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German Pages 292 Year 2014
Samuel Sieber Macht und Medien
MedienAnalysen Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 16
Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Tonund Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.
Samuel Sieber (Dr. phil.) forscht und lehrt in Basel und Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Diskurs- und Dispositivanalyse, Medientheorie, politische Philosophie und Game Studies.
Samuel Sieber
Macht und Medien Zur Diskursanalyse des Politischen
Publiziert mit Unterstützung des Max Geldner-Fonds der Phil.-Hist. Fakultät der Universität Basel, des Dissertationenfonds der Universität Basel und der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel.
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Inhalt
1. EINLEITUNG |
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2. DIE WAHRHEITSSPIELE DER WISSENSREGIME. ZUR POLITIK MEDIALER DISKURSE | 13 2.1. Diskurs und Medium | 15
Botschaft oder Rauschen? Medientheorie mit Foucault | 17 Mediale Diskurse und Techniken | 19 Die Materialität der Aussagen | 24 2.2. Sag- und Sichtbarkeit. Strategien diskursiver Formationen | 31
Diskursive Formationen des Medialen | 34 Sichtbarkeit. Zur Audiovisualität des Diskurses | 38 Konfigurationen. Politiken audiovisueller Archive | 41 2.3. Speicher und Gesetz. Medienarchive | 45
Medien (un-)gegenwärtiger Vergangenheit | 46 (Trans-)Formationen medialer Archive | 49 Von der Ordnung des Diskurses zu den Dispositiven der Macht | 54
3. MEDIENDISPOSITIVE. MACHT UND WIDERSTAND INTERMEDIALER K ONFIGURATIONEN | 61 3.1. Macht-Wissen-Komplexe. Zur Heterogenität medialer Dispositive | 63
Dispositive der Medien | 64 Heterogene Ensembles | 69 Dispositive der Macht | 75 Subjektivierungslinien | 79 3.2. Mikro- und Makropolitik. Zur Macht medialer Dispositive | 83
Mediendispositive – mediale Dispositive | 84 Mikro- und Makropolitiken der Macht | 88 Reterritorialisierung. Die Taktik der Polizei im Dispositiv | 92 Remediation. Politiken einer Intermedialität des Digitalen | 95
3.3. Krieg und Widerstand. Zur Heterotopie medialer Dispositive | 103
Krieg in den Medien – Medien im Krieg | 104 Widerstände und Kriegsmaschinen | 108 Dispositive Heterotopien | 116 Widerständige Medien. Intermediale Bruchlinien des Internets | 118 3.4. Fluchtlinien. Zur Rhizomatik medialer Dispositive | 123
Medien-Gesellschaften | 124 Zur Rhizomatik medialer Vernetzung | 126 Konnexion, Konjugation und die Paradigmen des Netzwerks | 130 Karten zeichnen | 136
4. MEDIALE POLITIKEN DER GEGENWART |
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4.1. Das Politische und die Politik | 147
Unhaltbare Souveränitäten | 149 Am Abgrund der (Be-)Gründung | 153 Die Virtualität des Medialen und die Phänomenalität des Politischen | 159 4.2. Verbinden und Trennen | 164
Intermediale Inszenierungen des Politischen | 164 Globalisierung: Assoziation und Dissoziation | 171 Gouvernementalität – Gouvernemedialität | 179 4.3. Überwachen und Verdaten | 193
Die Disziplinargesellschaft | 194 Die Normalisierungsgesellschaft | 202 Die Kontrollgesellschaft | 211 4.4. Regieren und Steuern | 223
Die Regierung des Selbst und der Anderen | 224 Die Regierung der Dividuen | 236 Die (Un-)Regierbarkeit der Kommunikation | 250
5. AUSBLICK: DIE MEDIEN UND DIE KOMMENDE DEMOKRATIE | 259 ANHANG |
267
Literaturverzeichnis | 267 Zeitungsartikel | 284 Internetquellen | 285 Abbildungsverzeichnis | 287
1. Einleitung 1 „Macht verteilt sich über Netze, und in diesem Netz zirkulieren die Individuen nicht nur, sondern sind stets auch in der Position, diese Macht zugleich über sich ergehen zu lassen wie sie auszuüben.“ 2. „Man könnte sagen: Keine Position, die nicht Dis-Position wäre […].“ 3
Maßgeblich scheinen neue Medien und digitale Netze für politische Phänomene der Gegenwart verantwortlich zu sein: So ist die Rede etwa von einer offenen Netzwerkgesellschaft, 4 die allerdings – wie die Skandale um die Wikileaks-Enthüllungen oder die Kritik an den Verdatungspraktiken von Google oder Facebook jüngst illustriert haben – auch eine Überwachungsund Kontrollgesellschaft ist. 5 Andernorts hingegen scheinen sich die anfänglichen Versprechen digitaler Mediennetze, etwa vermehrte Redefreiheit und demokratisiertes Wissen zu garantieren, eingelöst zu haben: Die Unruhen nach dem vermuteten Wahlbetrug in Iran im Jahr 2009, der Arabische Frühling, die weltweiten Occupy-Bewegungen ab 2011, der syrische Bürgerkrieg sowie die Massenproteste in der Türkei oder in Brasilien 2013 galten zumindest vorübergehend als Medienrevolutionen. So euphorisch übercodiert
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Die vorliegende Studie ist eine aktualisierte und leicht erweiterte Fassung meiner im Dezember 2013 an der Universität Basel eingereichten Dissertation DisPositionen. Epistemologische Schnittstellen von Politik und Medien (vgl. Sieber, Samuel: Dis-Positionen. Epistemologische Schnittstellen von Politik und Medien, Basel 2014.). Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76, Frankfurt a.M. 2001, S. 44. Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein, Berlin 2004, S. 35. Vgl. Castells, Manuel: Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft, in: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 11, Nr. 4, Dezember 2001, S. 429-439. Vgl. Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen, 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262.
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dieser Begriff sicherlich anmutet: Außer Zweifel steht, dass die digitale und mithin netzförmige Kommunikation Wissensregime verändert und vielenorts die starren Rahmen staatlicher Zensur und massenmedialer Kommunikation durchbrochen hat. Bemerkenswerterweise jedoch scheint die Wirkkraft neuer Medien weitgehend einem neoliberalistisch gewendeten Ideal westlicher Demokratien zu entsprechen. Als revolutionär können hierzulande die sogenannten neuen Medien insofern kaum gelten, als dass sich Blogs und soziale Netzwerke genauso wie mobile Smartphones und raffinierte Verdatungsalgorithmen nahtlos in die bestehende Medienkultur einfügen: Längst appropriieren televisuelle Nachrichtenformate die viralen Videos aus dem Netz und schon seit geraumer Zeit werden Wahlkämpfe schwergewichtig in digitalen Netzen geführt. Ähnlich verwendet das staatliche Gesundheits- und Verwaltungswesen Verdatungspraktiken, die mit denen der Internet-Suchmaschinen und des Online-Handels durchaus vergleichbar sind. Gewiss diesen intermedialen Überschneidungen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Medien geschuldet, sind im Übrigen nach wie vor kulturkritisch verallgemeinerte Klagen zu vernehmen, die den Niedergang der Politik auf den theatralen Bühnen medialer Inszenierungen diagnostizieren. 6 In den bunten, auf kurzlebige Aufmerksamkeit und schnelle Unterhaltung getrimmten Medienwelten, so die pessimistische Einschätzung, verliere sich die angeblich vorgängige Form einer seriösen, demokratisch-partizipativen Politik. Fast paradoxerweise sollen aus dieser Baisse des Politischen wiederum jene digitalen Vernetzungen herausführen, die derzeit unter verheißungsvollen Begriffen wie ‚E-Democracy‘ oder ‚E-Governement‘ im Feld der Staatspolitik, oder – weitaus diffuser – unter dem Etikett der ‚digital humanities‘ auch in den Geisteswissenschaften verhandelt werden. Freilich läuft das solcherweise suggerierte politische Subjekt in ebendiesen Mediennetzen erneut Gefahr, unter dem Vorwand intuitiver Nutzerfreundlichkeit oder nationaler Sicherheit vollständig verdatet, kontrolliert und also abermals entmündigt zu werden. In den Versprechen und Risiken digitaler Medien spiegeln sich folglich auch divergierende Ideen des Politischen. Ob Medien als Regierungsinstrumente staatlicher Souveränität dienen oder aber als aufklärerische Kommunikationsmittel eine partizipative Schwarmintelligenz fördern, ist eine Frage, die sich unterschiedlichen Konfigurationen des Medialen wie des Politischen verdankt. Doch lassen sich weder medial koordinierter Protest noch digital verdatete Kontrollpolitik bloß technisch, etwa durch digitale Schaltkreise und ihre weltumspannende Vernetzung, erklären. Transformativ wirken jeweils neue Medien in historischer wie gegenwärtiger Perspektive vielmehr, weil veränderte Diskursivierungen und Visualisierungen des Medialen mit veränderten Machtbeziehungen einhergehen. In diesem Sinne können Medien als Dispo-
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Vgl. etwa: Meyer, Thomas: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, Frankfurt a.M. 2001.
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sitive gelten, d.h. als komplexe Wissensordnungen oder Kräfteverhältnisse, die allerdings niemals unverrückbar disponiert sind, sondern immer auch disponibel bleiben. Deshalb wird in und mit Mediendispositiven regiert und kontrolliert, aber auch revoltiert und verändert. Es reicht folgerichtig nicht aus, politische Institutionen wie demokratische Staaten oder autoritäre Diktatoren auf ihren strategischen Umgang mit Medien hin zu befragen. Zwar sind die Inszenierungen politischer Entscheidungen oder die (Des-)Information einer mehr oder minder passiven Öffentlichkeit zweifelsohne von großem Interesse. Doch werden Mediendispositive gerade auch dort politisch, wo sie sich von tradierten Instanzen der Macht nicht länger instrumentalisieren lassen, sondern ihrerseits Machtverhältnisse ins Werk setzen. Das wiederum macht eine Reflexion des Politischen notwendig: In der Rede von der Medienrevolution und in den Problemstellungen der Medienregulierung klingt eine instituierende und zäsurierende Kraft des Medialen gleichermaßen schon an. Die Macht der Medien ist deshalb zugunsten medialer Mächte aufzufächern, die ihrerseits nur in einer unabschließbaren und beweglichen politischen Differenz gefasst werden können. Dieser Differenz zufolge lässt sich das Politische als in sich selbst bedingungslose Bedingung und stets neue Herausforderung der Politik begreifen. Deshalb fragt das Kapitel Die Wahrheitsspiele der Wissensregime. Zur Politik medialer Diskurse zunächst nach möglichen Bestimmungen des Medialen und deren politischen Implikationen: Medien sind in erster Linie audiovisuelle Archive der Sag- und Sichtbarkeit, 7 die Wissens- und Wahrnehmungsregime ausbilden. Dass eben hierin die Macht der Medien liegt, zeigt eine Dekonstruktion des Archivbegriffs, wie sie Jacques Derrida vorgenommen hat. 8 Mediale Archive bestehen aus einer jeweils selektiven Zusammenstellung des Sag- und Sichtbaren. Ihre Konfiguration ist stets auch insofern zukunftsbildend, als sie ihre eigene Geste des Bezeugens und Stiftens wiederholt und verschiebt. Medienarchive implizieren also stets eine diskursive Formation des Versammelns und Speicherns. Das Konzept der Mediendispositive versucht, diese diskursiven Machtbeziehungen des Archivs zu analysieren. Der begriffliche Rahmen dieser Disposition beziehungsweise Disponibilität erlaubt es, die tradierten Begriffe hegemonialer Macht aufzubrechen und an ihre Stelle das Wechselspiel von Macht und Widerstand treten zu lassen. Hiermit wird ein in sich selbst heterogenes Spiel makro- und mikropolitischer Regime und Fluchtlinien im Sinne Gilles Deleuzes und Félix Guattaris 9 denkbar, das allererst die Einführung der Kategorie der politischen Differenz in die Theorie medialer DisPositionen gestattet. Gleichzeitig problematisiert der Begriff der Dis-
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Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997. Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 2005.
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Position die Denkformen institutionalisierter Politiken und Medienverbünde, insofern diese nicht nur als starre Institutionen, sondern als jeweils ordnungsstiftende Taktiken einer beweglichen Verwaltung und Readjustierung lesbar werden. Dispositive sind also als heterotope Gefüge zu denken: Das Netzwerk medialer Sag- und Sichtbarkeiten verläuft weder hierarchisch noch linear, sondern horizontal-diffus, gleichsam wie ein unkontrollierbar wucherndes Rhizom. Das zeigt sich insbesondere im Kontext der zunehmend intermedial und hybrid sich verzweigenden Medienkonvergenz, die das Zeitalter digitaler Medien offenkundig auszeichnen. Die Politik der Medien, so diese These des Kapitels Mediendispositive. Macht und Widerstand intermedialer Konfigurationen, verfährt keineswegs bloß hegemonial, vielmehr verschiebt sie das, was als das jeweils Politische stets von neuem bestimmt werden muss. Anders als viele Netzwerkparadigmen der Gegenwart, die vom globalen Dorf bis zur Akteur-Netzwerk-Theorie ein weitgehend unverändertes Verständnis repressiver oder lückenloser Macht fortzuschreiben gewohnt sind, situiert die Theorie der Mediendispositive das unentscheidbare und unauslotbare Politische vor einer immer schon zementierten Politik Dieses Denken einer politischen Differenz klingt schon in Foucaults Analytik der Macht an, findet sich jedoch seit den 1980er Jahren in verschiedenen Studien unterschiedlicher Denker wiederaufgenommen und konzeptuell weiter ausgearbeitet. So konturiert Jean-Luc Nancy beispielsweise das Politische als „singulär plural sein“, d.h. als eine nicht-identische Erfahrung der in sich selbst immer schon vielfältigen Kommunikation als MitTeilung. 10 Mit Jacques Derrida wiederum lässt sich die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen auch als „Grund-Losigkeit“ jeder „Be-Gründung“ fassen. 11 Beide Differenzierungen im Verständnis des Politischen sind auf die Dispositive der Medien zu beziehen, insofern diese die Dazwischenkunft der Medien, 12 also ihre Medialität im strengen Sinne, allererst eröffnen, d.h. eine politische Mitteilbarkeit grund-los instituieren. Dergestalt bestimmen Medien die Phänomenalität des Politischen, indem sie seine Verräumlichung begründen und entgrenzen. Das Kapitel Mediale Politiken der Gegenwart konturiert von hier aus intermediale Politiken als Formen des Verbindens und Trennens, als überwachende und verdatende Regime und schließlich als dysfunktionale Regierungs- und Steuerungstaktiken. Noch im gegenwärtigen Taumel der sich beschleunigenden Globalisierung fungieren Mediendispositive assoziativ und dissoziativ. Genauer gesagt: Die politischen Spielräume – auch solche, welche die ehemals unverrückbaren Grenzen der Nationen oder Völker längst übersprungen haben –
10 Vgl. Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 3]. 11 Vgl. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a.M. 1991. 12 Vgl. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. 2002.
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(trans-)formieren sich entlang intermedialer Konfigurationen. Gerade hier setzen moderne Regierungstaktiken an: Die Gouvernementalität 13 der Gegenwart, so zeigt sich etwa in Diskursfiguren der Schwärme, Crowds oder kollektiven Intelligenz, ist wesentlich gouvernemedial strukturiert. Gleichzeitig vervielfachen gegenwärtige Regierungsrationalitäten die Überwachungs- und Verdatungspraktiken in digitalen Medien. Diese rekurrieren ihrerseits auf den medial geprägten Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. 14 Mit dieser Verschiebung wiederum aktualisieren sich auch die medialen Regierungstechnologien, die nunmehr vielfach als flexible und lokale, indes auch als äußerst dynamische und skalierbare Regime ‚sanfter‘ Lenkung und Leitung im geopolitisch globalen Kontext auftreten. Dass darin die neoliberalistisch konnotierte Unternehmensgesellschaft 15 keine bloß klassische Interessenspolitik betreibt, zeigt sich freilich gerade dort, wo sie am erfolgreichsten scheint: in einer genuin individualisierenden, mikropolitischen Dimension, die in jüngster Zeit insbesondere in den auf Selbstinszenierung ihrer Nutzer ausgelegten sozialen Netzwerken sich auszudehnen begonnen hat – und zwar ubiquitär. Einen abschließenden Rück- und Ausblick unternimmt das Kapitel Die Medien und die kommende Demokratie. Die Theorie heterotoper Mediendispositive verweist, wie eingangs erwähnt, auf die unabschließbare Disponibilität zwischen Medien und Politik. Doch in einem solchen unvordenklich offenen Spielraum verliert sich das Politische nicht, sondern kommt – als politikverändernde Herausforderung – zum vermeintlich unverrückbaren medial-politischen Gefüge stets neu hinzu. Deshalb lässt sich die Idee einer stets kommenden, beziehungsweise – im Sinne Derridas – kommen könnenden Demokratie 16 ebenso politik- wie medientheoretisch wenden. Denn in und mit den Mediendispositiven stehen nicht nur die Medien, sondern immer auch das Politische jeder Politik zur Disposition.
13 Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a.M. 2004. 14 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976. 15 Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt a.M. 2004. 16 Vgl. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2003.
2. Die Wahrheitsspiele der Wissensregime. Zur Politik medialer Diskurse
Im Zeitalter digitaler Medien ist Wissen zweifelsohne schneller und einfacher zugänglich als jemals zuvor. Zugleich haben sich seine Präsentationsund Vermittlungsformen in jeder Hinsicht vervielfacht: Die explosionsartig wachsende Wikipedia hat den Hauptort enzyklopädischen Wissens vom Buch ins Netz verlagert. Die Open Access-Debatte verändert derzeit die etablierten Publikationsprozesse der Wissenschaft, geheime Staatsarchive werden auf Plattformen wie Wikileaks ans Licht einer breiten Öffentlichkeit gezerrt und massenmediale Inszenierungen diffundieren in die intermediale Vielfalt digitaler Kommunikationsnetze. Politisch kontrovers gilt das digital vermittelte Wissen in aller Regel, weil es tradierten Wissensregimen zuwiderläuft. Doch die mediale und politische Verschiebung des Wissens betrifft auch die digitalen Mediennetze selbst: Das Politische jeweils neuer Medien – ihre unruhestiftende, vielleicht gar revolutionäre Kraft – liegt nicht allein in ihrer medientechnischen Innovation, sondern auch in ihrer medienästhetischen und -kulturellen Kontur, genauer: in den sich verändernden Sag- und Sichtbarkeitsordnungen. Doch ebendieses Verhältnis von Medientechnologie und Sag- und Sichtbarkeit ist ein vielschichtiges: Medientechnologien haben einerseits Anteil an jenen Aussagemöglichkeiten und Wissensformationen, welche die Diskursarchäologie Michel Foucaults als Archive des Sagbaren bestimmt. Andererseits sind es genuin diskursive Ordnungen, seien es problematisierende oder verheißungsvolle Aussagen über Medien, die jede mediale Technologie als historisch und strategisch spezifische Formationen des Sagbaren bestimmen. Foucaults Archäologie des Wissens 1 durchquert also das textuelle wie audiovisuelle Feld des Diskursiven: Sie beschränkt sich, wie insbesondere die Foucault-Lektüren Gilles Deleuzes zeigen, nicht auf Gesetze der Sagbarkeit, sondern umfasst auch Blickregime und Sichtbarkeitsordnungen. Unter der Audiovisualität medialer Archive kann so eine doppeldeutige Verbindung von Medien und Politik fokussiert werden: Sie beschreibt einer-
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Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973.
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seits die Ästhetik des Medialen ‚selbst‘, d.h. die Art und Weise, wie Medien sag- und sichtbar werden. Aus diesen medialen Wissensordnungen resultieren andererseits gerade diejenigen Wahrnehmungsregime, die gemeinhin den Medien der Übertragung, Verarbeitung und Speicherung zugeschrieben werden. Dieses zugleich diskursive wie technologische Spiel zwischen den Wissensregimen und den Medienarchiven gilt es im Folgenden herauszuarbeiten – als serielle Geschichte medialer Zäsuren, die ihrerseits als politische Diskurse und Wahrheitsspiele lesbar werden.
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M EDIUM „Im Bereich der Aussagen gibt es weder Mögliches noch Virtuelles; alles ist hier real und jede Realität manifest: nur das zählt, was gesagt wurde, hier, in diesem Augenblick, mit diesen Lücken und Auslassungen.“ 2
Das Verhältnis von Diskurs und Medium ist selbst schon ein politisches, denn es betrifft die medienwissenschaftliche Prämisse, dass Medien jede bisherige Kultur und Gesellschaft maßgeblich geprägt haben. Ob aber Medien in erster Linie techn(olog)isch oder aber diskursiv formiert seien, ist eine in der Medienwissenschaft virulente Streitfrage. Die medientechnisch orientierte Position erteilt diskursanalytischen Zugängen hierbei mitunter polemische Absagen, wie sie etwa bei Bernhard Dotzler zu finden sind: „Jedenfalls erweist sich das Verhältnis von Diskurs und Medium […] technisch real als das einer Begrenzung und der Spielraum fortgesetzter Diskursanalysen in erster Linie als der entsprechender Grenzvermessung. Mag das Geblöke der Reden und Meinungen in und über Medien noch anschwellen; mögen die Medien, wie alle technischen Erfindungen, von einer Art Lichthof der Faszination umgeben sein […]. Sollen […] der Diskurs wie die Medien in ihrer äußerlichen Tatsächlichkeit [behandelt werden], führt der Weg von der Diskursanalyse zur Technikanalyse.“ 3
Eine solche, vorwiegend der Tradition der Kittler-Schule verpflichtete Forschungsprogrammatik wird anders ausgerichtet, wenn das Diskursive dem Technologischen vorangestellt wird. Andreas Lösch, Dierk Spreen, Dominik Schrage und Markus Stauff etwa schreiben in der Einleitung des programmatisch betitelten Bandes Technologien als Diskurse, dass insbesondere die an Foucault geschulte Diskursanalyse von einer Technizität diskursiver Formationen ausgeht, „die gleichermaßen die Voraussetzung von Sachtechniken bildet wie auch durch diese angeregt und plausibel werden kann“. 4
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Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 11. Dotzler, Bernhard J.: Diskurs und Medium. Zur Archäologie der Computerkultur, Bd. 1, München 2006, S. 21f. Gleichwohl bleibt Dotzler – und mit ihm viele medientechnisch fokussierte Untersuchungen – einer Diskursanalyse verhaftet, ist es doch ihm zufolge, „die Limitation des Diskurses, […] der Bruch zwischen Diskurs und Medium, der – als historische Techno-Logie – die vielfältigen kulturellen Effekte ‚der Medien‘ in der ihrer historischen wie aktuellen Wahrheit angemessenen Verbindung […] nachzuzeichnen erlaubt“ (vgl. ebd., S. 193.). Vgl. Lösch, Andreas/Schrage, Dominik/Spreen, Dierk/Stauff, Markus: Technologien als Diskurse – Einleitung, in: dies. (Hg.): Technologien als Diskurse.
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Radikaler noch fällt der im Kontext der Cultural Studies ausgearbeitete Medienbegriff bei Oliver Marchart aus, wenn dieser „aus Sicht der Diskursanalyse“ ein Medium als „Gesamtheit […] aller Texte, Bilder, Narrative, Protokolle und Praxen im Medium und über das Medium“ definiert. 5 Den Widerstreit entweder diskursiv-sprachlicher oder medial-technischer Apriori versuchen konziliante Modelle zu schlichten, die etwa von einem „Mediendiskurs“ oder von einer „Mediendiskursanalyse“ ausgehen. 6 Allerdings entpuppt sich die durchaus vielversprechende „produktive Offenheit“ 7 solcher Ansätze nicht selten als blinder Fleck eines medientechnizistischen Gestus’. 8 Dabei ist das mitunter fachpolitisch motivierte Spannungsverhältnis von Diskurs und Medium durchaus produktiv zu machen, wenn auch nicht über einen deterministisch verkürzten Begriff von Technologie und Technik. Schon in den frühen Stunden der federführend von Michel Foucault geprägten Diskursarchäologie findet sich dagegen eine Bestimmung technischer Medien, die sich zwar von den diskursiven Formationen unterscheiden, gleichwohl aber nicht unabhängig von ihnen zu denken sind. Dies verdeutlichen, wie ich zeigen möchte, nicht nur eine detaillierte Re-Lektüre diskursarchäologischer Methodik, sondern auch ein Exkurs zu der nicht selten verkürzten Rezeption der Diskursanalyse innerhalb der Medienwissenschaft.
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Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern. Heidelberg 2001, S. 7-20, hier: S. 10. Vgl. Marchart, Oliver: Techno-Kolonialismus. Theorie und imaginäre Kartographie von Kultur und Medien, Wien 2004, S. 43, Herv. i. Orig. Vgl. in diesem Sinne etwa den Band Mediendiskursanalyse (Dreesen, PhilipSH.XPLĊJDàXNDV]6SLH&RQVWDQ]H+J 0HGLHQGLskursanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden 2012.). Vgl. Otto, Isabell: Rezension zu: Pundt, Christian: Medien und Diskurs. Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens, in: H-Soz-uKult, 21.07.2009, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ 2009-3-058. Das zeigt sich exemplarisch in der Studie Christian Pundts, die den Titel Medien und Diskurs trägt: „[U]nter dem Label einer medienwissenschaftlichen Diskursanalyse“ ist Pundt bemüht, „den Diskursbegriff aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive zu erschließen, um die konstitutive Rolle der Medien im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation herauszustellen“. Wie besagte Rolle der Medien ihre maßgeblichen Qualitäten erlangt, bleibt hingegen weitgehend unklar (vgl. Pundt, Christian: Medien und Diskurs. Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens, Bielefeld 2008, S. 12f., Herv. i. Orig; sowie S. 355.).
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Botschaft oder Rauschen? Medientheorie mit Foucault Anlässlich eines Kolloquiums über das Wesen des medizinischen Denkens versucht sich Michel Foucault 1966 an der „Einordnung der Medizin in das Spektrum der übrigen Wissensformen“. 9 Doch sein Vortrag Botschaft oder Rauschen? liest sich eher wie ein informationstheoretisches Plädoyer, das überdies Verwandtschaften zur zeitgenössischen Kybernetik andeutet. Ein Kranker, so Foucault, sendet Botschaften aus, die von einem Arzt gehört und interpretiert werden müssen. Hierfür muss erstens ein „Rauschen“, ein „Nichtschweigen der Organe“ hörbar sein, das zweitens aus diskontinuierlichen, gegeneinander abgrenzbaren Elementen bestehen oder zumindest deren Träger sein muss. Drittens müssen diese im Rauschen individualisierbaren Elemente „in eindeutiger Weise mit anderen Elementen verknüpft sein, die deren Bedeutung darstellen“, wobei diese Verknüpfung viertens nach bestimmten Regelmäßigkeiten funktioniert. 10 Diese vier regelhaften Bedingungen formieren nach Foucault einen „Code“, der auf der Ebene seiner Konstitution, bei der „Aufnahme der Botschaft“ und schließlich im „Einsatz von Modellen“, d.h. anhand seiner Interpretationslogiken analysiert werden kann. 11 Eine Krankheit, folgert Foucault deshalb, „erzeugt allenfalls ein Rauschen, und das ist bereits viel. Alles Übrige tut die Medizin hinzu, und sie tut in Wirklichkeit sehr viel mehr, als sie selbst glaubt“. 12 Botschaft oder Rauschen? – Eine solche Fragestellung innerhalb des medizinischen Diskurses deutet die diskursiven Wissensregime schon an, welche die Archäologie des Wissens wenig später epistemologisch zu bestimmen versucht. Zugleich verweist bereits dieser Vortrag auf die machtpolitische Dimension der gesellschaftlichen Kontrolle und Selektion der Diskurse, wie sie Foucaults spätere Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses aufdeckt und hiermit die Analytik der Macht präzisiert: In den klinischen Dispositiven, die sowohl von medizinischen Diskursen als auch von ärztlichen Blickregimen durchkreuzt werden, ist ‚Krankheit‘ weder ein natürlicher noch ein evidenter Gegenstand. Der undurchschaubare Körper erzeugt vielmehr ein Rauschen, dem die Ärzteschaft begegnet, in dem sie es zu codieren, d.h. zu diskursivieren versucht. Die Diskursanalyse der Medizin beschreibt deshalb in erster Linie die Streuung ihrer Aussagen. Doch der ärztliche „Sieg über das Rauschen“ 13, hierin liegt Foucaults diskurs- wie machtanalytische Pointe, kann niemals ein vollständiger, bruchloser oder anhaltender Triumph sein.
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Foucault, Michel: Botschaft oder Rauschen?, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 718-722, hier: S. 718. Vgl. ebd., S. 719. Vgl. ebd., S. 719ff. Vgl. ebd., S. 719. Ebd., S. 720.
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Die Medizin bedarf als Fachdisziplin eines Wissensregimes, sie betreibt also eine spezifische Diskursstrategie. Die Konstitution eines medizinischdiagnostischen Codes bedeutet zugleich den Ein- und Ausschluss von Aussagen in und aus ihm. Die klinische Erfahrung, so spezifiziert Foucault, „hat also diverse Formen von Rauschen ausgeblendet, die als nicht einschlägig gelten“. Konsequent hat sie „Merkmale definiert, die es gestatten, die Elemente der Botschaft […] zu individualisieren“ und schließlich „Substitutionsregeln aufgestellt, mit deren Hilfe es möglich ist, die Botschaft ‚zu übersetzen‘“. 14 Hier scheint die kritische Grundfrage auf, die gleichermaßen Anlass und Gegenstand der Archäologie des Wissens wird: „[W]ie kommt es, das eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ 15 Es geht Foucault um die Bedingungen der Möglichkeiten diskursiver Formationen, die Aussagen sprechen machen und andere dafür zum Schweigen bringen. Von Interesse sind die Materialitäten und „Mannigfaltigkeiten“ 16 der Aussagen insofern, als dass ihr bloßes Erscheinen den disziplinären Begriffen und Strategien, den fachlichen Subjekten und Objekten, aber auch den institutionalisierten Praktiken und Regeln vorausgeht. Botschaft oder Rauschen? – Diese Frage an die Medizin als „Wissenskorpus wie auch als Institution“ ist auch eine Infragestellung der klinischen oder ärztlichen Dispositive. Denn die Krankheit hat „nichts zu sagen“ und es gibt auch nicht nur einen Code, der diesem „ganzen Rauschen Information aufprägte“: 17 Vielmehr misst Foucault der Medizin jene raum-zeitliche Spezifizität der Aussagefunktionen zu, die wenig später seine Begriffe des historischen Apriori und des Archivs schärft. Sofern sie zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt auftaucht und spricht, ist die Medizin ein „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ 18, ein Archiv aus Ereignissen und Dingen, dessen Positivität ein historisches Apriori bildet. 19 Trotz dieser diskursanalytischen Vorboten scheint sich Foucaults Vortrag in erster Linie einer informationstheoretischen Lektüre anzuerbieten. Von einem Botschaftssekretär unterscheidet sich ein Arzt beispielsweise dadurch, „dass der Sekretär das Ende der verschlüsselten Botschaft abwar-
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Ebd., S. 719f. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 42. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 10. Vgl. Foucault: Botschaft, a. a. O. [Anm. 9], S. 720. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 187. In seinen Studien zu den Mechanismen der Disziplin und zum Zeitalter der Gouvernementalität wird Foucault den medizinischen Diskursen in korrespondierenden Dispositiven vertieft nachgehen. Medizinische Aussagesysteme korrespondieren mit Technologien der Macht, wie etwa der Vergleich der Verbannung von Leprakranken aus der mittelalterlichen Stadt mit der Kadrierung und Kontrolle der Pestgebiete in der Frühen Neuzeit und mit der Präventivmedizin moderner Pockenbekämpfung nahelegt (vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a.M. 2004, S. 25-26.).
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tet, während der Arzt nicht warten kann und darf, dass das Rauschen der Krankheit zu einem Ende kommt, also eine Heilung oder der Tod eintritt“. 20 Dafür muss er sowohl „das Rauschen ausblenden und sich die Ohren für alles verstopfen, was nicht Element der Botschaft ist“, als auch die Elemente der Botschaft erkennen und „sie aufzeichnen, soweit sie erkennbar sind“. 21 Dieses Prinzip einer möglichst schnellen Übersetzung und Speicherung der Krankheitsbotschaften verlangt den Einsatz von Modellen, von „Konfigurationen oder Sequenzen aus bereits gehörten Signalen“, mit denen der „Zusammenhang zwischen Elementen der Botschaft und den Elementen einer bereits definierten Krankheit“ als Übersetzung herzustellen ist. 22 Unverkennbar rücken medizinische Diagnosen hier in nahe Verwandtschaft zu den Bemühungen um Alain Turing während des Zweiten Weltkriegs in Bletch ley Park bei der Entschlüsselung der Enigma: In beiden Fällen stellen sich Aufgaben der verschlüsselten (und zu entschlüsselnden) Informationsüber tragung unter zeitkritischen, weil kriegsentscheidenden oder lebensretten den Bedingungen. 23 Konsequent fragt Foucault zu Ende seines Vortrages deshalb, ob nicht ein Überdenken der medizinischen Praxis „auf der Grundlage von Begriffen […] aus der Sprachanalyse und der Datenverarbeitung“ 24 angezeigt wäre. Diese Frage wiederum markiert einen strategisch entscheidenden Punkt medientheoretischer Anschlüsse an die Foucault’sche Diskursanalyse. Mediale Diskurse und Techniken Friedlich Kittler nimmt 1999 direkt auf Foucaults Vortrag Bezug, wenn er dessen methodische Schwäche in medientheoretischer Hinsicht herausstreicht: „Wenn Foucault vor versammelten Ärzten die ärztliche Tätigkeit, ohne Wieners Kybernetik auch nur zu erwähnen, als Ausfilterung von Nachrichten aus einem Rauschspektrum beschrieb, beanspruchte er selber den Ort eines Kyberneten oder Steuermanns, der vom Tod des Menschen gar nicht mehr zu sprechen brauchte, weil der Begriff der Nachricht ihn schon impliziert.“ 25
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Foucault: Botschaft, a. a. O. [Anm. 9], S. 721. Ebd. Ebd., S. 721f. Vgl. zur Mediengeschichte der Chiffriermaschine die umfassende Studie von Dominik Landwehr (Landwehr, Dominik: Mythos Enigma. Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt, Bielefeld 2008.). 24 Foucault: Botschaft, a. a. O. [Anm. 9], S. 722. 25 Kittler, Friedrich: Zum Geleit, in: Michel Foucault, Jan Engelmann (Hg.): Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 7-9, hier: S. 8.
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Auf knapp zwei Seiten fasst Kittler dann zusammen, was die medienwissenschaftliche Rezeption Foucaults ganz entscheidend geprägt hat: Eine so technozentrische wie technizistische Leseart, die im Kern den zentralen Paradigmen Foucaults widerspricht, ihn aber – wenn auch verkürzt – im Feld technischer Medienanalysen adaptierbar macht. 26 So schreibt Kittler, dass „[d]er Materialismus des Ereignisses“ es zwar möglich mache „das Verfahren der Archäologie oder Diskursanalyse von den Büchern, aus denen es herkam, auf andere Medien zu übertragen“. 27 Doch habe Foucault nur „das Medium Schrift wahrhaft durchmessen“ und obwohl der „Bibliomane Foucault“ 28 immer weiter „vom festen Ufer seiner Bibliothek ins offene Meer der Medientechniken“ navigierte, endeten alle seine große Monographien „mit genau der Epoche, als das gedruckte Buch sein Wissensmonopol einbüßte“. 29 Dagegen will Kittler seinen Begriff der „Aufschreibesysteme“ breiter verstanden wissen als „Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“. 30 Kittlers Kritik an der Foucault’schen Diskursarchäologie rührt von deren vermeintlichen Indifferenz gegenüber Aufschreibesystemen her, die – den Kulturen des Schriftmonopols verhaftet – den medientechnischen Wandel der Gegenwart nicht denken könne: „[D]iskursanalytische Arbeiten [hatten] Nöte immer erst mit Zeiten […], deren Datenverarbeitung das alphabetische Speicher- und Übertragungsmonopol […] sprengte. Nun sind zwar alle Bibliotheken Aufschreibesysteme, aber nicht alle Aufschreibesysteme Bücher. Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung von Informationsflüssen erschöpft eine Analyse nur von Diskursen die Macht- und Wissensformen noch nicht, Archäologien der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen.“ 31
26 Dass es „keine durchgehend systematischen Anschlüsse an ein als ‚geschlossen‘ imaginiertes ‚Gesamtwerk‘ Foucaults durch einzelne medienwissenschaftliche Arbeiten“, hingegen eine Vielzahl von stark verkürzten Adaptionen gibt, stellen auch Rolf Parr und Matthias Thiele fest (vgl. Parr, Rolf/Thiele, Matthias: Foucault in den Medienwissenschaften, in: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, S. 83-112, hier: S. 85f.). 27 Kittler: Zum Geleit, a. a. O. [Anm. 25], S. 8. 28 Ernst, Wolfgang: Das Gesetz des Sagbaren. Foucault und die Medien, in: Peter Gente (Hg.): Foucault und die Künste, Frankfurt a.M. 2004, S. 238-259, hier: S. 243. 29 Kittler: Zum Geleit, a. a. O. [Anm. 25], S. 7f. 30 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, S. 519. 31 Ebd.
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Der für die europäische Geschichte konstitutiven Medialität des Alphabets geschuldet, seien Foucaults „Navigationen in die Mediengeschichte“, so Kittler deshalb, „Heterotopien im eigenen Werk geblieben“. 32 So gewinnbringend Kittler folglich ein „Strukturalismus der Materialität“ erscheint, dessen Grundsatz darin liegt, dass „alle Systeme der Zeichen […], lange bevor sie auf irgendein Was verweisen“, immer „ihrem eigenen Dass ausgesetzt“ sind, 33 so wenig sieht er diese Materialität bei Foucault ausgearbeitet, woraus sich eine Art Auftrag an die an Kittler anschließende (Medien-)Forschung ableiten lässt. Da Foucault „bemerkenswert blind“ gewesen sei, wo das „Heute in den Medien liegt“, so argumentiert etwa Wolfgang Ernst, „ergibt sich die Möglichkeit, von Foucault ausgehend analytisch über Foucault hinauszugehen. Medien archäologisch zu wissen bleibt sein Denkauftrag an uns. So meint Medienarchäologie die Beschreibung von Diskursen auf dem Niveau ihrer apparativen oder logischen Existenz, insofern sie Funktionen medienarchivischer Elemente sind.“ 34
Deshalb fänden sich, wie Ernst weiter meint, vermeintlich viele Argumente in Foucaults Werk, in denen Foucault zwar „für mediale Charakteristiken sensibel ist, ohne sich jedoch weitgehend auf ihr technologisches Dispositiv einzulassen“. 35 Ähnlich meint Bernhard Dotzler, Foucaults Methodik habe zwar „den Diskurs selber als Medium im neuen Sinne […] hervortreten lassen“, weil der Diskurs „verwoben in die Realität“ kraft seiner ‚selbst realen‘ Materialität „die Welt nie bloß interpretiert, sondern stets schon verändert“. 36 Doch liefere eben „das Reden über sie als auch das Reden in den Medien […] als Analyseobjekt keineswegs die Medien selber, sondern ein-
32 Kittler: Zum Geleit, a. a. O. [Anm. 25], S. 9. Der Begriff der „Heterotopien“ erscheint mir für die Rolle der Medien in Foucaults Werk durchaus produktiv, nicht aber – wie ich zeigen möchte – im Sinne ihres präsenten, aber indeterminierten und missachteten Status in den Archiven und Dispositiven Foucaults, sondern eher als (diskursive) „Orte außerhalb aller Orte […], obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen“ (Foucault, Michel: Von anderen Räumen, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2001, S. 931-942, hier: S. 935.). Vgl. hierzu meine Argumentation im Kapitel 3.3., Krieg und Widerstand. Zur Heterotopie medialer Dispositive. 33 Kittler: Zum Geleit, a. a. O. [Anm. 25], S. 8, Herv. i. Orig. 34 Ernst: Das Gesetz des Sagbaren, a. a. O. [Anm. 28], S. 239f. 35 Ebd., S. 241. 36 Dotzler, Bernhard J.: Diskurs und Medium. Noten zur Grundlegung einer historischen Techno-Logie, in: Jürgen Fohrmann/Erhard Schüttpelz (Hg.): Die Kommunikation der Medien, Tübingen 2004, S. 21-35, hier: S. 27.
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zig und allein einen Beweis mehr, dass Reden an Reden anschließen können, weiter nichts“. 37 Verkürzt ist diese Kritik an der Foucault’schen Diskursanalyse, weil sie einen explizit nicht-diskursiven Raum der Medien postuliert, d.h. ein vermeintlich bestimmbares Feld außerhalb jedes Diskurses, das die Bedingung seiner Möglichkeit bestimmen müsste. Folgerichtig gäbe es stets zwei klar differenzierbare Entitäten zu behandeln, nämlich den „Diskurs wie die Medien in ihrer äußerlichen Tatsächlichkeit“. 38 Aus der Asche der Diskursarchäologie erhöbe sich sodann der Phönix einer vermeintlich scharf abgrenzbaren Medienarchäologie: Ist der „blinde Fleck“ Foucaults einmal als „die mediale Verfasstheit von Kulturtechniken“ 39 benannt und ist das Fehlen „ein[es] technische[n] Apriori in seine[r] Wissensarchäologie“ 40 erst konstatiert, gilt es fortan Mediendispositive „als Ausprägung des historischen Apriori“ 41 zu beschreiben. Analysegegenstand werden dann „Probleme auf physikalischer oder ingenieurs-, auf mathematischer und mechanischer Ebene“, die „das Gesetz des Sagbaren auf besondere Weise“ berühren. 42 Zutreffend ist bekanntlich, dass Foucault sich in seinen Monographien, Schriften, Vorlesungen und Vorträgen selten konkret auf Medien, insbesondere auf technische Medien bezogen hat. Deshalb anerbietet sich Foucaults Frage an die Medizin, Botschaft oder Rauschen?, als methodische (Wieder-)Einstiegshilfe für die medienwissenschaftliche, meist jedoch medientechnikzentrierte Forschung. Denn in der Tat sind die Botschaften der Krankheit – die diskursiven Praktiken der (klinischen) Medizin also – insofern in informations- oder kommunikationstheoretischen Modellen behandelbar, als dass sie sich als ein Herausfiltern von Botschaften aus kontingentem Rauschen beschreiben lassen, das sich durch Momente des Sendens, Vermittelns und Übertragens differenziert: Klinische Prozeduren sind mitunter mediale Verfahren, die sich etwa mit und dank Röntgenapparaten, Computertomographie oder laparoskopischer Chirurgie transformiert haben. 43 Doch in Foucaults werkhistorisch frühem Vortrag zeichnet sich bereits die denkerische Fusion von (Wissens-)Macht und Technik, näherhin von
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Ebd., S. 30. Ebd., S. 31, Herv. v. mir, SaS. Ernst: Das Gesetz des Sagbaren, a. a. O. [Anm. 28], S. 243. Engelmann, Jan: Aktenzeichen „Foucault“, in: Michel Foucault, Ders. (Hg.): Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 215-226, hier: S. 219. 41 Ernst: Das Gesetz des Sagbaren, a. a. O. [Anm. 28], S. 241. 42 Ebd., S. 240. 43 Zu den Produktionsbedingungen und (insbesondere genderkonstituierenden) Machteffekten medizinischer Bilder vgl. die ausführliche Studie von Claudia Reiche (Reiche, Claudia: Digitale Körper, geschlechtlicher Raum. Das medizinisch Imaginäre des „Visible Human Project“, Bielefeld 2011.).
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maschineller Technologie einerseits und disziplinarischer oder gouvernementaler Machttechnologien andererseits, ab. Weder das Stethoskop des Arztes noch die hyperreale Computertomographie machen alleine die Botschaft der Krankheit aus. Zu einem medizinaltechnischen Medium werden beide erst durch ihr Eintreten in einen klinischen Diskurs und ihr Aufscheinen in einem ärztlichen Blickregime. 44 Die medialen Momente der Übertragung, Speicherung und Verarbeitung bestimmen also nicht ausschließlich eine diskursive Praxis, vielmehr tauchen sie nur in und mit den Botschaften der Medizin auf, d.h. in einem Feld „diskursive[r] Beziehungen mit nichtdiskursiven Milieus“. 45 In diesem Feld formieren dieselben Aussagen, die durch (medien-)technische Apparate und Träger vermittelt werden, die diskursiven Möglichkeitsbedingungen der Medientechnik. „Ohne die Distanz der Sprache“, so Georg Christoph Tholen, ließen sich „die medienhistorisch bedeutsamen Platzverschiebungen zwischen den Medien gar nicht datieren“. 46 Foucault denkt folglich sehr wohl eine maßgebliche Dimension der (Medien-)Technik(en), aber keine, die historische Apriori „reihenweise dahinsinken“ 47 ließe. Vielmehr begründet er eine Technikanalyse und eine Medienarchäologie, die ihr revolutionäres Potential aus den Mannigfaltigkeiten der Aussagen in ihrer positiven, materiell-heterogenen Form zieht. Insofern erlaubt die Diskursarchäologie der Medien genau dasjenige in einem kritischen, der Komplexität der Geschichte gerecht werdenden Sinne, was der jüngere Friedrich Kittler noch 1987 zusammen mit Manfred Schneider und Samuel Weber forderte, nämlich „die sogenannten Wirklichkeiten als historische Formationen und Verbundsysteme von Medien auseinanderzunehmen“. 48
44 Das zeigt sich am Beispiel des Stethoskops noch in der Etymologie des Begriffs, müsste das Hörgerät doch richtiger als „Stethophon“ bezeichnet werden. Das Stethoskop verweist auf die dominant visuellen Diagnoseverfahren seiner Erfindungszeit – und belegt zugleich seine kontemporäre Bestimmung als diskursiver Gegenstand (vgl. zur virtuellen Sichtbarkeit in der Medizin des 19. Jahrhunderts: Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M.1999, S. 177 und S. 179, sowie Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 84.). 45 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 20. 46 Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. 2002, S.187, Herv. i. Orig. 47 Kittler, Friedrich/Schneider, Manfred/Weber, Samuel: Editorial, in: dies. (Hg.): Diskursanalysen 1. Medien, Opladen 1987, S. 8. 48 Ebd., S. 7, Herv. v. mir, SaS.
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Die Materialität der Aussagen Diese Interdependenz diskursiver Aussagen und medialer Technologie lässt sich an einem jüngeren Exempel aus der Welt digitaler Medien zugleich illustrieren und von neuem problematisieren: Wenn sich beispielsweise tausend Computer mit sechzehntausend Prozessorkernen zehn Millionen Youtube-Videos ansehen, so stellen sie fest, dass in besagten Videos überdurchschnittlich viele Katzen zu sehen – oder besser zu berechnen sind. Dies zumindest suggeriert das Resultat einer im Juni 2012 an der Stanford University in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Google durchgeführten Studie, in deren Zentrum Computer-Cluster und sogenannte high-level concepts standen. Ziel der Studie war es, Computern das selbstständige Erkennen jener Pixel-Mustern beizubringen, die auf existierende, vermeintlich reale Objekte verweisen. 49 „Traumartige, digitale Bilder“ erkannte das Computernetzwerk der New York Times zufolge selbständig als Katze, weshalb sich die beteiligten Wissenschaftler der Erfindung eines „kybernetischen Cousins des visuellen Cortex’“ des menschlichen Gehirns 50 rühmen konnten (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: „Traumartige, digitale Bilder“: Von einem Computernetz erkanntes Katzengesicht. Nun ist die ‚Erkenntnis‘ der Computer in Standford strenggenommen keine Aussage, sondern eine Be-Rechnung. Ihre Bedeutung erlangt diese erst in-
49 Vgl. Betschon, Stefan: 1000 Computer sagen „Jö!“, in: Neue Zürcher Zeitung, 28. Juni 2012, S. 57. 50 Vgl. Markoff, John: How Many Computers to Identify a Cat? 16,000, in: The New York Times, 26. Juni 2012, URL: http://www.nytimes.com/2012/06/26/ technology/in-a-big-network-of-computers-evidence-of-machine-learning.html?_ r=1&pagewanted=all.
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terpretativ, d.h. in dem sie sag- und sichtbar wird und folglich etwas zu sagen und zu sehen gibt. Die digitale Katze und ihre Errechnung wird in dem Moment zu einer Aussage, in dem sie in jenen diskursiven Raum zurücktritt, dem sie zweifelsohne immer schon entstammt. Das heißt allerdings nicht, dass die medientechnische Materialität keinerlei Funktion für die Diskursivierung digital erhobener Katzenhäufigkeit hätte. Denn was der Computer als Muster oder Konzept einer Katze erkennt, ist a priori eine mediale Katze, insofern es nämlich digitale Videobilder von Katzen sind, die analysiert werden. Als numerische Repräsentation einer Katze diskursiviert, erlaubt ihre digitale Berechen- und Adressierbarkeit dann theoretisch tatsächlich beliebige Transformationen. Katzen werden, frei nach Lev Manovich, zumindest in der medialen Digitalität modular, automatisierbar und variabel. 51 Eine halbe oder blauen Katze wäre für den Computer als Berechnung genauso ‚sagbar‘ wie ein synthetisierter Katzen-Hund – sollten der Berechnung von Katzen auch noch solche von Hunden folgen. Auch wenn die Feststellung, dass auf Youtube viele Katzen zu sehen sind, also zuerst eine Berechnung und keine Aussage ist, erscheint ihre diskursive Funktion doch unlösbar mit medialer Technik und Materialität verwoben. Produktiv zu machen ist hierfür die materielle Dimension des Diskurses, wie sie Foucault in der Archäologie des Wissens ausarbeitet. Diese nämlich verweist auf eine Technizität des Diskurses ebenso wie auf eine diskursive Bestimmung der (Medien-)Technik. Foucault zufolge ist ein Diskurs „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören“, 52 er wird durch „eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Reihe von Existenzbedingungen definieren kann“. 53 Gegenstand jeder Diskursanalyse ist deshalb ein „Aussagefeld“, welches den Aussagen gestattet, „aufeinander zu folgen, sich zu ordnen, zu koexistieren“. 54 Doch macht die Koexistenz von Aussagen allein noch nicht ihre Positivität aus, sie ist vielmehr auf eine Materialität angewiesen: „Die Aussage ist stets durch eine materielle Dichte hindurch gegeben […]. Und die Aussage bedarf nicht nur dieser Materialität; sondern diese wird ihr nicht zusätzlich gegeben, wenn alle ihre Determinationen einmal fixiert sind: zu einem Teil konstituiert die Materialität die Aussage. […] Aus denselben Wörtern zusammengesetzt, genau mit demselben Sinn beladen, […] konstituiert ein Satz nicht die gleiche Aussage, wenn er von jemandem im Laufe einer Konversation artikuliert wird, oder wenn er in einem Roman gedruckt wird.“ 55
51 52 53 54 55
Vgl. Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge, Mass. 2001. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 156. Ebd., S. 170. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146.
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Explizit fundiert Foucault die diskursiven Aussagen in der Archäologie des Wissens also mit medialen Materialitäten. Die Medien der Konversation und des Romans, der Sprache und der Schrift gehören hier zu den „immanenten Merkmalen“ einer Aussage, sie bilden ihren „Ort“ und ihr „Datum“, fungieren als ihre „Substanz“ und ihren „Träger“. 56 Mit Dominik Schrage lässt sich so durchaus konstatieren, dass die Materialität der Aussage in der Archäologie des Wissens zwar zunächst der Abgrenzung von „linguistischen, auf generative Regeln zielenden Konzepten“ dient, dabei aber auf genau das verweist, „was heute als ihre Medialität bezeichnet werden könnte“. 57 Doch verkompliziert sich diese Einschätzung spätestens an der Stelle, an der die Diskursanalyse ihre politische Dimension entfaltet, die viele ihrer Lesarten gerade vernachlässigen. Hier kommt Unruhe auf, denn „der Archivar“, so pointiert Gilles Deleuze, „gibt mit Absicht keine Beispiele“ und die Aussagen in ihren Materialitäten erweisen sich bei näherem Hinsehen als verschlungenes Phänomen: Sie sind „Mannigfaltigkeiten“, die „ihrer Natur nach knapp sind“. 58 Mannigfaltig sind diskursive Aussagen in dreifacher Hinsicht: Erstens existiert keine Aussage ohne andere Aussagen, zu denen sie in Beziehung tritt. Zweitens lassen sie sich nicht auf ihren materiellen Träger reduzieren, kommen aber gleichwohl nicht ohne eine Materialität aus. Und drittens sieht sich eine Beschreibung der Aussagen mit der Schwierigkeit konfrontiert, es gleichzeitig mit nicht sichtbaren und nicht verborgenen Aussagen zu tun zu haben. 59 Die Verknappung der Aussagen, ihre Rarität, hängt mit dieser zugleich evidenten und flüchtigen Materialität zusammen: Stets sind Aussagen bedingt durch „Ausschlüsse, Grenzen und Lücken“. 60 Und obwohl jede Aussage weder möglich noch virtuell, sondern stets Realität im Sinne ihres Auftauchens ist, „ist deshalb jeder Satz noch von dem erfüllt […] was er nicht sagt, von einem virtuellen oder latenten Inhalt […]“. 61 Schon auf der Ebene ihrer Aussagefunktionen wirkt in diesem Sinne der Diskurs politisch: Weil historisch wie aktuell immer ein bestimmtes Aussagefeld erschienen ist, zu dessen Gunsten andere Aussagen schweigen, sind der Positivität jedes Diskurses Ausschlussverfahren immanent. Die „lückenhafte und zerstückelte Form eines Aussagefeldes“, bedeutet zugleich den Wert, die Aneignung, die Reproduktion, die Transformation und – nicht zu-
56 Ebd., S. 146f. 57 Schrage, Dominik: Kultur als Materialität oder Material – Diskurstheorie oder Diskursanalyse?, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede, Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt a.M./New York: 2006 (CDROM), S. 1810f. 58 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 10. 59 Vgl. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 158. 60 Ebd., S. 161. 61 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 11.
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letzt – die „Institutionen“ des Sagbaren. 62 Diskurse materialisieren sich folglich politisch – in einem Wahrheitsspiel der Aussagen, die immer schon das Nicht-Gesagte im Gesagten umschließen. Ähnlich differenziert Foucault Aussagen von Äußerungen: Eine Äußerung – ganz im informationstheoretischen oder kommunikationssoziologischen Sinne – liegt vor, „wo eine Menge von Zeichen gesendet wird“, sie „ist ein Ereignis, das sich nicht wiederholt“. 63 Dennoch sind verschiedene Äußerungen auf unterschiedlichen materiellen Trägern unter Umständen als ein und dieselbe Aussage identifizierbar. Die Aussage ist deshalb, anders als die Äußerung, durch eine „wiederholbare Materialität“ gekennzeichnet. 64 Hier nun bröckeln die rein technisch verstandenen Medienarchäologien: Denn „nicht ein stoffliches Fragment sichert die Identität der Aussage“, weder das Papier des Buches noch das Silizium binärer Schaltungen also, „sondern deren Identität variiert mit einem komplexen System aus materiellen Institutionen“. 65 Die Materialität der Aussage umfasst folglich mehr als physikalische Träger oder technische Maschinen: Sie ist grundlegender eine im Feld der Äußerungen beobachtbare Regel, die „Möglichkeiten der ReInskription und der Transkription“ definiert, d.h. zugleich Wiedereintritt und Übersetzung, aber auch „Schwellen und Grenzen“ (medien-)technischer Materialitäten auslotet, überspringt und instrumentalisiert. 66 Mit Gilles Deleuze lassen sich deshalb um eine Aussage angeordnet drei unterscheidbare Raumabschnitte differenzieren: einen „kollateralen“, einen „korrelativen“ und einen „komplementären“ Raum. 67 Den kollateralen Kreis einer Aussage bilden assoziierte oder angrenzende Aussagen, „mit denen sie durch Übergangsregeln […] verknüpft ist“. 68 Korrelativ ist die Aussage mit ihren Subjekten, Objekten und Begriffen verbunden. So definiert sie sich beispielsweise durch eine Dissoziation ihrer Subjekte, Sender und Autoren, weil sie „sehr variable Subjekt-‚Stellen‘“ 69 impliziert, die bestimmen „wel-
62 Vgl. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 174. Vergleichbar versteht auch die sogenannte Duisburger Schule einer kritischen Diskursanalyse deren „politische[n] Einsatz“: (Kritische) Diskursanalysen, so unterstreichen Margarete und Siegfried Jäger, sind ein „Instrument, jede Art von Fundamentalismus zu problematisieren und in Frage zu stellen“, weil „keiner die Wahrheit gepachtet hat“ (vgl. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden 2007, S. 37.). Dieser Grundsatz gilt freilich – und ohne die hier anklingende Akteurs- oder Subjektzentrierung – schon für die Foucault’sche Diskursanalyse. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 148f. 65 Ebd., S. 150. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 14ff. 68 Ebd., S. 15. 69 Ebd., S. 13.
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che Position jedes Individuum einnehmen kann und muss, um ihr Subjekt zu sein“. 70 Der komplementäre Raum der Aussage ist schließlich jener, der sich einer Medienarchäologie als besonders interessant präsentiert: die Aussagebeziehungen zu nicht-diskursiven Formationen, die Foucault in der Archäologie des Wissens als „Institutionen, politische Ereignisse, ökonomische Praktiken und Prozesse“ 71 beschreibt. Auch diese Dimension legt allerdings keinen „vertikalen Parallelismus“ zwischen Institutionen und diskursiven Formationen und schon gar keine „horizontale Kausalität“ fest, 72 die den Menschen als vermeintlichen Urheber der Aussagen festlegen würde. Viel eher bildet sie eine Diagonale, die einen anderen Weg vorzeichnet: „[D]iskursive Beziehungen mit nicht-diskursiven Milieus, die der Gruppe von Aussagen selbst weder innerlich noch äußerlich sind, sondern die Grenze dessen bilden, wovon wir momentan sprechen, den bestimmten Horizont, ohne den weder die Aussagegegenstände erscheinen könnten noch ein solcher Platz im Innern der Aussage selbst bezeichnet werden könnte.“ 73
Die kollateralen, korrelativen und komplementären Bahnen, auf denen jede Aussage simultan kreist, prekarisieren ihre Materialität: Wo eine Aussage auftaucht, erscheint sie gleichzeitig „mit einem Statut, tritt in ein Raster ein, stellt sich in Anwendungsfelder, bietet sich Übertragungen und möglichen Modifikationen an, integriert sich in Operationen und Strategien, in denen ihre Identität aufrechterhalten bleibt oder erlischt“. 74 Die Archäologie des Wissens unterstreicht diese Ambivalenz der Aussagematerialität bewusst, denn das historische Apriori des Wissens muss jeder stofflichen Materialität als diskursive Ereignishaftigkeit der Aussage vorausgehen, zumindest aber beide materiellen Dimensionen auf eine Wirkungsebene stellen. Die Prämissen sogenannter Kritischen Diskursanalysen der Duisburger Schule unternehmen dagegen eine Zuspitzung der Aussagematerialität, deren operativer Wert zugleich von der Gefahr neuer materialistischer Verkürzung kontrastiert wird: „[A]lle Ereignisse [haben] diskursive Wurzeln“, schreiben Margarete und Siegfried Jäger, als „diskursive Ereignisse“ seien aber nur diejenigen zu fassen, „die (vor allem medial und politisch) besonders herausgestellt werden und als solche Ereignisse die Richtung und die Qualität des Diskursstrang, zu dem sie gehören, und auch andere Diskurse, grundlegend beeinflussen“. 75 Zumal angesichts des beachtlichen Einflusses, den etwa massenmediale Inszenierungen auf westliche Staatspolitik ausüben, mutet diese Konzeption der Aussagematerialität gewiss adäquat an.
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Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 139. Ebd., S. 231. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 20. Ebd., S. 21. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 153. Jäger/Jäger: Deutungskämpfe, a. a. O. [Anm. 62], S. 27.
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Doch läuft sie zugleich Gefahr, die diskursive Ereignishaftigkeit ebendieser (Massen-)Medien und (Staats-)Politiken selbst zu übersehen – und sie also bloß zu affirmieren. Schärfer noch verdeutlicht Foucault die Konturen der Aussagen und ihrer Materialitäten als zugleich „spezifisches und paradoxes Objekt“ 76 in seiner Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses. Das diskursive Ereignis ist hier „weder Substanz noch Akzidens“ und doch „immer auf der Ebene der Materialität wirksam“; es ist „weder der Akt noch die Eigenschaft eines Körpers“, aber Effekt aus und in „einer materiellen Streuung“. 77 Gerade an dieser Schwelle im Werk Foucaults, an der die diskursiven Wahrheitsspiele als Wissensregime ausgestellt werden und sich also jenes Feld „der Macht und ihrer Verknüpfung mit dem Wissen“ 78 eröffnet, wird die Materialität der Aussage zu einem „Materialismus des Unkörperlichen“. 79 Kann schon in der Diskursarchäologie nicht von einer alleinigen Stofflichkeit oder Technizität der Mannigfaltigkeiten der Aussagen die Rede sein, muss sich spätestens die Analytik der Macht angesichts der „Existenzialdimension der Machtwirkungen“ 80 von einer monodimensionalen Aussagematerialität verabschieden. Dass medial-technische Bedingungen auf diskursive Aussagen keinerlei Prägung ausüben, ist damit indes noch immer nicht angezeigt. Doch bilden Medientechnologien für den Diskurs insofern kein vorgängiges oder ursprüngliches Moment, als dass die Aussagen in der Diskursarchäologie selbst die Bedingung der Möglichkeit besagter Medientechnik bilden. Diskurse sind medial, jedoch insofern, als dass sich diskursive und medial-technische Materialitäten gegenseitig bedingen, jede Medientechnik also nur in ihrer diskursiven Formation zur Geltung kommt und jeder Diskurs nur medienvermittelt auftauchen kann. Der Einschätzung seitens der Kritischen Diskursanalyse, Diskurse seien „keine wesenhaft passive[] Medien einer In-Formation durch Realität und nicht Materialitäten zweiten Grades, nicht ‚weniger materiell‘ als ‚echte‘ Realität“, 81 ist zweifelsohne beizupflichten. Indes erteilt die Rede von Diskursen als „vollgültige[n] Materialitäten ersten Grades unter den anderen“ 82 den historischen Apriori erneut eine partielle Absage. Die Frage der Aussagematerialität aber richtet sich auch an die Diskursanalyse als politische Methode: Die „Persistenz der Aussagen“, wie sie sich dem Archivar präsentiert, verdankt sich „einer bestimmten Zahl von Trägern und materieller Techniken“, die stets „bestimmte Modalitäten in ihrem Statut haben“. 83 Gerade Modalität und Statut von Träger
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Ebd. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 2001, S. 37. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 23. Foucault: Ordnung des Diskurses, a. a. O. [Anm. 77], S. 37. Schrage: Kultur als Materialität, a. a. o. [Anm. 57], S. 1808. Jäger/Jäger: Deutungskämpfe, a. a. O. [Anm. 62], S. 23. Ebd. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 180.
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und Technik sind aber nicht affirmativ als Gegebenes, sondern vielmehr als Ereignis diskursiver Wahrheitsspiele zu befragen.
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2.2. S AG - UND S ICHTBARKEIT . S TRATEGIEN DISKURSIVER F ORMATIONEN „Politik ist zuerst eine Intervention in das 84 Sichtbare und das Sagbare.“
Die Archäologie des Wissens erfasst diskursive Gegenstände, die „unter den positiven Bedingungen eines komplexen Bündels von Beziehungen, […] zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken hergestellt“ 85 werden. Diskurse, so Jürgen Link, sind „eine institutionell verfestigte Redeweise, insofern eine solche Redeweise schon Handeln bestimmt und verfestigt und also auch schon Macht ausübt“. 86 Dementsprechend erfassen Diskursanalysen, wie Siegfried Jäger schreibt, „das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite und in seinen Häufungen […], aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird […]“. 87 Diese strategischen Verteilungen diskursiver Formationen beschränken sich allerdings nicht auf das Sagbare, sie umfassen auch korrelierende Sichtbarkeitsfelder. Foucaults Diskursarchäologie behandelt was gesagt und was gesehen werden kann, ja sie konzentriert sich gerade auf das Zusammenspiel von Sehen und Sprechen. Nicht nur Zeichen- und Wissenssysteme, sondern auch mediale Wahrnehmungs- und Blickregime werden deshalb diskursanalytisch fassbar. Die politische Wirkkraft medialer Ästhetik verdeutlicht sich dergestalt als ein Spiel nicht nur von Reden und Schweigen, sondern auch von Erscheinen und Verschwinden. Besonders deutlich wird dies in den gegenwärtig florierenden Visualisierungen neuerer Medien wie Computer und Internet. Überhaupt nur noch visuelle fassbar scheint jene Gegenwart geworden zu sein, die von omnipräsenten Mediennetzen und der einhergehenden, rasant fortschreitenden Globalisierung bestimmt wird. Doch findet diese Gegenwart als Karte oder Schaltplan lokaler wie weltumspannender Netze überhaupt erst ihre Präsen-
84 Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich 2008, S. 32. 85 Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 68. 86 Link, Jürgen: Was ist und was bringt Diskurstaktik, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse 2, Bochum1983, S. 60-66, hier: S. 60. 87 Jäger, Siegfried: Diskurs und Wissen. Methodologische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Andreas Hirseland/ders./Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1, Theorien und Methoden, Wiesbaden 2001, S. 81-112, hier: S. 83f., Herv. i. Orig.
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tationsform. 88 Auffallend oft dient die Bebilderung der vernetzten Welt als Metapher digitaler Medien, wie etwa ‚Weltkarten‘ der Freundschaftsbeziehungen im sozialen Netzwerk Facebook und der wissenschaftlichen Kollaborationen in Büchern und (Online-)Fachzeitschriften exemplarisch illustrieren. (vgl. Abb. 2 & 3).
Abb. 2: „Map of scientific collaboration between researchers“
Abb. 3: „Visualizing Friendships“ Beide Karten sind das Resultat einer Datenauswertung und -visualisierung, im Falle der weltweiten Vernetzung via Facebook handelt es sich um ein betriebsinternes Projekt des gleichnamigen sozialen Netzwerks, die Karte der wissenschaftlichen Kollaborationen entstammt der Untersuchung von gegenseitiger Zitation in wissenschaftlichen Publikationen durch eine bibliometrische Konsultationsfirma, die sich mit Einfluss und Wachstum wissen-
88 Zur Diskursivierung und Visualisierung des Netzes und der Netzwerke vgl. auch meine Überlegungen im Kapitel 3.4., Mannigfaltige Rhizome und mediale Vernetzung.
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schaftlicher Innovation beschäftigt. 89 Beide Beispiele zeigen zunächst mediale Vernetzungen – Kommunikation via Facebook, Kooperation in der Wissenschaft –, beide sagen aber gleichzeitig noch sehr viel mehr. Sichtbar machen die Karten Verbindungslinien, die sowohl ein fein verästeltes Netz wie auch größere und kleinere Knotenpunkte ausbilden. Dabei variiert die Helligkeit der Linien entsprechend ihrer Verbindungsstärke, so dass größere Kreuzungspunkte in ein helles, auratisch anmutendes Glühen getaucht sind, andere Linie hingegen nur die flüchtige Gestalt eines Schweifs annehmen. Was in beiden Bildern als Welt in Erscheinung tritt, gewinnt ausschließlich aus diesen Verbindungslinien an Kontur, es sind keine topographischen Grenzen eingezeichnet. Gleichwohl evozieren beide Bilder instantan die Assoziation der Welt-Bilder, wie sie aus Atlanten oder von Satellitenaufnahmen bekannt sind – mit dem gravierenden Unterschied, dass hier ganze Landstriche unsichtbar bleiben. Die kontinentalen Landformationen scheinen sich im Norden im Dunkeln zu verlaufen und das Landesinnere Südamerikas, Afrikas oder Asiens bleibt schwarz, wohingegen insbesondere Europa und Nordamerika scharfe und helle Konturen annehmen. Hier werden die Strategien der Sicht- und der Unsichtbarmachung evident, die ästhetisch an andere Visualisierungsformen anschließen und so beide Bilder als Weltkarte verdeutlichen. Zugleich markieren die Bilder diskursive Gegenstände, zuvorderst jene der Wissenschaft und der Freundschaft. Die Visualisierung unternimmt eine Übersetzung von diskursiven Formationen, sie gibt nicht nur zu sehen, sondern auch zu sagen: Freundschaft und Wissenschaft werden hier vorgestellt als vernetzte und vernetzende Praktiken, als ein intrakontinental und international vollzogenes Austauschen, dessen Erfolg sich aus demselben Netzwerk speist, das es hervorbringt. Allerdings überzieht dieses Netzwerk (noch) nicht den ganzen Planeten: Freundschaft wie Wissenschaft stehen noch Feindschaft und Unwissen gegenüber, die angesichts des gleißenden Lichts der Netzlinien im Dunkeln bleiben (müssen). Gleichwohl schafft der binäre Gegensatz von Licht und Schatten eine vermeintlich exakt vermessene Welt, die ihre sozialen und intellektuellen Zentren, aber auch ihre ‚dunklen‘, ‚wilden‘ und ‚unwissenden‘ Un-Orte hat. Noch im Zeitalter angeblich partizipativer Internetkultur haben imperialistische Ideologien offensichtlich wenig an Wirkung verloren.
89 Vgl. Beauchesne, Olivier H.: Stuff I made, 2010, URL: http://olihb.com/2011/ 01/23/map-of-scientific-collaboration-between-researchers/, sowie Butler, Paul: Visualizing Friendships, 2010, URL: http://www.facebook.com/note.php?note_ id=469716398919, 2010.
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Diskursive Formationen des Medialen Wie ist die konstitutive Rolle diskursiver Formationen in medialen Diskursen – zunächst also in ihren Schichten der Sagbarkeit – zu verorten? Die Diskursarchäologie bemüht sich stets um die Identifizierung eines besonderen Aussagefeldes: Sie sucht nach der „Regel gleichzeitigen oder sukzessiven Auftauchens verschiedener Objekte, die darin benannt, beschrieben, analysiert, geschätzt oder beurteilt werden“. 90 Diese Regeln betreffen und übersteigen Medien wie digitale Netze zugleich, denn Foucault zufolge stellt das Auffinden eines Aussagefeldes „viel schwierigere Probleme des Auffindens als das Buch oder das Werk“. 91 Denn weder gibt es vor dem Diskurs, „jenseits jeden offenbaren Beginns […] einen geheimen Ursprung“ noch ein „Halbschweigen […] das ihm vorausgeht, das ihm hartnäckig unterhalb seiner selbst folgt“. 92 „Die Wörter“, schreibt Foucault, sind „ebenso bewusst fern, wie die Dinge selbst“. Diskurse sind nicht mehr bloß eine „Gesamtheit von Zeichen“, sondern Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“. 93 Für Medien, insbesondere für vermeintlich vorgängige mediale Techniken, bedeutet das nicht weniger als eine Auflösung ihrer vermeintlich evidenten Materialität, wie auch Andreas Lösch, Dominik Schrage, Dierk Spreen und Markus Stauff schreiben: „Das, was konventionellerweise als Technik verstanden wird, kann nur einen Ausgangspunkt bilden, dessen Evidenz im Verlauf der Analysen aufgelöst wird: […] [I]ndem die (diskursiven) Mechanismen untersucht werden, welche die Unterscheidungen von Technischem und Außertechnischem überhaupt erst hervorbringen.“ 94
Diskursanalytisch zu beschreiben gilt es demnach mediale Techniken zunächst als „komplexes Bündel von Beziehungen“, die ihrerseits vorschreiben „was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden musste, damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, damit sie diese oder jene Äußerung zum Zuge bringt, damit sie diesen oder jenen Begriff benutzt, damit sie diese oder jene Strategie organisiert“. 95 Das lässt sich exemplarisch an den beiden Fallbeispielen zeigen: Wissenschaft und Freundschaft erscheinen hier nämlich nicht als beliebiges, vorgängiges Datum, sondern als komplexes Beziehungsnetz, das sich zwischen verschiedenen Auftrittsoberflächen und in Abgrenzung zu anderen Gegenständen aufspannt. Die Orte, an denen sich Freundschaft und Wissenschaft realisieren und präsentieren können, beschränken sich nicht (mehr) 90 91 92 93 94 95
Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 50. Ebd., S. 104. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 73f., Herv. i. Orig. Lösch/Schrage/Spreen/Stauff: Technologien, a. a. O. [Anm. 4], S. 9. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 108.
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nur auf die Universität oder den Alltag; sie erstrecken sich auf Internetseiten und digitale Netzwerke. In dieser Verflechtung diskursiver Gegenstände etablieren sich zugleich variable Subjektpositionen: Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler, Freundin oder Freund wird, wer bestimmte Positionen im Netz im technischen wie im relationalen Sinne einnimmt und von diesen institutionellen Plätzen aus spricht. Gegenüber dem Diskurs ist das Subjekt hier ausschließlich ein kommunizierendes, datenproduzierendes Subjekt. Gleichzeitig fügen sich Konzepte des Freund- und Wissenschaftlichen in die diskursiven Verflechtungen ein, die gleichsam die Modalitäten der Abfolge, Koexistenz und Interventionsprozeduren in den Aussagefeldern bestimmen – zum Beispiel den Beginn einer neuen Freundschaft oder die Entwicklung eines wissenschaftlichen Gedankens. Und so verweist die Kombination diskursiver Formationsebenen durch internationale ‚Freundschafts- und Wissenschaftskarten‘ schließlich auf eine bestimmte Strategie, die es gleichermaßen mit Äquivalenz- und Bruchpunkten zu tun hat – beispielsweise mit der evidenten Dominanz monetär-ökonomischer Interessen im Feld einer vermeintlich freien Wissenschaft. Dass diese als Publikationstätigkeit und Zitationsverhalten, oder aber Freundschaft als Verlauf transglobaler Kommunikationslinien gelten kann, ist weder bloß eine Verkürzung noch eine revolutionäre Begriffsverschiebung, sondern Resultat einer ihre Gegenstände transformierenden Diskursivierung. Die diskursanalytische Individualisierung von Aussagefeldern erfolgt in diesen vier Dimensionen der diskursiven Formationssysteme: Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe und Strategien bilden interdependent einen Diskurs, der jede diskursive Praxis strukturiert. Konsequent bedeutet letztere, wie Foucault unterstreicht, weder bloß „expressive[s] Tun“ noch die „‚Kompetenz‘“ eines sprechenden Subjekts. 96 Vielmehr ist eine diskursive Praxis die „Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagfunktion definiert haben“. 97 Die medientheoretische Herausforderung liegt nun in genau dieser subtilen Differenzierung zwischen diskursiven Formationen und diskursiven Praktiken: Medien erhalten ihre diskursive Gegenständlichkeit nicht bloß aus ihrer ‚direkten‘ Adressierung und Problematisierung, beispielsweise durch eine Medienwissenschaft, eine Medienpolitik oder eine Medienpädagogik. Der Status eines Mediums entsteht vielmehr „interdiskursiv“, 98 d.h. durch diskursive Praktiken, die in Beziehung zu weiteren diskursiven Formationen stehen, wie eben etwa die Wissenschaft oder die Freundschaft. Wechselseitig bestimmen diskursive Praktiken und Gegenstände jede mediale Form als diskursive Formation, die sich in weiteren Diskursen verviel-
96 Vgl. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 171. 97 Ebd. 98 Zur Interdiskursivität vgl. ebd., S. 224ff.
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facht und zu den Wirkungsbedingungen weiterer Aussagen wird, um von dort wiederum in neue Problematisierungen der Medien einzufließen. Markus Stauff beschreibt diese zirkelförmige Bewegung anhand der ungebrochen populären Begriffe der Vernetzung und Informatisierung: „Indem politische und ökonomische, pädagogische und medizinische Sachverhalte diskursiv mit Schlagworten wie ‚Informatisierung‘ oder ‚Vernetzung‘ gekoppelt werden, gerinnen Medientechnologien zu einem Gegenstandsbereich, von dem umfassende historische Transformationen und allgemeine soziokulturelle Strukturmerkmale abgeleitet werden.“ 99
Die Regeln, was als medial gilt und was nicht, ergeben sich also erst aus einem vielschichtigen Komplex von diskursiven Formationssystemen, die sich überdies beständig mit vermeintlich medienfremden Diskursen verknüpfen. Schon die Formation eines diskursiven Gegenstands, so argumentiert Foucault, lässt sich nur zwischen seinen „Oberflächen des Auftretens“, seinen „Instanzen der Abgrenzung“ und anhand seiner „Spezifikationsraster“ 100 charakterisieren. Medien, darauf verweisen schon die berühmten Lehrbeispiele der Mediengeschichte, objektivieren sich ebenso diskursivrelational: Die revolutionäre Kraft des Buchdrucks, der Realitätscharakter der Fotografie oder die globalisierende Funktion digitaler Netzwerke lassen sich als diskursive (Gegenstands-)Formationen der Medien beschreiben. Doch diese medialen Formationen waren und sind auch Oberflächen, Abgrenzungen und Spezifizierungen anderer Gegenstände, etwa der Säkularisierung Europas oder einem aufkeimenden Nationalbewusstsein in Verbindung mit dem Buchdruck, der Transformationen des Dokumentarischen, Wissenschaftlichen oder Kriminellen mit der Fotografie 101 oder veränderter Wissenschafts- und Freundschaftsfiguren in digitalen Netzen. Ähnlich geht den subjektiven oder institutionellen Äußerungsmodalitäten eine zwischenräumliche Beziehung immer schon voraus: Wer überhaupt sprechen kann, definiert sich gleichermaßen in Relation zu den diskursiven Gegenständen wie zu ihren Auftrittsoberflächen, kann also keineswegs „als
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Stauff, Markus: Medientechnologien in Auflösung. Dispositive und diskursive Mechanismen von Fernsehen, in: Andreas Lösch/Dominik Schrage/Dierk Spreen/ders. (Hg.): Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern. Heidelberg 2001, S. 81-100, hier: S. 81. 100 Vgl. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 62-64. 101 Zur fundamentalen Rolle der Fotografie in der Geschichte der Kriminalistik wie in den Anthropologien und Taxonomien vgl. Sekula, Allan: Der Körper und das Archiv, in: Herta Wolf (Hg.) Diskurse der Fotografie (Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2), Frankfurt a.M. 2003, S. 269-334, sowie: Edwards, Elisabeth: Andere ordnen. Fotografie, Anthropologie und Taxonomien, in: Herta Wolf (Hg.) Diskurse der Fotografie (Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2), Frankfurt a.M. 2003, S. 335-355.
