstellung des Auftritts reagieren zu können, eine
adäquate
szenische,
nichtrepräsentative
Art,
sich
mittuend,
empfindend,
verstehend
auf
eine
Geschichte
einzulassen.
Wenn
es
mit
Blick
auf
die
Performanz
vielleicht
so
vorkommen
mag,
dass
mit
Exposition und Perzeption das meiste schon gewonnen sei, die Bedeutung der Szene erschließt sich dem bloßen Wahrnehmen höchst selten und keinesfalls mit Notwendigkeit. Für eine erstmalige Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen eines Plots scheinen die Chancen auf Verständnis geringer zu sein als bei gut Eingeführtem. Indes bedeutet »Zusammenhang«, Variation und Assoziation in Rechnung zu stellen, die Kompetenz der mímesis. Ansonsten liegt das Problem
einer
ausdrücklichen
Vermittlung
von
›Neuem‹
eher
beim
Stoff
als
bei
der
Gestaltung
der
kommunikativen Szenarien. Verläuft die Interaktion asymmetrisch und zielt die Begegnung nicht auf ein partnerschaftliches Erschließen und Aneignen, sind davon auch keine Erfolge zu erwarten. Dies gilt
für
jede
einseitige
Sender-Empfänger-Vermittlung.
Statt
Kommunikation
finden
wir
Information,
insbesondere die technisch aufbereitete und übermittelte. Sie suggeriert Erklärung außerhalb der Geschichte,
allein
in
Gestell
oder
Installation.
Was
derart
›mythosfern‹
gerät,
kann
außerhalb
der
platonischen Ideenlehre schwerlich als mimetisch angeeignete und deshalb schon anwesende Sage betrachtet werden. Das gilt für die Nachricht über die neuesten Erfolge bei der Suche nach Erdgas auf Basis der Fracking-Technologie ebenso wie für die Konfrontation mit der auf die neuesten Forschungsergebnisse gestützten Erklärung des Alzheimer-Syndroms. Das Problem ist nicht, dass man eventuell noch nie etwas von der Sache gehört hat, sondern dass es keine kommunikativen Szenen der
Verständigung
darüber
gibt.
An
ihrer
Stelle
finden
sich
sozusagen
rein
›informelle
Situationen‹.
Entsprechend schlecht bestellt ist es um die Chancen der Urteilskraft. Ob es sich um seriöse oder völlig aus der Luft gegriffene Informationen handelt, ist kaum zu beurteilen. Die Information erscheint als vom informierten Objekt und der gegenseitigen Informierung der Objekte isoliert. Um die Urteilskraft
ins
Spiel
zu
bringen,
müssen
stattdessen
sachbezogene
Szenifikationen
in
Gang
kommen,
die
es
erlauben,
die
Hilflosigkeit
angesichts
einer
szenisch
nicht
aufzulösenden,
nur
scheinbaren
Kommunikationssituation zu überwinden. Es kann nicht verwundern, dass die überwältigende Konfrontation mit dem unerhört Unbekannten in bestimmten Metiers geradezu zwingend daran zweifeln lässt, dass es sich überhaupt um eine glaubwürdige
oder
eine
gute
Geschichte
handeln
könnte.
Für
das
alltägliche
Leben
und
seine
Szenen
gilt
ohnehin,
dass
ihre
Geschichten
im
Großen
und
Ganzen
bekannt
sind,
zumindest,
worauf
es
mit
Heiner Wilharm
163
ihnen hinaus soll. Ob diese Annahmen berechtigt sind, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls artikulieren sich im Allgemeinen wenig Vorbehalte, an vorgeschlagene Narrative anzuschließen. Das unterstreicht, dass der Anschluss mehr den Transfer im Sinn hat als die intellektuelle Auseinandersetzung. Je selbstverständlicher die Übernahme, desto unauffälliger erscheint die Prozedur. Das kann auch bedeuten, je unverständlicher die Zumutung, desto reibungsloser ihre Einverleibung. Da es immer
nur
in
engen
Grenzen
um
epistéme
zu
tun
sein
kann,
steht
enérgeia
um
so
höher
im
Kurs,
die
praktische Antwort auf die Frage, wie es weitergeht, höher als das theoretische Wissen um die Fülle möglicher
Bedeutungen,
das
dennoch
ebenso
vorläufig
ist.
Also
muss
die
angebotene
und
einverleibte
Geschichte
der
gegenwärtigen
Lebens-
und
Verständnissituation
eingepasst
werden.
Dies
gilt
auch dann, wenn die Story, ganz abgesehen von ihrem Inhalt, so, wie sie daherkommt, auf den ersten Blick als neuartige, nie dagewesene Inszenierung begegnet. Was die Anstrengungen der Einpassung und Einverleibung zustande bringen, gehört zum prestigio, wie es in der Bühnensprache heißt. Da der ›Gewinn‹
bei
der
Sache
indes
immer
auch
mit
Opfern
verbunden
ist,
kann
er
negativ
ausfallen.
Dass
die Botschaften, deren Inhalte besonders inventionsverbunden sind und ihren Entwurfscharakter in ihre
Manifestation
hineintragen,
sperrig
bleiben
und
dies
gemeinhin
auch
ihre
Gestaltung
betrifft,
versteht sich, ganz abgesehen davon, auf welche Weise diese Irritation aus der Welt geschafft wird und ob es überhaupt gelingen kann. Trotz
der
generell
mehr
oder
weniger
gut
gelungenen
Abschottung
der
szenografischen
Hinterbühne,
was den Prozess der Formgebung im Entwurfsbereich angeht (die Nachahmungskompetenz, wenn man so will), indiziert die (Wieder-)Erkennbarkeit des Narrativs auf dem Hintergrund einer langen Geschichte
des
Wiedererkennens
die
Chancen
auf
eine
Öffnung
des
Inszenierten
in
Richtung
seiner
Inszenierung.
Vielleicht
geschieht
sie
nicht
in
einer
einzigen
Szenifikation
und
im
Rahmen
eines
einzigen szenischen Arrangements, aber doch in the long run. Die Bedingungen sind erfüllt, wenn die Anverwandlung des dargebotenen Stoffs, veranlasst durch die Vergegenwärtigung der Installation, Unterstützung bekommt und weitere Anstrengungen gegen weiteren Widerstand mobilisieren kann. Sich der relevanten Installation oder Bühne zu versichern, erlaubt günstigenfalls einen Schluss auf die
paradoxe
Situation
der
Aufführung,
den
Blick
hinter
das
Offenkundige.
Gewissheit
zu
gewinnen
bliebe indes ein praktisches Projekt eigener Art, entsprechend die Relativierung möglicher Ergebnisse,
sowohl
was
die
Techniken
der
Inszenierung
als
Gestaltung
betrifft
als
auch
was
mittels
dessen
im medialen Transfer auf der Strecke geblieben sein könnte. Der Adressat des Künstlers eignet sich dessen Tugenden an; er studiert das Nachahmen, um es zwischen Anstrengung und Widerstand zu vergessen. Ohnehin ist die Erkennbarkeit der relevanten Installation eher gewährleistet als die Erkennbarkeit der Variationen und Hintergründe des plots, zumindest wo das theatrale oder theatrische Bühnenarrangement obligatorisch ist; denn auf die Indizes der Installation zu reagieren, reicht
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
164
Wahrnehmung in der Regel aus. Ob es diejenigen Anzeichen sind, die für das relevante Objekt symptomatisch
sind,
stellt
sich
allerdings
erst
im
Laufe
der
Szenifikation
heraus.
So
oder
so,
wenn
die
Effektkultur der Performanz geeignet ist, das aktuelle Verständnis der Botschaft zu bestätigen (mehr denn es nur zu befördern), werden die Wirkungen medialer Verstärkung verträglicher sein als im Fall eines bloßen coup de théâtre. Der weiß zwar Affekte in Bewegung zu setzen, aber keinen Hinweis darauf
zu
geben,
in
wessen
Dienst
sie
genommen
werden
sollen,
allemal
wenn
die
Gelegenheit
genutzt
wird, hinter die Bühne zu schauen. Steht
ohne
die
Öffnung
der
Szenifikation
in
ein
gemeinsames
Feld
von
poíesis
und
páthos
gar
nicht
zur
Diskussion,
ob
die
Einverleibung
der
Botschaft
zugleich
auch
die
einer
wahrsagenden
Geschichte
beinhalten
könnte,
führt
der
Weg
zu
Entwurf
und
Genealogie
der
Szene
sowohl
ästhetisch
als
auch
sachlich zur Befassung mit der Evolution gegenwärtiger Bedeutung. Die Mischung mithin aus professioneller Inszenierung, die im Wesentlichen Nachahmungskompetenz verlangt, und Übermittlung einer Darstellung, welche das Vermögen im turn der Vorstellung verschwinden lässt, kann nur zustande kommen in der praktischen Vermittlungstätigkeit der szenisch Beteiligten. Erst darin verwirklicht sich die Doppelnatur der ›Inszenierung‹. Alle mímesis richtet ihr Augenmerk auf diese Kompetenz. Dass freilich
eine
szenografiebestimmte
Inszenierung
mit
Zustimmung
aller
Beteiligten
auf
diese
Weise
aufgeschlossen werden kann, gehört zu den Charakteristika der theatral oder theatrisch verfassten Bühnen
des
Spiels.
Wird
nicht
gespielt,
wird
Gewalt
angewendet. 7 Wahl aus Freiheit ist demnach die Alternative in der Frage nach den Möglichkeiten des Umgangs mit dem erkennbar Inszenierten. Denn in diesem Fall werden die zu Mitakteuren Aufgerufenen die Symptome der Verschiebungen und Verdeckungen zu analysieren suchen. Sie werden sich der magischen
Wirkung
der
Performance
nicht
ausliefern,
im
Gegenteil
das
Verschwundene
wieder
hervorholen und sich mit den Techniken des Inszenierens vertraut machen wollen, seien es die der neuesten Szenifikationen
und
Szenografien,
seien
es
die
der
gut
gereiften
Rituale
und
Zeremonielle.
Den
Trost
des
Glaubens
freilich
müssen
sie
dann
eventuell
aus
dem
Zutrauen
zur
eigenen
Kraft
beziehen;
denn
die
Freiheit
der
Wahl
gründet
sich
auf
die
Autonomie
des
Subjekts,
die
bekanntlich
eine
Erfindung
der Neuzeit ist. Die Zuwendung zur Technik der Effekte, die am Horizont der Installation erkennbar wird, wiedereröffnet allerdings auch einen Zugang zu ihrer Herkunft aus der Physis und dem mimetischen
Geschäft
der
damit
verbundenen
Artefaktproduktion,
»daß
das
Eingedenken
durch
die
Kunst
der Natur unmittelbar sich zuwende«25. Adorno diskutiert im Umkreis dieses Zitats aus seiner Ästhe25
Ein Ausdruck, der den Unterschied zwischen künstlerischen und nicht im Kunstkontext vorgenommenen Dramatisierungen artikulieren soll.
Heiner Wilharm
165
tischen Theorie die Frage nach der magischen Wirkung der Kunst und der Künste. Er unterstreicht, dass der Widerruf vorgenommener Trennung und Verdeckung seinerseits keineswegs blind sein sollte gegenüber
der
magischen
Gründung,
der
Weite
der
Möglichkeiten,
zu
erkennen
und
zu
verstehen.
Das rationale Moment nämlich, dem das Subjekt sich verschreiben möchte, gilt es seinerseits zu entsühnen. Zwar ist die »Rede vom Zauber der Kunst [...] Phrase, weil Kunst allergisch ist gegen den Rückfall in Magie.« Doch liegt es in der eigenen Ideologie der Kunst, die die Technik, die sie bedroht, ihr aber selbst einwohnt, verketzert, dass »ihr magisches Erbe in all ihren Verwandlungen zäh sich erhalten hat«. »Die Sentimentalität und Schwächlichkeit«, schreibt Adorno, »fast der gesamten Tradition ästhetischer Besinnung rührt daher, daß sie die der Kunst immanente Dialektik von Rationalität und Mimesis unterschlagen hat. Das setzt sich fort in dem Staunen über das technische Kunstwerk als
wäre
es
vom
Himmel
gefallen:
beide
Ansichten
sind
eigentlich
komplementär.
Gleichwohl
erinnert
noch die Phrase vom Zauber der Kunst an ein Wahres.«26 Denn
es
ist
die
»fortlebende
Mimesis«,
die
mit
anderen
als
mit
begrifflichen
Mitteln
zwischen
Artefakt
und Physis vermittelt und »Kunst« gerade auf diese Weise als »Erkenntnis«, als ein Verstehen bestimmen kann. Säkularisierte Magie lässt dies nicht zu,; denn in solchen Inszenierungen von Erleben und Spektakel,
selbst
an
der
Grenze
zum
Kult,
wird
»das
magische
Wesen
inmitten
von
Säkularisierung
zum mythologischen Restbestand, zum Aberglauben herabsink[en]«. Folglich gibt es keinen anderen Weg,
als
dass
die
Kunst
auf
die
Gefahr
hin,
jeder
Art
erwarteter
Eindeutigkeit
eine
Absage
erteilen
zu
müssen, die Erkenntnis »um das von ihr Ausgeschlossene« komplettiert.27 Die »Kunst«, von der hier die Rede ist, ist die Kunst des In-Szene-Setzens. Stellt man ab auf die Unterscheidung von Produzenten- und Rezipientenschaft hinsichtlich eventuell
tatsächlich
vorliegender
szenografischer
Perzepte,
leuchtet
ein,
dass
sich
die
szenifikatorischen
Beiträge des Publikums nicht ohne Weiteres auf der Höhe einer von der Regie favorisierten Inszenierung einstellen. Doch braucht es Zustimmung und Unterstützung, wenn sich Rezipienten als Mitproduzenten und Mitakteure des szenischen Auftritts verstehen, die Vermittlung mitbesorgen sollen, was offenbar unter bestimmten situativen Voraussetzungen – getrennte Räume, Zeitverschiebungen, Informationsdefizite,
divergierende
Zwecke
–,
kaum
gelingen
kann.
Blockiert
hingegen
keine
dogmatische
Szenografie
die
Vermischung,
vermögen
individuelle
Ansprache
und
Zuwendung
aufseiten der ›Planer‹, Erfahrung, Erinnerungskünste und Engagement aufseiten engagierter Adressaten, schließlich
gegenseitige
Agitation
und
Inspiration
der
aufeinandertreffenden
Gruppen
das
szenografisch-szenifikatorische
Gefälle
einzuebnen
und
zu
einem
gemeinsamen
szenischen
Plateau
zu
26 27
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 86. Ebd., S. 86 f.
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
166
formen.
Folglich
darf
man
annehmen,
dass
die
im
Rahmen
einer
aktuellen
Szenifikation
angebotenen Bedeutungen für die damit Konfrontierten nicht im luftleeren Raum einer gerade entdeckten
›Bühne‹
aufflackern
und
ihr
Schicksal
finden,
selbst
wenn
diese
›Bühne‹
ihr
Setting
auf
diese
Prämisse stützen sollte. Dass die entfaltete szenische Performance und die von ihr ausgehenden Befindlichkeits-,
Stimmungs-
und
Deutungsangebote
ohne
Wirkung
blieben,
ist
jedenfalls
kaum
wahrscheinlich. Selbst wenn es gelänge, dass das Publikum seine eigene Anwesenheit vorübergehend vergäße28 , stünde es nicht zu erwarten. Szenifikationen
der
geschilderten
Art
schließen,
insbesondere
was
die
Sache
betrifft,
um
die
es
sich
dreht,
offensichtlich
nicht
nur
an
eine
eventuell
vorhandene
aktuelle
Szenografie
an,
sondern
–
mit
Diderots Worten – an das bestbekannte ideale Modell. Dieses Modell ist nicht identisch mit einem manifesten
szenografischen
Artefakt,
auch
wenn
›die
Szenografie‹
(verstanden
als
Inbegriff
des
ästhetischen und inhaltlichen Entwurfs) schlechthin oder auch der aktuell vorliegende Entwurf diesen Modellcharakter vielleicht gerne für sich in Anspruch nehmen würde. Doch ist das ideale Modell nicht deshalb, weil es nicht unmittelbar adressiert werden kann, bloß eine ferne Idee, ein theoretisches Konstrukt,
wie
wenn
der
Diskurs,
dem
die
Szenografie
entstammt,
gleichsam
als
Produktionsbedingung
einer
jeden
einzelnen
Szenifikation
als
modellierend
stets
mitgedacht
werden
müsste.
Viel
eher
handelt
es
sich
um
das
erfahrungsgesättigte
Wissen
der
an
der
Szenifikation
Beteiligten,
um
die
eigenen
und
die
kollektiven
Bilder
vergangener
Szenifikationen
oder
von
zu
Szenen
Vermitteltem
–
auch und nicht zuletzt in den Kontinuitäten des Sinns. Auf die beteiligten Individuen bezogen, sind es Szenen der Vorstellung und Erfahrung unterschiedlicher Herkunft, formeller wie inhaltlicher Natur. Doch
wenn
die
Situation
der
Szenifikation
unterworfen
wird
im
Augenblick
des
Zusammenschlusses
aller
Agenzien,
die
sich
für
die
Szenifikation
entscheiden
(was,
wie
gesagt,
nicht
mit
Zustimmung
verwechselt werden darf), wird sich die Heterogenität der Herkünfte einem gemeinsamen Interesse an
der
Szenifikation
assimilieren.
Denn
dies
ist
das
Kriterium
dafür,
in
die
Szene
zu
gelangen
und
zu
ihr zu gehören. Im Artefakt scheint dies offensichtlich zu sein, in der Handlungsperformanz nicht unbedingt. Doch unter der szenischen Beschreibung wird deutlich, dass dies auch im Werk oder Artefakt
keineswegs
so
offensichtlich
ist,
wie
es
scheint.
Es
ist
die
Szene
eines
Gemäldes
keineswegs
mit
dem
sichtbaren
Raum
der
Malfläche
identisch.
Entsprechend
dehnt
sich
der
szenische
Raum
nach
eigenem
Gesetz
auch
in
allen
anderen
Konfigurationen
von
Hervorgebrachtem.
Es
erhellt,
dass
aus
diesem
Umstand
gerade
dann
ein
Korrektiv
gegenüber
Szenifikation
bzw.
Inszenierung
erwachsen
kann, wenn es sich nicht um die Bühnen von Kunst und Spiel und die Offensichtlichkeit ihrer Installation handelt. Wo der Blick auf das Unsichtbare durchaus erlaubt ist, um vom Erleben zu pausieren und sich der Fabrikation des Sinns genauer zuzuwenden – wenn auch auf eigene Initiative und eigene 28
Ebd.
Heiner Wilharm
167
Kosten –, wird es zu den kulturellen Praktiken gehören, ihn auch zu benutzen. Wo pure Sichtbarkeit darüber hinwegtäuscht, dass es überhaupt szenisch relevant Unsichtbares zu entdecken gäbe, liegen die Dinge anders. Warum sollte der gewöhnliche Medienauftritt im Infotainment-Format seine Konsumenten dazu nötigen, nach den unsichtbaren Elementen der Szene zu fahnden, einer Szene, die vordergründig
darin
besteht,
dass
allabendlich
Zuschauer
vor
ihrem
T V-Gerät
sitzen
und
einer
Sendung
namens Tagesthemen folgen? Zu schweigen von denjenigen Szenen, denen dasselbe Fernsehformat Gelegenheit
gibt,
fernen
Ereignissen
beizuwohnen:
Szenen
des
syrischen,
ägyptischen,
afghanischen
Bürgerkriegs, Szenen der aktuellen Pokalspiele, Szenen der europäischen Politwelt vom Tage. Wo schließlich der Zugang offensichtlich gewaltsam versperrt wird, obwohl die Inszenierungstatsachen deutliche Symptome hinterlassen und darauf hinweisen, dass sich bedeutsame Verwicklungen im nichtsichtbaren Bereich abspielen müssen, werden sich die Engagierten aufmachen und konkurrierenden Zwecken zur Bewährung verhelfen. Aktuell assoziieren wir mit diesem Appell zum Beispiel die Frage nach der Verfügungsgewalt über private Daten und deren Sicherheit im weltweiten Datenverkehr. Die Szenik der ubiquitären Smartphone-Nutzung, um, überall verbunden, Freud und Leid mit ›Freunden‹ zu teilen,
lässt
leicht
auf
den
Gedanken
kommen,
nach
den
unsichtbaren
commitments
zu
fahnden.
Von
daher wäre diese oder jene Idylle etwas luftiger zu gestalten. Einen Schritt weiter zu tun dürfte sich weit schwieriger gestalten. Konfrontiert etwa mit Erfahrungen einerseits massenmedienvermittelter Tauglichkeit der Kommunikations- und Netztechnologie, andererseits einer beispielsweise arbeitsplatzvermittelten Kenntnis der technischen Funktionalität bestimmter Programmierungskünste im Hintergrund der konkreten Facebook-Szenen wie auch der Werbeauftritte, die das Bedürfnis danach befeuern, wird es für die meisten Normalsterblichen so gut wie unmöglich sein, den Mächten, die, was hier ans Licht zu ziehen wäre, unter Verschluss halten, wirksam entgegenzutreten. 8 Wenn
nun
eine
große
Menge
disparater
Gefühle
und
Energien,
Bilder
und
Vorstellungen,
Erinnerungen und Schlussfolgerungen aufdämmert und Assoziationen bereitstellt, die sich auf dem Weg der Gewohnheit
an
die
longue
durée
von
sedimentiert
Szenischem
anschließen,
so
ist
die
Entscheidung
über
das
Gelingen
einer
aktuellen
Szenifikation
zunächst
davon
abhängig,
wie
die
Balance
zwischen
den
unmittelbar
Einfluss
nehmenden
Kräften
und
den
imaginären,
aus
Erinnerung
und
Geschichten
herangetragenen
Einflussgrößen
gelingt.
Mimesis
ist
in
jedem
Fall
im
Spiel,
sei
es,
dass
die
Szenifikation
eher
konventionell
ausfällt
und
im
Sinne
bekannter
Inszenierungsformate
Anschluss
an
entsprechende
Paradigmen
und
Ikonizitäten
findet,
sei
es,
dass
szenisch
Sedimentiertes,
szenografisch
Intendiertes
und
situationsspezifisch
kreativ
Szenifiziertes
sich
mischen
zu
einer
neuartigen
szenischen
Melange,
der
Bewusstseins-
und
Gewohnheitsveränderungen
zuzutrauen
sind:
die
wei-
Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel
168
tere
Ausgestaltung
der
Szenen
oder
die
Gründung
neuer.
Die
Bilder
und
Geschichten,
Gebräuche
und Rituale in der Bibliothek der Szenen werden nicht unbedingt als private Erfahrung geltend zu machen sein, weder im Sinne individuellen Widerstands noch individueller Angebote. Diderots Hinweis darauf, dass das ideale Modell, das zurate zu ziehen sei, mieux conçu sein soll, akzentuiert, dass es um Vergemeinschaftetes geht. Szenisches dieser Art ist wie alles gemischt Semiotische vom ontologischen Zuschnitt der gesprochenen Sprache, wenn auch phänomenal reicher. ›Privatszenisches‹
wird
man
zurückweisen
wie
Wittgenstein
das
Privatsprachliche.
Die
Gefühlsmodulation
eines
beabsichtigten
Spiels
muss
sich
darauf
einstellen,
dass
man
im
Spiel
auch
auf
Empfindung
und
Gemütsbewegung
nicht
ausdrücklich
engagiert
Beteiligter
treffen
wird.
Dennoch
wird
es
vorteilhaft
sein, auch ihr Wohlwollen zu erringen – wenn es denn beabsichtigt ist, dass es einen Zusammenklang auch unterschiedlich motivierter agencies geben soll. Nur unter diesen Umständen jedenfalls wird sich das Deutungsangebot des herangeführten Repertoires mit Sprache und Melodie der aktuellen Szenifikation
befriedigend
in
Einklang
bringen
lassen.
Umgekehrt
wird
es
in
der
eigentlichen
Intention
einer
Szenifikation
nach
Art
der
offenen
Inszenierung
liegen,
zu
einer
gut
geerdeten,
deshalb
sowohl
friedlichen als auch wahrhaftigen Exposition beizutragen. Nur so besteht die Chance, an einer szenisch,
das
heißt
sozial
überzeugenden,
wahren
Geschichte
beteiligt
zu
sein.
Was heißt »wahr zu sein« im Zusammenhang solcher Darstellung? Diderot ist entschieden: »Die Dinge zu
zeigen,
wie
sie
in
der
Natur
sind?
Keineswegs.
Das
Wahre
in
diesem
Sinne
wäre
nur
das
Gewöhnliche.« Das Wahre auf der Bühne hingegen »ist die Übereinstimmung der Handlung, der Reden, der Gestalt,
der
Stimme,
der
Gebärden,
mit
einem
vom
Dichter
erdachten
ideellen
Modell«.
Mit
einem
vom mythos beglaubigten Modell, fügt Aristoteles hinzu. Und Heidegger, mit Schelling und Hölderlin – aber auch mit Wagner, ergänzt: mit einem von der Dichtung erdachten Modell. Und Nietzsche fügt an: von einem von der Bildung geprägten Modell. So oder so, es heißt in Übereinstimmung mit einer Natur, wie sie, erst vorgestellt, noch nicht existiert, aber aufgrund von téchne, von Kunst und Wissen, existieren könnte. Und so – wird man Diderots dem Lob der Kunst geschuldeten Distanzierung von der Natur entgegenhalten – wie solche ›Natur‹ in unendlicher Variation auch tatsächlich existiert, ohne dass sie abhängig wäre davon, dargestellt zu werden. Was aber einen möglichen Vorlauf von Mythos und Dichtung vor dem Auftritt der Akteure betrifft29, so ist Diderot wiederum unmissverständlich
den
Vorzügen
der
Inszenierung
verpflichtet.
Vergleicht
man
die
Modelle,
den
»Menschen
der Natur« mit dem »Menschen des Dichters« mit dem »Menschen des Schauspielers«, ist dem Modell des Dichters wohl der Vorzug vor dem der Natur zu geben, doch nicht vor dem Modell des Schauspielers. Sein Modell allein nämlich verspricht Autonomie, eher allerdings für den Spieler außerhalb der Bühnen der Kunst. Warum? Weil er in diesem Modell seine eigene Marionette ist, folglich auch seine 29
Was unter Umständen, wenn nämlich die Bestimmung als Publikum vergessen würde, durchaus ein Szenario darstellen
könnte,
das
vielleicht
aber
eine
umso
intensivere
Gemeinschaft
bei
der
Feier
anzeigte.
eigenen Texte sprechen darf. »Er stellt sich auf die Schultern seines Vorgängers [des Dichters – HW] und
hüllt
sich
in
eine
große,
aus
Weidenrute
geflochtene
Marionette,
deren
Seele
er
ist.«
Anders
als
auf
dem
Theater
wird
ihm
in
Gesellschaft
zufallen,
»auch
noch
[das]
Reden
zu
erfinden,
[er]
hat
also
zwei Aufgaben zu erfüllen – die des Dichters und die des Schauspielers.«30
30
Eine
Position,
für
die
weder
Aristoteles
noch
auch
Heidegger
und
seine
Gewährsleute
am
Ende
reklamiert
werden können.
Fritz Perls
[1969] Magda Semrau, Friederike Sommer (Phase 1) Céline Kaiser (Phase 2)
Fritz Perls Céline Kaiser Gemeinsam mit seiner Frau Laura Perls und unter Mitarbeit von Paul Goodman begründete Frederick (Fritz) Perls die Gestalttherapie. Perls, der 1893 geboren wurde, studierte in Berlin Medizin, machte in den 1920er Jahren eine Analyse bei Karen Horney und bildete sich später bei Wilhelm Reich zum Psychoanalytiker aus. Perls interessierte sich während seines Studiums aktiv für das expressionistische Theater und war Statist in Inszenierungen Max Reinhardts. Er war Assistent bei dem Gestaltpsychologen Kurt Goldstein in Frankfurt, bevor er aufgrund des NS-Regimes Deutschland verlassen musste. Nach einer Zeit in Südafrika, wo er das »South African Institute for Psychoanalysis« gründete, übersiedelte er 1946 in die Vereinigten Staaten.
Die Raum- und Objektdesignstudentinnen Magda Semrau und Friederike Sommer konnten ihr Konzept einer Fallvignette von Fritz Perls im Rahmen einer Modellausstellung präsentieren. Für SzenoTest wurde mit Hilfe von Originalton- und videomaterial Die Fallgeschichte von Mary Kay als bespielbarer Modellbau realisiert.
Bereits in den 1940er Jahren entwickelte er eine dezidiert kritische Position gegenüber der Psychoanalyse. In seinem ersten Buch Das Ich, der Hunger und die Aggression von 1941 entwickelte er gemeinsam mit Laura Perls grundlegende Aspekte der Gestalttherapie. Auch während sich die Gestalttherapie, ausgehend vom New Yor-
ker Gestaltinstitut, weiter etablierte, gab es Kontakte zur Theaterwelt wie die zu Judith Malina und Julian Beck, die 1947 das Living Theater gegründet hatten. In den 1960er Jahren ging Perls an das EsalenInstitut in Big Sur, Kalifornien, wo er eine ganze Reihe von Workshops abhielt, die in Form von Video- und Tonaufnahmen dokumentiert wurden. Perls starb 1970. Die hier präsentierte Fallgeschichte stammt aus diesem Zusammenhang. Eine junge Frau arbeitet sich in einer Sitzung unter Begleitung von Fritz Perls an der Beziehung zu ihrer Mutter ab. Dabei übernimmt sie, typisch für das Setting der Gestalttherapie, mal die Position ihrer Mutter, mal ihre eigene und verbindet den Rollenwechsel mit einem Wechsel zwischen zwei Stühlen. Zu hören war in dieser Station die Original-Tonspur (mit freundlicher Genehmigung des Gestaltinstituts, New York).
Bert Hellinger
[2003] Isabella Marohn, Ninja Schmaling
Isabella
Marohn
(Studentin
Grafikdesign)
und
Ninja
Schmaling
(Studentin
Raum-
und
Objektdesign)
haben
Bert
Hellingers
Fallgeschichte Inkas und Spanier als bespielbaren Modellbau entworfen und die Dialoge der Fallgeschichte im Tonstudio für den Audioguide eingespielt.