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reine Gründungsinstanz der Rationalität aufgefasst werden“. 102 Sender und Autoren versteht die Diskursarchäologie als „Subjektpositionen“ oder „institutionelle Plätze“ im Diskurs. 103 Deshalb präsentiert sich die diskursive Formation der Äußerungsmodalitäten als ein Spiel medial-diskursiver Subjektivierungen: Weil jedes Subjekt nur eine bestimmte Position im Verhältnis zu „Gebieten und Gruppen von Gegenständen“ und ihren Oberflächen einnehmen kann, ist es stets ein „fragendes“ oder ein „horchendes Subjekt“, ein „betrachtendes“ oder ein „notierendes Subjekt“. 104 Aus dieser Verbindung diskursiver Gegenstände, Auftrittsoberflächen, Subjektpositionen und institutionellen Plätzen leitet sich weiter eine diskursive „Formation der Begriffe“ ab, die mit der Abfolge und der Ko-Existenz von Aussagen in Wechselbeziehung tritt und mögliche „Techniken der Neuschreibung“, „Methoden der Transkription“ und „Übersetzungsweisen“ 105 festsetzt. Die Weltkarten wissenschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen liefern keine beliebige Beschreibung ihrer medialen, wissenschaftlichen und freundschaftlichen Gegenstände, vielmehr formulieren sie eine normierende Aussage. Was hier begrifflich eingeschrieben und übersetzt wird, ist der diskursive Beweis für eine globalisierte, befriedete und kommunikationsbegeisterte Welt, die sich ihrer begrifflichen Korrelation zwischen diskursiven Objekten und ihren Institutionen verdankt. Konsequent finden sich in den Verflechtungen diskursiver Gegenstände, Äußerungsmodalitäten und Begriffe synergetische und widersprüchliche Prozesse der gegenseitigen Hervorbringung und Verhinderung. Diese „polemischen Spiele“ 106 definieren das vierte Formationssystem der Strategien, das seinen wenn analytisch auch unverzichtbaren Vorgängern gewissermaßen übersteht: „Punkte der Inkompatibilität“ und „Äquivalenzpunkte“ zwischen Gegenständen, Subjektpositionen und Begriffen finden sich hier durch eine „Ökonomie der diskursiven Konstellation“ bestimmt. 107 Wie etwa das Internet und die Publikationssysteme diskursiviert werden, entscheidet über deren jeweils einträchtige oder innovative Potentiale. Und umgekehrt sind die diskursiven Gegenstände der Wissenschaft und Freundschaft von strategischen Diskursivierungen medialer Vermittlung affiziert: Die Aufmerksamkeitsökonomie, die im Zeitalter der Massenmedien jede Wahr-
102 Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 81. 103 Vgl. ebd., S. 76f. 104 Vgl. ebd., S. 77ff. Im etymologischen Sinne des Wortes ist Subjektivität hier einer Medialität unterworfen, „es wird in eine optimale perzeptive Distanz gestellt, […] es benutzt instrumentelle Zwischenstücke, die die Stufenleiter der Information verändern, in dem sie das Subjekt im Verhältnis zur mittleren oder unmittelbaren Wahrnehmungsebene deplacieren […]“ (vgl. ebd., S. 78, Herv. v. mir, SaS.). 105 Ebd., S. 87. 106 Ebd., S. 184. 107 Ebd., S. 96f.
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nehmung strukturiert oder gar eine „Ekstase der Kommunikation“ 108 evoziert, liefert hierfür ein evidentes Beispiel. Diskursanalytisch wird das Beziehungsgeflecht von Medium und Diskurs mit Dierk Spreen nunmehr als eine „Diskursstelle der Medien“ beschreibbar: „Das Medienverständnis der Moderne ist zuerst ein Diskurs. Daher wird man davon ausgehen müssen, dass neue Medientechnologien erst in die immer schon vorgefundene Diskursstelle der Medien eingefügt werden müssen, um gesellschaftlich und kulturell relevant zu werden. Neue Medientechnologien tauchen nicht einfach auf, stürmen nicht einfach aus den Garagen und Ingenieurbüros ins Soziale, um es neu zu strukturieren. Das Erscheinen neuer Medien wird vielmehr von Diskursen und Praktiken begleitet, die ihm einen kulturellen Ort in der Gesellschaft zuweisen.“ 109
Mediale Formen fußen folglich in den Zwischenräumen des Diskurses selbst: Sie formieren sich zwischen diskursiven Gegenständen, Subjektpositionen, Begriffen und Strategien – und sie perpetuieren und verschieben sich zwischen unterschiedlichen diskursiven Formationen und Praktiken. Sichtbarkeit. Zur Audiovisualität des Diskurses Nun beschränkt sich die Diskursanalyse nicht auf das Sagbare, sondern schließt – darauf hat insbesondere Gilles Deleuze aufmerksam gemacht – auch Ordnungen der Sichtbarkeit in diskursive Formationen mit ein. Für die tatsächlich stark sprach- und schriftbezogene Archäologie des Wissens ist damit eine medienästhetisch entscheidende Erweiterung angezeigt, die den diskursiven Formationen eine Dimension von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Seite und zur Disposition stellt. Die Schichten, welche die Diskursarchäologie freilegt, sind nach Deleuze historische Formationen aus Sehen und Sprechen, aus Zonen der Sichtbarkeit und Felder der Lesbarkeit. 110 Zwar denkt die Diskursarchäologie einen „Primat der Aussage“, kennt aber keine radikale Abschottung des Sagbaren von den Sichtbarkeiten. 111 Gewiss
108 Baudrillard, Jean: Das andere selbst, Wien 1987, S. 18f. 109 Spreen, Dierk: Die Diskurstelle der Medien. Soziologische Perspektiven nach der Medientheorie, in: Andreas Lösch/Dominik Schrage/ders./Markus Stauff (Hg.): Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern. Heidelberg 2001, S. 21-40, hier: S. 37. 110 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 69. 111 Schon Wahnsinn und Gesellschaft, so argumentiert Deleuze, erkennt im Asyl einen Ort, an welchem der Wahnsinn sichtbar wird und Die Geburt der Klinik trägt nicht umsonst den Untertitel Eine Archäologie des Blicks, denn hier tritt die Klinik als Struktur der Sichtbarkeit hervor. Ähnlich differenziert Überwachen und Strafen zwischen dem Gefängnis als Ort der Sichtbarkeit von Gefan-
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unternimmt die Archäologie des Wissens den epistemologischen Versuch, ein historisches Apriori zu konstatieren, dessen Spuren in erster Linie solche der Sprache und der (Druck-)Schrift in Archiveinrichtungen und Bibliotheken sind. Dementsprechend kommt den Aussagen hier sehr viel mehr Raum und Schärfe zu, während Formen der Sichtbarkeit lediglich der Status eines ‚Nicht-Diskursiven‘ zuteilwird. Nach Deleuze macht sich die Diskursarchäologie indes zuerst an die Aufgabe „eine echte Ausdrucksform zu finden, die sich nicht mit irgendeiner linguistischen Einheit verwechseln lässt“. 112 Daraus ergibt sich ein „Primat der Aussage“, der sich aus „der Spontaneität ihrer Bedingung (Sprache)“ ergibt und der Aussage „eine determinierende Form verleiht, während das Sichtbare aufgrund der Rezeptivität seiner Bedingung (Licht) nur die Form des Bestimmbaren besitzt“. 113 Doch bleiben die Sichtbarkeiten hierbei irreduzibel und treten zusammen mit dem Sagbaren in einer historischen Schicht des Wissens jeweils zu einander in Beziehung. Blick und Perspektive, so schreibt ähnlich Nicholas Mirzoeff, sind ebenso Teil von diskursiven Praktiken wie Sprechen und Schreiben, weil beide eine regulierte Ordnung des jeweils Realen zu erzeugen vermögen. 114 Die Formationen des Wissens umschließen also immer „eine Art des Sagens und Weise des Sehens, Diskursivitäten und Evidenzen“ und bilden in diesem Sinne ein „audiovisuelles Archiv“ aus. 115 Doch die Formen der Sagbarkeit und jene der Sichtbarkeit stehen in einem disjunktiven Verhältnis zu einander. Es besteht, so Deleuze weiter, eine „Heterogenität beider Formen“, aber auch „ein wechselseitiges Voraussetzungsverhältnis zwischen
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genen und dem Strafrecht als einem diskursiven Feld der Delinquenz (vgl. ebd.). Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 96. Mirzoeff, Nicholas: The Right to Look, in: Critical Inquiry, Bd. 37, Nr. 3, 2011, S. 473-496, hier: S. 476. Spätestens Überwachen und Strafen zeigt, wie Diskurse der „gelehrigen Körper“ und die „Kontrolle der Tätigkeiten“ mit einer „Kunst der Verteilungen“ einhergehen. Die Disziplinarmechanismen operationalisieren spezifische Blickregime, und das Gefängnis etwa ist wesentlich eine „Falle der Sichtbarkeit“ (vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976, S. 173ff. und S. 257.). Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 71ff. Diese Dualität von Diskursen und Evidenzen ließe sich zweifelsohne noch ergänzen. Wenn unter dem Vorzeichen eines „acoustic turns“ nämlich, wie Petra Maria Meyer schreibt, „dem Hörbaren eine komplementäre Rolle zum Sichtbaren“ zuzuschreiben ist, dann verschränken und bedingen sich in den Archiven des Wissens historisch spezifische Ordnungen der Sag-, Sicht- und der Hörbarkeit. Strenggenommen ließe sich sogar festhalten, dass das audiovisuelle Archiv seinen Namen erst unter diesem Einbezug des Hörbaren verdient (zum acoustic turn vgl. Meyer, Petra Maria: Vorwort, in: dies.: Acoustic Turn, München 2008, S. 11-31.).
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beiden, wechselseitige Umklammerung und Inbeschlagnahme; wohlbestimmter Primat gegenüber dem anderen“. 116 Folgerichtig verfügen auch die Sichtbarkeiten über ihre historisch spezifischen Formationsgesetze 117. Beispielsweise ist „das sehende Subjekt […] seinerseits stets eine Stelle innerhalb der Sichtbarkeit“. 118 Das Sehen ist somit von denselben in- und exkludierenden Wahrheitsspielen betroffen, die schon in den Aussageordnungen am Werk sind. Gestaltgebendes Sehen, so unterstreicht auch Georg Christoph Tholen, ist immer ein Übersehen und Ausblenden: „Unser Sehen verdankt sich einem blinden Fleck, den wir notgedrungen übersehen, wenn wir etwas als etwas sehen. Sichtbares zeigt sich nur, wenn Unsichtbares entzogen bleibt. Dieses Paradox der unvollständigen Wahrnehmung verweist auf eine konstitutive Kluft zwischen Auge und Blick. Von dieser ausgehend lässt sich allererst die phantasmatische Figuration bestimmter Blickregime in historischer Perspektive verorten.“ 119
In diesem Sinne bestimmt ein „virtueller oder latenter Inhalt“ 120 des zurückgezogenen Unsichtbaren jede Sichtbarkeit. Die audiovisuelle Diskursarchäologie schickt sich nun an, das Zusammenspiel der Diskurse und Evidenzen wie des jeweils Ungesagten und Unsichtbaren zu dekonstruieren. „Zwischen dem Sichtbaren und seiner Bedingung“, so Deleuze, „gleiten nun die Aussagen […] hin und her“, und „[z]wischen die Aussage und ihre Bedingung schleichen sich die Sichtbarkeiten ein […]“. 121 Impliziert ist damit zugleich ein „archäologische[r] Riss“, der die audiovisuellen Schichten durchzieht: 122 Was man sieht, liegt nie in dem was man sagt, und nicht alles was sichtbar wird, spricht auch.
116 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 97. 117 In diesem Sinne schreiben Angelika Bartl, Josch Hoenes, Patricia Mühr und Kea Wienand in der Einleitung des Band Sehen‹›Macht‹›Wissen, der den programmatischen Untertitel „ReSaVoir“ trägt: „Ersichtlich wird, dass der Blick – ein Blick – niemals natürlich, sondern durch historisch kontingente Technologien des Sehens strukturiert ist, die bestimmen, was auf welche Weise gesehen und auch gedacht werden kann.“ (Bartl, Angelika/Hoenes, Josch/Mühr, Patricia/Wienand, Kea: Einleitung, in: dies. (Hg.): Sehen‹›Macht‹›Wissen. ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, Bielefeld 2011, S. 11-27, hier: S. 12.) 118 Ebd., S. 82. 119 Tholen, Georg Christoph: Auge, Blick und Bild. Zur Intermedialität der Blickregime, in: Nadja Elia-Borer/Samuel Sieber/ders. (Hg.): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld 2011, S. 19-30, hier: S. 21, Herv. i. Orig. 120 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 11. 121 Ebd., S. 95. 122 Ebd., S. 92.
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Für Medien bedeuten diese Verbindung und Trennung des Sag- und Sichtbaren erneut ihre Kon-Figuration: 123 Sogenannte visuelle Medien – etwa Fotografie, Film, Fernsehen oder Computergrafik – bilden Sichtbarkeitsregime aus, wie sie beispielsweise als Macht bildgebender Verfahren thematisch werden. Doch belegen ebendiese Medien ‚selbst‘ verschiedene Plätze innerhalb der Sichtbarkeitsfelder. „Sowenig die Aussagen ablösbar sind von ihren Ordnungen“, schreibt Deleuze, „so wenig sind die Sichtbarkeiten von ihren Maschinen ablösbar“. 124 Medientechnologie aber fungiert nur insofern als Sichtbarkeitsmaschine, als dass sie gleichermaßen ein Rad im maschinellen Getriebe werden muss: Um als Medium etwas sichtbar zu machen, muss jede Technologie ‚selbst‘ sichtbar werden – und sich sogleich mit Aussageordnungen verknüpfen. Konfigurationen. Politiken audiovisueller Archive Die Diskursarchäologie ist einem „Spiel von Einhüllungen und Enthüllungen“ 125 auf der Spur und trifft dergestalt als politisches Projekt hervor, das es gerade im Feld der Medien erlaubt, über die Redefigur vom Verlust des Menschen oder des Natürlichen gegenüber der Medientechnik hinauszugelangen. Denn sind Medien in und zwischen Aussagen und diskursiven Formationen, in und zwischen Sichtbarkeitsformen und -funktionen, schließlich in und zwischen Diskursen und Evidenzen verortbar, so verbindet all diese Konfigurationen das zentrale Merkmal einer Medialität. Aus diskursarchäologischer Sicht sind Medien wohl an den omnipräsenten bildgebenden Verfahren oder an der fortschreitenden Konvergenz medialer Formen in digitalen Netzen ablesbar. Doch sind diese Phänomene kontingente Funktionen der medialen Diskursivierung und Sichtbarmachung. Ist also die „grundlegendste Bestimmung des Mediums“ die des „Dazwischen“ 126 und markiert dieses Dazwischen eine „strikt relationale Bestimmung der Differentiali-
123 Den Begriff der Kon-Figuration hat im Kontext von Medialität und Intermedialität insbesondere Georg Christoph Tholen geprägt: „Die techné der Kunst konfiguriert sich in medialen Einschnitten, welche die Fragwürdigkeit von Blickbeziehungen und Erzählweisen exponieren – als Oszillation zwischen Gestaltgebung und Gestaltentzug.“ (vgl. Tholen, Georg Christoph: Drama des Begehrens – Dekonstruktion der Bilder, in: Katja Leber/Martina Gross/Patrick Primavesi (Hg.): Lücken sehen... Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Festschrift für Hans-Thies Lehmann zum 66. Geburtstag, Heidelberg 2010, S. 27-46, hier: S. 44.). 124 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 83. 125 Foucault, Geburt der Klinik, a. a. O. [Anm. 44], S. 179, Herv. i. Orig. 126 Roesler, Alexander: Medienphilosophie und Zeichentheorie, in: Stefan Münker/ders./Mike Sandbothe (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, S. 34-52, hier: S. 39.
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tät“, 127 so ist schon den Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit ein medialer „Spielraum von möglichen Formbildungen“ 128 inhärent. Ebendieser Spielraum fungiert als jener zäsurierende Ein- und Aufschub, der zeit- und kontextspezifisch je technisch oder innovativ, sozial oder demokratisch, politisch oder revolutionär konnotierte Medien hervorbringt. Jede mediale Konfiguration tritt so „historisch und systematisch“ als korrespondierendes Wissensregime auf, in dem „Wahrnehmung, Fühlen und Denken seine charakteristischen Formen und Darstellungen finde[n]“. 129 Die Medialität der Medien ist deshalb ein ästhetisches Strategem im Wortsinne. Sie ist zugleich die List und der Kunstgriff, der überhaupt etwas ‚als etwas‘ erscheinen lässt – und es zugleich zu beschreiben und problematisieren erlaubt. Genau in diesem Kontext macht Georg Christoph Tholen deutlich, dass Wahrnehmung immer eine der Medien ist und niemals eine natürliche sein kann: „Es gibt keine Wahrnehmung, die durch ihre natürliche Gegebenheit hinreichend bestimmt wäre. Deshalb ist das Medium auch nichts, was zu einer natürlichen Bestimmung der Wahrnehmung hinzutreten könnte, um sie zu erweitern oder gar zu verfälschen. Wahrnehmung ist stets eine des Mediums. Sie ist immer schon vom Künstlichen affiziert, im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von Techné (List, Tüchtigkeit, Verstellung). Techné meint also die List der Entstellung, die überhaupt etwas erscheinen lässt, auch und gerade die Mediopshäre der Instrumente, Artefakte und Artefiktionen.“ 130
Die Technizität der Medien beschreibt aus diskursanalytischer wie medienphilosophischer Perspektive folglich weder Papier noch Leinwand, weder Frequenzwellen noch Kathodenstrahlen, weder Siliziumchips noch Glasfaserkabel, sondern thematisiert Medientechnik als Techné der Medialität. „Die Beziehungen zwischen Diskursen und Apparaten sind vielgestaltig“, schreiben Andreas Lösch, Dominik Schrage, Dierk Spreen und Markus Stauff, „nur sauber zu trennen sind sie nicht“. Es ist die Medialität der Medien, welche die eindeutige Zuweisung zwischen Medium und Diskurs aufschiebt, weil sie dem Diskurs selbst eine Technizität zusprechen muss, die zunächst das Technologische bedingt, von diesem aber auch fortgesetzt oder transformiert werden kann. 131 Der Vorwurf eines blinden Flecks namens Medien in der Diskursarchäologie lässt sich umgekehrt als blinder Fleck des Sag- und Sichtbaren in medientechnizistischen, -anthropologischen und
127 Tholen, Georg Christoph: Medium/Medien, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 150-172, hier: S. 153. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 156. 130 Ebd., S. 162. 131 Vgl. Lösch/Schrage/Spreen/Stauff: Technologien, a. a. O. [Anm. 4], S. 10.
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-soziologischen Paradigmen verorten. Nicht selten übersieht solche Theorie die relationale Sag- und Sichtbarkeitsformation des Medialen und unterliegt also jenem „Trugschluss, der die Medialität der Medien reduziert auf die instrumentelle Funktion von dienenden Mitteln, seien diese definiert als technische Kanäle zwischen Sender und Empfänger oder als ‚symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‘ […]“. 132 Die Möglichkeiten medialer Technologien selbst ‚im Gehör‘, schreibt Foucault im November 1979 in einem Bericht aus dem Iran für den Corriere della Serra: „Wie es scheint, konnte de Gaulle den Putsch von Algier wegen der Transistorradios überstehen. Falls der Schah stürzt, wird das zum Teil wegen der Tonbandkassetten geschehen. Sie sind ein ausgezeichnetes Instrument der Gegeninformation.“ 133
Es ist indes kein Zufall, dass in Zeiten politischer Umbrüche – während Revolutionen, Revolten und Protesten, aber auch in Wahlkämpfen und Wirtschaftskrisen – mediale Formationen der Sag- und Sichtbarkeit besonders hervortreten. 134 Denn die Medialität der Medien impliziert stets auch die politischen Ein- und Ausschlüsse von Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem, von Sagbarem und Unsagbarem. Jede politische Veränderung vollzieht sich deshalb in und mit sich verschiebender medialer Diskursivierung und Visualisierung. Die relationale Differentialität der Medialität ist fassbar nur als ein „Begriff der Grundlosigkeit oder des Entzugs der Präsenz“, doch taucht dieser Verlust „nicht als Index einer verlorenen Sache, sondern als konstitutiver Mangel-an-Sein auf, der das Spiel der medialen Inventionen und Interventionen im Feld des Sichtbaren, Hörbaren, Zeigbaren eröffnet“. 135 Der entscheidende Vorteil der Diskursarchäologie für die Medientheorie liegt im genuinen Feingefühl für Politisches ersterer: Die Geschichte der Medienumbrüche ist auch eine politische Geschichte, weil sich in ihr die kontingenten Diskurse und Sichtbarkeiten der historischen Schichten in medialen (Trans-)Formationen spiegeln. Zwischen Wissensordnungen und Blickregimen erweist sich das Sag- und Sichtbare als ein kontingenter Möglichkeitsraum, der durch Wahrheitsspiele laufend kolonialisiert und abermals aufgerissen wird. Doch meint Wahrheit eben nicht das „Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind“, sondern das „Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifi-
132 Tholen: Medium/Medien, a. a. O. [Anm. 127], S. 158. 133 Foucault, Michel: Die iranische Revolution breitet sich mittels Tonbandkassetten aus, in: ders. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2003, S. 888893, hier: S. 893. 134 Vgl. hierzu auch meine kommentierten Beispiele im Kapitel 3.3., Krieg und Widerstand. Zur Heterotopie medialer Dispositive. 135 Tholen: Medium/Medien, a. a. O. [Anm. 127], S. 162.
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schen Machtwirkungen ausgestattet wird“. 136 Die Wahrheit, schreibt Foucault „ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert […]“. 137 Die Diskursarchäologie widmet sich folgerichtig den „Spiele[n] des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht werden kann und muß“. 138 An den Schwellen dieser Wahrheitsspiele, dort also, wo sich Diskurse und Sichtbarkeiten ausbilden und verändern, dort verfolgen auch die Konfigurationen des Medialen die Strategie, der Medialität der Medien eine jeweils ‚wahre‘ Form zu geben. Das Wahrheitsspiel, das eine Politik, Gesellschaft oder Kultur ausbildet, konturiert auch die korrespondieren Formationen des Medialen, die dieses Spiel wiederum stützen und damit tatsächlich als Wahrheitstechnologien fungieren. Die Rede von sozialen oder demokratischen, von politischen und revolutionären Medien verweist in diesem Sinne auf sehr viel mehr als bloß auf technische Innovation: Insofern sie Vorgängig- oder Vorrangigkeit der Medientechnik implizieren, verlieren mediale Apriori ihren Status unweigerlich an ein historisches Apriori, d.h. an ein Archiv als das Gesetz und Ort dessen, was gesagt und gesehen werden kann.
136 Vgl. Foucault, Michel: Wahrheit und Macht. Interview von A. Fontana und P. Pasquino, in: ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin1978, S. 21-54, hier: S. 53. 137 Vgl. ebd., S. 51. 138 Vgl. Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M.1989, S. 13.
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G ESETZ . M EDIENARCHIVE „Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen.“ 139
In einem kurzen, aber essentiellen Kapitel in der Archäologie des Wissens verleiht Foucault den diskursiven Formationen eine historische – und deshalb zugleich historisierbare – Kontur. Die Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit begründen Archive, d.h. sie bilden ein jeweiliges „System der Formation und der Transformation der Aussagen“ 140 und der Sichtbarkeiten aus. Zumal im Feld der Medienwissenschaft präsentiert sich dieses historische Apriori der Diskurse und Evidenzen allerdings als Herausforderung, meint der Foucault’sche Begriff doch explizit nicht „die Einrichtungen, die [es] in einer gegeben Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren“. 141 Gerade solche Einrichtungen sind es jedoch, die nicht nur dem Alltagsverständnis des Archivs entsprechend als mediale Speicherkapazitäten zur Debatte stehen, sondern zugleich Quelle und Labor der Diskursarchäologie bilden: Die Bibliotheken und Archive, in denen auch Foucault Aussagen individualisiert und Diskurse isoliert, sind keineswegs gleichgültige Aufbewahrungsorte historisierbarer Sag- und Sichtbarkeit, vielmehr handelt es sich um mediale Institutionen, die ihrerseits immer schon durch diskursive Setzungen bestimmt sein müssen. Diese doppelte Dimension der Medienarchive – eine verortend-setzende Speicherfunktion einerseits und die Sag- und Sichtbarkeit in wie über Medien andererseits – avanciert für die Beziehung von Medien und Politik zu einer Schlüsselstelle. In ihr nämlich stehen nicht nur mediale Diskurse und Evidenzen, sondern auch deren zeitliches Spiel der Wiederholungen und Verschiebungen zur Disposition, das eine Zäsur in das vermeintliche Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verantwortet.
139 Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen, 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262, hier: S. 258f. 140 Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 188. 141 Ebd., S. 187.
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Medien (un-)gegenwärtiger Vergangenheit Das zutiefst politische Doppelspiel der zugleich festsetzenden und fortschreibenden Archivierung zeigt sich an vielleicht erster Stelle in den vermeintlich unverrückbaren Medien der Monumente und Denkmäler, stehen solche doch nicht zufällig immer wieder im Brennpunkt politischer wie kriegerischer Auseinandersetzungen. So auch im Zuge des zweiten Irakkriegs, der am 9. April 2003 mit dem Sturz einer Statue Saddam Husseins auf dem zentral gelegenen Firdos-Platz in Bagdad nur angeblich zu Ende ging: Während sich zunächst die lokale Bevölkerung um die Zerstörung der Statue bemühte, unterstützten in der Folge US-amerikanische Truppen den Abriss mit einem Bergepanzer. Dabei kletterte ein amerikanischer Soldat auf die Statue und bedeckte deren Haupt mit dem US-amerikanischen Sternenbanner, auf Befehl seiner Vorgesetzten wie auf Proteste der irakischen Bevölkerung vor Ort ersetzte er diese wenig später durch die irakische Nationalflagge. 142 Doch der kurze Moment, in dem die Flagge der ‚mächtigsten Nation der Welt‘ das steinerne Gesicht des längst als Diktator geltenden und als Erzfeind des Westens dämonisierten Saddam Husseins bedeckte, bot eine jener seltenen ‚photo ops‘, deren medialen Bebilderung unweigerlich virusartige Verbreitung wiederfährt. Die Bilder der amerikanischen Flagge über dem Haupt des irakischen Diktators zierten am folgenden Tag weltweiten die Titelseiten der Presse – stilisiert fast ausnahmslos zum Fall der irakischen Hauptstadt und dem siegreichen Ende der amerikanischen Invasion im Irak (vgl. Abb. 4). Die politischen Implikationen der bildreichen Inszenierung auf dem Firdos Platz sind vielschichtig: Wortwörtlich nimmt hier ein mediales Muskelspiel von Verhüllung und Sichtbarmachung seinen Lauf, in dem eine Vielzahl geopolitisch-strategischer Symboliken zu Tage treten. 143 Zweifelsohne ist das Konzept der Nationalstaaten und ihrer in Zeiten entfesselter Globali142 Der genaue Hergang der Ereignisse auf den Firdos-Platz im April 2003 war Gegenstand heftiger Streitdiskussionen, im Zuge derer der Sturz der Statue mitunter als propagandistische Inszenierung der amerikanischen Streitkräfte bezeichnet wurde. Detaillierte Informationen bietet ein Artikel des The New Yorker, vgl. http://www.newyorker.com/reporting/2011/01/10/110110fa_fact_ maass. 143 Die medialen Inszenierungen um das Hissen von Landesflaggen und der Zerstörung von Monumenten rekurriert außerdem auf eine reiche Vorgeschichte: Erinnert sei exemplarisch an die Kontroverse um die inszenierte Aufrichtung der amerikanischen Flagge auf der japanischen Insel Iwojima, oder auch an jenen „bildsetzende[n] Akt der Geschichte des 20. Jahrhunderts“, den die Platzierung einer Fahne der Sowjetunion am Berliner Reichstag am Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete (vgl. hierzu Stiegler, Bernd: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009, S. 13f.).
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sierung in vieler Hinsicht nur diskursiv überhaupt noch haltbaren Grenzen brüchiger denn je geworden. Gerade deshalb lebt es hier indes in Form der verhüllenden Sternenbanners zugleich als Rechtfertigung und Erfolg eines invasorischen Kriegsaktes wieder auf: Zur Repräsentantin eines terroristischen ‚Schurkenstaates‘ polemisiert, fällt mit der Statue der Widerstand einer als feindlich, undemokratisch und also illegitim konnotierten Autorität. Die inszenatorische Platzierung der amerikanischen Flagge signalisiert zugleich einen gelungenen militärischen Feldzug, die Überlegenheit einer Nation über die andere und nicht zuletzt den Sieg jener mit dem Sternenbanner bevorzugt in Verbindung gebrachter Werte der amerikanischen Demokratie, nämlich einer liberalistischen Marktwirtschaft und einer individuellen Selbstverwirklichung im ‚American Dream‘. 144
Abb. 4: „Bagdad ist gefallen“: Amerikanische Flagge über dem Haupt der Statue Saddam Husseins auf der Titelseite des französischen Le Figaro.
144 Vgl. ähnlich Tom Holerts Überlegungen zu Flaggen als „Heterologien des Nationalen“ in Mail 2013 (Holert, Tom: Heterologien des Nationalen. Zur Materialität und Medialität der Flagge – Mali 2013, in: Nadja Elia-Borer/Constanze Schellow/Nina Schimmel/Bettina Wodianka (Hg.): Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013, S. 327-350.).
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Keine einzige dieser nationalistischen Übercodierungen erwies sich allerdings von langer Dauer: Rund zehn Jahre nach dem angeblichen Kriegsende wird der Irak von bürgerkriegsähnlichen Konflikten und täglicher Gewalt erschüttert, das Land scheint von einer demokratischen Verfassung weiter entfernt denn je. Die massenmediale Problematisierung dieses ‚schweren Erbes‘ der amerikanischen Invasion treten bezeichnenderweise dieselben Visualisierungen an, die zehn Jahre zuvor das ‚erfolgreiche‘ Ende des Krieges orchestrierten. Unter anderen thematisierte etwa die Neue Zürcher Zeitung im Frühjahr 2013 den konfliktreichen Stillstand des Iraks ausführlich – und illustrierte ihn mit demselben Bild der amerikanischen Flagge auf dem Haupt der stürzenden Statue Saddam Husseins (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Alternative Archivierung: Verhüllung und Sturz der Statue Husseins zehn Jahre später in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Episode um die nationalistisch konnotierte Verhüllung und den reich bebilderten Sturz der Hussein-Statue in Bagdad zeigt zunächst erneut die unweigerliche Verkreuzung von Diskursen und Evidenzen: So stark die fotografische Bebilderung von visuellen Strategien, Blickregimen und den Farbspielen von Landesflaggen geprägt ist, ihre weltweite Wirksamkeit entfaltet sie erst vermittels prekären Diskursivierungen des ‚glorreichen‘ Siegs einer Streitmacht oder aber ihrem Versagen als nur vermeintlich ‚demokratisch-demokratisierende‘ Kriegsmaschinerie. Doch vergegenwärtigen die Medien der Statue, Flagge und Pressefotografie ‚für sich‘ wie in ihrem Zusammenspiel gleichzeitig eine zäsurierende Heterochronie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Die Sagund Sichtbarkeitsregime des einen Mediums, etwa die ein autoritäres Regime repräsentierende Statue, werden nicht bloß zum Verstummen und Verschwinden gebracht, sondern durch die Diskurse und Evidenzen eines ande-
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ren Mediums – hier das amerikanische Sternenbanner – herausgefordert. Zehn Jahre später wird diese schon konfliktreiche Assemblage abermals umcodiert und verschoben, d.h. zusammen mit der fragwürdigen Legitimität des Krieges in Irak im massenmedialen Diskurs erneut debattiert. In beiden Momenten impliziert die diskursive Archivierung, d.h. die Ausbildung einer Sag- und Sichtbarkeitsordnung, so zunächst die Wiederholung vorgängiger Diskurse und Evidenzen, die sich den Archiven als das jeweils nicht länger Sagbare und als das zu Gunsten neuer Sichtbarkeit zurückgezogene Unsichtbare einschreiben. Medienarchive im technischen Sinne von der Statue bis zur Tageszeitung umgrenzen dabei gerade den Ort dieser zäsurierenden Verschiebungen. Sie sind an einem Spiel stets (un-)gegenwärtiger Vergangenheit beteiligt, das auch Robert Feustel treffend als politisches fasst: „Die Auswahl, der Zuschnitt und schließlich die Bedeutung historischer Ereignisse ist nie selbstevident. Vielmehr bestimmt der ‚Zeitgeist‘, das symbolische Netz der Gegenwart, wie, wann und warum Ereignisse als historisch bedeutsam und damit erwähnenswert gelten. Die gleichsam nie unpolitische oder wertneutrale Codierung erschafft im Modus retroaktiver Kausalität […] ein Stück weit die als relevant geltenden Ereignisse erst, die dann die Gegenwart prägen.“ 145
Diese (un-)gegenwärtige Ereignishaftigkeit, die in Sag- und Sichtbarkeitsordnungen Kontur gewinnt und doch flüchtig bleibt, betrifft – auch das verdeutlicht der Statuensturz in Bagdad – ebenso Medienarchive im Sinne technischer Speichermedien: Erst ihre gleichsam ausschneidende Benennung und Sichtbarmachung als Medium ermöglicht eine Problematisierung medialer Politiken im Feld weiterer Diskurse und Evidenzen der Nationalitäten, Kriege und Konflikte. Jede Geschichtsschreibung ereignet sich als ein Spiel des Wissens in und über Medien. (Trans-)Formationen medialer Archive Diskursanalytisch treten die Institutionen speichernder Medienarchive im technologischen Sinne zunächst in den Hintergrund. An ihrer Stelle fungiert ein historisches Apriori: das Erscheinen und Wirken von Aussagen und Blickregimen, die stets an Stelle anderer Sag- und Sichtbarkeiten treten. Die „Positivität eines Diskurses“, das Auftauchen und die Streuung seiner Aussagen also, charakterisiert nach Foucault „dessen Einheit durch die Zeit hin145 Feustel, Robert: „Off the Record“. Diskursanalyse als die Kraft des Unmöglichen, in: Ders./Maximilian Schochow (Hg.): Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld 2010, S. 81-98, hier: S. 89. Die „retroaktive[] Kausalität“ betrifft freilich auch die Diskursanalyse als Methode: Diese fungiert niemals in Form der unbeteiligten Analyse „von außen“, vielmehr „interveniert [sie] aus einer anderen Perspektive in den Gegenstand“ (vgl. ebd.).
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durch“, bestimmt „einen begrenzten Kommunikationsraum“ und übernimmt die Rolle eines „historischen Apriori“ des Wissens. 146 Dieses historische Apriori ist nicht weniger als die „Realitätsbedingung für Aussagen“, wobei es – darin liegt der begriffliche Schritt vom Diskurs zum Archiv – eben erklären muss, „dass der Diskurs nicht nur einen Sinn oder eine Wahrheit besitzt, sondern auch eine Geschichte, und zwar eine spezifische Geschichte […]“. 147 Daher Foucaults Definition des diskursiven Archivs: „Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, dass all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und auch nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden […]. Das Archiv […] ist das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert. […] Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen.“ 148
In den „audiovisuelle[n] Archiv[en]“ 149 verliert sich das Verständnis des Diskurses als Dokument, als „Zeichen für etwas anderes, als Element, das transparent sein müsste“, und die Archäologie wendet sich „an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument“. 150 Die Vorliebe Foucaults ist Deleuze zufolge „ein Theater der Aussagen oder eine Skulptur der Aussagbarkeit“. 151 Deshalb aber bedarf es gar nicht erst einer dediziert medienwissenschaftlichen Kritik, um die diskursanalytisch zunächst nur marginal beleuchtete Doppeldeutigkeit des Archivbegriffs hervorzuheben – wenn diese auch gerade im Feld der Medien besonders evident wird. Die Diskursarchäologie fokussiert jenes Gesetz des Sag- und Sichtbaren, das Allokation und Dislokation speichernder Archive überhaupt erst zu konturieren vermag. Dass diesen setzenden Verortungen in der Folge aber stets ein Spielraum formativer Sag- und Sichtbarkeitsregime, d.h. die Macht weiterer, kongruenter oder alternierender Setzungen beschieden ist, blendet die Archäologie des Wissens zunächst tatsächlich aus. Konzentriert auf Aussageskulpturen, gerät die festschreibende Macht jener „Einrichtungen, die [es] in einer gegeben Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren“ 152 vorerst aus dem Blick. Darin liegt die Herausforderung, welche die Diskursarchäologie noch gegenwärtig für eine Medienwissen-
146 147 148 149 150 151 152
Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 183f. Ebd., S. 184f. Ebd., S. 187f. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 73. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 198. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 78. Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 187.
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schaft bedeutet, nämlich die Archive der Medien als Institutionen medialer Speicher- und Übertragungsleistungen zu befragen. Jede Medientechnologie verdankt sich ihrer audiovisuellen Diskursivierung, indes ermöglicht sie zugleich, Sag- und Sichtbarkeiten fortzusetzen und zu verschieben. Die Ambiguität des Archivbegriffs, darauf hat ausführlich Jacques Derrida hingewiesen, bedeutet zugleich seinen prekären Status, wenn nicht sein „Übel“. 153 Dekonstruktiv widmet sich Derrida in seiner Studie Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression der „Topo-Nomologie“ des Archivs. 154 Der Archivbegriff, so Derrida, meint meist „die Erfahrung des Gedächtnisses und die Rückkehr zum Ursprung, aber auch das Archaische und das Archäologische, die Erinnerung oder die Ausgrabung, kurz, die Suche nach der verlorenen Zeit“. 155 Aber der Begriff der „Arché“ umschließt noch einen zweiten „Anfangsgrund“ neben der Natur oder der Geschichte: jenen nämlich „nach Maßgabe des Gesetzes, da, wo Menschen und Götter gebieten, da, wo ihre Autorität, die soziale Ordnung geltend gemacht wird, an jenem Ort, von dem her die Ordnung gegeben wird […]“. 156 Es ist also eine „Abfolge- und Befehlsordnung“, die Derrida im Archiv ausmacht, wobei er letzterer besonderes Gewicht verleiht. 157 Den Archiven, die seit der Antike „weder eines Trägers noch einer Residenz entbehren“ können, kommen „Funktionen der Vereinheitlichung, der Identifizierung und der Einordnung“, also „eine Konsignationsmacht“ zu. 158 Deshalb geht es Derrida in erster Linie um die Topo-Nomologie des Archivs, um „die Theorie dieser Institutionalisierung, das heißt zugleich die Theorie des Gesetzes“. 159 So schreibt er an einer zentralen Stelle: „Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen.“ 160
153 Der Titel der deutschen Übersetzung von Jacques Derridas Essay Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression kann dem französischen Original Mal d’Archive nicht ganz gerecht werden. 154 Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 12. 155 Ebd., S. 2, Herv. i. Orig. 156 Ebd., S. 9, Herv. i. Orig. 157 Derrida führt hier den Begriff des Archivs auf das griechische archeîon (Haus, Wohnsitz, Adresse, die Wohnung der Magistraten) zurück: Die Archive des antiken Griechenlandes verweisen auf eine gesetzgebende Macht, hatten die Archonten doch nicht nur das Recht, Gesetze auszulegen und geltend zu machen. Ihnen wurden auch die offiziellen Dokumente zur Bewahrung und Interpretation übergeben (vgl. ebd., S. 11.). 158 Vgl. ebd., S. 12, Herv. i. Orig. 159 Ebd., S. 14. 160 Ebd., S. 25, Herv. i. Orig.
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Zwei medientheoretisch bedeutsame Momente des Archivs tauchen hier auf: Zum einen die Betonung der „Äußerlichkeit“ und des „Draußen“, die durchaus, Derrida bekräftigt es wenige Seiten zuvor, die Verräumlichung „direkt auf irgendeinem tatsächlichen oder virtuellen Träger“ 161 und also den gesetzgebenden Ort eines Mediums meint. Zum anderen ist jedes Archiv durch eine „Technik der Wiederholung“ gekennzeichnet. Konsignation und Verortung des Archivs bedeuten, so Derrida weiter, „die Möglichkeit der Memorisierung, der Wiederholung, der Reproduktion und der Re-Impression“. 162 Mit Freud verortet Derrida in dieser Wiederholung das Archivübel, das darin besteht, „dass […] die Logik der Wiederholung, ja der Wiederholungszwang selbst […] untrennbar bleibt vom Todestrieb“. Noch im Kern des „Monuments“ – Derridas Begriffswahl scheint sich hier auch auf Foucault zu beziehen – findet sich „das Vergessen und das Archivolithische“ eingeführt, was konsequent bedeutet, dass das Archiv „allzeit und a priori gegen sich selbst“ arbeitet. 163 Das Archivübel fordert hier ein historisches Apriori, wie es Foucault postuliert, zweifelsohne heraus: Die Realitätsbedingung der Aussage umfasst nicht nur ihr Auftauchen in einer raum-zeitlichen Dimensionalität, sondern zugleich ihre Einschreibung an einem Ort, der zugleich ihr Verschwinden bedeutet. „[D]as Archiv“, so Derrida, „hat Statt [a lieu] an Stelle [au lieu] einer ursprünglichen und strukturellen Schwäche besagten Gedächtnisses“. 164 Von hier aus schließt Derrida auf die technische Prozesshaftigkeit des Archivs, die seinem Inhalt gleichsam zuvorkommt: „Eine andere Art und Weise zu sagen, daß das Archiv als (Ein-)Druck, Schrift, Prothese oder hypomnetische Technik im allgemeinen nicht nur der Ort einer Speicherung und Aufbewahrung eines vergangenen archivierbaren Inhaltes ist, der auf jeden Fall existieren würde, so daß man auch ohne Archiv glaubt, daß er war oder daß er gewesen sein wird. Nein, die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet. Das ist auch unsere politische Erfahrung mit den Informationsmedien.“ 165
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Ebd., S. 3. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26, Herv. i. Orig. Ebd., S. 25. Ebd., S. 35, Herv. v. mir, SaS. Als „politische Epistemologie des Archivs“ akzentuiert Tom Holert diese medial-politische Erfahrung: Weil Medien Ereignisse – mögen diese auch diskursiven Charakters sein – im Zuge der Übermittlung, Speicherung und Verarbeitung verzerren, inszenieren oder manipulieren, produzieren sie diese Ereignisse zugleich mit, d.h. sie ereignen gleichsam das Ereignis, in dem sie es vor Augen führen (vgl. Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 167.).
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Der mediale Ein-Druck aber resultiert auch für Derrida nicht aus einer vermeintlich vorgängigen, nicht-diskursiven oder materiell-körperlichen Beschaffenheit. Derrida thematisiert vielmehr eine „geo-techno-logische Erschütterung“ 166 des Archivs, die sich in den setzenden Verortungen (un-) wiederholbarer Sag- und Sichtbarkeiten manifestiert. Der Ort des Archivs ist ein Ort der Konsignationsmacht, der zugleich Wiederholungen und mit ihnen das Vergessen im Archiv situiert. Diese Wiederholung aber ist aus dekonstruktivistischer Perspektive ein äußerst komplexer Vorgang, denn sie impliziert eine Verdoppelung, die durch ein Hinzufügen des Wiederholten zu jedem Ursprünglichen dessen Identität zugleich bedingt und verhindert. 167 Daraus folgt, wie Mercedes Bunz argumentiert, dass Medien noch kein ursprüngliches Ereignis sichern, weil sich ihr Wirkungspotential zwar auf den machtdurchzogenen Ort der Speicherung, nicht aber auf die Zukünftigkeit der Wiederholung erstreckt: „Medien zeichnen das Ereignis auf, sie statten es mit einer technischen Wiederholbarkeit aus, über die sie das Ereignis zweifelsfrei prägen, aber zugleich verleihen sie ihm mit der Wiederholbarkeit ein Potential, das von ihnen nicht kontrolliert werden kann. […] Weil jedoch dem Gespeicherten, weil jedoch jedem historischen Ereignis das Potential innewohnt, eine neue Rolle einzunehmen, obwohl es dasselbe bleibt, weil es also das intrigante Potential in sich trägt, sich bereits ereignet zu haben und zugleich ein anderes zu werden, genau deshalb birgt die vergangene Geschichte die Erfahrung der Zukunft.“ 168
Es geht Derrida also um die Konsignationsmacht des Archivs in seiner zukünftigen Wirkung, die zugleich jede mediale Erfahrung mitbestimmt: „Sie [die Archivtechnik, SaS] bedingt nicht bloß die eindrückende Form oder Struktur, sondern den eingedrückten Inhalt des Eindrucks: der Druck des Eindrucks vor der Spaltung zwischen dem Eingedrückten und dem Eindrückenden. Diese Archivtechnik hat kontrolliert, was schon in der Vergangenheit, was es auch war, als Vorwegnahme der Zukunft instituierte und konstituierte.“ 169
Doch ebendiese Instituierung gespeicherter Ereignisse impliziert verschiebende Wiederholungen: Die archivierende Vorwegnahme der Zukunft be-
166 Derrida: Dem Archiv verschrieben, a. a. O. [Anm. 154], S. 34. 167 Vgl. Bunz, Mercedes: Die Ökonomie des Archivs – Der Geschichtsbegriff Derridas zwischen Kultur- und Mediengeschichte, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hg.): Archiv für Mediengeschichte, Weimar 2006, S. 33-42, online unter: http://www.mercedes-bunz.de/wp-content/uploads/2007/ 07/bunz_oekonomiedesarchivs.pdf, S. 1-13, hier: S. 5. 168 Ebd., S. 6f. 169 Derrida: Dem Archiv verschrieben, a. a. O. [Anm. 154], S. 38, Herv. i. Orig.
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deutet Prägung des Künftigen, niemals aber dessen abschließende Determination. Denn insofern das Archiv – als Gesetz(tes) – stets die Wiederholung miteinschließt, ist es immer auch Gegenstand historischer Apriori und findet sich eingeschrieben in ein zunächst formatives, zukünftig indes transformatives Spiel seiner Wahrheiten. Archivierung zeichnet sich als zweifache Herausforderung zwischen diskursanalytischer und dekonstruktiver Methodik ab: Den Archivbegriff Derridas mit Foucault zu lesen ermöglicht es, dem nomologischen Moment der Archivierung, d.h. den (Trans-)Formationen des jeweils Sag- und Sichtbaren auf die Spur zu kommen. Foucaults Archäologie mit Derrida zu lesen erlaubt wiederum, die verortende, wiederholende und deshalb stets machtdurchzogene Dimension der Archivierung zu akzentuieren. Die Archäologie des Wissens zieht ein Außen, aus dem die Konsignationsmacht wiederholend in die Schichten der Sag- und Sichtbarkeit interveniert, kaum in Betracht. Dass darin zugleich eine Stärke der Diskursarchäologie liegt, unterstreicht Gilles Deleuze mit Nachdruck: „Die Archäologie hatte [...] eine Scharnierfunktion inne“, weil sie im Interesse der Definition der Aussageformen den Inhaltsformen der Sichtbarkeit, aber eben auch den Kräfteverhältnisse der Macht den Status des „Nicht-Diskursiven“ zuweisen musste. 170 Das Anliegen Foucaults ist es, „unseren Willen zur Wahrheit in Frage [zu] stellen; […] dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurück[zu]geben; endlich […] die Souveränität des Signifikanten auf[zu]heben“. 171 Erst mit Überwachen und Strafen beginnt Foucault Institutionen und Diagramme der Macht zu fokussieren. Die Gefängnisse, die Parzellen der pestverseuchten Stadt oder die Register der frühneuzeitlichen Policey-Wissenschaften operieren diagrammatisch, weil in und dank ihnen Machtbeziehungen diffundieren und über sich hinaus das jeweils Sag- und Sichtbare neu ausrichten. Es sind Orte außerhalb, an denen sich eine Konsignationsmacht immer schon eingeschrieben hat, die sich aber – bedingt durch einen Wiederholungszwang – stets neu vereinheitlichen und einordnen müssen. Von der Ordnung des Diskurses zu den Dispositiven der Macht Nach der Veröffentlichung der Archäologie des Wissens vergeht nur ein Jahr, bis sich Foucault der Ordnung des Diskurses zuwendet, einer Ordnung, die nicht mehr nur eine im und durch den Diskurs, sondern analog dem machtvollen Eindruck der Archive auch eine Ordnung angesichts des Diskurses ist. Die Inauguralvorlesung, die Foucault 1970 am Collège de
170 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 48. 171 Foucault: Ordnung des Diskurses, a. a. O. [Anm. 77], S. 33.
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France hält, führt gleich zu Beginn einen in dieser Hinsicht programmatischen Passus an: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“ 172
Die Ordnung des Diskurses markiert eine Wende in Foucaults Untersuchungen „von der Archäologie zur Genealogie“, 173 von der Diskursanalyse zur Analytik der Macht. Während die Archäologie des Wissens unter dem Primat der Aussagen alles ihnen Äußerliche gewissermaßen negativ umreißt, scheint hier konkreter „das Denken des Außen“ 174 der Macht auf. Noch sind es aber die komplexen Beziehungsbündel der Diskurse die Foucault antreiben und ihn die Suche nach einem ‚Außerhalb‘ des Diskursiven vom Diskurs her stellen lassen: „Ich glaube, es gibt bei vielen ein ähnliches Verlangen, nicht anfangen zu müssen; ein ähnliches Begehren, sich von vornherein auf der anderen Seite des Diskurses zu befinden und nicht von außen ansehen zu müssen, was er Einzigartiges, Bedrohliches, ja vielleicht Verderbliches an sich hat. Auf diesen so verbreiteten Wunsch gibt die Institution eine ironische Antwort, […] dass der Diskurs in der Ordnung der Gesetze steht; dass man seit jeher über seinem Auftreten wacht; dass ihm ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und dass seine Macht, falls er welche hat, von uns und nur von uns stammt“. 175
Von dieser gewiss veränderten Befragung des Diskurses her lassen sich die medial-diskursiven Beziehungen als Annäherung an Derridas Archivübel erweitern. Denn wenn mächtige Medien immer strategische Positionen im diskursiven Zwischenraum sind, gleichzeitig aber auch sich ‚selbst‘ und ihren Inhalt fest- und fortsetzende Institutionen, dann sind es gerade invasive, das Sag- und Sichtbare kanalisierende Kontrollsysteme, die diese Medien (mit-)bestimmen. Genau davon zeugt die „stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses“. 176
172 Foucault: Ordnung des Diskurses, a. a. O. [Anm. 77], S. 10f. 173 Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, München 2007, S. 35. 174 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 99. 175 Foucault: Ordnung des Diskurses, a. a. O. [Anm. 77], S. 9f. 176 Ebd., S. 33.
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Die Ordnung des Diskurses identifiziert solche Prozeduren, welche die gefährliche Kraft des Diskurses zu bändigen suchen und ihn gleichzeitig in „in einem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren“ 177 aufscheinen lassen. So kanalisieren zunächst „Prozeduren der Ausschließung“, die Diskurse, etwa indem sie das Unsagbare verbieten oder mittels einer Grenzziehung das Vernünftige vom Wahnsinnigen, respektive das Wahre vom Falschen absetzen. 178 Zu den Ausschließungsprozeduren zählt grundlegender noch ein „Wille zur Wahrheit“, der die Institutionalisierung jener Orte antreibt, welche die als wahr anerkannten Diskurse auswerten, sortieren und weiterverteilen. Dieser Wille „wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften und den Laboratorien heute“. 179 Diskursverknappende Strategien findet Foucault auch in Formen der Kommentierung, dem Prinzip des Autors und in den (Fach-)Disziplinen, die er als „interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben“, beschreibt. Diese Prozeduren bändigen „eine andere Dimension des Diskurses […], die des Ereignisses und des Zufalls“ 180 – wobei sie in erster Linie repetitiv-verlängernd wirken. Vom „unendlichen Gewimmel der Kommentare“ schreibt Foucault etwa, es sei „vom Traum einer maskierten Wiederholung“ affiziert: „Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, sondern im Ereignis seiner Widerkehr.“ 181 Vergleichbar fungiert die Individualität und das ‚Ich‘ des Autors als „Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutung“. 182 Wissenschaftliche Fachdisziplinen schließlich bilden für Foucault die „Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln“, welche Sag- und Sichtbarkeit einer „diskursiven ‚Polizei‘“ unterstellt. 183 „Niemals verzichtet man darauf“, schreibt Jacques Derrida, „sich eine Macht über das Dokument, über seinen Besitz, seine Zurückhaltung oder seine Auslegung anzueignen“. 184 Ähnlich nennt die Ordnung des Diskurses eine dritte Gruppe von Prozeduren, die „für eine „Verknappung […] der sprechenden Subjekte“ sorgt: „[N]icht alle Regionen des Diskurses“, so Foucault, „sind in gleicher Weise offen und zugänglich“, vielmehr sind Zugänge zum Diskurs durch „Rituale“, „Diskursgesellschaften“, „Doktrinen“ und „die gesellschaftliche Aneignung der Diskurse“ geregelt. 185 Nicht nur
177 178 179 180 181 182 183 184 185
Ebd., S. 17. Vgl. ebd. S. 11ff. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 17ff. Vgl. ebd., S. 19f. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 25, Herv. i. Orig. Derrida: Dem Archiv verschrieben, a. a. O. [Anm. 154], S. 1. Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses, a. a. O. [Anm. 77], S. 25-28.
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begleiten jeden Diskurs bestimmte Gesten, Verhaltensweisen und Zeichen. Es bilden sich – den antiken Archonten gleich – richtiggehende „Diskursgesellschaften“ aus, deren Aufgabe es ist, „Diskurse aufzubewahren und zu produzieren, um sie in einem geschlossenen Raum zirkulieren zu lassen und sie nur nach bestimmten Regeln zu verteilen“. 186 Umgekehrt formieren die Diskurse Doktrinen aus, d.h. sie definieren eine jeweilige „Regel der Übereinstimmung mit den für gültig erklärten Diskursen“, die deren Verbreitung gewährleisten soll. 187 „In einem viel größeren Maßstab“ analysiert Foucault schließlich die „gesellschaftliche Aneignung der Diskurse“, die den Prinzipien einer Konsignationsmacht der Archive im Derrida’schen Sinne nunmehr vollauf zu entsprechen scheint. Die Erziehung etwa folgt „in ihrer Verteilung, in dem, was sie erlaubt, und in dem was sie verbietet, den Linien […], die von den gesellschaftlichen Unterschieden, Gegensätzen und Kämpfen gezogen sind“. 188 Die Ordnung des Diskurses markiert in dieser Hinsicht eine Zuspitzung in Foucaults Diskursarchäologie, die sich nunmehr verstärkt der festsetzenden und fortschreibenden, indes weder naht- noch bruchlosen TopoNomologie des Archivs zuwendet. Noch Foucaults spätere Analytik der Macht wird allerdings „Macht/Wissen-Komplexe“ 189 untersuchen, geht sie doch davon aus, „dass die Macht Wissen hervorbringt […]; dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“. 190 Für mediale Archive zeichnen sich in dieser gleichsam dekonstruktiv geschärften Diskursanalyse „Passagen an der Technik-Kultur-Grenze“ 191 ab. Es öffnet sich folglich ein methodischer Zugang zur medientheoretisch wie politisch gleichermaßen brennenden Frage „wie ‚Technisches und Außer-
186 187 188 189 190
Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29f. Foucault, Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 114], S. 39. Ebd. Ein besonders eindrückliches Beispiel, wie feinsinnig Foucault Macht und Wissen im Weiteren zusammendenkt, bietet die 1977 erschienene Studie Das Leben der infamen Menschen, die sich mit den kurzen Spuren von Kleinstverbrechen, Familienstreitereien und Pathologien des Wahnsinns in königlichen Archiven beschäftigt: „Das, was sie [die infamen Menschen (SaS)]“ der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht auch hätten bleiben müssen, ist die Begegnung mit der Macht: Ohne diesen Zusammenstoß wäre mit Sicherheit kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Lebensverlauf zu erinnern.“ (Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, in: ders. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2003, S. 309-332, hier: S. 315.). 191 Lösch/Schrage/Spreen/Stauff: Technologien, a. a. O. [Anm. 4], S. 10.
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technisches‘, ‚Technisches und Soziales‘, ‚Diskurse und Apparate‘ […] zusammengedacht werden können“. 192 Ebendiese Frage nach der diskursiv-technischen Bestimmung des Medialen drängt sich in einer digitalen, von miniaturisierten Apparaten und monströsen Datenspeichern dominierten Medienkultur mehr denn je auf. Beispielsweise hat sich das klinisch codierte, krankhafte Rauschen, dem Foucault in Botschaft oder Rauschen? 193 auf der Spur war, längst über die Archive der Hospitäler und Universitäten hinaus fortgeschrieben. Hochmobile und ubiquitär vernetzte Sensoren erlauben gegenwärtig eine Archivierung von individualistisch konnotiertem Bewegungs-, Schlaf-, Ess- und Sexualverhalten, die bezeichnenderweise Krankheitsdiagnosen überflüssig machen will, indem sie schon eine gute Gesundheit vollständig zu verdaten, d.h. zu codieren und normieren sucht. Das Geschäft mit GPS-Sensoren und internetbasierten Diätportalen, vor allem aber mit dekorativen Schrittzählern floriert. Unter vielen anderen Herstellern preist etwa die Firma Jawbone seit Ende 2013 das sogenannte UP-System an, das aus einem bewegungsregistrierenden Armband und einer zugehörigen Applikation für Mobiltelefone besteht und die lückenlose Speicherung gesundheitsrelevanter Daten erlauben will (Abb. 5).
Abb. 6: „Erkenntnismotor“ und „Stimmungsprotokollierung“: Webseite des Schrittzählers „UP“ der Firma Jawbone. Doch das UP-System – und das ist für viele digitalen Medienarchive der Gegenwart zweifelsohne programmatisch – ist ohne die Erläuterung heilsversprechender Werbebotschaften, vor allem aber ohne die neoliberal-biopolitischen Dispositive seiner Zeit nicht ohne weiteres zu begreifen. Das
192 Parr/Thiele: Foucault in den Medienwissenschaften, a. a. O. [Anm. 26], S. 103. 193 Vgl. die detaillierte Diskussion von Foucaults Vortrag im Kapitel 2.1., Diskurs und Medium.
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Armband verfügt über einen simplen Knopf und über einen freilegbaren Stecker, hat selbst aber keinerlei Anzeigefunktion. Jawbone preist das System als „holistischen Ansatz für einen gesünderen Lebensstil“ an und malt es phantasievoll als „Erkenntnismotor“, „Schlafprotokoll“ „einstellbare[n] Inaktivitätsalarm“ oder auch als „Stimmungsprotokollierung“ aus. 194 Erst diese Diskursivierungen konturieren ein nicht nur schrittzählendes, sondern alltagsstrukturierendes Medium, das als solches tatsächlich beängstigende Macht entfaltet: Die Visualisierung eigener Bewegungsdaten in der zugehörigen Applikation, das Teilen seiner Aufzeichnungen in sozialen Netzwerken und nicht zuletzt das evidente Interesse an diesen Daten seitens Krankenversicherungen oder Arbeitgeber entlarven das hochportable Archiv als eine zusammenschreibende und repetitive Medieninstitution. 195 Deren Medientechnologie wiederum entspricht wesentlich gegenwärtigen Machttechnologien der individuellen Anreizung, allumfassenden Kontrolle und gesundheits- wie wirtschaftspolitisch profitablen Lebensführung. 196 Ausserhalb eines historischen Apriori ist gerade auch moderne Medientechnologie nicht zu fassen. Weder ist allerdings, wie Foucault einräumt, die vollumfängliche Umschreibung des Wissensarchivs einer Gesellschaft, Kultur oder Epoche möglich, noch kann eine Analyse unserer eigenen, kontemporären Archiven gelingen, da ihre Beschreibung von demselben Archiv determiniert wird. Eben deshalb aber muss sich die Archäologie „dieser Positivität, der sie selbst gehorcht und diesem Archivsystem annähern, das gestattet, heute vom Archiv im allgemeinen zu sprechen“. 197 Angesichts wirkkräftiger Archivtechnik ist eine „Archäologie der Gegenwart“ 198 nicht nur möglich, sondern angezeigt – wenn sie sich dafür auch selbst an einen privilegierten Ort begeben muss: „Die Analyse des Archivs umfasst also ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität verschieden, ist es die Randung der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, zu ihr einen Überhang bildet und sie anzeigt in ihrer Alterität; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt. Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeiten (und die Beherrschung ihrer Möglichkeiten) ausgehend von Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein; ihre Existenzschwelle wird
194 Vgl. https://jawbone.com/up. 195 Zahlreiche Arbeitgeber haben ihren Mitarbeitenden in den Jahren 2012 und 2013 Schrittzähler zur Verfügung gestellt, bei vielen Krankenkassen erhalten Kunden die kleinen Geräte kostenlos und übertragen ihre Daten in hierfür eingerichtete Online-Bewegungstagebücher. 196 Zur neoliberalen Gouvernementalität und -medialität der Gegenwart vgl. ausführlich die Kapitel 4.2., Verbinden und Trennen und 4.4., Regieren und Steuern. 197 Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 189. 198 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 2], S. 73.
60 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN von dem Schnitt gesetzt, der uns von dem trennt, was wir nicht mehr sagen können, und von dem, was außerhalb unserer diskursiven Praxis fällt […].“ 199
Diskurs und Archiv treten gleichermaßen zwischen uns, um dort jenen Raum der Wahrheitsspiele und Wissensregime zu eröffnen, der sich in Archivtechniken ein- und mit ihnen fortschreibt. In diesem Sinne ist jedes Medium zugleich eine politische Setzung und Verhandlung – eine Ordnung von Sag- und Sichtbarkeiten und eine Modulation der Macht, deren Dispositive stets zur Disposition stehen.
199 Foucault: Archäologie, a. a. O. [Anm. 1], S. 189.
3. Mediendispositive. Macht und Widerstand intermedialer Konfigurationen
Im Herbst 2012 sieht sich das chinesische Zentralkomitee zu medienpolitisch drastischen Schritten gezwungen: Kurz vor dem Parteitag der Kommunistischen Partei ordnet es die Demontage aller Fensterheber in Pekinger Taxis an. Zu groß ist die Gefahr, dass durch halboffene Fenster subversive Parolen gerufen oder Pingpongbälle mit revolutionären Losungen verteilt werden könnten. 1 Belustigt blickt die westliche Welt auf derart paranoide Maßnahmen eines Zensurregimes, auch hierzulande beschäftigen indes medienregulatorische Fragestellungen die Politik. So wird etwa in der Schweiz im November gleichen Jahres darüber sinniert, ob den marktdominierenden Internetgiganten Google, Facebook, Apple oder Amazon nicht mit staatlichen Suchmaschinen zu begegnen wäre. Da die Verdatungslogiken der digitalen Netze ihren Nutzern immer nur Inhalte mit Bezug zu früheren Suchanfragen liefern, droht das angeblich freie digitale Informationsmeer in Gefangenschaft immer engerer egozentrischer Schleifen zu geraten. 2 Die beiden punktuellen Beispiele aus China und der Schweiz stehen exemplarisch für die vielschichtige Macht der Medien zwischen autoritär überwachter Zensur und demokratisch regulierter Medienpolitik. Einen Brennpunkt von Macht und Herrschaft bilden Medien überdies auch deshalb, weil sie ein bedeutsamer Einsatzort widerständiger Umsturzbewegungen sind. Mittel revolutionärer Bewegung oder Instrument starrer Herrschaftsstrukturen werden Medien gleichermaßen in ihrer audiovisuellen Formation im Foucault’schen Sinne: Der Pingpongball mutiert vom spielerischen zum politischen, das Internet vom demokratischen zum ökonomischen Medium. Solche mediale Konfigurationen fungieren indes nicht nur als technisches Double eines Wahrheitsregimes, sie perpetuieren zugleich
1 2
Vgl. Ackeret, Markus: China rüstet sich für den Parteikongress, in: Neue Zürcher Zeitung, 2. November 2012, S. 7. Vgl. Betschon, Stefan: Ausbrechen aus dem Ego-Loop. Braucht es öffentlichrechtliche Suchmaschinen?, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. September 2012, S. 68.
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die Sag- und Sichtbarkeitsgesetze in konkrete Spielformen gegenwärtiger Politiken. In der Sag- und Sichtbarkeit in wie über Medien verdeutlichen sich die Komplexe von Wissen und Macht. In diesem Sinne bemerkt Foucault 1972 in seiner Vorlesung zu den Theorien und Institutionen des Strafvollzugs: „Kein Wissen bildet sich ohne ein Kommunikations-, Aufzeichnungs-, Akkumulations- und Versetzungssystem, das in sich eine Form von Macht ist und in seiner Existenz und seinem Funktionieren mit den anderen Machtformen verbunden ist. Umgekehrt kommt es zu keiner Ausübung von Macht ohne die Gewinnung, Aneignung, Verteilung oder Zurückhaltung eines Wissens.“ 3
Insofern es also gerade Kommunikationssysteme sind, welche die Spiele der Wahrheit zu jenen der Macht in Beziehung setzen, anerbieten sich Medienanalysen als privilegiertes Instrumentarium, divergierende politische Strategien zu untersuchen. Die diskursiven Formationen des Medialen rekurrieren auf machtvolle Gefüge, die neben unterschiedlichen Wissensordnungen auch eine technische, institutionelle oder architektonische Prozeduralität umfassen und deshalb treffender als Mediendispositive zu beschreiben sind. Der konzeptuelle Schritt vom Archiv zum Dispositiv erlaubt es, einen Begriff der Macht zu spezifizieren und mit ihm tradierte Entwürfe von Herrschaft und Politik, aber auch von Subjektivität und Widerspenstigkeit zu hinterfragen.
3
Foucault, Michel: Theorien und Institutionen des Strafvollzugs, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 486-490, hier: S. 486.
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3.1. M ACHT -W ISSEN -K OMPLEXE . Z UR H ETEROGENITÄT MEDIALER D ISPOSITIVE „Zweifelsohne muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“ 4
Foucaults Interesse an einer machtanalytischen Genealogie 5 impliziert ab den 1970er Jahren eine begriffliche Re-Akzentuierung des Diskursiven, das nunmehr im breiteren Kontext der Dispositive behandelt wird. Methodisch expliziert Foucault den Begriff des Dispositivs zunächst in Überwachen und Strafen, 6 ausführlicher dann in Der Wille zum Wissen. 7 Populärer ist indes die prägnantere Dispositivdefinition aus einem 1977 mit Foucault geführten Gespräch, die allerdings einige verkürzte Interpretationen verschuldet hat: „Was ich unter diesem Titel [des Dispositivs (SaS)] festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. […] Drit-
4 5
6
7
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 94. Vgl. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, München 2007, S. 35; zu Foucaults wechselnden Pointierungen von Archäologie und Genealogie vgl. Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M. 2007, S.202.). Zwar ist in Überwachen und Strafen kaum explizit von den Dispositiven der Macht die Rede, doch sollte Foucault rückblickend die hier vorgenommene Analyse einer disziplinarischen Mikrophysik der Macht als programmatisch für sein Konzept der Dispositive benennen, verwendet er doch gerade die Inhaftierung als Illustration für ein Dispositiv (vgl. Foucault, Michel: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Departement de Psychanalyse der Universität Paris/Vincennes, in: ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118-175, hier S. 121f.). Hier ist der Analyse des Sexualitätsdispositivs ein ganzer Buchteil gewidmet (vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 4], S. 77ff.).
64 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN tens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von […] Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegeben historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten.“ 8
Das Dispositiv zeichnet sich also zunächst durch seine Heterogenität und seine Relationalität aus und verfügt weiter über eine dominante strategische Funktion, die gerade um die Ausrichtung heterogener Elemente zueinander besorgt ist. Strategisch operieren Dispositive, indem sie Sag- und Sichtbarkeiten genauso wie Unsagbares und Unsichtbares ausrichten und diesem Ensemble eine machtvolle Prägung erteilen. Insofern bestimmt der Begriff des Dispositivs Komplexe aus Macht und Wissen: „Das Dispositiv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch […] an Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen es gleichwohl aber auch bedingen: Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von denen gestützt werden.“ 9
Augenscheinlich zeichnen sich Dispositive folglich durch zwei zentrale Charakteristika aus: die Verbindung von Diskursivem und NichtDiskursivem einerseits sowie die Verflechtung (diskursiven) Wissens mit Machtverhältnissen andererseits. Wie Jan Hans in einer minutiösen Rekonstruktion der Begriffsgenese bei Michel Foucault, Jean-François Lyotards, Gilles Deleuzes und später bei Jean-Louis Baudry oder Christian Metz schlüssig zeigt, erlaubt es das Dispositiv im vom Pariser Mai und den Prager Frühling geprägten Debattenklima „Kristallisationspunkte des Historischen als formative Vorgeschichte der Jetztgeschichte kenntlich und so das historisch in die Subjekte eingeschriebene Machtgefüge sichtbar zu machen“. 10 In der deutschsprachigen, zumal medienwissenschaftlichen Adaption des Dispositivkonzepts kippt die „markante Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Subjekt“ 11 indes allzu rasch in einseitige Forschungspragmatik um. Dispositive der Medien Die „medienwissenschaftliche Karriere“ des Dispositivs beginnt im deutschen Sprachraum mit der filmwissenschaftlichen Adaption des Konzepts durch Jean-Louis Baudry und wird im Übrigen geprägt durch die amerikanische Kinotheorie, die „den baudryschen Ansatz als Apparatus-Theorie
8 Foucault: Spiel um die Psychoanalyse, a. a. O. [Anm. 6], S. 119f. 9 Ebd., S. 123. 10 Hans, Jan: Das Medien-Dispositiv, in: tiefenschärfe. Zeitschrift des Instituts für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg, WS 2001/2002, 2002, S. 2228, hier: S. 23. 11 Ebd.
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auf[greift]“. 12 Von hier aus werden Dispositive in den 1980er Jahren „bei […] explizitem Anknüpfen an Michel Foucault und Gilles Deleuze“ auf das Fernsehen übertragen und dienen schließlich auch der Beschreibung anderer Medien. 13 Entscheidend für ein im deutschsprachigen Raum bis heute dominierendes Verständnis des Dispositivs ist folglich zunächst der einschlägige Aufsatz eines „kinobegeisterten Zahnarztes“. 14 In seinem Text Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks beschreibt Jean-Louis Baudry ein Kino-Dispositiv, dessen durchaus plausible Wirkung eine bestimmte Form der Subjektivierung ist: 15 Ein „kinematographisches Dispositiv“, d.h. ein technischer „Basisapparat“, der „von der Aufzeichnung der Bilder bis zu ihrer Wiederherstellung“ reicht, 16 ruft zusammen mit einem „Projektionsapparat“ im „Höhlendispositiv“ des Kinosaals eine Art „Dispositiv des Traums“ hervor, in dem „jene archaischen Befriedigungsformen wiederzufinden [sind], die im Grunde jeden Wunsch strukturieren“. 17 In diesem Konglomerat erkennt Baudry den „Kino-Effekt“ wesentlich als ein „Gesamt-Dispositiv, zu dem auch das Subjekt gehört“. 18 Entscheidend für die weitere Rezeption des Dispositivbegriffs ist in Baudrys Text nun zweierlei: Erstens meint der Dispositivbegriff hier, wie Günter Dammann zu Recht bemerkt, in erster Linie eine „Vorrichtung“ 19 und zweitens ist zumindest das kinematographische Dispositiv als technischer Apparat beschreibbar, auch wenn dieser explizit als Baustein eines he-
12 Vgl. Link, Jürgen: Dispositiv, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2008, S. 237-242, hier: S. 238. 13 Vgl. Parr, Rolf/Thiele, Matthias: Foucault in den Medienwissenschaften, in: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, S. 83-112, hier: S. 93f; zum Dispositiv Fernsehen vgl. Hickethier, Knut: Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells, in: Montage AV. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 4, H. 1, 1995, S. 63-83; sowie Stauff, Markus: ‚Das neue Fernsehen‘. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005. 14 Hans: Das Medien-Dispositiv, a. a. O. [Anm.10], S. 22. 15 Vgl. Ebd., S. 25. 16 Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jg. 48, H. 11, 1994, S.1047-1074, hier: S. 1050. 17 Vgl. Baudry: Das Dispositiv, a. a. O. [Anm. 17], S. 1054, 1058, 1065ff. 18 Ebd., S. 1067. 19 Dammann, Günter: ‚Le dispositif‘ als ‚das Dispositiv‘. Bemerkungen zum Fall einer Nicht-Übersetzung, in: tiefenschärfe. Zeitschrift des Instituts für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg, WS 2002/2003, 2003, S. 4-6, hier: S. 5.
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terogenen Gesamt-Dispositivs spezifiziert ist. 20 Die technizistische Interpretation ist hierbei maßgebend, prägt sie doch das Verständnis von Medien als Dispositive bis heute. Denn die deutschsprachige Rezeption unternimmt – mitunter über englischsprachige Umwege – eine abrupte Verkürzung: Sie „isoliert und verabsolutiert den Basisapparat und nimmt ihn fälschlicherweise als Modell eines ‚Dispositivs‘“. 21 Folge hiervon ist, wie Rolf Parr und Matthias Thiele kritisieren, eine mutmaßlich „völlige Offenheit und damit vielfältige Anschließbarkeit“ des Dispositivs, das es gerade „zu dem in den Medienwissenschaften vielleicht am häufigsten rezipierten Theoriebaustein Foucaults gemacht hat“. 22 Problematischerweise fungieren Dispositive so auch als „übergreifende[r] schützende[r] Schirm“, der die vermeintlich elegante Umgehung grundlegender Dichotomien der Medienwissenschaft suggeriert – beispielsweise die „kulturelle Fundierung des Medienbegriffs als Symbolsystem“ gegenüber einem technischen Apriori der Medien. 23 Weil es in Dispositiven möglich scheint, den Schwerpunkt auf vermeintlich nicht-diskursive Praktiken, Institutionen oder Technologien zu legen, steht letztendlich erneut der paradigmatische Gegensatz historischer und technischer Apriori des Medialen auf dem Spiel. 24 Doch einer Mediendispositivanalyse im Foucault’schen Sinne geht es nicht um die Vereinigung von Diskurse und Sichtbarkeiten mit vermeintlich gegensätzlichen Praktiken und Techniken. Vielmehr zielt sie auf die Dekonstruktion von Kräfteverhältnissen, die sich in audiovisuellen Archiven als Wahrheitsregime und Machttechnologien manifestieren, d.h. als historisches Apriori überhaupt erst verhandel- oder praktizierbar werden. Zu Recht kritisiert Thomas Barth, dass der Dispositivbegriff „anstelle des komplexen und
20 Vgl. Hierzu Fußnote 3 in Baudrys Text (Baudry: Das Dispositiv, a. a. O. [Anm. 17], S. 1052.). 21 Hans: Das Medien-Dispositiv, a. a. O. [Anm. 10], S. 26. 22 Parr/Thiele: Foucault in den Medienwissenschaften, a. a. O. [Anm. 13], S. 92. 23 Ebd., S. 93. 24 Die ungebrochene Virulenz dieser Problemstellung zeigt sich unverändert in jüngeren Publikationen, etwa zu einer Mediendiskursanalyse, die sich der Analyse medialer Prägungen der Diskurse verschreibt, dabei aber unterschlägt, dass diese Prägung gleichsam umgekehrt, d.h. als diskursive Formation der Medien zu denken ist: „Nimmt man den Diskursbegriff Foucaults ernst, so stellen mediale Diskurse niemals bloße Vermittlungsinstanzen dar“, meinen etwa Philippe Dreesen, àXNDV].XPLĊJDXQG&RQVWDQ]H6SLHÄYLHOPHKUZHUGHQGXUFK0HGLHQ'LVNXrse/Dispositive erst hervorgebracht; mit anderen Worten beeinflussen Medien in eminenter Weise Kommunikationsformen, Wissensproduktionen, Machtstrukturen etc. […].“ (VJO'UHHVHQ3KLOLSSH.XPLĊJDàXNDV]6SLH&RQVWDQ]H'Lskurs und Dispositiv als Gegenstände interdisziplinärer Forschung. Zur Einführung in den Sammelband, in: dies. (Hg.): Mediendiskursanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden 2012, S. 9-22, hier: S. 11.)
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bei Foucault ständig weiterentwickelten Diskurs-Begriffs genutzt [wurde], womöglich auch, um einer mühsamen Auseinandersetzung [mit dem Diskursbegriff (SaS)] auszuweichen“, wobei allerdings übersehen wurde, „dass das Dispositiv bei Foucault auf dem Diskurs basiert“. 25 Der Kritik eines „Tabula-rasa-Wortes ohne geschichtlichen und semantischen Gehalt“ 26 stehen im Feld der Medien- und Kulturwissenschaften indes eine Vielzahl produktiver Forschungszugänge gegenüber: Dispositive etwa als eine „Theorie medialer Topik“, als Treffpunkt von Diskursanalyse und Gouvernementalitätsforschung, 27 aber auch Studien der „Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien“ oder sogenannter „Informations-“ und „Kommunikationsdispositive“. 28 Verantwortlich für den Erfolg trotz rumorenden theoretischen Differenzen sind wesentlich vier Vorteile des Dispositivbegriffs: Erstens bilden Dispositive „ein Ensemble nicht-notwendiger Relationen zwischen einer Vielfalt an heterogenen Elementen“, 29 sie bedeuten eine „Vereinigung heterogener Faktoren“, 30 d.h. ein jedes Dispositiv ist eine „Vielheit“. 31 Mediendispositive suggerieren deshalb ein Medienverständnis im Sinne einer „Zurückweisung der Universalien“, 32 das keine strukturellen Ursprünge anerkennt, sondern die relationalen Gefüge medialer Konfigurationen untersucht. Der zweite Vorteil des Dispositiv-Konzepts liegt in seinem Verständnis von Materialität: Zwar sind, wie Markus Stauff schreibt, „Objekte für das Dispositiv
25 Barth, Thomas: Blick, Diskurs und Macht: Michel Foucault und das MedienDispositiv, in: MEDIENwissenschaft, Jg. 2005, Nr. 1, S. 8-14, hier: S. 8. 26 Dammann: Le dispositif, a. a. O. [Anm. 19], S. 6. 27 Vgl. Paech, Joachim: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, in: MEDIENwissenschaft, Jg. 1997, Nr. 4, S. 400-420; Dreesen, PhilipSH.XPLĊJDàXNDV]6SLH&RQVWDQ]H+J 0HGLHQGLVNXUVanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden 2012.; Angermüller, Johannes/van Dyk, Silke (Hg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M. 2010. 28 Vgl. Elia-Borer, Nadja/Sieber, Samuel/Tholen, Georg Christoph: Einleitung, in: dies. (Hg.): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld 2011, S. 9-16; Dorer, Johanna: Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs. Ein medientheoretischer Ansatz nach Foucault, in: Andreas Hepp/ Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen und Wiesbaden 1999, S. 295-305. 29 Vgl. Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 115. 30 Hartling, Florian: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets, Bielefeld 2009, S. 163. 31 Deleuze, Gilles: Was ist ein Dispositiv?, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 2005, S. 153-162, hier: S. 157. 32 Ebd.
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nicht unmittelbar im Sinne ihrer materiellen Gegenständlichkeit bedeutsam“, doch beschreiben Dispositive eine bestimmte „Wirksamkeit“, die „sowohl in der Ordnung von Praktiken, Diskursen, Institutionen als auch im Verhalten, Denken und Wissen der Individuen nachdrücklich zur Geltung“ kommt. 33 Der dritte Vorzug von Dispositivanalysen liegt im Denken einer Macht, die nach Gilles Deleuze die Schichten des Sag- und Sichtbaren durch „Kräftelinien“ 34 ausrichtet. Macht, so Foucault, ist die „Produzent[in] eines Produkts“, 35 das gesellschaftsweite Regime genauso umfasst wie mit ihnen einhergehende Subjektivitäten. Mediendispositive fassen anhand medialer Konfigurationen die Verbindung von „Machtverhältnis und Gesellschaftlichkeit“, allerdings nicht, wie etwa Florian Hartling meint, insofern „sich die Macht der Gesellschaft direkt in Organisation und Struktur, Angebot und Ästhetik der Medien widerspiegelt“. 36 Die medientheoretisch virulente Frage lautet vielmehr, wie mediale Sag- und Sichtbarkeiten mit diskursiven Wahrheitsregimen korrelieren, die eine „Gesellschaftlichkeit“ überhaupt erst vorstell- und problematisierbar machen – etwa wenn statistisch-normalisierende Verdatungsverfahren die Vermessung dieser Gesellschaft organisieren. Vergleichbar steht am nur vermeintlich „kleineren Pol“ der dispositiven Subjektivierungsregime nicht in erster Linie die „Steuerung der Wahrnehmung“ 37 und auch kein Rezipient, der „direkt mit dem Netz der medialen Institutionen verbunden“ 38 wäre. Vielmehr sind die Dispositive von „Subjektivierungslinien“ durchzogen, die zu den Phänomenen einer gesellschaftsweiten Medienmacht in eine produktive oder oppositionelle Beziehung treten. 39 Ein stets prekäres Widerstandsmoment bestimmt schließlich die vierte analytische Qualität des Dispositivs: sein „offener, dynamischer Begriff“, 40 der einer „strategische[n] Funktion“ 41 folgt. Dispositive Vernetzungen
33 Vgl. Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 115f. Foucault zufolge liegt die Materialität des Dispositivs „im Innern realer und konkreter Praktiken“, die eine Analyse der Macht „in ihrer äußeren Fassade“ erlaubt (vgl. Foucault, Michel: Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin, in: ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 75-95, hier: S. 81.). 34 Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 154. 35 Foucault, Michel: Die Maschen der Macht, in: ders.: Analytik der Macht, Frankfurt 2005, S. 220-239, hier: S. 225. 36 Hartling: Der digitale Autor, a. a. O. [Anm. 30], S. 166f. 37 Ebd., S. 164. 38 Hickethier: Dispositiv Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 70. 39 Vgl. in diesem Sinne Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 155. 40 Hartling: Der digitale Autor, a. a. O. [Anm. 30], S. 167. 41 Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv?, Zürich 2008, S. 9.
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zeichnen sich durch „Rationalitäten und Strategien“ aus, 42 die jedoch niemals endgültig oder statisch verharren. Vielmehr ist, wie Joachim Paech schreibt, „die Anordnung des Dispositivs […] das Wissen um den Bruch, der sich in seinem Diskurs artikuliert, um den Bruch zu maskieren oder ihm zum Durchbruch zu verhelfen“. 43 Ähnlich und doch komplexer den diskursiven Schichten sind auch Dispositive politische Formationen, d.h. eine Heterogenität strategisch zueinander positionierter Diskurse, Sichtbarkeiten, Techniken, Institutionen und Regeln. Heterogene Ensembles Die medienwissenschaftlich geschulte Dispositivanalyse erlaubt es, wie Matthias Thiele argumentiert, in erster Linie die vielfältigen Wirkungsebenen eines Mediums zusammenzudenken: „Die Produktivität dieses Ansatzes, Dispositiv und Medium modelltheoretisch in Eins zu setzen, liegt darin, dass die verschiedenen Bereiche eines Mediums – wie Technik bzw. Apparatur, institutioneller Kontext, ökonomische Dimension, Raumund Produktionspraktiken, ästhetische Verfahren und Stile, Wahrnehmungs-, Gebrauchs- und Rezeptionsweisen – zusammengedacht werden können und die mediale Struktur gerade in ihrer Heterogenität und bezüglich des effektiven Zusammenspiels ihrer Elemente erfasst, übersichtlich sortiert und in Abgrenzung zu anderen Medien als distinkte Einheit angeordnet werden kann.“ 44
Doch erschweren die intermedialen Konvergenz- und Hybridisierungsbewegungen des digitalen Zeitalters ebendieses Denken einzelmedialer Strukturen bereits erheblich. Inwiefern nämlich überhaupt noch von sogenannten Einzelmedien die Rede sein kann, deren heterogene Elemente als Dispositive „übersichtlich sortiert und in Abgrenzung zu anderen Medien als distinkte Einheit angeordnet“ werden könnten, ist eine Frage, die angesichts der „Re-Konfigurationen und Re-Appropriationen des Medialen“ im „intermediale[n] Zwischenspiel zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien“ vielleicht mehr denn je auf dem Spiel steht. 45 Das Zusammendenken medialer Konstituens impliziert deshalb immer schon selbst eine festsetzende Intervention, im Zuge derer eine temporäre analytische Rasterung medialer Konfigurationen deren dynamischen Wandel einfrieren muss. Intermedialität erscheint in dieser Perspektive als Phänomen einer sequentiell sich vollziehenden Medi42 Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 117. 43 Paech: Überlegungen zum Dispositiv, a. a. O. [Anm. 27], S. 411. 44 Thiele, Matthias: Vom Mediendispositiv zum medialen Kombinat aus Dispositiven, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse 55/56, 2009, S. 41-46, hier: S. 41. 45 Vgl. Elia-Borer/Sieber/Tholen: Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, a. a. O. [Anm. 28], S. 9.
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engeschichte, in deren Verlauf sich einzelmediale Formate zu intermedialen Konglomeraten, letztlich vielleicht sogar zu einem einzigen (digitalen) Amalgam zu verschweißen scheinen. 46 Ausgehend von der Verschränkung medialer Sag- und Sichtbarkeit zu Mediendispositiven haben nennenswerte Studien Medien als heterogene Ensembles in den Blick genommen, um sie auf ihre Macht- und Subjektivierungseffekten hin zu befragen. Vornehmlich diskursarchäologisch verfährt etwa Jürgen Links Interdiskursivitätstheorie: Schon Die Ordnung des Diskurses ist für Link insofern machtanalytisch gewandt, als dass hier „Diskurse als Räume einer historisch begrenzten Sagbarkeit bzw. Wissbarkeit“ 47 gefasst werden. Diese „Grenze der Sagbarkeit“ im Blick, fächert Link die diskursiven Formationen in Spezial-, Elementar- und Interdiskurse auf, die sich in einer „Fülle von Diskursparzellen“ überschneiden. 48 Konkret ordnen Dispositive Link zufolge Spezialdiskurse, d.h. funktional ausdifferenzierte Diskurse wie z.B. die Wissenschaft, und Elementardiskurse, also Diskurse der Alltagsrede oder des Alltagswissens, zu Interdiskursen. 49 Letztere werden beispielsweise im Falle der massenmedialen Vermittlung wissenschaftlicher Forschung als Resultat der strategischen Rationalität eines Dispositivs inter-
46 Von Vorteil ist dieser intermedialitätstheoretische Ansatz indes insofern, als dass mit ihm gleichzeitig medienspezifische und intermediale Eigenschaften hervortreten (vgl. in diesem Sinne auch Thiele: Mediendispositiv, a. a. O. [Anm. 44], S. 45.). Gleichwohl lässt sich gerade auch in dieser Perspektive mit Jens Schröter mutmaßen, ob den vermeintlichen Einzelmeiden nicht eine Art „Ur-Intermedialität“ vorausgeht, weil – und das unterstreichen Mediendispositive – „die klar voneinander abgegrenzten ‚Monomedien‘ das Resultat gezielter und institutionell verankerter Zernierungen“ sind (vgl. Schröter, Jens: Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs, in: montage/av, Jg. 7, Nr. 2, 1998, S. 129-154, hier: S. 149.). 47 Link, Jürgen: Dispositiv und Interdiskurs. Mit Überlegungen zum ‚Dreieck‘ Foucault – Bourdieu – Luhmann, in: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, S. 219-238, hier: S. 228, Herv. i. Orig. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2009, S. 19. Links Zug, „Foucaults ‚diskursive Formationen‘ bzw. ‚Diskurse‘ als ‚Spezialdiskurse‘ zu spezifizieren“ ist allerdings selbst eine Verkürzung des m.E. sehr viel breiter angelegten historischen Apriori bei Foucault, die damit zusammenhängt, dass Link einer Differenzierung von horizontalen und vertikalen Wissens- und Machtverhältnissen verhaftet bleibt. Nichtsdestotrotz leistet die Interdiskursivitätstheorie einen wertvollen Beitrag zur (Medien-)Dispositivanalyse, gelingt ihr doch die Re-Kombination dieser Spezialmit Elementardiskursen in interdiskursiven Dispositiven (vgl. Link: Dispositiv und Interdiskurs, a. a. O. [Anm. 47], S. 228.).
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pretierbar, womit sich umgekehrt Interdiskursivität „als spezifische Operativität von ‚Dispositiven‘“ aufgreifen lässt. 50 Gleichzeitig öffnet die Theorie der Dispositive gewissermaßen die oft bloß sprachlich interpretierte Diskursarchäologie den gegenwärtig gewiss maßgeblichen Visualisierungstechniken. In seinem kurzen Essay zur Frage Was ist ein Dispositiv? expliziert auch Gilles Deleuze die visuelle Dimension dispositiver Heterogenität: „Die beiden ersten Dimensionen eines Dispositivs bzw. diejenigen, welche Foucault als erste freilegt, sind die Kurven der Sichtbarkeit und die Kurven des Aussagens. […] [E]s sind Maschinen, um sehen zu machen oder sehen zu lassen, und Maschinen, um sprechen zu machen oder sprechen zu lassen. […] Wenn es eine Geschichtlichkeit der Dispositive gibt, so ist diese eine der Lichtordnungen, aber auch eine der Aussageordnungen.“ 51
Dieses Zusammenspiel von Sagen und Sehen wiederum ist in gegenwartsanalytischen Perspektivierungen von Medientechnologien vermehrt thematisiert worden, in erster Linie hinsichtlich politisch höchst wirksamer „Evidenz-Effekte“, 52 die mit diskursiven Wissensregimen korrelieren. Programmatisch sieht beispielsweise Judith Butler im Hinblick auf die mit 9/11 einhergegangenen „Bedingungen gesteigerter Verwundbarkeit und Aggression“ 53 Öffentlichkeit wie Subjektivität durch Sag- und Sichtbarkeitsregime begrenzt: „Die Sphäre der Öffentlichkeit wird teilweise von dem vorgezeichnet, was sich nicht sagen läßt und was nicht gezeigt werden kann. Die Grenzen des Sagbaren und die Grenzen dessen, was erscheinen kann, schränken den Bereich ein, in dem das politische Sprechen wirksam ist und in dem bestimmte Arten von Subjekten als lebensfähige Akteure auftreten.“ 54
50 Vgl. Link, Jürgen/Link-Heer, Ursula: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77, 1990, S. 88-99, hier: S. 93. 51 Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 153f. 52 Vgl. Holert, Tom: Evidenz-Effekte. Überzeugungsarbeit in der visuellen Kultur der Gegenwart, in: Matthias Bickenbach/Axel Fliethmann (Hg.): Korrespondenzen. Visuelle Kultur zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002, S. 198-225. 53 Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M. 2005, S. 7. 54 Ebd., S. 13. Ganz in diesem politischen Sinne haben weitere Studien das Zusammenspiel medialer Diskurs- und Sichtbarkeitsordnungen in medienspezifischen Kontexten untersucht. So fokussiert der von Linda Hentschel herausgegebene Band mit dem programmatischen Titel Bilderpolitik die „wechselseitigen Bedingungen von Medien, Macht und Geschlechterverhältnissen“ und Tom Holert widmet sich in Regieren im Bildraum sowohl Paradigmen des „Wahr-
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Vergleichbar identifizieren Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer in den Occupy-Bewegungen seit 2011 einen „Druck zu mehr Sichtbarkeit im öffentlichen Raum“, der den staatlichen Ordnungskräften gleichsam visualisierende Reaktionen abringt: „Der scheinbar ‚blickdichte‘ Akt der symbolischen Besetzung wurde oft mit rechtlichen Instrumenten bekämpft, die den Behörden einen möglichst umfassenden Einblick in die physische Struktur des Protests gewähren sollten“. 55 Das heterogene Zusammenspiel von Sagund Sichtbarkeit lässt sich so als politischer Spielraum begreifen. Fragestellungen der Interdiskursivitätstheorie oder der Bilderpolitik verstehen die gestaltgebende Heterogenität der Dispositive als eine Verschränkung und (teils gegenseitige) Begrenzung von divergierender Sag- und Sichtbarkeit. Analog muss ein Mediendispositiv um etwas sagen oder zeigen zu können zunächst als solches sag- und sichtbar werden, d.h. entsprechend Unsichtbares ausblenden und Unsagbares verstummen lassen. Gerade massenmediale Konfigurationen lassen sich so als selbst zur Disposition stehende Orte beschreiben, „an dem die Grenzen des öffentlich Sagbaren und Vorstellbaren für alle erkennbar umkämpft und vorübergehend festgesetzt werden“. 56 Sehr viel weniger vermögen dagegen Konzeptualisierungen medialer Dispositive zu überzeugen, die sich wesentlich auf eine Operationalisierung des Unsagbaren berufen. Foucaults prägnante Erwähnung dispositiver „Institutionen“, „Einrichtungen“ und „Maßnahmen“ bildet hier nicht nur den Nährboden für ein technokratisches Verständnis des Dispositivs, sondern auch für eine durchaus problematische Bestimmung von scheinbar gänzlich außer-diskursiven „Praktiken“. 57 Durchaus plausibel kann das Dispositiv zwar, wie Boris Traue argumentiert, als eine „Gleichzeitigkeit und Verknüpftheit von sinnhaften Verweisungen, Zeichensystemen und nicht zeichenhaften Situationsmerkmalen“ gelten. 58 Vorab in sozialwissenschaftli-
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Sehens“ im Verhältnis zum „Wahr-Sprechen“ wie auch der „Sichtbarkeit aus dem Archiv“ (vgl. Hentschel, Linda: Einleitung, in: dies. (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 7-28, hier: S. 16; sowie Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 219ff., S. 170ff.). Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Occupy. Räume des Protests, Bielefeld 2012, S. 69. Vgl. Marchart, Oliver: Techno-Kolonialismus. Theorie und imaginäre Kartographie von Kultur und Medien, Wien 2004, S. 48. An dieser Stelle erscheint die Foucault’sche Diskurs- und Dispositivanalyse mit Ansätzen der Cultural Studies kompatibel, ließen sich die „Spiele der Wahrheit“ Foucaults doch mit einer „Signifikationspolitik“ im Hall’schen Sinne vergleichen (vgl. ebd.). Vgl. erneut Foucault: Spiel um die Psychoanalyse, a. a. O. [Anm. 6], S. 119f. Traue, Boris: Das Optionalisierungsdispositiv. Diskurse und Techniken der Beratung, in: Johannes Angermüller/Silke van Dyk (Hg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung, Frankfurt a.M. 2007, S. 237-260, hier: S. 241f.
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chen Adaptionen finden sich jedoch gravierende Umgewichtungen dieser Gleichzeitigkeit, welche die diskursiven Formationssysteme in den Hintergrund rücken, ja im Extremfall als bloßes Kontrastmittel für vermeintlich loslösbare Objektivationen und Institutionalisierungen missbrauchen. Anscheinend erhält etwa die wissenssoziologische Diskursanalyse die diskursive Konstitution des Dispositivs noch weitgehend aufrecht. Die Rede ist hier von Praktiken als „sozial konventionalisierte Arten und Weisen des Handelns, also typisierte Routinemodelle für Handlungsvollzüge“ 59 oder auch als „individuelle und kollektiv legitimierte Verhaltensweisen“. 60 Wenn damit historische Apriori der Konvention, Typisierung oder Legitimation auch jede Praxis diskursiv situieren, laden solche Konzeptualisierung doch ein, das Diskursive zu vernachlässigen. 61 Das zeigt sich in Studien wie dem von Andrea D. Bührmann und Werner Schneider verfassten Band mit dem programmatischen Titel Vom Diskurs zum Dispositiv, der den Spielen der Wahrheit de facto eine Absage erteilt. 62 Pointiert findet sich hier das Programm einer Dispositivanalyse, der es nur angeblich um mehr geht, als bloß empirische Formationen zu beschreiben: „Vielmehr geht es [der „Dispositivforschung“ (SaS)] um die Auseinandersetzung mit der Frage, welche (Wissens-)Elemente aus diskursiv vermittelten Wissensordnungen inwieweit ‚wirk-liche‘ (und insofern ‚machtvolle‘) Effekte zeitigen, als dass sie in der kollektiven wie individuellen Vermittlung im Selbst- wie Weltbezug handlungswirksam werden und dadurch (erst) auf jene Wissensordnungen zurückwirken können.“ 63
59 Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2011, S. 255, Herv. v. mir, SaS. 60 Hoffarth, Britta: Dispositiv 2.0. Wie Subjekte sich im Web 2.0 selbst und gegenVHLWLJ UHJLHUHQ LQ 3KLOLSSH 'UHHVHQàXNDV] .XPLĊJD&RQVWDQ]H 6SLH +J Mediendiskursanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden 2012, S. 207-227, hier: S. 212, Herv. v. mir, SaS. 61 Vgl. in diesem Sinne auch van Dyk, Silke: Verknüpfte Welt oder Foucault meets Latour: Zum Dispositiv als Assoziation, in: Robert Feustel/Maximilian Schochow (Hg.): Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld 2010, S. 169-196, hier: S. 176ff. 62 Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. Der Band liefert auch eine gute Übersicht über einschlägige weitere Veröffentlichungen. 63 Ebd., S. 152. Unter diesen Vorzeichen operationalisieren Bührmann und Schneider eine Dispositivanalyse mit vier „Leitfragen“, die „nach den Praktiken“, „nach den Subjektivationen/Subjektivierungen“, „nach den Objektivationen“ und schließlich „nach dem sozialen Wandel“ sowie „nicht intendierten (Neben-)Folgen“ sucht (vgl. ebd., S. 92ff.).
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So vorteilhaft sich die so verstandene Dispositivanalyse beispielswiese für deren Anschließbarkeit an die Akteur-Netzwerk-Theorie oder an ethnographische Methoden präsentiert, 64 widerspricht sie doch in zentralen Punkten der Foucault’schen Diskurs- und Machtanalyse und birgt deshalb die Gefahr beträchtlicher Verkürzung. Denn diskursive Ordnungen sind keineswegs, wie der Umkehrschluss obigen Zitates impliziert, ‚un-wirk-lich‘: Vielmehr determinieren die politischen Spiele der Wahrheit und ihre Grenzen der Sag- und Sichtbarkeit gleichermaßen Wirkung und Wirklichkeit, und zwar von Wissensregimen genauso wie von vergegenständlichten Ordnungen oder institutionellen Gefügen. Das bedeutet auch, dass audiovisuelle Archive keineswegs erst „in der kollektiven wie individuellen Vermittlung im Selbst- wie Weltbezug handlungswirksam werden“, sondern vielmehr die Bestimmung und Herausforderung desjenigen sind, was unter einem ‚Selbst‘ oder der ‚Welt‘ überhaupt verstehbar werden kann. Noch im Dispositiv gehen Diskurse den divergierenden Formen von Macht und Subjektivierung, die sich sehr wohl auch in Praktiken, Technologien und Institutionen niederschlagen, voraus. In seiner 1971 gehaltenen Vorlesung Der Wille zum Wissen spezifiziert Foucault in diesem Sinne den Begriff der Diskurspraktiken – exakt zu einem Zeitpunkt wohlgemerkt, in dem sich Die Ordnung des Diskurses einer Analytik der Macht zuwendet: „Die Diskurspraktiken sind keine bloßen Formen der Herstellung von Diskursen. Sie nehmen Gestalt an in technischen Komplexen, in Institutionen, in Verhaltensmustern, in Vermittlungs- und Verbreitungsformen, in pädagogischen Formen, die sie aufzwingen und aufrechterhalten.“ 65
Der umgekehrte Zugang, den Ansätze wie jener von Bührmann und Schneider wählen, riskiert dagegen unweigerlich in instituierten Einrichtungen oder tradierten Verhalten „Ursprung und Erklärung der Machtbeziehungen“ zu suchen und „letztlich also Macht durch Macht zu erklären“. 66 In dieselbe Falle tappen wohlgemerkt auch diejenigen medienwissenschaftliche Ansätze, die mediale Praktiken als materialistisch-technische Prozeduren re-interpretieren wollen. Denn das kulturelle Konstituens medialer Konfigurationen ist so tatsächlich nur noch in Siliziumchips, Silberschichten oder kinematographischen Kolorisationsverfahren verortbar. Die Heterogenität der Dispositive aber impliziert keinerlei Trennung von Diskursivem und Nicht-Diskursivem, sondern beschreibt disjunktive Sag- und
64 Vgl. etwa die programmatischen Ausführungen zu einem „Geschlechterdispositiv“ der Autorin und des Autors (ebd., S. 128f.). 65 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 294-299, hier: S. 295. 66 Foucault, Michel: Subjekt und Macht, in: ders.: Analytik der Macht, Frankfurt 2005, S. 240-263, hier: S. 258.
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Sichtbarkeitsordnungen in denjenigen Praktiken, Technologien und Institutionen, in denen sie als (mitunter subjektivierende) Machtbeziehung Gestalt annehmen. 67 Dispositive gehen, so schreibt auch Giorgio Agamben, „aus einer Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen hervor“, 68 weshalb Foucault zufolge „[z]wischen Wissenstechniken und Machtstrategien keine Äußerlichkeit besteht, auch wenn sie jeweils ihre spezifische Rolle haben und sich von ihrer Differenz aus aneinanderfügen“. 69 Mediendispositive bezeichnen dergestalt die Heterogenität medialer Diskurse und Evidenzen, die sich aufspannt in und zwischen der Vielfalt medialer Institutionen, Technologien, Praktiken, Räume etc., die ihrerseits Strategien produktiver Macht und subjektivierender Regime sind. Insofern sind Dispositivanalysen immer Diskursanalysen – und nur ihre eigentlich hinfällige, weil implizierte Kombination erlaubt die Analyse von Macht-WissenKomplexen. 70 Dispositive der Macht Die diskursarchäologisch erfassbaren Linien der Sag- und Sichtbarkeit erlangen ihr strategisches Arrangement durch vektorielle Machtbeziehungen, die Gilles Deleuze als dritte Dispositivdimension der Kräftelinien beschreibt: „Drittens schließt ein Dispositiv Kräftelinien mit ein. […] [S]ie ‚richten‘ die vorangehenden Kurven [der Sag- und Sichtbarkeit (SaS)] gewissermaßen ‚neu aus‘, sie ziehen Tangenten und entwickeln Verlaufskurven von einer Linie zur anderen, bewerkstelligen das Kommen-und-Gehen vom Sehen zum Sprechen und anders herum,
67 Vgl. in diesem Sinne auch die Ausführungen von Daniel Wrana und Antje Langer: „Diskursive und nicht-diskursive Praktiken sind nicht zwei Wirklichkeitsbereiche, die zunächst voneinander getrennt untersucht werden können, um anschließend zu fragen, wie das eine auf das andere wirkt. Am konkreten Forschungsgegenstand zeigt sich, dass Diskursives und Nicht-Diskursives in der gesellschaftlichen Praxis untrennbar verbunden sind.“ (Wrana, Daniel/Langer, Antje: An den Rändern der Diskurse. Jenseits der Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8(2), 2007, URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702206.) 68 Agamben: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 41], S. 9. 69 Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 4], S. 98. 70 Vgl. für eine vergleichbare Interpretation im Kontext von Gouvernementalitätsstudien: Bröckling, Ulrich/Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7-39, hier: S. 24.
76 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN wobei sie wie Pfeile agieren, die unablässig die Worte und die Dinge durchkreuzen und nicht aufhören, um diese den Kampf zu führen.“ 71
Deshalb bilden für Foucault die Dispositive den Ausgangspunkt einer Analytik der Macht, die sich in mehrfacher Hinsicht von klassischen Herrschafts- und Hegemonietheorien von Hobbes bis Marx absetzt. 72 Denn die heterogenen Dispositive brechen erstens mit einer Macht im Singular und gehen vielmehr von pluralisierten Mächten aus, sie untersuchen „lokale und regionale Formen von Macht“, die es „in ihrer geschichtlichen und geographischen Besonderheit zu erfassen“ gilt. 73 Schon deshalb ist Macht nicht institutionalisiert zu denken, die Mächte dürfen zweitens „nicht einfach als Ableitung oder Folge einer ursprünglich zu denkenden zentralen Macht verstanden werden“. 74 Können Dispositive außerdem als Maschinen gelten, die sagen und sehen machen, sind Machtbeziehungen drittens folgerichtig höchst produktiv: Es ist, „keineswegs die Hauptfunktion dieser besonderen, regionalen Mächte, zu verbieten, zu verhindern“, ihre „dauerhafte Funktion“ liegt vielmehr „in der Herstellung von Effizienz, von Fähigkeiten, von Produzenten eines Produkts“. 75 Viertens schließlich können die Mächte als „Machtmechanismen und Machtverfahren“ verstanden werden, d.h. als Techniken, „die erfunden und verbessert und ständig weiterentwickelt werden“. 76 Was Dispositivanalysen zu Tage fördern, sind deshalb „Technologien der Macht oder besser der Mächte“. 77 Foucaults Verständnis von Machttechnologien umfasst so, wie Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann zu Recht bemerken, „sowohl technische Artefakte wie Sozial- und Selbsttechnologien“, d.h. gleichermaßen „Arrangements von Maschinen, mediale Netzwerke, Aufschreibe- und Visualisierungssysteme, architektonische Ensembles“ aber auch Formen der „sanktionierenden, disziplinierenden, normalisierenden, ‚empowernden‘, versichernden, präventiven usw. Verfahren“. 78 Mediendispositive operationalisieren
71 Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 154. 72 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch Vgl. Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin 2003, S. 91ff. sowie Kämpf, Heike: Die gesellschaftskonstituierende Dimension der Macht. Zum Verhältnis von Wissen, Macht und Recht in Foucaults Genealogie der modernen Gesellschaft, in: Ralf Krause/Marc Rölli (Hg.): Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 85-98. 2008. 73 Foucault: Maschen der Macht, a. a. O. [Anm. 35], S. 224. 74 Ebd., S. 225. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 226. 77 Ebd. 78 Vgl. Bröckling/Krasmann: Ni méthode, ni approche, a. a. O. [Anm. 70], S. 27. Anzumerken ist, dass Bröckling und Krasmann den Vorteil, Mächte als Techno-
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dergestalt durchaus spezifische Übermittlungs-, Speicher- und Verarbeitungstechniken, doch markieren diese weder den Ursprungsort noch eine Autonomie medialer Machteffekte. Vielmehr sind mediale Technologien das Produkt von Machttechnologien und korrespondieren Sag- und Sichtbarkeitsordnungen. 79 Denn Macht, so expliziert Deleuze, hat ‚selbst‘ keine Form, sie ist ein „Kräfteverhältnis“, das „nicht wie das Wissen zwischen zwei Formen besteht“. 80 Und da „Kraft kein anderes Objekt besitzt als andere Kräfte“, verfügt Macht über „kein anderes Sein […] als das eines Verhältnisses“ 81. Beispielsweise lässt sich das Panopticon, das Foucault ausführlich in Überwachen und Strafen untersucht, keineswegs auf den Gefängnisbau beschränken: „[E]s ist das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus, […] eine Gestalt politischer Technologie“, 82 die letztlich in verschiedenen Kontexten zur Anwendung gelangen kann. 83 Ihrem Wesen nach sind Machtbeziehungen formlos, aber sie aktualisieren sich in den Aussageordnungen der Diskurse und manifestieren sich in Sichtbar-
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logien zu aktualisieren vor allem in Ansätzen der Gouvernementalitätsforschung verorten. Das ist zweifelsohne zutreffend, gilt m.E. aber ganz grundsätzlich für die Foucault’sche Analytik der Macht, für eine Untersuchung von Disziplinarregimen also genauso wie für die Dekonstruktion eines juridisch-vertraglichen Souveränitätsbegriffs. Untersuchungen, die diese Perspektive der Dispositivanalysen im Feld der Medien produktiv machen, beschäftigen sich dann beispielsweise mit den Normalisierungsstrategien massenmedialer Infografiken, zeichnen in Regulierungs- und Verdatungspraktiken moderner Suchmaschinen Disziplinartechnologien und Kontrollmentalitäten nach oder interpretieren globalisierte Videoüberwachungssysteme als Chiffre einer Gouvernementalität der Gegenwart (vgl. Link, Jürgen: Medien und Krise. Oder: kommt die Denormalisierung nicht ‚auf Sendung‘? in: Ralf Adelmann/Jan-Otmar Hesse/Judith Keilbach/Markus Stauff/Matthias Thiele (Hg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medienund Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 229-244; Röhle, Theo: Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets, Bielefeld 2010, S. 163165, S. 226-228, S. 229-235; Krasmann, Susanne: Mobilität. Videoüberwachung als Chiffre einer Gouvernementalität der Gegenwart, in: Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2005, S. 308-324.). Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 99. Ebd. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976, S. 264. So etwa in den Fabriken, Schulen, Kasernen oder Spitälern (vgl. ebd., S. 292.), gegenwärtig gewiss auch in den gesteigerten Formen der Videoüberwachung des öffentlichen Raumes oder in den Blickregimen vieler Formate des sogenannten ‚Reality-TVs‘.
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keitsregimen. Von daher kann Deleuze Macht treffend als stummen und blinden Maulwurf bezeichnen, der gleichwohl sprechen und sehen macht: „Ohne Zweifel, die Macht sieht nichts und sagt nichts, wenn man sie abstrakt betrachtet. Sie ist ein Maulwurf, der sich nur im Netz seiner Gänge, seines multiplen Baus auskennt. […] Gerade indem sie nie nicht spricht und nicht sieht, bringt sie zum Sehen und Sprechen.“ 84
Insofern bilden die Mächte ein „Außen“, „die Strategien oder das NichtGeschichtete“ gegenüber den Schichten der Sag- und Sichtbarkeit, auch wenn sich beide wechselseitig voraussetzen und vereinnahmen. 85 Doch beschreibt ein Dispositiv niemals eine permanent verfugte Ordnung. Schon die Diskursarchäologie fördert Schichten des Sag- und Sichtbaren und keine zeitunabhängigen Redeweisen oder Blickregime zu Tage. Den Kräfteverhältnisse der Macht ist, wie Deleuze betont, zugleich die Möglichkeit eingeschrieben, „(andere) Kräfte zu affizieren und (von wiederum anderen) affiziert zu werden“. 86 Hierin gründet die strategische Rationalität des Dispositivs: Foucault impliziert weder eine globale noch eine vernünftige Rationalisierung, sondern „spezifische Rationalitäten“ im Plural. 87 Macht aktualisiert von außerhalb die diagrammatischen Diskurs- und Evidenzordnungen, eben deshalb bleiben diese Aktualisierungen aber Spielball immer neuer diagrammatischer Machtvektoren. Für Deleuze ist das Außen der Macht deshalb „stets die Öffnung einer Zukunft, mit der nichts endet, da nichts begonnen hat, sondern in der alles sich wandelt“. Folgerichtig lautet „das letzte Wort der Macht“ dann, „dass der Widerstand primär ist“. 88 Wie schon in der Diskursarchäologie das Nicht-Gesagte im Gesagten, das NichtSichtbare als Horizont des Sichtbaren aufbegehrt, wendet sich Foucault auch
84 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 115. Kaum zufällig gilt der Bau des Maulwurfes bei Gilles Deleuzes und Félix Guattari als ein rhizomatisches Geflecht, das gerade ein ständiges Wuchern und Einbrechen von Machtbeziehungen und Kräfteverhältnissen impliziert (vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 2005, S. 16.). 85 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 103. 86 Ebd., S. 101. 87 Foucault: Subjekt und Macht, a. a. O. [Anm. 66], S. 242f; vgl. auch Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 117. Überhaupt hält Foucault „das Wort ‚Rationalisierung“ für gefährlich“, denn „[w]enn Leute etwas zu rationalisieren versuchen, liegt das Hauptproblem nicht darin, zu untersuchen, ob sie sich nach Rationalisierungsgrundsätzen richten oder nicht, sondern herauszufinden, welchen Typ von Rationalität sie anwenden“ (Foucault, Michel: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 65-93, hier: S. 66.). 88 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 125, Herv. i. Orig.
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hier gegen einen rein negativen Begriff des Mächtigen 89 und wählt explizit „den jeweiligen Widerstand gegen die verschiedenen Formen von Macht“ 90 als Ausgangspunkt. Subjektivierungslinien „Am Ende“, so schreibt Deleuze, „entdeckt Foucault die Subjektivierungslinien“, eine Entdeckung, „die dermaßen viele Mißverständnisse hervorgerufen [hat], daß man sich bemühen muß, deren Bedingungen genauer darzustellen“. 91 Schon die Archäologie des Wissens anerkennt keinerlei vorgängige, geschweige denn natürliche oder transzendentale Subjektivität, sondern spricht von „Positionen“ oder „institutionellen Plätze[n]“, 92 von denen aus in einer diskursiven Formation gesprochen werden kann. Aus diskursarchäologischer Warte gibt es deshalb keinerlei „Einheit eines Subjekts“. 93 Hingegen lässt sich das Verhältnis von Diskurs und Subjekt durchaus als eines der „Gleichursprünglichkeit“ denken, wenn es, wie Martin Nonhoff und Jennifer Gronau vorschlagen, in Zyklen „gegenseitiger Reproduktion“ aufgefasst wird: „Diskurse halten Subjektpositionen als jene Orte bereit, an denen Individuen als Subjekte in den Diskurs sinnhaft eintreten können, indem sie artikulieren; mit ihren Artikulationen erscheinen Subjekte aber nicht nur im Diskurs, sondern sie spinnen wiederum den Diskurs und dabei auch die Relationsnetze von Subjektpositionen fort, die wiederum als mögliche Orte der Subjektivierung angeboten werden. Nimmt man diese Prozesse gegenseitiger Reproduktion ernst, so erlaubt das […] nur die eine sinnvolle Schlussfolgerung, das Verhältnis von Diskurs und Subjekt als eines der Gleichursprünglichkeit zu begreifen.“ 94
89 „Wie kommt es, dass unsere Gesellschaft und die westliche Gesellschaft schlechthin Macht so restriktiv, so arm, so negativ versteht? Warum denken wir bei Macht immer an Gesetz und Verbot? Warum diese Privilegierung?“ (Foucault: Maschen der Macht, a. a. O. [Anm. 35], S. 222.). 90 Foucault: Subjekt und Macht, a. a. O. [Anm. 66], S. 243. 91 Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 155. 92 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 76, S. 78. 93 Gehring, Petra: Abseits des Akteurs-Subjekts, in: Reiner Keller/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 21-33, hier:, S. 22. 94 Nonhoff, Martin/Gronau, Jennifer: Die Freiheit des Subjekts im Diskurs. Anmerkungen zu einem Verhältnis der Gleichursprünglichkeit, in: Reiner Keller/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 109-130, hier: S. 123.
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Vergleichbar lassen sich Subjektivierungsweisen zu den Technologien der Macht in Bezug setzen. Überwachen und Strafen etwa behandelt Subjektivität „vor allem unter dem Gesichtspunkt von ‚gelehrigen Körpern‘ […] und [verfolgt] ihre ‚Produktion‘ in Disziplinartechnologien“. 95 Noch den disziplinarischen Subjektivierungsregimen ist aber – vergleichbar mit der Gleichursprünglichkeit von Diskurs und Subjekt – ein Paradox inhärent, wie Ulrich Bröckling zu Recht konstatiert: „Ein Subjekt oder Selbst […] zu werden, ist ein paradoxer Vorgang, bei dem aktive und passive Momente, Fremd- und Selbststeuerung unauflösbar ineinander verwoben sind: […] Auf der einen Seite ist die Macht, verstanden als Ensemble der Kräfte, die auf das Subjekt einwirken, diesem vorgängig. Das Subjekt ist weder ausschließlich gefügiges Opfer, noch nur eigensinniger Opponent von Machtinterventionen, sondern immer schon deren Effekt. Auf der anderen Seite kann Macht nur gegenüber Subjekten ausgeübt werden, setzt diese also voraus. Sie beruht auf der Kontingenz des Handelns, das sie zu beeinflussen sucht, und damit auf einem unhintergehbaren Moment von Freiheit.“ 96
Dieser gewissermaßen gleichursprünglich-paradoxen Triade von Diskurs, Macht und Subjekt ist zweifelsohne geschuldet, dass Subjekt und Subjektivierung im Foucault’schen Sinne gerade denjenigen Disziplinen Schwierigkeiten bereiten, „die gleichsam Originaltöne der Realität verarbeiten wollen“, eben etwa „Akteure, Handlungen, Verhaltensweisen als Teil einer beobachtbaren Objektwelt, die sich szientifischen Methoden fraglos fügen würde“. 97 Foucaults verstärkte Betonung von Subjekt und Subjektivierung fällt zeitlich mit seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität zusammen, werden aber vor allem im zweiten Band von Sexualität und Wahrheit ausgearbeitet. Zu den Wissensregimen und Machttechnologien treten nun die „Formen, in denen sich die Individuen als Subjekte dieser Sexualität (an)erkennen können und müssen“. 98 Hier scheint eine „Dimension der Subjektivität“ auf, die sich Deleuze zufolge freilich „von der Macht und vom Wissen herleitet, aber nicht von dort abhängig ist“. 99 Die „Technologien des Selbst“, die Foucault damit in seine Diskurs- und Machtanalyse einführt, leugnen keinesfalls ihre Verbindungen zu den Mächten, sie korrigieren zugleich aber
95 Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 255. 96 Bröckling, Ulrich: Der Ruf des Polizisten. Die Regierung des Selbst und ihre Widerstände, in: Reiner Keller/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 131-144, hier: S. 132. 97 Gehring: Abseits des Akteurs-Subjekts, a. a. O. [Anm. 93], S. 32. 98 Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 10. 99 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 142.
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auch „mögliche deterministische Interpretationen einer ‚Genealogie der Macht‘“ 100. In einem gleichnamigen Text benennt Foucault dementsprechend die „Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen […].“ 101
Über die Selbsttechnologien gelingt es Foucault, die „Fluchtlinien“ 102 der Subjektivierung als „konkret-historische Konstruktion“ 103 zu fassen: Gibt es darin auch „keine einfache Determination der Selbsttechniken durch Herrschaftstechniken“, 104 so stehen Subjekt und Macht doch in einer Wechselwirkung, die gleichsam produktive wie auch widersprüchliche Effekte zeitigt. Deshalb konzentriert sich die Dispositivanalyse nun auf die brüchigen Fugen der Kräfte- und Subjektivierungslinien. In einem Vortrag am Dartmouth College erläutert Foucault im Herbst 1980: „I think that if one wants to analyze the genealogy of the subject in Western civilization, he has to take into account not only techniques of domination but also techniques of the self. Let's say: he has to take into account the interaction between those two types of techniques—techniques of domination and techniques of the self. He has to take into account the points where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself. And conversely, he has to take into account the points where the techniques of the self are integrated into structures of coercion or domination.“ 105
Die vierte Dispositivdimension der Subjektivierungslinien ist der Macht nicht zwingend unterworfen, sondern vermag ihre Diagrammatik mitunter zu aktualisieren. , „Aktualisieren“, so Gilles Deleuze, meint in diesem Kontext „sich integrieren und zugleich sich differenzieren“. 106 Noch die ausgeklügeltsten Wahrheitsregime und Machttechnologien überschlagen und ver-
100 Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 259. 101 Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 966-999, hier: S. 968. 102 Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 155. 103 Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 262. 104 Ebd., S. 259. 105 Foucault, Michel: About the Beginning of the Hermeneutics of the Self, in: Political Theory, Bd. 21, Nr. 2, 1993, S. 198-227, hier: S. 203. Daher auch Foucaults Insistieren ab den 1980er Jahren, Machtbeziehungen als ein gouvernementales Spiel zwischen Regierungs- und Selbsttechnologien zu fassen: „The contact point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government“ (vgl. ebd.). 106 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 171.
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biegen sich dort, wo sie Subjektivitäten zu erzeugen oder transformieren suchen. Subjektivierung, so das Deleuzianische Denkbild, „vollzieht sich durch Faltung“. 107 Das ‚Innen‘ der Subjektivität ist deshalb niemals gegeben oder natürlich, weil es sich „durch das Falten des Außen bildet“. 108 Und das ‚Außen‘ bildet keine transzendentale Universalie, sondern bezeichnet vielmehr die „Struktur des Transzendentalen“, d.h. die Überschreitung der Überschreitung selbst, wie Mirjam Schaub erörtert: „Wenn der Mensch und sein Denken keine Grenze mehr außerhalb seiner/ihrer selbst hat, wird er/es selbst zu seiner/ihrer eigenen Grenze. Die Grenze verlagert sich nach innen, wird immanent und kann genau aus diesem Grund nicht mehr überschritten werden. […] Der Begriff des Außen charakterisiert die Unmöglichkeit, sich nicht an sich als etwas zu wenden, was das Eigene in fremdem Gewand wäre. Es ist die Struktur des Transzendentalen (als die uns eigene Natur), die in der Immanenzphilosophie als Falte im Wissen überlebt hat. Das Konzept der Grenze hinter sich zu lassen, heißt, das Überschreiten selbst zu überschreiten.“ 109
Drei sich gegenseitig bedingende und durchkreuzende Dimensionen bestimmen die Dispositive der Macht: Zunächst die archäologischen Schichten des Wissens, die „unablässig etwas Neues sehen oder sagen lassen“, dann ein „Kräftediagramm oder ein Diagramm der in die Kräfteverhältnisse eingegangen Singularitäten“, und schließlich ein „Bezug[] zu sich“, der immer „neue Weisen der Subjektivierung“ hervorruft und produziert. 110 Das dispositive Gleichgewicht ist freilich stets ein fragiles. Auch Mediendispositive müssen deshalb – die intermedialen Konvergenz- und Hybridisierungsbewegungen liefern hierfür gewiss ein hochaktuelles Indiz – beständig auf vermeintlich Unsag- und Unsichtbares, auf neue Kräfteverhältnisse oder auf subjektive Fluchtlinien reagieren.
107 Ebd., S. 146. 108 Ebd., S. 168. 109 Schaub, Mirjam: Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003, S. 244, Herv. i. Orig. 110 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 169, S. 171.
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3.2. M IKRO - UND M AKROPOLITIK . Z UR M ACHT MEDIALER D ISPOSITIVE „Ob gut oder schlecht, die Politik und ihre Beurteilungen sind immer molar, aber es ist das Molekulare mit seinen Einschätzungen, das sie ‚macht‘.“ 111
In den von Michel Foucault beschriebenen Dispositiven des disziplinarischen Strafsystems oder der Sexualität spielen Medien vermeintlich nur eine untergeordnete Rolle, zumindest werden sie wenig explizit thematisiert. Gewiss entfalten auch hier mediale Infrastrukturen disponierende Kräfte, etwa die disziplinarischen Registrierungstechniken, Bauten panoptischer Sichtbarkeit, statistische Verfahren oder pastorale Beichtstühle. Damit können die Dispositive des Disziplinarischen und der Sexualität als medial im weitesten Sinne gelten, weil Medien in ihrem Funktionsumfang eine gewisse Rolle spielen. Von Mediendispositiven im engeren, einzel- oder intermedialen Sinne kann dabei indes nicht die Rede sein. So vielversprechend die medientheoretische Adaption der Dispositive hinsichtlich des unbestritten machtvollen und subjektivierenden Wirkens medialen Vermittlungsgeschehen ist, so schwierig scheint – wird ihre Heterogenität wahrlich ernstgenommen – daraus eine medienwissenschaftlich konkrete Analytik ableitbar. Die gegenwärtig aus intermedialen Hybriden nur mühsam noch herauslösbaren Einzelmedien sind symptomatisch für eine grundsätzlichere Problematik des Untersuchungsmaßstabes, die sich jeder Medienanalyse stellt. Noch in gegenwärtigen Überwachungsarchitekturen sind beispielsweise Videokamera und Monitor die medialen Bausteine panoptischer Blickregime. Doch machen Medientechnologien allein den Panoptismus einer Disziplinarmacht nicht aus, vielmehr werden diese von normierenden Wissensregimen und dynamischen Kontrollsystemen flankiert und eingebettet. Anstelle einer Macht der Medien scheinen in Dispositiven viel eher Medien der Macht auf. In diesem Sinne sind Mediendispositive als „komplexe, heterogene, aber doch stets distinkte apparative Einheiten“ 112 von medialen Dispositiven zu unterscheiden. Unter letzteren sind all jene dispositiven Ensembles zu verstehen, in denen Medien als ein heterogener Faktor unter anderen fungieren, sich also beispielsweise in ein Verhältnis zu vornehmlich gesellschaftlich, ökonomisch, kulturell oder staatspolitisch konnotierten Aspekten eines Dispositivs setzen. Ein solches Denken medialer Mächte impliziert freilich, wie auch Markus Stauff bemerkt, eine „radikale Kontextualisierung“, werden Medien darin doch zu einem „Rädchen im ‚Räderwerk‘
111 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 303. 112 Thiele: Mediendispositiv, a. a. O. [Anm. 44], S. 43.
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der Macht“, d.h. die „spezifischen und immanenten Funktionsweisen einzelner Medien“ erfahren hier eine Abschwächung. 113 Zur Debatte steht zwischen Mediendispositiven und medialen Dispositiven nicht weniger als eine „Neu-Akzentuierung“, ja „eine Infragestellung und Neubestimmung des Gegenstands der Medienwissenschaft“. 114 Mediendispositive – mediale Dispositive Gleichsam unscharf zwischen machtkonstituierenden Medien und medienprägender Macht flottierend, entspricht eine Medientheorie der Dispositive allerdings dem produktiverweise traditionell breiten Feld kulturwissenschaftlicher Medienanalysen. Dem noch im Zeitalter digitaler Netzmedien oft als „Leitmedium“ diskursivierten Fernsehen 115 wird beispielsweise nach wie vor „eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit“ 116 zugesprochen. Die televisuellen Unterhaltungs- und Inszenierungsregime gründen zunächst gewiss in der intermedialen Kreuzung älterer Medienformate. Das „Dispositiv Fernsehen“, das etwa Knut Hickethier beschreibt, ist vermittels der „Nähe der dispositiven Anordnung von Kino und Fernsehen“ beschreibbar, wobei der vor dem Bildschirm verharrende Zuschauer zugleich „der jahrhundertealten Tradition der Gottesdienste im kirchlichen Dispositiv“ und der „Beweglichkeit des Hörers im Radiodispositiv“ entspricht. 117 In jüngerer Vergangenheit hat sich das Fernsehen mittels Split-Screens, News-Tickern und Fenster-Optik zudem einer Ästhetik des Computerbildschirms angenähert. 118 Damit stellt sich nicht nur die Frage, ob eine Historisierung televisueller Mediendisposi-
113 Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 119. 114 Ebd., S. 121. 115 Zur Ambivalenz des Begriffs des „Leitmediums“, in dem dieselbe Frage der adäquaten ‚Skalierung‘ medialer Macht rumort, vgl. insbesondere die Einleitung zum Doppelband Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte sowie die vielfältigen Beiträge aus Medien- wie Kommunikationswissenschaft in beiden Bänden (vgl. Müller, Daniel/Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter (Hg.): Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, 2. Bde., Bielefeld 2009.). 116 Göttlich, Udo: Massenmedium, in: Helmut Schanze (Hg.): Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, Stuttgart, Weimar 2002, S. 193-194, hier: S. 194. 117 Vgl. Hickethier: Dispositiv Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 64ff. 118 Nadja Elia-Borer hat in dieser Hinsicht überzeugend gezeigt, dass das Fernsehen, indem es andere mediale und künstlerische Formate appropriiert, zugleich von deren Dynamiken affektiert wird (vgl. Elia-Borer, Nadja: Televisuelle Blickstrategien. Zur Ästhetik von Kulturmagazinen, in: dies./Samuel Sieber/Georg Christoph Tholen: Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld 2011, S. 135-154.).
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tive, etwa in ein „Paläo-“ und ein „Neo-Fernsehen“, 119 nicht vielmehr als „fortwährendes Experiment“ 120 zu denken wäre: Resultat dieser Experimente sind die formatspezifische „Durchsetzung von ‚Zeitleisten‘ […] einer gleichbleibenden vertikalen Schichtung der Programme“, genauso wie ein breiter verstandenes „Interesse des Staates und gesellschaftlicher Machtinstitutionen an der Fernsehkommunikation“. 121 Insofern das Fernsehen also Platzhalter eines „massenhaft wirksame[n] Wahrnehmungsdispositiv[s]“ 122 ist, markiert es einen „Überschneidungsmoment zwischen Medien und anderen kulturellen oder gesellschaftlichen Mechanismen“. 123 Für Johanna Dorer symbolisiert die Mediengeschichte des Fernsehens analog einen Wandel von Informationsdispositiven hin zu Kommunikationsdispositiven zwischen dem späteren 19. und dem Ende des 20. Jahrhunderts: „In einem Zusammenspiel mobiler, polymorpher Machttechniken, die sich insbesondere bezüglich der Entwicklung der Kommunikationstechnologien sowie der kommunikativen Techniken nachzeichnen läßt, ist eine schrittweise Ablösung des Informationsdispositivs durch die Herausbildung eines Kommunikationsdispositivs in Gang gesetzt worden.“ 124
Das Zusammenspiel von Macht und Medientechnologien besteht im Informationsdispositiv, das bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wirksam ist, zwischen ‚klassischen‘ Massenmedien, ihrer staatlichen Zensur und den
119 Vgl. Casetti, Francesco/Odin, Roger: Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semio-pragmatischer Ansatz, in: Ralf Adelmann/Jan O. Hesse/Judith Keilbach/Markus Stauff/Matthias Thiele (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2001, S. 311-334. 120 Keilbach, Judith/Stauff, Markus: Fernsehen als fortwährendes Experiment. Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums, in: Nadja EliaBorer/Samuel Sieber/Georg Christoph Tholen (Hg.): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld 2011, S. 155-181. 121 Vgl. Hickethier: Dispositiv Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 71ff. 122 Hickethier: Dispositiv Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 67. 123 .XPLĊJDàXNDV]0HGLHQLP6SDQQXQJVIHOG]ZLVFKHQ'LVNXUVXQG'LVSRVLWLY in: Philippe Dreesen/ders./Constanze Spieß (Hg.): Mediendiskursanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden 2012, S. 25-45, hier: S. 37. Schon Theodor W. Adorno schreibt in seinem „Prolog zum Fernsehen“, dass „die gesellschaftlichen, technischen, künstlerischen Aspekte des Fernsehens […] nicht isoliert“ zu behandeln sind (vgl. Adorno, Theodor W.: Prolog zum Fernsehen, in: ders.: Eingriffe. Neun Kritische Modelle, Frankfurt a.M. 2003, S. 69-79, hier: S. 69.). Ähnlichen Symbolwert hat das Massenkommunikationsmittel Fernsehen für Guy Debords Gesellschaft des Spektakels (vgl. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 22.). 124 Dorer: Genealogie des Kommunikationsdispositivs, a. a. O. [Anm.28], S. 297.
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korrespondierenden „journalistischen Techniken einer ‚Hofberichtserstattung‘“. 125 Ab den 1950er Jahren verkehrt sich dieses Dispositivs jedoch in einen kategorischen Imperativ zur ständigen, mehrdimensionalen Rede, die auch am Rande die Rede über das Nicht-Gesagte hervorbringt“. 126 (Mit-)Auslöser dieser Bewegung sind gerade Ausdifferenzierung und Expansion von Print- und Rundfunkmedien. Die „stete Vermehrung der Produktion von Wahrheit“, so Dorer, erfolgt „via Vervielfältigung der Kommunikationstechnologien und via der dadurch möglich gewordenen Vielfalt kommunikativer Formen“. 127 Die Entwicklung televisueller Technologien dient hier einer Art „Abbild des Dispositivs ‚im Kleinen‘“, 128 das Fernsehen ist Indiz und Beleg für diagrammatische Verschiebungen von einer verbietenden Straf- und Repressions- hin zu einer anreizenden Wissens- und Kontrollmacht. 129 Dafür spricht auch, dass die Digitalisierung des Fernsehempfangs – näherhin via Smartphone steuerbare Sendungsaufzeichnung, zeitversetzt abrufbare Programme oder die Möglichkeit, laufende Sendung beliebig zu pausieren – inzwischen den vormals passiv taxierter Zuschauer tatsächlich als „Auftraggeber“, „Teilnehmer“ und „Begutachter“ fungieren lässt. 130 In Der Wille zum Wissen schreibt Foucault in Hinblick auf die schon in Überwachen und Strafen behandelte „Mikrophysik der Macht“: „Man muss eher davon ausgehen, dass die vielfältigen Kraftverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltungen dienen. Diese bilden eine große Kraftlinie, die die lokalen Konfrontationen durchkreuzt und verbindet […].“ 131
Ganz in diesem Sinne bestehen für Deleuze die Dispositive bei Foucault einerseits „aus einer diffusen, heterogenen Mannigfaltigkeit, aus MikroDispositiven“, verweisen andererseits aber „auf ein Diagramm, auf eine Art
125 Ebd., S: 296f. 126 Ebd., S: 299. 127 Ebd., S. 299f. Der einem Geständniszwang gleichkommende Imperativ zur öffentlichen Rede ist den Medien von nun an als „Machttechnik der Normierung und Disziplinierung“ eingeschrieben, manifestiert sich aber beispielsweise auch in der Etablierung von PR- und Marketing-Prozeduren, die strategisch auf den „Positionswechsel innerhalb des Dispositivs“ reagieren (vgl. ebd., S. 301, sowie Dorer, Johanna/Marschik, Matthias: Kommunikation und Macht. Public Relations – eine Annäherung, Wien 1993, S. 24ff.). 128 Ebd., S. 23. 129 Vgl. Dorer: Genealogie des Kommunikationsdispositivs, a. a. O. [Anm.28], S. 302. 130 Vgl. Casetti/Odin: Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen, a. a. O. [Anm. 119], S. 314. 131 Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 4], S. 95.
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abstrakte Maschine, die dem ganzen gesellschaftlichen Feld immanent ist“. 132 Diese Differenzierung von Mikro- oder Makrodispositiven zeigt indes weder für Foucault noch für Deleuze einen dichotomischen Gegensatz an. Was Deleuze als Mikrodispositive bezeichnet, meint bei Foucault die lokalen oder regionalen und insofern ‚isoliert‘ beschreibbaren Machteffekte. Makrodispositive betonen dagegen eher die Diagrammatik der Macht: Weitet ein Mikrodispositiv sich aus, kongruiert und transformiert es sich mit weiteren Mikrodispositiven, so bildet es eine breitere Kraftlinie, deren diagrammatisches Schema die Ausrichtung weiterer Sag- und Sichtbarkeitsfelder organisiert. Foucaults Machtanalysen sind voller Beispiele für diese Verschränkung: Die Disziplinartechniken der Lokalisierung und Parzellierung beispielsweise nehmen ihren Ausgang in Schulen, Klöstern und Spitälern, doch ihre Diagrammatik der „lebenden Tableaus“ 133 erstreckt sich von hieraus in weitere Felder, beispielsweise in die Unterteilung der pestverseuchten Städte, die mit einem „Kontrollnetz“ überzogen werden. 134 Die Differenzierung von Mikro- und Makrodispositiven gleicht dergestalt eher einer analytischen Trennung, denn erst die fließenden Übergänge vom Lokalen zum Diagrammatischen und umgekehrt machen die Kraft der Dispositive aus. Die „miniaturisierte[n] Mechanismen“ und „molekulare[n] Brennpunkte“ der Mikrodispositive sind letztendlich nichts anderes als „Singularitäten eines abstrakten Diagramms, das dem gesamten gesellschaftlichen Feld koextensiv ist“. 135 Gilles Deleuze verdeutlicht das Zusammenspiel von Mikro- und Makrodispositiven begrifflich alternativ mit konkreten und abstrakten Maschinen: „Die konkreten Maschinen, das sind die Einrichtungen, die aus zwei Formen bestehenden Dispositive; die abstrakte Maschine, das ist das informelle Diagramm“. 136
132 Deleuze, Gilles: Lust und Begehren, Berlin 1996, S. 15. 133 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 82], S. 181ff, S. 190. Gemeint sind Techniken der Parzellierungen und Rasterung, etwa vermittels spezifischen Notations- und Darstellungsweisen in Gefängnisanlagen oder militärischen Institutionen. 134 Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a.M. 2004, S. 25. 135 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 296. 136 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 59; vgl. auch Deleuze: Lust und Begehren, a. a. O. [Anm. 132], S. 15f. Ulrike Haß interpretiert in diese begriffliche Differenz Deleuzes, die auch in dessen mit Félix Guattari verfassten Arbeiten erneut auftaucht, vorab die konkreten Maschinen als Dispositive im Foucault’schen Sinne. Das dispositive Zusammenspiel von (formalem) Wissen und (informeller) Macht scheint mir indes gerade charakteristisch für eine unhintergehbare Verschränkung von Mikro- und Makrodispositiven, d.h. auch von konkreten und abstrakten Maschinen (vgl. Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2004, S. 55.).
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Makrodispositive gründen nicht nur in Mikrodispositiven, sie bestehen zugleich aus ihren mikrophysikalischen Singularitäten. Diese maßgebliche Verschachtelung betrifft auch das Zusammenspiel von einzel- oder intermedial konturierbaren Mediendispositiven mit gesellschaftlich und kulturell breitenwirksamen medialen Dispositiven. Mikro- und Makrodispositive erlauben es, wie Matthias Thiele schreibt, „andere, nicht deckungsgleiche Verhältnisse zwischen Medien und Dispositiven zu denken“. 137 Markus Stauff zufolge können Erstere als „Mechanismus innerhalb von Gesamtdispositiven“ gelten, umgekehrt müssen sie, insofern sie aus heterogenen Prozessen entstehen, zugleich auf ihre „Teilmechanismen befragt werden, im Falle des Fernsehens beispielsweise auf „statistische[] Verfahren“ oder „medizinische[] Visualisierungstechniken“. 138 Mikro- und Makropolitiken der Macht Die Adaption von Mikro- und Makrodispositiven auf mediale Konfigurationen impliziert allerdings mehr das bloße Spiel mit einem skalierbaren Analysemaßstab. Sie akzentuiert zugleich die mitunter widerspenstigen Subjektivierungslinien, um die sich jede Machttechnologie windet. Das zeigt sich in einer mikro- und makropolitischen Lektüre der (medialen) Dispositive der Macht. Die von Gilles Deleuze und Félix Guattari ausgearbeiteten Begriffe der Mikro- und Makropolitik gründen auf einem Prinzip ‚räumlicher‘ Verteilungen: „Man wird von allen Seiten und in alle Richtungen segmentarisiert“, schreiben Deleuze und Guattari. Binäre Segmentarisierungen in Klassen oder Geschlechter, zirkuläre Segmentarisierungen in wachsende Kreise oder Kränze und schließlich lineare Segmentarisierungen in Prozesse der Familie, Schule, Armee oder Beruf organisieren das Leben „räumlich und gesellschaftlich“. 139 Wie das Dispositiv gehen auch diese Segmentaritäten über eine vermeintliche Zentralität der Macht hinaus, indem sie ein Gefüge aus mikro- und makrodispositiven Strukturen untersuchen: „Das moderne politische System ist gerade deswegen ein vereintes und vereinigendes weltumspannendes Ganzes, weil es einen Komplex von nebeneinanderstehenden, ineinander verschachtelten und geordneten Sub-Systemen enthält; eine Analyse der Entscheidungsprozesse bringt alle möglichen Formen von Unterteilungen und Teilprozessen ans Licht, die miteinander zusammenhängen, jedoch nicht ohne Zwischenräume oder Verschiebungen.“ 140
137 Thiele: Mediendispositiv, a. a. O. [Anm. 44@6YJOlKQOLFK.XPLĊJD0edien im Spannungsfeld, a.a.O. [Anm. 123], S. 37ff. 138 Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 13], S. 120. 139 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 284. 140 Ebd., S. 285f.
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Verschiebungen ereignen sich für Deleuze und Guattari in erster Linie von „‚primitiven‘ und geschmeidige[n]“ zu „‚modernen‘ und verhärteten“ Segmentarisierungen. 141 So sind in „primitiven“ Gesellschaften 142 binäre Gegensätze zwischen beispielsweise Männern und Frauen stark ausgeprägt, sie resultieren allerdings aus sehr flexiblen Regeln. Moderne, staatlich organisierte Gesellschaften setzen dagegen „duale Maschinen“ ein, die „simultan mit bi-univoken Beziehungen und sukzessiv mit binarisierten Entscheidungen arbeiten“. 143 Die „Macht eines Schamanen“ oder das „Stammessystem der Territorien und das Clansystem der Abstammungslinien“ 144 etwa sind Deleuze und Guattari zufolge geschmeidige Unterteilungen, die örtlich begrenzt als mikrodispositive Geflechte operieren. Die geschmeidigen Segmentaritäten der Gegenwart dagegen kongruieren, d.h. ihre „Brennpunkte“ fallen in ein und dasselbe Zentrum, hallen in „Resonanz-Apparate[n]“ wieder und gleichen mehr und mehr einer Baumstruktur. 145 Dabei werden, wie Deleuze und Guattari weiter schreiben, „die verfallenen Codes durch eine univoke Übercodierung und die verlorenen Territorialitäten durch eine spezielle Reterritorialisierung ersetzt“. 146 Hier nun setzt das Denken des Molaren und Molekularen sowie der Makro- und der Mikropolitik an: „Jede Gesellschaft, aber auch jedes Individuum wird von zwei Segmentaritäten gleichzeitig durchzogen: die eine ist molar und die andere molekular. Sie unterscheiden sich deshalb, weil sie nicht dieselben Terme, dieselben Relationen, dasselbe Wesen und dieselbe Art von Mannigfaltigkeit haben. Und sie sind deswegen nicht voneinander zu trennen, weil sie […] miteinander koexistieren und ineinander übergehen – aber sie setzen sich immer gegenseitig voraus. Kurz gesagt, alles ist politisch, und jede Politik ist zugleich Makropolitik und Mikropolitik.“ 147
141 Ebd., S. 286. 142 Es geht den Autoren – vergleichbar mit Foucault – um eine Dekonstruktion von Machtkonzepten und keinesfalls um eine Entwicklungs- oder gar Rassenideologie: Deleuze und Guattari entlehnen ihren Begriff der Segmentaritäten der Ethnologie, die „sogenannte primitive Gesellschaften“ beschreibt, „die keinen festen zentralen Staatsapparat und weder eine allumfassende Machtinstanz noch spezialisierte politische Institutionen haben“ (ebd., S. 285.). 143 Ebd., S. 286ff. 144 Ebd., S. 287, S. 289f. 145 Ebd., S. 288f. 146 Ebd., S. 290. 147 Ebd., S. 290, Herv. i. Orig. Beispielsweise zeichnet sich die Bürokratie für Deleuze und Guattari einerseits durch starre Segmente und Zentralisierungen aus – eine Reihung von Büros, Abteilungen, Chefposten und -etagen –, andererseits durch eine „Geschmeidigkeit und eine Kommunikation von Büros, […] einen permanenten Erfindungsreichtum oder eine durchgängige Kreativität“ (vgl. ebd., S. 291.). Ähnlich gründen gegenwärtige Dispositive der Erwerbsarbeit
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Diese mikro- und makropolitische Verschränkung entspricht wesentlich einer Analytik der Macht, wie sie schon in der Theorie der Dispositive Gestalt annimmt: Als Mikrophysik verstanden, kann Macht nicht als Eigentum gelten, sondern ist als Strategie zu verstehen. Folgerichtig funktioniert Herrschaft Foucault zufolge nicht vermittels Aneignung, sondern mit „Dispositionen, Manövern, Techniken“. 148 Freilich stößt die Analyse von Machtbeziehungen beständig auf „Herrschaftszustände“. De facto entdeckt sie dabei jedoch eine mehr oder minder stark befestigte Blockade flotierender Machtrelationen, d.h. sie findet ein Indiz dafür, dass „es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern […]“. 149 Auch deshalb verwirft Foucault den analytischen Rahmen der Institution, ist hier doch eine Fülle von Mikrodispositiven immer schon „um eine molare Instanz gruppiert“. 150 Die Abwendung von jeglichen Universalien, die Deleuze den Dispositiven Foucaults zuspricht, verlangt gerade eine Dekonstruktion molarer Herrschaftszentren: „‚den‘ Souverän oder ‚das‘ Gesetz für den Staat, den Vater für die Familie, das Geld, das Gold oder den Dollar für den Markt, Gott für die Religion“. 151 Die vermeintlich unscharfe Relation von Mediendispositiven und medialen Dispositiven gleicht solchen Segmentierungsprozessen der Mikro- und Makropolitik: Die großen Kraftlinien der Makrodispositive, so Deleuze und Guattari, kommen nicht aus ohne „einen ganzen Kosmos von MikroPerzepten, unbewussten Affekten und feinen Segmentierungen […], [e]ine Mikropolitik der Wahrnehmung, der Empfindung des Gesprächs, etc.“. 152
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weder in einer neoliberalen Staatsregierung noch in den globalisierten Unternehmenskonglomeraten. Was vielmehr in ihnen widerhallt, sind molekulare Strukturen einer Unternehmensgesellschaft, in der sich Managementphilosophien und gouvernementale Führungskonzepte, ein „unternehmerisches Selbst“ sowie korrespondierende „Optionalisierungsdispositive“ der Beratung, des Coachings und der Kompetenzentwicklung vermischen (vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007; Traue: Das Optionalisierungsdispositiv, a. a. O. [Anm. 58].). Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 82], S. 38. Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 875-902, hier: S. 878. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 107. Ebd. Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 291. In diesem Sinne können Deleuze und Guattari weiter schreiben, dass „das Begehren nie eine undifferenzierte Triebenergie“ ist, sondern „selber aus einer komplizierten Montage, aus einem engineering mit vielen Interaktionen“ resultiert (vgl. ebd., S. 293, Herv. i Orig.) Unsicher, ob „die Mikro-Dispositive in Begriffen von
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Insofern sind die Blickregime des Fernsehens oder seine gerasterte Programmstruktur eine geschmeidige, mikropolitische Segmentarität, die einem „gesamtgesellschaftlichen Bereich ebenso koextensiv“ 153 ist, wie molare Herrschaftsprinzipien, die im Begriff einer Gesellschaft des Spektakels 154 auftauchen. Die Dispositive Foucaults zeichnen sich für Deleuze durch einen „Wesensunterschied, eine Heterogenität zwischen Mikro und Makro“ aus, aber auch durch gegenseitige Immanenz, denn sie verstärken oder überschneiden sich zugleich. 155 Mediale Produktions- und Wahrnehmungslogiken korrespondieren stets mit makropolitischen Machtmodalitäten, etwa mit Disziplinarregimen oder Regierungstechnologien. Diese wiederum ‚molekularisieren‘ sich in medialer Infrastruktur und Prozeduralität, etwa in den Verdatungspraktiken der Publikumsstatistik 156 oder der durch Mobiltelefon und Web 2.0 angereizten Dauerkommunikation. „[J]e stärker die molare Organisation ist“, so Deleuze und Guattari, „um so mehr ruft sie selber eine Molekularisierung ihrer Elemente hervor“. 157 Makrodispositive Strukturen – mögen sie ‚selbst‘ auch immer mikrodispositive Herde haben – verteilen sich stets in ein feines Netz, wo sie „eine Reihe lokaler und regionaler Mächte“ 158 ausbilden. Politisch verhandelbar werden Mediendispositive in diesem Sinne erst in medialen Dispositiven, d.h. in molaren Politiken, die sich molekular auf jeweils Mediales beziehen. Niemals ist diese politische Proportionalität allerdings vor ihrer eigenen Umkehrung gefeit. Denn Mikropolitiken bergen noch in ihren kleinsten und lokalsten Wirkungen das Potential, die Verläufe makrodispositiver Kraftlinien zu durchkreuzen, ihnen entgegen oder davon zu laufen. In dem Moment, in dem die „molekularen Bewegungen die große weltweite Organisa-
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Macht beschrieben werden können“, ohne die „Miniaturisierung eines globalen Konzepts“ zu bewirken, rückt Deleuze dann das Begehren wiederum weg von Foucaults Machtanalytik (vgl. Deleuze: Lust und Begehren, a. a. O. [Anm. 132], S. 19ff.). Im Kern geht es dabei um die durchaus entscheidende Frage des Widerstandes und der Fluchtlinien, die Deleuze expliziter als Foucault zu unterstreichen sucht (vgl. hierzu auch das folgende Unterkapitel 3.3., Krieg und Widerstand. Zur Heterotopie medialer Dispositive). Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 293. Vgl. Debord: Gesellschaft des Spektakels, a. a. O. [Anm. 123]. Vgl. Deleuze: Lust und Begehren, a. a. O. [Anm. 132], S. 19; sowie Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 294. Zur Publikumsforschung „als eine Infrastruktur der Massenmedien, die den technologischen Strukturen durchaus ebenbürtig ist“ vgl. den lesenswerten Aufsatz von Dominik Schrage (Schrage, Dominik: Von der Hörerpost zur Publikumsstatistik, in: Irmela Schneider/Isabell Otto (Hg.): Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung, Bielefeld 2007, S. 134.). Ebd. Foucault: Maschen der Macht, a. a. O. [Anm. 35], S. 225.
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tion nicht mehr ergänzen, sondern bekämpfen und durchlöchern“, heißt es bei Deleuze und Guattari, werden sie zu „Fluchtlinien“, 159 „die ständig zwischen den Segmenten strömen […] und ihrer Zentralisierung [entgehen]“. 160 Es ist also eine doppelte Bewegung, welche die Zwischenspiele von Mikround Makropolitik ausmacht: die diffundierende Expansion makrodispositiver Diagramme der Macht einerseits und die ebendiese Diagramme unterlaufende, mikrodispositive Fliehkraft andererseits. Reterritorialisierung. Die Taktik der Polizei im Dispositiv Freilich garantiert Mikropolitik noch keinen Widerstand, denn „molekulare Fluchtbewegungen wären nichts, wenn sie nicht über molare Organisationen zurückkehren würden und ihre Segmente, ihre binären Aufteilungen […] wieder herstellen würden“. 161 Die makrodispositive Expansion der Macht „an ihren äußersten Punkten, an ihren letzten Verästelungen, dort wo ihre Kanäle haarfein sind“, 162 internalisiert bestehende Mikrodispositive. Keine Doppelbewegung, sondern ein Kreislaufmodell 163 verschalten für Deleuze und Guattari deshalb Mikro- und Makropolitik: „Ein gesellschaftlicher Bereich wird unaufhörlich von allen möglichen Decodierungs- und Deterritorialisierungsbewegungen belebt, die unterschiedliche Geschwindigkeiten und Gangarten entsprechend auf ‚Massen‘ einwirken. Das sind keine Widersprüche, sondern Fluchtbewegungen. […] Aber gleichzeitig, und untrennbar damit verbunden, kommt es zu Übercodierungen und Reterritorialisierungen.“ 164
Das gleichsam zirkuläre Denken der Mikro- und Makropolitik deckt sich mit dem strategischen Zusammenspiel von Mikro- und Makrodispositiven: Die Genese eines jeden Dispositivs zeichnet sich für Foucault durch die „Prävalenz einer strategischen Zielsetzung“ aus, genauer durch den „Prozess einerseits einer funktionellen Überdeterminierung“, sowie durch den „Pro-
159 Reserviert Deleuze in seinen Ausführungen zum Dispositiv den Begriff der Fluchtlinien noch vornehmlich für die Subjektivierungslinien (vgl. exemplarisch Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 155.), scheinen sie in Tausend Plateaus durchaus breiter Anwendung zu finden und etwa auch auf molekulare Kräftelinien und alternierende Sag- und Sichtbarkeitskurven anwendbar. 160 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 294. 161 Ebd., S. 295. 162 Foucault: Recht der Souveränität, a. a. O. [Anm. 33], S. 80. 163 Dieses Kreislaufmodell präsentiert sich bei Deleuze und Guattari als Hommage an Gabriel Tarde und schließt Strömungen, Pole, Quanten, Linien und Segmente ein. Vgl. hierzu ausführlich Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 298f. 164 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 300.