Bert Hellinger Isabella Marohn, Ninja Schmaling Das Familienstellen nach Hellinger ist derzeit eine der populärsten Formen szenischer Arbeit, die auch für psychotherapeutische Zwecke eingesetzt wird – auch wenn sie von ihrem Begründer und Hauptprotagonisten, Bert Hellinger, als ›Lebenshilfe‹ und nicht als ›Psychotherapie‹ gekennzeichnet wird. Familienaufstellungen nutzen eine Reihe von therapeutischen Techniken, vor allem aus dem Feld systemischer Therapien. So wird etwa die Familienskulptur, mit der Virginia Satir schon in den 1960er Jahren gearbeitet hat, aufgegriffen, die eingesetzt wird, um Beziehungsdynamiken innerhalb von Familien metaphorisch aufzudecken. Seine
spezifische
Form
des
Familienstellens hat Bert Hellinger seit den 1970er Jahren entwickelt. Hellinger, der 1925 in Leimen geboren wurde, hatte Philosophie, Theologie und Pädagogik studiert; er war zunächst geweihter Priester und arbeitete einige Jahre missionarisch in Südafrika, bevor er sich intensiver mit psychoanalytischen und anderen psychotherapeutischen Ansätzen (z. B. der Primärtherapie und der Provokativen Therapie) beschäftigte. 1971 legte er sein Priesteramt nieder und arbeitet seitdem vorrangig im therapeutischen und beratenden Bereich. Er hat zahlreiche
Bücher sowie Video- und Tonaufnahmen veröffentlicht, in denen seine Aufstellungen präsentiert und von ihm gedeutet werden. Hellinger verbindet systemische und andere therapeutische Techniken mit einem stark normativen Weltbild, das deutlich esoterische Anklänge hat. Weit entfernt von konstruktivistischen Grundannahmen, wie sie für systemische Ansätze nicht unwesentlich sind, geht er davon aus, dass ›sich‹ in den einzelnen Aufstellungen ›etwas zeigt‹, das sich Abweichungen von der ›Ordnung‹ auch über die Generationen hinweg in den Bewegungsimpulsen derjenigen, die an einer Aufstellung teilnehmen, manifestieren. Das Familienstellen nach Hellinger ist ebenso populär wie aufgrund der Hintergrundannahmen und der Art und Weise, wie mit den Klienten gearbeitet wird, höchst umstritten. So hat sich die ›Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie‹ (DGSF), ein berufsübergreifender Fachverband für Systemische Therapie, Familientherapie, Beratung und Supervision, deutlich von Hellingers Familienaufstellungen abgegrenzt und diese als gefährlich für die Protagonisten der Aufstellungen eingestuft.
Agon und Agonie Notizen zu einer theatralen Opferlogik Ralf Bohn
Ralf Bohn
179
1. Vom unvermeidlichen Opfer-Künden Sowohl das Theater als auch die Therapie gelten als Formen der Krisenbewältigung und der Opferverschiebung ins Fiktive – ins Imaginäre. Im Theater als Spiel werden liminal Krisenprozesse jedoch auf der gesellschaftlichen Ebene gleichsam rituell dargestellt und verhandelt. In der Regel sind Akteure und Publikum funktional, räumlich oder sinnendifferenziell bestimmt. Ziel der Aufführung (Performance)
ist
ein
Reflexionsgewinn
in
der
Anschauung
von
individuellem
und
personalem
Handeln
als
sinnlich szenische Form. Im Wesentlichen trägt dabei die Unterscheidung von Performanz (Handlung/ Aufführung) und Kompetenz (Wissen/soziale Regel). Die Maxime des Theaters ist, den Menschen an seinen Handlungen zu erkennen und aus der Erkenntnis ethisch produktive Handlungen abzuleiten. Die radikalste Form dieser Handlungen bestimmt sich für die westliche Theaterkultur aus dem griechischen Agon1,
dem
zunächst
opferreichen,
dann
opferrituell
verpflichteten
Wettkampf.
Eine
Therapie setzt eine dialogische Form der Krisenbewältigung zumeist nicht personal-gesellschaftlicher, sondern subjektiver Natur voraus, und zwar als ein echtes Ritual (klassisch das der Übertragung), in dem der Therapeut und der Patient ohne
primären
Reflexionsgewinn
den
Widerstand
gegen
gesellschaftliche und gemeinschaftliche Regeln aufgeben. Dieser Widerstand entsteht aber dadurch, dass in der Symptomatik das Theater der Opferverdrängung als Verdrängung der Theatergenealogie nicht akzeptiert wird. Das Symptom zeigt als Theater der Wirklichkeit, was im wirklichen Theater an Opferverdrängung stattgefunden hat. Denn das wirkliche Theater leitet sich eben vom Agon als realem Opferlauf ab. Die Symptomdarstellung besteht darin, nicht zugleich wieder nur auf der Ebene der theatralen Szene auf die Opfer zu verweisen. Symptom verbleibt so als Selbstopfer. Als ökonomischer Ort der Opferbilanzierung und -verschiebung gemäß der Freudschen Triade »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«2 gilt die Szene. In der Szene stellt der Patient grundsätzlich die Unmöglichkeit der opferlosen Krisenbewältigung in einem Körperraum vor, muss diesen aber für andere darstellend erhalten können. In der Manifestation des Opferwiderstandes wird das Symptom zu einer Selbstverdinglichung gemäß der des Theaters: Der Körper wird selbst zur Szene. Die Szene oder das Setting sind demnach weder konkrete Räume oder Ereignisse oder Praktiken, sondern ökonomische
Felder
der
Hierarchisierung
von
Kompetenz
und
Performanz,
von
Identifikation
und
Individuation. Halten wir fest: Das Theater verdeckt einen realen Opfervorgang, es macht ihn opferlos 1
2
»In westlichen Sprachen hat ›action‹ (Aktion, Handlung) den Beiklang von Kampf. Aktion ist ›agonal‹. Akt, agon, Agonie und agitieren stammen alle vom selben indo-europäischen Stamm *ag-, ›treiben‹, ab, auf das das lateinische agere, ›tun‹, und das griechische agein, ›leiten‹, zurückgehen.« Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M., New York 2009, S. 162. Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse, II) (1924), in: Sigmund Freud, Zur Dynamik der Übertragung. Behandlungstechnische Schriften, Frankfurt a. M. 1992.
Agon und Agonie
180
darstellbar. Das Symptom macht an sich selbst darstellbar, dass es keine Produktionsökonomie ohne Opfer
gibt,
muss
aber
den
zeitlichen
und
effektiven
Gehalt
seiner
Darstellung
mit
einer
Verdinglichung erkaufen, also einer Produktion, die sich, anders als das Theater, nicht vom Körper ablöst. Das Theater der Therapie besteht nun in dem paradoxen Unternehmen, das Opfer produktiv werden zu
lassen
für
eine
Gesellschaft,
die
unentwegt
den
Opferstoff
annulliert,
indem
sie
ihn
permanent
opfernd der Produktion, d. h. der vermittelnden Darstellung zuführt. Nach der frühgriechischen Tradition ist der Kampf um Heilung und Opferung (Sühne und Katharsis) mit dem Agon, dem Opferkampf verbunden. Theater ist der Ort, an dem die Dramatik zwischen Opfer und Heil
reflexiv
in
einer
poetischen
Metasprache
bilanziert
wird.
Aber
auch
im
therapeutischen
Setting
wird
auf
diese
Katharsis
hingearbeitet.
In
der
Szene
des
Neurotikers
finden
die
Bewegung
oder
der
Tausch
statt, in denen das Scheitern eines Ideals opferlosen Heils dargestellt wird und somit auch das Scheitern einer jeden Therapie an dem verzweifelten, ›neurotisch hysterisierten‹ Wunsch der Letztopferabschaffung, der Unsterblichkeit.3 Es ist dieses ›natürliche‹ (schicksalhaft-dramatische) Scheitern, das alle sichernden Kulturprodukte als eine zweite, eine theatralische Ökonomie als Kunstpraxis etabliert. Diese zweite Natur ist durch Technik und Warenkultur geprägt. Insofern muss man nach den technischen Bedingungen und Zwängen des Settings gegenüber denen des Theaters fragen. Denn die Techniken bringen
im
Zuge
der
Medialisierung
der
Realien
eine
fiktive,
theatralische
Natur
hervor
(Simulationen,
Simulakren,
Szenografien,
also
Maschineneffekte),
die
jene
phantasmatisch
krisenlatente
Opfernatur
ersetzen, die es als erlöste niemals gegeben hat, da ihr Erlösungsstatus der einer Imagination ist. Das Paradies als Erträumtes realisiert sich in der Fiktion als verdinglichter Traum. ›Natur‹ ist die nachträgliche Fingierung einer Realität zu diesen Erlösungseffekten als Szenifikationen zu verstehen, nämlich die Situation4,
als
synchrone
und
synchronisierte
Existenz
(Praxis)
des
Individuums
in
der
Gesellschaft. 3
4
Als neurotisch bezeichne ich undifferenziert der Kürze wegen alle psychosomatischen Störungen im frühen Freud’schen Sinne. Die Psychosen sind deshalb davon ausgenommen, weil sie nicht auf der Ebene der Signifikanten erreichbar sind, d. h. nicht in einem Setting, das auf der Ebene eines spielerischen oder sprachlichen Durcharbeitens konditioniert ist. ›Situation‹ ist verstanden im Sinne der existentiellen Analyse Heideggers, aber vor allem Sartres, der in dieser Hinsicht sein Theater der Situation
reflektiert.
Vgl.
Jean-Paul
Sartre,
»Literatur
als
Engagement
für
das
Ganze. Interview mit Madeleine Chapsal, 1960«, in: Jean-Paul Sartre, Was kann Literatur? Interviews Reden Texte 1960–1976, Reinbek 1985, S. 11. »Heute glaube ich, daß die Philosophie dramatischen Charakter hat. Es geht nicht mehr darum, die Unbeweglichkeit der Substanzen zu betrachten, die sind, was sie sind, noch die Regeln für eine Phänomenologie zu finden. Es geht um den Menschen – der zugleich ein Agent und ein Akteur ist –, der sein Drama hervorbringt und spielt, indem er die Widersprüche seiner Situation bis zum Zerspringen seiner Person
oder
bis
zur
Lösung
seiner
Konflikte
durchlebt.«
Die
Situation
ist
derjenige
Unort,
der
in
der
Gesellschaft nicht vermittelt ist. Das aber ist die Praxis als Evidenz. In einer (maschinellen) Produktionskultur muss man davon ausgehen, dass das Theater der vermittelnden Opferverdrängung alle Lebensbereiche durchdringt,
Ralf Bohn
181
Die Frage ist nun, an welchen Polen des Scheiterns einer kontingenten Natur wir uns ansiedeln. Im Theater ist nicht Natur, sondern Wirklichkeit als immer schon geopferte vorausgesetzt. Das Theater dringt auf die Rekonstitution einer menschlichen Natur, der Konventionalisierung menschlichen
Verhaltens
und
menschlicher
Gesten.
Im
therapeutischen
Setting
wird
demgegenüber
die
Natur des Menschen als agonisch aufgefasst werden müssen. Der Neurotiker ist kein Simulant. Therapie muss als Akt einer ›Zivilisierung‹ verstanden werden, die die Krise nicht beseitigt, sondern sie personalisiert und kultiviert – eingedenk des Umstandes, dass sich das Subjekt nicht in Natur
auflösen
lässt
noch
sich
in
radikaler
Freiheit
singularisieren
kann.
Es
muss
sich
zwischen
Situation
und
Szenifikation
in
Vermittlung
setzen.
Eine
›Heilung‹
–
in
Bezug
auf
eine
nie
stattgehabte (imaginäre) erste, ›romantisch befriedete Natur‹ – kann nicht erwartet werden: Sie würde eine Komplette Inversion der gesellschaftlichen Produktion (ihre Agonie) zur Folge haben. Heilung muss mit Handlungsfreiheit übersetzt werden, also mit der Möglichkeit, Alternativen zu sehen, zu wissen und sich offerieren zu können. Es ist in Erfahrung zu bringen, worauf wir uns mit den Techniken dieser
z weiten
Naturproduktion
(die
der
Dinge)
einlassen,
die
wir
nach
den
Regeln
einer
fiktiven,
ersten versprechen – einer Simulation ohne Urbild. In diesem Sinne sind alle Produktivkräfte von theatralen Techniken durchdrungen. Ethnologisch betrachtet sind Inszenierungen keine Rituale. Der Möglichkeitsraum des Rituals besteht in der tatsächlichen Überschreitung von alternativen Regeln, der der theatralen Inszenierung besteht darin, eine der möglichen Deutungen eines Stücks zu erproben, nicht zu überschreiten. Die Inszenierungseinübung (Proben), nicht die Aufführung ist der Möglichkeitsraum. Das Symptom ist nun die Spitzenform einer Technik der Aufklärung darüber, dass es das Phantasma der Heilung (Krisenabschaffung) selbst ist, was als projektive erste Natur zu allererst in Frage steht. Das Symptom ist das Wissen (Identitätsbesetzung) darüber, dass Heilung nur in der vollständigen Opferung
der
Gesellschaft
als
deren
Negation
besteht.
Dieses
Wissen
wird
flankiert
von
der
Angst
des
tatsächlichen
Verlustes
der
Gesellschaft
als
vermittelte
Realität
(Gedächtnisverlust).
Was
bleibt
an Opfervermeidung anderes übrig, als die Verdinglichung/Symptomatik als Krankheit am eigenen Körper
(Identifikation
mit
dem
Aggressor)
zu
produzieren?
Verdinglichung
meint
hier
Opferverdichtung,
so
wie
das
Gewaltpotential
der
Gesellschaft
sich
im
Bombenbau
verdichtet,
aber
zugleich
auch
disponibel hält. Die Einbehaltung/der Aufschub kann aber selbst nicht autonom sein, er muss sich als Symptom für einen anderen darstellen und zur Aufführung bringen, als das Andere an mir selbst: Jede Bombe ist Rettung und Bedrohung. Was will man dem Neurosentheater in einem Therapiethewährend es die nichtfingierte Realität einer Natur nur in der Perversion dieser Kultur gibt. Das ist der Standpunkt des Neurotikers.
Agon und Agonie
182
ater anderes entgegensetzen als die Dekomprimierung, d. h. szenisch-narrative Dekomprimierung seines Anliegens, von der unvermeidlichen Opferlogik der Verdinglichung zu künden. 2. Agonistik zwischen symbolischer und funktionaler Deutung Wie
ist
die
Leistung
der
szenografischen
Maschine
zwischen
der
Heilserwartung
und
dem
Opfer,
das
dafür
aufgewendet
wird,
ökonomisch
zu
bewerten?
Geht
es
darum,
die
Grenzen
des
Wissens
durch
die Wiedereinführung ritueller Traditionen zu erweitern, oder geht es darum, die Synchronizität von Wissen, Erfahrung und Handlung (Begehung) zu rekonstruieren, um somit eine künstliche Situativität zu
erschaffen?
Gerieren
sich
Szenografien
als
Pseudonaturen
oder
deren
szenisch-narrative
Auflösung? Es geht darum, die Bombe, die man baut, als Attrappe platzen zu lassen. Theatralität handelt mit Effekten. Wie kann man opfern, ohne zu opfern? Naheliegend ist zu behaupten, im Theater würde ein vormals im frühen Agon noch reales Opfer symbolisch vergemeinschaftet, während in der Therapeutik das Opfer kulturell vergesellschaftet, also der situativen Struktur, d. h. den Techniken unterstellt wird. Theatertherapie kann zu einer Lehre werden, in der die Verschiebbarkeit des Opfers entgegen dem Symptom als Opfereinbehaltung (Entschuldung der Welt) in einen Handel gebracht wird. Das heißt allerdings, das Theater selbst muss in Bezug auf das Opfer gedacht werden, nicht in Bezug auf eine opferfreie Zone. Handlungen sind von Handel als gesellschaftlicher Vermittlung nicht zu trennen. Nennen wir die Opferblockade Agonie, ihre Darstellung Agonistik und die ökonomische Brechung/Mitteilung Szenik. Die Szene macht aus dem Agon (Widerstreit/Wettkampf) eine Agora: einen Ort der Darstellung. Sie verschiebt nicht das Opfer, sondern zeigt, dass es notwendigerweise Verschiebungen geben muss, und zwar einerseits als Transformationen in der Performanz eines Rituals, andererseits als Produktionen, Übersetzungen, Tauschhandlungen. Das Übersetzungsproblem – das der Bombe als Attrappe – kann als solches nur thematisiert werden, indem in einer liminalen Überschreitung (rituell) die ethisch-ästhetische Differenz als dialektische Beziehung offenbar wird.5 Es gibt keine Vermittlung ohne Täuschung respektive Deutungsfreiheit. Hier kommt es vor allem darauf an, ein exklusives Zeitintervall, eine Inszenierung von Zeit zu arrangieren, was nichts anderes 5
Turner spricht von liminalen Prozessen (Schwellensituation) als Phase der Krisenbewältigung in einem rituellen Ablauf und von liminoiden Prozessen, in denen der Übergang nicht in einer vergemeinschafteten Handlung, sondern im Austausch und Übergang des Individuums zu seinen personalen (sozialen) Regeln besteht. Vgl. Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 50-66, hier S. 66: »Liminoide Phänomene sind also durch Freiwilligkeit, liminale durch Pflicht gekennzeichnet«. Turner verbindet diese beiden Handlungsmodale mit der für unsere Gesellschaft
t ypischen
Unterscheidung
von»Arbeit«
und
»Muße«,
muss
aber
zugleich
konzedieren,
dass
in
einer postmodernen Freizeitgesellschaft beide Relationsbeziehungen ineinander verflochten sind, was heißt, dass zwischen Krise, Arbeit, Heilung, Muße die Übersetzungsopfer transformatorisch ineinander so verwandelt
werden,
dass
dem
ökologischen
Gedanken
nach
kein
Opferrest
bleibt,
was
unweigerlich
eine
Form
der
Agonie
der
Gesellschaft
bedeutet.
Ralf Bohn
183
heißt, als ein Außer-Kraft-Setzen der sozialen Regeln durch mögliche individuelle Interventionen. Jedes Theater muss den Einspruch verkraften. In der szenischen Darstellung dieser exklusiven Zeit erscheint das, was in der Situation synchron gegeben ist, diachron, narrativ gestaffelt und dadurch erst
raumkonstitutiv.
Es
ist
der
Rhythmus
der
Individualität,
der
Gesellschaftlichkeit
notwendig
konstituiert. Jedes Drama wird zum symbolischen Zeitspielraum einer Einübung in die Unvermeidlichkeit des
Transpositionsopfers,
denn
in
der
fiktiven
Zeit
ist
die
reale
Zeit
geopfert.6 Der Spielraum der Individualität, also die andere Praxis, ist im Dualismus von symbolischer (kompetenter) oder funktionaler (performativer)
Lesart
immer
schon
gegeben.
Genau
darin
liegt
aber
der
Sinn
des
Agons:
die
doppelte
Lesart
als
intrinsischen
Möglichkeitsraum
fiktionaler
Systeme
auszuweisen.
Dass
eine
Bombe
gehorteter Opferstoff ist, erweist sich sowohl an der Tabuisierung ihrer Benutzung als am Effekt ihrer Explosion. Angst und Lust arbeiten Hand in Hand. Man darf darauf hinweisen, dass das komplementäre Verhältnis von funktionaler und symbolischer Lesart auf eine für die Inszenierung wichtige Unterscheidung existentialhermeneutisch gedachter Erzählung (Historie und Phantasma des Ichs) und performativer Reinszenierung (Intentionalität und Selbstbewusstsein als autopoietische Bewegung) basiert. Beide Fokussierungen sind im hermeneutischen Spiel ökonomisiert. Techniken setzen, da sie nicht mehr zu verstehen sind, auf symbolischen Gebrauch.
Die
symbolische
Ebene
wird
vom
Design,
dessen
funktionale
Transformation
durch
die
entsprechenden
szenografischen
Techniken
übernommen.
Es
geht
darum,
Dinge
in
Ereignisse
zu
verwandeln,
auf
die
ich
reagieren
kann,
ohne
sie
reflektieren
zu
müssen.
Dieser
sich
in
das
Delir
(Agonie)
rettende Logos charakterisiert den heutigen Agon einer in den unvermittelten Konsum übergehenden Produktion, einer Produktion, die gleichzeitig Konsum ist. Letztlich ist die Strategie der Opferkompensation, der Heilung auf gesellschaftlicher Ebene, mit einer Art Reset verbunden, durch den alle Dinge sich als verbündete Waffen gegen eine in mir selbstmörderische Natur aus mir heraus als mein Anderes für Andere im Lichte dieser widerstreitenden anderen Auffassung paralysiert werden. Der Effekt der Agonie der Produktion ist die Paralyse.
6
Insbesondere Erika Fischer-Lichte weist darauf hin, dass das Aufführen etwas anderes ist als das Darstellen. Die Aufführung verlangt die »leibliche Ko-präsenz von Akteuren und Zuschauern«, sie ist deshalb aber ebenso wenig wiederholbar wie der Akt der Darstellung. Es ist ja gerade der Aufführungscharakter und seine Inszeniertheit, die Wiederholungen entgegen der Irreversibilität der Zeit ermöglichen soll, und zwar im Austausch. Zeit wird in Handlung und Handel verwandelt und erreicht so einen Status der Reziprozität, verwandelt also kalendarische Zeit in soziale Zeit. Vgl. Erika Fischer-Lichte, »Theatralität und Inszenierung«, in: Erika FischerLichte, Christian Horn, Isabel Pflug, Matthias Warstat (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen und Basel 2007, S. 17.
Agon und Agonie
184
Der Agon ist weniger Wettkampf im sportlichen Sinne als vielmehr der motorische Versuch des ökonomischen Durchdrehens, der Dissoziation des Opfers, seine Verwesung. Er produziert das Delier und die Paralyse des Neurotikers, beides Opfervermeidungsstrategien, um nicht das zu kontaminieren, was rettet: den Anderen. Die Symptomatik ist eine Selbstverdinglichung, eine Selbsttechnisierung, die
den
perfiden
Wunsch
unterhält,
für
die
Gesellschaft
im
Symptom
das
Dilemma
ihrer
selbst
opferlos ausweisen zu wollen. Das Symptom ist Wissen, das darauf zielt, zu zeigen, ohne schuldig zu werden: deswegen der innere Zusammenhang zwischen Hysterie und Theater. Im Beisein Freuds zeigt Charcot am Theater der Hysteriker solche Szenen im Bühnenarrangement seiner Vorlesungen.7 Was muss man dem Kranken bieten: eine Bühne, auf der er die Agonie der menschlichen Opferabschaffung als Fiktion entlarvt, damit aber zugleich auch das Bühnen- und Inszenierungswesen als eine potenzierte Technik der Realitätsversicherung durch Simulation desavouiert: Die Attrappe der Handlungen vermittelt sich im therapeutischen Sprechen. 3. Die Szene als Ort der Selbstvermittlung vom Kompetenz und Performanz Wie der Titel »Agon und Agonie« anführt, geht es um die Erörterung einer Logik dessen, was Theatertherapie
im
Gegensatz
zur
rituellen
Theatralik
an
Krisenerkenntnis
und
Übersetzung
leisten
kann,
insbesondere
wenn
der
finale
Erlösungsgedanke
von
Therapie
auf
etwas
abzielt,
dessen
Unerreichbarkeit die innere Dramatik des Agons, des ›neurotischen Theaters‹, allererst ausmacht. Techniken der Körperbeherrschung sollen mit eben den Opferabschiebungsprämissen eingeführt werden, die in
Zweifel
zu
stellen
die
Symptomatik
darstellt?
Der
ambige
Gehalt
ist
in
der
komparatistischen
Setzung von Agon und Agonie angezeigt, was meint, dass es zwei Darstellungspole gibt: die der Agonie praktischer Situativitäten und die des Agon, was so viel wie »Widerstreit« oder »Wettkampf« meint, d. h. ein Spiel mit expliziten Regeln und expliziten Freiheiten, eine Aktion, die sich nicht autopoietisch durch
sich
selbst
erhält,
sondern
zur
Finalisierung
eines
sozialen
Konflikts
überhaupt
erst
angesetzt
wird. Dieser Widerstreit wird nicht durch Ermüdung oder Desinteresse beendet, sondern durch einen externen,
richterlichen
Eingriff,
durch
einen
Entscheid
der
Götter.
Unter
Agonie
versteht
man
neben
dem Überdrehen der Produktion die Ohnmacht oder die Lethargie einer Handlung, die Weigerung unter den paradoxen Verhältnissen überhaupt in ein Spiel zu geraten – was freilich eine Strategie der
Opfervermeidung
darstellt.
Es
sind
keine
Regeln
explizit,
die
das
Spiel
finalisieren.
Hier
sind
es
gerade also die externalisierenden Momente, die problematisch sind und abgewehrt werden müssen. Im extremen Fall wird das Spiel zur Sucht und muss sich in der Sucht an sich selbst erhalten und vernichten. Insofern sagt die Symptomatik der Agonie etwas über die Illusion aus, die Unterscheidung 7
Vgl. Durchgehend zu den Darstellungsformen des Unbewussten: Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Bern 1996.
Ralf Bohn
185
›Spiel‹
versus
›Ernst‹
respektive
wie
bei
Turner
›Arbeit‹
(d.
h.
P flicht/Opfer)8 und Muße als ontologische Kriterien anzusetzen. In der vielfachen Bedeutung des Wortes Spiel (game und play) muss beachtet werden, dass ›Spiel‹ eine Relationsbeziehung bezeichnet, die durch Übergänge (Transformation, Handel oder Produktion) gekennzeichnet ist. Besser wäre, nicht Spiel und Ernst gegenüberzustellen, sondern von einem externen oder impliziten Widerstand gegen die Widerständigkeit (Realität) von Arbeit
(finalisierter
Zeit)
und
Muße
(sozialisierter
Zeit)
zu
sprechen.
Die
Agonie
fragt
nach
dem
Gott
der Dinge, nach dem externen Bewusstsein (dem Uhrmachergott des Mittelalters) einer Kontinuität des Lebenslaufes, orientiert sich in der Strategie des Todesaufschubs, an einer Logik der Unsterblichkeit und Unendlichkeit. Agon meint im profanisierten Sinne dasjenige Spiel, dessen Aufgabe es ist, durch das Spiel performativ
die
Regeln
zu
finden,
die
es
stabilisieren,
also
eine
Vermittlung,
einen
sachgemäßen
Gebrauch
von den Dingen, Naturstoffen und -räumen zu erlauben. Dieses Spiel läuft zwar linear ab, kann sich aber zyklisch wiederholen.9 Dieses in sich Vermittelnde macht das Szenische der Szene aus. Sie präsentiert sich in relativ abgeschlossener Ökonomie, sowohl in zeitlicher (Inszenierung) als auch in
darstellender
Hinsicht
(Szenifikation).
Die
Szenifikation
bezeichnet
jenen
Modus,
in
dem
die
Situation für einen anderen (oder für den Neurotiker selbst) in ein vermittelndes Anderenverhältnis tritt: den Schmerz. Der Schmerz nimmt auf Seiten des Protagonisten oft die moderierte Form des Lampenfiebers
an.
Eine
wesentliche
Position
der
autoreferentiellen
Vermittlung
ist,
den
Schmerz
so
lange wie möglich als Widerstand für sich zu gewinnen, was der Agonie und vielen Neurosen ihren syndromischen Charakter verleiht. Der syndromische Charakter ist ein sowohl für das Spielen wie für motorische Techniken üblicher Wunsch, das Unendliche durch die Kraft der Wiederholung zu bannen und zugleich diese Wiederholung in die Modalitäten von Zeitlichkeit (Tauschprozesse, Ritualprozesse, Rhythmisierungen, Maschinisierung etc.) zu überführen und diese Zeit als sinnhaft zu verstehen. Die
narrativen
Formen
syndromischer
Szenik
sind
in
vielen
Choreografien
möglich,
die
von
einem
Apriori der Raum- und Zeitordnung träumen: das minoische Labyrinth, die Odyssee, Reise, Wanderung, Wettrennen, Taumel ... Solche Ordnungen zu etablieren ist insbesondere Aufgabe der Szenografien als funktionale, weniger symbolische Deutungsvorgaben respektive Kontextualisierungen. Es ist dieses Grafische
gerade
der
fingierte
Aspekt
am
Spiel,
zwischen
der
syndromischen
Agonie,
8
9
Siehe Victor Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 54–66. Turner stellt für die Industriegesellschaften das Verhältnis von »Muße« und »Arbeit« im Sinne der Ableitung pietistischer, individueller Verantwortung heraus und bezieht
sich
dabei
auf
Max
Weber.
Der
Pietist
kann
seinen
Glauben
nicht
mehr
per
Ritual,
sondern
nur
dadurch
ausweisen, dass er gottgemäß handelt, also gute Werke tut. Um das zu leisten, muss er sie aber einer anderen Ökonomie (der kapitalistischen Opferökonomie) entziehen. So etwa beim Karnevalszug oder bei der Kreuzwegpassion.
Agon und Agonie
186
der Ausweglosigkeit bis zur zielgerichteten Attacke die lineare und liminale Verengung und damit die Erhöhung des dramatischen Potentials zu balancieren, Deutungshandlungen vorschreiben und in ihren Effekten vorhersehen zu können, als Praxis, die uns immer schon voraus ist. Der Regisseur als Mantiker erlaubt es, die individuelle Deutungsinitiative mit den überindividuellen Bedeutungen zu vermitteln. In der Szene sind im Bühnen-, Raum- und Lichtarrangement ebenso natürlich syndromische
Techniken
möglich,
die
insgesamt
eine
szenografische
Kunstform
institutionalisieren,
die
die
Wiederholbarkeit
der
Ereignisse
und
Erlebnisse
in
gewissem
Grade,
wenigstens
auf
Höhe
der
Affekte und Effekte garantieren soll. Dieses ›klassische‹ Theater der Aufführungen, Begehungen und Verweisungen ist in seiner institutionalisierten bürgerlichen Form eine vergemeinschaftete Einrichtung zur Abwehr der ambigen Kräfte sich verfehlender Selbstautarkisierung: das gerettete, external bewahrte, kathartisch opfergereinigte Symptom, das Theater. Die Szene, sofern sie therapeutisches Heil wie Offenbarung des Unheilbaren und Unheiligen schon ist, ist das vergesellschaftete Symptom, das in einer Vergemeinschaftung die Durcharbeitung der komplementären Ambiguität erlaubt und somit den triadischen
Prozess
von
Erinnern,
Wiederholen,
Durcharbeiten
erfüllt.
Das
Heil
der
Szenifikation
beruht
darauf, vor der agonistischen, psychotischen Selbstabschließung zu bewahren, indem sie sich dem Blick des
anderen
notwendig
öffnet.
Das
Heil
einer
Szenografie
beruht
darauf,
die
Unendlichkeit
der
Opfermotorik
in
ein
fiktionales
Programm
zu
überführen,
das
die
Attrappe
seiner
eigenen
Realität
ist. Die Rettung im Fiktiven und die Technik der Ökologisierung, d. h. der Verwesung der Opfersubstanz, kann am Mythos des Marsyas abgelesen werden.10
In
ihm
geht
es
nicht
um
Gewalt
und
Mitleid,
sondern um die nüchterne Feststellung, dass in der sezierenden Kraft einer Technik, einer Therapie, eines
Graphismus
notwendig
die
Gesamtheit
der
lebendigen
Gestalt,
die
Organmembran
der
Haut,
szenisch-narrativ
wiederhergestellt
werden
muss.
Die
Krise
(Verlust
des
Grundes,
Verlust
der
Natur
und
Verlust
der
Einheit
des
Ichs/Gedächtnisses)
soll,
insbesondere
im
Bereich
szenografischer
Professionalität
(Szenografie
als
Dienstleistung),
gar
nicht
zur
Darstellung
kommen.