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zess einer ständigen strategischen Wiederauffüllung andererseits“. 165 Das Prinzip der funktionellen Überdeterminierung unterstreicht bereits, dass jede Bewegung in wie zwischen Mikro- und Makrodispositiven weitere Bewegungen auslöst, jede „gewollte und ungewollte Wirkung“ also „in Einklang oder Widerspruch mit anderen treten muss“. 166 Deshalb ist in Dispositiven die ständige „Readjustierung der heterogenen Elemente“ von Nöten, die ihrerseits die Basis für immer neue strategische Wiederauffüllungen bildet. 167 Auf jede decodierende oder deterritorialisierende Fluchtlinie, so ließe sich diese strategische Prävalenz mit Deleuze und Guattari fassen, reagieren übercodierende und reterritorialisierende Bewegungen. Diese Bewegungen etablieren sich makropolitisch, materialisieren sich indes abermals in Mikrodispositiven. 168 Dementsprechend verfährt die Foucault’sche Analytik der Macht wesentlich über eine Auffächerung: Sie erweitert nicht nur die institutionalisierten Strukturen einer Gesellschaft um mikrophysikalisch produktive Machttechnologien, sondern spricht letzteren explizit widerspenstiges Potential zu. Gleichzeitig ist sie sich der regulativen, gleichsam ‚polizeilichen‘ Kraft der Makrodispositive bewusst, die jede Fluchtlinie wieder überzucodieren und zu reterritorialisieren, d.h. sie einzufangen sucht. ‚Polizei‘ meint hier keine staatliche Ordnungsmacht im heutigen Sinne, 169 sondern breiter die re-integrierende, übercodierende und reterritorialisierende Strategie ei-
165 Foucault: Spiel um die Psychoanalyse, a. a. O. [Anm. 6], S. 121. 166 Ebd. 167 Foucaults Beispiel ist jenes des Gefängnis’ und eines Milieus der Delinquenz: „Das Gefängnis hat die Rolle der Filtrierung und Konzentration, der Professionalisierung und Abschließung eines Milieus der Delinquenz übernommen. Ungefähr seit den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts erlebt man eine unmittelbare Wiedernutzbarmachung dieses unfreiwilligen und negativen Effekts in einer neuartigen Strategie […]: das Milieu der Delinquenz wurde zu diversen politischen und ökonomischen Zwecken (etwa aus der Lust Profit zu schlagen – mithilfe der Organisierung der Prostitution) ausgenutzt.“ (Foucault: Spiel um die Psychoanalyse, a. a. O. [Anm. 6], S. 121f.) 168 Ulrike Haß hingegen interpretiert die Bewegungen der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung in eher makrodispositiver Perspektive: Erstere seien als spezifisch moderner „Abstraktionsprozeß, als ein Austauschbarmachen von Körpern, Objekten und Beziehungen“ zu verstehen, das „jeweils von einer Gegenbewegung der gewaltsamen Reterritorialisierung begleitet [wird], von bürokratischen, hierarchischen und institutionalisierenden Versuchen der Ordnung und Stabilisierung“. (Haß: Drama des Sehens, a. a. O. [Anm. 136], S. 54f.) 169 Auch ist die ‚Polizei‘ hier noch grundlegender zu verstehen als jene Foucault zufolge für die frühneuzeitliche Gouvernementalität typische (staatliche) Regierungstechnologie (vgl. hierzu meine Ausführungen im Kap. 4.2., Gouvernementalität – Gouvernemedialität).
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nes (Makro-)Dispositivs, das auf die Fliehkraft eines anderen (Mikro-) Dispositivs reagiert. Die elementare Figur der Polizei ist eine der Regulierung und der wiederherzustellenden Ordnung: Sie tritt immer dann auf den Plan, wenn jene Dringlichkeit auftritt, deren Bewältigung nach einer dispositiven Formation verlangt. Die Polizeigewalt – so das hier passende Begriffsverständnis Jacques Rancières – bedarf erst sekundär Schlagstöcke und Tränengas, denn sie verwaltet in erster Linie Wahrheitsregime und Sichtbarkeitsordnungen: „Es handelt sich um eine Ordnung des Sichtbaren, die bewirkt, dass diese bestimmte Tätigkeit sichtbar wird und jene nicht, dass dieses Wort als Teil des Diskurses, jenes aber als Lärm vernommen wird. […] Die Polizei stellt also nicht einfach eine ‚Disziplinierung‘ der Körper dar, es handelt sich vielmehr um die Regel ihres Erscheinens, um die Konfiguration von Besetzungen und von sinnlichen Qualitäten der Räume, auf die diese Besetzungen distribuiert sind.“ 170
Wo polizeiliche Figuren auftauchen, verweisen sie auf die Formation und Transformation dispositiver Ordnungen. Die Polizei bemüht sich um laufende Übercodierung und Reterritorialisierung: Sie administriert, verwaltet, leitet und kontrolliert gleichsam alles flüchtige Politische, um es letztendlich in institutionalisierte Politiken re-integrieren zu können. 171 In ihrer Gewalttätigkeit steht dieses Taktieren der Dispositive einer staatlichen Polizeigewalt indes in nichts nach, ja ist von tagespolitisch beklemmender Aktualität: Der „endgültige Eingang der Souveränität in die Gestalt der Polizei“, so bemerkt Giorgio Agamben, ist „eine der weniger zweideutigen Lehren aus dem Golfkrieg“, die „mit größter Deutlichkeit die Nähe, ja fast die konstitutive Vertauschung von Gewalt […] und Recht entblößt, die die Figur des Souveräns kennzeichnet“. 172
170 Rancière, Jacques: Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou: Politik der Wahrheit, Wien 1996, S. 79-118, hier: S. 82. Ähnlich liest sich Paul Virillios Fassung der Polizei in Geschwindigkeit und Politik: „Die politische Staatsgewalt ist also nur sekundär ‚die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen‘, viel materieller ist sie polis, Polizei, das heißt Verwaltung der Verkehrswege, und das in dem Masse, wie der politische Diskurs […] die gesellschaftliche Ordnung mit der Kontrolle der Zirkulation (von Personen und Waren) vermengt und die Revolution, den Aufstand, mit der Verkehrsstockung, dem unerlaubten Stillstand, dem Zusammenstoß und der Kollision.“ (Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin 1980, S. 22.) 171 Was allerdings auch die ständige Verschiebung dieser Politiken impliziert, wie ich im Weiteren zeigen möchte. 172 Vgl. Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich 2001, S. 99; sowie die Dekonstruktion der Polizei bei Jacques Derrida (Derrida, Jac-
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Remediation. Politiken einer Intermedialität des Digitalen Auch die dem digitalen Zeitalter gedankte Vielfalt intermedialer Beziehungen ist von polizeilichen Taktiken affiziert, die Machtbeziehungen und Subjektivierungsweisen vermeintlich ‚alter‘ Mediendispositive in ‚neuen‘ medialen Konfigurationen fortschreiben. Digitale Medien zeichnen sich, wie Georg Christoph Tholen zeigt, in erster Linie durch eine Gestaltoffenheit aus, die metaphorisch (unter-)besetzt ist: „[I]n der die Vielfalt der Verwendungen bewahrenden Bestimmung des Computers als Rechenmaschine, Schreibmaschine, Werkzeug, Apparat oder Kommunikationsmedium artikuliert sich ein unentscheidbarer Spielraum von Als-ob-Bestimmungen, die dem Computer nicht äußerlich sind“. 173 Jedes Medium entspricht einer disponierenden Strategie, die Unentscheidbarkeit des Medialen zumindest temporär zu entscheiden, d.h. dieses Medium in spezifischer Weise sag- und sichtbar zu machen, es mit bestimmten Machtbeziehungen zu verknüpfen und ihm korrelierende Subjektivierungsweisen zu attestieren. Dieses Entscheiden ist zweifelsohne schon in analogen Medienkonfigurationen am Werk, in der gesteigerten Gestaltoffenheit des Digitalen wird es indes besonders virulent. Die Medialität digitaler Medien, so argumentiert Tholen weiter, bedeutet „Gestaltwechsel durch Gestaltenzug zu exponieren und zu konfigurieren – ein Zwischenraum zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, in dem sich – stets anders – eben dieses ‚zwischen‘ re-präsentiert“. 174 Die intermedialen Überlagerungen des digitalen Zeitalters verfahren in genau diesem Sinne vornehmlich re-präsentativ: Moderne Digitalgeräte sind Telefon und Postfach, Schreibmaschine und Zeichentisch, Kamera und Dunkelkammer, Radio und Fernsehgerät, Datenbank und Navigationshilfe in einem. Die Intermedialität digitaler Mediendispositive wird so als Prozess einer Remediation verständlich, wie ihn Jay David Bolter und Richard Grusin beschreiben: „No medium today, and certainly no single media event, seems to do its cultural work in isolation from other media, any more than it works in isolation from other social and economic forces. What is new about new media comes from the particular ways in which they refashion older media and the ways in which older media refashion themselves to answer the challenges of new media.“ 175
ques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a.M. 1991, S. 93f.). 173 Tholen, Georg Christoph: Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität, in: Sigrid Schade/ders. (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 15-34, hier: S. 19, Herv. i. Orig. 174 Ebd., S. 20, Herv. i. Orig. 175 Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Massachusetts/London 2000, S. 15.
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Aus solcher Perspektive gibt es, wie Beate Ochsner zeigt, „prinzipiell keine ontologischen, sondern sich aus historischen (Trans-)Formationen bildende[] mediale[] […] Spezifika“, was allerdings zugleich impliziert, dass sich intermediale Verschiebungen stets innerhalb von „skopisch-dispositiven Regime-Grenzen“ bewegen. 176 Ochsner verweist hier auf das problematisierbare Paradigma der Remediation: Wenn sich jeweils ‚neue‘ Medien stets aus alten ‚ableiten‘, d.h. überhaupt nur mithilfe wohlbekannter Mediendispositive metaphorisieren lassen, so impliziert dies nicht nur ein Fortschreiben der Sag- und Sichtbarkeit ‚alter‘ Medien, sondern auch das Perpetuieren ihrer Macht- und Subjektivierungstechnologien. Folglich unterliegt intermedialitätstheoretisches Denken mitunter der polizeilichen Taktik der Mediendispositive, die jeweils Neues im Feld der Medien fortlaufend reterritorialisiert und übercodiert: Vermittels Remediationen setzten sich makropolitische Diagramme der Macht in den mikropolitischen Dispositionen jeweils ‚neuer‘ Medien fort, indem letztere vorab rückbezüglich bestimmt werden. 177 Dass es auch in modernsten Digitalmedien „[k]ein Verstummen ehemals analoger Medien […] zu beklagen“, sondern vielmehr „Re-Konfigurationen und Re-Appropriationen des Medialen“ 178 zu beobachten gibt, verweist dann auf die polizeiliche Raffinesse von Macht und Herrschaft, Risse in ihrem Kontinuum zu verfugen. 179 Überhaupt erscheint damit fraglich, ob die Rede von der Geschichte der Medienumbrüche nicht ein bloßer Euphemismus für eine Polizei der Mediendispositive ist, die es versteht, fortgesetzte Machtregime zu persiflieren. Unter der Devise immer intuitiverer Bedienung, uneingeschränkter Anpassbarkeit und grenzenloser Kreativität beständig weiterentwickelt, bleiben
176 Vgl. Ochsner, Beate: Zur Frage der Grenze zwischen Intermedialität und Hybridisierung, in: Andy Blättler/Doris Gassert/Susanna Parikka-Hug/Miriam Ronsdorf (Hg.): Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte, Bielefeld 2010, S. 4160, hier: S. 52. 177 Hinfällig würde damit auch die Unterscheidung von Mediendispositiven und medialen Dispositiven: Die Dispositive der Macht disponieren in dieser Perspektive stets in spezifischer Weise Medien, um sich über diese Mediendispositive fortsetzen und verlängern zu können. 178 Vgl. Elia-Borer/Sieber/Tholen: Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, a. a. O. [Anm. 28], S. 10. 179 Fragen ließe sich konsequent auch, ob und inwiefern die von Bolter und Grusin beschriebene „doppelte Logik der Remediation“, nämlich einerseits im Interesse eines unmittelbaren Präsenzeindrucks alle Spuren der Vermittlung auszulöschen, andererseits die Zeichen dieser Vermittlung hypermedial auszustellen, gerade Teil der List einer polizeilichen Taktik ist, die sich mittels dem Versprechen eines unvermittelten Präsenzeindrucks zu verstellen weiß (zur doppelten Logik der Remediation vgl. Bolter/Grusin: Remediation, a. a. O. [Anm. 175], S. 21ff.).
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etwa Computer-Betriebssysteme noch in ihrer modernsten Ikonographie und im allerneuesten Interfacedesign einer Makropolitik produktiver Arbeitskraft verhaftet. So irritiert die Kacheloptik des jüngsten MicrosoftBetriebssystems Windows 8 nur vorläufig, wenn sie die jahrzehntealte Oberfläche des ‚Schreibtischs‘, auf dem sich Dokumente, Fotos etc. genauso versammeln wie ‚persönliche‘ Ordner oder ein ‚Papierkorb‘, zugunsten bunter, in Größe und Anordnung mehr oder minder frei gestaltbarer Kacheln in den Hintergrund rückt (Abb. 6). Denn die Kacheln dienen keineswegs nur den modernen Interfaces von Tablets, Smartphones und Touchscreens. Sie folgen zugleich denselben Strategien erhöhter Auffindbarkeit, beschleunigten Zugriffs und gesteigerter Produktivität, die ‚Medien der Arbeit‘ vom hölzernen Schreibtisch über den Memex bis zu frühen Personal Computer bereits formiert haben. So sehr also die visuelle Re-Präsentation einer Schreibtischplatte auf dem Bildschirm zu zerbersten scheint, in ihrer bunten Fragmentierung verdeutlichen sich erneut die bürokratisch-fordistischen Logiken organisierter Arbeitskraft und erhöhter Produktivität.
Abb. 7: ‚Medium der Arbeit‘: Kacheloberfläche des Betriebssystems Windows 8 Vergleichbares ‚erscheint‘ in der vermeintlichen Innovation neuer visueller Medien: Hartnäckig hält sich hier das schon in Malerei, Fotografie, Film und Fernsehen gestaltgebende zentralperspektivische Blickregime noch in jenen Medien, deren perspektivische ‚Dekonstruktion‘ zumindest technisch unschwer zu bewerkstelligen wäre. Computerspiele, allen voran sogenannte Ego-Shooter, in denen der zentralperspektivische Blickpunkt in aller Regel zugleich das Fadenkreuz der Schusswaffe bildet, setzen die zentralperspektivische Sichtbarkeitsordnung fort, indem sie diese im Interesse eines Realitätseindrucks rekonstruieren (Abb. 7). Dass diese ‚Realität‘ indes in keiner Weise gegeben, sondern vielmehr konstruiert und tradiert ist, zeigt sich nicht nur bei Grafikfehlern und Systemabstürzen, sondern auch in den iso-
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morphen Perspektiven von Strategiespielen 180 oder in experimentellen Spielen, die bewusst alternative Perspektiven implementieren.
Abb. 8: Zentralperspektivische Rekonstruktion: Still aus Call of Duty: Black Ops 2 Doch lässt sich Intermedialität durchaus auch als transformatives Zusammenspiel unterschiedlicher Medien denken, wie es etwa Yvonne Spielmann beschreibt: „Das Modell der Transformation beschreibt in den Anwendung auf das Phänomen der Intermedialität die Umarbeitung medienspezifischer Ausdrucksformen. […] Die Differenzstruktur gibt den Ausschlag für die Herausbildung einer neuen Formqualität. Findet zwischen den Ausdrucksformen aus verschiedenen Medien […] eine Vernetzung statt, so kommt es zu einem Dialog von Gestaltungsformen, wobei sich die transformierende Qualität aus dem einen Medium in dem transformierten Formzusammenhang in einem anderen Medium niederschlägt. Alternativ kommt es zur Entstehung von medialen Mischformen, die unter der Kategorie des Hybriden diskutiert werden können.“ 181
180 Genauso lässt sich anhand gängiger Typologien digitaler Spiele – verbreitet ist beispielsweise die Dreiteilung in Action-, Adventure- und Strategiespiele – die Verflechtung neuer Medien in makrodispositive Machtbeziehungen nachzeichnen. Claus Pias etwa zeigt, dass Actionspiele mit der Vermessung sensomotorischer Leistungen in der Experimentalpsychologie, Adventurespiele mit der Höhlenforschung und Dokumentenverwaltung und Strategiespiele mit den Sandkastenspielen früher Kriegssimulation in Verbindung zu bringen sind (vgl. Pias, Claus: Computer Spiel Welten, Weimar 2002.). 181 Spielmann, Yvonne: Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München 1998, S. 65, Herv. v. mir, SaS.
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Das hier beschriebene Transformative und Hybride intermedialer Beziehung impliziert nicht nur eine Alternative zu den polizeilichen Re-Konfigurationen und Re-Appropriationen des Medialen: Es betrifft die vermeintlich lückenlose Fortsetzung von Machtmechanismen in intermedialen Dispositiven in jedem Falle. Insofern nämlich intermediale Re-Konfigurationen eine Wiederholung oder Iteration implizieren, gleichen sie der apriorischen Iterierbarkeit schriftlicher Kommunikation, ohne die es, wie Jacques Derrida zeigt, nicht nur kein Performatives gäbe, sondern auch keine Erfahrung oder Präsenz im philosophischen Sinne. 182 In dieser Iterierbarkeit aber verbindet sich Derrida zufolge „die Wiederholung mit der Andersartigkeit“: 183 Noch in ihrer „Zitathaftigkeit“ 184 verfahren intermediale Rückbezüge aktualisierend, d.h. sie sind ereignishaft: „Man muß sich hier darüber einigen, was es mit dem ‚Eintreten‘ oder Ereignishaftigkeit eines Ereignisses auf sich hat, das in seinem angeblich gegenwärtigen und einmaligen Auftreten die Intervention einer Äußerung voraussetzt, die an sich nur eine wiederholende oder zitathafte, oder vielmehr […] eine iterierbare Struktur haben kann. […] Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine ‚codierte‘ oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ‚Zitat‘ identifizierbar wäre? [I]st diese Struktur der Iteration einmal gegeben, so wird die Intention, welche die Äußerung beseelt, sich selbst und ihrem Inhalt nie vollkommen gegenwärtig sein. Die Iteration, die a priori sie strukturiert, führt in sie eine wesentliche Dehiszenz und einen wesentlichen Bruch ein.“ 185
Polizeiliche Machttechnologie operieren iterativ, sie reterritorialisieren, übercodieren und readjustieren. Wo immer jedoch diese polizeiliche Macht am Werk ist, verweist sie zugleich auf Bruchlinien und Verschiebungen. Noch die intermedialitätstheoretischen Ansätze der Re-Mediation oder ReInszenierung thematisieren deshalb nicht nur persistierende Macht und Herrschaft, sondern verweisen auf Durchbrechungen in und zwischen Mediendispositiven. Tholens Metaphorologie der Medien unterstreicht in eben-
182 Vgl. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 325-351, hier: S. 333ff., S. 345. 183 Ebd., S. 333. 184 Ebd., S. 339. 185 Ebd., S. 346, Herv. i. Orig. Vgl. weiterführend zum Denken einer politischen Differenz mit Jacques Derrida auch die folgenden Ausführungen im Kapitel 4.1., Am (Ab-)Grund der (Be-)Gründung.
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diesem Sinne, dass sich der Zwischenraum des Medialen „stets anders […] re-präsentiert“. 186 Freilich wird die medienwissenschaftliche Suche nach der „Grenze zwischen Intermedialität und Hybridisierung“ 187 damit zu einer politischen Erkundung: „Versteht man unter Hybridisierung“, wie Beate Ochsner bemerkt, „die Bildung eines neuen Objekts durch eine Menge verschiedener Einzelelemente, so übersteigt die neue Kategorie diejenige, bei denen die Anleihen getätigt wurden; es handelt sich also nicht um bloße Kombinatorik oder reine Überlagerung“. 188 Die Kacheloberfläche von Windows 8 interveniert sehr wohl in die tradierte Ästhetik des Microsoft-Betriebssystems, indem etwa Applikationen anderer Hersteller in die vormals verschlossenen Benutzeroberflächen Einzug halten. Ähnlich brechen Computerspiele mit den Darstellungslogiken ‚älterer‘ Medien: Wie beispielsweise Dieter Mersch argumentiert, realisiert sich hier statt einer „Ästhetik der Absenz, die die Gegenwart einer Abwesenheit bezeugt“, die „Ästhetik eines Gegenwärtigen, das auf nichts Anderes verweist als die Performanz des Spiels selbst“. 189 Bedeutungsvoll ist die intermedialitätstheoretische Frage, ob das die ‚alten‘ Medien übersteigende ‚Neue‘ interventionistisch funktionieren, d.h. tradierte Machtmechanismen zu revolutionieren vermag, oder ob es im Gegenteil ein- und dasselbe Makrodispositiv steigert und also perfektioniert. Die Mediendispositivanalyse stößt hier an eine vermeintliche Grenze, die sie mit der Foucault’schen Diskurs- und Machtanalyse zu teilen scheint. Auch der Mikrophysik der Macht wird vorgeworfen, ihre „Gleichursprünglichkeit von Macht und Widerstand“ bleibe „völlig unklar“, ja ziehe die „falsche Konsequenz, die Kämpfe an die Macht zu assimilieren“. 190 Doch bleibt sol-
186 Vgl. erneut Tholen: Überschneidungen, a. a. O. [Anm. 173], S. 20, Herv. i. Orig. 187 Vgl. Ochsner 2010, Zur Frage der Grenze, a. a. O. [Anm. 176]. 188 Ebd., S. 50. 189 Vgl. Mersch, Dieter: Logik und Medialität des Computerspiels. Eine medientheoretische Analyse, in: Jan Distelmeyer/Christine Hanke/Dieter Mersch (Hg.): Game over!? Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld 2007, S. 19-42, hier: S. 24. 190 Für eine kritische Rezeption dieser und ähnlicher Vorwürfe an die Analytik der Macht Foucaults vgl. Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 118f. Argumentieren ließe sich sicherlich, dass eine Mikrophysik der Macht, die einem zentralisierten Verständnis die Vielfalt von Machttechnologien entgegensetzt, nicht gänzlich „einer topischen Konzeption“, die noch in „Termini von ‚oben‘ und ‚unten‘ operiert“ entkommt (vgl. ebd., S. 122.). Hingegen verweist sowohl Foucaults früheres Konzept der Heterotopie wie insbesondere auch sein Spätwerk auf eine Denken von Macht und Widerstand, dass diesen topischen Richtungsregimen nicht länger unterworfen ist (vgl. hierzu das
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che Kritik letztlich einem hegemonialen Machtverständnis verhaftet, wie es Foucault gerade zu dekonstruieren sucht. Denn dass sich die Kräftelinien der Macht aus größeren und kleineren Widerstandspunkten speist, heißt nicht, dass sie polizeilich ex ante jedes politische Aufbegehren zu vereiteln und integrieren vermag. Noch wenn Giorgio Agamben das Dispositiv via den lateinischen Begriff der dispositio auf das griechische Wort oikonomia zurückführt, besteht die Gefahr, es als bloß reintegratives und regulierendes Gefüge überzubetonen. Das Dispositiv ist dann etwas, „in dem und durch das ein reines Regierungshandeln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird“, näherhin „eine Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken“. 191 Gewiss nicht zu Unrecht akzentuiert das so verstandene Dispositiv 192 Reichweite und Wirkungsgrad makrodispositiver Macht. Gleichzeitig jedoch droht das Spiel mikropolitischer Fluchtlinien und makropolitischer Segmentierung hier einem kybernetischen Regelkreis zu Opfer zu fallen, in dem jedes politische Moment eine korrigierbare, ja für das kybernetische System produktiv zu machende Störung darstellt. In der „Zeit der Kyberne-
folgende Kapitel 3.3., Zur Heterotopie medialer Dispositive sowie das Kapitel 4.4., Regieren und Steuern). 191 Vgl. Agamben: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 41], S. 23f. Im Verlaufe seiner weiteren Überlegungen scheint Agamben zudem in einen seltsamen Anthropomorphismus zurückzufallen, in dem die Dispositive „die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Rede der Lebewesen“ formen, wobei „aus dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven“ die Subjekte hervorgehen (vgl. ebd., S. 26f.). Durchaus vielversprechend ist dagegen Agambens Betonung gouvernementaler Machtmodalitäten zu werten, wurden Dispositive doch schwergewichtig im Kontext disziplinarischer Machttechnologien aufgegriffen (vgl. hierzu meine Überlegungen weiter unten, Kap. 4.2., Gouvernementalität – Gouvernemedialität). 192 Ein weiteres Beispiel findet sich m.E. in Jürgen Links Konzept des Normalismus: Wenn auf jeden „Verlust von Normalität“, oder jede „Denormalisierung“, die „Wiederherstellung der Normalität“ oder „Renormalisierung“ antwortet, so scheint auch hier eine polizeiliche Funktion am Werk, die ausgehend von einem makrodispositiven Normalismus jede Fluchtlinie als renormalisierbares Störmoment betrachtet. Vgl. hierzu die jüngere Zusammenfassung von Jürgen Links Normalismustheorie (Link, Jürgen: Wie Informationen und Meinungen ‚gemittet‘ oder als ‚extrem‘ ausgesiebt werden. Die (ver)öffentlich(t)e Meinung als Normalisierungs-Maschine, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse 63, 2013, S. 31-35, hier: S. 32.).
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tik“ 193 ist die „politische Hypothese“ 194 allerdings keine der Macht, sondern eine der naht- und lückenlosen Herrschaft, wie sie das Autorenkollektiv Tiqqun beschreibt: „[D]ie kritischen Geister scheinen wenig geneigt zu sein, das Auftauchen der Kybernetik als neue Herrschaftstechnologie zur Kenntnis zu nehmen, die sowohl die Disziplin als auch die Biopolitik, sowohl die Polizei als auch die Werbung miteinander verbindet und zusammenschließt […]. Das heißt, daß die Kybernetik nicht […] die abgetrennte Sphäre der Informationsproduktion und der Kommunikation ist, also ein virtueller Bereich, der die reale Welt überlagert. Vielmehr ist sie eine autonome Welt von Dispositiven, die mit dem kapitalistischen Projekt, insofern es ein politisches Projekt ist, eine Einheit bilden, eine gigantische ‚abstrakte Maschine‘, die aus binären Maschinen besteht […].“ 195
Innerhalb einer gigantischen kybernetischen Maschine wird nicht nur jede Fluchtlinie und jedes Widerstandmoment unweigerlich von polizeilichen Readjustierungen umgelenkt und mitgerissen. Den Dispositiven geht hier überdies jede Möglichkeit von Kontingenz und Alterität verloren. Dem aber widerspricht das Iterative der dispositiven Re-Adjustierung und Re-Aktualisierung. Tatsächlich ist in Dispositiven eine Polizei am Werk, gewiss auch verhärten sich in ihnen flottierende Machtbeziehungen zu starren Herrschaftsstrukturen. Deren irreduzibles Gegenüber aber bilden Widerstände als Einfallstore für Interventionen. Die Hoffnungen und Sorgen, die sich auf jeweils ‚neue‘ Mediendispositive und ihre makropolitischen Effekte richten, illustrieren diese apriori politische Kontur der Macht.
193 Pias, Claus: Zeit der Kybernetik – Eine Einstimmung, in, ders. (Hg.): Cybernetics. Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953, Berlin 2004, S. 9-41. 194 Tiqqun: Kybernetik und Revolte, Zürich 2007, S. 13. 195 Ebd., S. 12, Herv. i. Orig.
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3.3. K RIEG UND W IDERSTAND . Z UR H ETEROTOPIE MEDIALER D ISPOSITIVE „Und gab es, ganz wie es Widerstandsformen gegen die Macht gab, insofern sie eine politische Souveränität ausübt, genauso wie es andere, gleichermaßen gezielte Widerstandsformen, oder Verweigerungen, die sich gegen die Macht richten, insofern sie ökonomisch ausbeutet, gab es nicht Widerstandsformen gegen die Macht als Verhaltensführung?“ 196
Auffällig oft werden Medien in Zeiten der politischen Unruhen und der Katastrophen, d.h. in Krisenmomenten prekarisiert. Michel Foucaults Feststellung von 1978, „Die iranische Revolte breite[] sich mittels Tonbandkassetten aus“, 197 ist nur eine von vielen Beobachtungen, welche die Krisis mit medialen Dis-Positionen verbinden. „Die rumänische Revolution“, schreibt Vilém Flusser, „wurde von einem technisch unausgereiften Fernsehen gemacht“. 198 In jüngerer Vergangenheit war von Medienrevolutionen überall dort die Rede, wo sich Oppositionelle oder Protestierende gegen politische Regime wandten und sich dabei der Onlinekanäle des Web 2.0 bedienten: anlässlich des mutmaßlichen Wahlbetrugs im Iran 2009, im Zuge des Arabischen Frühlings oder im syrischen Bürgerkrieg seit Frühjahr 2011, aber auch in der Occupy Wall Street-Bewegung im Sommer desselben Jahres. Dass sogenannten sozialen Digitalmedien seither ihre revolutionäre Rolle weitgehend abgesprochen wurde – nicht zuletzt, weil ein nachhaltiger Erfolg der Proteste meist ausbleibt 199 – erscheint dabei unerheblich, tauchen in
196 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 134], S. 282. 197 Foucault, Michel: Die iranische Revolution breitet sich mittels Tonbandkassetten aus, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2003, S. 888893, hier: S. 893. 198 Flusser, Vilém: Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien, Design, Köln 1998, S. 140. 199 In Ägypten beispielsweise zeigte sich: „Facebook-Einträge und Fernsehdebatten reichen zur Mobilisierung nicht aus“. Denn die Islamisten warben in ländlichen Dörfern im direkten Kontakt um Wählerstimmen und leisteten zusätzlich soziale Arbeit, „die Säkularisten kommunizieren pauschal über Medien und mit Demonstrationen“. „Ägyptens frustrierte Revolutionäre“, so schreibt die Neue Zürcher Zeitung, setzten zu stark auf neue Kommunikationskanäle, „in Ägypten und den anderen Ländern der Region zeigt die traditionelle Methode noch immer mehr Wirkung“ (vgl. Bischoff, Jürg: Ägyptens frustrierte Revolutionäre, in: Neue Zürcher Zeitung, 26. Januar 2013, S. 3.). Ähnlich scheint das syrische
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schwelenden Konflikten weltweit die Diskursfiguren revolutionärer Medien doch stets von Neuem auf. 200 Krieg in den Medien – Medien im Krieg Deutlicher noch kommen mediale Fliehkräfte in Kriegszeiten zur Geltung: Hier sind sie zugleich Schauplatz und Mittel des Konflikts, sie mutieren gleichermaßen zu informationsstrategischen Waffentechnologien und tötenden Kriegsmaschinen. Zensur, Propaganda oder eingeschränkte Informations- und Meinungsfreiheit sind noch im Internetzeitalter weltweit verbreitet, beispielsweise im autoritären Einparteiensystem Chinas oder auch in Russland, wo Dissidenz und Protest einmal als Piraterie geahndet, einmal als Geisteskrankheit abgetan werden. 201 Zugleich bedient sich Kriegsführung der Medien im zweifachen Sinne: Einerseits findet jeder Krieg seit langem einen Schauplatz in den Medien, wird also entschieden medial geführt – vor allem in Bildform. In Syrien wurde die Kommunikation im wie aus dem Bürgerkrieg mitunter von westlichen Regierungen und den Golfstaaten unterstützt, die Satellitentelefone, Funksender und Proxy-Software ins Land schmuggeln ließen. Wie James Harkin beschreibt, hatte die Verfügbarkeit digitaler Kommunikationsmittel bei akutem Mangel an Waffen und Unterstützung allerdings auch zur Folge, dass Außenposten des Regimes von Oppositionellen zu schieren Bebilderungszwecken angegriffen wurden. 202 Judith Butler macht die kriegerische Produktion von Prekarität, d.h. die Inszenierung bekämpfenswerter FeindRegime den Bürgerkrieg für sich zu entscheiden, weil es – wie James Harkin Schreibt – „im Gegensatz zu den Oppositionellen die Politik nicht vergessen hat“ (vgl. Harkin, James: Neue Medien in Syrien. Mit Facebook, Skype und Smartphone unterwegs im Bürgerkrieg, in: Lettre International. Nr. 104, 2014, S. 33-37, hier: S. 37.). 200 Vergleichbar wirkmächtig treten Mediendispositive anlässlich von gravierenden Unfällen und Naturkatastrophen hervor, wie etwa die medial vielfältige ‚Bewältigung‘ des schweren Erdbebens auf Haiti 2010 mittels Google‚Katastrophenkarten‘, interaktiv steuerbaren Videorundgängen durch zerstörte Stadtgebiete oder einer Spenden-Dauersendung auf MTV illustrierte. Vgl. hierzu auch: Sieber, Samuel: Politik und Medien in der Schleife der Iterationen. Medien in Krisen, Katastrophen und Revolten, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse 60, 2011, S. 53-58. 201 Im Herbst 2013 häuften sich Meldungen über die Inhaftierung und Verurteilung von Protestierenden aus Russland: Mehreren Greenpeace-Aktivisten, die eine russische Ölbohrplattform in der Nordsee zu erklimmen suchten, droht bis zu fünfzehn Jahren Haft wegen Piraterie. Derweilen wird in Moskau der Teilnehmer einer Anti-Putin-Kundgebung zur psychiatrischen Zwangsbehandlung verurteilt. 202 Vgl. Hartkin, Neue Medien im syrischen Bürgerkrieg, a.a.O. [Anm. 199], S. 36.
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bilder und schützenswerter Verbündeter, in diesem Sinne direkt von audiovisuellen Rahmungen abhängig: „War is in the business of producing and reproducing precarity, sustaining populations on the edge of death, sometimes killing its members, and sometimes not; either way, it produces precarity as the norm of everyday life. […] My point is that such visual and conceptual frames are ways of building and destroying populations as objects of knowledge and targets of war, and that such frames are the means through which social norms are relayed and made effective.“ 203
Auch Staaten, so zeigt Butler an anderer Stelle, operieren heute „auf dem Feld der Wahrnehmung und, allgemeiner, des Darstellbaren, um die Affekte zu kontrollieren und die Affekte zu antizipieren, die zu politischer Opposition gegen den Krieg führen und sie beflügeln“. 204 Mit Blick auf die „beschleunigte Produktion und Verbreitung von Bildern in einer Vielzahl neuer Medien“ diagnostiziert William J. T. Mitchell gar eine „‚Bildwende‘ im öffentlichen Bewußtsein“: 205 „Wir erleben heute nicht bloß eine Vermehrung der Bilder, sondern einen Krieg der Bilder, und die realen Einsätze, um die es dabei geht, könnten nicht höher sein. Dieser Krieg wird um radikal unterschiedliche Bilder einer möglichen Zukunft geführt. Man führt ihn gegen Bilder […], und man führt ihn unter Einsatz von Bildern, die den Feind schockieren und traumatisieren, die abstoßen und demoralisieren sollen und die so beschaffen sind, daß sie endlos vervielfältigt werden und die kollektive Bildwelt globaler Population infizieren.“ 206
Exemplarisch für den modernen Bilderkrieg war zweifelsohne der im Mai 2004 die Weltöffentlichkeit erschütternde Folterskandal von Abu Ghraib – ausgelöst durch Fotografien, welche die Folterpraktiken in sogenannten
203 Butler, Judith: Frames of war. When is life grievable?, London 2010, S. xix. 204 Vgl. Butler, Judith: Folter und die Ethik der Fotografie, in: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 203-228, hier: S. 207. Ähnlich diskutiert Silke Wenk „eine mindestens bis zum Ersten Weltkrieg zurück zu verfolgende Tradition westlicher Kriegsberichterstattung, in der über Bilder von zivilen Opfern und Flüchtlingen […] ebenso Verstöße gegen den völkerrechtlich verbürgten Schutz der Zivilbevölkerung angeklagt wie auch das Mitgefühl eingefordert werden sollte“ (vgl. Wenk, Silke: Sichtbarkeitsverhältnisse: Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder, in: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 29-49, hier: S. 33.). 205 Mitchell, William J.T: Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, Berlin 2011, S. 22. 206 Ebd., S. 23.
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Kriegsgefängnissen dokumentierten und nicht zuletzt die US-amerikanische Rolle des Weltpolizisten zutiefst erschütterte. Symptomatisch für eine medial sich allererst ereignenden Konflikt war gewiss auch der Streit um die Authentizität des Gewinnerfotos des World Press Photo Awards 2013. Die Aufnahme zweier Männer, die nach einem israelischen Raketenangriff im Gazastreifen im November 2012 zwei tote Kinder tragen, erwies sich zwar weder als gestellt noch als montiert, wurde aber digital stark nachbearbeitet. 207 Im Krieg der Bilder entscheidet fotografische Authentizität über Siege und Niederlagen – und ist deshalb ein höchst virulentes Politikum. Neben solchem im Wortsinne informativen Einsatz von Bildern besteht eine durchwegs direkt waffentaugliche Anwendung visueller Technologien, zu deren Sinnbild in jüngster Vergangenheit die ferngesteuerte, auch bewaffnete Flugdrohne geworden ist. Spätestens seit der Intervention von NATO-Truppen in Afghanistan 2001 kann die Drohne als neue „waffentechnische[] Strukturdominante“ gelten, die „das Ideal des ‚Null-eigeneVerluste‘ mit präzisen Kämpfen am Boden kombinierbar macht“. 208 Als solche rekurriert sie indes schon auf eine Tradition medialer Waffendispositive: Ihre militärischen Prinzipien der Überwachung, einer universalen und uneingeschränkten Sichtbarkeit und mehr oder minder präziser Tötung teilt sie beispielsweise mit den Nachtsichtbildern, die insbesondere für die Golfkriege Symbolcharakter erlangt haben. Dagegen finden sich – wiederum in ‚neuen‘ Medien wie Twitter, Tumblr und Instagram – auch Re-Visualisierungen der Waffen- und Kriegsbilder: Die Seite dronestagram 209 beispielsweise kombiniert Informationen über Drohnenangriffe aus Massenmedien und offiziellen Quellen mit Satellitenbildern der betroffenen Region, um diese „wenigstens etwas sichtbarer, etwas näher, etwas realer“ 210 zu machen (vgl. Abb. 9). Doch „[d]er postmoderne Krieg“, so schreiben Daniela Kloock und Angela Spahr, „ist ein rein
207 Die Stiftung World Press Photo hat deshalb angekündigt, die Regeln der Bildbearbeitung zukünftig zu verschärfen. Vgl. Shu, Les: Update: World Press Photo to reevaluate post-processing rules after controversy, in: Digital Trends, October 2013, URL: http://www.digitaltrends.com/photography/world-press-photo -confirms-authenticity-of-2012-photo-of-the-year-winner/. 208 Link, Jürgen: Kleines diskurs- und normalismustheoretisches Glossar zum Afghanistankrieg, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse 58, 2010, S. 26-28, hier: S. 27. 209 Dronestagram ist auf all diesen Seiten vertreten, vgl. http://instagram.com/ dronestagram; http://dronestagram.tumblr.com/ sowie https://twitter.com/dron estagram. 210 Vgl. http://booktwo.org/notebook/dronestagram-drones-eye-view/: „For a few weeks now, I have been posting images of the locations of drone strikes to the photo-sharing site Instagram as they occur […]. Making these locations just a little bit more visible, a little closer. A little more real.“
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medientechnischer Krieg“, 211 was sich noch in der zweifelsohne pazifistisch motivierten (Re-)Inszenierung von dronestagram spiegelt. Schon 1991 schrieb Paul Virilio in genau diesem Sinne: „Der militärische Konflikt entwickelt sich von einem topischen plötzlich zu einem teletopischen. Jeder regional begrenzte Krieg wird zu einem Weltkrieg, und zwar wegen seiner unmittelbaren Kontrolle. […] Der Krieg an Ort und Stelle ist gebunden an die taktische Kontrolle über den Realraum, während die Terminals der strategischen Kontrolle sich mit der Verwaltung der Echtzeit der verschiedenen Arten des Informationsaustausches beschäftigen, wie zum Beispiel beim entscheidenden Augenblick des Abfangens der feindlichen Rakete durch die Raketenabwehr-Rakete […].“ 212
Abb. 9: Alternative Re-Visualisierungen eines Krieges auf dronestagram Der sich bereits in den 1990er Jahren abzeichnende Wandel des Krieges, im Zuge dessen „die elektronischen Kommunikationswaffen die mechanisch-
211 Kloock, Daniela/Spahr, Angela: Medientheorien. Eine Einführung, München 2007, S. 149. 212 Virilio, Paul: Krieg und Fernsehen, München 1993, S. 127f., Herv. i. Orig. Inwieweit angesichts der historischen Apriori der Medien überhaupt von „Realraum“ oder „Echtzeit“ die Rede sein kann, bleibt demgegenüber zu hinterfragen – insbesondere angesichts der Heterotopie medialer Dispositive, die ich in der Folge diskutiere.
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chemischen Instrumente der Zerstörung dominieren“, 213 verweist auf eine prinzipielle Verschränkung von Krieg und Medien. Nicht nur kann jeder Krieg als maßgeblich medialer begriffen werden, auch ist Mediengeschichte kriegshistorisch dominiert. Die heute omnipräsenten Displays unterschiedlichster Medien entstammen beispielsweise „technikhistorisch betrachtet […] nicht dem Medium Fernsehen oder Computer, sondern dem Kriegsmedium Radar“. 214 Wie Manfred Schneider beschreibt, hängen „die großen kriegerischen Ereignisse (d.h. die gewaltsame Reorganisation der politischen Räume)“ durchweg „mit der Destabilisierung der Zeit- und Entwicklungsinstitutionen durch neue Kommunikations- und Speichertechniken“ zusammen. 215 Einen Zusammenhang von Mediensystemen und (Welt-) Kriegen beschreibt auch Friedrich Kittler anhand der Weltkriege des 20. Jahrhunderts: „Speichertechnik, 1914 bis 1918, hieß festgefahrener Stellungskrieg in den Schützengräben von Flandern bis Gallipoli. Übertragungstechnik mit UKW-Panzerfunk und Radarbildern, dieser militärischen Parallelentwicklung zum Fernsehen, hieß Totalmobilmachung, Motorisierung und Blitzkrieg vom Weichselbogen 1939 bis Corregidor 1945. Das größte Computerprogramm aller Zeiten schließlich, dieser Zusammenfall von Testlauf und Ernstfall, heißt bekanntlich Strategic Defense Initiative. Speichern/Übertragen/Berechnen oder Graben/Blitz/Sterne. Weltkriege von 1 bis n.“ 216
Krieg wird folglich in und mit Medien geführt. Die These eines (Medien-)Dispositivbegriffs, der sich auf hegemoniale Übercodierungen und Reterritorialisierungen jedes Widerstands beschränkt, erscheint damit freilich fragwürdig. Revolution und Aufstand wie Krieg und Konflikt – oder genereller die zäsurierenden Unter- und Umbrüche der Geschichte – stehen in einer wechselseitigen, machttechnologisch höchst produktiven Beziehung zu Mediendispositiven. Widerstände und Kriegsmaschinen Bezeichnenderweise bedient sich Michel Foucault im Zuge seiner Analytik der Macht ebenso der Begrifflichkeiten der Kämpfe und des Krieges, wobei 213 Zielinski, Siegfried: Medien/Krieg. Ein kybernetischer Kurzschluss, in: Österreichische Gesellschaft für Kommunikationsfragen (Hg.): Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität, Salzburg 1991, S. 12-20, hier: S. 16. 214 Thielmann, Tristan: Statt einer Einleitung: Eine Mediengeschichte des Displays, in: Navigationen 2, 2006, S. 13-30, hier: S. 15. 215 Schneider, Manfred: Luther mit McLuhan. Zur Medientheorie und Semiotik heiliger Zeichen in: Friedrich Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen 1: Medien, Opladen 1987, S. 13-25, hier: S. 22. 216 Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 352.
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er widerständige Momente sehr viel stärker akzentuiert. In seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft fragt Foucault programmatisch: „Wenn die Macht in sich selbst eine Entfaltung von Kräfteverhältnissen ist, sollte sie dann nicht statt in Kategorien von Übertragung, Vertrag oder Entfremdung oder in funktionalen Kategorien der Erhaltung der Produktionsverhältnisse zunächst und vor allem in Kategorien wie Kampf, Konflikt oder Krieg analysiert werden? […] Ab dem Moment würde man die Aussage von Clausewitz umkehren und sagen, daß die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.“ 217
Es geht Foucault hier keineswegs um die Gleichsetzung von Politik mit Krieg, sondern vielmehr um eine Dekonstruktion der „klassischen juridischen Machttheorie“, in der Macht de facto als ein Recht gilt, „über das man wie über ein Gut verfügen kann“. 218 Die problematischen Konnotationen des Kriegsbegriffs vor Augen zieht Foucault zwar in Betracht, dessen Analyserahmen im Verlaufe seiner Untersuchungen wieder fallen zu lassen, behält ihn in der Folge aber „als eine Art Erkenntnisraster“ bei, das zu einem „Erkenntnisprinzip von Gesellschaft“ wird. 219 Die Wendebewegung, die eine ‚kriegerische‘ Analytik der Macht vollzieht, richtet sich gegen eine Rechtslehre, deren Ausarbeitung „in den abendländischen Gesellschaften, und das seit dem Mittelalter, im Wesentlichen rund um die königliche Macht“ erfolgte und deren hartnäckiges Thema das „Haupt- oder Zentralproblem der Souveränität“ ist. 220 Souveränitätsdenken operiert als eine gleichsam polizeiliche, weil zirkulär sich realisierende Herrschaftstechnologie: Rechtsdiskurse verdecken den „Faktor Herrschaft innerhalb der Macht“ und lassen „zum einen die legitimen Rechte der Souveränität, zum anderen die gesetzmäßige Verpflichtung zum Gehorsam“ 221 hervortreten. Über die Figur der Souveränität werden beständig diejenigen gesetzlichen Ordnungen wiederhergestellt, die einen Souverän überhaupt erst legitimieren: „Um ein guter Souverän zu sein, muss sich der Souverän stets ein Ziel setzen, das heißt […] das Gemeinwohl und das Heil aller. […] Doch jedenfalls ist das, was das Ziel der Souveränität, jenes Gemeinwohl oder allgemeine Wohl kennzeichnet, letztlich nichts anderes als die Unterwerfung unter dieses Gesetz. Das bedeutet, das Ziel der Souveränität ist zirkulär: […] [D]as Wohl besteht im Gehorsam gegenüber dem
217 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76, Frankfurt a.M. 2001, S. 32. 218 Ebd., S. 29. 219 Ebd., S. 34, S. 195. 220 Ebd., S. 40. 221 Ebd., S. 41.
110 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN Gesetz, folglich besteht das Wohl, das die Souveränität sich zum Ziel setzt, darin, dass die Leute der Souveränität gehorchen.“ 222
Deshalb erhebt Foucault kriegerische Auseinandersetzung zum Analyserahmen: Sie rücken Widerstandsformen ins Zentrum jener machtvollen Politiken der Wahrheit, die er zwischen Wahnsinn, Strafjustiz, Sexualität und Staatsregierung untersucht. 223 Wahrheitsregime stehen und fallen mit „‚transversale[n]‘ Kämpfe[n]“, die Widerstand leisten „gegen alle Formen von Macht, die in einem Zusammenhang mit Wissen, Kompetenz und Qualifikation stehen“. 224 „[D]er Blick auf die Funktionsweise von Machtmechanismen“, so Daniel Hechler und Axel Philipps, „gewinnt seine Stärke nicht dadurch, dass er die Legitimitätsfrage suspendiert oder löst, sondern sie in die Untersuchung von Macht-, Wissens- und Selbstverständnissen einbezieht“ und darin „vielfältige Formen von Resistenzen und Abweichungen hervortreten [lässt]“. 225 Ebenso akzentuiert diese Perspektive erneut eine kategoriale Unterscheidung von Herrschaft und Macht, in der Foucaults Kritik hegemonialer Machtkonzeptionen wurzelt: Anders als in unterdrückenden Herrschaftsstrukturen lautet „das letzte Wort“ machtvoller Kräfteverhältnisse, „daß der Widerstand primär ist“: 226 „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht. […] Machtverhältnisse […] können nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren […]. Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. […] Sie sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.“ 227
Die Analytik der Macht begreift Widerstand also keineswegs als „Folgewirkung“ oder „Negativform“ einer Herrschaft, die „letzten Endes immer nur die passive und unterlegene Seite sein wird“. Vielmehr sind stets „Widerstandspunkte, -knoten und -herde […] mit größerer oder geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt“, die „sich verschiebende Spaltungen in eine Gesellschaft einführen, Einheiten zerbrechen und Umgruppierungen hervorru-
222 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 134], S. 148f. 223 Foucault fasst unter den „Widerständen“ 1982 alle seine vorangehenden Studien zusammen: „[D]en Widerstand gegen die Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, der Psychiatrie über die Geisteskranken, der Medizin über die Bevölkerung, der staatlichen Verwaltung über die Lebensweise der Menschen“ (Foucault: Subjekt und Macht, a. a. O. [Anm. 66], S. 244.). 224 Ebd., S. 244f. 225 Hechler/Philipps 2008, S. 12. 226 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 125, Herv. i. Orig. 227 Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 4], S. 96.
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fen, die Individuen selber durchkreuzen, zerschneiden und umgestalten […]“. 228 Dieses Durchkreuzen oder Zerschneiden der Individuen präzisiert Foucault in den Folgebänden von Sexualität und Wahrheit. Gerade in den disponierenden Subjektivierungstechnologien rumort nämlich widerständiges Potential. „[D]ie Beziehung zu sich“, so Gilles Deleuze, ist für Foucault „sogar einer der Ursprünge dieser Widerstandspunkte“, denn „[z]urückerobert durch die Machtverhältnisse und Wissensbeziehungen entsteht die Beziehung zu sich beständig neu, anderswo und anders“. 229 Ebendiesen Zusammenhang von Wissen, Macht und Subjektivität verdeutlicht Foucault in Der Gebrauch der Lüste anhand der Sexualität als Bereich moralischer Erfahrung. Der Begriff der Moral zeichnet sich durch eine „Zweideutigkeit des Wortes“ aus: Einerseits meint er ein „Ensemble von Werten und Handlungsregeln, die […] mittels diverser Vorschreibeapparate […] vorgesetzt werden“, andererseits „auch das wirkliche Verhalten der Individuen in seinem Verhältnis zu den Regeln und Werten“. 230 Zu „Moralcode“ und „Moralverhalten“ tritt außerdem immer „die Art und Weise, wie man sich führen und halten – wie man sich selber konstituieren soll als Moralsubjekt“ hinzu. 231 Im Dreieck von Moralcode, -verhalten und -subjekt sind Foucault zufolge indes unterschiedliche Gleichgewichte möglich: „[M]an [wird] auch annehmen müssen, daß in bestimmten Moralen der Akzent vornehmlich auf dem Code liegt: seiner Systemizität, seinem Reichtum, seiner Fähigkeit, sich an alle möglichen Fälle anzupassen und alle Verhaltensbereiche abzudecken; in solchen Moralen ist das Wichtige auf seiten der Autoritätsinstanzen zu suchen, die diesem Code Geltung verschaffen, […]. Andererseits lassen sich Moralen denken, in denen das starke und dynamische Element auf seiten der Subjektivierungsformen und Selbstpraktiken zu suchen ist. In diesem Falle kann das System der Codes und der Verhaltensregeln ziemlich rudimentär sein.“ 232
Kein Dispositiv schließt jemals Autonomie und Fluchtbewegung aus: In Abgrenzung zur Moral sind es, wie Thomas Lemke schreibt, „Selbstverhält-
228 229 230 231 232
Ebd. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 145, Herv. v. mir, SaS. Foucault: Gebrauch der Lüste, a. a. O. Anm. [98], S. 36f. Vgl. ebd. Ebd., S. 41f. In genau umgekehrter Richtung verortet Foucault den Übergang von der Antike zum Christentum: „[Man] geht […] von einer Moral, die im Wesentlichen Suche nach einer persönlichen Ethik war, zu einer Moral als Gehorsam gegenüber einem System von Regeln über“ (Foucault, Michel: Eine Ästhetik Existenz, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 902-909, hier: S. 905.). Vgl. hierzu auch meine Ausführungen zu Foucaults Spätwerk im Kapitel 4.4., Die Regierung des Selbst und der anderen und Die (Un-)Regierbarkeit der Kommunikation
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nisse, die den Gegenstand dessen ausmachen, was Foucault als Ethik bezeichnet“. 233 Gleichen die moralischen Mechanismen weitgehend den Machtfiguren polizeilicher Regulierung, so keimt gleichsam in „‚zur Ethik orientierten‘ Moralen“ 234 eine politische Widerständigkeit. Denn „[die] in der Konstitution des Subjekts als Herr seiner selbst enthaltene Forderung nach Zucht stellt sich nicht in Form eines universalen Gesetzes dar, dem sich alle und jeder unterwerfen müsste“; vielmehr befördert sie „eine[] Geschichte der ‚Ethik‘, verstanden als Ausarbeitung einer Form des Verhältnisses zu sich, die es dem Individuum gestattet, sich als Subjekt einer moralischen Lebensführung zu konstituieren“. 235 Noch das ethische Subjekt ist wohlgemerkt „kein konstitutives Subjekt, das den Bedingungen seiner Subjektivierung vorausgeht“, vielmehr ist es „das Ergebnis von Macht-, Wissens- und Selbstpraktiken, durch die es konstituiert wird“. 236 Hingegen fördert die Gegenüberstellung von ethischem und moralischem Subjekt die Ambiguität der Subjektivität selbst zu Tage: „Das Wort ‚Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.“ 237
Zwar fügt Foucault an, dass das Subjekt „in beiden Fällen […] eine Form von Macht [suggeriert], die unterjocht und unterwirft“. 238 Doch ist jene Subjektivität, die „auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert“ 239 ist, zugleich Strategie und Mittel der kriegerischen Kämpfe gegen die herrschaftlichen Moral- und Machtregime. Weder Foucaults Macht- noch seine Subjektkonzeption sind folglich verabsolutiert zu denken, vielmehr verläuft die Beziehung beider Pole durch widerständige Punkte, wie Martin Saar hervorhebt:
233 Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 266, Herv. i. Orig. 234 Foucault: Gebrauch der Lüste, a. a. O. Anm. [98], S. 42. 235 Ebd., S. 315. Besonderes Gewicht legt Foucault dabei auf die „Ästhetik“ dieser ethischen Existenz im antiken Griechenland, sein Interesse in den beiden letzten Bänden von Sexualität und Wahrheit wie in seinen letzten Vorlesungen gilt dem „Prinzip der Stilisierung des Verhaltens für diejenigen, die ihrer Existenz die schönste und vollendetste Form geben wollen, die nur möglich ist“ (ebd.). Vergleiche hierzu auch Foucault: Ästhetik der Existenz, a. a. O. [Anm. 232] sowie überblicksweise Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 274. 236 Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 268. 237 Foucault: Subjekt und Macht, a. a. O. [Anm. 66], S. 245. 238 Ebd. 239 Foucault: Ästhetik der Existenz, a. a. O. [Anm. 232], S. 906.
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„Dem komplexen Machtbegriff, der auch Macht im Subjekt fassen kann, entspricht ein komplexer Subjektbegriff, der diese Macht deshalb benennen kann, weil sie im Innern des Subjekts auf die Freiheit als die Gegen-Kraft trifft“. 240
Die politische Dimension einer Analytik der Macht entfaltet sich hier weiter: „Der Kampf für eine modernere Subjektivität“, so schreibt Deleuze emphatisch, „geht durch die beiden aktuellen Formen der Unterwerfung hindurch“, nämlich „uns gemäß den Ansprüchen der Macht zu individualisieren“ und „jedes Individuum an eine gewußte und bekannte, ein für allemal festgelegte Identität zu fesseln“. 241 So, wie in den Archiven der Sag- und Sichtbarkeit stets das Ungesagte und Unsichtbare mitschwingt und so, wie jede Machtbeziehung andere Kräfteverhältnisse affizieren und durch sie affiziert werden kann; so präsentiert sich auch der „Kampf um Subjektivität […] als Recht auf Differenz, als Recht auf Variation, zur Metamorphose“. 242 Im dispositiven Gefüge rumort deshalb erneut eine politische Differenzierung, die keineswegs bereit ist, a priori jene herrschaftlich-institutionalisierten Entitäten anzuerkennen, die gemeinhin unter dem Begriff der Politik gefasst werden. 243 Stets geht es Foucault auch, wie er 1979 schreibt, um die
240 Saar: Genealogie als Kritik, a. a. O. [Anm. 5], S. 282, Herv. i. Orig. 241 Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 80], S. 148. 242 Ebd. Vielleicht, so suggeriert Deleuze an anderer Stelle, sind die „Subjektivierungslinien“ in Foucaults Werk sogar die ausgezeichnetste Form des Widerstands: Sie haben „dermaßen viele Mißverständnisse hervorgerufen, daß man sich bemühen muß, deren Bedingungen genauer darzustellen“. Denn die „Dimension des Selbst ist keineswegs eine vorweg existierende Bestimmung, die man vollständig ausgearbeitet hätte finden können“. Vielmehr „ist eine Subjektivierungslinie ein Prozeß, eine Produktion von Subjektivität in einem Dispositiv: sie muß, insoweit es das Dispositiv zuläßt oder ermöglicht, geschaffen werden. Sie ist eine Fluchtlinie.“ (Deleuze: Dispositiv, a. a. O. [Anm. 31], S. 155, Herv v. mir, SaS.) 243 Als politisches Moment ist hier nicht nur ein ‚Recht auf Differenz‘ oder die Interventionsbewegungen in Wissens-, Macht- und Subjektivierungsregime zu sehen. Die Erfahrung der Subjektivität als „konkret-historische Konstruktion“ bedeutet auch ihre „Kopplung an eine kollektive Praxis“, wie Thomas Lemke feststellt: „Zwar werden Erfahrungen individuell gemacht, sie sind jedoch eingebunden in einen gesellschaftlichen Raum, der von bestimmten Wissensformen, Machtpraktiken und Selbsttechniken definiert wird.“ (Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 263.) Angezeigt ist damit auch eine Herausforderung des Politischen wie es Jean-Luc Nancy beschreibt, durch die „Mit-Teilung“ von Gemeinschaft, respektive ihrem „Ins-Werk- und In-SzeneSetzen“ etwa durch die (ihrerseits machtvollen) Diskursivierungen eines ‚gesellschaftlichen Raums‘ (vgl. Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 57f., S. 101f.; sowie meine Ausführungen im folgenden Kapitel 4.2., Globalisierung: Assoziation und Dissoziation).
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„Erfindung neuer Objekte über die Politik, trotz der Politik und in einer Weise, die das politische Denken umwälzt“. 244 Eine vergleichbare Rolle spielen sogenannte Kriegsmaschinen im Gefüge der Mikro- und Makropolitiken, wie es Gilles Deleuze und Félix Guattari beschreiben. Vervielfältigen die breiten Kraftlinien der Makropolitik einerseits ihre mikropolitischen Einsatzgebiete und verbreiten makrodispositive Codes und Territorialisierungen, so können die korrelierenden Mikropolitiken stets zu „lokalen Unruheherden“ 245 werden. Die polizeiliche Maßregelung dieser Unruheherde, d.h. ihre Übercodierung und Reterritorialisierung, gelingt dabei niemals vollständig oder abschließend. Vielmehr ist es, „als ob eine Fluchtlinie, auch wenn sie nur mit einem winzigen Rinnsal beginnt, ständig zwischen den Segmenten strömen würde und ihrer Zentralisierung entginge“. 246 Wo sich mikropolitische Fluchtlinien kreuzen, formiert sich deshalb Widerstand, den Deleuze und Guattari – vergleichbar mit der Machtkonzeption Foucaults – als Kriegsmaschine bezeichnen. Die Analogie zu Foucault ist eine dreifache: Erstens ist die Figur der Kriegsmaschine jener der Polizei diametral entgegengesetzt. Einem Staatsapparat, oder genereller einer makrodispositiven Institution, ist die Kriegsmaschine äußerlich, ihre Figur entspricht eher jener eines „Kriegsgottes“, sie ist eine „reine und unermessliche Mannigfaltigkeit, die Meute, das Hereinbrechen des Ephemeren und der Wandlungsfähigkeit“. 247 Kriegsmaschinen implizieren deshalb eine Widerständigkeit, deren erstes Ziel keineswegs schiere Zerstörung ist: „[D]ie Kriegsmaschine ist eine nomadische Erfindung, deren erste Aufgabe nicht einmal der Krieg ist, sondern für die der Krieg nur ein zweites, supplementäres oder synthetisches Ziel in dem Sinne ist, daß sie dazu dient, die Staats-Form oder die Stadt-Form zu zerstören, mit der sie zusammenstößt.“ 248
Sehr viel näher als einem Zerstörungsmechanismus kommt so auch die Kriegsmaschine einem analytischen Instrument, das herrschaftliche Dispositive und ihre hegemonialen Readjustierungen aufbrechen will. Zweitens operiert eine jede Kriegsmaschine in einem heterogenen Feld, das nicht nur „einen räumlich-geographischen, einen arithmetischen oder algebraischen und einen affektiven Aspekt“ 249 einschließt, sondern sich gerade auch epis-
244 Foucault, Michel: Le Nouvel Observateur und die Vereinigte Linke, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 124-126, hier: S. 125. 245 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 292. 246 Ebd., S. 294. 247 Ebd., S. S. 483. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich Staatsapparate nicht Kriegsmaschinen „in Form einer militärischen Institution“ aneignen könnten (vgl. ebd., S. 486f.). 248 Ebd., S. 578. 249 Ebd., S. 522.
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temologisch, d.h. in Wissensregimen manifestiert. 250 Deshalb bedient sich die These der Kriegsmaschinen drittens derselben strategisch-räumlichen Metaphern, die schon das Dispositiv umreißen. Für Foucault übernehmen Widerstandspunkte in den Machtbeziehungen nicht nur „die Rolle von Gegnern“ oder „Zielscheiben“, sie lassen sich auch als „Stützpunkte“ und „Einfallstore“ ‚verorten‘. 251 Vergleichbar beschreiben Deleuze und Guattari die Kriegsmaschine – „da sie nicht zum Staatsapparat gehört und sich von der militärischen Institution unterscheidet“ – mit einer „Erfindung der Nomaden“. 252 Denn diese definieren sich in erster Linie durch ihr ‚glattes‘ Raumprinzip, das sich von einem „Raum der Seßhaftigkeit“ unterscheidet, der „durch Mauern, Einfriedungen und Wege […] eingekerbt“ ist. 253 Damit lässt sich auch die gegenseitige Immanenz von Mikro- und Makropolitiken räumlich ‚situieren‘: „Die Variabilität, die Polivozität der Richtungen ist ein wesentliches Merkmal von glatten Räumen des Rhizom-Typs und verändert deren Kartographie. Der Nomade, der nomadische Raum ist lokalisiert und nicht eingegrenzt. Der eingekerbte, der relativ globale Raum, ist begrenzt und gleichzeitig begrenzend: er ist in seinen Teilen begrenzt, denen konstante Richtungen zugeordnet sind, die aufeinander ausgerichtet und durch Grenzen teilbar sind, sich aber auch miteinander verbinden können; und dieser ganze Komplex ist begrenzend […] im Hinblick auf die glatten Räume, die er ‚enthält‘, deren Wachstum er verlangsamt oder verhindert und die er einschränkt oder ausschließt.“ 254
Segmentierungen und Fluchtlinien, Übercodierungs- und Deterritorialisierungsbewegungen, polizeiliche Readjustierungen und Widerstandspunkte: Zwischen diesen Figuren der Verortung und der Fliehkraft, zwischen Einund Entgrenzung, bröckelt die angeblich polizeiliche Operativität der Dispositive. Denn durchkreuzen unablässig Widerstände und Kriegsmaschinen die topischen Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit, so sind dispositive Topoi lesbar nur als Heterotopien, in denen eine jede „Kom-Position“ zugleich „Dis-Position“ ist. 255
250 251 252 253 254
Vgl. ebd., S. 495f. Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 4], S. 96. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 522. Ebd., S. 524. Ebd., S. 526. Zum Rhizom vgl. auch das folgende Kapitel 3.4., Mannigfaltige Rhizome und mediale Vernetzung. 255 Vgl. in diesem Sinne Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein, Berlin 2004, S. 78. Am ‚Horizont‘ einer Theorie der (Medien-)Dispositive tauchen damit Konturen einer politischen Philosophie des „singulär plural seins“, des „Mit-Seins“ und der „Ko-Existenz“ auf. Vgl. hierzu meine Überlegungen im Kapitel 4.2., Globalisierung: Assoziation und Dissoziation.
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Dispositive Heterotopien In seinem Von anderen Räumen betitelten, werkhistorisch frühen Vortrag von 1967 256 führt Michel Foucault den Begriff der Heterotopie auf Grund seiner Diagnose ein, dass „wir […] in einer Zeit [leben], in der sich uns der Raum in Form von Relationen darbietet“ und „die Beunruhigung heute ganz fundamental den Raum betrifft und weit weniger die Zeit“. 257 Foucaults Vortrag konzentriert sich auf Orte und Räume, „die in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen“, 258 wozu Utopien einerseits und Heterotopien anderseits zählen: „Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. […] Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden.“ 259
Unter den Beispielen für solche tatsächlichen Gegenorte tauchen explizit zäsurierende Konflikt- und Krisenmomente auf. Sogenannte „Krisenheterotopien“ bilden „privilegierte, heilige oder verbotene Orte, die solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in dem sie leben, in einem Krisenzustand befinden“, etwa Heranwachsende in den militärischen Gymnasien des 19. Jahrhunderts, Frauen im Kinderbett oder Greise in den Altersheimen. 260 Krisenhaft sind Jugend und Alter, Geburt oder Krankheit hier, weil sie etablierten Normen zuwiderlaufen und deshalb entweder ein- oder auszuschließen sind. Heterotope Räume verfolgen in diesem Sinne eine Spur des nicht-konformen Widerständigen. Dislozierte und internierte Widerstände setzen sich auch in anderen heterotopen Räumen fort: Die „merkwürdige Heterotopie des Friedhofs“ oszilliert zwischen Totenkult und seiner hygienisch motivierten Verlegung an die Außengrenzen der Stadt, heterotop bleiben auch Kolonien oder Schiffe – die „Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert […]“ sind. 261 Im Übrigen erfolgt 256 Foucault genehmigte die Veröffentlichung des gleichnamigen Textes indes erst 1984 (Foucault, Michel: Von anderen Räumen, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942, hier: S. 931.). 257 Ebd., S. 933. 258 Ebd., S. 935. 259 Ebd. 260 Ebd., S. 936. 261 Vgl. ebd., S. 937f., S. 938, S. 941f.
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das heterotope In-Bezug-Setzen unterschiedlicher Orte gleichsam präferiert in Mediendispositiven. So bringt das Theater, wie Foucault schreibt, „auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung, die sich gänzlich fremd sind“ oder es findet sich im Kino ein „sehr sonderbarer rechteckiger Saal, an dessen Ende man auf eine zweidimensionale Leinwand einen dreidimensionalen Raum projiziert“. 262 Gleichsam heterochron verfahren dagegen Museen und Bibliotheken, „in denen die Zeit unablässig angesammelt und aufgestapelt wird“. 263 Zu Ende seines Vortrages bemerkt Foucault zum Schiff, jener „Heterotopie par excellence“: „In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der Freibeuter die Polizei.“ 264
Das Konzept der Heterotopie umfasst deutlich mehr als die Mauern und Wände, Straßen und Tore eines städtischen oder architektonischen Raumes, es beschreibt vielmehr die raumzeitlichen Verteilungen und Bewegungen von Macht und Wissen, wie sie besonders die Dispositivanalyse aufdeckt. 265 Stärker jedoch unterstreicht das Denken heterotoper Zeiträume und Raumzeiten die dispositiven Widerstandspunkte und Bruchlinien, wie sie Foucault andernorts mit kriegerischen Metaphern akzentuiert. Deshalb lohnt es sich, die Dispositive Foucaults heterotopisch zu denken, d.h. als ein relational sich aufspannendes Gefüge voller Risse und Fugen Heterotopien betreiben zunächst ein System der Normen und Normierungen, etwa des Wahnsinns in Asylen, der Bildung in Schulen oder des Alters in Pflegeheimen. Damit zeichnen sie sich zwar durch eine genau festgelegte Funktionsweise aus, diese kann jedoch im Verlaufe der Geschichte ganz unterschiedlich funktionieren. 266 Räumliche Verlagerungen, die mit veränderten Normen und Normierungstechniken einhergehen, bilden so einen Indikator für heterotope Gefüge: die Verschiebung von Friedhöfen vom
262 263 264 265
Ebd., S. 938. Ebd., S. 939. Ebd., S. 942. Noch darin repräsentiert die Architektur gleichwohl einen vielversprechenden Forschungsgegenstand, ist sie doch Foucault zufolge selbst „nicht bloß ein Element des Raumes, sondern findet Eingang in die sozialen Beziehungen und löst dort eine Reihe spezieller Wirkungen aus“ (vgl. Foucault, Michel: Raum, Wissen und Macht, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 324-340, hier: S. 338.). Die Räumlichkeit der Macht/WissenKomplexe gilt in diesem Sinne für die Architektur eines panoptischen Gefängnisbaus genauso wie für das Denkbild eines disziplinarischen Mediendispositivs, beide sind strenggenommen sogar untrennbar miteinander verbunden. 266 Vgl. Foucault: Von anderen Räumen, a. a. O. [Anm. 256], S. 936f.
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Stadtzentrum an die Stadtgrenze oder die Stoßrichtungen imperialistischer Kolonialisierung zwischen Missionierung, Raubzug und Straflager etwa. Weiter besitzen Heterotopien „die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen“ und sie „stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, das heißt, sie haben Bezug zu Heterochronien“. 267 Wie jede mediale Kon-Figuration setzt überhaupt jedes Dispositiv tradierte Wissensregime und Machttechnologien fort, inkorporiert aber beständig auch die darin nicht fassbaren Fluchtlinien. Konsequent verschieben sich die Orte des Sprechens und Sehens und es kommt zu heterochronen Überlagerungen und Brüchen. Deshalb verbindet Dispositive und Heterotopien ein gemeinsames „System der Öffnung und Abschließung […], das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht“: 268 Wo immer eine readjustierende Polizeigewalt dispositive Ordnungen wiederherzustellen und zu zementieren sucht, gelingt es widerständigen Kriegsmaschinen diese wieder zu öffnen und herauszufordern. Heterotopien, schreibt Foucault, bewegen sich „zwischen zwei extremen Polen“, sie bilden entweder „einen illusionären Raum […], der den ganzen realen Raum […] als noch größere Illusion entlarvt“, oder aber sie schaffen „einen anderen Raum […], der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist“. 269 Mikro- und Makropolitik, d.h. die widerspenstigen Kräfte und ihre polizeiliche Verwaltung, oszillieren in Dispositiven zwischen diesen beiden heterotopen Polen, die gleichsam den Horizont disponierter (Un-)Ordnung markieren. Noch die Reintegrationen makrodispositiver Kräftelinien bergen insofern revolutionäres Potential, als dass die Vereinnahmung mikrodispositiver Fluchtlinien niemals ihre eigene Transformation ausschließt. Eine Analyse der Öffnungs- und Schließungsmechanismen der Dispositive entspricht im Kern den politischen Fragen nach den diskursiven Wahrheitsspielen, nach dem Flottieren der Machtbeziehungen, schließlich nach den subjektiven Selbsttechnologien. Die Heterotopie betont so das ‚Dis-‘ der Dispositive, sie lässt letztere als politisches Spiel von An- und Umordnung, d.h. von Disposition und Disponibilität begreifbar werden. Widerständige Medien. Intermediale Bruchlinien des Internets Werden Computer oder Internet als heterotope Mediendispositive in den Blick genommen, beginnt sich das Denkbild polizeilich kontrollierbarer Remediationen tatsächlich zu verschieben. Die (Welt-)Kriegsgeschichte di-
267 Ebd., S. 938. 268 Ebd., S. 940. 269 Ebd., S. 941.
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gitaler Medien wird umso nachvollziehbarer, je schärfer das heterotope Spiel von Disposition und Disponibilität an Kontur gewinnt. Arndt Neumann etwa legt überzeugend dar, dass sich die „Entstehung des Internets […] nicht ohne die Einflüsse von Gegenkultur und Studentenrevolte denken [lässt]“, 270 was sich gerade an der intermedialen Grenze digitaler Netze verdeutlicht: „[I]m Übergang von der Hegemonie des Fernsehens zu der des Internets findet sich eine neue Ordnung des Raumes und eine veränderte Gestalt von Kommunikation und Kooperation. Das Fernsehen dient nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. […] In der Passage zum Internet tritt das Netzwerk und die wechselseitige Kommunikation an die Stelle von Zentrum und Kommando. […] Die Subjektivierungslinien entgehen der bestehenden Formation des Wissens und der Macht, verweigern sich dem zentralisierten Kommando und öffnen einen Raum jenseits der Grenzen der Einschließungsmilieus.“ 271
Die Heterotopie des Dispositivs Internet rührt dabei gerade aus der unvollständigen Schließung, die dessen dominant militärisch diskursivierte Geschichte zu denken vergisst. Zwar ist die kritische Bemerkung des Autorenkollektivs Tiqqun, das Internet sei eine „Kriegsmaschine, die analog zum System der Autobahn erfunden wurde und […] von der amerikanischen Armee auch als dezentralisiertes Werkzeug zur inneren Mobilmachung gedacht [war]“, nicht von der Hand zu weisen. 272 Doch die staatliche Aneignung dieser Kriegsmaschine – das frühe Netz der Advanced Research Projects Agency (ARPA) unterstand direkt dem Secretary of Defence – bildet nur einen Aspekt ihrer Entstehung. Die Kehrseite findet sich in einer ganzen Reihe divergierender Kräfteverhältnissen und Subjektpositionen desselben Netzes, die ebenso Teil seiner Erfolgsgeschichte sind: Bereits im frühen ARPAnet tauchte ein spielerischer Umgang mit Computern und ihren Netzwerken auf. Angesichts der Infrastruktur von zentralen Großrechnern wurden Forderungen nach deren Dezentralisierung und freier Benutzung laut und in den Computerclubs der 1970er und 1980er Jahre entwickelten sich Formen nicht kommerzieller und nicht hierarchischer Kooperation. 273 Die Intermedialität des Internets – und gewiss auch jene des Films, des Fernsehens, der Literatur oder der Kunst – ist niemals bloß eine der Remediation oder der Re-Präsentation, sondern immer eine der spannungsgeladenen Hybridation. Ganz im Sinne medial geprägter Dispositive der Macht drückt das frühe Internet so einen makro-
270 Neumann, Arndt: Das Internet-Dispositiv, in: tiefenschärfe. Zeitschrift des Instituts für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg, WS 2002/2003, 2003, S. 10-12, hier: S. 10. 271 Ebd., S. 11. 272 Tiqqun: Kybernetik und Revolte, a. a. O. [Anm. 194] S. 20, Herv. i. Orig. 273 Vgl. Neumann: Das Internet-Dispositiv, a. a. O. [Anm. 270], S. 11.
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dispositiven Umbruch aus. „Die Ablösung des Stellungskrieges und des fest umrissenen Ortes der Kasernen durch die fortwährende Bewegung“, so bemerkt Neumann zu Recht, „findet im Übergang von der Hegemonie des Fernseh-Dispositivs zur der des Internet-Dispositivs seine Entsprechung“. 274 Gegenwärtige Formen medialer Kriegsführung, die von angeblich chirurgisch-präzisen Drohnenangriffen bis zur staatlichen Kommunikationskontrolle in sozialen Netzwerken reichen, gehen dementsprechend mit ebenso virulenten Widerstandsformen einher: Guerilla-Kriege, weltweite Terrornetzwerke, internationale Cyberkriminalität oder online publizierende Oppositionelle und Whistleblower sind Symptome gegenwärtiger Makropolitiken, deren veränderte polizeilichen Mechanismen freilich nicht mehr bloß zentralisiert und hierarchisch funktionieren, sondern vielmehr mittels höchst flexiblen und modulativen Mechanismen operieren. Noch den gouvernementalen und kontrollgesellschaftlichen Regimen entfliehen indes neue Subjektivierungslinien. Gewiss wird im Internet derzeit mehr denn je und unter staatlicher wie wirtschaftlicher Rigide verdatet, überwacht und kontrolliert, doch haben sich dagegen abermals widerständige Kommunikationswege ausgebildet. Im sogenannten Darknet etwa besteht eine technologisch mit dem populären Internet identische Infrastruktur, die allerdings weder googel- noch zensierbar ist, die Spur jeder Benutzung über unzählige Zwischenserver verschleiert und deshalb volle Anonymität garantiert. 275 In diesem ‚dunklen‘ Netz wiederum erscheint politisches Handeln genauso möglich wie polizeiliche Interventionen notwendig. Hier zirkulieren revolutionäre Bilder und subversive Parolen – etwa des Arabischen Frühlings oder des syrischen Bürgerkriegs, hier florieren aber auch der Waffen- und Drogenhandel oder die Kinderpornographie. Ausgehend von jenen Machttechnologien des Ein- und Ausschlusses, die Foucault anhand historischer Abwehrmechanismen gegen die Lepra-, Pest- und Pockenepidemien illustriert, schließt Phlipp Sarasin, Foucaults Theorie der Macht sei „schon immer auch eine Theorie des Umgangs von
274 Ebd., S. 12. Die mitunter in digitalen Netzen stark vertretenen, weltweiten Occupy-Bewegungen der Jahre 2011 und 2012 im Fokus, schreiben ähnlich Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer: „Ob die Produktion von Gütern, die Teilnahme an kulturellen Gemeinschaften, die Festsetzung ökonomischer oder sozialer Werte, immer weniger findet vor Ort statt oder ist an einen Ort gebunden und somit für unsere eigene ortsgebundene Existenz greifbar. Das reale Leben wird in einem globalen Markt zu einer immer abstrakteren Einheit von übergeordneten Massen.“ (Mörtenböck/Mooshammer; Occupy, a. a. O. [Anm. 55], S. 38, Herv. v. mir, SaS.) 275 Vgl. Seemann, Michael: Into The Deep Wide Open. Unterwegs im Darknet, in: SPEX. Magazin für Popkultur, November 2012, URL: http://www.spex.de/ 2012/11/19/darknet-reportage-mspro-michael-seemann/.