Die
Sezession
anatomischer, chirurgischer Wissenschaft (aber auch die Inszenierungen des Films als Montage in disparaten Räumen und Zeiten) durchkreuzt diesen Anspruch in der Fingierung der Krise. Darin erst wird die Dramatik lebendig. Es kann im eigentlichen (klassischen) Theater nicht darum gehen, externale Passagen zu dekorieren (das schafft die theatrale Architektur mit Treppe, Lobby, Loge und Vorhang etc.), sondern das zur Darstellung zu bringen, was sich nur in einem einheitlichen Raum und in einer 10
Marsyas, ursprünglich ein griechischer Flussgott, später Satyr, findet die Flöte der Athene und fordert nach Erlernen
des
Spiels
Apollon
zum
Wettkampf.
Apollon
gewinnt,
weil
er
dem
Kitharaspiel
noch
den
Gesang
hinzufügen kann. Der Satyr wird daraufhin an eine Fichte genagelt und ihm wird bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Der Sinn der Strafe wird mit der herausfordernden Verbindung von Kunst und Wettkampf in Zusammenhang gebracht, letztlich also mit der Fusion von Kompetenz und Performanz.
Ralf Bohn
187
einheitlichen
Zeit
fiktionalisieren
lässt,
das
Drama,
die
Krise.
Die
(Vivi-)Sektion
der
reproduzierenden
Medientechniken dagegen gibt immer einen Bezug zur konkreten Universalität in einer Designumhüllung (eben der Haut des Marsyas) vor. Die Designhüllen der Warenkörper sind nichts anderes als die unvermittelte Konfrontation von Anfang und Ende: Bombenhüllen. Was den komplexen technischen Dingen die Notwendigkeit des Designs ist, das ist dem Theater die Kulisse: Alle technische Kompetenz (und
die
Opfer
der
Produktivkräfte)
soll
zu
Gunsten
der
Performanz
der
Schauspieler
im
Bühnenhintergrund verborgen bleiben. Die Frage ist, was subkutan durch diese Umhüllungen notwendigerweise verborgen bleibt: die natürliche Einheit der Sinne, wie sie Marsyas im Agon mit Apollon repräsentiert? Denn auch der Mythos nimmt seinen Ausgangspunkt in einem Agon, also der Strategie, eine nicht zu vermittelnde Aporie natürlicher Einheit darzustellen. Der
Film
als
szenografischer
Antipode
des
Theaters
hat
eine
besondere
Form
des
Narzismus
kultiviert.
›Film
im
Film‹
ist
geradezu
ein
eigenständiges
Genre,
das
statt
der
Pseudonatur11 mit dem ›Pseudoleben‹ der Bilder in ihrer unlebendigen Sequenzierung zurückgreift. Denn das Inszenierte des Films ist immer
auf
zwei
Weisen
präsent:
einmal
real,
wenn
auch
oft
simulativ,
in
dem,
was
gefilmt
wird,
und
ein
zweites
Mal
in
der
Fiktion
einer
homogenen
Aufführung,
des
Kinos.
Simulierte
und
fiktive
Wirklichkeit stehen sich nicht in einem Möglichkeitsverhältnis gegenüber – auch wenn es gewiss ist, dass jede identische Vorführung eine unterschiedliche Rezeption hervorbringt, die etwa die Autoren der Nouvelle Vague dadurch bewiesen, dass sie sich mehrmals am Tag den gleichen Film ansahen. Der Film ist aufgrund seiner Pseudolebendigkeit grundsätzlich immer realistisch.12 Seine sezierende Elementarität vernichtet real das, was sie zu montieren vorgibt: Sie schafft perfekte allegorische Hüllen, ohne jedoch physiologisch zeigen zu können, dass jedes Einzelbild eine Totstellung bedeutet. Im Film Blow up von Antonioni (1966) wird gezeigt, dass der Film nicht in das Bild einzudringen vermag, ohne sich selbst zu zerstören. Der sezierende Logos ist versucht, sich in der Mediensimulation seiner Opfer 11
12
Helmut Dahmer hat diesen Begriff gebraucht, um die schon durch Schelling aufgeklärte Analyse des Naturbegriffs als einer ideologischen Phrase des Imaginären schlechthin zu kennzeichnen. Für die Psychoanalyse bedeutet das, dass auch die ›Heilung‹ sich von einer Natur der Normalität zu verabschieden hat, insofern der Ödipus-Komplex
vollständig
in
die
Kultur
der
Sachen
und
Dinge
übergegangen
ist.
Das
Geschlechtsverhältnis
ist eines von Maschinen und Produktionsmitteln, indem Vaterschaft sich im Umgang mit Maschinen und Psychoanalyse sich im Umgang mit der Marx’schen Ökonomie zu bewähren hat. Vgl. Helmut Dahmer, Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. André Bazin, Was ist Film?, Berlin 2009, S. 194–195: »Die Existenz von Märchenhaftem oder Phantastischem
im
Kino
beeinträchtigt
die
Behauptung
vom
Realismus
des
Bildes
keineswegs,
sie
ist
im
Gegenteil
der
überzeugendste Beweis dafür. Im Film basiert die Illusion nicht wie im Theater auf vom Publikum stillschweigend akzeptierten Konventionen, sondern auf dem unantastbaren Realismus dessen, was gezeigt wird.« – »Mit anderen Worten und negativ ausgedrückt: Der Film kann alle Wirklichkeiten aufnehmen – außer der leibhaftigen Präsenz des Schauspielers.« (S. 183).
Agon und Agonie
188
zu entledigen, und zwar als das, was er ist: als Horror einer unergründlichen Agonie, eines Zooms in das Bild hinein. Das funktionale Phänomen wird hier symbolisch: Jede Untersuchung der Kamera beginnt mit der Mutmaßung einer Leiche, einer Leiche, die sich durch die Sequentialisierung der Bilder
in
der
Zeit
verflüchtigt.
Antonioni
zeigt
in
der
Konstruktion
einer
Kriminalgeschichte,
wie
die
disparaten Ausweise der Dekontextualisierungen sich zwanghaft zu einem narrativen Faden weben lassen:
Das
Leben
ist
die
Geschichte,
der
Nachruf,
den
zu
Lebzeiten
niemand
resümieren
kann.
Der
Spielfilm
bildet
ein
komplexes
Ritual
aus,
an
dessen
Ende
die
Artikulation
einer
Reflexivität
sowohl
ausdrücklich als auch unausdrücklich bleibt.13
Das Problem der Theatertherapie ist nicht Therapie vom vivisezierenden Logos und seinen rekombinatorischen Lebenssimulationen der (Medienprogrammier-)Technik, sondern die Therapie davon, dass zwischen Theatertherapie und Therapietheater nicht unterschieden wird. Wer heilt die größeren Massen: das Kino oder die Psychoanalyse? Der 1958 gedrehte Film Peeping Tom von Michael Powell expliziert mit Hinweis auf Ethnopsychologie und empirische Verhaltenstherapie die verzweifelte Form einer Pathologie, den Aufstand eines quasiwissenschaftlichen Voyeurismus, in dem das Publikum mit den Mitteln des Horrors sich an Stelle des Helden opfern soll, in einem als tödlich inszenierten Spiel. Das Publikum des Films bekommt demonstriert, wie es seines eigenen Todes, seiner eigenen Entzauberung der Kultur und Zivilisation ansichtig werden kann, den die Kamera zugleich simuliert wie dissimuliert. 13
Im Spielfilm als rituellem Objekt bildet die Untersuchung oder die Kriminalgeschichte, abstrakt der Voyeurismus der Kamera, den Rahmen für die Bewältigung einer intrinsischen Krise, nämlich im Ritual Zuschauer und Akteur zugleich zu sein. »Denn sowohl gerichtliche als auch rituelle Verfahren tragen dazu bei, daß aus den nackten Tatsachen, der rein empirischen Koexistenz von Erlebnissen, Geschichten entstehen, und versuchen, die eine bestimmte Situation integrierenden Faktoren zu beeinflussen. Man erfaßt die Bedeutung, indem man auf einen zeitlichen Ablauf zurückblickt.« Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 121.
Ralf Bohn
189
Das
Gezerre
dieses
Zugleichs,
also
das
Verhindern
einer
technischen
Lösung
oder
einer
Todesselbstansicht
ist
das,
was
als
vermittelnde
Lösungsfigur
der
Ökonomie
der
Technik
widerspricht:
Ihr
gradliniger
Realitätszwang, die Eliminierung von Möglichkeitsperspektive, ihr Telos soll verhindern, worum der Hysteriker alter Schule sich noch gekümmert hat: sich selbst in seiner Selbstansicht zu zeigen. Vor allem im
Gebrauch
diverser
Spiegeltechniken
(entsprechend
den
hysterischen
Konvulsionen)
und
Inszenierungen des blinden Flecks der Kamera macht Powell einsichtig, wie die Kamera das tote Objekt ist, das es zu animieren gilt. Ein sezierend-voyeuristischer Kameramann (Karlheinz Böhm) hält seinen Opfern einen
Spiegel
vor,
während
er
sie
ersticht
und
filmt,
um
die
Selbsterfahrung
des
Todes
dem
anderen
zu
entreißen. Nun ist das ja das, was der Film immer schon macht: das Lebendige zu töten, um es ihm als seine Lebendigkeit, eine Pseudolebendigkeit zeigen zu können.
Die
finale
Selbsttötung
in
Peeping Tom zeigt die paranoische Zuspitzung des Wahns der Identität von Publikum und Akteur als Ausdruck einer Ungeduld gegenüber der Regel, dass die Finalisierung des Spiels, das heißt die Krise der Individualität, unendlich aufgeschoben werden muss: aufgeschoben und bewahrt zugleich. Die Selbsttötung ist in Peeping Tom nicht ein banaler Akt, sondern erfolgt als eine Reihe lang geplanter, wissenschaftlich ausgewiesener Experimente, die im Milieu eines Filmstudios spielen, an deren Etappen das Produktionsgeheimnis einer Vision autopoietischer ›Todesanimation‹ geopfert wird: Als Aneignungsbegehren (Kompetenz) des Mannes begleiten Frauenleichen den Weg dieses performativen Produktionsneides. Peeping Tom zeigt somit präzise, wie ein Agon sich durch seine ›Verwissenschaftlichung‹, die zugleich immer eine Entindividualisierung ist, in eine Agonie verrennt. Dass die sezierende Bestimmung der Differenz von Wirklichkeit und Theater nicht mehr so einfach ist, seit Fiktionen technisch beliebig inszeniert, simuliert und modelliert werden können und seit
190
Agon und Agonie
das Theater die Rampe überschritten oder aufgelöst hat, verdeutlicht etwa auch der Film Sein oder Nicht-Sein
(USA,
Regie:
Ernst
Lubitsch,
1942).
In
dieser
Tragikomödie
wird
das
szenografische
Theater
der
Nazis
mit
dem
Inszenierungstheater
des
Theaters
in
unauflösliche
Beziehung
gebracht,
sodass
man
innerhalb
des
Spiels
auf
mehreren
szenifikatorisch
verschachtelten
Ebenen
zwischen
Situation
und Spiel nicht mehr zu unterscheiden vermag: Jedenfalls können es die Nazis nicht, weil ihr Spiel nur in der Variante von Tod oder Leben, das der Theatertruppe aber in vielfältigen Varianten gespielt und inszeniert werden kann. Lubitsch zeigt, dass die Theaterlogik nicht zweiwertig ist (Spiel und Wirklichkeit), sondern mehrwertig, und dass die grundlegende Differenz von Szene und Situation vom Kontext und von den Deutungsvorgaben der Inszenierungstechniken, nicht aber von den Konventionen
der
Bedeutungen
abhängt,
ja
dass
Szenografien
nichts
anderes
sind
als
programmatische
Techniken zur Initiation individuierter Deutungen angesichts eines fehlenden Parameters ›Natur‹ oder ›Welt‹. Dabei geht es im Theater gerade darum, den Sinn in einer Folge von Handlungen zu verstehen, indem
man
von
den
Bedeutungen
absieht
und
sie
in
allgemeinen
(dramatischen)
Situationen
auflöst.
Der Film muss diesen theatralen Schematisierungen aus dem Wege gehen, sich vollständig in die Individualität
des
Szenischen
auflösen.
Anders
gesagt,
das
Theater
lebt
von
Situationen,
der
Film
von
Szenifikationen.
Sinn
heißt
dabei,
den
Bedeutungen
misstrauen
zu
können.
Individuell
motivierter
Sinn ist in diesem Fall strikt von (konventionalisierter) Bedeutung zu unterscheiden. In dieser Hinsicht spielt die Therapie stets mit dem Sinn, nicht mit den Bedeutungen: Sie geht von der konkreten Szene aus, um von dort aus die schematischen, zwanghaften Situationen aufzuklären.
Ralf Bohn
191
4. Opfertechniken Die Kunst des Inszenierens besteht darin, aus einem agonalen System den Finalisierungsdruck ebenso herauszunehmen wie den eines Ursprungsnachvollzuges. Der Ausweis von ›Inszeniertheit‹ kann nur in der Unterstellung eines Deutungsanspruchs eines anderen begründet sein, setzt also voraus, dass man sich darauf vorverständigt, dass eine jede Bedeutung eine Vorverständigung benötigt, ein Vorurteil, dessen Revision nachträglich ein Urteil motiviert. Wenn eine Dramaturgie des (klassischen) Theaters die menschlichen Probleme als schicksalhaft und opferbesetzt zeigen kann, dann ist eben dieses Zeigen eine Technik der Transzendierung ihrer selbst: Sie ist stets nur Weltdeutung, und zwar genau in dem Moment, wie sie szenische Welten entwirft, nicht Produktion im Sinne der Verdinglichung. Daran anschließend, im gleichen systemischen Duktus, verweist die Theatertherapie auf den unendlichen Sinn im endlichen Spiel als immanenter Technik – wobei das Technische der Technik im Stellen14 (Heidegger), genauer in der Begegnung der dynamischen Verweisungen des Pseudolebendigen als offene Mitte besteht. Mit ›Stellen‹ ist eine begegnende Gegenüberstellung
(passager)
gemeint,
die
als
szenisches
›Bild‹
imponiert.
Heidegger
sieht
in
dieser ›Stellung‹ alle diejenigen Techniken begründet, die, wie das Bild, das Imaginäre als lebendige Zeit opfern. Theatertherapie nimmt das Spiel zwischen Agon und Agonistik als Wahrheit der menschlichen Sinnökonomie in eine Spiegelsituation auf, sodass die Frage nach dem Opfer im mehrfachen Hegelschen Wortsinne ›aufgehoben‹ und invertiert wird. Es geht ihr darum, zu zeigen, dass z. B. die Vergangenheit nicht in jeder Repräsentanz als geopferte vor-›gestellt‹ werden muss, sondern dass in ihrer Repräsentation erst die Erfüllung des je situativen Momentes erfolgt, der in ihr gar nicht reflektiert
worden
war.
Das
Theater
ist
ja
schon
eine
therapeutische
Form,
nämlich
die
der
Gedächtnissicherung durch Verdinglichung. Nicht ›Ernst‹ und ›Spiel‹ stehen sich gegenüber, sondern an beiden radikalen Enden, dem Agon und der Agonie, droht ein universelles Spiel der menschlichen Unbestimmtheit in seine Verdinglichung zu zerfallen, um sogleich die Verdinglichung als technische Realität erneut zu animieren – will sagen: Die Ökonomie des dynamischen Prozesses und die Überdehnung
des
szenischen
Raums
will
sich
in
der
Inflation
der
Szenografien
und
Inszenierungsausweise progressiv und regressiv zu halten versuchen: Zu viele Wahrnehmungsdaten stehen zu wenig
Geschichten
gegenüber,
sodass
jede
Geschichte
als
eine
Rettung
verstanden
werden
muss.
14
Vgl.
Norbert
Bolz,
der
sich
der
Bestimmung
des
Heideggerschen
›Gestells‹
als
dem
Realisierungszwang
der
Technik widmet. Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012, S. 22: »Heidegger spricht von ›stellen‹ im Sinne von ›herausfordern‹. Moderne Technik ist nicht mehr das Hervorbringen, Herstellen und Darstellen im Sinne des griechischen
Grundworts
›poiesis‹.
Während
die
Poiesis
die
Welt
noch
hervorkommen
ließ
und
hervorbrachte,
fordert
das
Gestell
sie
nur
noch
heraus.«
Die
Herausforderung
geschieht
im
Sinne
eines
Agons,
eines
Wettkampfes.
Agon und Agonie
192
Theatertherapie
hätte
im
Gegenzug
nachträglich
über
die
Theatralität
der
technischen
Praxis
Aufklärung
zu
geben.
Das
macht
sie
definitiv
nicht,
im
Gegenteil,
sie
stellt
fälschlicherweise
das
Theater
als einen anthropologischen Ausweis menschlicher Natur fest. Es ist angesagt, die Opferökonomien im Agon zu vergleichen. Dazu ist zu zeigen, dass das Theater Ausdrucksform
der
Vermeidung
einer
bestimmten
Opferoffenbarung
der
Produktion
der
Gesellschaft
( genitivus subjectivus und objectivus) ist. Ihre Erinnerung setzt an der Ursprungslegende des griechischen Theaters an, die nur als nachträgliche konstituiert werden kann. Die Pointe der Überlegungen ist die, ob es
in
der
Theatertherapie
nicht
um
die
Refiktionalisierung
der
Opfersubstanz
dessen
geht,
was
an
Leben
nach der Zerstückelung des Marsyas bleibt: die projektiven Membranhäute, das Bilderwesen. Es ist die Ambivalenz des Symptoms – Schmerz (Opfer) und Aufklärung (Opfervermittlung) zugleich zu sein, die man mit Hilfe eines theatralen Arrangements, eines therapeutischen Settings offenbart, eines Settings, das
der
Rückerinnerung,
eben
einer
Durcharbeitung
jener
Wahrnehmungen
sich
verpflichtet,
die
sich
als
unvermittelt, schockhaft erweisen. Nur was vermittelt war, lässt sich vermitteln. Zur Erinnerung ist erstens
auf
die
Gegenstands-
und
Begriffsgeschichte
des
Agons
einzugehen,
zweitens sind die Opfer und Opferverschiebungen zu präzisieren und drittens ist an einem Beispiel über die möglichen Orte der Nichtinszenierung (Situativitäten) zu sprechen, dort wo einem die Nähe dessen, was einem zustößt, das Symptom, dazu verführt, die ganze Agonistik der Ableitung in einem medizinisch-therapeutischen Kausalitätsdiskurs zunichte zu machen, indem man die Erzählungen als Kausalitäten
in
das
agonale
Spiel
der
Fürsorge
und
der
Objektivität
einer
Gesundheit
einbindet.
Dieser letzte Punkt läuft auf die Frage hinaus, ob das Symptom einen Menschen als schicksalhaftes Ereignis zufällig befällt oder ob das Symptom eine Darstellungstechnik der Abwehr der List des Zufalls ist als dem Überbieten der Technik. Technik selbst wäre als Realisierung das Negat zur ›Sorge‹15: die 15
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, § 39–42. Heidegger knüpft das Problem der Sorge als Herausforderung an die Welt als ganze, also an die freie Möglichkeit (ebd., S. 188), womit die Theatralität der Angst als ursprünglichster Form der Bannung der Möglichkeit von Welt im ›Theater‹ als Selbstentwurf einer relativen Freiheit aufscheint. Heidegger gibt zur vorontologischen Bestimmung der Sorge eine seltene szenische Konkretion des Begriffs, indem er den Streit der ›Sorge‹, die ein Wesen aus Ton formte, mit Jupiter um den Namen dieses
Wesens
am
Mythos
orientiert.
(Ebd.,
S.
197–198:
»Du
Jupiter,
weil
du
den
Geist
gegeben
hast,
sollst
bei
seinem
Tode
den
Geist,
du,
Erde,
weil
du
den
Körper
geschenkt
hast,
sollst
den
Körper
empfangen.
Weil
aber
die ›Sorge‹ dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die ›Sorge‹ es besitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es ›homo‹ heißen, da es aus humus [Erde] gemacht ist.« Heidegger erklärt die Bestimmung der Sorge unter dem Urteilsspruch der menschlichen Zeit in Form des saturnalischen Richteramtes,
ist
doch
Saturn
der
Gott
der
Zeit.
Der
in
der
Sorge
fundierte
Agon
zeigt
sich
in
der
Bestimmung
einer
›wirklichen‹ Realität bei Heidegger. (ebd., S. 209) Als Widerstand fordert sie die Sorge heraus. Mit Widerständigkeit ist
das
» Gestell«
gegen
die
Dynamik
des
Zeitmodals
gesetzt.
Es
geht
Heidegger
also
um
eine
Verknüpfung
von
Ralf Bohn
193
Angst vor dem Zufall. Überall dort, wo Hilfe ist, muss auch Krise sein. Der Zufall oder das Schicksal sind nur andere Worte für die Ambivalenz der Freiheit. Die höhere List des Symptoms gegenüber der List der Technik besteht darin, das Drängen und die voreilige Bedrängnis der Technik zur Realisierung als inkonsequent auszugeben. Das Symptom als Designäquivalent verschwindet in der Regel nicht durch den zauberischen Zuspruch der Technik. Was nichts anderes heißt, als dass es die Bedrängnis des Symptoms ist – Sorge und Angst gehen bei Heidegger Hand in Hand –, die den Klienten den Therapeuten aufzusuchen zwingt, in dem Moment, wo sich seine Überlegenheit in der ohnmächtigen Sinnsuche keines anderen Publikums versichern kann.16 5. Kurzgeschichte des Agon In einem Brief vom 18.1.1924 macht Florens Christian Rang Walter Benjamin auf die Bedeutung des Agon für die Vorgeschichte der Saturnalien aufmerksam. Benjamin geht es um die Auslegung eines religiös
motivierten
Opferrituals,
das
als
Vorform
des
griechischen
Theaters
identifiziert
werden
soll.
Zwei Tage nach Erhalt des Briefes von Rang antwortet Benjamin ihm: »Es ist nämlich für mich sehr wichtig, zu erfahren, welche Belege für eine Herleitung der Tragödie aus dem Agon außer dem Wort Protagonist sich angeben ließen, und auch ob die Deutung jenes Wortes für den Schauspieler in Deinem Sinne sichergestellt ist. Damit hängt die weitere Frage zusammen, ob der Opferaltar im Mittelpunkt der antiken Bühne, sowie ein altes Lösungsritual des Entlaufens und um den Altar Herumlaufens wissenschaftlich kurrente Fakten sind ...«.17 Benjamin fragt nach den historischen Legitimitäten des westlichen Theaters, ausgehend vom Opferritual innerhalb seiner Herleitung der barocken Tragödientheorie.18 Rang hatte ihm den Sachverhalt folgendermaßen geschildert. »Agon kommt von Totenopfer. Der zu Opfernde darf entlaufen, wenn er schnell genug. Seitdem über blasse Angst vor dem Toten, der den Überlebenden als Opfer heischte, der
Glaube
wieder
siegte,
daß
der
Tote
liebend
segne.«19 Im Agon kommt nicht zuerst der Streit mit dem
strafenden
Gott,
sondern
der
Seelenspiegel
des
Wettkampfs
zwischen
einem
guten
und
einem
16
17 18 19
Sorge, Vorsorge und Technik als neuer Zeitfigur von Realität. Das Problem der zauberischen Medikamentation, deren Fortschritte ungeheuerlich sind, ist, dass sie als Wirkungsgeschichte völlig unvermittelt bleibt. Medikamentation kann keine szenisch-agonale Durcharbeitung leisten, die z. B. Theatertherapie verspricht, das macht, neben den szenifikatorischen Placebo-Effekten, Medikamentation zu einem technischen Akt. Walter Benjamin, Briefe 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 332; Brief vom 20.1.1924. Zu den Produktionsproblemen Benjamins mit seiner abgewiesenen Habilitationschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels vgl. Ralf Bohn, Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005. Benjamin, Briefe 1, S. 333: Agon und Theater (Aus dem Tagebuch von Florens Christian Rang).
Agon und Agonie
194
bösen
Gott
zum
Ausdruck.
Der
zeremonielle,
nicht
mehr
rituelle
Sieg
des
Läufers
im
Gymnasion,
später im rhetorischen Wettstreit der Arena des Theaters, erstreitet dort durch Sport (Körpereinsatz und -präsenz), hier durch Wettreden die Zeit, in der der eine
Gott
in
seine
Hälften
zerfällt.
Aus
dieser
Idee
ist die Ambivalenz der Technik als Zivilisation und Kultur respektive als Arbeit und Muße (oder ›Ernst‹ und
›Spiel‹)
abzuleiten.
Der
Zerfall
des
Göttlichen
versinnbildlicht
ein
Fortschrittsbewusstsein,
das
sich
im
nietzscheanischen
Sinn
einer
»ewigen
Wiederkehr«
als
Gottmaschine
manipulieren
lassen
soll.
Diese
Maschine wird zunächst nur im theatrum machinarum realisiert und im Barock – so dürfte Benjamin seine Fragestellung intendieren, als theatrum mundi – katholisch als unum versum – einen gütigen Gott
(Natur)
fiktionalisieren,
so
wie
er
ab
der
Spätgotik
in
den
Apsiden
auf
den
Altar
herunterblickt.
Dieser Kurzschluss von Agon, Theater und Maschine sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Theaterbegriff
zunächst
auf
die
Idee
der
Darstellbarkeit
Gottes
(oder
des
Göttlichen)
hin
figuriert.
Das
wahre
Gute
wird
mit
dem
Ästhetischen
identifiziert.
Aus
der
historischen
Geschichte
wird
eine
archäologische20, oder, mit Hinblick auf Nietzsche, eine philologische. Was gut ist, muss an Handlungen, was schön
ist,
an
Sinnlichkeit
erwiesen
werden.
Die
Idee
des
Theaters,
dass
das
Gute
auch
das
Schöne
ist,
streicht schlicht die hermeneutische Differenz von Texturen ein, die im Theater nicht mehr gelesen, sondern erkannt werden sollen. Seit Maschinen wegen ihrer Komplexität sich unter Design verbergen müssen – und das ist zu Zeiten des Eisenbaus noch nicht der Fall, übernehmen Medien den göttlichen Vermittlungsversuch.
Die
Medien
sind
nun
die
guten
Götter:
gut
und
schön
–
aber
nicht
mehr
wahr. Jener alte Rachgott, der deus absconditus,
der
die
Welt
unsichtbar
als
agonal
defizitäre,
weil
launisch
schicksalhafte Willkür rationiert und blind straft, war seit Moses und Aaron schon nicht mehr Herr im eigenen Haus, sondern Partner, mit dem Verträge geschlossen und Designmöglichkeiten erörtert werden.21
An
ihn
war
jedes
Opfer
eine
Herausforderung
an
die
Gerechtigkeit.
Der
gute
Gott
aber
war
nun nicht mehr frei genug, um der Herausforderung sich gewachsen zu zeigen, die der Mensch mit seinem Selbstopfer als vernünftige ›Maschine‹ aufs Spiel setzte. Töte uns in deinem Zorn – das ist das Angebot,
das
Moses
macht.
Kein
Gott
kann
dieses
Angebot
annehmen.
Zum
Schein
und
Spiel
ließen
das griechische Theater und die orakelnde Priesterkaste auf seine Ordnung sich noch ein und gaben ihm,
dem
demaskierten
Gott,
dem
Ideal
des
Über-Ichs
(letztlich
also
dem
Artefakt)
die
Chance,
der
Menschen
Opfer
anzuerkennen.
Die
Griechen
als
Bürger
waren
so
frei,
weil
sie
den
göttlichen
Vertrag
sich
demokratisch
selbst
gaben
–
so
viele
Götter
sich
ihrer
auch
bemühten.22 20
Vgl. Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek 2002,
S.
16-17:
»Medien
sind
Handlungsräume
für
gebaute
Versuche
der
Verbindung
von
Getrenntem.
Es
gab
Zeiträume, in denen diese Verbindungsarbeit besonders intensiv war und sein musste, unter anderem um das Verrücktwerden der Leute zu verhindern.« 21 Siehe Exodus, Kap. 32. 22
Auch
hier
ist
der
Gründungsmythos
einem
Agon
mit
den
Göttern
abgerungen.
Vgl.
Ralf
Bohn,
»Paris,
Ruhr.
Ralf Bohn
195
Die Architektur des Theaters, in der der göttliche Vertrag auf dem Spielplan stand, ist abgeleitet von der ovalen Laufbahn: sie wird durch die Scena entzwei geschnitten, als Halbheit des göttlichen Runds. Das Drama zeigt so den Schicksalslauf des Menschen, verbunden durch das Medium des Chors. Der Chor
muss
einigen,
was
in
der
historischen
Tradition
des
Theaters
sublimiert
wird,
die
Gabe
der
halbierten
Gottmenschlichkeit,
der
weiß
bemalten,
aus
dem
Tode
zurückgekehrten
Protagonisten.
In
der
jüdischen
Gottesvorstellung
–
die
halbierte
und
duplizierte
Gesetzestafeln
(Gottesmembranen)
und Bruderkämpfe erduldet (die Agonie des Aaron) – wird ersichtlich, dass nur dasjenige geopfert werden kann, was zu der Hin- und Herbewegung des Agons in einer universalen Frontalität Stellung bezieht. Es geht um den narrativen Faden, aber ebenso um die Linearität der Kausalitätsbeziehungen als einer Zwangsbewegung, die göttliche Separationen ausschließt. Erinnern wir uns daran, dass die ursprünglich runde Bühne des frühen griechischen Theaters erst in der Scena des römischen Theaters real
halbiert
wird,
aus
akustischen
Gründen,
aus
solchen
der
bildhaften
Aufführung
und
aus
denen,
die
mit
der
Einführung
eines
autarken
Rechtssystems
und
eines
Geschichtsbewusstseins
einhergehen,
das
die
Griechen
so
nicht
gekannt
haben,
und
dem
Gedächtnis
eine
trennende
Funktion
(Abspaltung der Vergangenheit) verleiht. All das führt dazu, die schicksalhafte Kraft der Naturgottheiten zivilisatorisch zu entzaubern, ohne dass das Prinzip einer Humanisierung der technischen Listigkeiten durch ein inszenatorisches Design aufgegeben werden muss und so die bedingungslose Anerkennung des
Technikgottes,
eines
Gottes
der
logischen
Vertragstreue,
sich
als
ethische
Form
der
Ästhetik
bestätigen kann. In
der
mosaischen
Prosa
folgt
aus
dem
Regulativ
der
Gesetze
noch
hinterrücks
der
Tanz
ums
Goldene
Kalb.
Techniken
der
Ordnung
und
solche
des
Deliers
(Agonie)
in
Gestalt
eines
apollinisch-dionysischen
Ensembles
führen
im
alttestamentarischen
Mythos
zur
Herstellung
all
jener
Gadgets,
mit
denen
die
technikgläubigen Verbindungen zum Weltingenieur gefestigt werden.23 Im Kreislauf des Zeremoniells wird diejenige Einheit inszenatorisch einem Maschinenrhythmus unterstellt, die im verlorenen Ritual, das
zum
Theater
geworden
ist,
die
Gestalt
einer
zirkulären
Einheit
beschwören
will. Ob
man
im
Kreis
der
Dauerpräsenz
alles
Vergangenen
und
Gegenwärtigen
läuft
oder
ein
Ziel
verfolgt,
in
universaler
Allgegenwart
sich
mimetisch
dem
einen
ambivalenten
Gott
anbiedert,
das
zeichnet
den Unterschied von ritueller und technischer Marschrichtung aus. Es handelt sich dabei aber eben nicht um einen Fortschrittsaspekt (vom Mythos zum Logos), sondern um einen der arbeitsteiligen
23
Zur geschichtsliterarischen Inszenierung von Urbanität«, in: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.), Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis, Bielefeld 2012. Vgl. Exodus,
Kap.