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Gesellschaften mit Infektionskrankheiten“ 276 gewesen. Doch ist diese Zuspitzung, näherhin die Metaphern der Infektion und ihrer Abwehr, symptomatisch für eine weitgehend polizeiliche Interpretation netzförmiger Macht. Gewiss akzentuiert Foucault besonders im Zuge seiner Untersuchungen der Disziplinartechnologien die re-adjustierende Kraft der Dispositive, die kaum ein Außerhalb der Machtregime zu erlauben scheinen. 277 Demgegenüber erscheinen Gilles Deleuzes Betonung der Fluchtlinien in Dispositiven und seine mit Félix Guattari ausgearbeiteten Konzepte der Mikropolitik und der Kriegsmaschinen offener, ja politischer, fokussieren sie doch stets eine „doppelte Bewegung von Auflösung und Stabilisierung“. 278 Doch sind beide Akzentuierungen keineswegs kontradiktorisch. Die Untersuchung der Disziplinarregime bei Foucault stellt lediglich einen punktuellen Schwerpunkt seiner Machtanalytik dar, die überdies zu Recht polizeiliche Aspekte herausstreicht. Kontrastiert mit den früheren Konturen der Heterotopien und ergänzt durch seine späteren Arbeiten zur Gouvernementalität und Pastoralmacht 279 treten die Wissensregime und Machtmodalitäten dagegen erneut und verstärkt als Spiele der Wahrheit hervor. In der Heterotopie der Dispositive durchkreuzen sich setzende Politiken und politische Widerstandspunkte beständig, hier koexistieren und konfligieren die (Trans-)Formation audiovisueller Archive mit ihrer eigenen, machtvollen
276 Sarasin, Philipp: Smallpox Liberalism. Michel Foucault und die Infektion, in: Claus Pias (Hg.): Abwehr. Modelle – Strategien – Medien, Bielefeld 2009, S. 27-38, hier: S. 30. 277 Vgl. im Sinne dieser Interpretation auch exemplarisch: Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 72], S. 111ff. sowie den Sammelband Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, dessen ersten beiden Teile sich explizit an Beiträgen zu den Grenzen der Foucault’schen Machtanalyse, respektive am Potential des Widerstandsprinzips orientieren. Programmatisch für die gegensätzlichen Positionen sind die Beiträge von Brieler und Klass (vgl. Brieler, Ulrich: Michel Foucault und 1968: Widerständige Subjektivitäten, in: Daniel Hechler/Axel Philipps (Hg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld 2008, S. 19-37; Klass, Tobias N.: Foucault und der Widerstand. Anmerkungen zu einem Missverständnis, in: Daniel Hechler/Axel Philipps (Hg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld: 2008, S. 149-168.). 278 Neumann: Das Internet-Dispositiv, a. a. O. [Anm. 270], S. 10. Vgl. in diesem Sinne auch Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt a.M. 1998, S. 122f. und Jäger, Christian: Kriegsmaschinen. Zur politischen Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, in: Heinz-Peter Preusser (Hg.): Krieg in den Medien, Amsterdam 2005, S. 423-435, hier: S. 424ff. 279 Vgl. hierzu die folgenden Ausführungen im Kapitel 4.2., Gouvernementalität – Gouvernemedialität.
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Topo-Nomologie. Sich einer „Heterotopologie“ 280 der (Medien-)Dispositive anzunähern, verlangt deshalb nicht zuletzt deren Denkweise zu verschieben – weg nämlich von baumartigen, hierarchischen Netzwerkstrukturen und hin zu rhizomatischen Geflechten.
280 Foucault: Von anderen Räumen, a. a. O. [Anm. 256], S. 936. Vgl. auch mein Plädoyer Für eine Heterotopologie der Medien an anderer Stelle (Sieber, Samuel: Fluchtlinien. Für eine Heterotopologie der Medien, in: Nadja EliaBorer/Constanze Schellow/Nina Schimmel/Bettina Wodianka (Hg.): Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013, S. 93-106.).
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3.4. F LUCHTLINIEN . Z UR R HIZOMATIK
MEDIALER
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D ISPOSITIVE
„Es ist nicht einfach, die Dinge von der Mitte her zu sehen, statt von oben auf sie herabzusehen oder von unten zu ihnen hinauf, oder von links nach rechts oder umgekehrt. Versucht es, und ihr werdet sehen, dass sich alles ändert“. 281
Gilles Deleuze zufolge ist es einfach, „jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Verbindung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen“. 282 Ähnliches bemerkt Foucault über „die große technologische Veränderung im Westen“: „Wir sagen gerne […], die große Erfindung sei bekanntlich die Dampfmaschine gewesen oder eine andere Erfindung dieser Art. Natürlich war die Dampfmaschine sehr wichtig, aber es gibt eine Reihe ebenso wichtiger Erfindungen, die letztlich die Voraussetzung für deren Funktionieren bildeten. Das gilt auch für die politische Technologie. Im 17. und 18. Jahrhundert gab es zahlreiche Erfindungen auf dem Gebiet der Machtformen. Darum müssen wir neben der Geschichte der industriellen auch die der politischen Techniken betrachten“. 283
In diesem, nicht aber im technizistischen Sinne werden Medien politisch wirksam. Mediendispositive bilden einen Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlich-politischer Formation und Transformation, d.h. sie werden in Dispositiven gegenwärtiger Macht- und Subjektivierungsregime überhaupt erst benenn- und problematisierbar. Zugleich spielen die „globalen Formeln, mit denen die jeweils hegemonialen Gesellschaftstypen benannt werden“, so Jürgen Link, „für die Artikulation von Resistenz eine unverzichtbare Katalysatorrolle“. 284 Folgerichtig rekurrieren hegemoniale Strukturen und resis-
281 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 39. 282 Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen, 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262, hier: S. 258f. 283 Foucault: Maschen der Macht, a. a. O. [Anm. 35], S. 228, Herv. v. mir, SaS. Die zentralen Erfindungen im Feld politischer Technologien waren im Kontext der industriellen Revolution die Disziplin und die Bevölkerungspolitik (vgl. ebd., S. 228ff.). 284 Link, Jürgen: „Normalisierungsgesellschaft“? „Kontrollgesellschaft“? „Flexibler Normalismus“? Über einige aktuelle Gesellschaftskonzepte, mit einem Blick auf die »Reformen«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskursanalyse 49, 2005, S. 4-10, hier: S. 4.
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tente Kräfte gleichermaßen auf mediale Kommunikation und ihre technische Vermittlung. Das heterotope, d.h. polizeilich-oppositionelle Zwischenspiel von Macht und Medien vollzieht sich in einer gleichsam rhizomatischen Verflechtung, die weder Zentrum noch Universalität, sondern lediglich Prinzipien der Mannigfaltigkeit kennt. Medien-Gesellschaften Das digitale Zeitalter ist augenscheinlich eines der Netzwerke: Die „charakteristische Gesellschaftsstruktur des Informationszeitalters“, so Manuel Castells in seinem Programm der Netzwerkgesellschaft, beruht auf dem „technologischen Paradigma“ von „mikrotechnologisch basierten Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Gentechnologie“. 285 Neu an der Netzwerkgesellschaft sind in erster Linie ihre Medien, die für Castells sogar das biologische Leben affizieren: „Was in unserem Zeitalter wirklich neu ist, ist eine Reihe neuer Informationstechnologien. […] [E]in Wechsel von computerzentrierten Technologien zu diffusen, netzwerk-basierten Technologien vollzieht sich, […] und was fast noch wichtiger ist, wir sind dabei, die biologische Revolution zu entfesseln, die zum ersten Mal (genetisches) Design und genetische Manipulation lebender Organismen, einschließlich des Menschen, ermöglicht.“ 286
In der Netzwerkgesellschaft fungieren digitale Netzwerke als Technologie und Metapher zugleich: Wie eine „neue[] Ökonomie“ nicht nur „informationell“ und global, sondern vor allem „in Netzwerken organisiert“ ist, so sind „[k]ulturelle Ausdrucksformen jedweder Art“ zunehmend in einen „elektronischen Hypertext einbezogen oder durch ihn geformt“. 287 Diese „zunehmende Einbeziehung der Kommunikation in den Raum eines flexiblen, interaktiven elektronischen Hypertextes“, so Castells weiter, hat zudem „auch einen enormen Einfluss auf die Politik“, seien doch „[i]n nahezu allen Ländern die Medien zum Schauplatz der Politik geworden“. 288 285 Castells, Manuel: Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft, in: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 11, Nr. 4, Dezember 2001, S. 429-439, hier: S. 423. 286 Ebd., S. 427. 287 Ebd., S. 427, S. 429. 288 Ebd., S. 429. Selbstverständlich ist auch Castells Netzwerkgesellschaft als Versuch zu werten, die Gestaltoffenheit und Metaphorizität digitaler Medien zugleich in ihrer modellhaften und technologischen Wirkungsdimension zu fassen. Dass die Netzwerkgesellschaft unweigerlich einem ‚naturalisierten‘ Medientechnizismus verhaftet bleibt, zeigt sich gleichenorts, wenn die weitgehende Missachtung des dispositiven Charakters ebendieser Medien aufbricht: „Wegen der Integrationsfähigkeit und Flexibilität dieses Systems symbolischen Aus-
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Einen ähnlichen Status spricht Byung-Chul Han medialen Technologien in seinen Postulaten der Müdigkeitsgesellschaft und der Transparenzgesellschaft zu. In ersterer verdankt sich „die Müdigkeit der Leistungsgesellschaft […], die vereinzelnd und isolierend wirkt“, im „neuronal bestimmt[en]“ 21. Jahrhundert unter anderem dem Computerspiel, das „eine breite, aber flache Aufmerksamkeit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich ist“, erzeuge. 289 Und in der Transparenzgesellschaft, die unter anderen, richtiggehend inflationär verwendeten Gesellschafts-Komposita auch „Ausstellungsgesellschaft“ sei, spielen abermals medial-kommunikative Formen eine zentrale Rolle, etwa im Kontext einer obszönen „Hypervisibilität“.290 Den Netzwerk-, Müdigkeits- oder Transparenzgesellschaften ist wesentlich um die Beschreibung makrodispositiver Machtstrukturen zu tun, für die mediale (Mikro-)Dispositive als Denkbild fungieren. Ob Ursache oder Symptom: Mediale Infrastrukturen realisieren hier die gegenwärtig mehr oder minder komplex ausgebildeten Herrschaftsgefüge. Freilich droht damit ein Rückfall in mediendeterministische und technokratische Denkbilder, deren Funktionalität an frühe Stimulus-Response-Modelle erinnert. Schon McLuhans These der apparativen Extension des Menschen birgt das Risiko eines allzu reduzierten Denkens medientechnischer Macht, wie Georg Christoph Tholen schreibt: „Doch die prinzipielle Aporie einer solchen anthropologischen wie ontologischen Reduktion der Technik liegt darin, daß die als ontisches Kontinuum unterstellte Linearität, die zugleich das Schema der regressiven wie progressiven Kulturkritik technokratischer Vernunft bedingt, als eine symmetrische und lineare Entwicklung vorgestellt wird, bei der sich in spiegelbildlicher Entsprechung Wesensbestimmung und -eigenschaften von Mensch und Maschine korrelieren ließe. Folge dieses strikt evolutiven Schemas – ohne Brüche und Risse – ist, […] die Annahme einer funktionalen Äquivalenz der ‚Leistungen‘ menschlicher und maschineller Intelligenz.“ 291
Noch die makropolitisch mutmaßlich erdrückende Struktur digitaler Netzwerkgesellschaften ist brüchig und rissig, denn die Heterotopie der (Medi-
tauschs bezieht es die meisten kulturellen Ausdrucksformen in sich ein und bereitet damit auch der Bildung einer […] ‚realen Virtualität‘ den Weg.“ (Ebd.) 289 Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2011, S. 5, S. 25, S. 55. 290 Vgl. Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Berlin 2012, S. 18f. „Obszön ist die Hypervisibilität“, so Han, „der jede Negativität des Verborgenen, des Unzugänglichen und des Geheimnisses fehlt. Obszön sind auch die glatten Ströme der Hyperkommunikation, die frei von jeder Negativität der Andersheit ist. Obszön ist der Zwang, alles der Kommunikation und Sichtbarkeit auszuliefern. Obszön ist die pornografische Zur-Schau-Stellung des Körpers und der Seele.“ (Ebd., S. 23, Herv. i. Orig.) 291 Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. 2002, S. 170.
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en-)Dispositive gleicht eher einer Rhizomatik, in der herrschaftliche Verhältnisse von flotierenden Machtbeziehungen und starre Segmentierungsvon dynamischen Fluchtlinien durchkreuzt werden. Rhizomatisch ist Gilles Deleuze und Félix Guattari zufolge ein Gefüge, das „weder Anfang noch Ende“ hat, „immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück“, ja „Intermezzo“ ist. 292 Auf das Spiel von Disposition und Disponibilität anwendbar ist das Rhizom in dreifacher Hinsicht: Erstens wird damit erneut die räumliche Dimension der Dispositive unterstrichen, ohne aber irgendeine Form von gegebenem Zentrum oder unverrückbarer Hierarchie anzuerkennen. In Dispositiven ereignet sich ein Wuchern, sie verlaufen niemals bloß von oben nach unten oder umgekehrt. Zweitens multipliziert ein rhizomatisches Denken die vermeintlich distinkt beschreibbaren, ‚isolierten‘ Wirkungsdimensionen der (Medien-)Dispositive und betrachtet sie in ihrer Mannigfaltigkeit, womit eine grundsätzliche, nicht zuletzt politisch denkbare Kontingenz dispositiver Formvielfalt gegeben ist. Und drittens verstärken sich in rhizomatischer Perspektive die asignifikanten (Um-)Brüchen medialer Dispositive und konturieren das Wechselspiel von polizeilicher Readjustierung und politischer Intervention. Ein rhizomatisches Denken der Macht vermag dergestalt noch gegenwärtig florierende Forschungsmethoden von Neuem aufzubrechen, wie ich im Folgenden vertiefen und illustrieren möchte. Zur Rhizomatik medialer Vernetzung Deleuzes und Guattaris Eröffnungskapitel von Tausend Plateaus will mit dem Rhizom sowohl ein Denkmodell vorschlagen als auch eine ganze Reihe empirischer Beobachtungen fassbar machen. Es geht den Autoren zunächst um die Frage, wie Formen des Wissens und Denkens anders vorstellbar sind, als in einem versinnbildlichten „Wurzel-Baum“, in dem noch in feinsten Verästelungen ein zentraler Ausgangspunkt am Werk ist. Das Medium des Buches etwa ist für Deleuze und Guattari grundsätzlich mit der „Einheit“ einer verwurzelten Struktur kohärent: „Das Buch als geistige Realität dagegen, der Baum oder die Wurzel als Bild, bringt unaufhörlich dieses Gesetz hervor: aus eins wird zwei, aus zwei wird vier… Die binäre Logik ist die geistige Realität des Wurzel-Baumes. […] Mit anderen Worten, dieses Denken hat die Mannigfaltigkeit nie begriffen: um auf geistigem Wege zu zwei zu kommen, muß es von einer starken, grundlegenden Einheit ausgehen.“ 293
Anders das Rhizom, das Deleuze und Guattari als Gegenmodell vorschlagen, denn dieses ist „als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln“ und findet seine Entsprechung eher in „Zwie292 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 37. 293 Ebd., S. 14.
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bel- und Knollengewächsen“ oder im „Bau der Tiere“, die gleichermaßen rizomorph sind. 294 Die ersten beiden Prinzipien unter den „ungefähre[n] Merkmale[n] des Rhizoms“ sind deshalb „[d]as Prinzip der Konnexion und der Heterogenität“, denn „[j]eder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden“. 295 Rhizomatische Denkbilder entsprechen nicht nur den heterogen-relationalen Dispositiven, sie decken sich auch mit deren diskursiv-machttechnologischen Pointe: „Kollektive Äußerungsgefüge funktionieren tatsächlich unmittelbar in maschinellen Gefügen, und man kann keinen radikalen Einschnitt zwischen Zeichenregimen und ihren Objekten machen. […] Ein Rhizom […] verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen.“ 296
In ihrer fluktuierenden Struktur kennen Rhizome keinerlei Zentrum oder Hierarchie, eher unterstreichen sie eindringlich ein zugleich verbindendes und trennendes Dazwischen. 297 Das virulente Politikum der Mediengesellschaften beginnt sich hier bereits abzuzeichnen: In den gegenwärtig florierenden Netzwerkmetaphern geht es, so Frank Hartmann, um nicht weniger als „das Zentralthema des zwanzigsten Jahrhunderts, um das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Technologie“. 298 Konnexion und Heterogenität der Rhizome verantworten ein drittes Prinzip, jenes der Mannigfaltigkeit, das sich abermals gegen jede Form der Einheit wendet. In rhizomatischen Verflechtungen sind „Wurzel und Trieb nicht unterscheidbar“, 299 weshalb rhizomatische Dispositive nur mehrdimensional denkbar sind:
294 Vgl. ebd., S. 16. 295 Ebd. 296 Ebd., S. 16f, Herv. i. Orig. Zum Begriff der Maschine bei Deleuze und Guattari und dessen Analogien zum Dispositivbegriff Michel Foucaults vgl. auch Haß: Drama des Sehens, a. a. O. [Anm. 136], S. 54ff. 297 Wobei kritisch zu hinterfragen bliebe, inwiefern die Rhizome, respektive ihr ‚Wuchern‘ in ihrer zeitlichen Dimension nicht doch distinkt-binäre, ggf. gar hierarchische Entwicklungslinien implizieren, in denen zäsurierende Einschnitte – etwa politische Widerstände oder allgemeiner ‚Krisen‘ – immer nur von der Warte dieses oder jenes rhizomatischen Winkels aus vorstellbar bleiben. „Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie“, schreiben Deleuze und Guattari (Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 21.). Zumindest in der suggerierten Kontinuität rhizomatischer Geflechte scheint aber eine evolutive, gleichsam genealogische Dynamik impliziert, die mir wiederum mit einer Theorie heterotoper Dispositive – die wie gezeigt durchaus Gewicht auf Momente der Zäsur legt – eher dekonstruierbar erscheint. 298 Hartmann, Frank: Medienphilosophie, Wien 2000, S. 299. 299 Ebd., S. 301.
128 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN „Es gibt keine Einheit, die dem Objekt als Pfahlwurzel dient oder sich im Subjekt teilt. Noch nicht einmal eine Einheit, die im Objekt verkümmert oder im Subjekt ‚wiederkehrt‘. Eine Mannigfaltigkeit hat weder Subjekt noch Objekt, sondern nur Bestimmungen, Größen, Dimensionen, die nicht wachsen ohne daß sie sich dabei verändert […].“ 300
In medienwissenschaftlicher Perspektive tritt die denkerische Radikalität dieser Mannigfaltigkeit gerade dann zu Tage, wenn sie sich in vermeintlich offensichtlichen Analogien des Rhizoms, nämlich in der telemedialen Vernetzung, zurückzieht. Schon in der Netzkultur der 1990er Jahre tritt das Rhizom als „Metapher der postliterarischen Kultur“ 301 auf. Seither metaphorisiert es als „Medienspezifik des Raum-Designs“ bevorzugt das Potential, „gültige kulturelle Übereinkünfte über die Orientierung in Räumen in bestimmten Punkten zu modifizieren“. 302 Die sich hartnäckig haltenden Utopien demokratischer, partizipativer oder sozialer Mediennetzwerke, die sich gerade deshalb so schlecht belegen lassen, weil sie ständig bröckeln, hängen mit dieser netzförmigen Metaphorisierung zusammen. In Rahmen einer „Medienphilosophie des Raumes“ argumentiert etwa Götz Großklaus: „‚Cyberspace‘ verweigert sich irgendeiner herkömmlichen Kartographie; er kann nur noch prozessual gedacht werden, z.B. als ‚wucherndes Rhizom‘, das die verschiedensten Formen annehmen kann […]. ‚Cyberspace‘ – vorgestellt als Rhizom – lässt sich nur denken in dieser permanenten Ausdehnung von Punkt zu Punkt, von Knoten zu Knoten, von Netz zu Netz – einer Expansion, die niemals einer bestimmten Richtung folgt und für die es keine linear-evolutive ‚Aus-Richtung‘ geben kann. Die verkettende Wucherung des Rhizoms widerlegt die aufsteigend-hierarchische Verzweigung des porphyrischen ‚Kommandobaums‘“. 303
Doch ist es von dieser Synthese von Internet und Rhizom nur ein kleiner Schritt zur konstruktivistisch-technokratischen Re-Codierung der (Netz-) Politiken digitaler Medien: Die eher illustrativ anmutende Forderung Deleuzes und Guattaris nach einem „Rhizom-Buch, das nicht mehr dichotom, zentriert oder gebündelt ist“ 304 reformuliert etwa Frank Hartmann als Überwindung des „enzyklopädische[n] Projekt[s] einer Lesbarmachung der Welt“: 305
300 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 18. 301 Hartmann: Medienphilosophie, a. a. O. [Anm. 298], S. 303. 302 Großklaus, Götz: Medienphilosophie des Raumes, in: Mike Sandbothe/Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, S. 3-20, hier: S. 11. 303 Ebd., S. 16. 304 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 38. 305 Vgl. Hartmann: Medienphilosophie, a. a. O. [Anm. 298], S. 303.
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„Man muß angeben können, wie aus dem passiven Rezipieren vorgefaßter Inhalte ein interaktives Gestalten wird, das dem Anteil der Leser am Text besser gerecht wird, mit anderen Worten: wie aus dem Text in einen Hypertext zu entkommen wäre, der die endlose Grammatik der Möglichkeiten nicht mehr künstlich beschneidet.“ 306
Hartmanns Pointe ist letztlich, dass Vannevar Bush, seinerzeit ein militärisch-industriell beschäftigter „Agent der ‚Reterritorialisierung‘“, bereits mit der Memex eine rhizomatische Maschine entworfen habe, die mintunter Grundlage „für die Weiterentwicklung des Computers in Richtung der Online Vernetzung“ wie auch „der Entwicklung von Hypermedia Informationssystemen“ gewesen sei. 307 Bushs Memory Extender aber war keineswegs eine Mannigfaltigkeit, sondern vielmehr ein hochgradig übercodierendes und reterritorialisierendes Dispositiv, das einer anthropologischen Reduktion der Technik genauso verhaftet war wie der hierarchischen Struktur der Bürokratie und den Strategemen kriegerischer Technologie. Das wahre Erbe von Bushs Entwurf, das menschliche Gehirn um einen ‚Schreibtisch‘ zu erweitern, trat erst unlängst das Microsoft Forschungsprojekt „MyLifeBits“ an, das sich der lückenlosen Aufzeichnung des Alltags verschrieben hat, unter anderem mittels einer um den Hals getragenen „SenseCam“, die automatisch sogenannte Erinnerungsbilder aus Ego-Perspektive aufzeichnet. 308 Mit Blick auf die Netzkultur der 90er Jahre schrieb Richard Barbrooks schon 1998 polemisch, dass „die Schriften von Deleuze und Guattari theoretische Metaphern zu bieten [scheinen], die die nicht-kommerziellen Aspekte des Netzes umfassen“, was allerdings dazu führe, dass „unter der Bedrohung durch die Banalisation der Hi-tech Geschenkökonomie […] die europäische Avantgarde oberflächlich den kapitalistischen Fundamentalismus der kalifornischen Ideologie [umarmt]“. 309 Nur scheinbar oder punktuell also löst sich, wie Götz Großklaus meint, „der virtuelle Raum des Cyberspace […] von allen stabilen Orts-Identitäten, von allen Formen einer grenzsetzenden Kartographie“. 310 Ein „Nebenwurzel-System“ oder die „Wurzelbüschel“, so Deleuze und Guattari, „auf die unsere Moderne sich gern beruft“, belegen gegebenenfalls eine „Verkümmerung der Hauptwurzel“, doch „bleibt ihre Einheit als vergangene, künftige oder zumindest mögliche bestehen“. 311 Die digitalen Netzwerke des Internets oder Cyberspace per se sind deshalb keine Rhizome im Sinne einer technisch a priori garantierten Mannig-
306 Ebd. 307 Ebd., S. 304ff. 308 Vgl. http://research.microsoft.com/en-us/projects/mylifebits/default.aspx sowie http://research.microsoft.com/en-us/um/cambridge/projects/sensecam/. 309 Vgl. Barbrook, Richard: Die heiligen Narren. Deleuze, Guattari und die Hightech Geschenksökonomie, in: Telepolis, Dezember 1998, URL: http://www. heise.de/tp/artikel/6/6344/1.html. 310 Großklaus: Medienphilosophie des Raumes, a. a. O. [Anm. 302], S. 17. 311 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 15.
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faltigkeit der Diskurse, Machtstrategien und Subjektivitäten. Vielmehr handelt es sich um heterotope Mediendispositive, denen je Möglichkeiten alternativer Widerspenstigkeiten und vereinigender Hierarchien gleichermaßen inhärent sind. Dem folgelogischen Widerspruch zum Trotz kommt auch Großklaus zu diesem Schluss: „Zu beliebigen Ausgangsräumen eröffnet der Cyberspace (rhizomatisch, digitalabstrakt-autonom, hybrid) einen synthetischen, artifiziellen Gegen-Raum. […] Als Hintergrunds-Norm unterschiedlicher räumlicher Absonderung und Gegenplatzierung in Form des ‚anderen Ortes‘ (Heterotopie), des ‚Gegen-Orts‘ (Antitopie) und des ‚Nicht-Orts‘ (Utopie) aber bleibt ein wie immer historisch-kulturell wohldefinierter Ausgangsort (Topos) kenntlich und der kulturellen Erinnerung zugänglich.“ 312
Hieraus ergibt sich Großklaus zufolge, dass „die ‚alten‘ – möglicherweise doch universellen – raumsprachlichen Indices“ unverändert die „Grenzziehung im sozialen Raum“ orchestrieren, abermals also „zur Eingrenzung und Ausgrenzung, zur Unterscheidung von Bereichen des Privaten und Öffentlichen im Rechtssinn, von Normzonen und Randzonen, […] von Räumen des Eigenen […] und Räumen des Fremden – Anderen“ dienen. 313 Die Figur des Netzwerks ist – im medientechnologischen wie im methodologischen Sinne – nur mit äußerster Vorsicht zu genießen. Konnexion, Konjugation und die Paradigmen des Netzwerks In Zeiten globaler Netzwerkgesellschaften erlebt Vernetzung nicht nur in medienwissenschaftlichen Fragestellungen ihre Blütezeit. 314 Als „soziales und technisches Paradigma“ 315 erfahren netzförmige Denkbilder richtiggehend inflationäre Verwendung. „Gegen Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts“, so Arno Bammé, Wilhelm Berger und Ernst Kotzmann, „beginnen Netzwerk-Theorien […] in den Sozialwissenschaften die bislang dominierenden System-Theorien […] abzulösen“. 316
312 Großklaus: Medienphilosophie des Raumes, a. a. O. [Anm. 302], S. 17f. 313 Ebd., S. 5. 314 Seit Herbst 2012 besteht in der Gesellschaft für Medienwissenschaft beispielsweise eine Arbeitsgruppe „Daten und Netzwerke“, die sich ebendiesen als „sowohl soziopolitische als auch medientechnische Großbegriffe“ verschrieben hat. Vgl. http://datanetworks.wordpress.com/. 315 Greif, Hajo/Werner, Matthias (Hg.): Vernetzung als soziales und technisches Paradigma, Wiesbaden 2012. 316 Bammé, Arno/Berger, Wilhelm/Kotzmann, Ernst: Vom System zum Netzwerk: Perspektiven eines Paradigmenwechsels in den Sozialwissenschaften, in: Hajo Greif/Matthias Werner (Hg.): Vernetzung als soziales und technisches Paradigma, Wiesbaden 2012, S. 29-46, hier: S. 30.
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Die sicherlich prominenteste Vertreterin dieser Verschiebung ist die federführend von Bruno Latour entwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), deren Hochkonjunktur zumindest im deutschsprachigen Raum disziplinübergreifend anhält. Die Faszination für eine ANT, der weitum revolutionär-radikaler Charakter attestiert wird, gründet an erster Stelle in der auch diskurs- und machtanalytisch virulenten Frage nach technischen und/oder sozialen Apriori, wobei in der „Suche nach neuen Syntheseprinzipien jenseits von ‚Markt‘ und ‚Plan‘“ der Netzwerkbegriff zunächst auch „Ausdruck des vorläufigen Versuches [ist], ihnen einen Namen zu geben“. 317 Hier ansetzend, so unterstreichen Andréa Belliger und David Krieger in ihrer Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, distanziert sich dieselbe „von der modernen Übereinkunft und dem daraus resultierenden Technikund Sozialdeterminismus und versteht sich als grundsätzliche Alternative und als Kritik an der Moderne“. 318 Die ANT macht sich zur Aufgabe, „Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte“ gleichermaßen zu analysieren, da sie a priori „Mischwesen“ oder „technosoziale-semiotische Hybride“ bilden, die sich ihrerseits „in dauernd sich verändernden Netzwerken selbst organisieren“. 319 Die Relationen dieser Netzwerke sind „kontingent, historisch und nichtnatürlich“, 320 weshalb die ANT sich für sogenannte „Reinigungsverfahren“ interessiert, die aus dem höchst heterogenen „Realitätsmix Konstrukte wie Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt herauspräparier[en]“. 321 „[I]hre überwiegende Betonung des Raumes“ bedeutet auch „[d]ie Anerkennung der räumlichen Dimension der Macht innerhalb der ANT“, weshalb sich etwa mit Nick Couldry gar argumentieren lässt, sie leite sich „natürlich von Foucaults Rekonzeptionierung der Macht ab“. 322 Generell besteht „der wesentliche analytische Schritt der Akteur-Netzwerk-Theorie“ in der Grundprämisse, dass „das Soziale nichts anderes als strukturierte Netzwerke hete-
317 Ebd., S. 43. Dass alleine die methodologischen Diskursivierungen – ‚Synthese‘, ‚Namensgebung‘ – den vermeintlichen Vorzügen von Netzwerkanalysen zuwiderlaufen, springt hier schon ins Auge. 318 Belliger, Andréa/Krieger, David: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie, Bielefeld 2006, S. 19-49, hier: S. 22. 319 Vgl. ebd., S. 23. Hier klingen bereits Analogien zu Dispositivanalysen an. 320 Couldry, Nick: Akteur-Netzwerk-Theorie und Medien: Über Bedingungen und Grenzen von Konnektivitäten und Verbindungen, in: Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Shaun Moores/Carsten Winter (Hg.) Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorie, Wiesbaden 2006, S. 101-117, hier: S. 101. 321 Belliger/Krieger: Akteur-Netzwerk-Theorie, a. a. O. [Anm. 318], S. 23. 322 Couldry: Akteur-Netzwerk-Theorie und Medien, a. a. O. [Anm. 320], S. 107, zu den „zahlreichen Parallelen zu poststrukturalistischen Perspektiven“ vgl. auch van Dyk: Verknüpfte Welt, a. a. O. [Anm. 61], S. 180ff.
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rogener Materialien umfasst“ 323 und die ANT also – durchaus vergleichbar mit Rhizomen oder Dispositiven – keinerlei Universalien anerkennt. 324 In der Demontage des großen Leviathans Michel Callons und Bruno Latours findet sich das Zusammenspiel von Akteuren und Netzwerken politisch akzentuiert, geht es hier doch um die zentrale Frage, „auf welche Weise […] ein Mikro-Akteur zu einem Makro-Akteur werden [kann]“. 325 Dabei vollzieht sich allerdings eine durchwegs makrodispositiv verhaftete Verschiebung von „Gradienten der Widerstandsfähigkeit“ in so genannte „Black Boxes“: „Statt den Untersuchungsgegenstand in Dichotomien von sozial oder technisch, menschlich oder tierisch, mikro oder makro zu teilen, behalten wir für unsere Analyse nur Gradienten der Widerstandsfähigkeit und betrachten lediglich die Variationen relativer Solidität und Dauerhaftigkeit von verschiedenen Materialien. […] Ein Akteur wächst mit der Anzahl Beziehungen, die er oder sie in so genannten ‚Black Boxes‘ ablegen kann. Eine Black Box enthält, was nicht länger bedacht werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kann – Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte –, desto größer sind die Konstruktionen die man aufstellen kann. […] Natürlich bleiben Black Boxes niemals vollständig geschlossen oder richtig abgesperrt […]; Makro-Akteure können jedoch vorgeben, sie wären verschlossen und dunkel.“ 326
Die ANT, so zeigt sich hier, gewichtet die mikro- und makropolitischen Spiele gleichsam eindimensional, wenn sie „Makro-Akteure als MikroAkteuren [behandelt], die über vielen undichten Blackboxes platziert sind“. 327 Black Boxes und Widerstandsfähigkeiten der Akteur-Netzwerke
323 Law, John: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie: Ordnung, Strategie und Heterogenität, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 429-446, hier: S. 431f. 324 Die Akteur-Netzwerk-Theorie, so führen Andréa Belliger und David Krieger aus, „ist ein fraktales Modell, denn Netzwerke bestehen aus Akteuren, die sich selbst aus heterogenen Elementen zusammensetzen, d.h. Netzwerke sind. Es gibt keine einfachen Letztelemente – weder auf Seiten des Sozialen noch auf der Seite der Natur und der Materie. Wirklichkeit ist hybrid. […] Die ANT beschreibt weder Objekte noch Subjekte, sondern Netzwerke von Hybriden.“ (Belliger/Krieger: Akteur-Netzwerk-Theorie, a. a. O. [Anm. 318], S. 43.). 325 Callon, Michael/Latour, Bruno: Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 75-101, S. 76. 326 Ebd., S. 83, Herv. i. Orig. 327 Ebd., S. 84.
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persiflieren einen seltsam blinden Fleck relationaler Macht, d.h Reziprozität und Iterabilität der (auch widerständigen) Machtbeziehungen und Subjektivierungsweisen bleiben unterbestimmt. Diese zu denken gebietet das Rhizom, auf das sich die ANT zu einseitig bezieht, etwa als „umfangreichere Beschreibung“ davon, wie „[s]chwache, irreversible Interaktionen […] durch starke ersetzt [werden]“ und „statt einer Vielzahl von Möglichkeiten“ nun „Kräftelinien, obligatorische Passagepunkte, Richtungen und Deduktionen“ entstehen. 328 Dieses Ersetzen aber ist per se nicht rhizomatisch, es gleicht viel eher einer machtvollen, gleichsam polizeilich vereinigenden Strömung. Indem Deleuze und Guattari Konnexion und Konjugation differenzieren, unterstreichen sie dagegen die reziproke Verkreuzung mikro- und makrodispositiver Macht- und Subjektivierungseffekte: „Aus dieser Sicht [der Decodierungs- und Deterritorialisierungsbewegungen wie der Übercodierungen und Reterritorialisierungen (SaS)] müssen wir von jetzt an eine Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen der Verbindung (Konnexion) und der Vereinigung (Konjugation) von Strömungen machen. Während ‚Verbindung‘ die Art und Weise bezeichnet, in der decodierte und deterritorialisierte Strömungen sich wechselseitig Auftrieb geben, ihre gemeinsame Flucht beschleunigen und ihre Quanten vermehren oder aufheizen, zeigt die Vereinigung dieser selben Ströme eher ihren relativen Stillstand an, also eine Art von Kulminationspunkt, der nun die Fluchtlinien verstopft oder verschließt, eine allgemeine Reterritorialisierung bewirkt und die Strömungen der Vorherrschaft einer Strömung unterstellt, die sie übercodieren kann.“ 329
Konnexion und Konjugation kontrastieren also politisch-wiederständige Fluchtlinien – gleichsam ‚andere‘ Diskurse, Machtbeziehungen und Subjektivitäten – mit deren polizeilichen Reterritorialisierungen. Entscheidend ist dabei die Reziprozität beider Momente: Die „am stärksten deterritorialisierte Strömung“, so Deleuze und Guattari, ist stets jene, „die eine Akkumulation oder Konjunktion von Prozessen“ und dementsprechend eine „Übercodierung“ organisiert. 330 Das vierte Prinzip eines jeden Rhizoms ist jenes eines „asignifikanten Bruchs“, in dessen Sinne „ein Rhizom an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden [kann]“, sich aber stets „an seinen eigenen
328 Vgl. ebd., S. 85. Latour unterstreicht später erneut die Parallelen der Netzwerke zu den Rhizomen „um die technische Konnotation des Begriffs zu vermeiden“ (vgl. Latour, Bruno: Sozialtheorie und die Erforschung computerisierter Arbeitsumgebungen, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 529544, hier: S. 541.). 329 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 301, Herv. i. Orig. 330 Ebd.
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oder an anderen Linien [fortsetzt]“. 331 Rhizome umfassen folgerichtig Segmentarisierungs- genauso wie Fluchtlinien – und beide bilden kein statisches Netzwerk, sondern oszillieren ruhelos als politisch-polizeiliche Dynamik. Dieser Dynamik gegenüber ist der blinde Fleck der ANT ein doppelter: Die methodisch durchaus plausible Gleichsetzung von Mikro- und MakroAkteuren/Netzwerken betont zunächst tradierte Herrschaftsverhältnisse und blendet also rhizomatisch flotierenden Widerstandspunkte weitgehend aus. Die ANT tendiert dazu, untergeordnete, abhängige und marginale Positionen zu vernachlässigen. 332 Viel eher geht es ihr um das Überwinden von Widerständen, um „organisatorische Effekte“ eines Nebeneinanderstellens verschiedener Akteur-Netzwerke. 333 John Macgregor Wise lastet der ANT deshalb einen „Rückfall“ in oppressive Machtstrukturen an: „The argument here is [...], to point out ways in which actor-network analyses, though a powerful research perspective, tend to fall back into dominant (some would say oppressive) structures of power. The space that is described by that analysis is only that of established power, rather than the forms of resistance within that space.“ 334
Im Übrigen bietet die ANT keinerlei Perspektive für die reziproke Dynamik von Herrschaft und Widerstand. Die Black Boxes als „obligatorische[] Passierpunkte“ in Netzwerken 335 beschreiben makrodispositive Strukturen, die zwar ein Disponieren von Mikrodispositiven und -akteuren, nicht aber ihre eigene Disponibilität fassbar macht. In prozessualer Hinsicht kritisiert dies auch Nick Couldry: „Das Problem ist […] jedoch, dass die ANT stets viel mehr Interesse für die Herstellung von Netzwerken aufbrachte als für deren spätere Dynamiken. Die Schließung, die bei der Etablierung eines Netzwerks erfolgt, ist real, aber wie hilft sie dabei zu verstehen, wie sich ein Netzwerk verändert und vielleicht destabilisiert wird? Die Antwort ist, dass sie uns nicht dabei hilft – zumindest nicht ohne eine Erweiterung der Theorie.“ 336
Wenig interessiert sich die ANT, so Thomas Berker, für Grenzzonen, d.h. für jene zugleich disponierten und disponiblen Punkte in den Macht/WissenKomplexen, die ein rhizomatisches Denken der Dispositivanalyse betont:
331 Ebd., S. 19. 332 Vgl. Wise, John Macgregor: Exploring technology and social space, Thousand Oaks 1997, S. 34. 333 Law: Notizen, a. a. O. [Anm. 323], S. 442. 334 Wise: Exploring, a. a. O. [Anm. 332], S. 34. 335 Couldry: Akteur-Netzwerk-Theorie und Medien, a. a. O. [Anm. 320], S. 109. 336 Ebd., S. 109.
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„If no network is ever stabilised for every ‚actant‘, then there are always groups of entities at the ‚margins‘, which then have to deal with the black boxes, which were closed in ways that do not allow them to become ‚proper‘ entity.“ 337
Die ANT, zu diesem Schluss kommt auch John Macgregor Wise, scheint die Differenzen in den Machtbeziehungen zu ignorieren, insbesondere jene zwischen Mikro- und Makroakteuren. 338 Wendet sie sich konzeptuell an die Rhizome, so macht sie dort bestenfalls Anleihen. Außen vor lässt das Akteur-Netzwerk-Paradigma die politisch bedeutsame Frage, wie Fluchtlinien und Kriegsmaschinen „angesichts der großen Konjunktion von Vereinnahmungs- oder Beherrschungsapparaten […] Konnexionen zur Geltung [bringen]“. 339 Versuche wie jener von Anne Dölemeyer und Mathias Rodatz, die ANT als methodische Erweiterung und Überarbeitung von Dispositivanalysen nutzbar zu machen, erliegen deshalb ihrerseits einem doppelten Irrtum: „Der Dispositivbegriff impliziert […] ein konzertierendes Ensemble (insofern es eine strategische Funktion erfüllt), das über einen längeren Zeitraum stabil bleibt, auch wenn es sich wandeln oder in andere Regime eingebunden werden kann […]. Im Gegensatz dazu ist das Akteurs-Netzwerk zunächst nichts anderes als eine Metapher, die den analytischen Blick auf die Transportwege und -mittel von Informationen lenkt […]. Es ist wesentlich kleinteiliger als ein Dispositiv und keinesfalls zwangsläufig ein stabilisiertes Arrangement, sondern kann sehr vorübergehend angelegt sein. Akteurs-Netzwerke wären dann eher wuchernde ‚Rhizome‘ […] als strategische Dispositive […].“ 340
Dispositive aber sind nicht bloß stabile Ordnungen, sondern oszillieren vielmehr heterotop zwischen Dispositionen und Disponibilitäten. Sie sind genauso „kleinteilig“ wirksam wie die nur vermeintlich „instabileren“ Akteur-Netzwerke, die ihrerseits vielmehr dazu neigen, instituierende Black Boxes zu fokussieren. Viel eher als einem wuchernden Rhizom gleichen Akteurs-Netzwerke folglich einer makrodispositiven Verhärtung. Gewiss bleibt die ANT gleichwohl und gerade im Feld der Medien- und Kommunikationstechnologien, wie Nick Couldry betont, „ein wertvolles Antidot ge-
337 Berker, Thomas: The Politics of ‚Actor-Network Theory‘. What Can ‚ActorNetwork Theory‘ Do to Make Buildings More Energy Efficient, in: Science, Technology & Innovation Studies, Special Issue 1, Juli 2006, S. 61-79, hier: S. 71. 338 Vgl. Wise: Exploring, a. a. O. [Anm. 332], S. 35. 339 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 585. 340 Dölemeyer, Anne/Rodatz, Matthias: Diskurse und die Welt der Ameisen. Foucault mit Latour lesen (und umgekehrt), in: Robert Feustel/Maximilian Schochow (Hg.): Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld 2010, S. 197-220, hier: S. 210.
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gen das selbstverschleiernde, naturalisierende Potenzial des Mediendiskurses“. 341 Ihre Grenze erreicht sie jedoch spätestens mit der politischen Frage nach Persistenz von und Widerstand gegen dispositive(n) Machtbeziehungen. Mag sein, dass die ANT – wie John Law propagiert – zunächst „die Macht der Mächtigen entmystifizierend“ wirkt. 342 Diese Entmystifikation aber läuft ernsthaft Gefahr, einer Affirmation polizeilicher Herrschaftstechnologien gleichzukommen. Karten zeichnen (Medien-)Dispositive rhizomatisch-heterotop zu denken impliziert, die Fluchtlinien von divergierenden Aussagen, affizierenden Machtbeziehungen und widerständigen Subjektivitäten nicht nur mitzudenken, sondern sie vielmehr als konstitutives Moment zwischen Disposition und Disponibilität zu verorten. Zwischen Netz und Netzwerk, so ließe sich diese Differenz illustrieren, besteht ein erheblicher Unterschied – nicht erst seit letzteres mit der unaufhaltsamen Diffusion des modernen Internets konnotiert ist. In den Begriffen Jean-Luc Nancys markiert das „Ins-Werk-Setzen“ des Netzes, seinen politischen Spielraum als Politik oder Polizei zu zementieren: Die ‚Vernetz-Werkung‘ der Gegenwart beerbt nicht weniger als die alte Frage der politischen Gemeinschaft, um sie ihrerseits erneut auf Spiel zu setzen: „Von Gemeinschaft ist nicht mehr die Rede. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das technisch-ökonomische Ins-Werk-Setzen unserer Welt die Entwürfe eines gemeinschaftlichen Ins-Werk-Setzens abgelöst, ja sogar deren Erbschaft angetreten hat. Immer geht es wesentlich um Werk, Operation oder Operativität.“ 343
Auch deshalb gehen mit der Vernetzung digitaler Medien demokratische Versprechen und autoritäre Effekte einher. Der Gestaltoffenheit digitaler Mediendispositive geschuldet, wird ‚das Internet‘ ‚selbst‘ Medium der Konnexion und der Konjugation: Es markiert einen Gestaltungsraum politischer wie polizeilicher Operativitäten, die sich gegenseitig hervorbringen, aber auch durchkreuzen. Ein Rhizom, so die beiden letzten Prinzipien Deleuzes und Guattaris, lässt sich nur kartographieren. Werden dagegen „Abziehbilder“ angefertigt, verliert es das Prinzip der Konnexion und verfällt erneut einer baumartigen Struktur: „Sie [die Logik der Kopie (SaS)] beschränkt sich darauf, ausgehend von einer übercodierten Struktur oder stützenden Achse, etwas abzupausen oder zu kopieren, das schon vollständig vorhanden ist. Der Baum verhindert die Kopien und ordnet sie hierarchisch, die Kopien sind sozusagen die Blätter des Baumes. Ganz anders das Rhi-
341 Couldry: Akteur-Netzwerk-Theorie und Medien, a. a. O. [Anm. 320], S. 104. 342 Law: Notizen, a. a. O. [Anm. 323], S. 442. 343 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 243], S. 53.
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zom, das eine Karte und keine Kopie ist. Karten, nicht Kopien machen. Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. […] Eine Karte hat viele Zugangsmöglichkeiten im Gegensatz zur Kopie, die immer nur ‚auf das Gleiche‘ hinausläuft. Bei einer Karte geht es um Performanz, während die Kopie immer auf eine angebliche ‚Kompetenz’ verweist.“ 344
Über die multiplen Zugangsmöglichkeiten einer Karte wird eine Geschichte der Medientechnologien als Geschichte politischer Strategeme lesbar. Kartographieren lassen sich (Medien-)Dispositive dann im höchst heterotopen Feld perpetuierender Machttechnologien und ihrer ständigen Neuordnung. Der virulent-rhizomatische Status digitaler Netztechnologien verdeutlicht sich in den jüngeren Namensvettern des Kartographieprinzips: In Medienhybriden der Land-, Satelliten- oder Katastrophenkarten ist Kartenmaterial unlängst immer detaillierter verfüg-, zoom- und editierbar geworden. Dabei werden digitale Mediendispositive vermehrt auch als sogenannte locative media, d.h. in ihrer ortsabhängigen Konstitution, thematisiert. Dergestalt haben nicht nur topographische, sondern auch soziale und politische Karten zweifelsohne einen Aufschwung erlebt, der insbesondere von intermedialen Verknüpfungen und gesteigerter Vernetzung getragen wird. Mit Foto- und Videomaterial, aber auch mit dreidimensionalen Perspektiven und navigierbaren Straßenpanorama sind etwa die Karten- und Bildansichten von Google Maps und Street View versehen, die auf mobilen, für die Satellitennavigation ausgerüsteten Endgeräten eine Siegeszug über die papierenen Landkarten angetreten haben. Doch die hier vonstattengehende medientechnische Innovation ist keine bloße Konvergenzbewegung tradierter Macht- und Subjektivierungsregime vormals einzelmedialer Dispositive. Vielmehr zeitigt die intermediale Hybridisierung der Karten eine Reihe neuer, mitunter politischer Effekte: Es vollzieht sich eine Vervielfältigung der Zugangsmöglichkeiten im wortwörtlichen, der Segmentierungs- und Fluchtlinien im figurativen Sinne, die mit einer machtdiagrammatischen Kopie nicht zu erklären ist. „Neue Bürgerjournalismus-Formen“, so ist der Zeit Online zu entnehmen, begleiteten beispielsweise den sogenannten Castor-Zug, der abgebrannte Brennstäbe deutscher Kernkraftwerke zur Wiederaufbereitung nach Frankreich oder England transportiert, im November 2010. 345 Unter der Adresse live-map.de wurden verschiedene, thematisch oder örtlich relevante Twitter-Nachrichten live auf einer Landkarte situiert und in ihrem Verlauf archiviert (vgl. Abb. 10). Nicht nur Strecke und Geschwindigkeit des Zuges wurden damit weltweit und fast simultan einseh- und situierbar, auch verschiedene Formen des Protests waren auf der zoom- und schwenkbaren On-
344 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 23f., Herv. i. Orig. 345 Vgl. http://blog.zeit.de/open-data/2010/11/05/live-web-der-castortransport-beitwitter-kartiert/.
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line-Karte nachzuverfolgen – etwa kritische Kommentare im Netz, aber auch Blockaden und Demonstrationen vor Ort.
Abb. 10: Karten des Protests: Archivierte Verortung thematischer TwitterNachrichten während des Castortransports 2010 Überhaupt scheinen neue, meist intermedial komponierte Digitalkarten eine ganz entscheidende politische Rolle für lokale und globale Versammlungslogiken des Protests zu spielen. Peter Mörtenböck und Helge Moshammer stellen etwa für die unwesentlich jüngeren Occupy-Bewegungen eine reziproke Hybridisierung von „Onsite“ und „Online“ fest: „Die Aneignung öffentlicher und privater Stadträume durch Protestbewegungen ist Teil einer komplex strukturierten Architektur des Protests, in der ‚Online‘ und ‚Onsite‘ einander nicht nur strategisch ergänzen, sondern Schauplätze bilden, deren jeweiliges Zusammenspiel unterschiedliche Formen von Beteiligung, Anhängerschaft und Sympathie hervorzurufen vermag.“ 346
Exemplarisch in dieser Hinsicht ist auch die Webseite Ushahidi, die bei den Präsidentschaftswahlen 2007 in Kenya geschaffen wurde, um via E-Mail, Twitter oder SMS politisch motivierte Übergriffe räumlich situieren zu können und – inzwischen unter dem doppeldeutigen Slogan „Place Matters“ zur Plattform Crowdmap erweitert – die Erstellung beliebiger Themenkarten weltweit erlaubt. 347 Freilich beschränkt sich das politische Potential kartographischer Medien keineswegs auf die Verlagerung zwischen urbanen und digitalen Schauplätzen des Protests. Denn die politisch verstandenen Digitalkarten wie jene in Deutschland oder Kenya sind selbst nichts anderes als ein audiovisuelles Mediendispositiv, das sich einerseits intermedial zu den Sag- und Sichtbarkeitsregimen älterer Konfigurationen wie der Landkarte oder Infografik in Beziehung setzt, sich durch seine Verschiebungen aber andererseits von die-
346 Mörtenböck/Mooshammer; Occupy, a. a. O. [Anm. 55], S. 93. 347 Vgl. http://ushahidi.com/ sowie https://crowdmap.com/.
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sen ablöst, neue Diskurse und Evidenzen kolportiert und also auch eine machttechnologische Zäsur impliziert.
Abb. 11: Twitter hören und sehen: Audiovisuelle Inszenierung von Twitternachrichten auf tweetscapes Ein illustratives Beispiel für ein solches politisches Moment zwischen den Politiken der Mediendispositive liefert das Projekt tweetscapes, das seinerseits eine Verräumlichung des Kurznachrichtendienstes Twitter in Deutschland visualisiert und vertont. In Deutschland versendete TwitterNachrichten, aber auch sogenannte Antworten und weitergeleitete re-tweets werden auf einer schematischen Karte Deutschlands mit leuchtenden Punkten, sich ausdehnenden Kreisen, mit Pfeilen und eingeblendeten HashtagThemen dargestellt (vgl. Abb. 11). Abhängig von Thematik und Herkunft des Tweet erzeugt tweetscapes außerdem für jede Nachricht einen spezifischen Klang, so dass ein kunstvoller Soundteppich entsteht, der je nach Aktivität der Twitter-Nutzer lauter und leiser klingt. Das von Klang-, Videokünstlern und Sonifikationsforschern entwickelte Projekt hält in der Tat, was seine Selbstbeschreibung verspricht, nämlich „das Soziale Netz aus einer völlig neuen Perspektive“ erscheinen zu lassen. 348 Indem die text- und computerbasierte Kommunikation via Twitter in visuelle und in akustische Signale überführt wird, scheint auch eine Kritik des anhaltenden Schriftmonopols in den Wissensregimen der Gegenwart auf. Ähnlich verspielt hat sich um die Technologie der Satellitennavigation eine gänzlich andere Kultur entwickelt, die den Idealen exakter Verortbar348 Vgl. http://heavylistening.com/tweetscapes/.
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keit und effizienten Reise- und Zeitmanagements diametral entgegensteht. Mit dem sogenannten Geocaching besteht seit längerem ein zeitintensives Hobby um die Satellitennavigation, bei dem sich Spieler weltweit auf Schatzsuche begeben oder auf Basis von Positionsdaten aufwändig geplante Abenteuergeschichten nachspielen. 349 Noch diese ‚missbräuchliche‘, weil spielerische Verwendung von Navigationsmedien versetzt bezeichnenderweise gelegentlich etablierte Ordnungen in Aufruhr, etwa wenn Polizeikräfte die gut versteckten Behälter des Geocaching irrtümlicherweise für Bomben halten. Digitale Karten- und Navigationsmedien vervielfältigen dergestalt ganz praktisch Zugangsmöglichkeiten. Mehr als eine medientechnische oder machtdiagrammatische Kopie tradierter Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit, erlauben sie eine gleichsam rhizomatische Performanz politischer Experimente. Abermals jedoch werden dieselben Mediendispositive von Abziehbildern bestehender Makropolitiken überzogen, die das Rhizom ‚verstopfen‘, ja erneut in eine baumartige Struktur zu transferieren suchen. 350 Oft unmerklich schreiben sich etwa in dreidimensional navigierbaren Straßenansichten, über Live-Webcams und mit der vermehrten Lokalisierbarkeit digitaler Kommunikation zugleich die Phantasmen einer ubiquitären Verdatung und panoptischer Sicht- und Verortbarkeit fort.
Abb. 12: Google Crisis Response-Karte des ‚Superstorm Sandy‘ von 2012 Unter dem Wahlspruch „Making critical information more accessible in times of disaster“ unterhält etwa der Suchmaschinen-Gigant Google seit 2010 ein Team, das für die Erstellung sogenannter „Google Crisis Maps“ zuständig ist. 351 Nach Erdbeben, Stürmen und Überschwemmungen werden hier unterschiedliche Daten und Lokalitäten wie Notunterkünfte, Versor-
349 Vgl. die einschlägigen Portale zu Geocaching und dessen prozessuale Variante „wherigo“ unter: http://www.geocaching.com/ und http://www.wherigo.com/. 350 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 26. 351 Vgl. http://www.google.org/crisisresponse/response.html, hier findet sich auch eine Übersicht über bislang ‚kartierte‘ Ereignisse.
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gungsstellen, Schadenszenarien, Vermisstenmeldungen, aber auch Filmund Bildmaterial auf einer Google-Karte dargestellt (vgl. Abb. 12). Angesichts katastrophaler Ausnahmezustände zweifelsohne hilfreich – etwa für die Erfassung des Schadengebiets und die Koordination der Hilfskräfte – persifliert das dergestalt operationalisierte Medium der digitalen Karte seine polizeiliche Taktik. Denn nicht nur gelingt es hier, vielfältige Informationsfragmente der Krise in einem intermedialen Dispositiv zu montieren. Vorgenommen wird zugleich die geographische Reterritorialisierung der chaotischen Krise und ihre gouvernementale Übercodierung als bewältigbares Ereignis, beispielsweise im Interesse der Anwerbung von Freiwilligen oder dem Einwerben von Spendengeldern. Das polizeiliche Pendant der Krisenkarten ist das alltägliche Machtdiagramm einer ubiquitären Sicht- und Verortbarkeit, die mit entsprechenden hochmobilen Adressierungen einhergeht. Von wo aus welche Nachrichten im Netz etwa via Facebook oder Twitter gesendet werden oder an welchen Koordinaten und auf welchen Pfaden Fotografien aufgenommen und ins Netz geladen werden, sind längst nicht mehr nur Zusatzinformationen durch sogenannte Metadaten, sondern entscheidende strategische Elemente in den Dispositiven digitaler Medien. Die korrespondierenden Machtfiguren, wie sie etwa in der Vermarktung miniaturisierter Satellitensender oder mobiler Navigationsapplikationen Gestalt annehmen, reichen von paranoiden Überwachungszwängen bis zum kontrollgesellschaftlichen Verdatungswahn. 352 Längst sind die Technologien entwickelt, die es etwa in Einkaufspassagen und Shoppingcentern erlauben, mittels Ortung von Mobiltelefonen die Routen, Aufenthaltsorte und -dauer der Kundschaft aufzuzeichnen und marketingstrategisch auszuwerten. 353 Die Empörung von Datenschützern über solche „unheimliche“ technische Mittel 354 erscheint im Zeitalter der ununterbrochenen Erfassung von Kundenkarten und Kaufverhalten dabei vor allem hypokritisch. Wie viel sogenannte Vorratsdaten aus Mobiltelefonen über individuelle Bewegung und Aufenthaltsorte aussagen, zeigte freilich der Selbstversuch des deutschen Grünepolitikers Malte Spitz, der die Bewegungs- und Nutzungsdaten seines Mobiltelefons, auf die er nota bene erst nach einer Klage gegen seinen Mobiltelefonanbieter Zugriff erhielt, öffentlich zugänglich machte. 355
352 Vgl. hierzu meine Überlegungen im Kap 4.3., Die Kontrollgesellschaft. 353 So etwa die Technologie „Footpath“ des passend benannten Unternehmens „Path Intelligence“ (vgl. http://www.wired.com/business/2011/11/malls-trackphone-signals/). 354 Vgl. etwa http://www.news.com.au/money/creepy-retail-technology-tracksshoppers/story-e6frfmci-1226166413071. 355 Vgl. http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2011-02/vorratsdaten-malte-spitz. Zeit Online fertigte aus diesen Daten eine dynamische Infografik, in der sich Spitz’ Aufenthaltsorte und Bewegung, Telefonate und Textnachrichten auf ei-
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Dass solche Daten bei Demonstrationen, wo sie umgekehrt auch neue Formen des Protests ermöglichen, von besonderem Interesse für staatliche Sicherheitskräfte wie der Polizei oder den Geheimdienst sind, liegt auf der Hand. 356 Das polizeilich disponierte Archiv digitaler Medienkarten tritt hier im Foucault’schen wie im Derrida’schen Sinne zu Tage: Es sind sicherheitsund kontrollphantasmatische Diskurse, welche die digitalen Kartenräume als Verwaltungssphäre zu reterritorialisieren und eine mutmaßlich revolutionärkatastrophale Ereignishaftigkeit festzusetzen suchen, wobei sich die Gesetzlichkeit dieser polizeilichen Logik zugleich in die Zukunft fortschreibt.
Abb. 13: „Erinnerungen für die Zukunft“, Street-View-Ansicht aus Fukushima In Kooperation mit japanischen Behörden kümmerte sich Google Maps und Streetview so auch um die vom Erdbeben 2011 zerstörten oder auf Grund der verehrenden Kernschmelze in den Nuklearreaktoren Fukushimas evakuierten Kleinstädte der Region. Auf der japanisch „Mirai e no kioku“ betitelten Webseite – zu Deutsch: „Erinnerungen für die Zukunft“ – stellt das Unternehmen den Vertriebenen wie der Weltöffentlichkeit dreidimensional navigierbare Karten und Bilder der menschenverlassenen Geisterstädte zur Verfügung (vgl. Abb. 13). Das Ziel dieses Unterfangens, den Menschen eine „Wiederentdeckung verlorener Erinnerungen an ihr Zuhause“ zu bieten, strukturiert zweifelsohne bereits jetzt die zukünftigen Diskurse und Evidenzen der Katastrophe. Keines der hier diskutierten Beispiele verweist so a priori auf die Rhizomatik von Mediendispositiven. Die augenscheinliche Heterotopie medialer Sag- und Sichtbarkeit, ihre untrennbare Verflechtung mit unterschiedlichen Machttechnologien wie auch deren Herausforderung durch divergierende
ner Karte in zeitlichem Verlauf abspielen lassen (vgl. http://www.zeit.de/ datenschutz/malte-spitz-vorratsdaten). 356 Vgl. etwa die Diskussion um eine solche Überwachung eines „NeonaziAufmarsch[s]“ in http://www.focus.de/politik/deutschland/neonazi-aufmarschermittler-haben-tausende-handy-daten-erfasst_aid_638982.html.
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Subjektivitäten belegen jedoch, dass in einer Mediengeschichte intermedialer Bezugnahmen immer wieder Rhizomatisches aufblitzt, noch dann, wenn diesem Aufblitzen unmittelbar Reterritorialisierungen und Übercodierungen folgen. Ebendeshalb ist diese Mediengeschichte auch eine Geschichte der Machttechnologien. Ein politisches Denken der Medien sucht deshalb nicht, das heterotope Spiel von medialer Disposition und Disponibilität von der einen oder anderen Seite her zu beschreiben. Es erfasst „keine lokalisierbare Beziehung“, sondern die Rhizomatik medialer Dispositive als „eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und in die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang und Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt“. 357 Ein solches Denken, hierin liegt gewiss seine Herausforderung, muss selbst in die Mitte treten, um von dort aus rhizomatisch zu verfahren. „Es ist nicht einfach“, schreiben Deleuze und Guattari, „die Dinge von der Mitte her zu sehen“, doch, so ihr Ratschlag: „Versucht es, und ihr werdet sehen, daß sich alles ändert“. 358
357 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O. [Anm. 84], S. 42, Herv. i. Orig. 358 Ebd., S. 39.
4. Mediale Politiken der Gegenwart
Diskurse des Politischen oszillieren zwischen Recht und Ordnung, Widerstand und Steuerung oder Gemeinschaft und Demokratie. In diesem stets virulenten Changieren stehen auch die Dispositive der Medien zur Disposition, d.h. sie koinzidieren mit herrschaftlichen Regimen wie mit revolutionären Bewegungen. Grundlegender noch als das Verhältnis medialer Technologien und Institutionen zu Staat oder Souverän sind die Politiken der Medien deshalb zu begreifen als prekäre Sag- und Sichtbarkeitsordnungen dieser Medien ‚selbst‘, die wiederum macht- und selbsttechnologisch wirksam werden. Was folglich jeweils als Politisches, Politik oder Polizei unterschieden werden kann, manifestiert sich mitunter in strategisch operativen Mediendispositiven. Eine Unterscheidung des Politischen von der Politik, wie sie spätestens seit den Arbeiten Jean-Luc Nancys und Philippe Lacoue-Labarthes in den 1980er Jahren explizit thematisiert wird und jüngst wieder vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hat, 1 prägt schon die Diskurs- und Machtanalyse Michel Foucaults: Die heterotope Gestalt der (medialen) Dispositive verweist auf politische Spiele von Macht und Widerstand und konstatiert so eine politische Differenz, die mit Jacques Derrida auf die Grund-Losigkeit jeder Be-Gründung zurückführbar ist. Mediendispositive bilden in dieser Perspektive kein regulierbares Datum im klassisch medienpolitischen Sinne, vielmehr figurieren sie als Phänomenalität des Politischen überhaupt. Die Politiken der Medien umrahmen und entgrenzen in erster Linie politische Figuren vom Staat über die Nation bis hin zum Subjekt. Gehen etwa die intermedialen Inszenierungen des digitalen Zeitalters mit Phänomenen einer entfesselten Globalisierung einher, so handelt es sich hierbei um eine durchwegs politische Interdependenz, die ihrerseits gouvernementale Regierungstechniken und polizeiliche Reterritorialisierungsgesten nach sich zieht. Die verbindende, zugleich aber auch trennende Kraft di-
1
Vgl. exemplarisch: Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a.M. 2010; Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik, Frankfurt a.M. 2010.
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gitaler Mediennetze perpetuiert dabei gleichsam Überwachungs- und Verdatungsstrategien, die ihrerseits auf historisch ältere Disziplinartechnologien rekurrieren: Während ein mediales Kontroll- und Verdatungsdispositiv gegenwärtig weltweit vormals souveräne Politikbegriffe in flexible, polizeiliche Taktiken aufzulösen scheint, wird es zugleich von florierenden medialen Selbsttechnologien, etwa den selbstinszenatorischen Regimen sogenannter sozialer Netzwerke, flankiert und kontrastiert. Noch in der neoliberalistisch übercodierten Unternehmensgesellschaft, so möchte ich im Folgenden zeigen, bleiben die medialen Politiken der Gegenwart indes einer gleichsam untilgbaren politischen Differenz medialer Dis-Positionen verhaftet.
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„Im Grunde ist die Repräsentation der Macht über die unterschiedlichen Epochen und Zielsetzungen hinweg doch im Bann der Monarchie verblieben. Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt.“ 2
Anlässlich zweier Vorlesungsreihen zwischen 1992 und 1993 in Ljubljana diskutiert Jacques Rancière die Prämissen politischer Philosophie und nimmt eine prägnante Differenzierung vor: „Das, was im Allgemeinen als Politisches bezeichnet wird, besteht aus einer Gesamtheit von Prozessen, die Verbindung und Einwilligung von Gemeinschaften hervorbringen: Organisation der Macht, Distribution von Stellen und Funktionen, Legitimationssysteme dieser Distribution. […] Ich möchte nun den Namen des Politischen für etwas anderes in Anspruch nehmen, und zwar für etwas, dessen Existenz selbst problematisch ist. Als Politisches werde ich hier eine Tätigkeit bezeichnen, von der diese Distribution in Frage gestellt und auf ihre Kontingenz, auf die Abwesenheit ihres Grundes zurückgeführt wird.“ 3
Die Differenz im Namen des Politischen – so unterschiedlich sie vor und nach Rancière konturiert worden ist – unterscheidet das Politische von der Politik oder stellt eine ‚politische‘ Politik den verwaltenden Gesten einer Polizei gegenüber. 4 Ihre erste und offensichtlichste Abgrenzungsgeste, die sich in ihrer französischen Fassung schon aus dem Unterschied zwischen le politique und la politique herleitet, ist eine „philosophische Befragung des Politischen als Politischen“, die sich „einer politischen Theorie entgegensetzt, die nur danach fragt, wie die Politik zu organisieren sei und wie sich
2 3 4
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 90. Rancière, Jacques: Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou: Politik der Wahrheit, Wien 1996, S. 79-118, hier S. 81-83, Herv. i. Orig. Die im Kern ähnliche, begrifflich aber divergierenden Unterscheidung findet sich bei Jacques Rancière, der unter der Politik im weitesten Sinne Momente des Politischen versteht, die Polizei dagegen synonym für (institutionalisierte, verwaltende) Politik verwendet (vgl. Rancière: Politische Philosophie, a. a. O. [Anm. 3]; Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik 2008; sowie meine Ausführungen zur Figur der Polizei weiter oben, Kap. 3.2., Übercodierung, Reterritorialisierung. Die dispositive Strategie der Polizei).
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diese Organisation rechtfertigen lasse“. 5 Weder Staatsorganisation noch Demokratiemodelle bilden dergestalt den Interessenschwerpunkt einer politischen Differenz. Diese interessiert sich vielmehr für „die unhintergehbaren Momente des Dissens und Widerstreits, des Ereignisses, der Unterbrechung und Instituierung“, 6 die als das Politische gelten können. Gemeinhin hinterfragt wird dabei eine jedwede fundamentalistisch argumentierende Gesetzlichkeit: Ein „postfundamentalistischer“ Zeithorizont, so argumentiert Oliver Marchart, 7 bildet gewissermaßen den gemeinsamen Nenner politischer Differenzen, wie sie neben Jacques Rancière etwa auch Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, Claude Lefort, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe herausgearbeitet haben. 8 Was das Politische jeder institutionalisierten, vermeintlich souveränen oder tradierten Politik gegenüberstellt, ist wesentlich die Erkenntnis „dass die eigenen Gewissheiten alles andere als selbstverständlich sind, ja dass sie auch andere Gewissheiten oder die Gewissheiten anderer sein könnten“. 9 Zur Debatte stehen damit nicht nur die Methoden politischer Theorie und Philosophie, sondern grundlegender das Denken jeder (Be-)Gründung: „Politisches Denken muss sich als Denken des Politischen neu erfinden. Und zwar deshalb, weil das Politische auf die Frage der Gründung verweist, die sich jeder Gesellschaft stellt, sobald sich die Gewissheiten, Prinzipien und Werte, auf denen sie gebaut ist, als fungibel erwiesen haben.“ 10
Selbst als politisches Denken entworfen, 11 erscheint in diesem Sinne auch die Diskurs- und Machtanalyse Michel Foucaults einem postfundamentalistischen Projekt verpflichtet: Die strategischen Genesen von Dispositiven be-
5
Bedorf, Thomas: Das Politische und die Politik – Konturen einer Differenz, in: ders./Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik, Frankfurt a.M. 2010, S. 13-37, hier: S. 13, Herv. i. Orig. 6 Bröckling, Ulrich/Feustel, Robert: Einleitung. Das Politische denken, in: dies. (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2012, S. 718, hier: S. 8. 7 Vgl. Marchart: Die politische Differenz, a. a. O. [Anm. 1], S. 8. 8 Eine umfassende Diskussion dieser Konzepte findet sich bei Marchart (2010), Einblicke in relevante Arbeiten weiterer Autorinnen und Autoren bietet die von Ulrich Bröckling und Robert Feustel herausgegebene Aufsatzsammlung (vgl. Bröckling, Ulrich/Feustel, Robert (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2012.), eine m.E. gelungene Zusammenfassung liefert zudem der einführende Artikel von Thomas Bedorf (vgl. Bedorf: Das Politische und die Politik, a. a. O. [Anm. 5].). 9 Vgl. Marchart: Die politische Differenz, a. a. O. [Anm. 1], S. 8, Herv. i. Orig. 10 Ebd. 11 Vgl. etwa: Foucault, Michel: Le Nouvel Observateur und die Vereinigte Linke, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 124-126.
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rühren wesentlich die politische Frage der Gründung, genauer: Momente beund entgründender Strategeme und ihrer Bruchlinien. Denn die „Erfahrung der Gründung“, so insistiert ähnlich Jacques Derrida, ist auch eine „Erfahrung des Abgrunds“: „[D]er Ursprung der Autorität“, jede „(Be)gründung“ und jede „Setzung des Gesetzes“ bedeutet „in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat)“. 12 Die Diskurs- und Machtanalyse der Medien verspricht folglich, die dekonstruktive Geste politischer Differenzen auch medienwissenschaftlich produktiv zu machen: Die Heterotopien medialer Dispositive impliziert hier ein grund-loses, aber fest-setzendes Dazwischen, das die Medialität der Medien charakterisiert. Unhaltbare Souveränitäten Macht, so pointiert Foucault, ist weder eine Institution noch eine Struktur, sondern „der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“. 13 Konsequent hat sich für Foucault die „historische Fruchtbarkeit“ jener „Idee, daß die Quelle oder der Häufungspunkt der Macht der Staat sei“ 14 erschöpft, was nicht heißt, dass die Analytik der Macht dem Staat in seiner gesetzgebenden und -vollziehenden Rechtsgewalt keine Bedeutung beimessen würde. Die produktive Erweiterung des diskursund machtanalytischen Projekts liegt jedoch in der Verortung der Macht zwischen zwei Bezugspunkten: „[E]inerseits der Rechtsregeln, die die Macht formal begrenzen, andererseits der Wahrheitswirkungen, die diese Macht produziert und vermittelt und die ihrerseits diese Macht reproduzieren“. 15 Im „Dreieck […] Macht, Recht, Wahrheit“ 16 interessiert Foucault in erster Linie die wahrheits(re)produzierende Funktion des (juridischen, staatlichen) Rechts: „In dem Sinne, daß die Wahrheit das Gesetz macht, daß sie den wahren Diskurs produziert“, so Foucault, „sind wir der Wahrheit unterworfen“ und es ist umgekehrt gerade der Ort vor dem Gesetz, wo „wir von der Macht gezwungen werden, die Wahrheit zu produzieren“. 17 So wenig die Kräfteverhältnisse der Macht auf den Staat und seine Rechtssysteme reduzierbar sind, so entscheidend erscheinen Foucault indes 12 Vgl. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 488, Herv. i. Orig.; Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a.M. 1991, S. 29. 13 Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 2], S. 94. 14 Foucault, Michel: Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere, in: ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 104-117, hier: S. 110. 15 Foucault, Michel: Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin, in: ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 75-95, hier: S. 75. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 76.
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die Wahrheitsregime des Juridischen, unternehmen diese doch die legitimatorische Diskursivierung herrschaftlicher Souveränität: „Seit dem Mittelalter hat die Rechtstheorie im wesentlichen die Funktion, die Legitimität der Macht zu bestimmen, d.h. die grundlegende Frage, auf die sich die ganze Rechtstheorie gründet, ist die Frage der Souveränität. […] Diskurs und Technik des Rechts [haben] im wesentlichen die Funktion gehabt [], den Faktor Herrschaft innerhalb der Macht zu beseitigen und an seiner Stelle zwei Dinge erscheinen zu lassen: einerseits die legitimen Rechte der Souveränität und andererseits die gesetzmäßige Verpflichtung zum Gehorsam.“ 18
Als erste und historisch wirkmächtigste Figur der Souveränität, um deren Instituierung und Erhalt sich die Rechtslehre bemüht, muss deshalb der absolute Monarch gelten: „Das Rechtssystem ist von Grund auf auf den König zentriert und damit Beseitigung der Herrschaft und ihrer Folgen“. 19 Dabei wäre es allerdings verkürzt, Recht und Gesetz bloß als autokratische Hegemonie legislativer oder judikativer Instanzen zu begreifen: Vielmehr geht es Foucault um das Recht in seiner dispositiven Dimension – in einer „Gesamtheit der Apparate, Institutionen, Reglementierungen“ – die „Verhältnisse vermittelt und verwirklicht, die keine Souveränitäts-, sondern Herrschaftsverhältnisse sind“. 20 Als Herrschaftsverhältnis kann folglich auch nicht bloß „die Souveränität in ihrem einheitlichen Gebäude“ gelten. Vielmehr meint Herrschaft „die mannigfachen subjektivierenden Unterwerfungen, die im Innern des sozialen Körpers stattfinden und wirksam sind. 21 Die mikrophysikalisch gedachte Macht aber bricht mit jeder Idee zentralistisch-institutionalisierter Souveränität. Sind „Rechtssystem und Rechtssprechung […] die permanenten Zwischenglieder von Herrschaftsverhältnissen und vielförmiger Unterwerfungstechniken“, 22 so ist Souveränität nicht in erster Linie auf ein autoritäres Epizentrum zu befragen, sondern exakt entlang jener Subjektivierungen, die zugleich ihre Fluchtlinien bilden: „[A]nstatt sich zu fragen, wie der Souverän an der Spitze erscheint, sollte man herauszufinden versuchen, wie sich allmählich, schrittweise, tatsächlich, materiell, ausgehend von der Vielfältigkeit der Körper, Kräfte, Energien, Materien, Wünsche, Gedanken usw. die Subjekte konstituiert haben. Man muß die materielle Instanz der Unterwerfung in ihrer subjektkonstituierenden Funktion erfassen. Es wäre genau das Gegenteil dessen, was Hobbes im Leviathan versucht hat, und im Grunde […] auch dessen, was sämtliche Rechtsgelehrten tun […].“ 23
18 19 20 21 22 23
Ebd., S. 78. Ebd. Vgl. ebd., S. 79. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 81.