35–39.
In
diesen
Kapitel
wird
sowohl
das
liturgische
Gerät
als
auch
die
Performance
seines
Gebrauchs
vorgegeben.
196
Agon und Agonie
Ökonomie. Als Zwischenform etabliert sich aus dem Theater eine Technik der Rede, die dialektische Argumentation. Diese kann als eine Art therapeutischer Vermittlung zwischen dem unendlichen Kreislauf und der Bewegung zum Ziel (Realisierungs- bzw. Verdinglichungszwang) angesehen werden.
Die
Fragen
der
Gerechtigkeit
und
des
Opfers
sind
damit
unweigerlich
an
den
Lauf
des
Lebens24 wie
an
den
sachgerechten
Umgang
mit
den
Dingen
gebunden.
Als
Hexis
einer
Grundschuld
von
Gott
und
Mensch
kann
der
Lauf
im
Buch
der
Geschichte
verrechnet
werden:
Das
Gedächtnis
zu
verlieren
heißt, sich selbst nicht mehr gebrauchen zu können und damit jene äußere theatrale Spaltung im Inneren nachzuvollziehen. Dieser fundamentalneurotischen Aufrechnung wird das Christentum mit seiner Entschuldungspolitik der Verdinglichung (Devotionalienkult) gerecht. Der entschuldete Körper ist
nicht
länger
göttlich,
er
wird
Gegenstand
einer
anatomischen
Bewunderung,
spätestens
mit
La
Mettrie25 eine Maschine, deren Handlungen und Bewegungen im Fortschrittssinne Einheit erzeugen. Im Briefwechsel zwischen Rang und Benjamin gibt es weitere Indizien zum Verständnis des Agons, die darauf hinauslaufen, eine Brücke zwischen den psychischen und den sozialen Diskursfeldern zu schlagen,
das
Problem
der
Initiation
einer
Gruppe
zu
thematisieren
und
den
Sinn
der
Inszenierung
einer Aufführung zu erfassen, die, obwohl auf Wiederholbarkeit angelegt, sich der Reproduktion entzieht,
weil
in
ihr
die
Universalität
des
Göttlichen
als
des
Menschlichen,
der
Kompetenz
und
der
Performanz
gedacht
werden
muss.
Gerade
der
Universalitätsausweis
von
Präsenz
macht
es
notwendig,
dem
Ereignis
eine
prätendierte,
also
szenografische
Aufmerksamkeit
zu
widmen,
um
die
Einmaligkeit
im
kommenden
künstlichen
Ereignis
zu
würdigen.
Szenografisch
heißt,
Wiederholbarkeit
im
technisch/maschinellen
Graphismus,
der
Partitur,
der
Choreografie,
dem
Libretto
zu
sichern,
d.
h.
dem Zufall keine Chance lassen. Die theatrale Form erprobt Figuren des Übergangs von zirkularen und linearen Bewegungen, ›performiert‹ die funktional gleichzeitigen Operationen und Programme zwischen Selbstverhältnis und Regelverhältnis in der Zeit. Die Frage nach dem Sinn läuft bei Benjamin und Rang nicht auf eine Einheit des Ereignisses, sondern auf eine Einheit des Erlebnisses hinaus, in dessen Folge der göttliche Sinnfunken die Universalität erfasst: ein Effekt individueller Differenzierung in sprachlicher Vergemeinschaftung: individuierte Allgemeinheit.26 Denn über die gleiche Sache auf unterschiedliche Weise zu sprechen erlaubt erst ein identisch erlebtes,
einmaliges
Ereignis
und
bannt
den
Zufall
in
einem
Moment
geteilter
Freiheit.
Aus
diesem
Grunde
24 Vgl. Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a. M., Leipzig 1999. 25 Julien Offray de La Mettries Buch L’Homme Machine (Der Mensch eine Maschine) erscheint 1747. 26
Der
Begriff
des
›individuellen
Allgemeinen‹
geht
auf
die
Frühromantiker
zurück
und
ist
die
Grundlage
für
die
Idee des hermeneutischen Tauschortes, aufgenommen insbesondere von Sartre und von Manfred Frank in: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1977.
Ralf Bohn
197
bieten sich Medien als Reversionen von Maschinen an und sichern so das Unendliche im Endlichen. Aus diesem
Grunde
tritt
die
situativ
agonische
Sprache
im
Drama
und
im
priesterlichen
Zusammenhang
aus
sich
selbst
heraus
und
wird
programmatisch
Poetik.
Erst
mit
der
christlichen
Geschichtlichkeit
eines
abwesenden
Gottes
gewinnt
der
Abbildcharakter
als
Anwesenheitsausweis
verstärkt
Bedeutung,
Hermeneutik gerinnt in Dogmatik: Das Zeichen oder das Symbol erweist sich so als Miniaturmaschine und wird zur
Erklärung
Gottes
geheiligt.
Erst
das
spätaufklärerische
Bewusstsein
von
der
Hierarchisierung
der
Klassen
und
damit
die
Ungerechtigkeit
der
Stellung
der
Mitglieder
einer
Gruppe
zeigt
die
Ungerechtigkeit
der
Präsenz,
der
Teilhabe
am
Erlebnis.
Genau
diese
ursprüngliche
Erlebnis-
und
damit
Sinnstiftung
als Individuation des Allgemeinen kann in der Theatertherapie als angemessener Medientherapie im Gegensatz
zur
klassischen
psychoanalytischen
Gott-Mensch-Dualität
gruppentherapeutisch erfahren werden. Wenn man so will, hat die klassische psychoanalytische Therapie Freuds eine griechisch-duale, die Theatertherapie eine demokratisch szenische, d. h. politische Agonistik vor Augen. Die nicht sehr komplizierte Logik der Raumorientierung vom Zirkularen zum Sezierten und Linearen, die Opferteilung, ist notwendig einzuführen, um Spielhierarchien in den Blick zu nehmen, aufgrund derer eine Unterscheidung zwischen ›sozial-wirklicher‹ und ›therapeutischer‹ Technik relevant werden kann. Rang hat einige Hinweise dazu in seiner »Historischen Psychologie des Karnevals«27 veröffentlicht. Therapeutisches Moment dort ist, wie man die komparatistische Not zwischen ›Spiel und Ernst‹, zwischen autistischer Vereinzelung und Vergesellschaftung durch eine geordnete Abfolge sozialer Praktiken
und
Riten
in
implizite
Gesetze
inszeniert
und
damit
die
Codifizierung,
die
Ritualisierung
als Legitimation von sich ereignender und tatsächlich erlebter Wirklichkeit vollzieht. Es liegt auf der Hand, dass in der fortgeschrittenen Mediengesellschaft mit ihren Simulakren nicht mehr die ›Wirklichkeit an sich‹, sondern nur die ›authentische Situation‹ als absolute Vergemeinschaftung und absolute Vereinzelung den Ausgangspunkt eines nicht kommunizierbaren Erlebnisses bildet. Im Übergang zu den Regeln, grob gesagt, von der situativen Ekstase zum regulativen Spiel, fallen Neurotiker als Opfer auf, da sie den Autorisierungen als jeweiligen Praktiken der Inszenierung von Macht misstrauen.
Macht
heißt
in
diesem
Falle:
Bezugnehmen
auf
Abwesenheit,
was
auch
Geistesabwesenheit
mit
einbezieht, also Ereignisse, die mir nicht als Erlebnisse zur Durcharbeitung zur Verfügung stehen. 27
Florens Christian Rang, Historische Psychologie des Karnevals, Berlin 1983, S. 23:»Das Rasen entbrannte in zeitlichen Zyklen; der Hohn auf Menschlichkeit brach sich als Karneval Bahn. Als babylonisch-trunkenes Lachen maskierter verkehrter Welt in Schalt-Prozession. Durch das Kalender-Loch der Unordnung brach der Triumphzug der Außerordentlichkeit.« Rangs Hinweis auf die Kalenderordnung entstammt dem nie zu Lebzeiten publizierten gleichnamigen Vortrag von 1909. Dass es sich bei agonischen Riten um Modifikationen (Rang spricht von »Mutationen«) sozialer Zeit handelt, in denen der Tausch durch Verausgabung konterkariert wird, bestätigt Marcel
Mauss
für
die
Momente
des
Gabentauschs.
Andere
Momente
dieser
Theorie
der
»außerordentlichen
Zeit« tauchen Ende der 30er Jahre auch bei Roger Callois auf (La Fete und L’Homme et le Sacré).
198
Agon und Agonie
6. Die Opferverschiebung Rang
leitet
seine
Überlegungen
von
den
saturnalisch-dionysischen
Ekstasen
ab,
die
im
späten
Gefolge babylonischer Religion auch in die römische Welt Einzug halten. Nach seinen Untersuchungen
hängt
das
Karnevalsfest
unmittelbar
mit
der
Disziplinierung
des
Laufs
der
Gestirne
und
deren
Übertragung auf kalendarische Ordnung zusammen, d. h. mit der agonalen Bannung vor allem der irregulären Planetenbewegungen und den daraus resultierenden astrologischen Schicksalsanalogien. Wenn nämlich die Planetenbewegungen schon nicht vorausberechnet werden können, aber gebannt werden sollen, müssen ihre Ekstasen, also die am Himmel zu beobachtenden epizyklischen Rückwärtsbewegungen, mit einer eigenen Zeitgestaltung versehen werden.28 Diese Zeitgestaltung ist zuerst astrologische Schicksalsmantik. So wird insbesondere die irreguläre Bewegung des Saturn als Saturnalien gefeiert.29
Daraus
erklärt
sich
die
Umsetzung
von
Körperchoreografie
in
Zeitfiguren.
Die Zeit des Festes bestätigt, dass das Inszenierungsprogramm solcher Irregularitäten als außerordentliche soziale Zeit verstanden werden muss, die nur am Rand etwas mit einem ›atmosphärischen Gefühl‹
zu
tun
hat,
in
Wirklichkeit
schon
einer
erkalteten
Vernunft
folgt.
Es
geht
nicht,
wie
die
Phänomenologen
der
Szenografie
behaupten,
um
eine
Raumstrategie,
sondern
um
eine
Zeitstrategie,
d.
h.
die
Übersetzbarkeit
von
Einbildungskraft
in
Handlung,
um
die
experimentelle
Auflösung
des
Sinns
von zielgerichteten Handlungen. ›Fest‹ meint nämlich Einheitsbezeugung und bannt so in der Einheit der Vielfalt die zufällige Vereinzelung. Im römischen Carnevale kommt es gleichsam zu einem Rollen28
Vgl.
Otto
von
Guericke,
Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum, Düsseldorf 1996. Schon
1670
wundert
sich
Otto
von
Guericke
über
die
Maschinentransmissionen,
mit
denen
die
Planetenbewegungen imaginiert wurden, um die Sonne als Zentrum der Himmelssphären retten zu können: »Zur Rettung, Verteidigung und Wahrung dieses [ptolemäischen, heliozentristischen; R.B.] Weltbildes war die Mehrzahl der Astronomen zusamt der ganzen Zunft der Scholastiker mit Bienenfleiß tätig, wie wir aus ihren Schriften und Büchern zur Theorie der Planetenbewegungen und des gestirnten Himmels des langen und breiten hervorgeht. Darin ist auch zu sehen, wieviel verschiedenartige Planetensphären, sowohl Hauptkreise für jeglichen Planeten wie Beikreise für jeden einzelnen besonders – an Zahl über 50 –, sie aufstellten, wie viele verschiedenen Zirkel, Örter, Epizykel, Deferenten, Linien, Zentren, Exzentren, Bewegungen usw. der Planeten sie gleichermaßen sich ausdachten.«
(S.
8)
Von
Guericke
verweist
auf
drei
konkrete
Kritikpunkte:
1.
Unzeitgemäßheit,
2.
Ä sthetische
Grotesken,
3.
Unberechenbarkeit.»Solche
und
zahlreiche
andere
ähnliche
Unzulänglichkeiten
dieses
Weltbildes zeigten klar genug seine Unzuverlässigkeit, Mißgestalt und Vernunftwidrigkeit …» (S. 9) 29 Vgl. Jörg Rüpke, Zeit und Fest. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, München 2006. Rüpke weist an etlichen römischen Kalenderreformen nach, dass es in der Platzierung der Feste oft weniger um rituelle Huldigungen der
Götter,
geschweige
denn
um
astronomische
Präzision
ging,
sondern
um
die
Verteilung
und
günstige
Ausbeutung von Arbeitstagen und Kreditablösungen, da Zinsen oft tageweise berechnet wurden, es um die Kreditierung sozialer Zeit und eine Auslöschung etwa von Schulden ging – so wie es in Frankreich üblich war, nach der Wahl eines neuen Präsidenten die Strafzettel für unbedeutende Verkehrsdelikte zu annullieren. Das Fest steht
in
direktem
Gegensatz
zum
Streit
und
zum
Verschulden,
indem
es
immer
kommunikatives
Einverständnis
und nicht Streit voraussetzt.
Ralf Bohn
199
tausch von Vernunft und Ekstase, in dessen Folge ganz vernünftige Leute sich bis heute orgiastisch verhalten
dürfen.
Im
Karneval
wird
relative
Gesetzlosigkeit
in
eine
regulative
Praxis
zurückübersetzt.
Das entspricht der virtuellen Rückwärtsbewegung des Saturn am Sternhimmel einerseits, andererseits aber dem Sinn der Mechanisierung und Maschinisierung, die schon bei Archimedes ihren frühen Höhepunkt hat. Es
sollte
im
Agon
des
Karnevals
so
viel
Gewalt
befreit
werden,
wie
sich
das
Jahr
über
aufstaut.
Die
weitere Behauptung Rangs, »durch das Kalender-Loch der Unordnung brach der Triumphzug des Dramas« sich Bahn (gemeint ist der Vierteltag zum Jahreszyklus, unser Schalttag),30 ist als Sprung, als Bockssprung
zu
verstehen,
in
dem
das
Individuum
in
ekstatischer
Verzückung
mit
der
Gemeinschaft
verschmilzt, damit Vernunft selbst als ein in der Gemeinschaft vorherrschender Sprung offenbar wird. D. h., die Vernunft, die lineare Einholung der Vergangenheit und deren kausale Fortschreibung in die Sorge
um
die
Zukunft
(und
die
Schicksalsbahnen
der
Planeten),
die
Expansion
ihres
Geltungsbereichs
als technischer Fortschritt, schafft die theatrale Lücke als Ventil, die sie für sich selbst als blinden Fleck exorziert. Das aber kann vernünftig nicht erfahren werden, sondern nur in einer Art contrepartie, einem Widerpart oder Widerstreit, der die Einlassstelle für die Ironie jeder szenische Dramatik darstellt. Man kann nicht darüber streiten, ob das Theater oder die Maschine zuerst von der Realisierung einer im Fiktiven gebannten Einheit kündet. Das Syndromische des karnevalesken Umzugs ist radikalisierte Vernunft. Baudrillard spricht von der »Agonie des Realen«31 und er meint damit eine Vernunft, die sich selbst als geschichtsenthoben nur durch ihre epizyklischen Rückfälle legitimieren kann:
Alle
Vernunft
dient
der
Abschaffung
von
Krankheit,
Krieg
und
Krise
und
somit
der
vollen
Geistesgegenwärtigkeit, nährt sich aber opferreich von der Vision einer paradiesischen anderen Zeit. Man kann, nimmt man Baudrillard ernst, der Wirklichkeit als der technisch durchgedrehten Vernunft nur noch Symptomstatus konzedieren. Der Neurotiker ist derjenige, der die Kulturverdeckungen entlarvt, 30 31
Rang, Historische Psychologie des Karnevals, S. 23. Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978. Baudrillard geht es darum, zu zeigen, dass die Realität mit einer Simulation identisch geworden ist, die entlarvt, dass es die Realität nie gegeben hat. Folgende Intervention im öffentlichen Raum ließe sich denken:»Ein Beispiel: es wäre interessant zu beobachten, ob der Repressionsapparat auf einen simulierten Raubüberfall weniger gewaltsam reagiert als auf einen realen. Ein realer Überfall bringt die Ordnung der Dinge, das Besitzrecht, ins Wanken, ein simulierter Überfall dagegen ist ein Attentat
auf
das
Realitätsprinzip
selbst.
Die
Überschreitung
und
die
Gewalt
sind
weniger
schwerwiegend,
denn
sie lehnen sich nur gegen die Verteilung (partage) des Realen auf. Die Simulation ist weitaus gefährlicher, denn sie
läßt
über
ihr
Objekt
hinaus
die
Annahme
zu,
die
Ordnung
und
das
Gesetz
könnten
selber
ebensogut
nur
Simulation sein.» (S. 37–38) In diesem Sinne wäre zu fragen, ob die Theatertherapie trotz ihrer Simulationen nicht gerade darauf aus ist, die Realitätsmächte, also die vorherrschende Inszenierung des Widerstandes als Sorge (Heidegger) wiederherzustellen, während die Symptomatik darstellt, dass eine solche Wiederherstellung sich nur einem Simulakrum unterwirft.
200
Agon und Agonie
deren drogierende Notwendigkeit er aber nur zu zeigen, nicht aber abzuschaffen wagt, um eben nicht selbst in die inzestuöse Falle zu laufen, die er im Symptom symbolisiert. Schon Freud hat in der Professionalisierung des Berufes von einer glücklichen Neurose gesprochen. Baudrillard zeigt in seiner Analyse, dass es eben nicht, wie Rang das untersucht, um anthropologische und historische Eroberungen und Zähmungen innerhalb einer fortschreitenden Zivilisierung des Menschen geht, sondern um eine Mikroanalyse des Aktes oder Satzes jeder Vernunftbehauptung, also um den situativ szenischen Übergang. Vielleicht war Heidegger der Erste, der die Rückständigkeit von Technik und ihre fortschreitende Pseudonaturierung verstanden hat. Was ergibt sich daraus für unsere Vorüberlegungen: Logisch gesehen stellt nicht die Theatertherapie den ökonomischen Saldo der Sozialisierung, der Heilung her, sondern sie spielt die neurotische Ekstase der Vernunft nach. Die Wahrheit liegt allemal auf Seiten der Neurotiker. Wenn diese nun durch die Therapie zu Opfern deklariert oder ihrer Opfersubstanz beraubt werden, dann unter der Ägide einer Vernunft, die sich als Realitätsprinzip ermächtigt. So gesehen treibt die Theatertherapeutik als Technik ein ambivalentes Spiel: Sie depotenziert die gegenständliche, physikalische Wirklichkeit zu Gunsten
einer
phantasmatischen
Besetzung
des
Spiels,
sie
verdeckt
andererseits
in
ihrer
Heilsvorstellung
den
Wahn
der
Techniken
als
Legitimationsfigur
ihrer
selbst.
Hieße
das
nicht,
einen
Konflikt
zwischen
den
öffentlichen
Szenografien
mit
ihrer
Retheatralisierung
der
Wirklichkeit
und
den
Therapeuten mit ihrer Realisierung des Theatralischen in einen Wettstreit zu bringen? Welche Therapie kann
man
als
Saturnalie
entwickeln,
wenn
die
technische
Zivilisation
sich
schon
in
Gänze
als
solche
ausweisen kann? 7. Die technisch-therapeutische Agonistik (die Illusion) Gehen
wir
auf
einige
Gedanken
Lyotards
bezüglich
des
Begriffs
›Agonistik‹
ein.
Es
geht
Lyotard
darum,
den von Habermas vertretenen Konsensgedanken, der den status quo der zivilisierten Wirklichkeit festschreibt, aufzubrechen und zurückzuführen auf eine Ebene, wie sie etwa Wittgenstein in seinen Ansichten zum Sprachspiel erwogen hat. Der sprachliche Wettstreit setzt Kompetenz in sprachlicher Technik
voraus.
Aber
das
Grundelement
des
Theaters
ist
nicht
das
Sema,
sondern
das
Soma.
Das
Zeichen teilt (und bedeutet), das Soma synthetisiert (und zeigt), und zwar als illudisches Element im Sinne Winnicotts. Nach Winnicotts Ansicht beginnt die frühkindliche Spaltung, d. h. die Subjektivität mit der Szene der Diffenzierung dessen, was zu meinem Körper gehört und was sich davon absondert, also in der Disposition des »Besitzes«. Die Dinge des Besitzes sind im Verhältnis zur bedrohlichen Natur (Einheit des Körpers) Waffen und deren Abwehr, und weil sie beides zugleich sind, bannen sie sich in ihrem Explosionsaufschub wie Waren im Kaufhaus. Ihre Isolation beschert ihnen einen fetischistischen Charakter. Die Illusion über den Waffencharakter der Dinge betrifft ihre vom Körper
Ralf Bohn
201
abgelöste
Seinsweise
(Besitz),
nicht
ihre
reale
Waffen-
oder
Schutzqualität.
Genau
um
diesen
Besitz
(also
die
Präsenz
eines
Gegenwärtigen,
um
die
gehortete
Vernunft)
des
›Ichs‹
geht
es
in
der
Spielform
›Subjekt‹. Der Widerstreit, so vermutet Lyotard, ist eine »Legitimierung durch die Paralogie«, die in der agonalen Szene ausgetragen wird, ohne je dramatisch entschieden sein zu dürfen.32 Die Plastizität der Referenz von Ich und Welt, von Besitz und Präsenz, das Szenische, kann sich aber, so fürchtet Lyotard, unter den vorherrschenden Objektivierungstendenzen nur noch als Abweichung/Pathologie darstellen.
Es
scheint
so
zu
sein,
dass
sowohl
szenografisch
sozial
als
auch
therapeutisch
psychisch
an der Technisierung dieser Paralogie noch gearbeitet werden muss, in Sonderheit als Tiefenrekonstruktion
des
Designs,
der
Haut
des
Marsyas,
der
Leinwände,
Projektionsflächen
und
Bildschirme,
die
mir zwar Präsenz sichern, mich aber nicht mehr in Besitz bringen. Diese Paralogie sorgt für die permanente Vermittlung der Extreme, womit die Therapie tatsächlich zum unendlichen Moment einer Kultivierung des Zivilen wird, jedoch löst sich das Bewusstsein der Körpergrenzen auf. Besitzverhältnisse werden in Handel und Kreditierung ausgetragen. Das aber schafft soziale Zeit. Das Wissen, die Kompetenz um diesen Handel an Besitz und Bedeutungen hat im Zeitalter der globalen Dauerpräsenz und Waffenwache seinen Wert verloren. Es repräsentiert nur noch eine Ordnung der Realität, aber keine Macht der Präsenz. Es zählen nun die Erlebnisbemächtigung und die Macht, dabei zu sein, also die Performativität des Ereignishaften als Produkt. Da Aufführungen als unwiederholbare Events zelebriert werden, ist das Kostbarste die persönliche Anwesenheit. Das hat Auswirkungen auf eine Welt, die insgesamt ludisch geworden ist und sich diese Ludizität in Aufmerksamkeitswährung bezahlen
lässt.
Die
Spitzenform
dieser
Gegenwartswachsamkeit
bildet
der
Neurotiker
aus.
Kompetenzaneignung alter Schule (Wissen) verlangt nach identitätsstiftenden Mustern, nicht nach persönlichem Erleben mit seinen Deutungsfolgen. »Was aber sicher scheint«, so Lyotard, »ist, dass in beiden Fällen
die
Delegitimierung
und
der
Vorrang
der
Performativität
der
Ära
des
Professors
die
Grabesglocken läuten: Er ist nicht kompetenter zur Übermittlung des etablierten Wissens als die Netze der Speicher.«33 Diese sich bereits realisierende Prophezeiung bereitet folgendes Szenario vor: Zunächst wird im Spiel um die Legitimitätsmacht von Realität der Neurotiker die Theatertherapie favorisieren. Dann werden die Neurotiker sich professionalisieren und als Kreative ihr Opferpotential in die Waagschale
werfen
(Reality
T V).
Für
die
Hochschulen
bleibt
nur
noch
der
szenografische
Ausbildungsgang,
in dem die Professoren zu Theatertherapeuten werden.
32
33
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1993 *1973, S. 175. Zum Agon (Widerstreit) bei Lyotard, insbesondere in Auseinandersetzung mit Platon und Kant: Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1989. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 156.
Vom Nutzen flüchtiger Erscheinungen und zukünftiger Ereignisse Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser
Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser
Kaiser: Ihr künstlerisches Repertoire unterteilen Sie in die Sparten Theater / Intervention, Film / Installation, Hörstück. Schaut man sich Ihre Arbeiten dann an, wird m. E. aber schnell deutlich, dass es
sich
hierbei
nicht
um
strenge
Gattungsgrenzen handelt. Hofmann&Lindholm: Die Unterteilung in Sparten stellt ein Zugeständnis an
die
Gegebenheiten
des
Marktes
dar,
der
klare
Konturen wünscht; aus ästhetischer Perspektive
ist
sie
für
uns
nicht
erheblich.
Im
Gegenteil,
Gattungsgrenzen
stellen
häufig
Beschneidungen
von Möglichkeiten dar, die nicht nötig sind. Wir kommen ursprünglich aus dem Theaterbereich, haben uns nach dem Studium und der notwendigen Infragestellung traditioneller theatraler Dispositive (wie Rollenspiel, der Illusion des Als-ob, Textbasiertheit usw.) der Bildenden Kunst zugewandt, ohne das Interesse an Fragen der Inszenierung und des Inszeniertseins zu verlieren. Gegenwärtig
verstehen
wir
uns
vor
allem
als
konzeptuell arbeitende Künstler: Am Anfang des Arbeitsprozesses stehen zumeist Ideen, Fragestellungen oder ein Forschungsinteresse; die Form und das Medium der Bearbeitung versuchen wir vom konzeptuellen Ansatz abzuleiten. Wir realisieren Installationen, Filme, Aktionen im öffentlichen Raum, entwickeln Bühnenperformances und Radiostücke. Alle Projekte suchen dabei Schnittstellen zwischen szenischer, bildender und akustischer Kunst zu berühren. Aber auch wenn die Bandbreite unserer Mittel weit reicht,
203
ist den Arbeiten einiges gemein: Ein Umgang mit seriellen Arbeitsweisen ist uns wichtig, ein Insistieren auf wiederkehrenden Mustern; ein stark (medien-)reflexiver
Zug;
und
natürlich
die
Erarbeitung interventionalisitischer Strategien. Kaiser: Welche Bedeutung hat für Sie der Begriff der Intervention? Hofmann&Lindholm: Interventionen – wie wir sie verstehen – sind bewusst herbeigeführte Reaktionen auf vorhandene Strukturen, es sind Eingriffe in vertraute Systeme oder Räume. Es sind Manöver, die im Rahmen vorherrschender Diskurse, Anschauungen, Umgangsformen
stattfinden
und
diese
bestenfalls
unterlaufen, irritieren, in die Irre führen. Bei unseren Interventionen handelt es sich um Aktionen, die in alltägliche Bereiche des Lebens eingreifen und nach dem Eingriff präsentiert, dokumentiert oder
in
szenische
Gebrauchsanweisungen
übersetzt und als solche inszeniert werden. Oft führen wir diese Interventionen nicht selbst durch, sondern
delegieren
sie:
Gemeinsam
mit
unseren
Komplizen – wie wir sagen – entwickeln wir dabei Strategien und Handlungen, die funktionierende Systeme
und
Gefüge
benutzen,
umdeuten,
nachahmen, täuschen oder sich aneignen. In »Aspiranten« (2003) hat unsere Komplizin Alice Ferl in einem Zeitraum von fünf Monaten die Palette der Warenhauskette Kaufhof um insgesamt 73 Produkte erweitert. Im Vorfeld bat sie Freunde, Bekannte und Verwandte darum, ihr alte Klei-
204
Vom
Nutzen
flüchtiger
Erscheinungen
und
zukünftiger
Ereignisse
dungsstücke zur Verfügung zu stellen. Zeitgleich sammelte sie Preisschilder und Etiketten von neu erworbenen Textilien, mit denen sie die Stücke ihrer Sammlung auszeichnete. Dann stattete sie einer Filiale der Warenhauskette Kaufhof eine Vielzahl von Besuchen ab, bei denen sie T-Shirts, Blusen, Hosen und Jacketts aus ihrer Sammlung in die Regale einordnete und darauf achtete, dass ihre Kollektion sowohl farblich als auch thematisch zu den angebotenen Markenartikeln passte. Alice Ferl griff also störend ins System ein, indem sie das Angebot und nicht – wie vorgesehen – die Nachfrage schürte ... Ein
anderes
Beispiel:
Für
»Geschichte
des
Publikums« (2006) entwickelten wir Methoden zur Aneignung des öffentlichen Raums. In diesem Zusammenhang richtete unser Komplize Roland Görschen
seinen
Fokus
auf
die
Zentralbibliothek
seiner Heimatstadt. Über einen langen Zeitraum entlieh er gezielt Bücher aus der Abteilung für Geschichte
und
Gesellschaft,
um
sie
wenige
Tage
darauf zurückzugeben. In der Zwischenzeit erwarb er Neuausgaben der entliehenen Titel im Handel, um diese nach Maßgabe der Exemplare aus der Zentralbibliothek zu bearbeiten. Bearbeitung
meinte:
das
Übertragen
von
Gebrauchsspuren der Leihbücher in seine Privatausgaben. Roland
Görschen
imitierte
umgeknickte
Ecken,
Riefen und Prägespuren, reproduzierte abgegriffene Seitenränder und Anstreichungen, er kopierte die Muster der auf den Buchrücken befestigten Barcodes – um schließlich nicht die entliehenen Originale, sondern die aufwendig manipulierten Kopien der Leihbücher zurückzugeben.
Unseren Berechnungen zufolge würde Roland Görschen
ungefähr
anderthalb
Jahre
benötigen,
um
die
komplette
Abteilung
für
Geschichte
und
Gesellschaft
privat
zu
vereinnahmen.
Bei solchen Interventionen geht es uns um Verfremdungen, um den Begriff von Brecht aufzugreifen: um das Fremdmachen von scheinbar Bekanntem mit dem Zweck, die uns umgebenden
Strukturen,
Abläufe,
Gewohnheiten,
Bereiche sichtbar zu machen – z. B. Warenkreisläufe oder die öffentliche Sphäre. Die geplanten Aktionen werden im realen öffentlichen und privaten Raum durchgeführt und anschließend für die Bühne, den Ausstellungsraum oder das Radio inszeniert. Kaiser: Sie beschäftigen sich aber auch mit dem ReEnactment? Hofmann&Lindholm: Neben den Interventionen bzw. Delegierten Interventionen gibt es eine zweite Werkgruppe, mit der wir versuchen, kommunikative Prozesse im öffentlichen und nichtöffentlichen Raum zu untersuchen, zu funktionalisieren und zu inszenieren. Da dabei vor allem der Konstruktionscharakter
von
Geschichte
und
Geschichtsschreibung
im Vordergrund stehen – und nicht historische Begebenheiten –, sind wir ein wenig vorsichtig im Umgang mit dem Begriff Re-Enactment. Kaiser: Inwiefern?
Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser
Hofmann&Lindholm: In der Regel wird mit dem szenischen ReEnactment ein pseudo-realistisches, pseudo-naturalistisches Nachstellen historischer Ereignisse verbunden, [und zwar] so, als ob es einen objektiven Tathergang gegeben hätte, den man erneut durchführen könnte. Aber Erinnern heißt natürlich immer Erzählen; ein Ereignis ist nicht, es wird im Rückblick gemacht, erzählt, inszeniert. Dieser Aspekt steht für uns im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Für unsere Videoinstallation Serie Deutschland (seit 2008 fortlaufend, zuletzt 2012 im Frankfurter Kunstverein gezeigt) re-inszenieren wir gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern Fotografien
bedeutender
Ereignisse
der
Nachkriegszeit
Deutschlands – beispielsweise die Unterzeichnung
des
Grundgesetzes
durch
Konrad
Adenauer,
den Kniefall von Warschau von Willy Brandt oder die Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF. Dabei geht es allerdings nicht um ein Nachstellen der historischen Abläufe oder um die Darstellung der Inhalte der Ereignisse, sondern um eine visuelle Rekonstruktion des Bildes. Uns interessiert die Bildform und -sprache der Fotografie,
die
uns
als
Referenz
dient,
der
Aufbau,
die
Positionierung der Bildelemente und die Aufteilung zwischen Vorder- und Hintergrund. Das Referenzbild wird seriell und minutiös in Handlung (rück-)übersetzt – in eine Handlung, die mit dem ursprünglichen Ereignis nur die Äußerlichkeit eines deckungsgleichen Bildaufbaus gemein hat. Jedes Foto wird viermal mit unterschiedlicher Besetzung am Originalschauplatz inszeniert. Ort,
205
Kameraeinstellung, die Länge der Aufnahme und Anzahl der Beteiligten bleiben dabei gleich. In der Schweiz initiierten wir 2010 »Basler Unruhen« (Theater Basel), indem wir massenmedial verbreitete Vorstellungen und Klischees von Aufständen
und
Revolutionen
inszenierten
und
filmten. Wir ließen an die 300 Basler Bürgerinnen und Bürger demonstrieren, das Rathaus der Stadt besetzen, einen Fernsehsender stürmen, Straßenblockaden errichten, den Verkehr lahmlegen, Fackelzüge durch die Stadt sowie Mahnwachen abhalten. Es gab also kein Re-Enactment, sondern die Realisation von Bildern eines Ereignisses, das stattgefunden
hat,
als
es
fiktionalisiert
wurde.
Kaiser: 2011 haben Sie in Köln ein »Archiv der zukünftigen Ereignisse« eröffnet, das man sich auch heute noch auf den Seiten von Deutschlandradio Kultur anschauen und anhören kann. Hofmann&Lindholm: Wie der Titel sagt, handelt es sich bei der Arbeit um eine Sammlung von Situationen, die sich noch nicht ereignet haben. Wir haben uns mit den Projektionen der Stadtbevölkerung beschäftigt
und
erwartbare,
kommende
Geschehnisse
zusammen mit den Protagonisten der zukünftigen Ereignisse akustisch inszeniert. Als Besucher des »Archivs der zukünftigen Ereignisse« (produziert von Schauspiel Köln und Deutschlandradio Kultur) bewegt man sich mit einem Smartphone durch den öffentlichen Raum der Stadt und wird an verschiedenen Orten – anfänglich 37 Orte –
206
Vom
Nutzen
flüchtiger
Erscheinungen
und
zukünftiger
Ereignisse
durch
ein
auf
GPS
gestütztes
Navigationssystem
lokalisiert. Sobald man bestimmte Standorte passiert,
findet
ein
Zeitsprung
statt:
Steht
man
beispielsweise
vor
der
gegenwärtig
im
Bau
befindlichen Zentralmoschee, wird man Ohrenzeuge der zukünftigen Eröffnungszeremonie: Der Architekt, der Bürgermeister und weitere Verantwortliche halten jene Reden, die sie beim kommenden Ereignis tatsächlich zu halten gedenken.
spielen nicht nur in der künstlerischen, sondern auch in der psychotherapeutischen Praxis eine Rolle – nicht zuletzt um Beziehungsmuster erkennbar werden zu lassen und die Selbst- und Fremdwahrnehmung in der szenischen Spiegelung zu verändern. Sehen Sie hier Parallelen oder würden Sie Interventionen im Bereich des Theaters von solchen im Feld der Psychotherapie strikt unterscheiden?
Im Stadtraum ist die Feier von Ruth Henckels 101. Geburtstag
zu
erleben,
die
Rückkehr
eines
Soldaten aus Afghanistan, der letzte Arbeitstag von Herrn Salwolke, eine Trauerfeier im Kölner Dom, das Champions League Finale 2015 ... Dabei ist die Vorwegnahme aufgrund der akustischen und visuellen
Durchdringung
von
Gegenwart
und
Zukunftsaussicht
an
den
jeweiligen
Ort
des
Geschehens gebunden. Da ein Ereignis, sobald es eintritt, folgerichtig aus dem Archiv gelöscht wird, dezimiert sich das »Archiv« fortwährend.
Hofmann&Lindholm: Wir wissen zu wenig über psychotherapeutische Verfahren, um darauf angemessen zu antworten. – Unsere Arbeiten können möglicherweise Dinge sichtbar machen, vielleicht Unübersehenes oder auch Problematisches aufzeigen, Perspektivwechsel einleiten, sie zielen allerdings nicht auf Gesundung.
Kaiser: Was macht den Reiz der vorausgreifenden Performance aus? Hofmann&Lindholm: Wir haben für die Arbeit den Begriff des PreEnactments gefunden, um eine der Wirklichkeit vorauseilende Inszenierung zu beschreiben, die notwendigerweise weniger auf die Zukunft als vielmehr
auf
die
Gegenwart
verweist.
Kaiser: Kulturtechniken des Pre-, Re- und Enactments
Kaiser: Über Ihre aktuelle Arbeit im Frankfurter Mousonturm »Nebenschauplätze Nr.1: Das 20. Jahrhundert« hieß es in der Frankfurter Rundschau vom 08. 02. 2013: Fast ist ›Das 20. Jahrhundert‹ selbst eine Kur, eine Kur der Erinnerung. Unsere Erinnerung an diese Zeit verliert hier ihre Selbstverständlichkeit, das Jahrhundert entzieht und entfernt sich. War es doch nur eine Fiktion? Eine Projektion? Ein Blick durch ein Fenster? Treffen
sich
in
dieser
Arbeit
Gedächtniskunst
und
die Couch des Analytikers?
Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser
Hofmann&Lindholm: Bei dieser Arbeit haben uns die »Nebenschauplätze« im Kontext historischer Ereignisse interessiert – Adolf Eichmann in der Stallung seiner argentinischen Kaninchenfarm, John Lennon und Yoko Ono bei ihrem ersten Treffen in einer Londoner Galerie,
Laika
während
der
Vorbereitung
auf
den
Weltraumflug
usw.
Allerdings
sind
ausschließlich
Schatten und Silhouetten zu sehen, die in einen Raum auf der Bühne projiziert werden. Hierfür haben wir den Tageslicht- und Schattenverlauf des entsprechenden Nebenschauplatzes auf der Folie dokumentarischer Fotos rekonstruiert und mit Hilfe diverser Computerprogramme reanimiert. Entstanden ist eine szenische Installation, die dem Zuschauer erlaubt, das den Schatten Abwesende zu ergänzen und seiner Erinnerung oder seinem Wissen entsprechend zu vergegenwärtigen.
Ein
»Re-Enactment
flüchtiger
Erscheinungen« – so der Untertitel –, das den Zuschauer dazu einlädt, sich vor dem Hintergrund schemenhafter Vorgänge zu erinnern bzw. Erinnerung zu produzieren und zu konstruieren. Hier mag es Ähnlichkeiten zu den Anliegen eines Analytikers geben, Erinnerungen oder Verknüpfungen zu provozieren, also zu aktivieren. Kaiser: Welchen
Nutzen
haben
flüchtige
Erscheinungen
und zukünftige Ereignisse? Hofmann&Lindholm: Oder
anders
gefragt:
Haben
flüchtige
Erscheinungen und zukünftige Ereignisse einen Nutzen?
207
Diese Zukunft heißt Ü70-Party Zukunftsszenarien als performative Praxis im Theater mit Kindern Eva Plischke
Eva Plischke
209
Von Zukunftsszenarien ist in politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Zusammenhängen die Rede. Nicht immer stellen sie das Ergebnis einer dezidierten Zukunftsanalyse dar, wie es bei Szenariotechniken (engl. Scenario Planning oder Scenario Forecasting) der Fall ist. Hiermit ist
ein
mehrstufiges
Verfahren
gemeint,
das
den
Entwurf
von
hypothetischen
Situationen
oder
Zukunftsbildern für ein konkretes Problem- oder Themenfeld zum Ziel hat, um Entscheidungen in der Gegenwart
zu
ermöglichen
oder
zu
legitimieren.
Szenariotechniken
sollen
im
Unterschied
zu
Prognosen, die eine wahrscheinliche Zukunft errechnen, mehrere alternative Entwicklungen in den Blick nehmen – multiple Zukünfte. Es geht darum, Zukunft analytisch in ihre Bestandteile zu zerlegen, unterschiedliche
Entwicklungsmöglichkeiten
für
die
einzelnen
Bestandteile
und
Einflussbereiche
zu
projizieren und diese dann wieder zu wahrscheinlichen bis unwahrscheinlichen Zukunftsszenarien zusammenzusetzen.1 Im Unternehmensmanagement, in der Stadt- und Raumplanung oder in den (Natur-)Wissenschaften werden sie für einen konkreten Anwendungszusammenhang und bestimmte Adressaten produziert und als Produkte verschriftlicht oder visualisiert, um sie kommunizierbar zu machen. Was ein Zukunftsszenario ist und welche Darstellungsform, welche mediale Repräsentationsform es bekommt, variiert dabei je nach Anwendungszusammenhang. Die Darstellungsformen von Zukunftsszenarien im Kontext von Szenariotechniken möchte ich in diesem Text herausarbeiten und ihnen szenische Darstellungsverfahren von Zukunftsszenarien im Theater und in den performativen Künsten gegenüberstellen; denn der Begriff und das Phänomen des Szenarios weist ganz offensichtlich eine Analogie zum Theater und zu szenischen Prozessen auf. Das Prinzip, auf die Zukunft systematisch in Form von Szenarien zuzugreifen oder vorzugreifen, stammt aus dem Feld der Zukunftsforschung und geht auf Herman Kahn zurück, der in den 1950er und 1960er Jahren in den USA als militärstrategischer und politischer Berater Studien zu langfristigen weltpolitischen Entwicklungen verfasst hat. Es ist Kahn, der für die Ausarbeitung und Darstellung der Ergebnisse dieses Prozesses den Begriff Szenarium aus der Theater- und Filmterminologie verwendet. Im Theater stellt das Szenarium einen Übersichtsplan über die Szenenfolge eines Dramas für die Regie und das technische Personal dar und umfasst die Kategorien Handlung und Raum: Es ist sowohl eine Inhaltsangabe, die die Auftritte der Personen und die groben Handlungsverläufe der Szenen zusammenfasst, als auch ein technischer Ablaufplan, der die Szenenwechsel im Sinne von Kulissenwechseln festhält und so die wechselnden Szenerien und Schauplätze markiert, an denen sich die
1
Frank Hees/Christiane Michulitz/Anja Richert, »Szenarien in Aus- und Weiterbildung«, in: Falko E. P. Wilms, Szenariotechnik. Vom Umgang mit der Zukunft, Bern 2006, S. 292–306, S. 293. Szenarien stellen stets eine Kombination aus scheinbar gesichertem Zukunftswissen wie Basistrends und unsicheren bis überraschenden Faktoren und Veränderungen dar, die als Variationen systematisch durchgespielt werden.
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
210
Handlungen abspielen.2 Bei Kahn liest sich ein Szenarium wie das Script von Handlungsfolgen auf politischen Bühnen, wie eine Übersicht über die Schauplätze der Krisen und Kriege des weltpolitischen Personals.3
Durch
ausgearbeitete
Szenarien
könne
der
Analytiker
ein
Gefühl
für
eine
hypothetische
Folge von Ereignissen, die wechselseitigen Beziehungen ungewisser Faktoren und die Entscheidungsmomente und Wegverzweigungen bekommen: »Sie beantworten zwei Arten von Fragen: 1. Wie mag eine hypothetische Situation Schritt für Schritt zustande kommen? Und 2. Welche Alternativen gibt es in jedem Stadium für jeden Teilnehmer, um den weiteren Prozess zu verhindern oder in eine andere Richtung zu lenken?«4 Trotz ihrer Nähe zum Theater werden Szenarien und Szenariotechniken selten als szenische Praxis aufgefasst. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern im Theater und den performativen Künsten Zukunftsszenarien
als
szenische
Form
und
Praxis
vorzufinden
sind
und
was
ein
Verständnis
von
Szenarien und Szenariotechniken als performativer Praxis im Unterschied zu medialen Repräsentationen von Zukunft zu leisten vermag. Anhand von zwei ausgewählten Szenen aus Theaterprojekten mit Kindern und Jugendlichen, bei denen Zukunftsszenarien des persönlichen Älterwerdens oder der gesellschaftlichen Überalterung im Mittelpunkt stehen, versuche ich zu beschreiben, wie Szenarien hier szenisch hervorgebracht werden. Nicht die inszenatorische Umsetzung fertiger Szenarien, sondern ihr szenischer Entstehungsprozess ist von Interesse. Sowohl in dem Stück Before Your Very Eyes (Performancegruppe Gob Squad, 2011) als auch in dem Projekt Junges Institut für Zukunftsforschung (Eva Plischke, 2013) stellen Kinder und Jugendliche eine Partyszene in der eigenen Zukunft szenisch dar, einmal
ist
eine
40.
Geburtstagsparty
und
einmal
eine
Party
von
über
70-Jährigen
–
eine
Ü70-Party.
Merkmal beider Szenen ist es, dass die Konstruktion der Szene und damit des Zukunftsszenarios als offener, schrittweiser Prozess auf der Bühne zu beobachten ist. Anhand dieser szenischen Prozesse möchte ich Darstellungsverfahren herausarbeiten, die man zugleich als Vorhersageverfahren begreifen kann. Denn es ist die Kongruenz von Darstellungsprozess und Vorhersageprozess, die die Performativität dieses Ansatzes ausmacht: Zukunftsszenarien lassen sich dann als performative Praxis verstehen, wenn sie im Akt des darstellerischen Vollzugs hervorgebracht werden. 2
3
4
Vgl. Duden, Fremdwörterbuch, Mannheim/Zürich 1997. Scaena (lat.) ist gleichbedeutend Bühne oder Schauplatz einer (Theater-)Handlung. Auch in der Filmsprache ist das Szenario die Vorstufe eines Drehbuchs oder Storyboards, das die Szenenfolge umfasst, wobei einzelne Szenen in der Regel einen Zeit- oder Ortswechsel markieren. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Filmszenario (Stand: 30. 09. 2013). Das
strategische
Denken
der
Szenariotechniken
geht
auf
den
preußischen
General
und
Militärtheoetiker
Carl
von Clausewitz zurück.Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/ Scenario_analysis (Stand 30.09.2013) Herman Kahn/Anthony J. Wiener, Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahr 2000, Hamburg 1971, S. 21.
Eva Plischke
211
Der Begriff der Performativität stammt ursprünglich aus der Sprachphilosophie, genauer Sprechakttheorie: Austin bezeichnet solche Sprechhandlungen als performativ, die in dem Moment, in dem sie als Sprechakt vollzogen werden, die soziale Wirklichkeit konstituieren, von der sie sprechen: Hiermit eröffne ich. – Hiermit taufe ich dich usw.5 In den Theaterwissenschaften wird die Ästhetik des Performativen maßgeblich als eine Ästhetik der Präsenz aufgefasst und bei Fischer-Lichte im Begriff der Aufführung fundiert.6 Theater wird als performative Kunst par excellence in den Blick genommen, indem
»Aufführung
nicht
als
Repräsentation
oder
Ausdruck
von
etwas
Vorgängigem,
Gegebenem
bestimmt [wird], sondern [man] sie als genuine Konstitutionsleistung begreift: Die Aufführung selbst sowie
ihre
spezifische
Materialität
werden
im
Prozess
des
Aufführens
von
den
Handlungen
aller
Beteiligten überhaupt erst hervorgebracht.«7 Die Ästhetik des Performativen fokussiert mit den Begriffen
Präsenz
und
Kopräsenz
die
Gegenwärtigkeit
und
Ereignishaftigkeit
der
Theaterhandlungen
vor ihrer referentiellen oder repräsentativen Funktion und ihrer Fiktionalität. Performative Kunst wird oft
als
reine
Tätigkeit
im
Hier
und
Jetzt,
ohne
Bezug
zu
fiktiven
Räumen
und
Zeiten,
ohne
Begründung in einem Darzustellenden beschworen – als Anti-Repräsentation. Bei Zukunftsszenarien oder »Preenactments«8
als
performativer
Praxis
geht
es
aber
ja
gerade
um
fiktive
Zeiten
und
Räume;
hypothetische
zukünftige
Ereignisse
sollen
in
und
durch
ein
gegenwärtiges
Geschehen
verhandelt
werden.
Gegenwärtigkeit
und
Zukünftigkeit,
die
Kategorien
der
Präsenz
und
Repräsentation
von
Zukünftigem,
treten bei performativer Zukunftsforschung in ein Spannungsverhältnis. Es bietet sich an, Theorien zum Reenactment als analytische Parallelfolie zu verwenden, da beim Reenactment ebenfalls ein
Spannungsverhältnis
vorliegt
–
jenes
von
Gegenwärtigkeit
und
Vergangenheitsbezug.
Es
handelt
sich beim Reenactment um »verkörperte Vergegenwärtigungen von vergangenen Ereignissen«9, von denen es mediale Zeugnisse gibt, während performative Zukunftsszenarien verkörperte Vergegenwärtigungen von hypothetischen zukünftigen Ereignissen sind, die im Darstellungsprozess erzeugt werden. Über Zukunftszenarien als performative Praxis nachzudenken ist daher wie die performancetheoretische Beschäftigung mit Reenactments eine Herausforderung für den Performativitätsdiskurs in den Kultur- und Theaterwissenschaften: »Der sich in den letzten Jahren unter dem Stichwort der 5 6 7 8
9
Erika Fischer-Lichte, Performativität, Bielefeld 2012, S.38. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Ebd. S. 56. Der Begriff des Preenactments taucht erst in jüngster Zeit in der künstlerischen Praxis im deutschsprachigen Raum auf. In Berlin ist es die Performancegruppe Interrobang, die an den Sophiensaelen mit dem Begriff des Preenactments seit 2012 ein Format benennt, das gegenwärtige Entwicklungen mit den Mitteln des Theaters in die Zukunft fortschreibt. Vergleichende performancetheoretische Ausführungen gibt es hierzu bisher nicht. Erika
Fischer-Lichte,
»Wiederholung
als
Ereignis.
Reenactment
als
Aneignung
von
Geschichte«, in: Jens Roselt/ Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 13–53, hier: S. 13.
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
212
Performativität im Theoriediskurs durchsetzende Common Sense, der sich Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit auf die Fahnen geschrieben hat, wird durch die szenische Praxis des Reenactments in eigentümlicher Weise verschoben.«10 Performancetheoretische Arbeiten der letzten Jahre haben aber gezeigt, dass es sich bei vermeintlichen Dichotomien wie Liveness und Medialität, Unwiederholbarkeit/Einmaligkeit und Dokumentation, Authentizität und (Selbst-)Inszenierung stets um relationale Verhältnisse handelt. (Auslander, Matzke u. a.) Auch die Kategorien Präsenz und Kopräsenz können dann nicht als gegeben behandelt werden,
sondern
müssen
als
etwas
reflektiert
werden,
das
gerade
im
Verhältnis
zu
Repräsentation
oder Medialität provoziert wird. In dieser Richtung ist die hier angestrebte performancetheoretische Konzeption von Zukunftsszenarien als performativer Praxis anzusiedeln. 1. Script, Story, Skizze oder Simulation? Repräsentationen der Zukunft im Kontext von Szenariotechniken Mit
einem
Blick
in
die
Geschichte
und
die
Einsatzfelder
der
Szenariotechniken
lassen
sich
zwei
typische Darstellungsmittel von Zukunftsszenarien ausmachen: das Schreiben oder das Visualisieren von Szenarien. Die Text- oder die Bildproduktion kann dabei in Referenz an künstlerische oder wissenschaftliche Darstellungsverfahren geschehen. Szenariotechniken changieren zwischen Kunst und Wissenschaft. Das hat damit zu tun, dass sie sowohl analytische als auch kreative Anteile oder Phasen beinhalten, die jeweils unterschiedlich akzentuiert und durch Kombination mit anderen Verfahren verstärkt oder vernachlässigt werden.11 »Scenario planning is an art, not a science«, heißt es bei Peter Schwartz12, einem Szenariotechnikpionier im Bereich des strategischen Unternehmensmanagements des Unternehmens Royal Dutch/Shell in den 1970er und 1980er Jahren. Schwartz plädiert dafür, Szenarien als Story
zu
verfassen
statt
als
Grafiken
oder
Zahlen
darzustellen;
denn
Geschichten
seien
eine
alte Form, komplexes Wissen zu organisieren, und hätten einen direkten Impact auf die Denk- und Vorstellungswelten ihrer Adressaten – anders als die rationale Sprache anderer Wissensformen.13 10 11
12 13
Jens Roselt/Ulf Otto, Nicht hier, nicht jetzt, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 7–12, hier: S. 11. Die grundlegenden Phasen der Szenariotechniken, die in beinahe allen Zusammenhängen genannt werden, sind: 1. Definition, Problem- und Fragestellung, 2. Einflussbereiche und -faktoren benennen, 3. Erarbeitung von unterschiedlichen Zukunftsprojektionen für die Einflussfaktoren, 4. Kombination und Formulierung von Szenarien, 5. Szenariotransfer (Handlungsempfehlungen erarbeiten). Vor allem in Phase 3 können unterschiedliche Entwicklungslinien von Einflussfaktoren sowohl quantitativ gestützt und als Zahlenwert geschätzt oder in
einem
kreativen
Gruppenprozess
als
storylines fiktiv fortgeschrieben werden. Peter Schwartz, The Art of the Long View. Planning for the Future in an Uncertain World, New York 1996, S. 27. Ebd., S. 37 f.
Eva Plischke
213
Mehr noch als beim Script, dem szenischen Übersichtsplan, liegt hier eine Narrativierung von Zukunft vor, die damit einhergeht, dass sich Szenariotechniken im Unternehmensbereich auch zu Kreativitätstechniken entwickeln, die Innovationsprozesse befördern sollen. Eine Szenario-Story ist dann oft auch eine normative statt einer explorativen Beschreibung der Zukunft. Szenarien übernehmen auch im
Bereich
der
Stadt-
und
Regionalplanung
häufig
normative
Funktionen,
wenn
sie
beispielsweise
als Leitbilder für die Stadtentwicklung dienen. Szenarien tendieren in diesem Zusammenhang dazu, bildhafter – und leitbildhafter – zu werden: Es sind erzählerische Momentaufnahmen eines Ortes in der Zukunft oder tatsächliche Zukunfts-Bilder
in
Form
von
Skizzen,
Grafiken
oder
Karten.
Solche
Visualisierungsverfahren
sind
häufig
in
öffentlichen
oder
wissenschaftlichen
Kontexten
vorzufinden:
Karten, Pläne oder Entwürfe sind Formen, die aus professionellen Planungszusammenhängen wie Architektur
und
Stadtplanung
stammen;
Grafiken,
Modelle
oder
Simulationen
sind
Berechnungs-
und Visualisierungsverfahren aus wissenschaftlichen Zusammenhängen. Solche Darstellungsformen von Zukunft sind immer auch Objektivierungsformen: Ein wie auch immer gearteter Auseinandersetzungsprozess mit der Zukunft schlägt an einem bestimmten Punkt in eine bestimmte, der objektiven
Betrachtung
zugängliche
Form
um.
Es
findet
ein
Medienwechsel
statt,
der
die
Szenarien
vom
Prozess ihres Erstellens abkoppelt, ohne dass der Prozess tatsächlich abgeschlossen sein muss. Das Zukunftsszenario kann von seinen Machern abgelöst und in andere Zusammenhänge übertragen und
vervielfältigt
werden.
Insbesondere
der
Gebrauch
wissenschaftlicher
Visualisierungsverfahren
suggeriert den Konsumenten von Zukunftsprodukten dann ein objektives, gesichertes und neutrales (Zukunfts-)Wissen,
das
von
subjektiven,
geschätzten
oder
interpretativen
Einflüssen
befreit
ist
und
daher verbindlich zu sein scheint. Aktuell sind es insbesondere Fragen des Klimawandels, bei denen szenariobasierte Techniken im Verbund mit mathematisierten und computerbasierten Modellierungstechniken verwendet werden. Reale
Einflussgrößen
werden
mathematisch
quantifiziert
in
ein
Modell
aufgenommen,
und
zwar
auch
solche
Variablen,
deren
Größe
nicht
gemessen,
sondern
nur
geschätzt
werden
kann.14 Der Vorteil solcher Modelle und Simulationsläufe ist es, dass sie raumzeitliche Entwicklungen eines deterministischen Systems darzustellen in der Lage sind: »Konkret bedeutet dies, dass deterministische Modelle, wie beispielsweise aktuelle Wetter- und Klimamodelle, auf Differentialgleichungen basieren, welche nichts anderes darstellen als Bewegungsbahnen von Fluiden, so genannten Trajektorien. In solchen Modellen ist alles in Bewegung und in seiner Veränderung voneinander abhängig […].«15 Dieses Be14
Vgl.
Gabriele
Gramelsberger,
»Die
kausale
Mechanik
der
Prognosen
aus
dem
Computer«,
in:
Heinrich
Hartmann/Jakob
Vogel
(Hg.),
Zukunftswissen.
Prognosen
in
Wirtschaft,
Politik
und
Gesellschaft
seit
1900,
Frankfurt am Main 2010, S.213–230, hier S. 227. 15 Ebd., S. 234.
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
214
wegungsmodell entspricht jedoch oft nicht dem politischen und öffentlichen Bedarf nach relevanten Aussagen und handlungsleitenden Empfehlungen. Dafür müssten Wissenschaftler ihre mathematischen Modelle oft mit semantischen Kontexten verknüpfen, was nur interpretativ geschehen kann, weil »die Natur der Zahlen gerade in ihrer Referenzlosigkeit zu interpretativ-semantischen Kontexten besteht.«16 Szenarien kommen dann oft fälschlicherweise als Prognosen auf den Markt. Ein Repräsentations- und Interpretationsproblem macht auch die Sozialwissenschaftlerin Eva Barlösius in ihrer kritischen
Analyse
der
grafischen
Darstellungen
von
Bevölkerungsentwicklungen
deutlich.17 Kaum ein anderes
Phänomen
wie
die
Bevölkerungsentwicklung
werde
so
häufig
bildlich
veranschaulicht
und
dadurch zugleich interpretiert und festgeschrieben. Barlösius bezeichnet diese Bilder als demografische
Repräsentationen,
weil
sie
grafische
Aufarbeitungen
von
statistischen
Daten
sind.
Auch
diese
Darstellungsweise beinhalte immer eine bestimmte Interpretation der Daten, einen symbolischen Überschuss: So sei die standardisierte visuelle Repräsentation der Bevölkerungsstruktur die Bevölkerungspyramide
–
eine
Bevölkerung,
die
in
ihrer
grafischen
Gestalt
nun
von
der
Ausgangspyramide
abweicht,
sehe
zwangsläufig
instabil
aus
und
symbolisiere
eine
negative,
bedrohliche
Entwicklung.18 Schrumpfungs- und Überalterungsprozesse werden als Untergangsszenarien rezipiert. Die Macht und Wirkmächtigkeit
der
Repräsentationen
des
demografischen
Wandels
liegt
laut
Barlösius
zum
einen
darin,
dass
sie
den
Wunsch
nach
Erhalt
des
Status
quo
fördern,
und
zum
anderen,
dass
sie
Gesellschaft nur noch als wachsende oder schrumpfende Bevölkerung, aber nicht in ihren kulturellen oder sozialen
Potentialen
repräsentieren.
»Demografisierung
der
Gesellschaft«19 nennt Barlösius dieses Repräsentationsproblem, wodurch jeglicher gesellschaftliche Wandel als ähnlich schwer veränderbar wahrgenommen
werde
wie
demografische
Entwicklungen.
Statt
einer
offenen
Zukunft
produzierten
solche
Repräsentationen
von
Zukunft
eine
Verengung
von
Zukunft
und
Gegenwart.
Visuelle Repräsentationen treten an die Stelle des Entstehungsprozesses und täuschen einen zukünftigen Status quo vor, anstatt einen zeitlichen Verlauf oder Handlungsablauf als mögliche Bewegung zu verfolgen. Umgekehrt werden mathematische Modellierungen, die nur dazu diesen, Bewegungen in deterministischen Systemen zu beobachten, semantisch aufgeladen und als referentiell oder repräsentativ interpretiert und wie Prognosen verwendet. Nicht physikalische Aspekte lassen sich in mathematische Modelle kaum integrieren. Die Kategorie menschlichen Handelns fällt jeweils hintenüber:
Gegenwart
erscheint
nicht
länger
als
Handlungsspielraum. Repräsentation und Präsenz 16 17 18 19
Ebd., S. 214. Vgl. Eva Barlösius, »Bilder des demografischen Wandels«, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900. Frankfurt am Main 2010. S. 231–248. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235.
Eva Plischke
215
verbergen ihr relationales, sich wechselseitig veränderndes Verhältnis, Zukunfts-Repräsentationen scheinen
Präsenz
im
Sinne
von
gesteigerter
pluralistischer
Gegenwart
tendenziell
zum
Verschwinden
zu bringen. Inwiefern wiederholen, verändern oder verschieben sich diese Repräsentationsproblematiken, wenn man das Szenario als szenischen Ablauf und performative Praxis ernst nimmt? 2. Before Your Very Eyes: Szenische Darstellungsverfahren als Vorhersageverfahren Die Bühne als ein Schauplatz von (Theater-)Handlungen ist per se ein Handlungs-Spielraum, in dem Szenarien vor den Augen der Zuschauer durchgespielt werden können. Beide Partyszenen und -szenarien, die im Folgenden Untersuchungsgegenstand sein sollen, stammen aus Theaterproduktionen mit Kindern und Jugendlichen, die hier zugleich Macher und Darsteller von Zukunftsszenarien sind. Im
offiziellen
Markt
der
Zukunftsprognosen
spielen
Kinder
als
Mitproduzenten
eine
geringe
Rolle,
obwohl sie diejenigen sind, die davon am meisten betroffen sind. Sie werden die Konsequenzen gegenwärtiger
Entscheidungen,
die
auf
der
Grundlage
von
Zukunftsprognosen
geschehen,
im
Gegensatz
zu den Entscheidern noch erleben und stehen unter dem Druck, für diese zukunftsfähig zu werden. Mit der Umkehrung dieser Verhältnisse und Rollen in Bezug auf die Zukunft spielt das Projekt Junges Institut für Zukunftsforschung, das ich als künstlerisches Forschungsprojekt im Rahmen des Hamburger
Graduiertenkollegs
Versammlung und Teilhabe – Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste zusammen mit etwa vierzig Schülerinnen des Europagymnasiums Hamm in den Jahren 2012/2013 realisiert habe. Im Jungen Institut für Zukunftsforschung sind Schülerinnen im Alter von 10–16 Jahren die
Zukunftsweisen
und
beraten
Erwachsene
in
Zukunftsfragen.