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Foucault fokussiert die mikropolitische Dimension einer jeden Makropolitik und also gerade jenes heterotope Feld, in dem sich zugleich Widerstände entfalten, Umbrüche ereignen und also Souveränität als Herrschaftstechnik ausgestellt und dekonstruierbar wird. Es gilt folglich, dem historischtemporären Stillstand verkrusteter Souveränitäten ein politisches Denken entgegenzuhalten, dem seinerseits „als Modell die immerwährende Schlacht zugrundegelegt“ 24 werden muss. Souveränität, so resümiert Foucault in den späten 1970er Jahren, ist kein determiniertes Konzept, das sich zur universalen Bestimmungsgröße einer Politik erheben ließe – sei es eine Politik des Königs, des Staates, des Volkes oder auch der Medien. Vielmehr bildet Souveränität ein politischpolizeiliches – weil zwischen Ordnungsgewalt und Widerstandkraft changierendes – Dispositiv, dessen Strategien sich stets von neuem verschieben. 25 Die Spielformen der Disziplinarmacht etwa, deren Geburtsstunde Foucault zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert verortet, stehen „Punkt für Punkt in Widerspruch zum Machtmechanismus, den die Theorie der Souveränität beschrieb oder auszudrücken versuchte“. 26 Und doch bot das tradierte Modell einer königlich-zentralistischen Souveränität noch hier die Möglichkeit „den Mechanismen der Disziplin ein Rechtssystem überzuordnen, das deren Verfahrensweisen und etwaigen Herrschaftstechniken verschleierte und einem jeden mittels der Souveränität des Staates die Ausübung seiner
24 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976, S. 38. 25 Die „rechtlich-politische Theorie“ einer zentralisierten und zentrifugal unterwerfenden Souveränität ist im Übrigen auch deshalb unhaltbar, weil diese vielmehr als „gewaltige historische Tatsache“ gelten muss, deren Strategien zwischen Herrschaft und Revolution schwanken. Noch in feudalen Monarchien bezog sich die Souveränität auf den König und bildete das Instrument monarchischer Herrschaft wie auch deren Legitimation. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert beginnt sie jedoch als Waffe zwischen den katholischen und protestantischen, zwischen aristokratischen und parlamentarischen Lagern zu changieren, um sich letztlich ab dem 18. Jahrhundert im Interesse der parlamentarischen Demokratien gänzlich gegen die absolutistische Monarchie zu wenden (vgl. Foucault: Recht der Souveränität, a. a. O. [Anm. 15], S. 88f.). 26 Ebd., S. 90. Denn disziplinierende und zugleich bevölkerungspolitische Strategien operationalisieren, wie Foucault etwa an den machttechnologischen Zugriffen auf die Sexualität, respektive an deren Verschiebung von einem „Allianzdispositiv“ in ein „Sexualitätsdispositiv“ zeigt, mobile[], polymorphe[] und konjunkturelle[] Machttechniken, die durch bloß autoritäre Herrschaftstechnik seitens Kirche oder Monarchie nicht realisierbar sind (vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 2], S 105f.).
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eigenen souveränen Rechte garantierte“. 27 Rechtlich-politische Souveränitätsfiguren sind zweifelsohne hocheffiziente Herrschaftsmittel, doch ist ihr Paradigma unhaltbar insofern, als dass es das komplexe Spiel von Machtbeziehungen im Feld des Politischen eher zu verdecken als zu erklären vermag. Wie essentiell diese Wendung gegen die souveräne Figur des Königs in der Machtanalytik Foucaults ist, verdeutlicht sich ab 1978 im Zuge seiner Gouvernementalitätsstudien: Die Diskursarchäologie, die Dispositive der Macht, aber auch die Hermeneutik des Subjekts, so schreibt Foucault hier retrospektiv, bedeuteten in erster Linie allesamt „sich hinsichtlich der Problematik der Institution [zu] dezentrieren“, d.h. sie implizieren „einen Übergang in das Außen der Institution“. 28 Sehr konkret benennt Foucault hier eine politische Differenz, die zunächst jede unreflektierte Abstammungslogik durch mannigfaltige Machttechnologien zu ersetzen sucht: „Gerade von daher macht es diese Analyse [außerhalb der Institutionen (SaS)] möglich, die genetische Analyse mittels Filiation durch eine genealogische Analyse zu ersetzen – man darf die Genese und die Filiation nicht mit der Genealogie verwechseln –, durch eine genealogische Analyse, die ein ganzes Geflecht von Bündnissen, Verbindungen, Stützpunkten rekonstruiert.“ 29
Deshalb gilt es Foucault zufolge „den inneren Gesichtspunkt der Funktion durch den äußeren Gesichtspunkt der Strategien und Taktiken zu ersetzen“ – Strategien und Taktiken näherhin, wie etwa die Analyse der Gefängnisdispositive in Überwachen und Strafen zeigt, „die sich direkt auf […] deren funktionale Defizite stützen“. 30 Die hier erneut betonten Einfallstore in die vermeintlich lückenlos verfugten Dispositive widersprechen ihrerseits Konzepten einer institutionalisierbaren Macht, die das Moment ihrer Instituierung nur als immer schon gegebene, unkontestierbare Filiation diskursvieren kann. Was angesichts dieser Dezentrierungen unter dem Begriff der Politik zu fassen ist, kann also weder institutionalisiert, bloß funktional verwaltet noch generativ vergegenständlicht sein. Noch im Falle des Staates – so sehr dieser auch als „Globalinstitution“ oder als „totalisierende Institution“ erscheinen mag – gilt es die Analyserichtung hinsichtlich einer „Gesamtökonomie“ der Macht umzukehren – ein Projekt, dem sich das Konzept der Gouvernemen-
27 Vgl. Foucault: Recht der Souveränität, a. a. O. [Anm. 15], S. 91. Theorien der Souveränität operieren in diesem Sinne – mit Gilles Deleuze und Félix Guattari gesprochen – reterritorialisierend und übercodierend. 28 Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a.M. 2004, S. 175. 29 Ebd., S. 176. 30 Ebd.
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talität widmet. 31 Wie die juristischen Institutionen gilt auch der Staat als nur vermeintlich souveräner Legitimationsversuch eines möglichen, d.h. weder a priori gegebenen noch universalisierbaren Dispositivs. Das Dreieck „Macht, Recht, Wahrheit“ eröffnet in diesem Sinne das Programm einer Differenz, die jede Politik als koordinierte, zugleich aber dysfunktionale Strategie zwischen Machtbeziehungen und Kräfteverhältnissen versteht, die das Feld des Politischen bilden. Explizit spezifiziert Foucault etwa 1977: „Die Politik ist nicht das, was elementare und von ‚Natur‘ aus neutrale Beziehungen in letzter Instanz determiniert (oder überdeterminiert). Jedes Kräfteverhältnis impliziert in jedem Augenblick eine Machtbeziehung […] und jede Machtbeziehung verweist, als auf ihre Wirkung aber auch als auf ihre Möglichkeitsbedingungen, auf ein politisches Feld, dessen Teil sie ist. Sagt man, daß ‚alles politisch ist‘, so spricht man von der Allgegenwart der Kräfteverhältnisse und ihrer Immanenz in einem politischen Feld.“ 32
Die Diskurs- und Machtanalyse versteht sich dergestalt selbst als politisches Projekt, das auf das Denken wie auf die Verwirklichung „neuer Politisierungsmodelle“ zielt. Denn ein Rückbezug der Machtmechanismen „auf vorgegebene Alternativen und Organisationen“ – sei es auf königliche, rechtsstaatliche, ökonomische oder eben auch mediale Institutionen –, ist, so polemisiert Foucault, „nicht der Mühe wert“. 33 Am Abgrund der (Be-)Gründung Die Dispositive der Macht transzendieren, sofern sie als rhizomatisch wuchernde, heterotope Gefüge verstanden werden, eine traditionelle, bloß ordnungsstiftend und verwaltend gedachte Politik. Denn Politisches ereignet sich nicht nur in den unausbleiblichen Umbrüchen der Dispositive, es betrifft schon das strategische Moment ihrer Genese: Wo Machttechnologien die Kurven der Sag- und Sichtbarkeit (neu) ausrichten, vollzieht und legitimiert sich eine (be-)gründende Setzung, deren strategischen Charakter die eigene Kontingenz zu überdecken, nicht aber auszulöschen vermag. Dispositionierende Politiken implizieren folgerichtig eine entschieden postfundamentalistische „Erfahrung des Abgrunds“, wie sie Jacques Derrida in Politik der Freundschaft expliziert: „Die Stiftung oder Gründung kann nicht selber noch gegründet sein. Sie waltet über einem lautlosen Abgrund; und das Wissen darum kann nicht geduldet werden. Ein Wissen, das im übrigen per definitionem kein Wissen ist. Es ist die Erfahrung der
31 Vgl. ebd., S. 178-181. 32 Foucault: Machtverhältnisse, a. a. O. [Anm. 14], S. 112f. 33 Ebd., S. 113.
154 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN Gründung als Erfahrung des Abgrunds. Was gründet oder Recht setzt, kann nicht seinerseits noch begründet oder gerechtfertigt sein.“ 34
Eine letzte Begründung oder Rechtfertigung fehlt auch in Foucaults Dispositivanalysen: Das Funktionieren der Macht bedingt ein Geheimnis, denn „nur unter der Bedingung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich“. 35 Zu verbergen sucht die Macht die Aporie ihrer Gesetzeskraft – im juridischen Sinne von Recht und Gerechtigkeit wie im breiteren Sinne dispositiver Setzungen. Jede angeblich souveräne Macht kann, so Derrida weiter, nur in einem mystischen (Ab-)Grund wurzeln und muss deshalb mit ihrer Entwurzelung rechnen: „Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat). […] Im gründenden Augenblick, in dem Augenblick, der ihr eigener Augenblick ist, sind sie weder recht- noch unrechtmäßig. Sie gehen über den Gegensatz, der zwischen dem Ge- oder Begründeten und dem Un-be-gründeten besteht, hinaus, sie übersteigen den Gegensatz zwischen dem, was (be)gründen will, und dem, was sich gegen alle (Be)gründung richtet. Selbst wenn das Gelingen performativer Akte, die das Recht begründen […], vorgängige Bedingungen und Übereinkünfte voraussetz[t] […], wird die nämliche ‚mystische‘ Grenze sich dort wieder bemerkbar machen, wo die Bedingungen, Regeln, Konventionen und deren vorherrschende Deutung ihren Ursprung haben.“ 36
Auch für Derrida erweisen sich deshalb Staat und Recht – „die größte Gewalt und die größte Kraft“ 37 – als möglicherweise privilegierter, keineswegs aber determinierter Ort des Politischen. Gerade der Staat, dessen Politiken nichts anderes sind als eine mögliche und also grund-lose Setzung, muss sich unablässig vor jenen mikropolitischen Fliehkräften fürchten, welche die Kraft zur makropolitischen Strömung haben. 38
34 Derrida: Politik der Freundschaft, a. a. O. [Anm. 12], S. 488, Herv. i. Orig. 35 Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 2], S. 87. 36 Derrida: Gesetzeskraft, a. a. O. [Anm. 12], S. 29. Die Gewalt, die dergestalt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssetzung operiert wie zwischen (erstarrter) Herrschaft und (widerständiger) Macht im Foucault’schen Sinne, ist in erster Linie und analog den Dispositiven jene eines Wahrheitsregimes: (Be-)Gründungen sind Vorgehen, die der Rechtfertigung bedürfen, d.h. „regelmäßig eine performative Kraft (Gewalt), […] regelmäßig eine deutende Kraft (Gewalt)“ implizieren (vgl. ebd., S. 27f.). 37 Ebd., S. 76. 38 Der Staat etwa, so schreibt Derrida, fürchtet sich vor jener Gewalt, „die in der Lage ist, Rechtsverhältnisse zu legitimieren oder zu verändern, und die selbst als jenes, was ein Recht auf das Recht hat, erscheinen kann“ (vgl. ebd.).
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Herrschende Politik und politische Revolution implizieren, wie Derrida bemerkt, gleichermaßen rechtssetzende Gewalten, die sich nur in einer immer schon vergangenen Zukunft rechtfertigen lassen: „Alle revolutionären Situationen […] rechtfertigen die Gewaltanwendung, indem sie sich auf die Einrichtung eines neuen Rechts berufen, die gerade stattfindet oder die noch aussteht. Da dieses ausstehende Recht rückwirkend (im Austausch) die Gewalt rechtfertigt […], wird sie bereits von dessen vergangener Zukunft gerechtfertigt.“ 39
In der zeitlichen Verkreuzung zwischen Gegenwart und Zukunft ‚gründet‘ eine Aporie von Recht und Gerechtigkeit, die – so meine These – zugleich den Kern politischer Differenzierungen und den kleinsten gemeinsamen Nenner all ihrer Auslegungen bildet. Die Zäsur zwischen Politik und Politischem bedingt zugleich die Möglichkeit beider, d.h. sie zieht keinerlei Demarkationslinie, welche die eine ohne die andere Seite vorstellbar werden ließe. Vielmehr bedeutet der Einschub politischer Differenz einen Aufschub, und zwar in empirisch analysierbaren Politikfeldern des Staates oder der Medien, aber auch im politisch-philosophischen Denken einer Differenz überhaupt. Denn noch die politische Philosophie kann, will sie nicht ebenfalls der Aporie grund-loser Setzungen zum Opfer fallen, keine begrenzende Gesetzlichkeit sein, sondern muss unentschieden und aufgeschoben bleiben, d.h. als stets im Kommen begriffene Epoché gelten. 40 „[I]n der Epoché“, so schreibt Stefan Lorenzer, „verletze ich die Regel nicht, sondern mache bloß, für diesen Augenblick der Schwebe, von ihr keinen Gebrauch“, d.h. „[i]ch verwerfe die Vorschrift nicht, sondern klammere sie bloß ein“. 41 Die Dekonstruktion, schreibt Derrida, ist selbst die Gerechtigkeit – insofern nämlich, als dass sie sich als aporetischer Nachweis jeder Politik überhaupt erst ‚selbst‘ als politische Zäsur einschieben kann:
39 Ebd., S. 76f. 40 Freilich beruht hierauf eine – wenn nicht die – Herausforderung des politischen Denkens: So erfolgreich der hier verhandelte ‚Einschub‘ einer politischen Differenz dekonstruktiv-widerständig die Unterwerfungsverhältnisse tradierter Politik-, Macht- und Rechtsbegriffe zu kritisieren vermag, so sehr bedeutet er seinerseits eine Setzung, die sich bestenfalls ‚revolutionär‘ gegen andere Gesetzlichkeiten wendet. Radikalität und Herausforderung der Dekonstruktion scheinen sich so in ihrer explorativen Bewegung abzuzeichnen, die aporetische Unentscheidbarkeiten zwar benennen kann, dafür aber selbst setzende Entscheidungen treffen muss. 41 Lorenzer, Stefan: Gesetzeslücke. Derrida und die Epoché der Regel, in: HansJoachim Lenger/Georg Christoph Tholen (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, S. 79-92, hier: S. 82.
156 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN „[D]ie Dekonstruktion ereignet sich in dem Zwischenraum, der die Unmöglichkeit einer Dekonstruktion der Gerechtigkeit von der Möglichkeit der Dekonstruktion des Rechts, von der legitimierenden oder legitimierten Autorität trennt. Als Erfahrung des Unmöglichen ist sie, selbst wenn es sie (noch) oder nie gibt, dort möglich, wo es Gerechtigkeit gibt.“ 42
Der dekonstruktive Gestus portiert und stärkt nicht nur die Gerechtigkeit des Politischen, er ereignet sich zugleich nur unter der Bedingung dieses politischen Moments. Die dekonstruktiv erst aufscheinenden Aporien der Gesetzeskraft bilden gleichermaßen das denkerische und empirische Apriori des Politischen und der Politik. Genauer noch ist die Dekonstruktion der Politik, die das Politische bedingt und verursacht, einer iterativen Bewegung auf der Spur, die Derrida ähnlich dem Wiederholungszwang diskursiver und topo-nomologischer Archive auch der Gesetzeskraft attestiert. Denn wenn jede Setzung, insofern sie sich auf die Zukunft beziehen muss, zugleich ein Versprechen einschließt, dann ist diesem Versprechen wesentlich eine unhintergehbare Wiederholungspflicht eingeschrieben. Zur „Struktur der (be)gründenden Gewalt“ gehört, wie Derrida expliziert, „daß sie eine Wiederholung ihrer selbst erfordert, daß sie jenes begründet, was erhalten werden und erhaltbar sein muß“. 43 Die Iterabilität „schreibt so die Möglichkeit der Wiederholung in das Herz des Ursprünglichen ein“, 44 weshalb eine scharfe Differenzierung von erhaltender und transformativer Gewalt – in anderen Worten: zwischen der Politik und dem Politischen – nicht ohne Weiteres zu halten ist: „Damit gibt es keine reine Rechtsetzung oder -gründung, es gibt keine reine (be)gründende Gewalt, ebensowenig wie es eine rein erhaltende Gewalt gibt. Die Setzung ist bereits Iterabilität, Ruf nach einer selbsterhaltenden Wiederholung. Die Erhaltung verhält sich ihrerseits wieder-gründend, um jenes erhalten zu können, was sie zu (be)gründen beansprucht. Es besteht also kein strenger Gegensatz zwischen der Setzung und der Erhaltung; es gibt allein das, was ich als differantielle [différantielle] Kontamination, die zwischen Setzung und Erhaltung sich ereignet, bezeichnen möchte […].“ 45
Diese diferantielle Kontamination bildet den Kern der Aporie jeder Gesetzlichkeit, die sich – insofern sie immer setzen und erhalten muss – mit Derrida nur denken lässt als eine „Epoché der Regel“: Jede (Fest-)Setzung, d.h. auch jede dispositive An- und Umordnung, entspricht einer Entscheidung, die „in dem Augenblick, da sie getroffen wird […], einer Regel unterstehen
42 43 44 45
Derrida: Gesetzeskraft, a. a. O. [Anm. 12], S. 30f. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., Herv. i. Orig.
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und ohne Regel auskommen“ 46 muss. „Daher“, so Stefan Lorenzer, „trifft auch und gerade die wohlüberlegt getroffene Entscheidung ihr ‚Subjekt‘ mit der Gewalt das Unverfügbaren, daher stößt sie ihm zu (contingit) mit der im Entschiedenen insistierenden Unverhofftheit dessen, was auch hätte nicht sein können, daher eignet ihr jener (mehr oder minder akute) Ereignischarakter“. 47 Die Heterotopie der Dispositive, die Rhizomatik hierarchischer Ordnungen, die Rekursion von De- und Reterritorialisierung verweisen allesamt auf solche ‚gewalttätige‘ Entscheidungen, die immer aporetisch, d.h. sui generis unentscheidbar und deshalb singulär sind. 48 Unentscheidbar, so spezifiziert Derrida, ist „nicht einfach das Schwanken oder die Spannung zwischen zwei Entscheidungen“, sondern vielmehr „die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugeordnet werden kann, weil es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt“. 49 Das Unentscheidbare ist, in anderen Worten, die Erfahrung des Politischen, die jede Politik durchkreuzt. Denn jede Entscheidung muss sich diesem Unentscheidbaren ausliefern, täte sie das nicht, so wäre sie bloß „eine programmierbare Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen“. 50 Ein „fahles, gespenstisches Licht“ 51 umgibt deshalb politische Differenzen: „Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem Entscheidungs-Ereignis“, schreibt Derrida, „wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst“. 52 Ein „Moment der Suspension“, das einen „Zwischenraum der Verräumlichung darstellt“, in denen sich gleichsam „juridisch-politische Verhandlungen“ und „Revolutionen“ vollziehen, bestimmt die gegenseitigen Herausforderungen der Politischen und der Politik. 53 Die strategischen Rationalitäten der Dispositive, so unterstreicht Foucault, liegen in deren Reaktion auf eine Dringlichkeit. Und eben diese Dringlichkeit ist es bei Jacques Derrida, „die den Horizont des Wissens versperrt“: Jede „gerechte, angemessene Entscheidung ist immer sofort, unmittelbar erforderlich“, d.h. „[s]ie kann sich nicht zuerst eine unendliche In-
46 Ebd., S. 47. 47 Lorenzer: Gesetzeslücke, a. a. O. [Anm. 41], S. 81. 48 Die Iterabilität der Gesetzlichkeit, so hält auch Elisabeth Weber fest, „diese paradoxe Wiederholung am Ursprung widerspricht […] der Einzigkeit nicht: Sie ermöglicht sie überhaupt erst.“ (Vgl. Weber, Elisabeth: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“, in: Hans-Joachim Lenger/Georg Christoph Tholen (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, S. 93-100, hier: S. 96.). 49 Vgl. Derrida: Gesetzeskraft, a. a. O. [Anm. 12], S. 49. Das analoge Zusammenspiel von ‚Recht‘ und Berechnung‘, respektive von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Unberechenbarkeit‘ unterstreicht Derrida im Übrigen explizit (vgl. ebd., S. 33f.). 50 Lorenzer: Gesetzeslücke, a. a. O. [Anm. 41], S. 50. 51 Ebd., S. 83. 52 Vgl. Derrida: Gesetzeskraft, a. a. O. [Anm. 12], S. 50f. 53 Vgl. ebd., S. 42.
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formation besorgen“, der Rückgriff auf ein legitimierendes „grenzenlose[s] Wissen um die Bedingungen, die Regeln, die hypothetischen Imperative“ bleibt unmöglich: 54 „[D]ie Entscheidung [ist] in ihrer Struktur endlich, so spät sie auch getroffen werden mag: dringliche, überstürzte Entscheidung in der Nacht des Nichts-Wissens und der Nicht-Regelung. Diese Nacht ist nicht die eines Fehlens der Regel und des Wissens, sondern die einer erneuten Einrichtung oder Einsetzung der Regel, der definitionsgemäß kein Wissen und keine Garantie vorausgehen.“ 55
Die Dunkelheit dieser Nacht zu durchleuchten und ihre Gespenster auszutreiben bedingt daher keine politische, sondern eine polizeilich preadjustierende Operation. Nicht von ungefähr benennt Foucault die Sichtbarmachung und Beleuchtung, die wissenschaftlichen Objektivierung und die berechnende Verdatung als ausgezeichnetste Funktion der Polizei. Die Sichtbarkeitsregime der Überwachungsdrohnen gegenwärtiger Kriegsführung oder die Omnipräsenz von Videoüberwachung und Kundenverdatung beispielsweise können als Indiz für eine jüngste Gegenwart gelten, in der sich Figuren polizeilicher Macht multiplizieren. Die Kompetenz dieser Polizei liegt indes nicht darin, auf die Dringlichkeit einer politischen Entscheidung zu reagieren. Sie sucht die Entscheidung vielmehr im Namen von Ordnung und Sicherheit zu antizipieren, d.h. präskriptiv festzusetzen. 56 Wo die Polizei auf den Plan tritt, so unterstreicht ähnlich Derrida in seiner Lektüre Walter Benjamins, „kann man die beiden Gewalten, die setzende, (be)gründende, und die erhaltende, nicht länger unterscheiden; darin besteht die schmachvolle, schändliche abstoßende Doppelsinnigkeit“. 57 Dergestalt ist die Polizei überall dort anwesend, wo Gesetzeskräfte am Werk sind, „wo die gesellschaftliche Ordnung erhalten wird“ 58 – ihre schiere Präsenz aber markiert jenen Ab-Grund des Gesetzten, d.h. sie verweist auf eine im weitesten Sinne revolutionäre Stelle transformativer Wiederholungen, an der sich die Herausforderung der Politik durch das Politische ereignet. Die Epoché der Gesetzeskraft, schreibt Stefan Lorenzer, ist „eine Aussetzung der Gesetztheit des Gesetzes“. 59 Dieses Aussetzen lässt sich zwei-
54 Vgl. ebd. S. 54, Herv. i. Orig. 55 Ebd., S. 54. 56 Der englische – wenngleich im Feld von Partei- und Staatspolitik weitgehend eingedeutschte – Begriff von ‚Law and Order‘, der ja gerade Gewicht auf die innere Sicherheit eines Staats(-gebiets) legt, entfaltet als polizeiliche Figur erst sein volles Gewicht: Im Namen der ‚sichernden‘ Ordnung (‚order‘) verliert das Gesetz als regelhafte Setzung (‚Law‘) seinen Bezug zur Gerechtigkeit (‚right‘), d.h. sein politisch-revolutionäres Potential verschiebt sich in Figuren der Polizei. 57 Derrida: Gesetzeskraft, a. a. O. [Anm. 12], S. 91. 58 Ebd., S. 94. 59 Lorenzer: Gesetzeslücke, a. a. O. [Anm. 41], S. 84.
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felsohne privilegiert auf juridisches Recht und staatliche Konstitution applizieren, indes fasst die „Selbsttranszendenz des Rechts“ 60 gleichsam den Kern politischer Differenzierungen überhaupt. Mehr noch: das „In-derSchwebe-Halten“, die „Parenthese“ 61 politisch-polizeilicher Mächte, welche die Epoché der Regel vornimmt, verweist auf nicht weniger als die aporetische Einsicht, dass „allein diese Transzendenz über jeden Erfahrungs- und Möglichkeitshorizont überhaupt Erfahrung heißen kann“. 62 Für jede souveräne Autorität leitet sich hieraus die Unmöglichkeit ihrer zäsurlosen Kontinuität ab. Die Frage der Gerechtigkeit, wie sie Derrida ausarbeitet, ist die Frage eines zukünftigen, im Kommen begriffenen und unverlierbaren Politischen: „Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen, sie muß noch kommen, sie hat, sie ist Zukunft, sie ist die Dimension ausstehender Ereignisse, deren Kommen irreduktibel ist. Diese Zu-kunft wird immer die ihre (gewesen) sein. In dem Maße, in dem sie nicht einfach ein juridischer oder ein politischer Begriff ist, schafft darum vielleicht die Gerechtigkeit die zu-künftige Offenheit für eine Verwandlung, eine Umgestaltung oder eine Neu(be)gründung des Rechts und der Politik – öffnet sie vielleicht diese Verwandlung, Umgestaltung oder Neu(be)gründung der Zu-kunft. 63
Die Unterscheidung von Politischem, Politik und Polizei differenziert im Interesse einer zu-künftigen Gerechtigkeit: Sie differenziert hinsichtlich jener irreduziblen Disponibilitäten, die den Dispositiven inhärent sind; und sie differenziert angesichts der Rhizome und Heterotopien, um die Widerstände gegen jede Macht, die Fluchtlinie aus jeder Subjektivierung, das Schweigen in jedem Diskurs und das Verdeckte jeder Sichtbarkeit als Zu-kunft aufscheinen zu lassen. Die Virtualität des Medialen und die Phänomenalität des Politischen Die aporetische Dis-Position zwischen Politischem, Politik und Polizei (be-) trifft auch die Medialität der Medien – in den gegenwärtigen Mediendispositiven des Digitalen vielleicht mehr denn je. Insbesondere „technischwissenschaftlich-ökonomisch-mediale Veränderungen“, so diagnostiziert Derrida in Marx’ Gespenster, fordern die traditionellen Institutionen der Politik heraus und differenzieren sie ‚politisch‘: „[S]ie zwingen dazu, alle Be-
60 Vgl. Bonacker, Thorsten: Die politische Theorie der Dekonstruktion: Jacques Derrida, in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart II, Opladen 2009, S. 189-220, hier: S. 197. 61 Lorenzer: Gesetzeslücke, a. a. O. [Anm. 41], S. 82. 62 Ebd., S. 86, Herv. i. Orig. 63 Derrida: Gesetzeskraft, a. a. O. [Anm. 12], S. 56, Herv. i. Orig.
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ziehungen zwischen Staat und Nation, Mensch und Bürger, Privatem und Öffentlichem usw. neu zu überdenken“. 64 Auch die Gesetzeskraft medialer Macht ist indes diferantiell kontaminiert, sie bedeutet die zugleich (er-)setzende und erhaltende Macht heterotoper Mediendispositive. Dass Medien, wie es noch die apokalyptisch bis messianisch konnotierte Diskursivierungen des Digitalen andeuten, ein zu-künftiges Politisches zugleich bedingen und gefährden, verweist auf ihren ‚eigenen‘ gespenstischen Aspekt: „Die politisch-ökonomische Hegemonie wie auch die intellektuelle oder diskursive Herrschaft vollziehen sich, wie sie es nie zuvor in solchem Grad noch in solchen Formen getan haben, auf dem Weg über die techno-mediale Macht […], die auf differenzierte und widersprüchliche Weise jede Demokratie zugleich bedingt und gefährdet. Nun ist dies aber eine Macht, ein differenziertes Ensemble von Mächten, das man nicht analysieren und gegebenenfalls bekämpfen, hier unterstützen und da angreifen kann, ohne zahlreichen gespenstischen Effekten Rechnung zu tragen: der neuen Geschwindigkeit der Erscheinung […], des Simulakrums, dem synthetischen oder prothetischen Bild, dem virtuellen Ereignis, dem Cyberspace und dem Gestell, den Aneignungen oder Spekulationen, die heute unerhörte Potenzen entfalten.“ 65
Das Gespenstische der techno-medialen Macht liegt gerade in ihrer Medialität, die – sei es als Simulakrum, Synthesis oder Virtualität – uneigentlich und doch wirklich erscheint: Insofern nämlich Medien als Boten oder Bedeutungsträger nicht die Botschaft selbst sind, ist ihre erste Bestimmung Georg Christoph Tholen zufolge die einer „permissive[n] Durchlässigkeit oder Disponibilität“, die es nichtsdestotrotz vermag, „vorgegebene Bedeutungshorizonte zu eröffnen, zu verschieben und zu unterbrechen“. 66 Es spukt „das Medium der Medien selbst“ – zu letzteren zählt Derrida „die Information, die Presse, die Telekommunikation, die Techno-TeleDiskursivität, die Techno-Tele-Ikonizität“ – weil „dieses Element selbst weder lebendig noch tot, weder anwesend noch abwesend“ ist. 67 Gleichwohl ist die Medialität der Medien höchst wirklich, sie bildet das „was ganz allgemein die Verräumlichung des öffentlichen Raums gewährleistet und determiniert, die Möglichkeit der res publica und die Phänomenalität des Politischen“. 68 Die Macht des Medialen wird deshalb angeeignet, sie ist Objekt antizipierender Spekulation und als solches so wirksam wie wirklich: „Medien dürfen und sollen auflösen, entbinden, in Bewegung setzen“, schreibt
64 Vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 2005, S. 103f. 65 Ebd., S. 80f., Herv. i. Orig. 66 Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. 2002, S. 8. 67 Derrida: Marx’ Gespenster, a. a. O. [Anm. 64], S. 77. 68 Ebd., Herv. i. Orig.
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Samuel Weber, „aber nur unter der Bedingung, daß solche Bewegungen den globale-integrativen Machtbestrebungen und Interessen des Kapitals förderlich sind“. 69 Die Medialität der Medien, so zeigt Weber am Virtualitätsbegriff Gilles Deleuzes, gleicht weniger dem Möglichen als dem Virtuellen: Das Mögliche ist bestimmbar nur „als das ‚nachträglich hergestellte‘ Bild einer Wirklichkeit“ und beruht also auf einem Prinzip der „Ähnlichkeit und Identität“, wohingegen das Virtuelle eine eigene Realität besitzt, die sich auf das Aktuelle bezieht, von dem es sich in einer Logik der „Änderung und Differenzierung“ unterscheidet. 70 Diese Virtualität der Medien verdeutlicht sich nicht erst in einer von Digitalcomputern, televisuellen Apparaten und telekommunikativen Mobilgeräten bestimmten Allgegenwart eines Cyberspaces, auch wenn sie sich hier zweifelsohne evidenter denn je ausstellt. Vielmehr durchzieht sie die Medialität eines jeden Mediums seit der Sprache als „Unmittelbarkeit des Mitteilbaren“, wie Samuel Weber anhand der Texte Walter Benjamins zur Sprache als Medium expliziert: „[D]as Mitteilbare [kann] nicht einfach dem Mitgeteilten oder Mitteilung gleichgesetzt werden. Letztere sind Handlungen oder Vorgänge, die tatsächlich stattfinden, stattgefunden haben oder stattfinden werden. Das Mitteilbare hingegen hat eine andere Bewegungsart, die in der Selbstveränderung besteht. Aus dieser Selbstveränderung ergibt sich eine andere Seinsweise: die der Virtualität. Als virtuelles ist das Mitteilbare aber nicht eine Mitteilung im Sinne ihrer bloßen Möglichkeit, das heißt eine Mitteilung, die noch nicht eigetreten ist und nur auf ihre Verwirklichung wartet. Vielmehr bedeutet das Mitteilbare ein Vermögen, das unmittelbar wirkend ist und als die Unmittelbarkeit dieses Wirkens gerade ‚das Mediale‘ der Sprache ausmacht. Das Mediale also besteht […] in der Unmittelbarkeit des Mitteilbaren.“ 71
Die Dispositive der Medien, deren technische ‚List‘ von der Schrift bis zur intermedialen Ästhetik des Digitalen gerade darin besteht, etwas zu ‚entstellen‘, d.h. etwas als etwas erscheinen zu lassen, 72 belegen ebendiese Unmittelbarkeit der Medialität der Medien. „Daher“, schreibt Weber weiter, „ergibt sich das Paradox, daß alle Aktualisierung des Medialen, ob sprachlich oder anders, dazu tendiert, das sprachliche Moment am Medialen – sei-
69 Weber, Samuel: Virtualität der Medien, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 3549, hier: S. 38. 70 Ebd. S. 36. 71 Ebd., S. 41f. 72 Vgl. Tholen, Georg Christoph: Medium/Medien, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 150-172, hier: S. 162.
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ne Mitteilbarkeit – zu einem Vermittelten zu machen, und zwar, indem sie es einrichtet“. 73 Der Spuk des Medialen erscheint so in oder vielmehr zwischen sich stets von neuem einrichtenden Dispositionen des Medialen, die auf keine BeGründung rekurrieren können: „Von Schöpfung und Integration kann also keine Rede sein, vielmehr von Aufbrechen und Unterbrechen des Gegebenen […] durch die transformierende Bewegung des mitteilenden Mediums, oder genauer: der sich mit-teilenden Medien. Und das Sich-Mitteilende bleibt weder ganz allein noch vereinzelt. Wie die Sprachen mehren sich auch die Medien. […] Es entstehen ‚Konfigurationen‘, ‚Konstellationen‘, Vernetzungen von Bildern.“ 74
Was so zwischen medialen Dispositiven, entlang der sich rhizomatisch entfaltenden, medientechnischen Innovation aufscheint, ist die Unmittelbarkeit der Medialität der Medien, die sich in jedem Mediendispositiv immer schon dis-positioniert, d.h. zugleich verfestigt und verflüchtigt hat. Ähnlich einer (politischen) Politik, die sich auf keinerlei autoritäre Souveränität beziehen, sondern lediglich die Wogen flottierender Machtstrategeme durchkreuzen kann, ähnlich auch der Aporie zugleich setzender und erhaltender Gesetzeskraft, bedeutet die Virtualität der Medialität keinen Verlust einer vermeintlich ‚eigentlichen‘ Kontur des Medialen. Denn dieser Verlust, so Georg Christoph Tholen, taucht „nicht als Index einer verlorenen Sache sondern als konstitutiver Mangel-an-Sein auf, der das Spiel der medialen Inventionen und Interventionen im Feld des Sichtbaren, Hörbaren, Zeigbaren eröffnet“. 75 Die Virtualität der Medialität bedeutet deshalb nicht weniger, als die epochalen Bestimmungen einer politischen Differenz – die Epoché der Regel, die Dringlichkeit einer regelnden Entscheidung angesichts einer gespenstisch a-präsenten Unentscheidbarkeit – ins Feld medialer Dispositive einzuführen und also einzel- wie intermediale Konfigurationen der Medien wie medial geprägte Dispositive der Macht politisch zu differenzieren. Das verdeutlicht prägnant Georg Christoph Tholen, wenn er im Zuge seines Plädoyers für eine „Metaphorologie der Medien“ die Disponibilität des Medialen als drängendste Herausforderung des Zeitalters digitaler Simulationen benennt: „Die Medialität der Medien konturiert den Horizont, in dem sie selbst nicht ‚aufgehen‘ kann: Medien sind indifferent gegenüber dem, was sie speichern, übertragen und verarbeiten. Eben diese Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber dem Sinn der Botschaft ist vielleicht als In-Differenz lesbar, d.h. als Dazwischenkunft der uns tei-
73 Weber: Virtualität der Medien, a. a. O. [Anm. 69], S. 43, Herv. i. Orig. 74 Ebd., Herv. i. Orig. 75 Tholen: Medium/Medien, a. a. O. [Anm. 72], S. 162.
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lenden und dadurch verbindenden Medien, mithin als das, was uns vorausgeht bzw. den anthropologischen Fixpunkt dieses ‚Uns‘ oder ‚Wir‘ dezentriert.“ 76
Der Ein- und Aufschub medialer Dazwischenkunft, d.h. die Aktualisierungen ihrer Virtualität, prägt im Sinne Derridas maßgeblich die Phänomenalität des Politischen und kann deshalb als höchst heterotope Dis-Position von Politischem, Politik und Polizei gelten. Die Raffinesse einer Metaphorologie der Medien besteht darin, angesichts der zuweilen gar in polizeilicher Gestalt auftretenden Politiken der Medien einem unverlierbaren Politischen der Medialität Rechnung zu tragen. Spätestens nämlich seit die fortschreitende Digitalisierung der Medien dominant intermediale Konfigurationen aller Art hervortreten lässt, wuchern metaphorische „‚Als-ob‘-Bestimmungen“ des Digitalcomputers: „Der Computer als Rechenmaschine weist keine andere Eigentlichkeit auf als seine Verwendung als Schreibmaschine oder Kommunikationsmedium. Anders gesagt: Der an sich selbst uneigentliche Spielraum von ‚Als-ob‘-Bestimmungen ist dem digitalen Medium weder inhärent noch äußerlich. Vielmehr markiert die Indifferenz rein stellenwertiger Optionen die Zunahme intermedialer Re-Präsentationen. Die gestaltwechselnde Offenheit der Digitalität supplementiert jedwede ‚ontologische‘ Identität des Computers als Rechner, d.h. sie schiebt sie auf.“ 77
Die Medialität der Medien, so zeichnet sich in den digitalen Konfigurationen der Gegenwart vielleicht deutlicher denn je ab, besitzt „keine einfache Identität, kein ontologisch fixierbares Sein“, womit die Sag- und Sichtbarkeit medialer Dispositive der „‚uneigentliche[n] Uneigentlichkeit“ des Metaphorischen ähnelt. 78 Als „Mit-Teilbarkeit“ hat die Medialität, so nuanciert Tholen, „keinen vorgegeben Ort“. Vielmehr „verliert [sie] sich in den Gestalten, in denen wir sie wahrnehmen können“, ist also situierbar nur „als Einrahmung und Entrahmung des Wahrnehmbaren und Mitteilbaren“. 79 Die Virtualität des Medialen birgt in diesem Sinne die Differenz und den Bruch eines im Kommen begriffenen Politisch-Demokratischen.
76 Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 8, Herv. i. Orig. 77 Ebd., S. 52, Herv. i. Orig. 78 Vgl. ebd., S. 44. Dabei ist auch und gerade in der Geschichte einer „Theorie der Metapher“ von Aristoteles bis Derrida, wie Tholen zeigt, „die Entgegensetzung zwischen figürlicher und eigentlicher Bedeutung“ zur Debatte zu stellen (vgl. ebd., S. 43-49.). Nur so ist die „in zeitgenössischen Medientheorien durchaus virulente Metaphorik des Leiblichen und Instrumentellen“ zu dekonstruieren, im Namen derer „nach dem anthropologischen Schema der Ähnlichkeit metaphorische oder imaginäre Ersetzungen vorgenommen und als das eigentliche Wesen des Menschen oder der Technik apostrophiert“ werden (ebd., S. 50.). 79 Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 60, Herv. v. m., SaS.
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4.2. V ERBINDEN
UND
T RENNEN „Die Kommunikation ist die Entwerkung des sozialen, ökonomischen, technischen und institutionellen Werkes.“ 80
Jedes Medium gibt einer Politik statt, d.h. seine mediale Dis-Position ist zugleich treibende Kraft und problematisierbarer Bereich politisch instituierender oder zäsurierender Strategeme. Offenkundiger vielleicht denn je ‚passiert‘ die Phänomenalität des Politischen gegenwärtig die heterotopen Gefüge medialer Dispositive: Die jeden territorialen Horizont transzendierende Telekommunikation beschleunigt eine vollständig entfesselte Globalisierung, Staaten und Unternehmen überwachen und lenken gleichermaßen die digitalen Datenströme und in sozialen Netzwerken werden selbstinszenatorische Exzesse als gleichsam partizipatorische Individualisierung gefeiert. Es sind die jeweils verbindenden und trennenden Bewegungen der Medien, welche politische Spielräume zugleich umfassen und entgrenzen: Wo immer die Medialität der Medien als Medium in Erscheinung tritt, ist es dessen zugleich assoziative und dissoziative Kraft, die eine Politik profiliert. Gleichzeitig verschieben die sich in digitalen Netzen weiterhin multiplizierenden intermedialen Beziehungen laufend die vermeintlich abgesteckten Felder politischer Territorien und Diskurse. Zwischen der medialen Formvielfalt digitaler Computer und einer entfesselten Globalisierung – so argumentiere ich im Folgenden – kann sich eine Politik im praktischen Sinne nur noch als Regierung verstehen, deren Herrschaftsanspruch sich beständig flexibilisieren muss. Intermediale Inszenierungen des Politischen Die mediale Phänomenalität des Politischen darf nicht als bloße Theatralisierung der Politik missverstanden werden. Zwar ist noch im Zeitalter digitaler Medien eine „generelle Bevorzugung visualisierbarer Inszenierung“, die – so etwa Thomas Meyers Diagnose – in „bilderreicher Schaupolitik“ auf den „Bühnen der Massenmedien“ 81 mündet, zweifelsohne nur schwer von der Hand zu weisen. Doch entgehen diesem Befund durchweg sowohl die Virtualität des Medialen wie auch die gespenstische Unentscheidbarkeit jeder Politik. Die Heterotopie medialer Dispositive und die politische Differenz verlangen eine zunächst indifferent anmutende Konzeption politischer Inszenierung, wie sie Jean-Luc Nancy in singulär plural sein umreißt:
80 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 70. 81 Meyer, Thomas: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, Frankfurt a.M. 2001, S. 111, S. 139.
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„Keine Position, die nicht Dis-Position wäre, und in Korrelation dazu, wenn man das Aufscheinen betrachtet, das mit dieser Position und in ihr passiert, kein Erscheinen, das nicht zugleich Mit-Erscheinen [com-paration] wäre.“ 82
Schon in Die undarstellbare Gemeinschaft, schärfer jedoch noch in singulär plural sein entwirft Nancy eine ähnliche politische Differenzierung, wie sie Michel Foucault und Jacques Derrida umtreibt, verlegt ihren Schwerpunkt jedoch auf die Erfahrung von Gemeinschaft, die Komparenz des Zusammen-Erscheinens und die Kommunikation als Mit-Teilung. „‚Polis‘“, so resümiert Nancy, „ist nicht zuerst eine Form der politischen Institution, sondern zuerst Mit-sein als solches“. 83 Das Politische löst sich dann nicht in der „sozio-technischen Komponente von Kräften und Bedürfnissen“ auf, es bezeichnet „nicht die Organisation von Gesellschaft, sondern die Anordnung der Gemeinschaft als solche, deren Bestimmung ihre Mit-Teilung ist […]“. 84 Das Politische ist der „Ort, an dem Gemeinschaft ins Spiel gebracht wird“, 85 womit seine Grundlage oder Minimalbedingung, als „Sozialität“ 86 oder Transzendenz gelten kann. Nancys politische Philosophie ist zuerst und vor allem eine „Philosophie des pluralen Weltsinns“, 87 in deren Kern sich die Medialität eines „Mit“ als politisches Denken profiliert: „‚Mit‘ ist geteilte Raum-Zeit, ist das Zur-selben-Zeit-am-selben-Ort, das als solches von sich selbst, in sich selbst, abgesondert ist. Es ist das Prinzip einer Identität, das augenblicklich vervielfacht ist: Das Sein untersteht gleichzeitig und am gleichen Ort der Verräumlichung einer unbestimmten Pluralität von Singularitäten.“ 88
Diese geteilte Raum-Zeit vergegenwärtigt sich in einer Verräumlichung, sie bedarf der Präsentation: Der politische Ort des Gemeinschaftlichen muss auf einer Bühne auf- und erscheinen, was er gleichsam nur mit, d.h. zugleich zusammen mit und in Differenz zu anderen Darstellungen und Bühnen tun kann. Schon „[u]m ‚wir‘ sagen zu können“, bemerkt Nancy, „muß man das ‚hier und jetzt‘ dieses ‚wir‘ präsentieren“. 89 Medien bilden für Nancy des-
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88 89
Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein, Berlin 2004, S. 35, Herv. i. Orig. Ebd., S. 61. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 80], S. 87. Vgl. Nancy, Jean-Luc: The Inoperative Community, Minneapolis: University of Minnesota Press 2008, S. xxxvii. Bedorf: Das Politische und die Politik, a. a. O. [Anm. 5], S. 30. Vgl. Bedorf, Thomas: Jean-Luc Nancy. Das Politische zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, in: Ulrich Bröckling/Robert Feustel (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Bielefeld: 2010, S. 145-158, hier: S. 145. Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 65. Ebd., S. 105.
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halb „einen besonders sichtbaren Teil der Techno-Logie“, sie zeugen von der „Notwendigkeit (oder von einem Bedürfnis oder Begehren), eine größtmögliche Anzahl von Repräsentationen zu erzeugen […]“. 90 Doch bedeuten diese notwendigen Repräsentationen noch keine Verstellung des Politischen, wie sie in der resignativen Kritik einer medialtheatralisierten Politik, ja in jedem Lamento eines vermeintlichen Realitätsverlusts in virtuell-inszenatorischen Medienwelten anklingt: „Diese Bühne […] ist nicht bühnenhaft im Sinne eines künstlichen Raums der mimetischen Repräsentation. Sie ist bühnenhaft im Sinne des Ausschnitts und der Eröffnung einer Raum-Zeit der Verteilung von Singularitäten, deren jede singulär die einmalige und plurale Rolle des ‚Selbst‘ oder des ‚Selbst-seins‘ spielt. […] Die Bühne ist der Raum der Mit-Erscheinung, ohne die es ein reines und schlichtes Sein, das heißt alles und nichts, alles wie nichts nicht gäbe.“ 91
Auf dieser Bühne der Mit-Erscheinung erscheint die Politik in der Tat spektakulär: „Es gibt keine Gesellschaft ohne Spektakel“, schreibt Nancy weiter, aber nicht, weil dieses Spektakel eine angeblich vorgängige Politik zu maskieren oder verbergen sucht, sondern weil „die Gesellschaft aus sich heraus Spektakel ist“. 92 Das Politische blitzt im Ausschnitt, in der Eröffnung eines mit-geteilten Raumes auf, der handkehrum augenblicklich von Politiken zerteilt und verschlossen wird. Auch Nancy betont Simultaneität und Reziprozität des Politischen und der Politik: Das Politische der Mit-Teilung wird dar-gestellt, d.h. eingerichtet und disponiert – aber es erliegt keiner starren Positionierung, sondern bleibt heterotope Dis-Position, heimgesucht vom Spuk jener Unentscheidbarkeit, die es im Zuge seiner Präsentation überging. Politik erscheint gezwungenermassen medial inszeniert, dieselbe Inszenierung fungiert indes als Bühne des zu-künftigen Politischen. Die mediale Phänomenalität des Politischen verweist damit nicht auf eine theatrale „Selbstmediatisierung der Politik“, deren Konsequenzen eine „Ästhetisierung der Öffentlichkeit“, „Mediokrität und Infantilisierung“ und die „Degradierung der repräsentativen Demokratie“ 93 wären. Auch geisselt sie kein „Politainment“ oder „Politisches Cheerleading“ in der „medialen Erlebnisgesellschaft“. 94 Gerade gegen solche Diskursivierungen medialer Politik und politischer Medialität wendet sich Nancy demonstrativ:
90 Vgl. Lenger, Hans-Joachim/Nancy, Jean-Luc/Tholen, Georg Christoph: Unendliche Nähe. Fragen an Jean-Luc Nancy, Frankfurt a.M. 2014, S. 11. 91 Ebd., S. 106f. 92 Ebd., S. 107. 93 Vgl. Meyer: Mediokratie, a. a. O. [Anm. 81]. 94 Vgl. Dörner, Andreas: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 2005.
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„Die allgemeine Kritik des ‚Spektakulären‘ – der Mediatisierung, des Fernsehens usw. – dient meistens als Alibi und als Bildschirm für eine sehr ärmliche Ideologie. Weinerlich, übelgelaunt und hochnäsig ist sie daran interessiert hervorzukehren, daß sie für das, was Illusion ist und was nicht, den Schlüssel in der Hand hält.“ 95
Die weitaus fundamentalere, implizit medientheoretische Einsicht ist eine andere, nämlich die Medialität der Medien als Spielraum des Politischen und der Politik zu konturieren. „Wo immer sich etwas als etwas ex-poniert“, schreibt Georg Christoph Tholen, „hat eine abwesende Lücke oder Differenz der Wahrnehmung eine momentane, imaginäre Gestalt und Identität gegeben“. 96 Zwei Merkmale, so argumentiert ähnlich Jacques Derrida, bestimmen jeden gemeinen Begriff der Aktualität: „Artefaktualität und Aktuvirtualität“. Was sich vergegenwärtigt, „wird von zahllosen künstlichen oder artifiziellen, hierarchisierenden oder selektiven Dispositiven aktiv erzeugt, gesiebt, mit Bedeutung geladen und performativ gedeutet“, die Aktualität begegnet uns nur als „fiktionale[s] Machwerk[]“. 97 Die Zeit ist ein Artefakt, „immer schon von einem Mediendispositiv […] berechnet, eingeengt, ‚formatiert‘, ‚initialisiert‘“ 98 – und zumal sich dieses Mediendispositiv laufend verschiebt und aktualisiert, kann die Aktualität nur als Aktuvirtualität gelten. 99 Ein Verlust ‚natürlicher‘ Gegebenheiten des Politischen ist damit freilich von vornherein unmöglich, weil die medialen Rahmungen jeder Gegenwart überhaupt erst deren Erfahrung ermöglicht: „[Es gibt] Aktualität […] nur in dem Maße [], wie ein Ensemble technischer und politischer Dispositive zusammentrifft, um gleichsam aus einer unbegrenzten Maße von Ereignissen diejenigen ‚Tatsachen‘ auszuwählen, die die Aktualität ausmachen sollen: das, was man die ‚Fakten‘ nennt, aus denen sich die ‚Informationen‘ speisen.
95 Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 111. Im „bloßen Wechselspiel von Illusion und Glaubwürdigkeit“, so merkt Nancy ähnlich im Gespräch mit Hans-Joachim Lenger und Georg Christoph Tholen an, „verliert man die kategoriale Bestimmung der Funktion der Fiktion und deren Beziehung zum Undarstellbaren“ (vgl. Lenger/Nancy/Tholen: Unendliche Nähe, a. a. O. [Anm. 90], S. 11.). 96 Tholen, Georg Christoph: Digitale Differenz, in: Martin Warnke/Wolfgang Coy/ders. (Hg.): HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel 1997, S. 99-116, hier: S. 104. 97 Derrida, Jacques/Stiegler, Bernard: Echographien. Fernsehgespräche, Wien 2006, S. 13, Herv. i. Orig. 98 Ebd. 99 Expliziter noch schreibt Derrida an anderer Stelle: „Dort, wo man meint, es seien keine technischen Instrumente im Spiel, spricht man nicht von Realzeit.“ (Ebd., S. 145.)
168 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN […] Es ist ein zwingender Vorgang an der Schwelle jeder Wahrnehmung oder jeder endlichen Erfahrung überhaupt.“ 100
Mediale Inszenierungen des Politischen betreffen folglich nicht erst die beschleunigte Zirkulation intermedialer Konfigurationen im digitalen Zeitalter. Weder die elektronischen Massenmedien noch Computer, Internet und mobile Endgeräte vermochten „urplötzlich eine unmittelbare oder natürliche Rede durch eine Prothese, eine Teletechnologie“ zu ersetzen, vielmehr hat es „[s]olche Apparaturen […] immer gegeben, […] auch in Zeiten, als man mit der Hand schrieb, selbst beim sogenannten lebendigen Gespräch“. 101 Die Metaphorik der Medien, die Tholen vorschlägt, zielt in genau diesem Sinne darauf ab, die unabdingbare Medialität politischer Erfahrung vor ihrer instrumentalisierten Diskursivierung zu fassen: „Das Meta-phorein (Übertragen, Übersetzen, Transportieren) macht das Geschehen der medialen Repräsentation aus. Das Meta-phorein ist gleichsam das Vor-Gängige und Un-Mittelbare vor den mittelhaften Werkzeug- und Zwecksetzungen, denen die Medien als Mittel dienen.“ 102
Was die gegenwärtige Medienästhetik des Politischen hingegen charakterisiert, ist die gesteigerte Disponibilität ihrer digitalen Gestalt, die sich – stärker als jemals zuvor – intermedial, d.h. zwischen vermeintlich distinkt wahrnehmbaren (Einzel-)Medien entfaltet: „Die Interferenz zwischen alten und neuen Medien“, präzisiert Tholen, „zerstreut nicht nur den referentiellen Horizont des je pragmatischen Mediengebrauchs, sondern den Spielraum des Medialen selbst“. 103 Die entgrenzte „Indifferenz des digitalen Mediums gegenüber Zeichen, Tönen, Bildern“ verdeutlicht sich intermedial, sie unterstreicht die Unmittelbarkeit des Mitteilbaren, in dem sie jenen „uneigentlichen Zwischenraum“ aufklaffen lässt, „den die Ästhetik stets neu konfiguriert“. 104 Dieser Zwischenraum gleicht einem Riss, der die Plätze verschiebt 105 und in dem krisenartig das virulent-politische Mit-sein auftaucht. Die Phänomenalität des Politischen ereignet sich intermedial, d.h. in und zwischen den sich verschiebenden Metaphern medialer Dispositive. Die nicht abreißende Kritik medialer Simulakra einer unvermittelten Politik erweist sich hier als oberflächlich: Denn die Bühnen medialer Ästhetik, auf
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Ebd., S. 56. Herv. i. Orig. Ebd., S. 50. Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 54, Herv. i. Orig. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53. Vgl. Derrida: Echographien, a. a. O. [Anm. 97], S. 72; sowie Tholen, Georg Christoph: Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine, in: Norbert Bolz/Friedrich Kittler/ders. (Hg.): Computer als Medium, München 1994, S. 111–138.
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denen freilich zahlreiche inszenatorische Strategien der Theatralisierung, Personifikation und Glorifizierung zu beobachten sind, bilden überhaupt erst die Möglichkeit einer politischen Verräumlichung. Die Metaphorik der Medien geschieht selbst als „Rückzug und Entzug, unabschließbar, als ein stets wiederholter ‚Zug‘ der Metapher gegenüber sich ‚selbst‘“. 106 In diesem Rückzug gleicht die Medialität der Medien der Undarstellbarkeit des Politischen, er zwingt, „das Politische jenseits des Politischen zu denken oder das Demokratische jenseits der Demokratie“. 107 Dieser Imperativ, darauf insistiert Derrida, wird uns „konkret, akut, tagtäglich von der Technik aufgenötigt: als Bedrohung und Chance zugleich“. 108 Er scheint dort auf, wo Mediendispositive zur Disposition stehen – dort also wo die Politik ihrer medialen Rahmung als intermediale Inszenierung des Politischen ent-täuscht wird. Intermediale Spektakel des Politischen ließen sich gewiss medienhistorisch nachzeichnen – entlang der hilflos anmutenden Ängsten vor jeder ‚neuen‘ Medientechnologie zum Beispiel, die unweigerlich zu ihrer Problematisierung und Regulierung, manchmal auch zu schierer Verteufelung und restriktiven Verboten führt: Kampf gegen einen aufklärerischen Buchdruck, Regulierung der Pressemärkte, Pädagogisierung des Fernsehens, Verbot von Computerspielen. Der kursorische Blick in jüngste Risse medial-politischer Dispositive verdeutlicht, wie intermediale Bewegungen die Felder des Politischen gegenwärtig dezentrieren und entgrenzen – etwa im Falle der politischen Skandale um Wikileaks und im Zuge der Snowden-Affäre. Einem Eklat gleich löste die Enthüllung und weltweite Publikation geheimer Staatsdokumente und Korrespondenzen auf Wikileaks – so die Veröffentlichung von rund einer Viertelmillion diplomatischer Berichte aus USamerikanischen Botschaften weltweit in der sogenannten Cablegate-Affäre 2010 oder von E-Mails syrischer Politiker ab 2012 (‚Syria Files‘) – Stürme der Entrüstung wie des Zuspruchs aus. Doch das Skandalöse an den Wikileaks-Affären liegt weniger in der Tatsache klandestiner Operation und Kommunikation. Erschreckend ist in erster Linie auch nicht das evident gewordene Unvermögen staatlicher Institutionen, ihren auch kriegsstrategisch relevanten Informationsaustausch zu schützen, wenngleich dieser Skandaldiskurs im Namen der Gefährdung nationaler Souveränitäts- und Sicherheitspolitiken zweifelsohne der populärste ist. Was die Wikileaks-Enthüllungen vielmehr offenlegen und öffentlich demonstrieren, ist die unerbittliche Zäsur einer politischen Intermedialität, der vermeintlich unverrückbare Kommunikationsdispositive gleich mehrfach zum Opfer fallen. Weder sichert das Telefon noch ein persönliches Gespräch noch garantiert das papierne Fax juristische Verbindlichkeit, weder betrifft die Geheimdienstakte nur das Geheime noch sind diplomatische Depeschen auf internationale Beziehungen beschränkt: In digitalen Computer-
106 Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 57. 107 Derrida: Echographien, a. a. O. [Anm. 97], S. 80. 108 Ebd.
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netzen verflüchtigen sich die starren Rahmen solcher Mediendispositive in intermediale Dis-Positionen, die über vielfältige Publika und Formate verfügen und folgerichtig komplexeren Politiken folgen, auch und gerade über damit selbst brüchig werdende Territorial-, Kultur- und Sprachgrenzen hinweg. Die geheimen Korrespondenzen, vertraulichen Dokumente und ‚privaten‘ Telefonate vervielfachen und verlieren sich durch ihre Digitalisierung nicht nur in einem unübersichtlichen und also zumindest weitgehend unkontrollierbaren Mediennetz: Gleichzeitig erweisen sich die ihren Mediendispositiven geschuldeten Politiken vertrauter Macht- und Subjektivierungseffekte als brüchige Dis-Position. Die politischen Zäsuren, welche diese intermedialen Verschiebungen heraufbeschwören, beschränken sich letztlich auch nicht auf eine makropolitische Ebene des Staatlichen. Wie die im Zuge der NSA-Affäre 2013 durch den Whistleblower Edward Snowden beschafften und zunächst von der Washington Post in den USA und im Guardian im Vereinigten Königreich publik gemachten Geheimdienstakten vergegenwärtigt haben, stellt die Disponibilität digitaler Medien die politischen Grenzen zwischen privat und öffentlich überhaupt zur Disposition. Die Klage über einen Niedergang vertraulicher Kommunikation – die nota bene Email, Online-Shopping oder Mikroblogging seit der frühsten Stunde begleitet – schien angesichts der exponentiellen Entwicklung digitaler Technologie gerade erst zu verstummen, paradoxerweise in einem Rauschen immer neuer Phishing-Mails, HackerAttacken und Online-Betrugsversuchen. Nun aber erweisen sich noch die Analogmedien, von denen aus sich die Sorge auf die digitalen Netze richtete, als denselben Kontroll- und Überwachungsstrategien unterworfen: Zum Sorgenkind wäre nicht länger die indifferente Digitalität der Computer, sondern das Über- und Vermittelnde jeder Tele-Kommunikation zu erklären. Denn selbstredend zapfen staatliche Institutionen, deren eigene territoriale und nationale Gesetzlichkeiten durch ebendiese Telekommunikation ja selbst ins Wanken gerät, nicht nur digitale Netze an, sie speichert auch handschriftliche Briefe, telefonische Stimmen oder analoge Bilder. Der gleichwohl erneut aufbrausende Ruf nach Datenschutz im Interesse des ‚Privatlebens‘ und der ‚individuellen‘ Freiheit in einer entgrenzten Sphäre medialer Kommunikation markiert freilich nur eine von mehreren politischen Implikationen. Wesentlicher noch verweist der Abhörskandal auf ein verzweifeltes Taktieren staatlicher Regime, denen die einst distinkt als Territorium, Nation oder Öffentlichkeit fassbaren Sphären des Politischen in den globalen Netzwerken intermedialer Kommunikation sukzessive entgleiten. Wo die Intermedialität gegenwärtiger Mediendispositive neue Kommunikationswege bahnt, resultiert deren Überwachung vor allem aus der einhergehenden Entgrenzung jenes politischen Raums der MitErscheinung. Und dieser vermögen die institutionalisierten Politiken der Staaten nur zu begegnen, indem sie den neu und anders verbindenden Raum reterritorialisieren und übercodieren, d.h. ihn erneut überwachend und intervenierend zu umschließen suchen.
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Globalisierung: Assoziation und Dissoziation Wie ein Riss durchziehen die intermedialen Inszenierungen des Politischen die zuvor verfugten Felder souveräner, institutionalisierter Politiken. Ein weltumspannendes Netz intermedialer Chimären, das mannigfaltigen kommunikativen Verbindungen statt gibt, durchschneidet und verschiebt verfugte politische Räume. Die gegenwärtige Phase der medialen Globalisierung, schreibt Krystian Woznicki, zeichnet sich durch die doppelte Bewegung des Assoziierens und Dissoziierens aus, sie bedeutet zugleich Auflösung und Neugestaltung: „Die Bewegung der rasanten Expansion, der extremen Verdichtung und allumfassende Vernetzung […] lässt nichts unberührt und bringt mit jedem Meter neu erschlossenen Raums in ein und demselben Atemzug Spaltungen und Risse hervor. Die Welt vergeht und entsteht neu: Neue Verbindungen lösen alte Verbindungen auf, Kopplungen führen zwangsläufig immer auch zu Entkopplungen.“ 109
Die politische Herausforderung dieser Vernetzung entspricht der Ereignishaftigkeit intermedialer Inszenierung und besteht in einer Globalisierung, welche die Welt nicht nur als „Dorfveranstaltung“, sondern grundlegender als „Geteiltes-Gemeinsames“ erfahrbar macht. 110 Im Französischen bedeuten zwei Begriffe die Globalisierung: mondialisation, die eher ein Weltwerden, d.h. Erschöpfung und Erschaffung meint, und globalisation, die eher die ökonomisch und technisch getragene Vernetzung dieser Welt bezeichnet. 111 „Die Verweltlichung“, schreibt Jean-Luc Nancy in Anlehnung an Marx, „bewirkt eine Verschiebung des Wertes, die Globalisierung eine Verschiebung der Produktion“. 112 Was sich in den weltumspannenden Mediennetzen derzeit politisch ereignet, ist demgemäß zunächst die Verweltlichung exponierter Singularitäten, d.h. die Eröffnung neuer Räume des Zusammen-Erscheinens – wenn diese auch bereits von neuem staatspolitisch, wirtschaftlich oder militärisch vereinnahmt sein mögen. 113 Das weltumspannende Flechtwerk intermedialer Konfigurationen jedoch projiziert zuvorderst einen gleichsam ortlosen, gemeinsamen Raum pluraler Singularitäten. In diesem Raum entfliehen die Teletechnologien den Lokalisierungen politischer Institutionen, wie Jacques 109 Woznicki, Krystian: In Richtung Nancy. Gemeinschaft und Globalisierung nach 1960, in: ders.: Wer hat Angst vor Gemeinschaft? Ein Dialog mit JeanLuc Nancy, Berlin 2009, S. 47-66, hier: S. 50f. 110 Ebd., S. 52. 111 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich 2003, S. 9; sowie Woznicki: In Richtung Nancy, a. a. O. [Anm. 109], S. 62. 112 Nancy: Erschaffung der Welt, a. a. O. [Anm. 111], S. 35. 113 Ebd., S. 38.
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Derrida verdeutlicht: „Die Grenze ist keine Grenze mehr, die Bilder passieren den Zoll, das Band zwischen dem Politischen und dem Lokalen, die Topolitik, ist in gewisser Weise gerissen“. 114 Vermittels einer globalen Expansion der Kommunikationsräume enttarnt gegenwärtig die unmittelbare Medialität der Medien tradierte politische Topologien als Heterotopien: „Was die beschleunigte Entwicklung der Teletechnologien, des Cyberspaces, der neuen Topologie des ‚Virtuellen‘ bewirkt, ist eine praktische Dekonstruktion der traditionellen und vorherrschenden Begriffe des Staates und des Staatsbürgers (also des ‚Politischen‘), soweit sie an ein aktuelles Territorium gebunden sind.“ 115
Hier – in dieser tele-medial getragenen Entgrenzung – gründet die historisch schon ältere Idee der Medienrevolution. Und von hier nimmt auch die Rede von der Twitter-Revolution im Iran 2009 oder im Arabischen Frühling ab 2010, von neuen Protesträumen ‚on-line‘ und ‚on-site‘ im Zuge der OccupyBewegungen oder von einer Cyberdemokratie, wie sie spätestens mit der Wahlkampagne Barack Obamas ab 2007 gefeiert und bis heute unter Schlagworten wie E-Democracy oder E-Governement fortgeführt wird, ihren Ausgang. Beispielsweise profitierten die Proteste gegen den vermuteten Wahlbetrug im Iran 2009 entschieden von digital und weltweit vernetzten Medien: Außerhalb der staatlichen Überwachung und Zensur von Presse und Massenmedien, so zeigt Marcus Michaelsen, bildete das Internet einen „alternativen Kommunikationskanal“, der „neue Möglichkeiten der internen und externen Kommunikation für konfliktorientierte Akteure eröffnet[e]“. 116 Landesintern formten Mobiltelefone, Blogs, Bild- und Videoportale „Gegenöffentlichkeiten“ aus, d.h. sie vernetzten und stärkten den Zusammenhalt unterschiedlicher Protestbewegungen und mobilisierten Anhänger und Unterstützung. Grenzüberschreitend gelang es mit ebendiesen Medien zugleich wiederholt „eine internationale Öffentlichkeit anzusprechen und auf die Repression durch den autoritären Staat aufmerksam zu machen“. 117 Die erfolgreiche Wahlkampagne Barack Obamas ab 2007 stützte sich ebenso auf eine internetbasierte Wählermobilisierung, die Tobias Moorstedt gar als „Politik 2.0“ bezeichnet: Anders als seine Konkurrenz habe Obama verstanden, dass „das Internet nicht nur ein zusätzlicher Kanal ist“, der nur Politikern zur Verfügung steht, sondern „interaktive Werkzeuge“ bietet, die „auch und vor allem Gewerkschaftern, politischen Aktivisten und Bürgern“ zur Verfügung steht – „allen Menschen also, die an der gesellschaftlichen
114 Derrida: Echographien, a. a. O. [Anm. 97], S. 72. 115 Ebd., S. 48, Herv. i. Orig. 116 Michaelsen, Marcus: Wir sind die Medien. Internet und politischer Wandel in Iran, Bielefeld 2013, S. 321. 117 Ebd., S. 318, S. 324.
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Debatte teilnehmen wollen“. 118 Die praktische Dekonstruktion telemedialer Technologien – sei es in den USA, im Iran, in Nordafrika, oder auch in Europa – erscheint mit Stefan Münker gegenwärtig tatsächlich als „integrative Macht des Web 2.0“ fassbar, die „in der Nische des Netzes demokratischere Kommunikationsverhältnisse“ schafft. Anders als die einfacher zensurierbaren Massenmedien erlauben „Dissidenzmedien“, so Münker, „offen miteinander zu kommunizieren“. 119 Die politische Sprengkraft ‚sozialer‘ und ‚interaktiver‘ Digitalmedien, so legen diese jüngeren Beispiele nahe, liegt in der Etablierung neuer und anderer Gemeinschaften und Öffentlichkeiten. Wahrhaft revolutionär erscheinen die sich vollziehenden intermedialen Umbrüche, weil die durch sie verbundenen Gemeinschaften als freier, wenn nicht sogar genuin demokratisch erscheinen. Die politischen Verheißungen, die sich hieraus ableiten lassen, tendieren infolgedessen zur Euphorie, erfolgen gerade deshalb aber zu vorschnell. Für Stefan Münker etwa ist die durch das Internet angeschobene Demokratisierungswelle gar nicht mehr in Frage zu stellen: „Die Rede von einer Demokratisierung der Kommunikations- und Informationsverhältnisse als Effekt der Verbreitung und Nutzung digitaler Netzmedien ist heutzutage sicher kein Euphemismus mehr; der durch das Internet angeschobene Demokratisierungsprozeß ist vielmehr eine unübersehbare Tatsache.“ 120
Grundlage dieser Einschätzung bildet für Münker der Umstand, dass im modernen Internet „der Nutzer Rezipient und Produzent zugleich ist“, 121 dass folgerichtig die netzbasierte Kommunikation „gerade vom sogenannten ‚user generated content‘, von der Kreativität und der sozialen Energie der Nutzer“ 122 lebt und die digitale Vernetzung also „zu faktischer Vermischung von gesellschaftlichen Bereichen, die traditionellerweise durch Institutionen getrennte Sphären darstellten“, 123 führt. Diese Diagnose liegt gewiss nicht gänzlich falsch, macht die „grenzüberschreitende Vernetzung“ 124 intermedialer Umbrüche doch einen gemeinsamen Raum der Ko-Existenz erfahrbar. Was sie hingegen bereits affirmierend vorwegnimmt, ist die augenblickliche Reterritorialisierung und Übercodierung ebendieser Gemeinschaften und kollektiver Identitäten, die sie gerade noch für befreit und demokratisiert erklärte.
118 Moorstedt, Tobias: Jeffersons Erben. Wie die digitalen Medien die Politik verändern, Frankfurt a.M. 2008, S. 8f. 119 Vgl. Münker, Stefan: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0., Frankfurt a.M. 2009., S.106, S. 108f. 120 Ebd., S. 104. 121 Ebd., S. 105. 122 Moorstedt: Jeffersons Erben, a. a. O. [Anm. 118], S. 9. 123 Münker: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten, a. a. O. [Anm. 119], S. 114. 124 Ebd., S. 105.
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Wie Jean-Luc Nancy zeigt, ist keine Gemeinschaftsform – weder historisch noch gegenwärtig – als „unbestimmte Pluralität von Singularitäten“ oder als uneingeschränkt offene, „geteilte Raum-Zeit“ vervielfachter Identitäten eingetreten. 125 Das Politische der Gemeinschaft verliert sich vielmehr in Politiken, die diese Gemeinschaft durch eine Kommunion „ins Werk setzen“, d.h. sie vereinigend und verschmelzend herstellen. Wie beispielsweise der Kommunismus in seiner Tendenz alles auf Produktion, Lenkung und effiziente Kontrolle reduziert 126 – auf eine Idee des Menschen „der grundsätzlich als Produzent seines eigenen Wesens in Gestalt seiner Arbeit oder seines Werks verstanden wird“ 127 – so kann auch der neoliberale Individualismus lediglich als „das abstrakte Ergebnis einer Zerlegung“ 128 gelten, welche ebenso immanentistischen Züge aufweist. Jede historisch realisierte politische Gemeinschaft, schlussfolgert Nancy, hat insofern totalitäre Züge angenommen, als dass sie sich immanent auf ihre festsetzende (Be-)Gründung beziehen musste. Mehr noch: Jeder Gemeinschaftsform ist ein menschliches Ideal inhärent, nämlich die „Vision der Gemeinschaft von [menschlichen (SaS)] Wesen, die wesensmäßig ihre eigene Wesenheit als ihr Werk herstellen und darüber hinaus genau diese Wesenheit als Gemeinschaft herstellen“. 129 Deshalb stellen „das ökonomische Band, die technologische Verfahrensweise und die politische Verschmelzung (zu einem Körper oder unter einer persönlichen Herrschaft)“ 130 in sich, d.h. immanent, schon ein ‚menschliches‘ Wesen von Gemeinschaft aus, das zugleich ihre eigene Wirkung ist. Genau diesem Immanentismus einer ins Werk gesetzten Gemeinschaft verfällt nun die euphorisch besungene Demokratisierung durch ‚neue‘ Medien. Sie rekurriert auf vermeintlich vor-mediale Entitäten – etwa ein partizipatorisches Subjekt, den politischen Bürger oder „Sphären der Zivilgesellschaft und der Politik“ 131, die – kraft ihrer digitalen Ermächtigung – zu ihren gleichsam natürlichen Kommunikationswegen zurückgefunden haben. Wie die politischen Diktaturen der Geschichte und die neoliberalen Individualismen der Gegenwart gehen auch die Diskursfiguren einer ‚revolutionären‘ Partizipation in ‚sozialen‘ Netzen von einer genuinen Kommunikation aus,
125 Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 65. 126 Vgl. Dallmayr, Fred: Eine „undarstellbare“ globale Gemeinschaft? Reflexionen über Nancy, in: Janine Böckelmann/Claas Morgenroth (Hg.): Politiken der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 106-132, hier: S. 110. 127 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 80], S. 13. 128 Vgl. Dallmayr: „Undarstellbare“ globale Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 126], S. 111. 129 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 80], S. 13f, Herv. i. Orig. 130 Ebd., S. 14, Herv. i. Orig. 131 Münker: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten, a. a. O. [Anm. 119], S. 113.
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die medientechnisch und massenmedial, d.h. künstlich und einseitig verstellt und verunmöglicht wurde. Dieser Kommunikationsbegriff aber ist kein politischer, vielmehr ist er polizeilich konnotiert: Er versucht „den Spielraum der Medien in einen (heimatlich) vor-gegebenen und deshalb vertrauensstiftenden Horizont zurückzuholen und das stets Hinzukommende jeder Tele-Technik zugunsten einer selbstbezogenen, verfügungsstolzen Gegenwart zurückzunehmen“. 132 Das Ideal einer verbindenden und verbündenden medialen Kommunikation, in deren Namen Medientechniken seit jeher weiterentwickelt und vorangetrieben werden, erweist sich dermaßen als „Illusion von Nähe, Unmittelbarkeit, Innerlichkeit“. 133 Kommunikation, wie sie Nancys politische Kontur des singulär-pluralen Mit-Seins impliziert, bedeutet keine immanente Einswerdung: Ihr verbindendes ist zugleich ein betont trennendes Moment. Als Mit-Teilung verweist die Medialität der Medien auf das simultane „Auseinander“ und die unumgängliche „Verschiebung“ eines medialen Dazwischens. 134 Das dekonstruktive Moment sich intermedial vervielfachender Kanäle liegt dementsprechend nicht in der Rückgewinnung einer vermeintlich verlorenen Gemeinschaft. Politisch sind die jeweils neuen Mediendispositive vielmehr, weil sie Gemeinschaften entwerken, d.h. ihre Immanenz enttäuschen und ihre Undarstellbarkeit belegen. In genau diesem Sinne kommt Georg Christoph Tholen zum Schluss: „Der sensus communis ist weniger Kommunikation als Mitteilung denn als das Geschehen der Übermittlung, das uns voraus ist bzw. auf uns zukommt, um ein ‚Wir‘ der Kommunikation erst zu bilden. Die ursprüngliche Übermittlung als gemeinschaftliches Dazwischen ist nicht nur das Fehlen von Substanz, Ursprung oder Bestandserhaltung, sondern dasjenige, was eben dieses Fehlen jeglicher ‚Wesenheit‘ mitteilt.“ 135
Mediale Zäsuren – wie sie gegenwärtig unter dem Schlagwort der Medienrevolution so oft postuliert werden – beziehen sich auf die Ent-Täuschung eines verbindenden und trennenden Mit. Dieses Mit wird, mit Jean-Luc
132 Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 50. Die Diskurse einer durch intermediale Verschiebungen initiierte Demokratisierung laufen damit auf jenen „anthropomorphen Narzissmus“ hinaus, den Tholen allen anthropologisch konnotierten Medientheorien nachweist: „Der unbemerkte Fetischismus des anthropologischen Diskurses ist die Unterstellung, es geben ein vom dinglichen (falschen) Schein des Technischen ablösbares und unersetzbares Eigenes des Menschen, in welchem die Technik sich letztlich aufzuheben habe.“ (Ebd., S. 183.) 133 Derrida: Echographien, a. a. O. [Anm. 97], S. 94f. 134 Vgl. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 80], S. 64; Dallmayr: „Undarstellbare“ globale Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 126], S. 116. 135 Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 181, Herv. i. Orig.