Ein
gemeinsamer
Gründungsakt
des
Instituts gab den Startschuss für eine öffentliche Ausschreibung, durch die die jungen Zukunftsforscherinnen etwa zwanzig Zukunftsfragen und Forschungsaufträge von unterschiedlichen Akteuren des öffentlichen Lebens der Stadt Hamburg erhalten haben. Das Szenario Ü70-Party ist eines von drei alternativen Szenarien (Route 66, Suburban Farming und Migrationseintrittsalter), die eine szenische Antwort der Schülerinnen der 8. Klasse auf die Frage eines Mitglieds des Hamburger Rathauses sind: Wie
wird
sich
der
demografische
Wandel
mit
mehr
Älteren
und
weniger
Jüngeren
im
Jahr
2063
in
Hamburg darstellen? Das Junge Institut für Zukunftsforschung stellt einen experimentellen Rahmen für performative Zukunftsforschung dar. Zukunftsvorhersagen mit den Mitteln des Theaters zu erarbeiten und Szenariotechniken in ein szenisches Verfahren umzuwandeln sollte die Konstruktion von Zukunftsszenarien für Kinder durchschaubar und beherrschbar machen: Szenarien und Szenen fallen hier in eins. Deswegen möchte ich im folgenden das Szenen-Script der Ü70-Party in leicht gekürzter Form abdrucken – als szenischen Übersichtsplan und Zukunftsvorhersage des Jungen Instituts für Zukunftsforschung zugleich:
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
216
Alle bauen aus den Tischen eine Bar rund um die Lostrommel, die an der Decke hängt. Bis die Musik ausgeht, nehmen alle eine Position im gebauten Raum ein. Person 1 zieht ein Los aus der Lostrommel, tritt ans Mikro am Bühnenrand und liest ab, was auf dem Los steht, usw. (…) 2. Los: Ich reise in das Jahr 2073 und höre dort als Erstes… Danny macht die Beatbox an der Bar an 3. Los: Ich reise nach Hamburg im Jahr 2073 und dort gibt es eine neue Droge, die heißt Lotionmeth. Man trägt sie auf wie eine Bodylotion. Die Droge hat auch eine gute Nebenwirkung: »Haut wie vor 50 Jahren.« An der Bar wird Lotionmeth verteilt 4. Los:
Ich
befinde
mich
in
Hamburg
in
einem
Club.
Um
reinzukommen,
habe
ich
dem
Türsteher
meinen Ausweis gezeigt, um nachzuweisen, dass ich Ü70 bin – über 70 Jahre. Ich habe hier ein Date. Ich war auf Eliterentner.de. Jeremy tritt als Date zu Danny – trägt Altenmaske 5. Los: Im Club hängen viele Schilder und Banner. Darauf steht: Alle: Ein Leben lang geschuftet. Wo bleibt meine Rente? Ich will endlich ein bisschen Spaß! 6. Los (Jeremy mit Maske): Ich bin auf einer Ü70-Party und mache Lap Dance. Alle anderen über 70-Jährigen tanzen auch. Lichtwechsel, Musik an, alle tanzen 7. Eva am DJ-Pult: Diese Zukunft heißt Ü70-Party. Die Menschen werden in Zukunft immer länger leben und deswegen im Alter viel Zeit haben, Dinge zu tun, zu denen sie vorher nicht gekommen sind oder die verboten waren. Es wird ein ganz neuer Lebensabschnitt entstehen – Ü70. Die Alten werden die neue Jugend sein ... (Aus: Wir sind die Zukunft – Junges Institut für Zukunftsforschung, Textfassung Mai 2013) Über die Theaterproduktion Before Your Very Eyes der Theatergruppe Gob Squad, die in Zusammenarbeit mit der belgischen Organisation Campo als Teil einer Trilogie von Theaterstücken mit Kindern für Erwachsene entstand, schreibe ich nicht als beteiligte Künstlerin, sondern aus der Position der Zuschauerin. Mein Wissen und meine Beschreibungen beziehe ich aus der eigenen Seherfahrung und einer Videodokumentation.20 Bei Before Your Very Eyes
befinden
sich
die
sieben
Spielerinnen
im
Alter
von
8–14
20
Premiere Theater Hebbel am Ufer, Berlin April 2011.
Eva Plischke
217
Jahren
auf
der
Bühne
in
einem
Kubus
aus
einseitig
spiegelnden
Glasflächen,
in
die
die
Zuschauer
hineinsehen, aus denen die Kinder aber nicht hinaussehen können – sie sehen stattdessen stets sich selbst im Spiegel. Ansonsten sieht es in der Box aus wie in einem großen Wohnzimmer mit Sofa, Tisch und Stühlen und einem Fernseher. Dieser räumliche Aufbau wird wahlweise als Laborexperiment bezeichnet21 oder von Gob Squad wie eine Menschenausstellung angekündigt: Echte Kinder seien hier live im Hier und Jetzt und zugleich in ihrer potentiellen Zukunft in ihrem Leben im Schnelldurchlauf zu sehen. Die Box ist Schaubude und Zeitmaschine zugleich: ‹Ladies and Gentlemen! Gob Squad proudly presents a
live
show
with
real
children.
A
rare
and
magnificent
opportunity
to
witness
seven
lives
lived
in
fast
forward … Before Your Very Eyes!‹22 Kein konkretes gesellschaftlichen Problem- oder Themenfeld wie sonst bei Szenariotechniken oder dem Jungen Institut für Zukunftsforschung ist hier der Anlass für die Produktion von Zukunftsszenarien: Es geht um Szenen und Szenarien des Subjekts, um das eigene Leben und den persönlichen Lebenslauf, aber auch den Verlauf des Lebens im Sinne von Vergänglichkeit. Von einer weiblichen »Erzähler-Erzieher-Experimentierleiterstimme aus dem Off«23 erhalten die Kinder in
der
Box
von
außen
Regie-
oder
Handlungsanweisungen,
deren
Grundbefehl
lautet:
‹Grow
up!‹
Es
ist
diese Stimme, von der die Spielerinnen den jeweils nächsten (Darstellungs-)Auftrag erhalten, in welches Alter und in welche Situation sie als Nächstes springen sollen. Es sind eigentlich immer Partyszenen, in die sie hineinmanövriert werden: Es beginnt mit einer Kindergeburtstagsparty mit Blinde-Kuh-Spiel, die dem
realen
Alter
der
Kinder
entsprechen
könnte,
führt
über
eine
Gothic-Rock-Party
im
Alter
von
19
über
eine
40.
Geburtstagsparty
bis
hin
zur
Sterbeszene,
die
in
einer
Mischung
aus
Feier
und
Altengymnastik
angesiedelt ist. Die Szene und das Zukunftsszenario Zoes 40. Geburtstag
soll
im
folgenden
der
Gegenstand sein; das hier verschriftlichte verkürzte Script ist eine Mitschrift der Videodokumentation.24 Musik, Paartanz, Verkleidungsvorgang (Große Kleidung, Brillen, Perücken, Bärte zeichnen). Wenn die Musik aus ist, Standbild/Gruppenfoto ums Sofa. Stimme: Zoe, you are the hostess. It’s your 40th birthday. You never thought this day would come. You have had a haircut, but it is a desaster. Take the plate of homemade sushi. You prepared it earlier. Stand in the middle and look at it, embarrassed. 21
22 23 24
Vgl. Matthias Weigel, »Spieglein, Spieglein an der Wand«, in: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_c ontent&view=article&id=5557%3Abefore-your-very-eyes-ua-gob-squad-spielt-am-hau-berlin-mit-erwachsenwerden-und-den-altersschablonen&catid=55&Itemid=100059 (Stand: 30. 09. 2013). Vgl. www.gobsquad.com/projects/before-your-very-eyes (Stand: 30. 09. 2013). Weigel,»Spieglein, Spieglein«. Aufgrund der Länge ist die Szene mit einigen Auslassungen transkribiert. Es fehlen alle szenischen Prozesse, die jeweils zwischen den Anweisungen der Stimme passieren.
218
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
Stimme: Maurice and Ramses, stand at the back, next to the televsion. Rames take the wine. Talk to Maurice about the wine. Impress him with your knowledge. (…) Stimme: Fons, take a seat in the corner. Try not to show your discomfort. Smile at Zoe. Zoe, catch Fonses eye. Is there something in that look? Stimme: Zoe, have an idea. Offer him a piece of sushi. Fons, take one. Remember to smile. Eat it. Try not to go red. Zoe, ask yourself what are you doing here. Look around, is everybody having a good time? Stimme:
Aiko,
you
are
desperate
for
a
dance.
Go
on,
try
to
persuade
somone.
Robbe, you give in. Dance quietly together in the corner, just the two of you. Stimme: Zoe, look jealous. You also wanted to have a dance. Now start eating your bad sushi. (…) Stimme:
Go
and
sit
on
the
sofa.
Go
and
sit
on
the
sofa.
Go
and
sit
on
the
sofa.
Stimme: Now say: What was an exciting and mysterious future is now starting to fade. You realise you are not special. As the world forgets you, as you learn there is no one watching and there never was. You know, the only part of you that will remain is that part, that has become someone else. Say it. Tasja: No. Why do you think you know it all? Who’s to say that i won’t do it all completley differently? Can I ask you something? Do you believe in fate? Stimme: I can’t tell you. I am just a voice. A recording. Tasja: So who is in charge here? And what is coming next? Stimme: Well, it’s obvious isn’t it? Robbe: We get older? Can we do the dying scene? Alle: Yeah, let’s do the dying.
Eva Plischke
219
2.1 Hinstellen – Vorstellen Am Beginn beider Szenen wird ein räumliches Setting oder Arrangement vor den Augen der Zuschauer erschaffen. Für die Ü70-Party werden mobile Tische, die auch für alle anderen Szenarien als modulares Material zu Verfügung stehen, von den Spielern gemeinsam umgestellt und so hingestellt, dass sie ihren Zukunftsvorstellungen eine räumliche Verfasstheit geben – oder andersherum: Durch das Stellen und Hinstellen von Material formen und konkretisieren sich die Vorstellungen einer Zukunftssituation. Wie bei Szenariotechniken wird Zukunft in einem räumlichen Vorgang aus einzelnen Bestandteilen allmählich zusammengesetzt. Die runde Bar der Ü70-Party ist zwar kein illusionistischer Raum, aber die Spieler können sich in die arrangierte Raumstruktur hineinstellen und damit in die erdachte Situation hineinversetzen, um sie weiter auszubauen. Sie stellen sich wiederum davor und blicken darauf zurück, wenn sie an das Mikrofon treten, um das nächste Los, den nächsten Schritt zur Entfaltung des Zukunftsszenarios zu ziehen und vorzulesen. Es ist keine Pointe, dass das griech. Wort skēnē
–
der
etymologische
Ursprung
des
Begriffs
Szenario
–
Hütte
oder
Zelt
bedeutet
und
im
griechischen Theatron der Teil der Bühne war, in dem Requisiten und Kulissen gelagert und angebracht wurden.25 Man kann die Spiegelbox in Before Your Very Eyes
als
skēnē
betrachten
–
eine
Hütte
für
Kulissen
und
Szenerien,
ein
Garderoben-
und
Verkleidungsraum,
ein
Backstageraum,
der
zur
Bühne
wird. Durch diesen Aufbau sind die Innen- und die Außenperspektive, die sich bei der Ü70-Party durch das Hinein- und Hinaustreten der Spieler abwechseln, von vornherein konzeptionell getrennt. Es gibt das Innenleben der Box und die Erzählerstimme von außen, deren Außenblick und Draufsicht der
Zuschauerperspektive
ähnelt.
Die
Stimme
eröffnet
die
Geburtstagsszene
dadurch,
dass
sie
den
Spielern Anweisungen gibt, sich im Raum aufzustellen: ›Zoe stand in the middle, Maurice and Ramses stand in the back, Fons take a seat in the corner.‹ Die Stimme repräsentiert in diesem Moment die Regieposition der klassischen Theaterprobe und inszeniert eine Art Stellprobe mit dem szenischen Personal – sie scheint das Szenarium, den Übersichtsplan in der Hand zu halten. Zukunftsszenarien als offener Probenprozess – durch das gemeinsame Um-, Hin- und Hineinstellen entstehen Vorstellungs- und Erfahrungsräume der Zukunft in einem kollektiven Prozess; dieser Verräumlichungsprozess wird zeitgleich von den Zuschauern nachvollzogen. Der Konstruktionsprozess von räumlichen Zukunftsszenarien ist ein synchroner Prozess des Produzierens und Rezipierens. Fischer-Lichte begreift performative Räume als sich ständig verändernde Räume, die das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern jeweils neu konzipieren und bei denen »Räumlichkeit durch Bewegung und Wahrnehmung der Akteure und Zuschauer ständig neu hervorgebracht wird.«26 Bedingung dafür sei die
leibliche
Kopräsenz
von
Akteuren
und
Zuschauern
in
einem
Raum
und
damit
die
Gleichzeitigkeit
von Produktion und Rezeption. Allerdings stellt das räumliche Setting von Before Your Very Eyes 25 26
Vgl. www.en.wikipedia.org/wiki/Skene_(theatre) (Stand: 30. 09. 2013). Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 199.
220
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
nicht die Theater- und Versammlungssituation dar, die meist mit Kopräsenz gemeint ist; denn es liegt eine deutliche Trennung und Distanzierung vor. Eingeschlossen in eine Spiegelbox, agieren die Akteure scheinbar unbeobachtet. Sie können die Zuschauer nicht sehen, sondern nur sich selbst im Spiegelbild. Die Zuschauer blicken durch eine Trennwand in einen Kasten, der an Fernsehformate wie Big Brother erinnert – ein medialer Aufbau, wie es für die intermedialen Theaterformen Gob Squads typisch ist. Performative Prozesse passieren hier nicht jenseits von Medialität, sondern schließen mediale Bildwerdungsprozesse mit ein. 2.2 Ansehen – Vorhersehen Die
Feier
zum
40.
Geburtstag
ist
nicht
wirklich
ein
Fest
–
sie
gleicht
eher
dem
Horrorszenario
einer
steifen
Stehparty
voller
sozialer
Zwänge.
Getanzt
wird
kaum.
Die
Spielweise
ist
daher
nicht
von
Bewegung und lebendiger Körperlichkeit geprägt. Vielmehr verharren die Spieler in Positionen und Posen im Raum und warten wie ferngesteuert auf das nächste Kommando, also die nächste Handlungsanweisung von außen. Die anfängliche Aufstellung der Personen im Raum bringt die Vorstellung eines Beziehungsgefüges hervor, das sich als dramatisches Potential der Situation im weiteren Verlauf Schritt für Schritt entfalten lässt. Das Zukunftsszenario entsteht aus einem Wechselspiel von Handlungen und dem Warten auf die nächste Handlungsanweisung, von Bewegung und Stillstand im Standbild. Durch das derart gebremste Spiel werden kausale Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Handlungen ausgelotet und Vorstellungen darüber ausgelöst, was als Nächstes passieren könnte, ganz im Sinne Kahns: Wie mag eine hypothetische Situation Schritt für Schritt zustande kommen? Oder: ›And what is coming next?‹ Stimme: ›Well, it’s obvious, isn’t it?‹ Man kann den Verlauf der Situation vorhersehen, weil man szenischen Darstellungen zusehen kann. Es sind aber nicht nur die erwachsenen Zuschauer und deren Repräsentantin, die Stimme, die Abläufen zusehen und sie potentiell vorhersehen können: Es sind auch die Spieler selbst, die sich im Spiegelbild bei ihren Darstellungen beobachten können. Sie lassen sich inszenieren und inszenieren sich zugleich im Spiegel selbst; auch sie agieren im Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive. Before Your Very Eyes meint auch die Augen und die Selbstbeobachtung der Akteure. Die Stillstellung zum Spiegelbild oder zur Pose lässt sich mit den Objektivierungsformen und medialen Repräsentationen des Szenarioprozesses vergleichen. Sie werden hier zum objektivierenden Erkenntnisvehikel, weil sie ermöglichen, auf
sich
selbst
und
auf
den
Prozess
zu
schauen
–
auf
das
eben
Gewesene
und
das
noch
Kommende.
Mediale Repräsentationen von Zukunft sind als Momente des Innehaltens in einem steten zeitlichen Verlauf des Vergehens und Werdens von Bildern zu verstehen. Sie repräsentieren Wegverzweigungen und Entscheidungsmomente des Verlaufs: Der Augenblick der Anschauung löst eine Vorhersage auf das Kommende aus, diese Vorhersage setzt wiederum einen szenischen Umsetzungsprozess in
Gang,
der
auch
ein
medialer
Bildwerdungsprozess
ist.
Aus
performancetheoretischer
Sicht
wird
Eva Plischke
221
künstlerischen
Reenactments
ein
kritischer
Umgang
mit
Bildern
und
Geschichtsbildern
attestiert:
Reenactments bringen »Bilder in Bewegung«27. Sie überführen historische Ereignisse, die in mythisch aufgeladenen Bildern konserviert sind, in sinnlich erfahrbare Nachahmungsprozesse, »die nicht dazu dienen, die historische Distanz zu kitten, sondern den Blick zu brechen und ein Vexierspiel zu generieren. Nicht für das Erleben, sondern für das Beobachten eines historischen Vorgangs und dessen mediales Zustandekommen erzeugen [Reenactmens] Aufmerksamkeit.«28 Da der Darstellungsakt beim Reenactment aber ein Akt der Wiederholung und Nachahmung ist, muss es immer auch einen Moment
der
Affirmation
geben,
bei
aller
Distanznahme
und
Beobachtung.
Inke
Arns
beschreibt
dies
als Paradox: »In this way the artistic re-enactment confronts the general feeling of insecurity about the meaning of images by using a paradoxical approach: through erasing distance to the images and at the same time distancing itself from the images.«29 Wie bisher deutlich wurde, sind auch die Darstellungsakte
in
den
Szenen
und
Zukunftsszenarien
von
einer
Mischung
aus
Affirmation
und
Distanznahme zu einer Situation geprägt – und mehr noch: Das Hervorbringen von Zukunftsvorstellungen und -vorhersagen im szenischen Prozess scheint auch etwas mit Wiederholung und Nachahmung zu tun zu haben. Die Akteure produzieren Zukunftsszenarien, indem sie selbsterzeugte Bilder rezipieren, vorgegebene Handlungsanweisungen ausführen oder vorgesagte Texte nachsprechen. 2.3 Vorsagen – Vorhersagen Am Ende der Szene Zoes 40. Geburtstagsparty outet sich die Erzähler-Stimme als ›recording‹, nachdem eine Spielerin das Nachsprechen eines Satzes verweigert und zurückfragt, ob die Stimme eigentlich alles wisse und an Schicksal glaube; denn die Stimme gibt vor, was die Spieler tun, worüber sie reden und was sie denken oder fühlen sollen: ›Do it!‹, ›Say it!‹ und ›Think this!‹ lauten ihre Befehle. Als
soufflierende
oder
einflüsternde
Macht
trifft
sie
Vorhersagen,
indem
sie
etwas
vorher
sagt:
Alles
scheint unter Ankündigung zu passieren. Vorhersagen wird als doppelter Akt des Vorsagens und Nachsagens ausgestellt. Je nachdem wie die Spieler die Vorhersagen und Anweisungen umsetzen und
interpretieren
–
ob
affirmativ
oder
distanziert,
übertrieben
oder
nachlässig,
euphorisch
oder
unwillig
–
machen
sie
die
Wirkung
des
Vorher-Gesagten
in
der
szenischen
Situation
erfahrbar,
fügen
den Vorhersagen eine Bedeutung hinzu. In diesem Zusammenspiel von Sagen und Zeigen bzw. Ma27
Annemarie Matzke, »Bilder in Bewegung bringen. Zum Reenactment als politischer und choreografischer Praxis«, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 125–138, hier: S. 125. 28
Jens
Roselt,
» Geschichte
wird
nachgemacht.
Serie
Deutschland
von
Hoffmann&Lindholm
und
Deutschland
2
von Rimini Protokoll als künstlerische Reenactments«, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 53–70, hier: S. 69. 29 Inke Arns, »History Will Repeat Itself: Strategies of Reenactment in Contemporary (Media) Art and Performance«, in: http://www.en.inkearns.de/files/2011/05/HWRI-Arns-Kat-2007-engl.pdf, S. 3 (Stand 30. 09. 2013).
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
222
chen wird das Zukunftsszenario hervorgebracht. Das Vorsagen produziert Vorhersagen, die sich im Jetzt der Ausführung für alle sichtbar bewahrheiten oder verändern können – oder eben verweigert werden. Es steht oft nicht im Vordergrund des Performativitätsdiskurses, dass die performativen Sprechakte, die Austin beschreibt, feststehende, formelhafte und überlieferte Sätze sind. Den performativen Sprechakten, durch die sich eine neue soziale Wirklichkeit konstituiert, ist also per se ein
Moment
der
Nachahmung
und
Reproduktion
von
etwas
Gegebenem
immanent.
Ähnliches
gilt
für die Aufführung, deren Ereignischarakter im Performativitätsdiskurs zwar als einmaliges Ereignis gefeiert wird, eine Aufführung sich aber genauso als stets neu zu realisierende Ausführung von Vorgeplantem, Vorgeprobtem oder Vorgesagten perspektivieren lässt. »Der Aspekt des Sich-BestimmenLassens, der sowohl im Sprechakt als auch im Ritual immer impliziert ist, bleibt meist unbeachtet. Wie sich […] herausgestellt hat, handelt es sich bei Sprechakten, körperlich vollzogenen performativen Akten und Aufführungen gerade um das Zusammenspiel von Bestimmen und Sich-BestimmenLassen, das ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt.«30
In
Zoes
40.
Geburtstagsparty
führt
das
Prinzip
des Sich-bestimmen-Lassens durch die Befehle der Stimme einerseits dazu, dass sich die Spieler auf ein Szenario einlassen und dieses entstehen lassen können, andererseits wirft dieses Prinzip Fragen nach der Selbstbestimmheit der Kinder und Jugendlichen und der Vorbestimmtheit ihrer Zukunft auf. So
bricht
Tasja
aus
dem
Zukunftsszenario
des
40.
Geburtstags
in
dem
Moment
aus,
als
die
Zukunft
als
eng
erfahren
und
definiert
wird:
›What
was
an
exciting
and
mysterious
future
is
now
beginning
to fade.‹ Sie fordert mehr Spielraum und Selbstbestimmung ein: ›Who’s to say that I won’t do it all completely different?‹ Sie widersetzt sich hier zugleich als Jugendliche einer Erwachsenenperspektive. Es ist hörbar, dass die Erzählerinnenstimme einer Erwachsenen gehört, die um die 40 Jahr alt sein mag und die Kinder in ein Szenario hineindirigiert, das für sie Lebensrealität sein könnte. Es ist also auch eine Weigerung der Kinder, es so zu machen wie die Erwachsenen – »Ihr könnt uns nicht repräsentieren«, »So wollen wir nicht vorhergesagt werden.« 2.4 Improvisieren – Visionieren Für das Zusammenspiel von Vorbestimmtem und Unbestimmtem gibt es in der Sprache der Szenariotechiken die Terminologie von Predetermined Elements und Critical Uncertainties.31 Letztere sind die Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten, die im Prozess intuitiv geschätzt oder mit Phantasie ausgemalt werden müssen. Den Umgang mit dem Unvorhergesehen nennt man auch Improvisieren (»improvisus« ist die Verneinungsform von »provisus« – vorhergesehen).32 Der Raum für Improvisationen
entsteht
in
beiden
Szenen
im
Zusammenspiel
mit
den
fixierten
Vorgaben:
Wie
beim
Impro30 31 32
Fischer-Lichte, Performativität, S. 88. Vgl. Schwartz, The Art of the Long View, S. 47. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation) (Stand: 30. 09. 2013).
Eva Plischke
223
visationstheater geben die Lose und die Stimme in beiden Szenen Handlungsanweisungen vor, die jene Spielräume eröffnen, die durch die Spieler bestimmt und mitbestimmt werden: Seien es explizit inhaltliche Lücken, die von den Spielern gefüllt werden, wie die Frage, was auf den Bannern der Ü70Party steht und welche Parolen von den Alten gerufen werden. Aber auch Darstellungsfragen bleiben offen: Wie bewegen sich über 70-Jährige, wenn sie eine Party feiern? Wenn im Ü70-Szenario auf dem letzten Los steht, dass alle über 70-Jährigen tanzen, sind die Akteure aufgefordert, dies zu tun – wie sie
es
schließlich
tun,
nämlich
ziemlich
beweglich
und
jugendlich,
definiert
das
Zukunftsszenario
und
seine Bedeutung entscheidend mit. Das Alter »Ü70« kann als etwas anderes wahrgenommen werden, als was wir heute darunter verstehen: Die Alten werden die neue Jugend sein. Anders als in demografischen
Diskursen,
in
denen
Älterwerden
und
Überalterung
vorrangig
als
Problem
und
Defizit
wahrgenommen
werden,
kann
hier
die
Interpretation
einer
Lebensspanne
und
des
demografischen
Wandels
tendenziell in Bewegung gebracht werden – im Vorgang des Tanzens. Der Akt der Improvisation ist damit
auch
ein
Akt
der
Interpretation,
der
hier,
anders
als
bei
grafischen
Repräsentationen
oder
wissenschaftlichen Expertisen, durch die szenische Trennung von Darstellungsauftrag und Darstellungsweise zur Schau gestellt wird. Im Akt des Interpretierens und Improvisierens wird Zukunft (mit) bestimmt. Sie wird visioniert, sprich zur Erscheinung gebracht – nicht als etwas, das schon existiert und sich materialisieren muss, sondern als etwas, das performativ hervorgebracht und dessen Bedeutung gesucht werden muss. Daher ist Improvisation mit dem Phänomen und Begriff der Emergenz in Verbindung zu bringen, den Fischer-Lichte in ihrer jüngsten Publikation zu Performativität ins Spiel bringt. Das Phänomen des Emergenten verweise auf eine neue Einstellung gegenüber der Zukunft: Zukünftiges tauche in einem performativen Prozess als emergentes Phänomen plötzlich auf.33 2.5 Verkörpern – Vergegenwärtigen Jedes Zukunftsszenario in Before Your Very Eyes beginnt damit, dass sich die Spielerinnen vor dem Spiegel verkleiden und schminken, um älter zu werden und zu wirken. Sie schlüpfen in das jeweils nächste
Alter
und
damit
in
eine
fiktive
Figur,
die
in
diesem
Fall
eine
jeweils
gealterte
Version
ihrer
selbst ist. Es geht um einen klaren Darstellungsauftrag: ‹Act your Age!‹ Es ist gerade dieses Moment der theatralen Repräsentation, das den Reiz des Spiels für die Kinder auszumachen scheint: groß sein dürfen. Der Vorgang, in eine andere Zeit und eine andere Rolle einzutauchen, sich körperlich in ein Geschehen
zu
involvieren,
das
nicht
Hier
und
nicht
Jetzt
ist,
wird
grundsätzlich
affirmiert.
Zukunftsszenarien sind hier »Räume der Hyperreferentialität«34, die helfen, sich einen anderen Zustand zu vergegenwärtigen, ihn sich klar vor Augen zu führen. Wie beim Reenactment könnte man polemisch
33 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 76. 34
Roselt,
» Geschichte
wird
nachgemacht«,
S.
68.
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
224
sagen, »die Performance wird hier das, was sie nie sein wollte: Theater«35. Allerdings müsste man polemisch hinzufügen, dass es ziemlich schlechtes oder »armes Theater« ist: Die Verkleidungen und Verwandlungen bleiben bei Before Your Very Eyes
grob
und
zeichenhaft,
geradezu
oberflächlich.
Keine perfekte Illusion, keinerlei Veränderung der Stimmen oder der Körperlichkeiten, sondern Kinder in zu großer Kleidung mit angemalten Bärten oder einem Kissen unter dem Pulli kommen dabei heraus. Je älter die darzustellenden Versionen des eigenen Selbst sind, umso deutlicher treten die Zeichenhaftigkeit und die Distanz zwischen Spieler und Figur hervor. Man sieht dann vor allem die KinderKörper und ihr »Noch-Nicht-Altgewordensein«36. In dieser Perspektive lässt sich das ganze Stück als Kinderspiel oder große Verkleidungsparty im Hier und Jetzt begreifen: Kinder spielen Erwachsene und bleiben dabei dadurch umso mehr Kinder. Statt Zukünftigkeit bringen Verkörperungen dann Gegenwärtigkeit
und
Präsenz
hervor.
Verkörperung ist die zentrale Kategorie der szenischen Darstellung – Verkörperung und Darstellung werden in der Theatersprache oft synonym verwendet. Dabei ist Verkörperung als Konzept kein einfaches: In den Theaterwissenschaften gilt, dass der Körper des Schauspielers immer zugleich ein phänomenaler
und
ein
semiotischer
Körper
ist
–
der
spezifische
Schauspielerkörper
ist
zugleich
Träger
von
Zeichen.
Wie
Fischer-Lichte
zeigt,
hat
das
Konzept
der
Verkörperung
auf
Grund
dieser
Doppelung
historisch eine radikale Umdeutung erfahren.37 Im 18. Jh. entsteht der Begriff im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Schauspielkunst, die den Schauspieler ganz in den Dienst der Repräsentation einer Figur und eines Textes stellt. Er hatte die Figur, die im Text angelegt war, unverfälscht zur Erscheinung zu bringen, und zwar so, dass dabei sein phänomenaler Leib nicht als solcher wahrgenommen wird.38 Später erfährt der phänomenale Leib eine Aufwertung gegenüber dem Text: Die Figur hat überhaupt nur durch den jeweiligen Schauspielerkörper Existenz, sie existiert nur in seinen körperlichen Vollzügen. Die steht in Zusammenhang mit Verkörperungstheorien in den Kulturwissenschaften: Embodiment als Konzept der gelebten Erfahrung und des Zugriffs aus die Welt über den Körper wird dem Konzept der Repräsentation gegenübergestellt.39 Auch im Theater des 20. Jh. wird Verkörperung zu einem radikalen Konzept der Anti-Repräsentation gemacht: Die individuelle Körperlichkeit des Performers wird in seiner Präsenz ausgestellt – dies geschieht auch, indem Darstellerkörper und Figur offenkundig auseinanderfallen: »Techniken und Praktiken zur Separierung von Darsteller und Figur lassen sich zugleich als Techniken und Praktiken zur Erzeugung von Präsenz 35 36 37 38 39
Roselt/Otto, »Nicht hier, nicht jetzt«, S. 11. Weigel, Matthias, »Spieglein, Spieglein an der Wand«, S. 1. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 139. Ebd., S. 130–132. Ebd., S. 153.
Eva Plischke
225
beschreiben«.40 Repräsentation und Präsenz treten in ein umgekehrtes Spannungsverhältnis: Es ist die Repräsentation, die Präsenz hervorbringt – UND umgekehrt. Ist Verkörpern also ein Vorhersageverfahren UND ein Vergegenwärtigungsverfahren im Sinne einer Präsenztechnik? In der Tanzszene der Ü70-Party des Jungen Instituts für Zukunftsforschung ist dies nicht
mehr
unterscheidbar:
Ganz
ohne
Verkleidung
arbeiten
sich
die
Spieler
hier
an
einer
beinahe
unlösbaren Darstellungsaufgabe, einem Darstellungsproblem ab: Wie können sich Jugendliche wie 70-Jährige bewegen, die aber – so das Szenario – die neue Jugend sind? Wie stellen junge Menschen alte Menschen dar, die wie junge Menschen sein sollen? In der körperlichen Bewegung des Tanzens fallen
verschiedene
Zeiten
in
eins:
das
Zukunftsszenario,
die
Gegenwart
wie
auch
die
Vergangenheit
– denn das Szenario ist zusätzlich durch die Erzählung eines Rückblicks gerahmt und eingeleitet. Die Figur einer alten Frau erinnert sich aus der Perspektive des Jahres 2063 an das Junge Institut für Zukunftsforschung
und
die
Szenarien,
die
dort
entworfen
wurden.
Durch
den
fiktiven
Rückblick
geraten
die Szenarien selbst in den Verdacht der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit: Aus der Perspektive einer
zukünftigen
Gegenwart
werden
die
Zukunftsvorstellungen
gleichsam
historisch
und
haben
möglicherweise nichts mit dem zu tun, was einmal der Fall sein wird. Mit einer solchen Parallelität oder Überlagerung der Zeitebenen spielt auch Gob Squad: Zwischen den jeweiligen Zukunfts-Party-Situtationen werden zwei Jahre als Aufzeichnungen der mitwirkenden Kinder eingespielt, die Fragen an ihr zukünftiges Ich richten. Die real um zwei Jahre gealterten Spieler begegnen ihrem früheren Selbst auf Video und treten mit ihm (sich selbst) in Dialog. Die Altgewordenen, die Noch-nicht-Altgewordenen, die, die älter werden wollen, und die, die nochmal jung sein wollen, das frühere und das zukünftige Selbst,
die
überalterte
Gesellschaft
der
jung
gebliebenen
Alten,
die
aktuellen
und
die
veralteten
Zukunftsszenarien – dieses un-zeitliche Personal und Material tritt in beiden Szenen gemeinsam auf und interagiert pausenlos. 3. Hiermit eröffne ich das Junge Institut für Zukunftsforschung – Zukunftsbezüge performativer Handlungsvollzüge und Präsenzformen performativer Zukunftsforschung In den Ausführungen zu Zukunftsszenarien als szenischer Praxis lag die Aufmerksamkeit darauf, wie Zukünftiges im Darstellungsvorgang hervorgebracht wird. Hier konnten szenische Verfahren wie Hinstellen und Aufstellen, Posen einnehmen und ansehen, Sagen und Zeigen, Improvisieren und Verkörpern als Vorhersageverfahren herausgearbeitet werden. Es sind Verfahren, mit denen Zukunftsszenarien im performativen Handeln hervorgebracht werden – die Kategorie der Handlung steht nicht als Handlungsempfehlung wie sonst bei Szenariotechniken am Ende des Prozesses, sondern konstituiert den Prozess selbst. Fischer-Lichte hebt in ihrer jüngsten Publikation zu Performativität – anders als in 40
Ebd. S. 170.
Diese Zukunft heißt Ü70-Party
226
der Ästhetik der Präsenz – erstmals hervor, dass performative Akte per se auf die Zukunft bezogen seien.
Auf
Grund
ihrer
transformativen
Eigenschaft,
Wirklichkeiten
zu
konstituieren,
markieren
sie
immer
den Übergang von einem Zustand in einen anderen, den Anfang von etwas Neuem. Es bestünde daher eine Nähe zur Zukunftsforschung: »Performativitätsforschung als Zukunftsforschung zu betreiben, kann daher nicht heißen, normative Zukunftsbilder zu entwerfen, sondern den Verlauf performativer Prozesse zu erforschen, welche Zukünftiges hervorbringen.«41 Anhand der oben genannten Verfahren konnte aber darüber hinaus deutlich gemacht werden, dass das Hervorbringen von Zukünftigem immer
im
Zusammenspiel
mit
materiellen
Gegebenheiten,
mit
medialen
Aufbauten
und
Bedingungen,
mit
Vorgesagtem
und
Vorproduziertem,
mit
Repräsentationen
von
Figuren,
fiktiven
Zeiten
und
Räumen
passiert. Das Verfahren der Verkörperung – aber auch die anderen Verfahren – kann daher auch den umgekehrten Effekt der Vergegenwärtigung haben und damit zugleich als Präsenztechnik gelten. Zukunftsszenarien
performativ
zu
nehmen
macht
sichtbar,
wie
Gegenwart
und
Zukünftigkeit,
wie
Präsenz
und
Repräsentation
einander
bedingen,
beeinflussen
und
sich
wechselseitig
hervorbringen.
Dieses relationale Verhältnis ist immer gegeben – in der Ästhetik des Performativen, bei performativen
Sprechakten
oder
der
Wirkung
von
medialen
Repräsentationen
von
Zukunft
auf
die
Gegenwart
im Kontext von Szenariotechniken. Im szenischen Prozessen, wie sie hier beschrieben wurden, wird diese permanente Wechselwirkung aber offengelegt und beobachtbar gemacht: Das eine bringt das andere hervor und umgekehrt. Es handelt sich um einen permanenten Prozess der Transformation eines Zustands in einen anderen, um eine permanente Bewegung. Wie bei Simulationsläufen im Computermodell ist alles in Bewegung und in seiner Veränderung voneinander abhängig. Zukunft wird körperlich ver- und behandelt und ist nicht ablösbar vom Prozess des Erstellens. Objektivierungsformen, Bilder und mediale Repräsentationen sind ein Innehalten innerhalb dieser Bewegungen, ihre Produktion und Rezeption passiert gleichzeitig. So bleiben auch Bedeutungen und Interpretationen ständig in Bewegung. In performativen Prozessen werden neue Bedeutungen intendiert und unintendiert hervorgebracht. Im Zusammenspiel von Bestimmen und Sich-bestimmen-Lassen passieren solche Bedeutungsveränderungen und Veränderungen des Verlaufs generell als sichtbare Suche nach Bedeutung
und
in
der
Differenz
zu
Gegebenem
oder
Überliefertem.
Interpretationsvorgänge,
die
bei
medialen Repräsentationen von Zukünften nicht expliziert und mitkommuniziert werden, können bei performativen Vorhersageverfahren wie dem Vorsagen ausgestellt und vorgeführt werden. »Each of the suggestions about the future, they move around a bit, they shimmer. And maybe that in itself is also hopeful – that things are constantly shifting and constantly moving.«42
41 42
Fischer-Lichte, Performativität, S. 85. Terry O’Connor (Forced Entertainment) im Videointerview über die Performance Tomorrow’s Parties, in: www.youtube.com/watch?v=H2R089WovDw (Stand: 30 .09. 2013).
Eva Plischke
227
Das performative Verständnis von Zukunftsprognosen oder Zukunftsszenarien kann auch außerhalb des
Theaters
die
Wirkung
von
Zukunftsrepräsentationen
auf
die
Gegenwart
deutlich
machen
und
invertieren:
Bei
szenischen
und
situativen
Zukünften
wird
Gegenwart
nicht
verdrängt
und
verengt,
sondern als gesteigerte oder erweiterte Präsenz hervorgebracht. In den hier beschriebenen szenischen Prozessen eröffnen Repräsentationen ferner Zukünfte Handlungsspielräume für Kinder und Jugendliche
in
der
Gegenwart.
Die
Zukunft
wird
zu
einem
begehbaren
Raum,
in
dem
aktuelle
Wünsche
und Sehnsüchte probeweise durchgespielt werden können. Zukunft wird nicht geprobt, wie bei einem Training für die Zukunft, sondern erprobt. Before Your Very Eyes scheint vom kindlichen Wunsch getriggert zu sein, endlich erwachsen zu werden, und stellt einen Spiel-Raum zur Verfügung, in dem Kinder in die Rollen von Erwachsenen schlüpfen können. Das Junge Institut für Zukunftsforschung ermächtigt Kinder und Jugendliche, in die Rolle von Zukunftsforschern zu schlüpfen und Erwachsene in Zukunftsfragen zu beraten. Initiert wurde dieser Prozess mit einem szenischen Eröffnungsfestakt im Theater und einem performativen Sprechakt par excellence: »Hiermit eröffne ich das Junge Institut für Zukunftsforschung!« Obwohl – oder gerade weil – dies im Theater geschah, führten die Schülerinnen im
Anschluss
Befragungen
auf
der
Straße
durch,
trafen
Akteure
der
Stadt
Hamburg
zum
Gespräch
und konnten durch die Aufführung im Theater ihre Zukunftsprognosen und -szenarien an Auftraggeberinnen
und
eine
neue
Öffentlichkeit
richten.
Eine
hypothetische
wie
fiktive
Zukunftssituation,
in
der Schülerinnen als Zukunftsberater auftreten und gehört werden, konnte durch performative Akte als Wirklichkeit konstituiert und praktiziert werden. (Zukunfts-)Fiktionen erweisen sich als Werkzeug dafür,
Handlungspotentiale
in
der
Gegenwart
auszuloten.
Gerade
für
Kinder
und
Jugendliche
könnten Zukunftsszenarien in performativer und interventionistischer Form eine politische Handlungsermächtigung
in
der
Gegenwart
bedeuten.
Bloomsday beim Begehen der Orte privater Odysseen wieder aufblühen Andreas Spohn
Andreas Spohn
229
Dem
klassischen
therapeutischen
Setting
stehen
viele
Varianten
und
Modifikationen
zur
Seite.
Im
Falle des »Bloomsdays« verlässt der Patient bei gegebenem Wunsch und bei Machbarkeit Couch und Praxis und läuft, begleitet vom Therapeuten, Stationen eines exemplarischen Tages oder eines kompilierten Wegabschnitts seines Lebens ab. Nicht als Schauspieler auf der Realbühne des eigenen Lebens,
sondern
als
Guide
und
Kommentator.
Denn
die
Präsenz
der
Orte
spielt
eine
wichtige
Rolle
bei
der
Neuformulierung
der
an
sie
gebundenen
Geschichten,
denen
der
Therapeut
nun
in
einer
Funktion
zwischen Zeuge und Schutzgeist beiwohnt.
Der Korrekturwunsch Eine eigene Psychoanalyse gab mir den Impuls, das traditionelle Setting, immobil in einer fremden Praxis zu Erlebnissen und Einfällen zu berichten, aufzubrechen: Dort fand ich bisweilen Worte allgemein zu schwach, um einer Situation Authentizität zu verleihen. Aber auch im Speziellen fand ich bisweilen Zeit und Ort unpassend, um strittig-erhitzte Situationen gegenüber einem neutralen Spiegler,
einem
stets
verspäteten,
reinen
Spielberichts-Schiedsrichter,
aufleben
zu
lassen.
Örtliche
und zeitliche Nähe fehlten mir, um mehr Affekte einzubringen, schienen dem Analytiker zu fehlen, um besser zu verstehen.
Geeignet
für
ortsgebundene
innere
Konflikte »Könnte
doch
ein
neutraler
Richter
sehen,
was
ich
jetzt
sehe
und
empfinde!« Viele erinnern sich noch an
den
Ausdruck
des
Unglaubens
im
Gesicht
Frank
Lampards,
als
sein
Schuss
im
Achtelfinalspiel
2010 gegen Deutschland schon im deutschen Tor war, der Ball aber wieder ins Spielfeld gelangte. Lampard und Millionen andere haben die ganze Szene gesehen, der Schiedsrichter aber nur den zweiten Teil: als der Ball wieder im Spielfeld war. Was seine Nichtwertung des Tores bei dem Engländer auslöste, können die meisten nachvollziehen. Vielleicht könnte man noch eine Rote Karte gegen Lampard hinzudenken, die den Unglauben gegenüber dem sein Tor nicht anerkennenden Referee als Provokation auch noch bestraft (schon der Ökonom Adam Smith hob stark den grundlegenden menschlichen Aufruhr gegenüber dem unberechtigt tadelnden Blick der anderen hervor). Auch ohne das psychoanalytisch klassische Dreieck »VaterMutter-Kind«
als
Nadelöhr
von
Geschlechts-
und
Generationskonflikten
wäre
hier
leicht
die
Entscheidung der Autorität Auslöser von Komplexen, Ängsten und Ritualen bei einer ähnlichen Situation in der Zukunft. Weltweit universell, so die Interkultur-Forschung, sind v. a. die Einstellungen gegenüber Autoritäten und die Routinen zum im Umgang mit Unwägbarkeiten entscheidend.
230
Bloomsday
Wo hier eine Torkamera Abhilfe geleistet hätte, müsste man, übertragen auf das in der Analyse verhandelte (subjektiv) reale Leben, das alles sehende Auge bzw. ubiquitäre Überwachungskameras zu Rate ziehen. Oder wie sehr kann die Zeugenschaft ausgeweitet werden? Zunächst sollen zwei geistesgeschichtlich prominente und therapeutisch relevante Antworten zu dieser Zeugen- oder »Kamerafrage« verglichen werden, die beide einen »Fortschritt« reklamieren. Die sodann vorgestellte »Bloomsday-Begleitung« vereint Aspekte beider. Nehmen wir an, dass das Paradigma sowohl Lampard als auch der Schiedsrichter sein könnten, die beide keine Kamerabilder haben und mit dem Resultat ihres subjektiven Eindrucks leben müssen. Wie kann nun aus den Qualen dieser Einsamkeit ein therapeutischer Eingriff, evtl. ein Bezeugen weiterhelfen?
1. Die Antwort von Qadeš, ca. 1300 v. Chr.: … dass man genauso gut auch falsch gelegen haben könnte, erzeugt nach all dem Ärger über die vorwurfsvoll bis unbeirrt vorgetragene Fremdperspektive eine nachträgliche Disziplin (einen »Geistigkeitsfortschritt«). Freud
meint
in
seinen
Überlegungen
zur
Definition
des
Jüdischseins,
dass
ausnahmslos
alle
Menschen
speziell
unter
disziplinarischen
Forderungen
im
Generationenkonflikt
(Jüngere
gegen
Ältere)
leiden. Die Juden zu Zeiten des Aufbruchs ins Heilige Land etwa hätten gar ihren ägyptischen Leader Moses umgebracht, weil ihnen seine Strenge – er folgte seinem universalen Sonnengott – zu viel wurde. Genau
dieser
Mördertrupp
sei
dann
aber
nach
einer
Latenzzeit
nomadischer
Wanderungen
bei
einem
Stamm
mit
Vulkangott-Glauben
im
Sinai
(bei
Qadeš)
gelandet,
wo
er
das
zuvor
abgelehnte
Prinzip
des Monotheismus wiedererkannte und akzeptierten konnte. Mehr noch: In Erinnerung an die Untat am
ermordeten
Moses
habe
man
gleich
noch
einige
Gebote
zusätzlich
in
den
vulkanisch-eruptiven
Jähzorns-Gott
der
A sylgeber
projiziert. Mit
dem
Gott,
den
der
ermordete
Moses
im
Sinn
hatte,
identifizieren
sich
die
von
ihm
einst
als
Begleiter
erwählten
Gastarbeiter
also
ideell:
Der
Glaube
wird
nicht
eigentlich
erinnert,
sondern
(ganz
ohne
Schauspielerei) in der neuen, irgendwo ähnliche Züge tragenden Umgebung wiederaufgeführt bzw. »reenacted«.
Diesen
Glauben
aus
Schuldbewusstsein
heraus,
diese
unbewusste
Reue
nennt
Freud
einen
»Fortschritt
in
der
Geistigkeit«. Freuds Zutat zu seiner nicht unumstrittenen Beschreibung einer (jüdisch) transgenerativen, gruppeninhärenten
Suche
nach
einer
Reinigung
des
Gewissens
–
wie
sie
dann
an
einem
ausgesuchten
Ort
Andreas Spohn
231
(Qadeš)
gefunden
wird
–
zielt
hingegen
eher
auf
»moderne
Leiden«.
Seine
Psychoanalyse
sucht
nach
Fortschritt für individuelle Läuterungswünsche: Ein Lampard käme ja, geplagt von der Frage nach dem Umgang mit der Autorität bzw. den sozialen Spielregeln. Der Fortschritt der Reue ist hier erst der Nullstand der Kur. Sie kann nur noch in Bezug auf die bewusste Einsicht »nachbessern«, um noch weiter
fortzuschreiten.
Der
Glaube
an
einen
»Sündenbock«
à
la
Jesus
wäre
kontraproduktiv,
vielmehr
solle
man
sich
als
selbst
als
Begründer
(»Grundlieferant«)
des
Schuldgefühls
kennen
lernen. Um
dies
zu
erreichen,
schlägt
Freud
die
Neutralisierung
des
Ortes
vor.
Ort
der
Kur
und
Ort
des
Geschehens sollen nichts miteinander zu tun haben. Klar: In der Kur erkennt nicht die »tabubrechende« Gruppe
ihren
Verstrickungsgrund
an
einem
ähnlichen
Ort
wieder,
sondern
ein
Zeuge
der
Berichterstattung
eines
einzelnen
Gruppenmitgliedes
findet,
dass
ihm
selbst
auch
etwas
angelastet
wird.
Von
da aus kann er so etwas wie »Anlastungsmuster« erkennen, Orte und Personen erraten, an denen sich der Ärger ursprünglich entzündete. So kann er zuletzt den Berichterstatter zu mehr Distanz gegenüber diesen Mustern leiten, ihm deutlich machen, dass ihn an diesem neutralen Ort der therapeutischen Praxis und allen dort thematisierten Orten der Aufregung ein realer, aber innerer Ort beeinflusste. Freuds Mitgift: In
jeder
gegenwärtigen
Intention
ist
mit
einem
Einfluss
seitens
eines
»anderen
Schauplatzes« zu rechnen: Gerade bewusste Ideale und besonders hartnäckige Rationalität verweisen auf das Unbewusste, Ursprung und Resultat eines gewollten/realisierten Impulsauslebens. Die Psychoanalyse setzt hier erst an, lässt alles zum Leben, Ausleben und Auslebenwollen berichten, um unkontrollierbare Tendenzen zu erkennen. Man könnte sagen: ein Verfahren zur Beschleunigung des Prozesses, rückschreitend mit dem »Fortschritt in der Geistigkeit« besser klarzukommen. Worte (nichts als den Ort des Urvorfalls repräsentierende Worte) zur eigenen Verstrickung können vom Schuldgefühl und vom fortgesetzten Handeln in vergangenen Schauplätzen befreien – speziell wenn sie möglichst ungeschönt, wenn auch in aktuellem Konstruktgewand einem Analytiker anvertraut werden, raum- und zeitenthoben. Fazit bzgl. der Kamerafrage nach verkanntem Torschuss: Es liegt im Wesen des Unbewussten, seine Geschichte erzählen zu wollen, es liefert also immer ausreichend Bilder. Vielleicht war das eingeforderte Tor ein »Versehen«, eine optische Täuschung. Es wird im Leben viele anerkannte und unerkannte Leistungen, aber auch Fehlleistungen geben. Entscheidend ist, welche Muster sich daraus entwickeln und wie man sie in Balance mit sich und anderen bringt. Eventuell vorhandenes Filmmaterial zu nutzen wäre tabu (was es zeigen kann, ist nichts, was das Subjekt beschwichtigt, denn auch von den weniger
232
Bloomsday
belastenden erwartungskonformen Situationen wird es viele geben). Lampard würde im Verlauf der Kur z. B. weitere ähnliche »Beschwerden« vorbringen (Reenactments bestimmen das Leben in Verdrängung), letztlich auch gegen den Analytiker. Dieser würde ihn auf eine Kraft hinweisen, die ihn drängt, mit diesen »geistigkeitsfortschrittlichen« Darstellungen seine Identität stark gestaltende Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Ex negativo bekommt das in vielen konkreten Orten/Situationen genannte Thema ursprünglicher Vorfälle als Denk- und Handlungsdisposition Kontur und kann einsichtig integriert werden (ein rein gedanklicher Ortswechsel von privater Realität zu bezeugter symbolischer Kontur).
2. Athen, ca. 500 v. Chr.: … dass man genauso gut auch falsch gelegen haben könnte, erzeugt nach all dem Ärger über die vorwurfsvoll bis unbeirrt vorgetragene Fremdperspektive ein nachträgliches spielerisches Impulsausleben (einen »Wahrnehmungsfortschritt«). Nietzsche
definiert
in
einem
frühen,
wiederum
Götter
als
Sinnbild
eines
Zeitgeistes
heranziehenden
Essay
einen
anderen
Fortschritt,
nicht
den
einer
auch
Leid
bringenden
»Geistigkeit«,
sondern
den
einer
gerade
sie
kreativ
(künstlerisch-tätig)
abmildernden
Neu-»Wahrnehmung«.
Er
findet
sein
Paradigma
bei
den
Griechen,
denen
auch
Freud
die
höhere
Harmonie
von
geistiger
und
körperlicher
Tätigkeit zuerkannte. Bei
Nietzsche
geht
es
also
nicht
um
nachträglichen
Gehorsam,
sondern
um
das
aktive
Zulassen
undisziplinierter Impulse, sofern es gelingt, sie nicht plump auszuagieren, sondern sie sogleich mit ausreichend künstlerischer Schöpfungshöhe darzustellen (die heutigen Kriterien zum Anspruch auf Urheberrechtsschutz: Ideen für andere wahrnehmbar und willentlich individuell auszudrücken, passen hier recht gut, im Sinne Nietzsches müsste man noch das Kriterium eines »tragischen« Inhalts hinzufügen). Eine Synergie gleich zweier »Kunstgötter« komme hier zum Tragen: Zunächst inspiriert Dionysos, der
stets
Impuls-Taten
wie
einen
Moses-Mord
im
Schilde
führt,
zu
einem
tabulosen
Gedanken
an
tragisch »Allerschlimmstes«. Nicht verspätet gehorsam, sondern diesen Impuls in eine nicht-mörderische, nicht-auslebende Ausdrucksform einkleidend, tritt ihm Apollo zur Seite, der den unbewussten Grenzüberschreiter-Willen
als
schön
erscheinen
lässt
(Nietzsche
nennt
etwa
den
auch
bei
Freud
bedeutsamen Vatermord durch Ödipus als Ergebnis eines solchen Impulses). Nietzsche hat also als Commemorations-Paradigma nicht die jüdische re-ligio und ihre bündischen Feiern wie etwa die Jom Kippur-Rückbindung im Sinn: Sein Beispiel sind vielmehr die Dionysosfeste Athens bzw. auch der heutige Karneval. Der Chor bzw. die Teilnehmenden tanzen sich vergnügt (und
Andreas Spohn
233
nicht unbehagt sprechend) das Trauma der Existenz aus dem Leib, befeuern Schauspieler zur distinktiven
Darstellung
ihres
Lebens-GAUs
in
tragischen
Ton-
und
Stimmungsfolgen
(in
unseren
Tagen
veranschaulicht Sven Königs »Scrambled Hackz«-Software diese Rückübersetzung von der Satzmelodie allgemein verständlicher Messages in die tragischen Klänge seines Soundarchivs). So also Nietzsches Entlastungsidee: Rücküberträgt man, spontan komponierend, den Verbalisierungsduktus einer befreiten Phantasie (möglichst alternativ zu einer nur rational anerkannten Demütigung)
in
den
»Geist
der
Musik«,
so
gelingt
ein
»Fortschritt
in
der
Wahrnehmung«.
Der
Unfall,
die
Demütigung kann nun zur Feier der höchsten Lebensgeister werden. Sokrates, vor allem aber das Christentum hätten dafür gesorgt, dass aus einem eigentlich bejahbaren »Eustress«- ein »Distress«Schuldgefühl wurde. Das spielerische Aufführen der Wünsche verstand Nietzsche daher als passende Antwort
auf
eine
allseits
praktizierte
»projektive
Identifikation«,
nur
noch
pervertiert
Spaß
zu
erleben,
dass
immerhin
jeder
jeden
wie
mit
Voodoo-Stichen
auf
Rationalität
verpflichtet
und
Triebimpulse
wie
Unfälle vermeidet. Der dionysische Kreative lässt sich nicht weiter manipulieren, sondern wertet die zuvor belastenden, »altklug«-kritisch behandelten Themen mit einer gesunden erwachsenen »Kindklugheit« um. Nietzsches Mitgift: In
jeder
gegenwärtigen
Intention
ist
mit
einem
Einfluss
seitens
eines
»anderen
Schauplatzes« zu rechnen: Den vor allem dionysischen Willen, Triebe einfach auszuleben, sollte man nicht ganz ins Aggregat der Disziplin einfrieren, sondern ihn so weit zulassen, wie man ihn schön/ spielerisch inszenieren kann. Fortschritt der Wahrnehmung durch spielerisches In-Bewegung-Setzen dessen, was bedrückt – sofern man die Bühne bzw. den jeweiligen Repräsentations-Ort der Kunst (auch Nietzsches Schreiben selbst) oder des Feiertags zu nutzen weiß. Fazit bzgl. der Kamerafrage nach verkanntem Torschuss: Anstelle eines Sokratismus, der sich nach Nietzsche zu sehr mit Kausal-Referenzen schadlos hält und für alles Kamera-Wiederholungen zur Herleitung liefern möchte, sollte man dem Denken mehr kausalbefreite, aber tabuaufgeladene Träume, dionysische musiknahe Stimmungen und apollinische Bilder, Tänze und Inszenierungen zumuten. Zwar kann man sich hierbei auch wie bei Reenactments an historische Orte begeben, aber zentral ist das eilfertige Eingestehen aller potentiellen Rationalitäts- und Tabubrüche, das schöne Aufführen lebensbefeuernder Tragik. Warum noch Kamerabeweise, wenn man lieber das Gewähnte glauben möchte? Lampard könnte in der Folge einen Unparteiischen-Mord inszenieren oder zum Jahrestag des persönlichen GAUs sich im Rausch einer möglichen Welt gehen lassen. Die eigenen Dämonen halten sich nicht unbedingt an Muster, Orte des Scheiterns verdichten sich nicht zum Schaltplan des Subjekts. Vielmehr wechselt die Realität/Rationalität von Problemen den Ort, wird zu berauschter Kunst. Auch das sta-
234
Bloomsday
tische Grübeln wird zu dynamischer körperlicher Bewegung, die jeden Mitmenschen als potentiellen »Feuerfänger« mitanstecken würde.
3. Dublin, ab 1954: … dass man genauso gut auch falsch gelegen haben könnte (z. B. mit der Interpretation des Romans Ulysses von Joyce), erzeugt nach etwaigem Ärger über fremde Leitinterpretationen den »Bloomsday«: das Ablaufen der wichtigsten Stationen von Leopold Blooms Leben (bzw. eines verdichteten Tages daraus). »Bloomsday« – in seinem Werk Ulysses (1921) begleitet Joyce am 16. Juni 1904 seine Figur des Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom über einen ganzen Tag hinweg durch Dublin (ein »Service«, der Erwachsenen, selbst Romancharakteren, eher selten widerfährt). Joyce kompiliert hier wichtige Stationen seines eigenen Lebens bis dahin (er war in seinen Dreißigern), v. a. das Odyssee-artige Herumirren, während seine Frau mutmaßlich fremdging. Er
selbst
soll
dann
auch
begonnen
haben,
jährlich
auf
den
Pfaden
seiner
fiktiven
Romanhelden
Reenactment-Spaziergänge zu praktizieren (eine Tagebuch-Notiz von 1924 lässt dies annehmen). Ab 1954
führen
aber
andere
das
fiktionale
Leben
des
Romans
wieder
auf:
Brian
O’Nolan
von
der
Irish
Times, der Dichter Patrick Kavanagh, der Literaturkritiker Anthony Cronin, der Zahnarzt und JoyceCousin
Tom
Joyce
sowie
der
Maler/Geschäftsmann
John
Ryan
laufen
wichtige
Stationen
ab,
späterhin
geschieht
dies
mehr
und
mehr
auch
im
Geiste
der
HIPs
(historically
informed
performances),
also
Aufführungen im Stil der Entstehungszeit des Referenzwerks. Die Theorie des Reenactments hebt hieran generell die Funktion einer »Zeitmaschine« heraus. Eine Form des Reenactments, der Wiederaufführung,
zielt
auf
das
kollektive
Nachspielen
und
besonders
auch
das
Nachempfinden
historischer
Ereignisse
–
im
Falle
des
Bloomsdays
eben
auch
eines
fiktionalen
Ereignisses. Da in Bezug auf sein eigenes Leben ein jeder als »historisch informiert« gelten darf, kann die Privatisierung eines solchen Reenactments durchaus den gleichen Sinn verfolgen: ein Verstehen erreichen, das
sich
nicht
nur
auf
die
Lektüre
reduziert,
sondern
am
Ort
des
Geschehens
das
Geschehen
nochmals erinnert (wenn nicht gar wiederholend durchspielt). Hier
sind
die
zwei
Gedächtnisfunktionen
aus
Kierkegaards
Experiment
der
exakten
Wiederholung
einer Berlin-Reise genannt: die (retrograde) Erinnerung und die (anterograde) Wiederholung. Allein im Kämmerlein und auch zu zweit in der therapeutischen Praxis gibt es die rückwärtsgewandte Erinnerung
mit
all
ihren
oft
schon
für
sich
und
andere
kompromisshaft
fixierten
narrativen
Bearbeitungen.
Freuds
ganzes
Projekt
der
Kur
zielt
auf
eine
Verflüssigung
dieses
narrativen
»Fortschritts«.
Die
Andreas Spohn
235
Präsenz
des
Ortes,
wie
bei
Prousts
Suche
nach
verlorener
Zeit
die
Präsenz
eines
spezifischen
Geruchs,
animieren
den
Zugriff
auf
das
episodische
Gedächtnis:
das
nicht
recht
für
andere
aufbereitbare
Wiedererleben des einen speziellen Ereignisses. Zugleich stellt man wie Kierkegaard fest, dass es nun nicht
ganz
das
Gleiche
ist
–
selbst
der
Kaffee
schmeckt
anders
beim
zweiten
Berlin-Besuch,
mag
er
auch
in
einem
Labor
als
stoffidentisch
erwiesen
werden.