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Nancy gesprochen, „bloßgestellt als Kategorie, die noch keinen Status und Gebrauch hat, aus der aber letztlich alles resultiert, was uns zu denken gibt – und alles, was ‚Uns‘ denken läßt“. 136 Doch kommt diese Bloßstellung, wie Jacques Derrida bemerkt, einer teletechnologischen Enteignung gleich, weshalb sie die abwehrende Reaktion einer segmentierenden Geste im digital verbreiterten Verbindungsspektrum hervorruft: „[Die] globale und vorherrschende Wirkung des Fernsehens, des Telefons, des Fax, der Satelliten, der beschleunigten Zirkulation der Bilder, Diskurse und so weiter [liegt] darin, daß das Hier-und-Jetzt ungewiß wird, seine Sicherheit verliert: Die Verankerung, die Verwurzelung, das Bei-sich-zu-Hause-Sein [chez soi] werden radikal in Frage gestellt, werden ortlos [délogés]. Das ist nicht neu. Es war immer so. Das Zu-Hause wird immer vom anderen gestört, vom Gast; es ist stets von Enteignung bedroht, ja es hat sich unter dieser Drohung herausgebildet. Gleichwohl erleben wir heute eine Enteignung, eine Deterritorialisierung, Delokalisierung, eine so radikale Trennung des Politischen und des Lokalen, Nationalen, des Nationalstaats und des Lokalen, daß die Antwort, man müßte sagen, die Reaktion darauf lautet: Ich will bei mir sein, ich will endlich zu Hause sein, mit den Meinen, bei denen, die mir nahestehen.“ 137
Die Assoziationen, welche die intermediale Vernetzung einer schier grenzenlosen Welt hervorruft, provozieren Dissoziationen: Auf jede Deterritorialisierung und Decodierung folgen, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari zeigen, Reterritorialisierung und Übercodierung – am stärksten dort, wo die den Segmentarisierungen entkommenen Fluchtlinien zu verbindenden Strömungen heranwachsen. Re-Akzentuierungen eines verlorenen Politischen sind die gegenwärtig rumorenden Phänomene dieses Vorgangs, denen man, so Derrida, „um sie zu bannen, die Gestalten alter Monster gibt (‚Wiederkehr des Religiösen‘, ‚nationalistische Archaismen‘)“. 138 Die Entwerkung von Gemeinschaften, so diagnostiziert auch Jean-Luc Nancy, hinterlässt eine Wunde, die nicht bloß versorgt, sondern geschlossen werden will: „Was uns widerfährt, ist einer Erschöpfung des Denkens des Einen und einer einzigen und einzigartigen Bestimmung der Welt. […] Die sich formende Kluft ist die des Sinns, der Wahrheit oder des Wertes. […] Auf beiden Seiten will man um die Wunde die gewohnten Banner binden: Gott oder Geld, Öl oder Muskelspiel, Information oder Zauberformel – am Ende wird stets irgendeine Form von Allmacht und der Allgegenwart bezeichnet.“ 139
136 137 138 139
Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 74. Derrida: Echographien, a. a. O. [Anm. 97], S. 95, Herv. i. Orig. Ebd., S. 72. Nancy, Jean-Luc: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 9ff.
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An Beispielen für solche Bandagen mangelt es in den globalen Netzen der angeblich freien und demokratischen Medien nicht. Die Überwachung und Zensur des Internets durch gemeinhin als repressiv geltende Staatsregime weltweit – etwa im Namen der nationalen Sicherheit oder der Terrorismusbekämpfung – sind der verzweifelte Versuch, die souveräne Macht einstiger Informationshoheit zu bewahren oder wiederherzustellen. Offenkundig treten reterritorialisierende Medienpolitiken aber auch im angeblich unzensierten, wohl aber marketingstrategisch und zeitökonomisch übercodierten Web 2.0 zu Tage. Der Kurz-URL-Dienst bitly etwa verkürzt lange Webadressen per Mausklick zu kürzeren Buchstabenfolgen, sogenannten bitmarks – angesichts immer komplexerer Netzarchitekturen und vielfältig teilbarer Inhalte ein praktischer und viel genutzter Dienst. Seit Kurzem erlaubt es bitly außerdem testeshalber, via bitmarks Zustimmung oder Abneigung zu jenen Seiten, Posts, Bilder oder Videos auszudrücken, auf die diese verweisen. Den verkürzten Adressen steht dann nicht mehr die Basisadresse „bit.ly/“ vor, sondern URLs wie „oppos.es/“ (‚Ich bin gegen‘), „wtfthis.me/“ (‚Was zum Teufel‘) oder „iwantth.is/“ (‚Das will ich haben‘). 140 Noch die neue ‚Freiheit‘, Meinungen und Gefühle schon in Webadressen auszudrücken – der Werbeslogan für das Projekt lautet „Because you don’t ‚like‘ everything“ – relativiert sich allerdings mit einem Blick in die Werbebroschüre, mit der bitly Unternehmen auf seine Vorzüge aufmerksam zu machen sucht (Abb. 14).
Abb. 14: „Das fragmentierte Internet zusammenbringen“: Werbeslogan des Unternehmens bitly „The web has become fragmented.“, so lautet hier die zunächst vage Feststellung, „Bring it together with bitly enterprise.“ Illustriert ist der Werbeslogan minimalistisch mit einer einfachen Linie, die Punkte verbindet, im
140 Vgl. https://bitly.com/a/feelings.
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Hintergrund jedoch eine ähnliche Linie überschattet. Die Illustration erinnert programmatischer Weise zugleich an die Knoten und Kanten eines (kommunikativen) Netzwerkes und an meliorative Visualisierungen statistischer Daten, wie sie in betriebsökonomischen Kontexten oft vorkommen. Die praktische Verkürzung langer Webadressen ist selbstredend kein bloßer Dienst an der Benutzerfreundlichkeit des Internets. Anders als herkömmliche Adressen sind die bitmarks nämlich durch ihre Autorinnen und Autoren nachverfolgbar: Wie oft auf eine selbst erstellte bitmark geklickt wurde, wie viele andere bitmarks auf dieselbe Seite verweisen und selbst wohin sich Leserinnen und Leser nach ihrem Besuch der Seite wenden, ist jederzeit statistisch exakt oder visuell illustriert auf einer entsprechenden „Stats Page“ einsehbar. Die Vorzüge dieser Berechen- und Visualisierbarkeit sind vor allem marketing- und kampagnenstrategischer Art: Via bitmarks, so preist die Broschüre an, wird die Nachverfolgung „sozialer Links“ und die „Entzifferung von Kundenverhalten“ möglich. Sie erlauben zu prüfen, ob Kampagnen und Inhalte „dem globalen Zielpublikum entsprechen“ und identifizieren „natürliche Trendinhalte“, um deren Zirkulation zu verstärken. 141 bitly ist eine von vielen Strategien im ‚sozialen‘ Netz, dessen verworrene Kommunikationsräume zu ordnen und – entsprechend einer wirtschaftlichen oder politischen Strategie – kontrollier- und nutzbar zu machen. Erneut verdeutlicht sich das Internet hier weniger als geteilte Raum-Zeit denn vielmehr als Netzwerk, das eine Gemeinschaft ins Werk setzt, d.h. sie reterritorialisiert und segmentarisiert. Schon 1986 stellt Nancy in Die undarstellbare Gemeinschaft fest, dass „das technisch-ökonomische Ins-Werk-Setzen unserer Welt die Entwürfe eines gemeinschaftlichen Ins-Werk-Setzens abgelöst“ hat. 142 Die zensorischen, überwachenden oder marktorientierten Segmentarisierungen eines fragmentären Internets verweisen auf solche Operationalisierung gemeinschaftlicher Kommunikation. Dabei ist es gerade die metaphorische Als-ObBestimmung der Medien – als expressives Kommunikationsmittel, als kontrollierbarer Kommunikationsraum, als Gefährdung nationaler Sicherheit oder als dissidenter Partisanenkanal –, welche die (sich) verschiebende Medialität reterritorialisiert. Die Disponibilität der Medien verliert sich augenblicklich in Mediendispositiven, die dem Medialen eine metaphorische Heimstatt bieten. Noch dort aber gehen die Kommunikation und die Komparenz im Sinne des Mit-Seins nicht verloren: Der „Kontakt als sprühender Funke, als Überraschung, als eine ungeahnte Intensität“ 143 taucht zwischen
141 Vgl. http://www.enterprise.bitly.com/wp-content/uploads/2013/02/bitlyproduct-tear-sheets-feb1.pdf. 142 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, a. a. O. [Anm. 80], S. 53. 143 Lenger/Nancy/Tholen: Unendliche Nähe, a. a. O. [Anm. 90], S. 10.
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sich verschiebenden Mediendispositiven erneut als politische „Frage, Erwartung, Ereignis“ einer mit-teilenden Gemeinschaft auf. 144 Gouvernementalität – Gouvernemedialität Die globalisierte Welt expandiert und exponiert ihre technisch-ökonomischen Operationalisierungen. Deshalb gibt sie souveräne Figuren des Politischen – etwa den autoritären Alleinherrscher oder das Einparteiensystem, Ideologien der Rasse oder Klasse, Kategorien des Nationalen oder Individuellen – vermehrt der Lächerlichkeit preis, auch wenn aus schierer Verzweiflung unverändert oft auf solche und ähnliche Immanentismen rekurriert wird. Ein Widerspruch durchzieht die medial-globalisierte Gegenwart, wie Jean-Luc Nancy beschreibt: „Einerseits breitet sich eine Welt aus, andererseits stehen wir vor dem Ende der Repräsentationen dieser Welt. […] Einerseits kann es sich nicht mehr um eine einzige Gemeinschaft, ihr Wesen, ihre Geschlossenheit und Souveränität handeln, andererseits kann es nicht mehr darum gehen, die Gemeinschaft den Dekreten einer Souveränität des Anderen oder den Zwecken einer Geschichte zu unterstellen. […] Gemeinschaft steht nackt da, aber sie drängt sich auf.“ 145
Wo die Globalisierung dergestalt jede ‚per se‘ schon abgründige Souveränität in Frage stellt, folgt entweder eine neue „Verschweißung, eine Konzentration, deren Los Uniformismus und Anonymität zu sein scheint“, oder aber eine „Atomisierung, eine Ko-Dispersion, deren Los Idiotie scheint, sowohl im griechischen Sinne des Privateigentums als auch in ihrem modernen Sinne von verschlossener Dummheit“. 146 In dieser prekären Situation, welche „die nackte Souveränität des ‚Mit‘ im Gegensatz zur Beherrschung des Zusammen seins durch eine andere Instanz“ 147 ausstellt, hat die Phänomenalität des Politischen ein weiteres Profil gewonnen: Die Politiken der Gegenwart, so verdeutlichen die Gouvernementalitätsstudien Michel Foucaults, rekurrieren weniger auf eine (vor-)gegebene Souveränität, sie gehen vielmehr von einem Prinzip flexibler, mikrologisch wie global wirksamer Regierungstechnologien aus. Unter dem Begriff der Gouvernementalität erfasst und dekonstruiert Foucault die historisch weitverzweigten politischen Rationalitäten der Regierung. Dabei steht durchaus eine „Genealogie des modernen Staates“ 148 zur Disposition: Es geht Foucault darum, den Begriff der Regierung – aktuell im Übrigen in Formen von E-Governement oder Good Governance un144 145 146 147 148
Vgl. ebd., S. 31, S. 87. Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 66, Herv. i. Orig. Ebd., S. 78. Ebd., S. 67. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 508.
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gebrochen populär – diskursanalytisch als dominierende Machttechnologie der Gegenwart zu untersuchen. Dabei erweist sich die Gouvernementalität wesentlich als ein Machtdispositiv, das auf Deterritorialisierungsbewegungen reagiert und diese zugleich mitträgt: Das „Zeitalter der Gouvernementalität“ 149 beginnt im 18. Jahrhundert im Zuge einer Phase politischer und demographischer Expansion, auch wenn ihre Operativität einerseits auf die Gründung territorialer Verwaltungsstaaten ab dem 16. Jahrhundert, andererseits auf eine seit der Antike schwelende, pastorale Macht rekurriert. 150 Gouvernementale Regierungstechnologien gehen mit entgrenzenden Bewegungen des Politischen einher – und erhalten deshalb in der gegenwärtigen Phase entfesselter Globalisierung neue Impulse. Die zentralen Aspekte der Gouvernementalität fasst Foucault in seiner Vorlesung von 1978 zusammen: „Ich verstehe unter ‚Gouvernementalität‘ die aus Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter ‚Gouvernementalität‘ die Tendenz oder Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus geführt hat, den man über alle anderen hinaus die ‚Regierung‘ nennen kann: Souveränität, Disziplin, und die einerseits die Entwicklung einer ganzen Serie spezifischer Regierungsapparate und andererseits die Entwicklung einer ganzen Serie von Wissensarten nach sich gezogen hat.“ 151
Schwergewichtig führt Foucault die gouvernementalen Charakteristika auf zwei große Entwicklungslinien im 16. Jahrhundert zurück: Die Auflösung feudaler Strukturen und die Gründungsstunde großer Territorial-, Verwaltungs- und Kolonialstaaten problematisieren die Grenzen beherrschbarer
149 Ebd., S. 164. „Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität“, schreibt Foucault, „die im 18. Jahrhundert entdeckt wurde“ (ebd.). Zweifelsohne ließe sich das unhintergehbare Zusammenspiel politischer und medialer Technologien auch hier medienhistorisch vertiefen: Nicht nur die wohlbekannte Relation zwischen industrieller Revolution und Bevölkerungswachstum, sondern auch eine ganze Reihe medientechnischer Erfindungen der Moderne wären mit der Geburtsstunde moderner Gouvernementalität in Verbindung zu bringen – etwa erste Schreibmaschinen (1714), die Entdeckung lichtempfindlicher Silberschichten (1727), die Verwendung von Naturkautschuk als Radiergummi (1770), die Erfindung der Kopierpresse (1780), der Einsatz erster vollmechanisierten Webstühle (1785) oder erster Batterien (1799). 150 Zur Pastoralmacht vgl. meine Ausführungen im Kap. 4.4., Die Regierung des Selbst und der anderen. 151 Ebd., S. 162f.
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Territorien, gleichzeitig stellen Reformation und Gegenreformation erneut in Frage, „wie man auf dieser Erde geistlich zu seinem Heil geleitet werden will“. 152 In diesem prekären Klima betritt der vielfältige Begriff der Regierung die zeitgenössischen Bühnen der Politik. Bedeutete Regieren bislang eine „Befehlsgewalt“ in Form von „verordnenden, zugleich unaufhörlichen, eifrigen, tätigen und stets wohlwollenden Aktivitäten“ in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Haushalt und der Familie, der Krankenpflege oder der Erziehung auszuüben, 153 so impliziert die (staats-)politische Begriffsverwendung nun eine beträchtliche Verschiebung: „Auf jeden Fall gibt es etwas, das durch all diese Bedeutungen hindurch klar zutage tritt, nämlich, daß man niemals einen Staat regiert [gouverne], man niemals ein Territorium regiert, man niemals eine politische Struktur regiert. Das was man regiert, sind auf jeden Fall Leute, es sind Menschen, es sind Individuen und Kollektive.“ 154
Dieser erheblichen Zäsur in die Gebiets- und Geltungsansprüche königlicher oder fürstlicher Herrschaft geschuldet, kann sich die Gouvernementalität erst im 18. Jahrhundert vollständig entfalten. Fast drei Jahrhunderte lang bleibt sie monarchisch geprägten Diskursivierungen verhaftet, die zu klären suchen, „wie die Souveränität eines Souveräns in einem Staat“ 155 aufrechtzuerhalten bliebe. Dennoch verursacht die politische Idee der Regierung ab dem 16. Jahrhundert zunächst feine Risse in den dominierenden Souveränitätskonzepten, die bis ins 18. Jahrhundert zu tiefen Bruchlinien aufklaffen. Während die juridische Theorie eines Souveräns nämlich stets bemüht sein muss, dessen eigene Vorrangstellung gegen alle anderen Machtformen abzugrenzen, operieren die aufkeimenden Regierungskünste mit einem viel dynamischeren Prinzip sowohl absteigender wie aufsteigender Kontinuität: „Aufsteigende Kontinuität in dem Sinne, daß derjenige, der den Staat regieren können will, sich zunächst selbst zu führen wissen muß, dann auf einer weiteren Ebene seine Familie, seine Habe, sein Gut. […] [A]bsteigende Kontinuität in dem Sinne, daß bei einer guten Regierung des Staates die Familienväter ihre Familie, ihre Reichtümer, ihre Güter und ihr Eigentum zu führen wissen und daß sich auch die Individuen mustergültig zurechtfinden.“ 156
Die sich im 16. Jahrhundert herausbildende Gouvernementalität ist also einerseits ein äußerst flexibles Makrodispositiv der Macht, das entlang aufund absteigender Richtungen in jeder bestehenden Hierarchie mikrodisposi-
152 Ebd., S. 135f. 153 Ebd., S. 181ff., sowie Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin 2003, S. 149. 154 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 183. 155 Ebd., S. 137. 156 Ebd., S. 142f.
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tiv zu installieren möglich ist. Zugleich, so unterstreicht Foucault, signalisiert diese Profilierung der Regierung als adaptives Führungsprinzip den Einzug der Ökonomie – als „mustergültige Verwaltung der Individuen, der Güter und Reichtümer“ – in die Ausübung der Politik, und diese Ökonomie bildet noch im 18. Jahrhundert den „Haupteinsatz des Regierens“. 157 Wie jedes Machtdispositiv ist außerdem schon die frühe Gouvernementalität „mit einem ganzen Komplex von Analysen und Wissensarten verbunden“: mit einer „Kenntnis über den Staat in seinen verschiedenen Dimensionen“, die bereits in den Verwaltungsapparaten territorialer Monarchien Konturen der modernen Statistik annimmt. 158 Ihre noch heute wirkmächtigen Wissensregime erlangt die Statistik indes mit dem enormen demographischen Wachstum des 18. Jahrhunderts, das die Bevölkerung zum zentralen Gegenstand des politischen Wissens erhebt. 159 „Die Regierungskunst“, so stellt Foucault fest, „konnte sich im Grunde genommen nur in einer Periode der Expansion entfalten […] und steigern“. 160 Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert begleiten Foucault zufolge zwei zentrale Entwicklungen die gouvernementale Expansionskraft: die Ausbildung einer Staatsräson mit einer Reihe diplomatisch-militärischer Beziehungen sowie die Formierung einer Polizeitheorie. Unter dem Begriff der Staatsräson fasst Foucault zunächst „das Regieren entsprechend der Stärke des Staates“, ein Regieren also, „dessen Ziel die Steigerung dieser Stärke innerhalb eines umfassenden und von Wettstreit geprägten Rahmens ist“. 161 Historisch gewichtig impliziert die Staatsräson eine Loslösung von göttlichen oder natürlichen Gesetzen, ja von wesentlich jeder Souveränität außerhalb des Staates. 162 Gleichzeitig verlangt ihr Postulat die Aufnahme zwischenstaatlicher Beziehungen und markiert die Gründungsstunde eines „diplomatischmilitärische[n] Dispositivs“, welches „die Aufrechterhaltung eines Kräfteverhältnisses und das Anwachsen jeder dieser Kräfte“ garantiert, „ohne daß das Ganze auseinanderbricht“. 163 Diese gewissermaßen äußerlichen Stützen des sich gouvernementalisierenden Staates werden von einem staatsinternen Mechanismus flankiert, nämlich von einer Polizei, welche eher „die absteigende Kontinuität der Re-
157 Vgl. ebd., S. 143f. Zur älteren Semantik der Ökonomie als „‚weise Führung‘ des Hauses“ (vgl. ebd. S. 144f.). 158 Ebd., S. 152. 159 Vgl. ebd., S. 156. 160 Ebd., S. 153. 161 Foucault, Michel: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 65-93, hier: S. 84. 162 Zum kontemporären Innovations- und Skandalcharakter der Staatsräson vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 348-360; Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 157-163. 163 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 429.
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gierungsformen [gewährleistet]“. 164 Ab dem späten 16. und bis ins 18. Jahrhundert zeichnet Foucault die Entwicklung dieser Regierungstechnologie nach, die durchweg makropolitische Züge annimmt: „Die Polizei soll also im Grunde alle Formen der Koexistenz der Menschen untereinander steuern, und das soll ihr hautsächlicher Gegenstand sein. Die Tatsache, daß sie zusammenleben, daß sie sich fortpflanzen […]; die Tatsache, daß sie arbeiten […]; auch die Tatsache, daß sie sich in einem Verkehrsraum befinden, um all diese Arten von Sozialität […] soll die Polizei sich kümmern. […] Das Zusammenleben und die Kommunikation der Menschen untereinander ist schließlich das Gebiet, das die Polizeiwissenschaft und diese Institution der Polizei abdecken soll […].“ 165
Bereits ab dem 16. Jahrhundert, so zeigt sich hier, bildet sich die bis in die Gegenwart wirkmächtige politische Figur aus, die wesentlich mehr als die Aufgabengebiete heutiger Ordnungskräfte umfasst: eine äußerst flexible Regierungstechnologie nämlich, deren ausgezeichnete Strategie die reterritorialisierende Führung und Kontrolle kommunikativer, kommerzieller und sozialer Verkehrsräume einer entgrenzten Gemeinschaft bildet. Die für das Zeitalter der Gouvernementalität charakteristischen Sicherheitsdispositive entwickeln sich mit ebendieser frühen Polizei, sie treten als neue Machttechnologie neben die rechtlich-juridischen Mechanismen und neben die Disziplinarmechanismen, um beide zugleich zu ergänzen und zu verschieben. 166 Die gouvernementalen Theorien und Institutionen der Polizei richten Sicherheitsräume ein, sie perfektionieren den Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen, sie etablieren sicherheitsspezifische Normierungs- und Normalisierungsformen und sie versuchen unaufhörlich, all diese Sicherheitstechniken auf die Bevölkerung zurück zu beziehen. 167 „Während die Souveränität ein Territorium kapitalisiert“, schreibt Foucault, „während die Disziplin einen Raum architektonisch gestaltet“, fokussieren die Sicherheitsdispositive einen Verkehrs- oder Zirkulationsraum, d.h. „eine Serie möglicher Ereignisse […] die in einen gegebenen Raum eingeschrieben werden müssen“. 168 Dementsprechend bestehen sicherheitstechnische Normalisierungsstrategien auch weniger in einer disziplinarischsetzenden Normung als vielmehr in einer Normalisierung im engeren Sinn: Eine „Ortung des Normalen und des Anormalen, eine Ortung der verschiedenen Normalitätskurven, und der Vorgang der Normalisierung besteht da-
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Ebd., S. 143. Ebd., S. 469. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 26f. Vgl. ebd., 39f. Als Sicherheitsräume illustriert Foucault vor allem Stadtgebiete (vgl. ebd., S. 28-41.), die Strategien im Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen zeigt er exemplarisch anhand der Präventivmaßnahmen gegen Hungersnöte im 18. Jahrhundert auf (vgl. ebd., S. 52-79.).
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rin, diese verschiedenen Normalitätsaufteilungen wechselseitig in Gang zu setzen“. 169 Schließlich kristallisieren sich all diese Sicherheitstechniken und -räume im 18. und 19. Jahrhundert schwergewichtig „um die Emergenz dieser absolut neuen Sache, die die Bevölkerung darstellt, einschließlich der Menge an juridischen, politischen, technischen Problemen, die daraus sich ergeben“. 170 Die Sicherheitsdispositive, die sich zwischen polizeilichen und diplomatisch-militärischen Techniken entfalten, sind dergestalt in „ein unaufhörliches Spiel zwischen den Machttechniken und ihrem Objekt“ 171 verwickelt. Der „Polizeistaat“, so stellt Foucault in der Folgevorlesung von 1979 fest, „ist im Grunde eine Regierung, die sich mit der Verwaltung vermischt, eine Regierung, die völlig administrativ ist, und eine Verwaltung, die das gesamte Gewicht einer Gouvernementalität für und hinter sich hat“. 172 Staatsräson und Polizei reagieren zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert auf ein Szenario, das in vieler Hinsicht den gegenwärtigen Herausforderungen einer medial-globalisierten Welt entspricht. Dort, wo die souveränen Verhältnisse zu bröckeln beginnen und die disziplinarischen Räume aufbrechen, machen sich Staatsräson und Polizei daran, die decodierten Diskurse des Politischen von neuem überzucodieren und die dezentrierten Räume erneut zu rahmen. Die Politik der Gouvernementalität ist in erster Linie eine reterritorialisierende und übercodierende Taktik: In seiner räumlich umrissenen und souverän legitimierten Struktur übersteht der mittelalterliche Staat seine Fragmentarisierung ab dem 16. Jahrhundert nur dank einer taktischen, auch international ausgerichteten Verwaltungs- und Verhandlungsstrategie, die einer gleichsam ort- und bezugslose Re-Inszenierung des Staates gleichkommt. „[W]as es für unsere Modernität, das heißt für unsere Aktualität an Wichtigem gibt“, schreibt Foucault, „ist also nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das, was ich eher die ‚Gouvernementalisierung‘ des Staates nennen würde“. 173 Mit Ulrich Bröckling, Thomas Lemke und Susanne Krasmann lässt sich in diesem Sinne prinzipiell postulieren, die Perspektive der Gouvernementalität eröffne „eine Sicht auf politische Verhältnisse, die nicht von den Dis-
169 Ebd., S. 98. 170 Ebd., S. 116. Foucault bringt die Emergenz des politischen Feldes der Bevölkerung zudem mit einer „ganze[n] Serie von Transformationen, die den Übergang von der Ortung der klassifikatorischen Merkmale zur internen Analyse des Organismus […] bewirkten“ in Verbindung, etwa in Form des Übergangs der allgemeinen Grammatik zur historischen Philologie, von der Naturgeschichte zur Biologie und der Analyse der Reichtümer zur politischen Ökonomie (vgl. ebd., S. 118ff.). 171 Ebd., S. 120. 172 Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt a.M. 2004, S. 62. 173 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 163.
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kursen der Souveränität und Legitimität dominiert ist“. 174 Vielversprechender noch erscheint indes die Perspektive einer Gouvernementalität, die mit den sich heterotop verflüchtigenden Figuren des Politischen zu taktieren weiß und die es verstanden hat, die entwerkten Räume des ZusammenErscheinens von neuem darzustellen. „Die Taktik ersetzt das Verbot“, bringt Linda Hentschel gouvernementale Machtbeziehungen auf den Punkt, und „[d]ie Unterwerfung weicht der Verwicklung“. 175 Deutlich zeichnet sich dieser reterritorialisierende und übercodierende Winkelzug in den Theorien und Institutionen der staatlichen Polizei ab, gewissermaßen im Inneren des Staates also: Insofern sich innerstaatliche Räume und Interventionsfelder verschieben, insofern also das, was etwa als Familie oder Gesellschaft, Arbeits- oder Wirtschaftskraft, Individuum oder Kollektiv brüchig erscheint, muss es erneut verfugt und verortet werden. Zwar erscheinen – der Dynamik des enormen Bevölkerungswachstums, der technischen Innovationen und der einsetzenden Globalisierung geschuldet – erprobte Verbotsstrukturen und starre Raumkonzepte obsolet. Doch erweist sich auch eine entwerkte Gemeinschaft als verwalt- und administrierbar, indem die Kopplungen ihrer Verkehrswege und Kommunikationskanäle in geschmeidige Sicherheitsräume segmentarisiert, indem die in ihr aufflackernden Ereignisse antizipiert und indem ihre Dynamiken von normalisierenden Wissensregimen erfasst werden. Die rhizomatischen Ver- und Entkopplungen am Eingang der Moderne werden derart von einer polizeilichen Taktik als Vernetzung diskursiviert und sichtbar gemacht – hier bereits werden sie zu einem Netzwerk. Die regierungstechnologische Strategie besteht wesentlich in der Rahmung eines neuen, deswegen aber keineswegs weniger artefaktualen Raums des Zusammen-Erscheinens. Die entfesselte Globalisierung, die beschleunigte Kommunikation und die nur intermedial überhaupt noch beschreibbaren Mediendispositive, die gegenwärtig politische Diskurse präkarisieren, gleichen nicht nur dem frühneuzeitlich Szenario der Gouvernementalität, sie fordern abermals eine Adjustierung ihrer Taktiken. Schon der Liberalismus, so zeigt Foucault, formuliert das Projekt universaler Führung zu einem der „genügsamen Regierung“ um: Regieren wird zu einer „Kunst, sowenig wie möglich zu regieren“, deren diskursive Ordnung von der „Veridiktion des Marktes“ bestimmt
174 Bröckling, Ulrich/Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7-39, hier: S. 28. 175 Hentschel, Linda: Haupt oder Gesicht? Visuelle Gouvernementalität seit 9/11, in: dies. (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 185-200, hier: S. 189, Herv. v. m., SaS.
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wird. 176 Neoliberale Regierungstechnologien vervielfachen in der Folge die „Unternehmensform innerhalb des Gesellschaftskörpers“ – die Sicherheitsgesellschaft transformiert sich tendenziell in eine „Unternehmensgesellschaft“. 177 Dabei gerät die staatlich initiierte, kontrollierende und überwachende Polizei, wie Thomas Lemke richtig beobachtet, zunächst in Verruf, rehabilitiert sich aber, indem sie sicherheitstechnische Dispositive entlang „gesellschaftliche[r] Gruppen und individuelle[r] Subjekte“ 178 diversifiziert: Gegenwärtig vielleicht extensiver denn je beziehen sich reterritorialisierende und übercodierende Regierungstechnologien auch und gerade auf das Spiel medialer Disposition und Disponibilität. Regierungskünste breiten sich gerade dort aus, wo mediale Verbindungen instituierte Ordnungen durchschneiden – weshalb die jeweils intermedial sich verschiebenden Mediendispositive die Zielscheibe sicherheitsorientierter Politiken bilden müssen. „Einst hat das Internet die Welt verändert; jetzt verändert die Welt das Internet.“ Der Eröffnungssatz von Geert Lovinks Studie Networks Without a Cause – als Das halbwegs Soziale 179 etwas unglücklich ins Deutsche übersetzt – könnte für die Diagnose einer „Gouvernementalität der Gegenwart“ 180 treffender nicht sein. Denn gouvernementale Politik war und ist auf spezifische Technologien, auch und gerade mediale, angewiesen. Mediendispositive, so heben exemplarisch Peter Miller und Nikolas Rose hervor, bilden ein unverzichtbares Regierungsmittel: „To understand modern forms of rule, we suggest, requires an investigation not merely of grand political schemata, […] but of apparently humble and mundane mechanisms which appear to make it possible to govern: techniques of notation, computation and calculation; procedures of examination and assessment; the invention of devices such as surveys and presentational forms such as tables; the standardization of systems for training and the inculcation of habits; the inauguration of professional specialism and vocabularies; building design and architectural forms – the list is heterogeneous and is, in principle, unlimited.“ 181
Die vervielfachten, intermedialen Konfigurationen der Gegenwart im Blick hat auch Christoph Engemann die spezifisch medientechnologische Dimen-
176 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, a. a. O. [Anm. 172], S. 49-76. 177 Vgl. ebd., S. 206-212; sowie meine weiterführenden Überlegungen im Kapitel 4.4., Die Regierung der Dividuen. 178 Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 185. 179 Lovink, Geert: Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, Bielefeld 2012. 180 Vgl. Bröckling/Lemke/Krasmann: Gouvernementalität, a. a. O. [Anm. 174]. 181 Miller, Peter/Rose, Nikolas: Governing the present. Administering economic, social and personal life, Cambridge 2008, S. 32.
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sion der Gouvernementalität herauszuheben versucht, indem er den aussichtsreichen Begriff einer Gouvernemedialität einführt: „Über Medien geben sich Individuen und der Staat jenes Wissen über sich selbst und Andere, das Gegenstand der modernen Regierungen ist. Regierungswissen ist ohne Medien nicht denkbar und moderne Regierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Medien selbst zum Gegenstand ihrer Politik machen. Gouvernemedialität ist der Versuch, angesichts dieses politisch Werdens der Medien das Wechselverhältnis zwischen Medien und gouvernementalen Praktiken zu fassen.“ 182
So zutreffend Engemanns Diagnose: Sie läuft auch Gefahr, die reterritorialisierenden und übercodierenden Taktiken der Gouvernementalität affirmativ schon vorwegzunehmen. Denn in der Tat dienen Medientechnologien mitunter der Artefaktualität des postfundamentalistisch diskursivierten Staates, doch müssen sie dafür überhaupt erst entsprechend sag- und sichtbar gemacht werden. Die Konzeption medialer Regierungstechnologien im engeren staatlichen Sinne überspringt jenes virulente Moment, in dem ein Wahrheitsregime die Medialität der Medien strategisch metaphorisiert. Die Rede von regierungstechnologisch produktiven Notations- oder Berechnungstechniken, Datenerhebungs- oder Präsentationsmittel, Trainingssystemen oder architektonischen Räumen 183 übersieht derweise den zäsurierenden Einschnitt eines medialen Dazwischens. Gouvernemedial könnte, ja müsste in diesem Sinne ein anderer Zusammenhang medialer und politischer Technologien heißen – diejenigen polizeilichen Taktiken nämlich, welche die verbindende und trennende Medialität der Medien als Regierungsmittel, Verwaltungsinstrument, bevölkerungspolitisches Verfahren oder kommunikatives Netzwerk zu disponieren wissen. Sicherlich lassen sich Medien von regierungstechnologischer Warte aus zugleich als Problem wie als Instrument fassen: Sie sind, wie Markus Stauff schreibt, „einerseits selbst ein Gegenstandsbereich mit spezifischen Gesetzmäßigkeiten, für den der adäquate Zugriff gesucht wird“ und sie bilden andererseits „auch das Instrumentarium – eben die Regierungstechnologie –, mit dem Gegenstandsbereiche erfasst, systematisiert und angeleitet werden können“. 184 Sobald dieses mediale Instrumentarium freilich als solches benannt und untersucht wird, hat eine polizeiliche Geste den politischen Riss medialer Verbindung und Trennung schon verfugt.
182 Engemann, Christoph: Write me down, make me real – zur Gouvernemedialität digitaler Identität, in: Jan-Hendrik Passoth/Josef Wehner (Hg.): Quoten, Kurven und Profile. Zur Vermessung der sozialen Welt, Wiesbaden 2013, S. 205227, hier: S. 211. 183 Vgl. Miller/Rose: Governing the present, a. a. O. [Anm. 181], S. 32. 184 Stauff, Markus: Zur Gouvernementalität der Medien. Fernsehen als ‚Problem‘ und ‚Instrument‘“, in: Daniel Gethmann/ders. (Hg.): Politiken der Medien, Zürich 2005, S. 89-110, hier: S. 93.
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Als Gouvernemedialität bliebe konsequent nicht der Zusammenhang von (polizeilichen) Regierungskünsten und (medialen) Regierungstechnologien zu bezeichnen, sondern – diskurs- und machtanalytisch – die sicherheitsstrategische Metaphorisierung des Medialen. In dieser Perspektive sind die Diskurse von Medienrevolutionen, vom schrankenlosen Integrationspotential digitaler Medien oder vom Verlust lokaler Gemeinschaften in weltweiten Netzen von geringerem Interesse. Sie zeigen – und hier liegen die angeführten Ansätze einer Gouvernementalität der Medien absolut richtig – die regierungstechnologisch konnotierte Problematisierung eines undarstellbaren Dazwischens der Medialität an. Aussichtsreicher aber erscheint die Dekonstruktion jener Diskurse und Evidenzen, welche die Gouvernementalisierung des Medialen schon vollzogen haben, d.h. die Entrahmung jener Kommunikationsräume, die ihren heterotopen Charakter zugunsten phantasmatischer Figuren der Führbarkeit und Selbstverwaltung schon abgelegt haben. Netzwerkdiskurse, deren Netze wie gezeigt weniger Rhizome als vielmehr Netzwerke sind, statuieren hier ein offensichtliches Exempel. Schreibt etwa Hans-Jürgen Bucher, dass Netzwerkmetaphern die internetbasierten Kommunikationsformen deshalb treffend beschreiben, „weil sie die Gleichzeitigkeit von Stabilität (= Struktur) und Labilität (= Kommunikationsdynamik) von starken und schwachen Verbindungen erfassen kann“, 185 so klingt in dieser Gleichzeitigkeit eine gouvernemediale Taktik schon an. Daran ändert auch Geert Lovinks Plädoyer für sogenannte „Orgnets“ – „Organisierte Netzwerke“, die vermittels neuer Organisationsmodelle und Protokolle „auf stärkere Bande innerhalb kleinerer Einheiten“ zielen 186 – nichts, ganz im Gegenteil. Verdeutlichen lässt sich eine Gouvernemedialität nämlich auch am politisch-historisch ja höchst problematischen und deshalb überkommenen Begriff der Gemeinschaft: „Das seine sämtlichen Schichtungen und Variationen überwölbende Soziale hatte man sich als einheitlichen Raum vorgestellt“, schreibt Nikolas Rose, „[h]eute ist man dagegen der Meinung, dass unser gesellschaftlicher Zusammenhalt aktuell oder potenziell durch eine Vielzahl von ‚Gemeinschaften‘ bestimmt wird“. 187 Die virtuellen, freilich nur scheinbar endlosen Kommunikationsräume des Internets bilden keine zusammenhängende Gemeinschaft (mehr) aus, aber sie sind voller sogenannter ‚Communities‘. Foren, Blogs oder Computerspiele wie auch die
185 Bucher, Hans-Jürgen: Das Internet als Netzwerk des Wissens. Zur Dynamik und Qualität von spontanen Wissensordnungen im Web 2.0, in: Heiner Fangerau, Thorsten Halling (Hg.): Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften?, Bielefeld 2009, S. 133-171, hier: S. 165. 186 Vgl. Lovink: Das halbwegs Soziale, a. a. O. [Anm. 179], S. 209-212. 187 Rose, Nikolas: Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens, in: Ulrich Bröckling/Thomas Lemke/Susanne Krasmann (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 72-109, hier: S. 82.
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‚sozialen‘ Netzwerke vom Facebook bis Youtube richten sich gleichermaßen an gemeinsame Interessen, Werte, Religionen oder politischen Gesinnungen. Der strategische Zug des Portals Google +, sich von der Konkurrentin Facebook abzugrenzen, bestand 2011 gerade darin, den eigenen ‚Freundeskreis‘ in sogenannte Circles unterteilen zu können – um etwa die Fotos vom Fahrradausflug nur mit radbegeisterten Bekannten, den online entdeckten Fachartikel dagegen nur mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen ‚teilen‘ zu können (Abb. 15).
Abb. 15: ‚Kreise‘ und ‚Hangouts‘: Still aus einem Werbevideo für Google-+. Eine solche Segmentarisierung in Kreise und Communities entspricht jedoch keinerlei ‚natürlichen‘ Vorliebe – auch wenn sie ein altes „Gespinst der Affinität“ 188 abermals zur Geltung bringt – und sie resultiert auch nicht bloß aus einer gezwungenermaßen selektiven Aufmerksamkeit in Zeiten der digitalen Informationsflut. Was in Communities, Circles oder Groups vielmehr Gestalt annimmt, ist mit Rose gesprochen „eine neue Art und Weise, einen Bereich des Regierens abzugrenzen, dessen Kräfteverhältnisse mobilisiert, integriert und in neuen Programmen und Techniken genutzt werden [kann]“. 189 Die Gouvernemedialität zeigt sich hier in so kalkulier- wie kontrollierbaren Segmentarisierungen, mit denen der heterotop vernetzte Medienraum inszeniert wird: „Zweifellos wäre es abwegig zu behaupten, dass ‚Community‘-Politik etwas Neues darstellt: […] Indessen wird […] die ‚Community‘ aufgrund einer Vielzahl wissenschaftlicher Darstellungen, Forschungen und statistischer Untersuchungen zu einer kalkulierbaren Größe und damit zur Voraussetzung und zum Gegenstand von Tech-
188 Vgl. ebd., S. 84. 189 Ebd., S. 81.
190 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN niken des Regierens, auf den dank einer Vielzahl verbindlicher Praktiken und unter professioneller Anleitung eingewirkt werden kann.“ 190
Vielleicht werden die Vorzüge medialer, näherhin digital vernetzter Gemeinschaften gerade deshalb so oft euphorisch angepriesen. Nicht nur im scheinbar autark seine eigene Quantität wie Qualität steigernden Wissensarchiv der Wikipedia, sondern im gesamten Web 2.0 taucht etwa die Diskursfigur der kollektiven Intelligenz auf. Die Rede ist dabei meist, wie Pierre Lévy schon 1994 den unlängst erneut vielbesungenen Begriff zusammenfasst, von einer Intelligenz, „die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert erschafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann“. 191 Für Levy erfordert insbesondere die Koordination in Echtzeit digitale Kommunikationsstrukturen, doch impliziert er den Umkehrschluss – dass nämlich die digitalisierte Kommunikation deren Koordination in Echtzeit erfordert – gleich mit: „Es geht also nicht darum, die gewöhnliche physische Welt zu gestalten, sondern vor allem darum, es den Mitgliedern von ortlosen Gemeinschaften zu ermöglichen, in einer sich bewegenden Landschaft von Bedeutungen zu interagieren“. 192 Die gegenwärtig vielleicht evidenteste Figur einer Gouvernemedialität liefert freilich jene des Schwarms, die augenscheinlich unlängst an die (Leer-)Stelle der einst zwischen Verdummung und Revolutionspotential oszillierenden ‚Massen‘ getreten ist. Die enorme Konjunktur, die diese zugleich biologisch und medial konnotierte Metapher erfahren hat, führt Eva Horn mitunter darauf zurück, dass Schwärme „[a]ls Kollektive ohne Zentrum und ohne hierarchische Strukturierungen erscheinen“. 193 Eine regierungstechnologische Politik klingt auch hier an, sind Schwärme doch „zuallererst […] Modelle alternativer Steuerungslogiken – sei es von Menschenoder Tier-Gruppen, sei es von taktischen Einheiten, Konsumenten oder Computerprogrammen“. 194 Dass sich Schwärme in Mediendispositiven und entlang ihrer Kommunikationslogiken bilden, ist deshalb kein Zufall, weil sie eine äußerst leistungsstarke, „zootechnologische“ Metapher der Regierbarkeit des Medialen suggerieren. Die Studie Sebastian Vehlkens Zootechnologien. Eine Mediengeschichte der Schwarmforschung bringt diese Argumentationsfigur schon einleitend auf den Punkt:
190 Ebd., S. 105. 191 Lévy, Pierre: Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim 1997, S. 29. 192 Ebd., S. 30. 193 Horn, Eva: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, in: dies./Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 7-26, hier: S. 7. 194 Ebd., S. 10.
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„Schwärme [zeigen] selbst eine eigentümliche Medialität. Sie können als relationale Ensembles beschrieben werden, deren relativ einfach aufgebaute Individuen nur über ein begrenztes Wissen über ihre Umwelt verfügen, und die sich dezentral, also ohne eine übergreifende Instanz, durch lokale Interaktionen mit wenigen nächsten Nachbarn organisieren. Trotz dieser Simplizität sind sie zu komplexen Koordinationsleistungen fähig und stellen sich systemisch oft schnell und flexibel auf Störmomente ein […].“ 195
Gerade wenn das Mit-Sein der Gemeinschaft gegen seine neue Besetzung durch totalitäre Figuren zu verteidigen erscheint, bemerkt Carsten Zorn, „scheinen Schwärme sich als […] ein hervorragendes Mittel zu diesem Zweck anzubieten“. Doch noch „die kritisch gemeinten Versuche, Prozesse der Vergemeinschaftung neu zu konzeptualisieren, kaschieren […] auch längst selbst schon wieder die Bildung neuer ‚kollektiver Identitäten‘ und neuer Linien von Inklusion und Exklusion“. 196 Sehr treffend identifiziert Eugene Thacker die „politische Phantasie“ hinter der Schwarmmetaphorik als eine der „Kontrolle ohne Kontrolle“ in einem „absolut dezentrale[n], selbstorganisierende[n], flexible[n] und widerstandsfähige[n] Organisationsmodell“. 197 Und Sebastian Vehlken verweist an anderer Stelle explizit auf eine Gouvernementalität der Schwärme im Kontext einer politischen Bewegung der Dezentralisierung und Auflösung: „Vielleicht lässt sich festhalten, dass Schwärme nicht als avancierteste Form älterer Kollektive wie der Masse oder sozialer Gruppierungen, sondern eher als Organisations- und Koordinationsstrukturen gedacht werden sollten, die vor dem Hintergrund einer Kultur der Unschärfe, einer permanenten Flexibilisierung verschiedenster Gegenstands- und Lebensbereiche, als Optimierungsstrategie in diesen Bereichen wirksam werden. Oder besser: als distribuierte Selbstoptimierungsstrategien, deren spezifische Gouvernementalität gesondert zu untersuchen ist.“ 198
195 Vehlken, Sebastian: Zootechnologien. Eine Mediengeschichte der Schwarmforschung, Zürich 2012, S. 18. 196 Vgl. Zorn, Carsten: Schwärme. Die latenten Autologiken der Selbstregierung, in: Lutz Ellrich/Harun Maye/Arno Meteling (Hg.): Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz, Bielefeld 2009, S. 342-378, S. 356f. 197 Thacker, Eugen: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 27-68, hier: S. 68. 198 Vehlken, Sebastian: Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 125-162, hier: S. 161f., Herv. i. Orig.
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Ein entscheidender Teil dieser spezifischen Gouvernementalität liegt gegenwärtig zweifelsohne in regierungstechnologisch konnotierten Metaphorisierungen des Medialen, oder kürzer: in einer Gouvernemedialität der Gegenwart. „[D]as Modell, die Figur, die Symbolik der Schwärme“, meint Carsten Zorn, „weben und stricken […] mit an der Vervollständigung eines neuen Machtdispositivs, das […] ältere Ausformungen moderner Gouvernementalität allmählich überlagert, verdrängt, ersetzt und überflüssig macht“. 199 Als gouvernemedial kann die hier anklingende Transformation älterer Regierungstechnologien bezeichnet werden, insofern sie die klaffende Kücke entwerkter Gemeinschaften inszenatorisch mit medialen ‚Communities‘, vernetzten ‚Crowds‘ und schwarmförmiger ‚Intelligenz‘ zu kaschieren sucht. Die Taktiken der frühneuzeitlichen Gouvernementalität verschieben sich hierbei tatsächlich, werden aber weder überflüssig noch abgeschafft. Im Gegenteil: Ihre polizeilichen Strategeme, die ihren Ausgang in Sicherheitsräumen, Kontrollinstitutionen und Bevölkerungspolitiken nehmen, transponieren sich in die Sag- und Sichtbarkeit medialer Dispositive, vervielfachen und überlagern sich intermedial und bilden die artefaktuale Bühne, auf der sich das Politische derzeit aktuvirtuell ereignet und verflüchtigt.
199 Zorn: Schwärme, a. a. O. [Anm. 196], S. 364.
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4.3. Ü BERWACHEN
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V ERDATEN „Souveränität ist virtuell geworden (doch damit nicht weniger real) und wird immer und überall durch Disziplin aktualisiert.“ 200
Aller Entgrenzung zum Trotz wird die medial horizontlos gewordene Welt überwacht und kontrolliert, bleibt überschau- und kartographierbar. Noch die gouvernementalisierte Gegenwart ist von einem seltsamen Widerspruch durchzogen: Die expansive Globalisierung, die universalisierten Regierungstechnologien und die intermediale Konvergenz aller Kommunikationsräume mündet – scheinbar paradoxerweise – abermals in Segmenten und Territorien. Freilich sind deren Grenzen nur noch selten geographischer oder architektonischer Art, sie gleichen eher flexiblen und beweglichen Schwellenzonen. Wo sich die souveränen Regime und Disziplinartechniken scheinbar marginalisiert haben – zurückgezogen etwa in einen diffusen Krieg gegen Terror und seine Haftanstalten von Guantanamo Bay bis Abu Ghraib, in Flüchtlingslager und Asylzentren oder in militärisch proklamierte Ausgangssperren und Ausnahmezustände – bewerkstelligt ein Wechselspiel von Kontroll- und Modellierungsstrategien die Aktuvirtualität des Politischen. „Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen“, schreibt Gilles Deleuze in seinem viel beachteten Postskriptum, und die Konsequenz ist eine „allgemeine[] Krise aller Einschließungsmillieus“. 201 Überflüssig, die Körper zu inhaftieren und zu normieren; sinnloser noch, sie verschwinden zu lassen oder gar zu töten: Die expansive Strategie der Gouvernementalität operiert (re-)normalisierend, d.h. sie gibt vor, weder räumliche Grenzen noch zeitliche Zäsuren zu kennen, sondern lokale Abweichungen von einer normalen Mitte und temporale Rückstände in stockenden Entwicklungen zu verwalten. Gerade deshalb scheinen Regierungstechnologien indes die überwachenden Blickregime und die segmentierenden Kontrollstrategien der Disziplin zu beerben: Insofern sie eine Normalisierungsgesellschaft etabliert, erfordert die Gouvernementalität eine effiziente Überwachung und Modellierung jener grenzen- und zäsurlosen Raumzeit, die sie zu regieren sucht. Nicht nur die netzwerkartigen oder schwarmförmigen Gemeinschaften eines gouvernemedialen Zeitalters, sondern auch die digitale Integration und Mobilisierung verortender (GPS-Navigation, Google Maps), diskursivierender (Facebook, Twitter) und visualisierender (Youtube, Flickr) Technologien verweisen in diesem Sinne auf einen disziplinarischen Rekurs der Regie200 Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2003, S. 339. 201 Vgl. Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen, 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262, hier: S. 255, Herv. i. Orig.
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rungskunst. Der Weg von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, ist weniger von einer Ablösung des Disziplinarischen, denn vielmehr von seiner Perfektionierung und Intensivierung gezeichnet. Die Disziplinargesellschaft Die Disziplinarmacht, wie sie Foucault schwergewichtig in Überwachen und Strafen und in Der Wille zum Wissen analysiert, scheint zugleich von werkhistorischen wie anachronistischen Widersprüchen gezeichnet. Einerseits wirkt dieser „Machttyp, der ein enges Raster materieller Zwänge“ voraussetzt, aus Sicht der Gouvernementalitätsanalysen seltsam antiquiert. Anderseits bestimmt Foucault den Aufschwung disziplinarischer Mechanismen im 17. und 18. Jahrhundert – etwa zeitgleich mit der Geburtsstunde der modernen Gouvernementalität also – als „eine der großen Erfindungen der bürgerlichen Gesellschaft“, die „nicht mehr mit der Kategorie der Souveränität erfaßt werden kann“. 202 Die Institutionen und Technologien der Disziplin scheinen zunächst kaum mit den pastoralen Führungsprinzipien der Gouvernementalität harmonieren zu können: In letzteren, so unterstreicht Foucault, wird man „beeinflussen, anreizen, erleichtern tun lassen müssen“, denn das Prinzip der Verwaltung „wird als wesentliches Ziel nicht so sehr die Verhinderung von Dingen haben“. Viel eher suchen gouvernementale Machttechnologien „Regulierungen festzulegen, die die natürliche Regulation gestatten werden“. 203 Die Disziplin expandiert dagegen ein Mediendispositiv, das zuvorderst einen zwingenden Blick in unverrückbaren Ordnungsstrukturen und starren Überwachungsarchitekturen installiert: „Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen. […] Neben der großen Technologie der Fernrohre, der Linsen, der Lichtkegel, die mit der Gründung der neuen Physik und Kosmologie Hand in Hand ging, entstanden die kleinen Techniken der vielfältigen und überkreuzten Überwachungen, der Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden; eine lichtscheue Kunst des Lichtes und der Sichtbarkeit hat unbemerkt in den Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren ein neues Wissen über den Menschen angebahnt.“ 204
In erster Linie lässt sich das disziplinarische Blickregime bekanntlich in der panoptisch strukturierten Strafanstalt verorten, es findet sich aber auch in Kasernen und Militärlagern, Hospitälern und Sanatorien, in der Schule, der Werkstatt oder den Fabriken und nicht zuletzt in den von Pestepidemien be202 Vgl. Foucault: Recht der Souveränität, a. a. O. [Anm. 15], S. 90f. 203 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 506. 204 Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 24], S. 221.
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troffenen Städten. Anhand letzteren lässt sich die Disziplin als ein Makrodispositiv charakterisieren, das schematisch auf unterschiedlichste Bereiche anwendbar ist: „Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“ 205
So adaptiv die Disziplin indes in ihrem zeitgenössischen Kontext erscheint, befindet sie sich seit längerem, zumal in einer global entgrenzten Welt, im Begriff zu verschwinden. Nicht, dass zwingende Blicke und Einschließungsarchitekturen keinerlei Heimstätten mehr hätten, ganz im Gegenteil lässt etwa die jüngst florierende Datenschutzdebatte deren Steigerung und Perfektionierung vermuten. Doch schon das vermeintlich einfachste Beispiel einer medientechnischen Aktualisierung des panoptischen Blickregimes – die analoge oder digitale Videoüberwachung – erweist sich strenggenommen als tiefergreifende Veränderung. Zwar wollen auch Überwachungskameras im öffentlichen Raum, wie Dietmar Kammerer schreibt, „normkonformes Verhalten allein durch ihre sichtbare Präsenz und ohne andauernde Intervention induzieren“, hingegen kann ihr Blickfeld in aller Regel so einfach verlassen werden, wie es betreten wurde, ein sofortiges Eingreifen von Ordnungskräften ist anders als im Gefängnis meist nicht garantiert und das Wachpersonal vor den Bildschirmen verfügt so gut wie nie über ein Vorwissen über die überwachten Passanten. 206 Disziplinarische Anstalten und Techniken im engeren Sinne scheinen gegenwärtig eher in den Saum jener gouvernementalen Sicherheitsräume verbannt, welche die Einschließungsmillieus gleichsam inkorporiert und geöffnet haben: Hochsicherheitsgefängnisse, quarantäneartige Flüchtlingslager oder auch Ausgangs- und Polizeisperren in sektorisierten Stadtgebieten bilden wenn auch persistierende, so doch marginale Ausnahmefälle einer dezentralisierten Dynamik der Moderne, in der elektronische Fußfesseln die
205 Ebd., S. 253. 206 Vgl. Kammerer, Dietmar: Bilder der Überwachung, Frankfurt a.M. 2008, S. 129f. Freilich lassen sich, wie Kammerer weiter bemerkt, all diese Einwände abermals disziplinarisch wenden, etwa wenn staatliche Ordnungskräfte direkt aktenkundige Personen observieren. „Ein eindeutiges Urteil der panoptischen Qualität von Videoüberwachung lässt sich somit, entgegen dem ersten Anschein, nicht fällen.“ (Ebd.)
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Gefängniszellen, Kompetenzmanagement die Schichtarbeit oder Hausartzmodelle die Kliniken ersetzen. 207 Die Machttechnologien der Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität unterscheiden sich in ihren topographischen Strategien, d.h. sie betreiben unterschiedliche Politiken des Raumes, wie Foucault in seinen Gouvernementalitätsvorlesungen bemerkt: [W]ährend die Souveränität ein Territorium kapitalisiert und das Hauptproblem des Regierungssitzes aufwirft, während die Disziplin einen Raum architektonisch gestaltet und sich das wesentliche Problem einer hierarchischen und funktionalen Aufteilung der Elemente stellt, wird die Sicherheit versuchen, ein Milieu im Zusammenhang mit Ereignissen oder Serien von Ereignissen oder möglichen Elementen zu gestalten […].“ 208
Als einschließende und konzentrierende Zwangsstruktur scheint die Disziplin der alles integrierenden Expansion einer globalisierten Welt kaum noch gerecht werden zu können: Sie war eine zentripetale Bewegung, wohingegen die Sicherheitsdispositive zentrifugal sind und zur Ausdehnung tendieren. 209 Im gouvernementalen Zeitalter erscheint die Disziplin dergestalt bestenfalls noch als Kontrollwahn einer längst überkommenen Staatsräson und ihrer Polizeiinstitutionen: „Aus der Stadt etwas Ähnliches wie ein Kloster zu machen und aus dem Königreich etwas Ähnliches wie eine Stadt“, schreibt auch Foucault, „das ist der große Traum der Disziplinierung, der im Hintergrund der Polizei schwebt“. 210 Diese ausschließlich historisiert ausgelegte Interpretation der Disziplinarmacht greift allerdings zu kurz. Fälschlicher- wie fatalerweise und nicht nur im Kontext seiner Disziplinarstudien gilt Foucault Gilles Deleuze zufolge als Denker der Einschließung. 211 Denn bei den großen Disziplinartechniken der Überwachung, Prüfung und Sanktion handelt es sich, wie François Ewald schreibt, im Grunde ‚nur‘ um Instrumente, welche „darauf hinzielen, die traditionellen Probleme der Macht zu lösen: die Vielheiten zu ordnen, das Ganze und seine Teile zu artikulieren, sie miteinander in Beziehung zu setzen“. 212 Tatsächlich beschreibt schon Überwachen und Strafen eine ex-
207 Vgl. in diesem Sinne auch Gilles Deleuze Ausführungen zum Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft (Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 201].). 208 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 39f. 209 Vgl. ebd., S. 73. 210 Ebd., S. 489f. 211 Vgl. Deleuze, Gilles: Kontrolle und Werden, in: ders.: Unterhandlungen, 19721990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 250. 212 Vgl. Ewald, François: Eine Macht ohne Draußen, in: ders./Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 163-170, hier: S. 165.
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pansive Bewegung des Disziplinarischen, die dieses als politisches Strategem modernisiert: „Während sich auf der einen Seite die Disziplinarinstitutionen vervielfältigen, tendieren ihre Mechanismen dazu, sich über die Institutionen hinaus auszuweiten, sich zu ‚desinstitutionalisieren‘, ihre geschlossene Festung zu verlassen und ‚frei‘ zu wirken. Die massiven und kompakten Disziplinen lockern sich zu geschmeidigen, anpassungsfähigen Kontrollverfahren auf.“ 213
Zu überwachen und zu bestrafen erscheinen hier als eher konsequente Machttechnologien eines grundlegenderen Wissensregime des Disziplinären. Sicherlich formiert die Disziplin „eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten“, tatsächlich bildet sie „eine politische Anatomie des Details“ aus. 214 Doch muss sie hierfür zuerst raumzeitliche Unterteilungen vornehmen, eine topologische Struktur einführen, die der Immanenz königlicher oder fürstlicher Souveränität diametral widerspricht. „Die erste große Operation der Disziplin“, unterstreicht Foucault, liegt „in der Einrichtung von ‚lebenden Tableaus‘, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen“. 215 Das tableauisierende Archiv des Disziplinären besteht dann darin, „elementare Lokalisierungen“ in Form von Klausuren, Parzellierungen, Funktionsstellen, Rängen und Rastern zu organisieren und in eine Reihe zu bringen. 216 Ähnlich unternimmt es eine Zerlegung der Zeit, d.h. „Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen“, es geht der Disziplin um die „Vermeidung aller Quellen von Störung und Zerstreuung, […] um die Herstellung einer vollständig nutzbaren Zeit“. 217 Die Disziplinarmacht generiert also eine Politik der Information im eigentlichen Wortsinn: Sie ist gestaltgebend und darstellend, sie organisiert jenes „System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen“ 218 und realisiert also dasjenige, was Jacques Rancière eine „Aufteilung des Sinnlichen“ nennt: „Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten […]. Die Unterteilung der Zeiten
213 214 215 216 217 218
Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 24], S. 271. Vgl. ebd., S. 176, 178. Vgl. ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 181ff. Vgl. ebd., S. 192f. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 25.
198 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN und Räume des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor.“ 219
Hierin besteht der disziplinarische Bruch mit der Selbsttranszendenz des souveränen Rechts, und deshalb verlangt die Disziplin weniger eine Makrodenn vielmehr eine Mikrophysik der Macht. „Die Theorie der Souveränität“, so Foucault, „vermag eine absolute Macht in der absoluten Verschwendung der Macht zu begründen, nicht jedoch die Macht mit eine Minimum an Verschwendung und einem Maximum an Effizienz zu kalkulieren“. 220 Folgerichtig fällt die Emergenz disziplinarischer Technologien auch mit der Hochzeit polizeilicher Institutionen der frühen Gouvernementalität zusammen, die ihrerseits mit dem Aufkommen des (Neo-)Liberalismus auseinanderbrechen, zugleich aber als polizeiliche Taktiken der Reterritorialisierung und Übercodierung fortbestehen. Die Polizei, so schreibt Rancière politisch differenzierend an anderer Stelle, „ist eine Aufteilung des Sinnlichen, deren Prinzip die Abwesenheit von Leere und Supplement ist“, und ihr Wesentliches ist weder Kontrolle noch Repression, sondern „das Zuschneiden der Welt und der Welten, das nemein, über das sich die nomoi der Gemeinschaft gründen“. 221 Die Umpolung souveräner Sichtbarkeitsverhältnisse, welche die disziplinarischen Blickregime vornehmen, ist im Kontext einer solchen auf- und verteilenden Polizei zu denken. Für Foucault gipfeln die hierarchischen Überwachungen und normierenden Sanktionen in Formen ständiger Prüfungen, welche „die Ökonomie der Sichtbarkeit in der Machtausübung um[kehren]“. 222 Die souveräne Macht leitet sich ja gerade aus ihrer Inszenierung ab, etwa in öffentlichen Gerichtsprozeduren oder Folterpraktiken, die Disziplinarmacht hingegen wirkt, „indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt“. 223 Doch die polizeiliche Geste des Panoptischen liegt eben weniger in seiner hegemonialen Unterwerfung als vielmehr in einem normativen Raum, den die Überwachungstechniken installieren. Die Wichtigkeit der Architektur in Disziplinarregimen resultiert, wie François Ewald beschreibt, daraus, dass diese gleichsam den verlassenen Platz des Königs erobert: „Die Architektur ist das Instrument, die Technik, das Dispositiv, dem es zu danken ist, daß es in Abwesenheit eines der Individualisierung der Subjekte korrelativen Souveräns die Möglichkeit einer Objektivität des eigenen Urteils über sich geben
219 Ebd., S. 26f. 220 Foucault: Recht der Souveränität, a. a. O. [Anm. 15], S. 91. 221 Vgl. Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich 2008, S. 31, Herv. i. Orig. 222 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 24], S. 241. 223 Vgl. ebd.
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wird; dem es zu danken ist, dass diese Objektivität […] sich über einen autoreferentiellen Mechanismus wird konstituieren können.“ 224
Den Panoptismus als antiquierten Gefängniskomplex abzutun – angesichts etwa der gegenwärtigen Vielfalt intermedial multiplizierter Überwachung und Verdatung oder der scheinbar freiwilligen Selbstinszenierung in sozialen Netzwerken – wäre deshalb zu vorschnell. Mag sein, dass das panoptische Modell allzu oft auf Bereiche übertragen wurde, in denen es fehl am Platz ist, doch heißt das nicht, dass – wie es etwa Kevin D. Haggerty fordert – die Mauern des Panopticons endlich niedergerissen werden müssten. 225 Gerade das nämlich war und ist die eigentliche Strategie der Disziplinarmacht. So oft die Disziplinaranstalten vom Gefängnis bis zur Werkstatt unterdrücken, überwachen und inhaftieren mögen, ihr polizeilicher Effekt ist derjenige eines in-formierenden Wissensregimes, d.h. die Installation einer gleichsam universalen Sag- und Sichtbarkeitsordnung. „Das lückenlose Strafsystem“, so Foucault „wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend“, d.h. es „wirkt normend, normierend, normalisierend“. 226 Die politische Zäsur der Disziplinargesellschaft betrifft deshalb nicht die Disziplinartechniken per se, sondern ebendiese Gesellschaft, wie François Ewald schreibt: „Das Wichtige an der Idee der Disziplinargesellschaft ist die Idee der Gesellschaft: die Disziplinen stellen die Gesellschaft her; sie erschaffen eine Art gemeinsame Sprache zwischen allen Arten von Institutionen; sie machen es möglich, daß die eine in die andere übersetzt wird. […] Die Disziplinargesellschaft ist eine Gesellschaft der absoluten Kommunikation; die Verbreitung der Disziplinen wird es gestatten, daß alles mit allem – einem Spiel unendlicher Redundanzen und Homologien folgend – kommuniziert.“ 227
Die zentripetale Kraft der Disziplin erweist sich so nur als eine erste politische Kreisbewegung um das Epizentrum einer Erschütterung, deren Nachbeben zentrifugal um sich greifen. Die List der Disziplinarmacht liegt in der Einführung einer Norm als Maß, „das unaufhörlich zu individualisieren gestattet und zugleich vergleichbar macht“. 228 Ein Zeitalter „der rein positiven Wissensarten“ bricht an, und diese konstituieren je länger je mehr einen
224 Ewald: Macht ohne Draußen, a. a. O. [Anm. 212], S. 166, Herv. i. Orig. 225 Vgl. Haggerty, Kevin D.: Tear Down the Walls: On Demolishing the Panopticon, in: David Lyon (Hg.): Theorizing Surveillance. The Panopticon and Beyond, Cullompton 2006, S. 23-45. 226 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 24], S. 236. 227 Ewald: Macht ohne Draußen, a. a. O. [Anm. 212], S. 164f. 228 Vgl. ebd., S. 168.
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Raum, der „glatt, auswechselbar, ohne Absonderung, endlos redundant und ohne Äußeres“ ist. 229 In diesem Sinne wendet sich die Disziplinarmacht der Einrichtung des Mit-Teilbaren zu, sie ist von Beginn weg darauf bedacht, das Raumzeitliche zugleich verbindender und trennender Medialität in strategische Mediendispositive einzuordnen. Die panoptischen Sichtbarkeitsräume, die sich von Strafanstalten bis in urbane Architekturen fortsetzen, sind dafür nur ein Medienbeispiel. „Als wesentliches Element in den Räderwerken der Disziplin“, bemerkt Foucault, konstituiert sich zugleich eine „Schriftmacht“, ein „Netz des Schreibens und der Schrift“: „Notierungs-, Registrierungs-, Auflistungsund Tabellierungstechniken“. 230 Diese „Disziplinarschrift“ geht einher mit der „Speicherung und Ordnung von Unterlagen“ und der „Organisation von Vergleichsfeldern zum Zwecke der Klassifizierung, Kategorienbildung, Durchschnittsermittlung und Normenfixierung“. 231 Erst mithilfe eines angeschlossenen Aufzeichnungsapparats ermöglicht die Disziplinartechnik der Prüfung die elliptische Expansion der Disziplinargesellschaft: „[E]inerseits konstituiert sich das Individuum als beschreibbarer und analysierbarer Gegenstand, der aber nicht wie das Lebewesen der Naturforscher in ‚spezifische Eigenschaften‘ zerlegt wird, sondern unter dem Blick eines beständigen Wissens in seinen besonderen Zügen, in seiner eigentümlichen Entwicklung, in seinen eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten festgehalten wird; andererseits baut sich ein Vergleichssystem auf, das die Messung globaler Phänomene, die Beschreibung von Gruppen, die Charakterisierung kollektiver Tatbestände, die Einschätzung der Abstände zwischen den Individuen und ihrer Verteilung in einer ‚Bevölkerung‘ erlaubt.“ 232
Gilles Deleuze zufolge erreichen die Disziplinargesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt – zu einem Zeitpunkt, zu dem eine ganze Reihe disziplinarischer Mediendispositive vom fordistischen Fließband bis zur propagandistischen Massenpresse des Ersten Weltkriegs floriert. Freilich gehen die elektronischen Massenmedien und in ihrer Folge die Digitalisierung mit erheblichen Verschiebungen der Disziplinargesellschaft einher. Und doch tauchen noch in jüngsten Mediendispositiven Disziplinarregime auf, die sich versiert intermedialen Ästhetiken und digitalisierten Kommunikationsräumen zu bedienen wissen. Televisuelle Nachrichtenformate sind etwa nicht ohne Anpassungen auf den Bildschirmen von Computern, Tablets und Mobiltelefonen angekommen. Auf einem iPad betrachtet, erscheint beispielsweise die Tagesschau des Schweizer Radio und Fernsehens SRF dem kontinuierlichen Fluss von Bildern und Nachrichtensegmenten entrissen: Entlang der Zeitleiste am un-
229 230 231 232
Vgl. ebd., S. 186, 170. Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 24], S. 243ff. Vgl. ebd., S. 244f. Ebd., S. 245.
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teren Bildschirmrand reihen sich kleine Vorschaufenster der behandelten Themen, die ein schnelles Springen zwischen ihnen erlauben (Abb. 16).
Abb. 16: Fragmentierte Ästhetik: Die Tagesschau des Schweizer Radio und Fernsehen SRF auf dem iPad
Abb. 17: ‚Online-Diät‘: Screenshot der Webseite eBalance.ch Im Internet tauchen dagegen disziplinarische Notations- und Tabellierungstechniken wieder auf, die sich – durchaus ansprechend inszeniert – mit biopolitischen Regimen körperlicher Idealfigur paaren. Das Portal eBalance etwa gibt den erklärterweise übergewichtigen Nutzerinnen und Nutzer ein
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ausgeklügeltes Register zur Hand, in das alle konsumierten Lebensmittel und Getränke, aber auch sportliche Aktivitäten eingetragen werden. 233 Diese Daten werden augenblicklich in die Aufnahme und den Verlust von Kalorien umgerechnet und simultan in Tabellen und Grafiken ausgegeben, die jede Gewichtsveränderung im Verhältnis zu einem zuvor definierten Idealverlauf der Diät ausstellen. Regelmäßig melden sich außerdem Mitarbeitende des Unternehmens per Mail, um zu kontinuierlicher Disziplin anzuhalten, d.h. etwa Fortschritte zu würdigen oder eine Gewichtszunahme zu tadeln (Abb. 17). Auch die omnipotente Suchmaschine Google gründet überdies auf disziplinarischen Normierungs- und Kontrollstrategien: Während Google dem Internet spezifische Programmier- und Darstellungsweisen im Interesse erhöhter Auffindbarkeit aufzwingt, verdatet und normalisiert es seine Nutzer auf Grund deren Suchverhalten und modelliert daraus sowohl passende Rankings der Suchanfragen, als auch die Targeting-Strategien für ein individualisierbares Marketing. 234 Diese stets doppelten Strategien der Disziplinierung und Verdatung sind allerdings programmatisch für die digitalen Kommunikationsdispositive der Gegenwart und zeigen zugleich Intensivierungen und Verschiebungen der Disziplinargesellschaft hin zu einer Gesellschaft der Normalisierung an. Die Normalisierungsgesellschaft Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts unterliegen die Disziplinarschrift und der disziplinierende Blick einem Richtungswechsel: Traten die Registrierungstechniken und Aufzeichnungsarchive, die Überwachungsarchitekturen und Kontrollperspektiven noch an, den unübersichtlichen Raum komplexer Multiplizitäten zu strukturieren, so disziplinieren die Dispositive ebendieser Multiplizität nunmehr die Medien. „Von der Hörerpost zur Publikumsstatistik“, so zeigt Dominik Schrage, haben „die Massenmedien Radio und Fernsehen […] das Verhältnis von Produktion und Rezeption medialer Angebote auf eine im Vergleich zu älteren Medien radikale Weise transformiert“, indem sich in ihrem Gefolge Strategien der Verdatung als eine Infrastruktur etablierten, „die den technologischen Strukturen durchaus ebenbürtig sind“. 235 Das Problem, das bereits frühe Formen der Radiohörerstatistik adressiert, ist nicht weniger als „die Kommunikation mit der Masse als eine nur im statistischen Modus sichtbar zu machenden, genuin heterogenen En-
233 Vgl. http://www.ebalance.ch/portal/. 234 Vgl. Röhle, Theo: Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets, Bielefeld 2010. 235 Schrage, Dominik: Von der Hörerpost zur Publikumsstatistik, in: Irmela Schneider/Isabell Otto (Hg.): Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung, Bielefeld 2007, S. 133-151, hier: S. 133f.
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tität sui generis“. 236 Ein gouvernemediales, d.h. reterritorialisiertes und übercodiertes Moment medialer Raumzeiten bestimmt schon die Entwicklung der Massenmedien in ihrer frühsten Stunde, wie etwa auch Markus Stauff und Matthias Thiele anklingen lassen: „Sieht man von einer Frühphase ab, in der die Entwicklung des Radios von den technischen ‚Bastlern‘ bestimmt wird, so ist die Selbstproduktion der Massenmedien v.a. auf die (Re-)Produktion eines Massenpublikums verwiesen, das sich eben keineswegs mit der technischen Erfindung und institutionellen Realisierung von Sendestationen und Empfangsgeräten von selbst einstellt. Die Rezeption von Massenmedien […] findet deshalb immer in einem breiten Feld von Prozeduren und Operationen statt, die darauf zielen, zum einen die Mediennutzung sichtbar und transparent zu machen, zum anderen sie anzureizen, zu modifizieren und zu steuern bzw. zu kontrollieren.“ 237
Dieses Zusammenspiel von Transparenz und Anreizung findet sich in der nur intermedial noch fassbaren Digitalität der Gegenwart zweifelsohne zu Formen der universalen und omnipräsenten Verdatung gesteigert. „Ein digitaler Schatten umgibt uns, wie eine Wolke aus Daten hinterlassen zunehmend alle unsere Aktivitäten digitale Spuren“, bemerkt Jan-Hendrik Passoth, und diese Spuren „werden verarbeitet, ausgewertet, statistischen Verfahren unterzogen, geclustert, zu Profilen zusammengefasst und zu Trends und Aktualitäten verrechnet“, um daraus wiederum das zu generieren, „was wir zu sehen und zu hören bekommen“. 238 Mit der Heraufkunft massenmedialer Kommunikation und verstärkt noch im Zuge ihrer Digitalisierung sind die medialen Politiken normierender Information solchen der normalisierenden Verdatung und der statisti-
236 Vgl. ebd., S. 137, Herv. i. Orig. 237 Stauff, Markus/Thiele Matthias: Mediale Infografiken. Zur Popularisierung der Verdatung von Medien und ihrem Publikum, in: Irmela Schneider/Isabell Otto (Hg.): Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung, Bielefeld 2007, S. 251-267, hier: S. 251. 238 Vgl. Passoth, Jan-Hendrik: Not only Angels in the Cloud. Rechenpraxis und die Praxis der Rechner, in: ders./Josef Wehner (Hg.): Quoten, Kurven und Profile. Zur Vermessung der sozialen Welt, Wiesbaden 2013, S. 255-272, hier: S. 255f. Dadurch könnten, wie Miriam Meckel in einer Studie im Auftrag der ICOMP (Initiative for a Competitive Online Marketplace) befürchtet, „Prozesse der Polarisierung von Meinungen und Einstellungen entstehen, die in Ego-Loops der selbstverstärkenden Informationssuche und Meinungsbildung, in ein Mainstreaming auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner resultieren“ (vgl. Meckel, Miriam: Vielfalt im digitalen Medienensemble. Medienpolitische Herausforderungen und Ansätze, Studie im Auftrag von ICOMP (Initiative for a Competitive Online Marketplace), St. Gallen 2012, online unter: http://www.i-comp.org/ en_us/resources/resources/download/1364, S. 18.).
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schen Modellierung gewichen. „Zu den Auffälligkeiten unserer modernen Welt gehört“, wie Jan-Hendrik Passoth und Josef Wehner festhalten, „die Allgegenwart zahlenbasierter Darstellungen“ und es kann deshalb nur wenig überraschen, „dass immer häufiger, wenn wir andere beobachten und bewerten, uns mit anderen vergleichen, um einschätzen zu können, wo wir stehen und wie wir uns verbessern können, Statistiken und entsprechende Bewertungen im Spiel sind“. 239 Die Individualisierungsstrategien der Disziplinargesellschaft, deren Wissensregime die Normierung war, haben sich zu Gunsten einer höchst flexiblen Normalisierungstaktik verschoben, deren ausgezeichnetes Instrument die Statistik und deren bevorzugtes Vorgehen die Verwaltung von Abweichungen ist, wie Jürgen Link schreibt: „Wenn eine ‚Population‘ unter einem bestimmten Gesichtspunkt verdatet wird, wird sie dadurch homogenisiert, ihre Verteilung um den Durchschnitt (wenn man will, um die symbolische ‚Mitte‘) zeigt zwar ‚Wendepunkte‘ der Distributionskurve, idealiter der Gaußschen ‚Normalverteilung‘, aber niemals so etwas wie wesenhafte, ‚qualitative‘ Diskontinuitäten. Wo die Grenze zwischen ‚normal‘ und ‚anormal‘ liegt, ist daher stets der Diskussion unterworfen.“ 240
Homogenisierung und Normalisierung bildeten bereits das strategische Ziel der Disziplinargesellschaft, daher ihre normierende Politik der Information: „[D]er normative Raum“, so François Ewald, „kennt kein Draußen“, vielmehr integriert er alles, negiert jede Differenz und jeden Anspruch auf Alterität: Zum Ende der Disziplinargesellschaft ist das Anormale in der Norm enthalten, „der Riese wie der Zwerg, der Idiot wie das Genie“. 241 Jürgen Link unterscheidet in diesem Sinne „protonormalistische Strategien, die mit der Disziplin zusammenfallen, und einen „Flexibilitäts-Normalismus“, der den gegenwärtigen Verdatungsregimen entspricht. Erstere operieren mit „möglichst fixen und ‚engen‘ Grenzzonen“, letztere hingegen „mit möglichst ‚breiten‘ Übergangszonen und mit Taktiken, die auf die ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ möglichst großer Abschnitte der borderlines in die Normalität zielen“. 242 Deshalb mündet die disziplinarische Politik der Information unweigerlich in einer Politik der Er- und Vermittlung, vor allem aber der
239 Vgl. Passoth, Jan-Hendrik/Wehner, Josef: Quoten, Kurven und Profile – Zur Vermessung der sozialen Welt. Einleitung, in: dies. (Hg.): Quoten, Kurven und Profile. Zur Vermessung der sozialen Welt, Wiesbaden 2013, S. 7-23, hier: S. 7. 240 Link, Jürgen: Aspekte der Normalisierung von Subjekten. Kollektivsymbolik, Kurvenlandschaften, Infografiken, in: Ute Gerhard/ders./Ernst Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg 2001, S. 77-92, hier: S. 83. 241 Vgl. Ewald: Macht ohne Draußen, a. a. O. [Anm. 212], S. 168f. 242 Link: Normalisierung von Subjekten, a. a. O. [Anm. 240], S. 83, Herv. i. Orig.