Das
erlebende
Subjekt
ist
indessen
nicht
mehr
ganz
das
Gleiche
(Funktion
der
Analyse:
den
Fortschritt
durch
Erinnernsfixierung
an
dem
nun
anders rezipierenden Subjekt als Eigenleistung deutlich machen). Als
Gedächtnisreizung
durch
»Tatortbegehung«
(wie
beim
Dubliner
Bloomsday)
kann
die
hier
vorgeschlagene therapeutische Bloomsday-Begleitung eine Variante des therapeutischen Settings einer Psychoanalyse oder Psychotherapie werden. Ideeller Ausgangspunkt bleibt Freuds Konzept, sich zu viel disziplinarischen »Fortschritt« durch erinnerndes Rückschreiten und wiederholendes Korrigieren von der Seele zu reden, also kein Wiederaufführen wie bei Reenactments und auch kein Neu-Durchspielen mit wunschgemäßem Ausgang, etwa nach Nietzsches Idee. Tatsächlich ist dieser therapeutisch nutzbar gemachte Bloomsday nur eingebettet in eine bereits begonnene Analyse, in ein Vertrautsein mit stark erfunden-konstruierten Referenztagen. Die Lebensgeschichte
im
subjektiv
verfestigten
Narrativ
ist
vom
Therapeuten
erfasst,
ein
Gefühl
für
das
Erleben
und das szenische Darstellen haben sich ihm übertragen. Der Patient spricht evtl. vom Wunsch, etwas
zu
zeigen,
bei
dem
ein
anderer
die
Erinnerungsfixierung
bezeugen
könnte
–
und
der
Therapeut
hat
den
Eindruck,
dass
dies
einen
Gewinn
darstellen
kann. Aber es gibt auch Respekt vor einer Perspektive jenseits des Darstellens und Verstehens, eine Wertschätzung des Kamerabeweises bzw. der Realität, soweit sie greifbar ist: die typischen Denkfallen der »hindsight bias« (rückblickend vom auch schlechten Ausgang frühere Hoffnungen entstellen) und der »story bias« (mit »Sinn-Bindemitteln« disparate Ereignisse verknüpfen) werden beim Außentermin eher »umgangen«, zu viel Platz nimmt die aktuelle Begegnung mit dem Ort ein, zu sehr sollte klar sein, dass der Begleiter auch nur die Aktualität des Ortes teilt. Bei einer Verabredung zur Bloomsday-Begleitung bespricht man noch in der Praxis Erlebnisse, die noch besonders
der
Authentifizierung
bedürfen,
und
erstellt
dann
eine
Route,
sei
es
eine
spezielle
Kompilation
lebensgeschichtlich
bedeutsamer
Orte
(wie
in
Biografien)
oder
einfach
nur
ein
Ausschnitt
des
ansonsten unbegleitet täglich absolvierten Alltags (eben wie bei Joyce’ Bloomsday). Der Patient bekommt einen Bogen mit nach Hause, auf dem er in Ruhe eine Route erstellen kann. Am verabredeten Tag einer Bloomsday-Begleitung begeben sich dann Patient und Therapeut gemeinsam auf diese Route.
236
Bloomsday
Die Orte sollten zwar die Kulisse lebensgeschichtlich bedeutsamer Szenen bilden, aber nicht primär Angst-Orte sein wie bei einer verhaltenstherapeutischen Konfrontation, wo es die Aufgabe des Begleiters
ist,
das
erwartete
Überflutetwerden
(»flooding«)
auszuhalten.
In Ausnahmefällen lässt sich gar das Erscheinen persönlich bedeutsamer Menschen oder Handlungen integrieren. Es geht aber nicht darum, aktuell Lebensgeschichte zu schreiben, in private Begegnungen oder am Arbeitsplatz den Therapeuten eingreifen zu lassen – hier zieht er sich diskret zurück (wie zumeist bei therapeutischen In-vivo-Formen). Auch dauert diese Begleitung keine 24 Stunden, sondern erstreckt sich maximal über die Dauer von ein bis drei regulären Sitzungen. Das eigentliche Plus der »Tatortbegehungen« des Bloomsdays ist die Präsenz der Orte. Dem Therapeuten geben sie einen Zipfel Realität an die Hand, den Patienten animieren sie dazu, sein privates Erleben
(wie
es
im
sogenannten
»episodischen
Gedächtnis«
persönlicher
Lebensgeschichte
repräsentiert ist) eventuell auch gegen die nun räumlich entfaltete Beweiskraft zu erläutern – oder doch den »Weltinnenraum« (Rilke) gegen den Weltaußenraum aufzugeben. Der zuvor nur gefühlte, auch in den Erzählungen von der Couch aus kaum bedeutsame Bühnen-Hintergrund wird im Tageslicht der Inaugenscheinnahme zum Vordergrund, die Szene wird neu bewertet. Nicht dass der Kanal einer geteilten räumlichen Präsenz auf der Couch gefehlt hätte (bei den heute möglichen »Skype-Therapien« dann schon), – aber nun ist der Therapeut gewissermaßen nicht mehr klassisch wie mit einem Interviewgast im Radiostudio, er ist mit ihm draußen an genau den Brennpunkten seines Berichts und wird dort auch gesehen. Kann hier die rein private Auslegung der Szene aufrechterhalten werden? Sicherlich wird aber nun das, was etwa als falsche Hörigkeit nach »unentdeckten
Morden«
oder
vermeintlich
unanerkannten
Treffern
in
Charakter
und
Verhalten
einfloss,
bewusst
reflektiert
und
aus
dem
prozeduralen
Archiv
in
das
diskursive
Archiv
verhandelbarer
Dinge
verlegt. Bei der Klärung von eigenen Anteilen am Leiden kann die gemeinsame Ortsbegehung auch helfen, doch etwas vor dem Begleiter zu rechtfertigen (»Don›t judge a man, unless you’ve walked a thousand miles in his shoes!«). Auch von anderen wurde dieses neue Einsichten einleitende Potential von Orten bemerkt. Je schon mit öffentlichen Orten befasst ist etwa die »Spaziergangsforschung« Bertram Weisshaars, der an die Wahrnehmungsinterpretation des Basler Kulturtheoretikers Lucius Burckhardt anknüpft und eben die kindliche, weniger die bürgerliche, prinzipiell teilende Perspektive stärken möchte: »Kehrt ein Kind von einem Spaziergang zurück, so erzählt es, dass es eine bunte Blechdose gefunden habe, die es dann schließlich donnernd in einen Schacht zurückwarf; kehrt ein Erwachsener nach Hause
Andreas Spohn
237
zurück,
so
beschreibt
er
Dinge,
die
er
pflichtgemäß
in
dieser
Gegend
hätte
sehen
sollen,
die
aber
zum
Teil für ihn unsichtbar oder nicht analysierbar sind.« Bei der Bloomsday-Begleitung berichtet man natürlich weder zu Hause noch in der Praxis, sondern man
verweilt
gerade
vor
Ort
am
Thema.
Möchte
man
nicht
gerade
die
»normale«
Geschwindigkeit
demonstrieren,
dann
kann
das
Berichten
vor
Ort,
das
gerade
nicht
über
ihn
hinweggeht,
im
Geiste
von Walter Benjamins »Flaneur« geschehen, wo man auch mal mittels angeleinter Schildkröte entschleunigt werden durfte. Ein wichtiger therapeutischer Nebeneffekt des mobilisierten Settings: Die Dynamik des Unterwegsseins, die »talking head« von den »moving feet« in Bewegung versetzt, kann die Zensur ablenken oder entmachten – darin etwa lagen die Motive der »therapeutischen Spaziergänge« des Jugendtherapeuten Hans Zulliger, der hoffte, dass sich zum natürlichen Bewegungs- auch ein natürlicher Rededrang geselle. Dies ist auch Nietzsches Idee des körperlichen In-Bewegung-Setzens, nur dass die Bloomsday-Begleitung
auf
dem
Boden
der
psychoanalytischen
Grundidee
nicht
fordert,
das
spielerische Enactment als Endziel im Kopf zu haben. Wie
begründet
sich
theoretisch
der
Gewinn
einer
Bloomsday-Teilnahme
gegenüber
der
privaten
Lektüre
der
Ulysses
bzw.
der
abgeschotteten
analytischen
Situation?
Pawlows
Hund
hörte
die
Glocke
nach mehrfacher Ko-Präsentation mit Futter bald nicht mehr neutral, sondern assoziierte sie auch ohne Futterbereitstellung als ein für ihn relevantes Signal. Ähnlich hört der Patient auch in einer Psychoanalyse das eigene Wortgeklingel bisweilen schon als Signal für den dann nächsten Satz – und bisweilen scheinen seine Verknüpfungen für Außenstehende von rein privaten, unbewussten Zeichen Futter zu bekommen. Freud zentralisierte für die Kur das Aufspüren von allem, was seltsam privat klingt. Abgeschottetes Symbolisieren per Assoziieren will genau das. Aber die Worte verklingen, ohne dass
es
ein
Ende
des
Verweisens
zur
Urreaktion
(bei
Pawlows
Hund
natürlichen
Speichelfluss)
gäbe. Orte
des
Geschehens
sind
hingegen
ein
solches
Ende.
Sie
gingen
ursprünglich
als
Index
mit
ins
private
Gedächtnis
ein
und
bleiben
im
Unterschied
zu
Worten
und
Szenen/Episoden
dennoch
auch
für
andere da, eben »am Ort«. Der Hang zur Virtualisierung der Orte, zu ihrer Marginalisierung via Unabhängigkeitserklärung der Subjekte mag eine abendländische Marotte sein – und dies trotz der bedeutsamen Lebensstrukturierung in Heim/Heimat/Urlaubsorte sowie öffentliche Plätze, Arbeitsplätze und Natur.
238
Bloomsday
Die japanische Philosophie ist gegenüber der faktischen Relevanz von Orten achtsamer, betreibt sogar eine Priorisierung des Ortes und versteht sich und zumindest die japanische Mentalität als topologisch (basho-ron) – so v. a. Kitaro Nishida. Leitend ist in seinem Denken über das japanische Denken nicht die ortlose Vereigenschaftung (»S ist P«. Beispiel: »Ein Hammer ist aus Metall«), die, psychoanalytisch beleuchtet, allenfalls etwas hinzufügt (»... und S assoziiere ich mit jenem anderen S«. Beispiel: »... aber ich denke auch an Zuhandenes, an die positive Psychologie Watzlawicks, an eine Musikrichtung, an Nägel usw.«). Die Betonung verlagert sich vielmehr von allgemeinem, allenfalls eher akzessorischem Dingwissen zum privaten Wissen um die Verortung (»S ist in O«. Beispiel: »Der Hammer ist im Werkraum«). Orte sprechen, ko-repräsentieren, assoziieren anders als Musik. Auch sie beleben Vergangenheit, wirken
darin
ganz
wie
die
Pawlow-Glocke.
Sie
kommen
zwar
dem
Subjekt
nicht
ganz
so
fusionierend
nah wie das sonore Cogito, umschließen es aber schon auch wie Platons Höhle mit je eigenen Abschattungsvalenzen – all dies sphärisch anwesend und »unverklingbar«. Sie tun dies, bis dass das Subjekt
sich
aus
ihnen
fortbewegt.
Sie
bleiben
im
Gedächtnis,
können
aufgerufen
werden,
jedoch
zwecks Präsenzerfahrung muss man sich schon aktiv zu ihnen zurückbewegen. Und dies nimmt man meist
nur
pflichtgemäß
oder
zufluchtsartig
auf
sich. Nicht nur der Städtebauer und der Architekt sollten über bewusstseinbestimmendes »Design« nachdenken, auch jeder für sich kann bei punktueller Rückkehr an persönlich bedeutsame Orte Erinnerungen auffrischen. So passt auch psychoanalytisch, wenn die Washingtoner Landschaftsarchitektin Lynne C. Maso, Vertreterin der »environmental psychology«, sagt, dass der »Bezug der Leute zu Orten in permanentem Wandel steht, es ist ein dynamisches Phänomen, und als solches können Orte bewusst für Prozesse genutzt
werden,
in
denen
man
aktiver
auf
sein
Leben
Einfluss
nimmt.« Ist die Therapie schon eine Beschleunigung des gewünschten Veränderungsprozesses, so wäre der Bloomsday als prüfende Rückkehr zu einem vielleicht zuvor unscheinbaren »Szenenhintergrund« ein Zwischensprint mit weniger selbstreferentieller Verzettelung, eine Vergangenheitsaufrufung, die nicht allzu sehr der Phantasie das Feld überlässt. Warum also nicht im Andenken an etwas nicht gerade als feierlich Wahrgenommenes ein »Jubiläum« begehen, erduldete Unfälle des Schicksals integrieren? Überhaupt »begehen«: Die typischen Objekte der verschiedenen Bedeutungsnuancen des Verbs passen gut zu den Konnotationen, die Orte im
Andreas Spohn
239
Rahmen der Bloomsday-Begleitung annehmen können:
•
»betreten«
(eines
ausreichend
dimensionierten
Ortes)
•
»feiern/symbolisch-gemeinschaftlich
markieren«
(eines
bedeutsamen
Ereignisses)
und
•
»verüben«
(eines
Attentats
o.
ä.) Man schreitet Orte ab. Und da man dies symbolisch und gemeinsam tut, bekommen sie einen zeitlichen
Index.
Evtl.
fügt
man
damit
der
Erinnerung
auch
Gewalt
zu
–
was
ja
durchaus
beabsichtigt
wäre... Mitgift des Bloomsdays: In
jeder
gegenwärtigen
Intention
ist
mit
einem
Einfluss
seitens
eines
»anderen Schauplatzes« zu rechnen: dem privaten, episodischen Ortsgedächtnis. Das Sich-Aufmachen in die Präsenz eines vorigen »Szenenhintergrunds« kann die Veränderung mehr dynamisieren als das Verharren bei Worten, welche mit der Re-Präsentation der Szene befasst sind: Fortschritt durch wortwörtliches Fortschreiten. Tatortbegehungen an nach Bedeutsamkeit ausgewählten Orten aus dem Jetzt und/oder dem Damals nutzen den begleitenden Therapeuten als Anlass, das Sprechen an Orten über
diese
Orte
zu
verifizieren.
Die
Kulissen
bringen
alte
Erinnerungen
hervor,
welche
die
selbstreferentielle Erinnerungsmaschinerie schon verdrängt hatte. Zugleich spricht der Ort ganz aktuell eine Sprache, die auch der Begleiter versteht: Das öffentlich Reale des Ortes korrigiert Dramatisierungen, die auf das Konto individueller »Anlastungsmuster« gehen. Die Bloomsday-Begleitung nimmt also von Freud die Grundmethode des freien Sprechens vor einem Zeugen (und das Ziel der Einsicht in die »Maschinerie«), von Nietzsche die Bewegung und die Aufforderung, alles noch einmal richtig tragisch (bzw. wunschgemäß) zu inszenieren/komponieren und vom Bloomsday-Reenactment das Stationenablaufen (aber nicht das Reenactment). Begangen wird idealerweise zeitnah, wenn etwas noch heiß gekocht ist. Das aktuelle Konstruktgewand zumindest des Ortes wird so vor seiner Erstarrung aus dem Weltinnenraum gezwungen. Fazit bzgl. der Kamerafrage nach verkanntem Torschuss: Die Bloomsday-Begleitung liefert endlich die Bilder des Original-Ortes, nicht aber des Ereignisses. Die therapeutische Bedeutung der Einbindung der »neutralen« Realitätskulisse auch für den stets alles »subjektiv« zurechtmachenden Klienten wird anerkannt. Ob das Filmmaterial aber die Erinnerung etwa Lampards bestätigt oder widerlegt, gilt weiterhin als nicht genuin therapeutisch. Zudem gibt es für das Leben keine totale Überwachung, die solche Videobeweise liefern könnte. Behandelt werden entsprechend auch eher chronisch belastende Muster der Zurechtmachung. Um einen weiteren Sportler zu erwähnen: Etwa John McEnroes legendäre Streitereien mit Tennis-Schiedsrichtern, ob der Ball auf, vor oder hinter der Linie war, könnten eine
240
Bloomsday
erste Indikation darstellen. Ein begleiteter Bloomsday mag ihn dann zum Center-Court, aber auch zu privateren Orten seines Lebens führen. Statt aktueller Abdrücke wird ihn eher die Stimmung wieder einfangen, dabei würde evtl. der Ehrgeiz als tragendes Element berichtet. Eine Chance, Distanz zu gewinnen, fortzuschreiten ...
Übersicht der Konzepte
Freud
Nietzsche
therapeutische Bloomsdaybegleitung
Indikation
selbstgemachtes Leid
kulturauferlegtes Leid
kulissengebundenes Leid, Orte leicht ablaufbar
wo (physisch)?
wo (mental)?
wie?
»Anti«-Szene der Praxis auf einer Couch
Bühne, Festorte
immer wieder bei zurechtge-
bei der Wunscherfüllung den am Ort der Erinnerung,
machten Erinnerungen, das
Impuls zum tragischen Zulas- oszillierend mit dem
Verschleierungs- und Anlas-
sen des »Unfalls« an andere wahrgenommenen Ort der
tungsmuster preisgebend
weitergeben wollen
Originaler Ort der Begebenheit
Wiederholung
szenische Worte zu den privat- per künstlerischer Umwertung, ortsbewusst für einen Behistorischen Auswirkungen inti- Zuschauer-Zuhörer »geht mit«
gleiter kommentierend
mer Zuhörer deuten
wozu?
persönliche Leidensminderung
(zunächst persönliche) Kul- persönliche Leidensmindeturänderung,
Elitenfilter
wann?
nachträglich
nicht nur nachträglich
rung nachträglich, aber möglichst kurz darauf
Andreas Spohn
[2012] Céline Kaiser
Kurzdokumentarfilm.
Grundlage
ist
ein
Therapieangebot
von
Andreas
Spohn,
der
sog.
Bloomsday.
Die
Steadycam
folgt
Andreas
Spohn
während
des
Interviews. (Deutschland, 12:29 Min.)
Andreas Spohn Céline Kaiser Im eigentlichen Sinne ist ein ›Bloomsday‹ ein Tag, der Jahr für Jahr am 16. Juni in Dublin gefeiert wird. Name und Inhalt des Gedenktages verdanken sich einer Romanfigur:
Leopold
Bloom,
dem
Protagonisten
aus James Joyce’ Roman Ulysses von 1922. Auf gut 700 Seiten wird in diesem Roman ein Tag im Leben des Protagonisten beschrieben, der als Anzeigenakquisiteur für eine Dubliner Zeitung arbeitet und – angelehnt an Homers Odyssee – durch die Straßen von Dublin läuft. Im Rahmen eines Bloomsdays werden einige der Stationen, die für die Geschichte Leopold Blooms wegweisend waren, wieder aufgesucht. Andreas Spohn, Jahrgang 1972, hat nach dem Studium der Germanistik, Psychologie und Japanologie, das er mit einer Magisterarbeit zu Jacques Lacan abschloss, den Bloomsday für die Psychotherapie
neu entdeckt. Spohn, der bis heute auch als Deutschlehrer vor allem für Japaner und Chinesen arbeitet, machte parallel zu diesen Tätigkeitsfeldern eine Ausbildung zum Psychotherapeuten in eigener Analyse, arbeitete mit Studiengruppen sowie den Arbeitsgruppen und Veranstaltungen der Freud-Lacan-Gruppen ›AFP‹ und der ›NLS‹. Seit 2006 ist Spohn als Heilpraktiker für Psychotherapie mit Patienten tätig, zunächst in Düsseldorf, wo auch der Dokumentarfilm
der
Ausstellung
gedreht
wurde, seit 2010 in Lottstetten zwischen Zürich und Schaffhausen im Jestetter Zipfel. Dort ist er aktuell tätig als Lehrer und Therapeut. Am Psychoanalytischen Seminar Zürich bildet er sich weiter zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Auf seiner Homepage skizziert er neben anderen Angeboten den ›Bloomsday‹: Wie im »Ulysses« bietet er Interessenten an,
»sie physisch oder über Kommunikationsmedien einen Tagesabschnitt lang zu begleiten und so das ansonsten nur Erzählte der Worte mit direkter Zeugenschaft zu verknüpfen, an die Stelle zu kommen, die Joyce vortäuscht in Bezug auf Bloom zu haben«. Im
dokumentarische
Kurzfilm
›Bloomsday‹ begleitet die Kamera Andreas Spohn bei einem Gang durch den Düsseldorfer Volkspark und zeichnet seine Vorstellung von einer therapeutischen und im wortwörtlichen Sinne begleitenden Zeugenschaft auf.
Ein Film von Céline Kaiser mit Andreas Spohn, Kamera: Alexander Pauckner, Ton: Christopher Kotzan Schnitt: K-Film/Stefan Prehn, Assistenz: Stefanie Husel
Biobibliographische Angaben
Biobibliographische Angaben
247
Ralf Bohn Prof. Dr., Dipl.-Des.; Studium in Design, Philosophie, Literatur. Diplomarbeit über Allegorien und urbane
Signifikationen.
Promotion
bei
Rudolf
Heinz (Transversale Inversion. Symptomatologie und
Genealogie
des
Denkens
bei
Robert
Musil,
Würzburg 1988); Habilitation bei Bazon Brock (Technikträume und Traumtechniken, Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004). Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am FB Design
der
FH
Dortmund.
Zahlreiche
Monografien,
u. a.: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation, Wien 1994. Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005; Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee, Bielefeld 2009,
Szenografie
&
Szenologie
Bd.
2.
Zusammen
mit Heiner Wilharm Herausgeber der Reihe Szenografie
&
Szenologie
im
Transcript
Verlag,
Bielefeld (Bislang 8 Bände). Forschungsschwerpunkte: Theoriediskurse
der
Szenografie.
Philosophie
und
Psychoanalyse der Medien, Medienekstasen und ihre therapeutische Einholung.
Stefanie Husel lehrt Theaterwissenschaft und ist als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungszentrums für Sozial- und Kulturwissenschaften (SoCuM) an der Universität Mainz tätig. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit den Aufführungssituationen der britischen Kompanie Forced Entertainment, die sie über Jahre ethnographisch begleitete. Stefanie Husel arbeitete in unterschiedlichen Theaterberufen, z. B. als Dramaturgin, Festival-Produzentin und Licht-Technikerin.
248
Biobibliographische Angaben
Céline Kaiser forscht als Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung und lehrt Medienkulturwissenschaft und Szenische Forschung an der Hochschule für Künste im Sozialen, Ottersberg. Promotion über Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung (transcript 2007). Daneben: Ausbildung zur Theaterpädagogin
am
TPZ
Köln
sowie
freiberufliche
Tätigkeit
in
den Feldern Theaterpädagogik und Dramaturgie. Seit Ende 2007 Förderung des Forschungsprojekts Szenen des Subjekts. Kulturmediengeschichte der Theatrotherapie um 1800-1900-1970/2000 an den Universitäten in Bonn und Bochum durch die VolkswagenStiftung (www.celine-kaiser.de). Leitung
des
DFG-Nachwuchswissenschaftlernetzwerks Szenographien des Subjekts (http:// szenographien-des-subjekts.de/) Zuletzt erschienen: Szenen des Erstkontaktes zwischen Arzt & Patient, V&R 2012 (zus. mit Walter Bruchhausen).
Sven Lindholm studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der
Justus-Liebig-Universität
Gießen
und
promovierte an der Freien Universität Berlin mit einer interdisziplinären Studie über das aktionistische Schaffen von Joseph Beuys. Er ist Teil des Regie- und Autorenduos Hofmann&Lindholm, das multidisziplinäre Projekte an der Schnittstelle zwischen szenischer, bildender und akustischer Kunst realisiert. Hofmann&Lindholms Arbeiten werden auf Bühnen der professionellen freien Szene
und
des
Stadttheaters,
in
Galerien
und
Ausstellungshallen, dem öffentlichen Raum sowie im Rundfunk präsentiert (www.hofmannundlindholm.de). Neben der künstlerischen Beschäftigung ist Sven Lindholm Juniorprofessor am Institut für Theaterwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum und Leiter des Studiengangs Szenische Forschung. Der Schwerpunkt seiner Lehre liegt gegenwärtig auf der Befragung moderner und zeitgenössischer Formen und Formate der szenischen Kunst in ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst und zur Wissenschaftstheorie.
Biobibliographische Angaben
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Sven Lütticken unterrichtet Kunstgeschichte an der VU University Amsterdam. Er veröffentlichte die Bücher Secret Publicity (2006), Idols of the Market (2009) und History in Motion (2013) und schreibt regelmäßig für internationale Kunstzeitschriften und Kataloge. Im Jahr 2005 war er Kurator der Ausstellung Life, Once More: forms of reenactment in contemporary art (Witte de With, Rotterdam).
Nicolas Pethes unterrichtet Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien des kulturellen
Gedächtnisses,
die
Mediengeschichte
der
Literatur, populäre Kultur sowie die Beziehungen zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, insbesondere die Kulturgeschichte des Menschenversuchs und die Theorie der Fallgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18.
Jahrhunderts,
Göttingen
2007;
Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von
Kleist,
Göttingen
2011
(Hg.);
Literatur
und
Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013 (Mithg.). Fall - Fallgeschichte - Fallstudie.
Theorie
und
Geschichte
einer
Wissensform,
Frankfurt/New York 2014 (Mithg.)
250
Biobibliographische Angaben
Eva Plischke ist Kulturwissenschaftlerin und Performerin. Sie studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis mit dem Schwerpunkt Theater in Hildesheim. Während des Studiums gründete sie das Theaterkollektiv Turbo Pascal, dessen Arbeiten an Theatern und Festivals im deutschsprachigen Raum zu sehen waren (sophiensaele Berlin, HAU Berlin, FFT Düsseldorf, Theater Freiburg, Festival Politik im Freien Theater u. a.) Als Performerin arbeitet sie regelmäßig mit anderen Künstlern und
Gruppen
wie
der
geheimagentur
oder
der
Fräulein
Wunder
AG.
Seit
2009
ist
Eva
Plischke
als Künstlerin in Projekten kultureller Bildung und Forschung mit Kindern und Jugendlichen tätig, u. a. am Forschungstheater Hamburg oder dem Theater an der Parkaue (Berlin). Seit 2012 erhält sie ein Promotionsstipendium im künstlerisch-wissenschaftlichen
Graduiertenkolleg
»Versammlung und Teilhabe – Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste« (Hamburg). www.turbopascal.info www.versammlung-und-teilhabe.de
Katja Rothe ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt
Frauen-
und
Geschlechterforschung
an der Fakultät Darstellende Kunst der Universität der Künste Berlin. Initiatorin des Labor Theaterforschung an der UdK. Studium der Psychologie, Literatur-,
Geschichts-
und
Kulturwissenschaft
an
der Humboldt-Universität Berlin; Promotion im DFG-Graduiertenkolleg
»Codierung
von
Gewalt«
– zur Epistemologie des frühen Radios; Mitglied des
DFG-Forschungsnetzwerkes
»Szenographien
des Subjekts«; Habilitationsprojekt zu den »Dramatologien praktischen Wissens im 20. Jahrhundert«. Publikationen u. a. zur Medientheorie und -geschichte, zur Wissenschaftsgeschichte (Psychologie,
Soziologie,
Pädagogik,
Gender
Studies)
und Theatergeschichte, zum Wissen der Künste.
Biobibliographische Angaben
251
Andreas Spohn geb. 1972, lebt mit seiner Familie in der Zürich am nächsten
gelegenen
Gemeinde
Deutschlands.
Arbeit als Sprachtrainer und Psychoanalytiker. Seit Studienabschluss in Düsseldorf betreibt er eine psychoanalytisch-philosophische Praxis (www.vonderseelereden.de). Diverse Veröffentlichungen.
Ulrich Streeck Prof. Dr. med., M.A., Studium der Medizin, Soziologie und Sozialpsychologie. Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker. Ehem. ärztlicher Direktor der Klinik Tiefenbrunn. Apl. Professor für Psychotherapie und psychosomatische Medizin an
der
Universität
Göttingen. Buchpublikationen (u. a.): »Erinnern, Agieren und Inszenieren«,
Göttingen,
Vandenhoeck
&
Ruprecht 2000; »Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop«, Stuttgart, Klett-Cotta 2004; »Psychotherapie komplexer Persönlichkeitsstörungen«, Stuttgart, Klett-Cotta
2007;
»Gestik
und
die
therapeutische
Beziehung«, Stuttgart, Kohlhammer 2009.
252
Biobibliographische Angaben
Ingo Uhlig studierte Soziologie und Philosophie in Bayreuth und Dresden und promovierte 2005 an der Bauhaus-Universität Weimar mit einer Arbeit über Gilles
Deleuze.
Seit
2006
arbeitet
er
am
Landesforschungsschwerpunkt Aufklärung-ReligionWissen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
und
ist
seit
2011
zudem
Gastprofessor
für Philosophie und Ästhetik an der Kunstakademie Münster. Sein 2013 abgeschlossenes Habilitationsprojekt widmet sich inspirierten Schlafzuständen in der Philosophie und Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Titel der Arbeit lautet »Traum und Poiesis. Produktive Schlafzustände 1641–1810«, sie erscheint 2014.
Heiner Wilharm Dr.
rer.
pol.,
M.A.,
ist
Professor
für
Gestaltungswissenschaften, Medien und Kommunikation an der Designfakultät der Fachhochschule, University of Applied Sciences and Arts, Dortmund. Studium der Philosophie, der Allgemeinen Sprachwissenschaften,
der
Pädagogik
und
Germanistik
an den Universitäten Bonn und Köln, Studium der Sozial- und Politikwissenschaften am OttoSuhr Institut der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen zu Themen der Philosophie, der Wissenschafts-, Sozialgeschichte und Politik, zur Handlungstheorie, zur Medienproduktion, Mediengeschichte und Medientheorie; Schriften über Repräsentation, Zeichen, Kunst und Design,
Szenografie
und
Szenologie.
Verschiedene
Ausstellungen, Projekte und Interventionen im Öffentlichen Raum; kuratorische Tätigkeit. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt: »Praktiken und Logik der Szene«. [www.designradio.net und www.scenology.eu].
Biobibliographische Angaben
Produktionsteam der Ausstellung Szenotest, Eine szenische Ausstellung zur Geschichte der Theatrotherapie 24.11. – 01.12.2012, Dortmund Leitung: Produktionsassistenz: Hospitanz:
Céline Kaiser Stefanie Husel Elisabeth Hensgen
Szenen-Gestaltung:
Team
aus
StudentInnen
der
FH
Dortmund,
FB
Design
Reil [1803] Pinel [1800/01]
Sandra Cvitkovac, Céline Kaiser Lioba von Hardenberg, Victoria Waldhausen David Figura (Kamera) Kai Czerwonka (Ton) Nadine Isabell Kipka, Céline Kaiser Linda Appelhans Magda Semrau, Friederike Sommer, Céline Kaiser Isabelle Marohn, Ninja Schmaling Céline Kaiser Alexander Pauckner (Kamera), Christopher Kotzan (Ton) Stefanie Husel (Assistenz)
Breuer [1895] Moreno [1924/1970] Perls [1969] Hellinger [2005] Spohn [2012]
Ton:
Fabian Kollakowski
Sprecher:
Gabriel
Rodriguez Clarissa Stein Victoria Waldhausen
Fotografie:
Sandra
Cvitkovac
szenisch-künstlerische Milo Rau Beratung: Jens Dietrich
253
Impressum
Impressum
Herausgeber Céline Kaiser www.celine-kaiser.de
Fotografie Sandra Cvitkovac, Linda Appelhans, Seiten 99 li., 103
Lektorat Reiner Raffelt
Druck Gorenjski
tisk
storitve Kranj, Slowenien
Auflage 500
Dank gilt der VolkswagenStiftung, Hannover, für die Finanzierung des Bandes.
© Céline Kaiser, Autoren, Fotografen 2014 transcript Verlag, Bielefeld
255
ISBN 978-3-8376-3016-9 transcript Verlag, Bielefeld www.transcript-verlag.de Bibliografische
Information
der
Deutschen
Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek;
detaillierte
bibliografische
Daten
sind
im
Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de