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(statistischen) Mittelung. Die Disziplinen fördern in erster Linie die gänzlich entgrenzte Kommunikation in einem homogenisierten Raum – die Disziplinargesellschaft wird zu einer Gesellschaft der Normalisierung. Mit ebendiesem Begriff bezeichnet Foucault 1976 die Durchsetzung der Disziplinartechniken gegenüber dem souveränen Recht: „Und daß in unseren Tagen die Macht gleichzeitig über dieses Recht und diese Techniken ausgeübt wird, daß diese Techniken und diese aus den Disziplinen entstandenen Diskurse in das Recht eindringen, daß die Verfahren der Normalisierung die Verfahren des Gesetzes immer mehr kolonisieren, vermag, so glaube ich, das globale Funktionieren dessen zu erklären, was ich als Gesellschaft der Normalisierung bezeichnen möchte.“ 243
Im gleichen Jahr erscheint der erste Band von Sexualität und Wahrheit, dessen Schlusskapitel exakt auf die Doppelhelix von Norm und Normalisierung verweist. Die politische Auseinandersetzung rund um die Sexualität bilden das Scharnier zweier verschiedener, indes verwandter Machttechnologien: Einerseits „die Machtprozeduren der Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen Körpers“, andererseits „regulierende[] Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung“. 244 Der Bezug der Bevölkerungspolitik zum Leben, den Foucault hier – zweifelsohne auch dem Untersuchungsgegenstand geschuldet – viel stärker als in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität hervorhebt, benennt dabei gerade die disziplinäre Differenz der Normalisierungsgesellschaft zu einem souveränen Immanentismus des Rechts: „Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt – oder zurückhält. […] Das sogenannte Recht ‚über Leben und Tod‘ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen. […] Und vielleicht ist diese Rechtsform auf einen historischen Gesellschaftstyp zu beziehen, in dem sich die Macht wesentlich als Abschöpfungsinstanz, als Ausbeutungsmechanismus […] vollzog. […] Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, lebend zu machen oder in den Tod zu stoßen.“ 245
243 Foucault: Recht der Souveränität, a. a. O. [Anm. 15], S. 94. Hieraus ergibt sich für Foucault gerade die Betonung eines produktiven Machtbegriffs: „Ich glaube, daß der Begriff der Unterdrückung immer noch ein juridisch-disziplinärer Begriff ist, wie kritisch man ihn auch verwenden mag. Und in diesem Sinne, nämlich aufgrund des zweifachen, rechtlichen und disziplinären Bezugs des Begriffs der Unterdrückung zu Souveränität und Normalisierung ist seine Verwendung als Schlüssel der Kritik verfälscht, ja zunichte gemacht.“ (Ebd., S. 95.) 244 Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 2], S. 135. 245 Ebd., S. 132ff., Herv. i. Orig.
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Was Foucault in den Politiken des Sexes entdeckt, ist das Spiel normierender und normalisierender Mächte, die gleichsam die Basis für die Gouvernementalisierung bilden. 246 Biopolitik, so schreibt etwa Vittoria Borsò, „bezeichnet […] die Genealogie und Transformation der Kunst des Regierens (Gouvernementalität)“. 247 Die politische ‚Innovation‘ zwischen Disziplinar- und Regierungsmacht besteht in der Durchsetzung des bevölkerungspolitischen Prinzips und dessen Kopplung mit einer universalisierten Ökonomie effizienter Bewirtschaftung. „Die disziplinarische Normalisierung“, so Foucault 1978, „besteht darin, zunächst ein Modell, ein optimales Modell zu setzen“ um in der Folge zu versuchen, „die Leute, die Gesten, die Akte mit diesem Modell übereinstimmen zu lassen“. 248 Die gouvernementalen Taktiken bedienen sich dagegen eines sehr viel flexibleren und dynamischeren Mechanismus’, der weniger fixierte denn vielmehr differentiale Normalisierung ist: „Bei den Disziplinen ging man von einer Norm aus, und mit Rücksicht auf diesen von der Norm getragenen Richtwert konnte man dann das Normale vom Anormalen unterscheiden. Hier haben wir, im Gegenteil, eine Ortung des Normalen und des Anormalen, eine Ortung der verschiedenen Normalitätskurven, und der Vorgang der Normalisierung besteht darin, diese verschiedenen Normalitätsaufteilungen wechselseitig in Gang zu setzen und auf diese Weise zu bewirken, daß die ungünstigen auf die günstigen zurückgeführt werden. […] Die Norm ist ein Spiel im Innern von Differential-Normalitäten.“ 249
Mit welchen politischen, oder vielmehr polizeilichen Diskursivierungen dieses veränderte Dispositiv der Normalität einhergeht, illustriert Foucault an den Impfpraktiken des 19. Jahrhunderts, die durch eine „medizinische Polizei“ organisiert wurden. Die moderne Präventivmedizin, die sich mit den Experimenten der Variolation und Vakzination erst auszubilden beginnt, impliziert ein völlig verändertes Verständnis von Epidemie und Krankheit. Denn die statistischen Verdatung von Erkrankungen, ihrer Verläufe und Ausbreitungen tilgt zunächst deren Substanzialität, löst sie aus ihren lokalen
246 Die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität beginnen dann auch mit dem Hinweis, ein Phänomen untersuchen zu wollen, das zuvor den „ein wenig leichtfertig[en]“ Namen einer Bio-Macht erhalten hatte (vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 13.). 247 Vgl. Borsò, Vittoria: Biopolitik, Bioökonomie, Bio-Poetik im Zeichen der Krisis. Über die Kunst, das Leben zu „bewirtschaften“, in: dies./Michele Cometa (Hg.): Die Kunst, das Leben zu „bewirtschaften“. Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik, Bielefeld 2013, S. 13-35, hier: S. 16. Zum produktiven Zusammenhang von Biopolitik und Gouvernementalität vgl. auch Lemke, Thomas: Biopolitik zur Einführung, Hamburg 2007, S. 47-70. 248 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 89. 249 Ebd., S. 98.
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und sozialen Bezügen und transponiert wütende Seuchen in „eine Verteilung von Fällen in einer Bevölkerung, die wiederum in der Zeit und im Raum umschrieben wird“. 250 Die Rhetorik der Normalität, so zeigt sich in diesen frühen präventivmedizinischen Diskursen, spricht nicht länger von apokalyptischem Übel oder vom unvermeidlichen Tod, sondern formiert Begriffe wie den Fall, das Risiko, die Gefahr oder – schlimmstenfalls – die Krise. In seinem Versuch über den Normalismus abstrahiert Jürgen Link den polizeilichen Gestus dieses normalistisch-verdatenden Dispositivs: „Zu den fundamentalen Leistungen des Normalismus gehört ferner die Etablierung eines neuen und sehr originellen Typs von sozialen Grenzen, den Normalitätsgrenzen. Diese Grenzen sind entsprechend dem homöostatischen Modell ein- und verstellbar auf einem eindimensionalen Kontinuum. Die Verstellbarkeit suggeriert einen mehr oder weniger breiten Grenzbereich als symbolische Übergangs- bzw. Indifferenz-Zone zwischen Normalität und Anormalität.“ 251
In Normalisierungsgesellschaften zeichnet sich bereits das Prinzip gouvernementaler Sicherheitsdispositive ab, deren politisches Versprechen im Phantasma liegt, tatsächlich jede Differenz und jede Alterität integrieren und (re-)normalisieren zu können. Das zeigt sich etwa an der bis heute gebräuchlichen, kontinuierlichen Segmentierung staats- und parteipolitischer Gesinnungen zwischen Mitte, Links und Rechts, 252 lässt sich aber auch für jüngste Diskursivierungen und Visualisierungen jedes Ereignishaften überhaupt konstatieren. Denn „[s]agbar ist in den normalistischen Narrativen“, so Link an anderer Stelle, „lediglich eine vorübergehende Kurvenschwäche, also Denormalisierung mit anschließender Normalisierung“, niemals aber ein „Systemkollaps des Normalismus“, der nur „als Apokalypse, d.h. in symbolisch-mythischen Narrativen kodiert werden kann“. 253 Normalisierungspolitisch wenden sich die polizeilichen Gesten der Reterritorialisierung und Übercodierung zu Taktiken der Re-Normalisierung und zu Diskursen des unaufhaltsamen Fortschritts und exponentiellen Wachstums. Die Mediokrität des Durchschnitts mutiert paradoxerweise zum Motor des Fortschritts.
250 Vgl. ebd., S. 93f. 251 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2009, S. 359f, Herv. i. Orig. 252 Link spricht in diesem Zusammenhang von einem „politischen NormalitätsDispositiv“ (Ebd., S. 419-431.). 253 Vgl. Link, Jürgen: Medien und Krise. Oder: kommt die Denormalisierung nicht ‚auf Sendung‘? in: Ralf Adelmann/Jan-Otmar Hesse/Judith Keilbach/Markus Stauff/Matthias Thiele (Hg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 229-244, hier: S. 238.
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Dies wiederum gilt nicht nur für die massenmedialen Inszenierungen eines jeweils aktuvirtualen Politischen, sondern auch für die Sag- und Sichtbarkeit des Medialen selbst. Die Explosion medialer Apparate und Formate, die sich gleichermaßen der digital entgrenzten Intermedialität wie der Beschleunigung globaler Kommunikationsrhythmen in ihr verdankt, resultiert – ihren spielerischen Verheißungen zum Trotz – vielenorts schlicht in strapaziöser Überforderung durch abstürzende Geräte, veraltete Software oder inkompatible Formate. Dieser augenscheinliche Effekt medientechnologischer Entwicklung gilt allerdings keineswegs als problematische Zäsur, sondern findet sich seitens medienindustrieller, -politischer oder -pädagogischer Diskurse als ein Phänomen entweder zu behebender technischer Störung, antiquierter Gerätschaften und fehlerhafter Bedienung, oder aber als schlichte Folge mangelnder Medienkompetenz und provinziellem Zeitgeist konnotiert. „Das ständige Einüben der neuen Gadgets, Apps und Interfaces“, bemerkt Markus Stauff, „ist strukturiert durch zumindest zwei temporale Handlungsmodelle, die zugleich zwei unterschiedliche Konzepte der Optimierung (der Geräte und des Selbst) implizieren: Krise und Reform“. 254 Konsequent wird entweder die unverändert anthropomorph-narzisstische Rückbesinnung auf vermeintlich ursprünglich Werte gefordert – etwa die Mobiltelefone vermehrt auszuschalten oder aus Facebook auszutreten. 255 Oder aber es werden Rufe nach zeitgemäßer Medienbildung breit, wie jüngst seitens der Pädagogik beispielsweise im Schweizer Lehrplan 21, seitens der Wissenschaft mit Forschungsschwerpunkten wie „Medienkulturund Bildung“ oder im vagen Projekt sogenannter ‚digital humanities‘. 256 Dass mit der abermaligen Disziplinierung digitaler Medien in pädagogisierten Lehrplänen und – weil unterfinanzierten – stark opportunistischen Universitätscurricula indes den normalisierenden Taktiken nicht beizukommen ist, ja diese hiermit noch gesteigert werden, bleibt freilich weitgehend unbemerkt. Mit den massenmedialen Kommunikationsdispositiven, die sich derzeit zweifelsohne selbst in Verschiebungen befinden, interagiert der Normalismus in zweifacher Hinsicht, insofern er sich um das Verdatungsprinzip einer
254 Vgl. Stauff, Markus: Premediation, Krise und Reform. Medienwechsel als Technologie des Übens, in: Nadja Elia-Borer/Constanze Schellow/Nina Schimmel/Bettina Wodianka (Hg.): Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013, S. 124-139, hier: S. 134. 255 Vgl. etwa entsprechende Überlegungen bei Lovink (Das halbwegs Soziale, a. a. O. [Anm. 179], S. 204ff.). 256 Vgl. exemplarisch Ramser, Franziska: Lehrplan 21 macht Facebook zum Schulstoff, in: Schweizer Radio und Fernsehen, August 2013, URL: http://www.srf.ch/news/schweiz/lehrplan-21-macht-facebook-zum-schulstoff; sowie die Webseite der Arbeitsgruppe „Medienkultur und Bildung“ der Gesellschaft für Medienwissenschaft GfM unter http://www.gfmedienwissenschaft. de/gfm/start/index.php?NID=38.
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„mathematisch-statistische[n] Taktik […] mittels des Modells der gaußschen […] Normalverteilung“ 257 gruppiert. Einerseits nämlich publizieren und illustrieren Zeitung, Radio und Fernsehen von den Börsenkursen bis zu reich illustrierten Grafiken laufend die statistischen Selbstquantifizierungen aus allen wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Bereichen von entsprechendem Nachrichtenwert. Andererseits bestimmen sich diese Medien mittels denselben Verfahren, die ihre ‚massenhaften‘ Rezipienten überhaupt erst erheben. 258 Ein anschauliches Beispiel für die enorme Wirkkraft normalisierter Verdatung und ihre massenmediale Inszenierung liefern zweifelsohne die in Presse und Fernsehen populäre Visualisierung statistischer Daten in Infografiken und Diagrammen, die jüngst – erneut digitalen Medienformaten geschuldet – vermehrt auch animiert werden um etwa Entwicklungsdynamiken zu illustrieren. 259 Solche Infografiken ermöglichen es, wie Ute Gerhard, Jürgen Link und Ernst Schulte-Holtey schreiben, „datenbezogenes Wissen zum Zweck der Orientierung moderner Individuen [zu] visualisieren und dabei mittels Kollektivsymbolik [zu] subjektivieren“. 260
257 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus, a. a. O. [Anm. 251], S. 358. 258 Vgl. in diesem Sinne Passoth/Wehner: Quoten, Kurven und Profile, a. a. O. [Anm. 239], S. 10; Gerhard, Ute/Link, Jürgen/Schulte-Holtey, Ernst: Infografiken, Medien, Normalisierung – Einleitung, in: dies. (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg 2001, S. 7-22, hier: S. 8; Stauff/Thiele: Mediale Infografiken, a. a. O. [Anm. 237]. 259 Vgl. exemplarisch meine Diskussion einer animierten Infografik zur Fertigstellung des Schweizer Gotthardtunnels an anderer Stelle (Sieber, Samuel: Mediale Dispositive der politischen Kommunikation, in: Felix Heidenreich/ Daniel Schönpflug (Hg.): Politische Kommunikation: Von der klassischen Rhetorik zur Mediendemokratie/ La communication politique: De la rhétorique classique à la démocratie des médias (Kultur und Technik Band 21), Berlin 2012, S. 3951.). 260 Vgl. Gerhard/Link/Schulte-Holtey: Infografiken, a. a. O. [Anm. 258], S. 17. Mit dem Konzept der Kollektivsymbole versucht Link „die Gesamtheit der am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Vergleiche und metaphorae continuatae, Exempelfälle, anschaulichen Modellen und Analogien einer Kultur“ zu fassen, etwa hervorgehobene ‚Spitzen‘ und ‚Abstürze‘ einer Verlaufskurve, aber auch schemenhafte Grafikelemente, Fotos und Symbole aller Art, die konnotativ Assoziationen, Identifikationen und Gegenidentifikationen mit dem verdateten Sachverhalt evozieren (vgl. ausführlich Link: Medien und Krise, a. a. O. [Anm. 253], S. 233.). Das regelmäßige Auftreten solcher Kollektivsymbole in visualisierten Statistiken verweist m.E. gerade auf das disziplinarische Präludium der Normalisierungsgesellschaft – auf etwa familial (das Paar, die stilisierte Kleinfamilie), wirtschaftlich (das Wachstum, das Dollarzeichen, der Einkaufskorb) oder politisch (das Regierungsgebäude, der schematisierte Plenarsaal) genormte Sag- und Sichtbarkeitsregime.
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Abb. 18: ‚Orientierung und Subjektivierung moderner Wähler‘: Spinnendiagramm politischer Einstellung auf der Webseite der Gratiszeitung 20Minuten im Schweizer Wahljahr 2011 Diese typisch normalistische Strategie der Infografik verdichtet sich derzeit intermedial in sogenannt interaktiven und zur Weiterverbreitung vorgesehenen Re-Konfigurationen der ‚Spinnendiagramme‘ im Kontext von Wahlen. Aus einem zuvor auszufüllenden Fragebogen – der nota bene qualitativ wie quantitativ stark begrenzt ist – werden hier auf Internetseiten, die nicht selten von Zeitungs- oder Rundfunkunternehmen betrieben werden, die ‚individuelle‘ politische Einstellung in eine informative Grafik übersetzt. Das entstandene Diagramm visualisiert die ‚eigene‘ Positionen zu angeblich maßgeblichen, indes schon durch den Fragebogen vorgegebenen Politikthemen wie Finanzpolitik, Sozialstaat oder Einwanderung. Doch im zweidimensionalen Raum des Diagramms kann die Kreisbahn seiner Grenze niemals überschritten werden und noch die extremsten Positionen präsentieren sich relational zu seinem mittelwertigen Schnittpunkt. Gleichzeitig wird die Fläche der ‚eigenen‘ politischen Gesinnung von jenen der am besten passenden Kandidatinnen und Kandidaten überlagert, was nicht nur ‚persönliche‘ politische Präferenzen legitimiert, sondern idealiter gleich in eine
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ausdruckbare Wahlliste umzusetzen ist. Vorzugsweise wird die generierte Grafik schließlich direkt zu weiteren Webseiten wie Facebook oder Google+ portiert, wo sie wiederum von und mit Freunden diskutiert und verglichen werden kann (Abb. 18). Ähnlich den disziplinarischen Strategien medialer Dispositive persistieren – wie das Beispiel der Spinnendiagramme zeigt – auch normalisierende Taktiken noch in der Phase beschleunigter (inter-)medialer Konvergenz. Sie integrieren sich in und vermischen sich mit einer Gouvernemedialität der Gegenwart, in der sie zusammen mit den disziplinären Normierungen schließlich auf kontrollgesellschaftliche Formationen treffen. Die Kontrollgesellschaft Die gegenwärtige Besorgnis, die sich auf mediale Dispositive richtet, betrifft freilich kaum noch erzwungene Disziplinarmaßnahmen und sie problematisiert auch die normalistischen Wissensregime der Statistik nur selten. Vielmehr handelt sie in aller Regel von den beiden Polen ein- und desselben Phänomens: der ubiquitären und omnidirektionalen Verdatung. Auf der einen, gleichsam makroskopisch-progressiv konnotierten Seite finden sich die Diskurse von ‚Big Data‘ oder dem sogenannten ‚Data Mining‘, d.h. der Akkumulation gewaltiger Datenmengen aus so unterschiedlichen Kontexten wie sozialen Netzwerken, Bewegungsdaten mobiler GPS-Sensoren, Einkaufsverhalten auf Shopping- und Auktionsplattformen, Suchmaschinen, zumindest angedacht bereits auch aus klinisch erhobenen Gesundheitswerten, Versicherungsdaten, Bewegungsmustern aus Grenzkontrollen oder politischen Präferenzen aus Wahlumfragen. Die Existenz und das Wachstum riesiger Datenfarmen und Speicherarchive stehen dabei kaum zur Debatte, vielmehr stellt sich die Frage nach den Interpretationsmöglichkeiten derselben, wie also das sogenannte ‚Crowd Sensing‘ und ‚Crowd Sourcing‘ am produktivsten zu nutzen, besprechen, visualisieren und verteilen wären. In einem Leitfaden des Deutschen Bundesverbands Informationswirtschaft (BITKOM), der schon selbstverständlich mit einem „Management Summary“ beginnt, gelten digitale Daten bereits als „vierter Produktionsfaktor neben Kapital, Arbeitskraft und Rohstoffe“. Nur folgerichtig verheißt Big Data „die wirtschaftlich sinnvolle Gewinnung und Nutzung entscheidungsrelevanter Erkenntnisse aus qualitativ vielfältigen und unterschiedlich strukturierten Informationen“, die – sofern ihre meist noch unsystematische Speicherung und Verarbeitung dereinst „in eine strukturierte Form überführt wird“ – in „besser fundierte und zeitnahe Management-Entscheidungen umzusetzen“ sind. 261 261 Vgl. Bundesverband Informationswirtschaft (BITKOM): Big Data im Praxiseinsatz – Szenarien, Beispiele, Effekte, 2012, URL: http://www.bitkom.org/ 60376.aspx?url=BITKOM_LF_big_data_2012_online(1).pdf&mode=0&b=Pub likationen&bc=Publikationen%7cLeitf%c3%a4den, S. 7.
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Am anderen Ende dieses gleichsam globalen Verdatungswahns, oder besser: an den multiplizierten Punkten seines Wirkens, geraten die Prinzipien des Datenschutzes und seine Institutionen in eine Krise, deren laufende Renormalisierung nur eine Phantasmatische sein kann. In der Schweiz unterstützt der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte etwa die Webseite eines „Sensibilisierungsdienstes für Datenschutz und Transparenz“ namens „ThinkData“, deren Lektüre nicht weniger als die schier grenzenlose Überforderung ebendieses Datenschutzes illustriert (Abb. 19).
Abb. 19: Unübersichtlicher Datenschutz: Szenarien und Fallbeispiele auf der Webseite ThinkData.ch Allein die Felder nämlich, in denen ‚private‘ oder ‚eigene‘ Daten noch zu schützen wären, erscheinen angesichts der Verheißungen von Big Data in die Unübersichtlichkeit vervielfacht. Die Videoüberwachung öffentlicher Plätze oder stark frequentierter Firmengelände ist längst nur noch ein Aspekt der gegenwärtiger Kontrollpraktiken: Im Versicherungswesen, dem Zahlungsverkehr, im Kredit- und Inkassowesen, den Gesundheitsdiensten, v.a. aber im Internet und in allen Bereichen der Telekommunikation werden Kunden (Einkaufsstatistiken) wie Körper (biometrische Daten), Risiken (Versicherungspolicen) wie Chancen (Popularität, Freundschaft) verdatet. ThinkData versucht dieser Verdatungsflut bezeichnenderweise mit einer
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Sammlung von „Szenarien“ und „Fällen“ zu begegnen, welche die Nutzerinnen und Nutzer der Webseite mitunter selber beisteuern. „Wer hat das Recht zu wissen, wo ich bin?“, „Wie kann ich Kundendaten schützen?“ oder „Wie soll mit medizinischer Information umgegangen werden?“, zählen zu den hier behandelten Fragen, die jeweils mit Fallbeispielen versehen und durch rechtliche Grundsätze sowie Umsetzungsempfehlungen ergänzt werden. 262 Dass die einst konkreter fassbaren Grenzen, die das Private vom Öffentlichen trennten, sich zu permeablen und höchst flexiblen Übergangszonen verbreitert haben und die Datenschutzdebatte derzeit einem völlig antiquierten und deshalb umso verzweifelter geführten Diskurs gleichkommt, vermag die wohlgeordnete Fragmentästhetik von ThinkData freilich nicht zu überspielen. Zwischen Big Data und Datenschutz zeigt sich, dass die telekommunikative Welt zwar kaum noch Inhaftierungen und Zwangsmaßnahmen kennt, Techniken der Überwachung und Kontrolle aber gerade darin einen fast unvorstellbaren Auftrieb erfahren. Denn die Hilflosigkeit, mit der sich Datenschutzbeauftragte wie Rezipientinnen und Rezipienten den Regimen einer im Namen von Effizienz oder Sicherheit entgrenzten Datensammlung unterwerfen, resultiert nicht zuletzt daraus, dass diese im Unterschied zur traditionellen Disziplinargesellschaft meist ‚freiwillig‘, aus einem ‚eigenen‘ Bedürfnis heraus und mit einem gewissen ‚Vergnügen‘ erfolgt. Offensichtlich haben die ‚sozialen‘ Medien von Facebook bis YouTube ihre Milliarden von ‚Usern‘ weniger in ihre Portale gezwungen, als mit ihren medialen Dispositiven vielmehr einen Nerv der Zeit getroffen, dessen Merkmale eine kommunikative Ekstase der Darstellung, Inszenierung und Veröffentlichung eines ‚Selbst‘ ist. Schon seit den 1980er Jahren, so Johanna Dorer, ist ein Kommunikationsdispositiv dabei, die Informationsdispositive abzulösen. 263 Damit einher geht allerdings eine Vervielfachung und Adjustierung von Überwachungspraktiken, welche die Disziplinargesellschaft nicht zu erklären vermag, die Normalisierungsgesellschaft hingegen für obsolet erklären müsste. Das Zeitalter der Gouvernemedialität ist weniger von überwachenden und strafenden denn vielmehr von anreizenden und kontrollierenden Technologien geprägt. Die moderne Errungenschaft von Disziplinierung und Normalismus ist eine Kontrollgesellschaft. Die Disziplinargesellschaft etablierte Politiken der Information und der Einschreibung, die Normalisierungsgesellschaft betreibt Politiken der Ermittlung, Vermittlung, Mittelung. Die Kontrollgesellschaft nun operiert mit Politiken der Kommunikation, deren Phantasma die horizontlose Einrichtung der Unmittelbarkeit des Mitteilbaren ist. In den Disziplinargesellschaf-
262 Vgl. http://www.thinkdata.ch/de/-ber-uns. 263 Vgl. Dorer, Johanna: Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs. Ein medientheoretischer Ansatz nach Foucault, in: Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen und Wiesbaden 1999, S. 295-305.
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ten galt es noch, wie Gilles Deleuze argumentiert, sich von Institution zu Institution, von Sektor zu Sektor abermals einer Norm zu unterwerfen, d.h. eine Reihung schematisch vergleichbarer, jedoch prinzipiell unabhängiger Segmentarisierungen zu durchlaufen. Die Kontrollgesellschaft hingegen baut auf das vermittelnde Prinzip der Normalisierung auf und perfektioniert dieses zu einem System untrennbarer Variationen: „Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gußformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gußform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren.“ 264
Schon die Disziplin bediente sich einer gemeinsamen Sprache, eines normierenden Diagramms, doch war diese Sprache analogisch und korrespondierte konsequent mit analogen Macht- und Medientechnologien – mit einer Kette aus Übungen, Dressuren und Prüfungen sowie mit „energetischen Maschinen […], welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten“. Die Kontrollgesellschaft installiert untrennbare Variationen, das System einer variablen Geometrie, deren Mechanismus einer numerischen – indes, wie Deleuze betont – nicht zwingend binären Sprache folgt. Ihre Apparate sind „Informationsmaschinen und Computer[], deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden“. 265 Doch sind digitale Medien – so symptomatisch die intermediale Konvergenz und die Möglichkeit universaler Verdatung aus kontrollgesellschaftlicher Perspektive auch erscheinen mögen, weder bloß die Ursache noch die Wirkung modulativer Macht und allgegenwärtiger Kontrolle. Vielmehr verweisen sie erneut auf eine polizeiliche Metaphorisierung des Medialen, die unter der Prämisse gouvernementaler Regierung jede Dazwischenkunft als unmittelbaren Übergang akzentuieren muss, um sie in ein verwaltbares Kontinuum zu überführen. Maschinen, so betont auch Deleuze, determinieren keine Gesellschaften, sie drücken deren Form aus. 266 Ihren Machtbegriff entlehnt die Kontrollgesellschaft in vieler Hinsicht Foucaults Studien der Disziplin. So schreibt Deleuze – wohl die feinmaschigen Kontrollmechanismen vor Augen – an anderer Stelle: „[D]ie Macht ist lokal, insofern sie nie global ist, sie ist jedoch nicht lokal oder lokalisierbar, insofern sie diffus ist“. 267 Die Kontrollgesellschaft ist die gewisserma-
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Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 201], S. 256. Vgl. ebd., S. 256, 259. Vgl. ebd., S. 259. Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 41. Deleuzes Betonung der Differenzen von Kontroll- und Disziplinargesellschaft ist deshalb m.E. nicht als Abgrenzung von Foucaults Studien der Disziplinen oder als eine Kritik ihrer Irrelevanz am Ende des 20. Jahrhundert zu lesen, sondern als bewusst knapp ge-
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ßen logische Konsequenz der Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft, sie organisiert ihre Durchsetzung in sowohl mikro- wie makropolitischer Richtung der Machttechnologien. Michael Hardt, der von einer globalen Kontrollgesellschaft spricht, betont ihre simultane Ausweitung und Intensivierung: „Control is […] an intensification and generalization of discipline, when the boundaries of the institutions have been breached, corrupted, so that there is no longer a distinction between inside and outside.“ 268
Schon die Macht des Disziplinären, betont auch Deleuze, war gleichzeitig vermassend und individualisierend und die Gouvernementalisierung zwischen Pastoralmacht, Staatsräson und Polizei wird genau diesen Effekt betonen: „Individualisierung und Totalisierung“, schreibt Foucault, „sind ihre unvermeidliche Wirkung“. 269 Es ist die Persistenz und Perfektionierung dieser simultanen Expansion und Konzentration, die auch die Kontrollgesellschaft hervorzuheben sucht: „In den Kontrollgesellschaften […] ist das Wesentliche nicht mehr die Signatur oder eine Zahl, sondern eine Chiffre: Die Chiffre ist eine Losung, während die Disziplinargesellschaften durch Parolen geregelt werden […]. Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken‘.“ 270
Das Verdatungsregime, das mit dem Normalismus seinen Ausgang nimmt, mündet derart in einer Verdatungsschleife, in der hegemoniale Renormalisierungen umso unnötiger werden, je weiter und feiner sich ihre gerade noch als extrem geltenden Schwellenzonen differenzieren. Um aus den riesigen Datensammlungen sinnvolle, d.h. produktive, effiziente oder versichernde Modelle ableiten zu können, muss das einst unteilbare Individuum schier unendlich zerlegt werden – in Kundenstämme oder Risikogruppen, in parti-
haltene Skizze, welche die entscheidende Wirkung der Disziplinen gegen die verkürzten Interpretationen von Zwangsmaßnahmen und Einschließungsmillieus zu rehabilitieren sucht. In einem Interview argumentiert Deleuze: „Foucault gilt nicht selten als Denker der Disziplinargesellschaft und ihrer prinzipiellen Technik der Einschließung […]. Aber in Wirklichkeit gehört er zu den ersten, die sagen, dass wir dabei sind, die Disziplinargesellschaften zu verlassen […].“ (Vgl. Deleuze: Kontrolle und Werden, a. a. O. [Anm. 211], S. 250.). 268 Hardt, Michael: The Global Society of Control, in: Discourse, Jg. 20, Heft 3, 1998, S. 139-152, hier: S. 150. 269 Vgl. Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 201], S. 257f; Foucault: Omnes et Singulatim, a. a. O. [Anm. 161], S. 93. 270 Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 201], S. 258.
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zipative Bürger oder mediale Avantgarden, in lokale Communities oder dislozierte Schwärme. Doch diese auf- und zugleich zerteilende Strategie ist weder von einer zentralisierten Herrschaftsinstanz noch von disziplinarischen Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, sie basiert vielmehr, wie Gerald Raunig am Beispiel Facebook zeigt, auf einem „Begehren, sich öffentlich mitzuteilen, seine Daten (mit-)zu teilen, sich selbst zu teilen“. 271 Die iterative Rekursion der Kontrollgesellschaft dreht sich um die Affirmation, regierungstechnologische Verwaltung und kontrollierende Rückprojektion sich selbst zerteilender Dividuen: Was die Stichprobe erhebt, kehrt in gouvernementalen Sicherheitsräumen wieder, und was die sogenannten User digitaler Medien mit- und aufteilen, bestimmt den Markt. Was die Datenschutzdebatte der Lächerlichkeit preisgibt, ist ihr romantisierter Begriff eines Privaten, von dem Raunig zu Recht schreibt, dass er seit der Antike von einer „Dringlichkeit der Sichtbarkeit“, von einem „Drang ans Licht virtueller Sozialität“ durchkreuzt wird. 272 Jüngste Überwachungs- und Verdatungstechniken gleichen eher den pastoral geleiteten Geständnissen, d.h. die Regierungstechnologien der Kontrollgesellschaft bauen wesentlich auf Selbsttechnologien, die gleichermaßen ihre Subjektivierungseffekte wie die Fluchtlinien aus ihrem Regime bilden. 273 Es erübrigt sich, so polemisiert Deleuze, zwischen Disziplinar-, Normalisierungs- und Kontrollmechanismen nach dem härteren oder erträglicheren System zu suchen, „denn in jedem von ihnen stehen Befreiung und Unterwerfung einander gegenüber“. 274 Die alte panoptische Strategie, deren Instrument die Angst vor einem ständigen Kontrollblick war, kehrt gegenwärtig vielenorts als frohe Botschaft wieder, überall und in kleinste Teile zerlegt sicht- und wahrnehmbar werden zu können – als Mittel gegen eine Angst also, aus dem entgrenzten Sozialen und Gemeinschaftlichen zu verschwinden. 275 Die Überwachung ist in der digital scheinbar randlosen Welt nicht weniger geworden, sondern hat sich zu einer weniger invasiven, dafür umso umfassenderen Kontrolle gesteigert. David Lyon – einer der Begründer der sogenannten Surveillance Studies, deren Gegenstand diese moderne Transformation der Überwachungssysteme ist – benennt den latenten Wider-
271 Vgl. Raunig, Gerald: Dividuen des Facebook. Das neue Begehren nach Selbstzerteilung, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld 2011, S. 145-160, hier: S. 156. 272 Vgl. ebd. 273 Diesen Zusammenhang hat Foucault im Übrigen in den beiden Folgebänden von Sexualität und Wahrheit erläutert und in seinen letzten Vorlesungen vertieft. Er ist für die Gouvernemedialität der Gegenwart von wesentlicher (auch politischer) Bedeutung und wird im folgenden Kapitel 4.4., Die Regierung des Selbst und der anderen ausführlich diskutiert. 274 Vgl. Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 201], S. 255. 275 Vgl. Baumann, Zygmunt/Lyon, David: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Berlin 2013, S. 37.
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spruch, der diese Steigerung auszeichnet: Wie einschränkender und disziplinierender panoptische Regime sind, desto öfter erzeugen sie aktiven Widerstand. Die weicheren und feineren Kontrollstrategien produzieren dagegen höchst erfolgreich die gewünschten gelehrigen Körper und Seelen. 276 Auf Seiten des Dividuums transformieren sich die disziplinarischen Blickregime zu einem „innengewendete[n] Panoptikum der Kontrollgesellschaft“, das – wie Georg Christoph Tholen zeigt – nicht erst seit dem Aufkommen des Web 2.0 floriert, sondern schon in den Fernseh-Talkshows der 1990er Jahre einen „seit den protestantischen Bekenntniszwängen nach innen gerichtete[n] Kontrollblick“ ausstellt, der nunmehr „von den dem schamlosen Blick der TV-Zuschauer ausgesetzten Testpersonen unmittelbar angeschaut werden soll“. 277 Konsequent vollzieht sich gegenwärtig überall die Mobilisierung der Panoptica, für die Zygmunt Baumann die treffende Metapher eines allzeit mitzutragenden Schneckenhauses prägt: „[D]ie Beschäftigten in der schönen neuen flüchtig-modernen Welt [müssen] ihr jeweils persönliches Panoptikum selbst hervorbringen und auf dem eigenen Buckel mitschleppen“. 278 Heute alltäglich gewordene elektronische Fußfesseln von Gefangenen, die ihre Strafe zu Hause weniger absitzen als vielmehr verbüßen, oder via Satellit ortbare GPS-Sensoren, die nicht nur in Halsbändern für Haustiere oder Schlüsselanhänger für Kinder zu haben sind, sondern den alltäglichen Navigationen aller Mobiltelefonbesitzerinnen und -besitzer dienen, sind Belege für die Steigerung mikrophysikalischer Kontrollmechanismen, die schon Deleuze beispielhaft erwähnt. Die Möglichkeit, verlorene oder gestohlene Notebooks, Tablets oder Mobiltelefone jederzeit orten zu können, das Verschwinden von Suchmaschinen, die keine kontextabhängigen Ergebnisse liefern oder ihre Suchanfragen nicht anhand weniger Buchstaben antizipieren können, oder auch die Flut an Text-, Bild- und Videomaterial, die tagtäglich die Verdatungsapparate des Internets speist, sind weitere Indizien für dasselbe Phänomen. Ein jüngeres Beispiel aus der verdateten Welt des Suchmaschinegiganten Google ist die Aktualisierung der in Android-Systemen fest integrierten, inzwischen aber auch auf Apple-Geräten installierbaren Applikation namens Google Now. Deren Oberfläche unterscheidet sich auf den ersten Blick in keiner Weise von dem wohlbekannten, simplen Textfeld der Google-Suche. Ihr wahres Potential entfaltet die Software hingegen erst in Kombination mit allen Daten, die auf mobilen Geräten zusammenkommen und idealiter in Google Now einzuspeisen sind: Verortungen und Bewegungsprofile mittels GPS, Mobilfunkzellen und WLAN-Standorten, Interessen anhand von
276 Vgl. Lyon, David: The search for surveillance theories, in: ders. (Hg.): Theorizing Surveillance. The Panopticon and Beyond, Cullompton 2006, S. 3-20, hier: S. 4. 277 Vgl. Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 152. 278 Vgl. Baumann/Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin, a. a. O. [Anm. 275], S. 78.
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Suchverläufen oder besuchten Blogs und Internetseiten, Termine und Verpflichtungen aufgrund erhaltener E-Mail- und Text-Nachrichten. Daraus generiert Google Now auf Wunsch ein feines Raster von ständigen Kontrollen und ‚sanften‘ Anweisungen. Bei der Arbeit im Büro erinnert es Nutzerinnen und Nutzer etwa daran, dass der Termin in der Nachbarstadt auf Grund eines Staus auf der Verbindungsstraße nur bei baldigem Aufbrechen einzuhalten ist und das sich im Anschluss gegebenenfalls ein Besuch der dortigen Kunstausstellung anerbieten würde, deren Webseite man auf Grund eines Newsletters erst unlängst konsultiert hatte (Abb. 20).
Abb. 20: ‚Antizipierende Verdatung‘: Werbeseite der Suchapplikation Google Now In globaler Perspektive zeichnet sich der Wandel von der Überwachung zur Kontrolle in einer Konvergenz vormals diskreter Überwachungssysteme ab – ein globales Gefüge überwachender und kontrollierender Strategien entsteht. 279 Die ubiquitäre und omnidirektionale Verdatung führt zu einer Übersetzung skopischer Regime in ein Prinzip universaler Raster. Das Raster, so Dietmar Kammerer, „liefert das Schema und die Formel, die den Übergang vom Sehen zum Wissen, von der blinden (und blindwütigen) Daten- und Bildakkumulation zu verwertbaren Informationen ermöglicht“. 280 Und dieser Rasterung verdankt sich wiederum die permanente Kontrolle und Adressierbarkeit von – so Haggerty und Ericson – verdateten „Doppelgängern“, 281
279 Vgl. den Begriff der „surveillant assemblage“, den Kevin D. Haggerty und Richard V. Ericson vorschlagen (vgl. Haggerty, Kevin D./Ericson, Richard V.: The surveillant assemblage, in: British Journal of Sociology, Jg. 51, Nr. 4, 2000, S. 605-622.). 280 Vgl. Kammerer: Bilder der Überwachung, a. a. O. [Anm. 206], S. 142. 281 Haggerty/Ericson: The surveillant assemblage, a. a. O. [Anm. 279] 2000, S. 606.
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auf die sich die Sorgen von Datenschützern wie -managern, aber auch die apokalyptischen Diskurse eines verlorenen, weil nur noch medial erfahrbaren Menschen richten, wie Hans-Joachim Lenger, Michaela Ott, Sarah Speck und Harald Strauss zu Recht festhalten: „Wo die spekulativen Ökonomien jener Usurpation einer Zukunft gleichkommen, mit der sich die Zeit in eine Kolonie fiktiver Werte verwandelt, werden medientechnologische Landnahmen der Körper zum Schauplatz einer Zeitlichkeit, die jede ‚Selbstgegenwart‘ Lebendiger zertrümmert.“ 282
Es überrascht entsprechend wenig, wenn angesichts der kontrollgesellschaftlichen Regime ein politischer Defätismus um sich greift, der allerdings – wie im Übrigen auch in der Disziplinar- oder Normalisierungsgesellschaft – fehl am Platze ist. „Es könnte sein“, schreibt Gilles Deleuze im letzten Abschnitt seines Postskriptums, „dass alte Mittel, die den früheren Souveränitätsgesellschaften entlehnt sind, wieder auf den Plan treten, wenn auch mit den nötigen Anpassungen“. 283 Und in der Tat zeichnen sich in der vermeintlichen Homogenität eines verflüchtigten und entgrenzten Raumes ständig Brüche und Risse ab, die weder eine Rhetorik von ‚Fällen‘ und ‚Krisen‘ noch die abermalige Rekursion verdatender Modellierung zu kitten vermögen – auch und gerade darum, weil sie dafür die Kontrollen ins unermessliche steigern müssten. Die jüngsten Krisen des spekulativen Finanzkapitalismus, die Massenproteste von Nordafrika bis Südamerika oder die Skandale um staatliche Abhörpraktiken hinterlassen – so sehr sie als temporäre Denormalisierung akzentuiert werden – ihre Narben nicht nur in Gestalt neuer Eigenkapitalstandards, permanenter Ausnahmezustände, kryptographierter Kommunikationsmittel oder Austritten aus sozialen Netzwerken. Sie hinterlassen v.a. eine Ratlosigkeit über die Frage, wie diesen Phänomenen in ‚moderner‘, ‚demokratischer‘ oder ‚sozialer‘ Weise zu begegnen wäre, ohne auf abermalige Zwangsmittel, Tötungsmaschinerien und Propagandadiskurse zurückzugreifen. Ein seltsam stummes, wenn auch wortreich kommentiertes Zeugnis dieser Ratlosigkeit bot die Aufmachung eines Berichts über die Aufstände in der Türkei und in Brasilien in der Schweizer Nachrichtensendung 10vor10 vom 21. Juni 2013 (Abb. 21). Als „Aufschrei der Wutbürger“ betitelt, wurden hier Vergleiche zwischen den simultanen Protestbewegungen auf zwei Kontinenten gezogen, in erster Linie hinsichtlich einer „Zivilgesellschaft“, die nicht länger aus den politischen Entscheidungsprozessen der Staaten ausgeschlossen bleiben will. Das Ende des Nachrichtensegments bildet ein horizontal verlaufender Split Screen, der die analoge Dynamik in beiden
282 Lenger, Hans-Joachim/Ott, Michaela/Speck, Sarah/Strauss, Harald: Vorwort, in: dies. (Hg.) Virtualität und Kontrolle, Hamburg 2010, S. 6-22, hier: S. 7f. 283 Vgl. Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 201], S. 261.
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Ländern anhand eines Protestzugs zu illustrieren versucht, wobei gleichzeitig die Verwendung sozialer Medien als zusätzliche Parallele erwähnt wird.
Abb. 21: ‚Ästhetik globaler Phänomene: Schlusseinstellung eines Beitrags der Nachrichtensendung 10vor10 zu den Protestbewegungen in Brasilien und der Türkei. Die Ausstellung telekommunikativer Simultaneität hinterlässt indes – ihrer Diskursivierung zum Trotz – den Eindruck überfordernder, unkontrollierter Dynamik und die Rede von einer ‚politischen‘ „Zivilgesellschaft“ wirkt gerade angesichts des hier eröffneten, globalen Kontextes fehl am Platz. Denn ihr gegenüber erscheint in den Bildern von Straßenschlachten und Tränengasschwaden die höchst ‚unizivilisierte‘ Polizeigewalt von Ordnungs- und Militärkräften, die einer kleinen und lokalen Kaste reicher und opportunistischer Staatspolitiker zu gehorchen scheint. Als Verursacherin der global illustrierten Protestwelle, die sich überdies über den Arabischen Frühling bis in die Proteste in Iran 2009 zurückverfolgen lässt, kommen nur despotischsouveräne Figuren in Frage. „Die doppelte Kernfrage des gemeinschaftlichen Seins“, schreibt JeanLuc Nancy, müsste lauten: „Wie ausschließen, ohne Figuren zu bilden? Und wie Figuren bilden, ohne auszuschließen?“ 284 In den kritischen Ausnamezuständen 285 der globalisierten Welt dagegen perpetuiert die verloren geglaubte Herrschaft von Souveränitäten – Staaten, Konzerne, Banken, aber auch
284 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus‘ zur Gemeinschaftlichkeit der ‚Existenz‘, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 167-204, hier: S. 195. 285 Zur Paradoxität der souveränen Strategie der Ausnahmezustände vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 25ff.
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Medienunternehmen, mediale Avantgarden und Reaktionisten – und perforiert die alles verflüssigende Logik der Kontrollgesellschaft. Judith Butler bemerkt diese Einschnitte noch im Zeitalter der Gouvernementalität, das sich ihr zufolge gerade durch eine Konvergenzbewegung von Regierung und Beherrschung auszeichnet: „[G]enau deshalb, weil unsere geschichtliche Situation durch die Gouvernementalität charakterisiert ist und dies in einem gewissen Grade einen Verlust der Souveränität beinhaltet, [erfolgt] eine Kompensation dieses Verlustes durch das Wiederaufleben der Souveränität im Feld der Gouvernementalität […]. Es wimmelt von kleinen Souveränitäten, die inmitten bürokratischer Einrichtungen der Armee herrschen und von Zielen und Taktiken der Macht mobilisiert sind, die sie weder einführen noch ganz steuern.“ 286
Gerade dieses gleichsam gespenstische Auftauchen neuer Zentren und Hierarchien erschüttert die disziplinarisch-normalistisch perfektionierte Kontrollgesellschaft in ihrer Logik universaler Rasterung und unmittelbarer Kommunikation, wie Hans-Joachim Lenger anhand der Installation Cabinets of the Absentees von Dominik Beck zeigt: „Nicht Gespenstergeschichten werden hier erzählt. Oder wo sie, spielerisch von Fall zu Fall, zitiert werden, da lediglich, um an den Fiktionen einer Gegenwart zu rütteln, von denen die Technologien der Überwachung und Kontrolle beherrscht werden. Denn bedingungslos unterstehen sie einem Diktat der Gegenwart, das sie selbst zu vollstrecken suchen. Was aber könnten diese Systeme zugleich einschneidender ihrer Virtualisierung aussetzen, die sich in diesen Doppelgängern, Wiedergängern ebenso ankündigt, anzeigt wie verbirgt? Bereits die Schatten, die Schemen, die Phänomene und Phantome werden einem Willen zur Kontrolle bedrohlich genug. Sie entziehen der Gegenwart die Gegenwart.“ 287
Gegenwärtige Überwachungs- und Verdatungsregime als Ankunft einer zugleich denkerischen wie technologischen Kybernetik zu fassen, wie es beispielsweise das Autorenkollektiv Tiqqun tut, mag deshalb deren Symptome treffend beschreiben, nimmt aber zugleich einen Verlust jedes Politischen affirmierend vorweg. Denn die Kybernetik ist tatsächlich „das Projekt einer Neu-Schöpfung der Welt durch die unendliche Rückwirkung“ zwischen „trennende[r] Repräsentation“ und „wieder verbindende[r] Kommunikation“. 288 Sie ist ein Projekt, dessen Denken Gefahr läuft, das trennende Mo-
286 Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M. 2005, S. 75. 287 Lenger, Hans-Joachim: Ich, die Gespenster. Eine Installation von Dominik Beck, in: ders./Michaela Ott/Sarah Speck/Harald Strauss (Hg.): Virtualität und Kontrolle, Hamburg 2010, S. 324-329, hier: S. 328. 288 Vgl. Tiqqun: Kybernetik und Revolte, Zürich 2007, S. 24.
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ment jeder Mit-Teilung a priori auszuschließen und also eine Art Präzession normalistischer Simulakren zu propagieren, die gerade dem kontrollgesellschaftlichen Phantasma unvermittelter Kommunikation entspricht. Dagegen zu halten ist, dass noch die modulativen Räume dieser Kontrollgesellschaft heterotope Gestalten annehmen und sich rhizomatisch verformen – ein Spuk, der überall dort auftritt, wo die Regierungs- und Steuerungstaktiken moderner Gouvernementalität abermals polizeilich-souveräner Durchsetzung bedürfen um jene Fluchtlinien einzufangen, die ihnen beständig entgleiten.
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S TEUERN „Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden.“ 289
Die politische Rationalität der Gegenwart, schreibt Foucault 1984, ist weniger gekennzeichnet durch „das unablässige Bemühen, den Einzelnen in die politische Totalität zu integrieren“, als dadurch, „dass die Integration des Individuums in eine Gemeinschaft oder einer Totalität aus der stetigen Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und der Stärkung ebendieser Totalität resultiert“. 290 Der kontrollgesellschaftliche Wandel der Disziplinarregime bedarf spezifisch regierungstechnologischer Politiken: Auch wenn souveräne Gewalten und disziplinarische Mechanismen keineswegs wirkungslos geworden sind, so ist die Gegenwart doch in erster Linie von einer flexiblen Gouvernementalität geprägt. Entgegen ihrer Versprechen wohlgeformter Gemeinschaften und kontrollierbarer Individuen ruft diese moderne, vermeintlich universal wirksame Regierungskunst jedoch ständig Bruchlinien und Widerstände hervor, wie aktuelle Krisen der Kontrolldispositive belegen. Gerade dort, wo Regierungstechnologien perfektioniert erscheinen – wie etwa im gouvernementalisierten Verwaltungsstaat, an den neoliberalistischen Finanzmärkten oder auch im Datenmeer sozialer Netze –, versagen die Führungsprinzipien und Steuerungsmechanismen nur allzu oft: Global bedrohen Terrorismus, Protestbewegungen und Aufstände die vermeintlich befriedeten Räume des Staatlichen von außen wie von innen; der spekulative Finanzkapitalismus zerplatzt als blasenartiges Gebilde; und die intermedialen Kommunikationsräume des digitalen Zeitalters entwickeln und verschieben sich viel schneller, als dass sie jemals vollständig regiert und kontrolliert werden könnten. Weder gelingt modernen Regierungsmächten deswegen eine widerstandlose Unterwerfung von Subjekten, die sich den schon diskutierten Modellierungsstrategien der (Re-)Normalisierung freiwillig und lustvoll unterwerfen würden, noch sind die disziplinären Kontrollräume frei von unheimlichen Gestalten, die weder kommunizier- noch regierbar sind. Die Gouvernementalität erweist sich dergestalt nicht nur als angemessene Denkfigur kontrollgesellschaftlicher Machttechnologien, sie unterstreicht zugleich vehement die Heterotopie eines jeden Machtdispositivs und die Rhizomatik seiner Kräfteverhältnisse. Die gouvernementalen Ordnungen des Medialen, so meine im Folgenden entwickelte These, realisieren die medialen Regie289 Foucault, Michel: Was ist Kritik?, in: ders./Ulrich Bröckling (Hg.): Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Frankfurt a.M. 2010, S. 237-257, hier: S. 240. 290 Vgl. Foucault, Michel: Die politische Technologie der Individuen, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 999-1015, hier: S. 1015.
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rungs- und Kontrolldispositive der Gegenwart. Gleichzeitig jedoch sind diesen Ordnungen Widersprüche eingeschrieben, die auf eine Unregierbarkeit der Kommunikation als Mit-Teilung verweisen. Die Regierung des Selbst und der Anderen Machtbeziehungen, so verdeutlichen ihre divergierenden Formen zwischen souveränem Recht, disziplinarischem Zwang und modulativer Kontrolle, schließen weder den Einsatz von Gewalt noch das Vorhandensein eines Konsenses über die Legitimität dieser Macht aus. „Doch Gewalt und Konsens“, schreibt Foucault 1982, „sind Mittel oder Wirkungen, nicht aber Prinzip oder Wesen der Machtausübung“. 291 Regierung, Führung oder Steuerung erscheinen Foucault deshalb am ehesten geeignet, das Spezifische der Macht zu beschreiben: „Der Ausdruck ‚Führung‘ (conduite) vermag in seiner Mehrdeutigkeit das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu erfassen. ‚Führung‘ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen. Macht gehört letztlich […] in den Bereich der Regierung.“ 292
Der Machtbegriff, den Foucault im Zuge seiner Gouvernementalitätsstudien entwickelt, stellt keine Absage an souveräne Herrschaftsrechte oder disziplinarische Normierungsstrategien dar, bedeutet aber gleichwohl eine ReAkzentuierung des vormals zwischen juridischer Vertragstheorie und kriegerischer Auseinandersetzung verhandelten Spiels von Macht und Widerstand. 293 Denn insofern Macht als Verhaltenssteuerung aufgefasst werden kann, bezieht sie sich auch auf individuelle oder kollektive Freiheiten, näherhin auf „individuelle oder kollektive Subjekte […], die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen“. 294 Foucault benennt mit der Gouvernementalität so nicht nur eine Modernisierung von (hegemonialen) Herrschaftstechnologien: Es gelingt ihm zugleich das Denken jener komplexen Beziehungen von Wissen, Macht und Subjektivität zu schärfen, die das Feld des Politischen konturieren. Die Kritik der Regierung erlaubt es, das Verhältnis von Macht und Widerstand soweit umzupolen, dass Gegen-Verhalten und Dissidenz tatsächlich als primä291 Foucault, Michel: Subjekt und Macht, in: ders.: Analytik der Macht, Frankfurt 2005, S. 240-263, hier: S. 256. 292 Ebd. 293 Vgl. hierzu ausführlich das Kapitel 3.3., Krieg und Widerstand. Zur Heterotopie medialer Dispositive. 294 Vgl. ebd., S. 257.
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res, den Machttechnologien vorgängiges Element erscheint. Machtbeziehungen, so pointiert Foucault 1984, kann es nur in dem Masse geben, „in dem die Subjekte frei sind“. 295 Diese Wendung der Analytik der Macht mag freilich zunächst paradox anmuten: Nicht nur, dass die sich ab dem 16. Jahrhundert vollziehende Gouvernementalisierung jeden Widerstand zu antizipieren und zu verunmöglichen scheint, die Gouvernementalität verfügt im Übrigen über ein „Präludium“, 296 das Foucault als das bis in die Antike zurückreichende Wirken einer pastoralen Macht identifiziert. In ihrem Führungsprinzip rekurrieren Regierungsrationalitäten auf die politische Idee des seine Herde führenden Hirten, die nicht in der griechischen polis wurzelt, sondern „in einem zunächst vorchristlichen und dann christlichen Orient“. 297 Diese Pastoralmacht wirkt eher auf eine Multiplizität als auf ein starres Gebiet; sie versteht sich als wohltätige, fördernde Macht, deren Führungen zugleich Schutz bieten; sie ist eine zielgerichtete Macht, d.h. sie ist direkt auf eine ‚Herde‘ und deren Mitglieder ausgerichtet; und sie ist deshalb eine zugleich individualisierende und totalisierende Macht. 298 Die moderne Idee der Regierung, zu diesem bemerkenswerten Schluss kommt Foucault, diese „sonderbarste und charakteristischste Machtform des Abendlandes […] wurde im Hirtenstall geboren, oder hat ihn zumindest als Modell genommen, also im Vorgriff auf eine als Angelegenheit des Hirtenstalls betrachtete Politik“. 299 Vehement gegen eine widerständige Konzeption von Macht scheint die pastorale Genealogie der Gouvernementalität nun zu sprechen, weil diese schon bei den Ägyptern und Hebräern auszumachende Hirtenmetapher ihren Sprung ins 16. Jahrhundert der christlichen Religion verdankt: „Im gesamten Verlauf der fünfzehn, achtzehn oder zwanzig Jahrhunderte christlicher Geschichte“, so unterstreicht Foucault, überdauert die Pastoralmacht in einer Religion, die „Anspruch erhebt auf die tägliche Regierung der Menschen in ihrem wirklichen Leben unter dem Vorwand ihres Heils und im Maßstab der Menschheit“. 300 Die christliche Pastoral verfährt dabei insbesondere individualisierend: Sie „stellt sich das Verhältnis zwischen Hirten und Schafen als individuelle und umfassende Abhängigkeit vor“, sie unterstellt deshalb „eine eigentümliche Art der Kenntnis zwischen dem Pastor und jedem seiner
295 Vgl. Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 875-902, hier: S. 890. 296 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 268. 297 Vgl. ebd., S. 185. 298 Vgl. ebd., S. 187-193, sowie den prägnanter gefasste Vortrag Omnes et Singulatim (Foucault: Omnes et Singulatim, a. a. O. [Anm. 161], insb. S. 67-79.). 299 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 194. 300 Vgl. ebd., S. 218.
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Schafe“ und sie eignet sich Instrumente der Selbstprüfung und Gewissenslenkung an. 301 Das Zeitalter der Gouvernementalität, das sich ab dem 16. Jahrhundert zu entfalten beginnt und sich im 18. Jahrhundert durchsetzt, markiert in vielerlei Hinsicht die Fortsetzung dieser christlich-pastoralen Individualisierungstechniken, vor allem aber deren Übergang in die (staatliche) Politik: „Man kann sagen, das christliche Pastorat habe ein Spiel eingeführt, das weder die Griechen noch die Hebräer sich ausgedacht haben. Ein merkwürdiges Spiel, dessen Elemente Leben, Tod, Wahrheit, Gehorsam, Individuen, Identität sind; ein Spiel, das nichts mit dem Spiel der Stadt, die durch das Opfer der Bürger überlebt, zu tun zu haben scheint. Wirklich dämonisch sind unsere Gesellschaften geworden, als sie diese beiden Spiele – das Stadt-Bürger-Spiel und das Hirte-Herde-Spiel – in Gestalt des sogenannten modernen Staats kombinierten.“ 302
Staatsräson und Polizeiwissenschaft, die sich im Zuge der frühneuzeitlichen Gouvernementalisierung formieren, sind die Instrumente dieser Kombinatorik: Während erstere zu bestimmen suchte, „wie sich die Prinzipien und Methoden der Staatsführung etwa von der Weise unterschieden, in der Gott die Welt, der Vater seine Familie oder ein Vorsteher seine Gemeinde leiteten“, besteht „[d]ie Rolle der Polizei als Form rationalen Einwirkens der politischen Macht auf Menschen […] darin, diesen eine Art kleines Extra-Leben zu verschaffen, und indem sie das tut, gewährt sie dem Staat eine kleine Extra-Stärke“. 303 Gouvernementale Politiken operationalisieren eine „politische Technologie der Individuen“, die es erlaubt, „uns selbst als Gesellschaft wahrzunehmen, als Teil eines sozialen Gebildes, einer Nation oder eines Staates“. 304 In diesem politischen Sinne bemerkt Gilles Deleuze, dass „[d]as innere Individuum [….] zum Einsatz der Macht [wird], es wird diagrammatisch“ 305 und tritt in der Kontrollgesellschaft folgerichtig dividuali-
301 Vgl. Foucault: Omnes et Singulatim, a. a. O. [Anm. 161], S. 75-77. Zu letzteren zählen in erster Linie die umfassenden Geständniszwänge der christlichen Beicht- und Bußpraktiken, deren Fortsetzung Foucault noch in der „diskursiven Explosion“ um die Sexualität im 17. Jahrhundert verortet. Weit vor einer staatlich initiierten Polizei der Verkehrs- und Kommunikationswege entwickelt schon die christliche Pastoralmacht eine „Polizei der Aussagen“, weshalb die „Verknüpfung des Verbots mit der nachhaltigen Forderung, zu sprechen, […] ein konstantes Merkmal unserer Kultur [ist]“ (vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, a. a. O. [Anm. 2], S. 23. sowie Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 966999, hier: S. 967.). 302 Foucault: Omnes et Singulatim, a. a. O. [Anm. 161], S. 78. 303 Vgl. ebd., S. 81, S. 87. 304 Foucault: Politische Technologie der Individuen, a. a. O. [Anm. 290], S. 1000. 305 Vgl. Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 267], S. 144.
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siert auf. Ganz in Deleuzes Sinne versteht Foucault 1984 umgekehrt unter dem Begriff der „Kontrollmentalität“ die „Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst“. 306 Doch die Technologien des Selbst dürfen weder als bloße Unterwerfung noch als nahtlose Steuerung von Subjekten 307 missverstanden werden. Zwar versucht sich das christliche Pastorat tatsächlich an einer „Individualisierung durch Unterwerfung“, es entwickelt sich „durch ein ganzes Geflecht von Knechtschaften, das die allgemeine Knechtschaft eines jeden gegenüber jedem impliziert und gleichzeitig den Ausschluß des Ich, den Ausschluß des Ego, den Ausschluß des Egoismus als zentrale Kernform des Egoismus“. 308 Allerdings finden sich in der zweitausendjährigen Geschichte pastoraler Führung nicht nur eine Vielzahl von Widerständen und „Gegen-Verhalten […] gegen die zum Führen von anderen eingesetzten Verfahren“. 309 Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich noch die christlichen Geständniszwänge und Selbstbekenntnisse „im Grunde schon von Anfang an als Reaktion gebildet hat, oder jedenfalls in einem Verhältnis von Konfrontation, Feindseligkeit, Krieg, mit etwas, das man nur zur Not Verhaltensrevolte nennen kann“. 310 In dieser Vorgängigkeit von Gegen-Verhalten liegt die politische Differenz von Machtbeziehungen zu schierer Gewalt und totalitärem Zwang. Selbsttechnologien bilden gerade nicht das miniaturisierte Korrelat von Regierungskünsten, die Individuen beliebig formen und unterwerfen könnten. Entscheidend ist weder ein erzwungenes noch ein natürlich-autonomes Selbst, sondern vielmehr dessen Technologie, d.h. ein a priori listiges Strategem, das es „dem Einzelnen ermöglich[t], aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen […] an seinem Denken, seinem Verhalten“ vorzunehmen. 311 Gouvernementale Kräfteverhältnisse wirken totalisierend, weil sie individualisieren: Sie zeichnen sich durch die ab- und aufsteigende Entfaltung von Regierungstechnologien aus. Diese Kontinuität von Herrschafts- und Selbsttechnologien impliziert jedoch Selbstbezüge, die sich zwar erst im Zusammenstoßen mit Machtdispositiven ausbilden, gerade deswegen aber irreduzibel bleiben. In diesem Sinne lassen sich Machtbeziehungen nicht von einer „Widerspenstigkeit der Freiheit“ trennen: „Den Kern
306 Vgl. Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 966-999, hier: S. 969. 307 Vgl. hierzu auch meine Ausführungen zur Rolle der Subjektivierungslinien in der Diskurs- und Machtanalyse Foucaults weiter oben (Kap. 3.1., Subjekt und Subjektivierung, sowie Kap. 3.3., Widerstände und Kriegsmaschinen). 308 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 268. 309 Vgl. ebd., S. 292. 310 Vgl. ebd., S. 283. 311 Vgl. Foucault: Technologien des Selbst, a. a. O. [Anm. 301], S. 968, Herv. v. m., SaS.
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der Machtbeziehungen, der sie immer wieder ‚provoziert‘, bildet die Relativität des Wollens und die Intransitivität der Freiheit“. 312 Wenn auch in vielen Fällen, wie Foucault einräumt, Herrschaftszustände bestehen, die „derart verfestigt [sind], dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit äußerst beschränkt ist“, so gäbe es ohne „Widerstand, Flucht, List, Strategien, die die Situation umkehren, […] überhaupt keine Machtbeziehungen“. 313 Die Technologien des Selbst bilden einen der Ursprünge dieser Widerständigkeit, die Subjektivierungslinien eines jeden Dispositivs sind Fluchtlinien, entlang derer sich die Machttechnologien einrichten, ihren Rückstand allerdings niemals aufzuholen vermögen. Die politische Dimension der Selbsttechnologie entdeckt Foucault zunächst in der Antike, in einer „Frage an die griechische und römischgriechische Kultur“ nach den Bedingungen, „in denen das Menschenwesen das, was es ist, was es tut, und die Welt, in der es lebt, ‚problematisiert‘“. 314 Denn hier erscheinen die Selbstbezüge noch weniger als „Moralverhalten“, das von jenen „Vorschreibeapparaten“, die von der christlich-pastoralen Selbstbekenntnis bis in die moderne Gouvernementalität von Staat, Medizin oder Psychiatrie reichen, bestimmt ist, sondern als gleichsam je singuläre „Bestimmung der ethischen Substanz“. 315 In der Antike treten Selbsttechnologien Foucault zufolge eher als „Künste der Existenz“ auf: „Darunter sind gewußte und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte und gewissen Stilkriterien entspricht“ 316.
Die allzu oft rückschrittlich interpretierte Verlagerung von Foucaults Forschungsfeld in die Antike ab den 1980er Jahren rührt von Praktiken des Selbst her, die „in den griechischen und römischen Zivilisationen eine sehr viel größere Bedeutung und vor allem Autonomie als später“ hatten und mehr noch: eine Moral pflegten, „die im Wesentlichen eine Freiheitspraxis, ein Freiheitsstil“ war. 317 Virulent erscheinen diese antiken, dem christlichen
312 Foucault: Subjekt und Macht, a. a. O. [Anm. 291], S. 257. 313 Vgl. Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 891. 314 Vgl. Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 18. 315 Vgl. ausführlich ebd., S. 36-45. 316 Ebd., S. 18. 317 Vgl. Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 876; sowie Foucault, Michel: Eine Ästhetik Existenz, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 902-909, hier: S. 904. Ausführlich verdeutlicht Foucault das Freiheitspotential einer antiken „Sorge um sich“ im Verhältnis zur christlichen ‚Moralisierung‘ im Feld der Sexualität im zweiten und dritten Band von Sexua-
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Pastorat vorgängigen Selbsttechnologien im Übrigen gerade deshalb, weil die ab dem 16. Jahrhundert einsetzende Gouvernementalisierung nicht bloß die Pastoralmacht in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft verlängert. Sie transponiert zugleich Regierungstechnologien, um sie der expansiven Bewegung einer immer dezentrierteren Welt des Globalen und Normalen anzupassen. Denn moderne Regierungsformen sehen sich gerade mit dem Verlust tradierter Subjektivierungsregime in entwerkten Gemeinschaften konfrontiert, die erneut Potentiale alternativer Selbstbezüge eröffnen: „Von der Antike zum Christentum geht man von einer Moral, die im Wesentlichen Suche nach eine persönlichen Ethik war, zu einer Moral als Gehorsam gegenüber einem System von Regeln über. Und für die Antike interessiere ich mich, weil aus einer ganzen Reihe von Gründen die Idee einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Kodex von Regeln jetzt dabei ist zu verschwinden, bereits verschwunden ist. Und diesem Fehlen einer Moral entspricht eine Suche, muss eine Suche entsprechen, nämlich die nach einer Ästhetik der Existenz.“ 318
Foucaults Analytik der Macht schwenkt so keineswegs in eine undifferenzierte Romantisierung der antiken Welt ein: „Nicht gerade großartig.“, erscheinen ihm die Griechen, denn auch sie scheitern an jenem „Widerstandspunkt […] zwischen einerseits dieser hartnäckigen Suche nach einem bestimmten Existenzstil und andererseits dem Bemühen, ihn zur gemeinsamen Sache zu machen“. 319 Produktiv ist der althistorische Bezug vielmehr, weil sich in ihm eine „Theorie des Subjekts“ als christliche Artefaktualität entpuppt, die es gerade zurückzuweisen gilt, um eine „Analyse der Beziehung zwischen der Konstitution des Subjekts oder verschiedenen Formen des Subjekts und den Spielen der Wahrheit, den Praktiken der Macht usw. vornehmen zu können“. 320 Subjektivität entsteht und verschiebt sich wesentlich in einem Dazwischen. Sich um sich selbst zu sorgen oder selbstbezüglich einen Lebensstil zu finden, bedeutet weder eine bloße Passivität von Subjekten noch deren Unabhängigkeit von Zeit, Gesellschaft und Kultur. Deshalb kommen Selbsttechnologien niemals ohne eine Beziehung aus, wie Foucault schreibt:
lität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste, Die Sorge um sich). Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht außerdem seine Analyse der noch im Christentum persistenten, antiken Praktiken der Askese, die Foucault in seiner Gouvernementalitätsvorlesung dementsprechend als „Gegen-Verhalten“ thematisiert (vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 296-301.). 318 Foucault: Ästhetik Existenz, a. a. O. [Anm. 317], S. 905. 319 Vgl. Foucault, Michel: Die Rückkehr der Moral, in: ders: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 859-873, hier: S. 861. 320 Vgl. ebd., S. 872; Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 888.
230 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN „Das ethos impliziert auch in dem Maße eine Beziehung zu anderen, in dem die Sorge um sich dazu befähigt, in der Polis, in der Gemeinschaft oder in den Beziehungen zwischen den Individuen den gebührenden Platz einzunehmen – sei es um ein öffentliches Amt auszuüben oder um Freundschaftsbeziehungen zu haben.“ 321
Selbsttechnologien im Foucault’schen Sinne unterstreichen damit eine ähnliche Pluralität des Singulären, wie sie Jean-Luc Nancy gegen ein Konzept des Individuums wendet, das „eine immanente Totalität ohne anderes“ suggeriert: „Das Singuläre“, so Nancy, „ist von vornherein jeder Einzelne, folglich auch jeder mit und unter allen anderen“. 322 Machtbeziehungen als Regierungstechnologien zu denken, ermöglicht es gleichsam, diesem MitErscheinen und der Mit-Teilung des Subjektiven in den Spielen von Wissen und Macht Rechnung zu tragen. Denn die Gouvernementalität betrifft exakt die Relationalität des Einzelnen und des Anderen. Zunächst, so expliziert Foucault, „impliziert die Sorge um sich die Beziehung zum anderen auch in dem Maße, in dem man, um sich gut um sich selbst zu sorgen, auf die Unterweisungen eines Meisters hören muss“, also „eines Führers, eines Ratgebers, eines Freundes“ bedarf. 323 Sich als Subjekt zu erheben, das regiert, führt oder steuert, impliziert ebenso, „dass man sich als Subjekt konstituiert hat, das sich um sich selbst sorgt“. 324 In diesem Sinne ist, wie Foucault im dritten Band von Sexualität und Wahrheit schreibt, „[d]ie Rationalität der Regierung über die anderen [...] dieselbe wie die Rationalität der Regierung über sich selbst“. 325 Was diese Verschaltung von Regierungs- und Selbsttechnologien enthüllt, sind einerseits „mobile[e], reversibl[e] und instabil[e]“ Machtbeziehungen, die sich um ein Subjekt falten, das über kein determiniertes Innen
321 Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 883. 322 Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 63, Herv. i. Orig. 323 In Verbindung zu bringen und zu erweitern wäre die Regierung des Selbst und der Anderen, respektive die Irreduzibilität eines plural Singulären gewiss mit einer „Politik der Freundschaft“, wie sie Jacques Derrida dekonstruiert: „[D]ie Quantifikation singulärer Einzelner [wird] stets eine der politischen Dimension der Freundschaft, des Politisch-werdens einer Freundschaft gewesen sein […]“. Deshalb, so Derrida weiter, gibt es „keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität“, aber auch keine Demokratie „ohne ‚Gemeinschaft der Freunde‘ […] ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte“ (vgl. Derrida: Politik der Freundschaft, a. a. O. [Anm. 12], S. 47.). 324 Vgl. Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 883, S. 892. 325 Vgl. Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a.M. 1989, S. 121.
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oder Außen verfügt. 326 Andererseits ist damit auf ein Subjekt verwiesen, das keine Substanz, sondern eine „weder vor allem noch durchgängig mit sich selbst identisch[e]“ Form ist. 327 Es ist eine Form, die nur zwischen Fremdund Selbststeuerung, zwischen einem Selbst und einem Anderen schemenhafte Konturen annehmen kann – und in diesem Dazwischen wirken die Machttechnologien neben und mit den Selbstbezügen. Die Regierung des Selbst und der Anderen vollzieht sich kommunikativ, d.h. sie bedarf der Medialität. Deshalb beschreibt das Konzept einer Gouvernemedialität nicht bloß die regierungstechnologische Metaphorisierungen des Medialen und gouvernemediale Problematisierungen betreffen nicht nur die Reterritorialisierung von Datenwolken oder Kommunikationsnetzen: Als gouvernemedial erweisen sich gouvernementale Machtbeziehungen auch deshalb, weil jede Subjektivierung sich in einem medialen Zwischenraum vollzieht, den die Regierungskunst besetzen muss. Zu diesem Schluss gelangt auf Hannelore %XEOLW]ތ6WXGLH]XUÄ3URGXNWLRQGHV6HOEVWLP|IIHQWOLFKHQ%HNHQQWQLV³ „Selbstdarstellung, -enthüllung und -thematisierung generierende Techniken sind allesamt medial verfasst. Das Verhältnis zu sich und der Prozess der Selbstwerdung sind fundamental an die Fähigkeiten gebunden, sich mit den Augen der anderen, der Umgebung zu sehen – und ihren Blickwinkel antizipierend darzustellen. […] (Re-) Präsentation ist Sichtbarmachung und Narration des eigenen Selbst, visuelle und wortergreifende, sprechende Darstellung für Andere. […] Selbstanalyse, Selbstkontrolle und Selbstdarstellung hängen eng miteinander und mit den technischen Medien sowie den Techniken der Darstellung zusammen.“ 328
Deshalb ist die lange Geschichte der Regierungskünste auch eine der Mediendispositive, die zeithistorisch auf die Formung und Kommunikation eines Selbst ausgerichtet sind. In der antiken Ästhetik der Existenz etwa, so zeigt Foucault in seinem Vortrag zu den Technologien des Selbst 1982, kommt dem Schreiben eine zentrale Rolle zu: „Zu den wichtigsten Praktiken der Sorge um sich selbst gehörte es, das man Aufzeichnungen über sich selbst machte, in der Absicht, sie später wieder einmal zu lesen; dass man Abhandlungen und Briefe an Freunde schickte, die ihnen helfen sollten; dass man Tagebuch führte, um die Wahrheiten, denen man bedurfte, für sich selbst reaktivieren zu können.“ 329
326 Vgl. Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 890, sowie Gilles Deleuzes Denkbild der Subjektivität als Falte (Deleuze: Foucault, a. a. O. [Anm. 267], S. 131-172.). 327 Vgl. Foucault: Ethik der Sorge, a. a. O. [Anm. 295], S. 888. 328 Bublitz, Hannelore: Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis, Bielefeld 2010, S. 57f. 329 Foucault: Technologien des Selbst, a. a. O. [Anm. 301], S. 977f.
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Selbsttechnologien sind in der Antike zunächst ein Aufzeichnen und Aufarbeiten von Erinnerung (hypomnema), die in Tage- und Notizbücher (hypomnemata) erfolgt, vermittels einer Medientechnologie also, von der Foucault sagt, dass sie seinerzeit „genauso revolutionär war wie die Einführung des Computers ins persönliche Leben“. 330 Schon in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung entdeckt Foucault indes eine „andere Methode der Selbstprüfung“, in welcher „der Dialog verschwindet und an seiner Stelle […] ein neues pädagogisches Spiel“ an Bedeutung gewinnt, „bei dem der Meister oder Lehrer spricht, aber keine Fragen stellt, und der Schüler keine Antworten gibt, sondern still und stumm zuhören muss“. 331 Hier verläuft der Selbstbezug gleichsam in umgekehrter Richtung, in einem medialen Dispositiv, das sich weniger durch eine gleichsam ‚selbstständige‘ Verschriftlichung als vielmehr durch eine „Kunst des Zuhörens“ auszeichnet. 332 Ebenso einseitig, doch erneut gegenläufig funktionieren dann Selbstbekenntnis und Geständniszwang in der christlichen Pastoral, d.h. in den Ritualen öffentlicher Busse und im Beichtstuhl. Die christliche Hermeneutik des Selbst, so Foucault, installiert eine „Selbsterforschung im Hinblick auf das Wechselspiel zwischen dem verborgenen Gedanken und einer inneren Unreinheit“. 333 Das korrespondierende Mediendispositiv des Beichtstuhls entspricht mit Hannelore Bublitz gesprochen deshalb einer „mediale[n] (Versuchs-) Anordnung“ oder einem „Medium von Feedbackschleifen“: Hier werden „die Bekenntnisrituale und Geständnispraktiken zum Regelkreis rekursiver
330 Vgl. Foucault, Michel: Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeiten, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 461-498, hier: S. 487f. Diese Einschätzung Foucaults in einem Interview von 1983 stellt Friedrich Kittler seiner Einleitung in den Band Botschaften der Macht voran, der einige für die Medientheorie durchaus programmatische Texte Foucaults in deutscher Übersetzung versammelt (vgl. Kittler, Friedrich: Zum Geleit, in: Michel Foucault, Jan Engelmann (Hg.): Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 7-9, hier: S. 7.). Die bei Kittler nicht weiter ausgewiesene Interviewpassage, die im Übrigen durch weitere Autoren mehrfach sorglos übernommen wurde, dient Kittler hier in erster Linie für eine medienarchäologische Kritik an Foucault, der letzten Endes die medientechnischen Apriori der Geschichte vernachlässigt habe. Doch Kittler zitiert Foucault hier nicht ohne Grund unpräzise und aus jedem Kontext gerissen: Nur wenige Zeilen später präzisiert Foucault nämlich: „Es ist weniger wichtig, ob ein Text mündlich oder schriftlich ist; das Problem ist, ob der betreffende Diskurs Zugang zur Wahrheit verschafft oder nicht. Die Frage des Schriftlichen oder Mündlichen ist also sekundär gegenüber der Frage der Wahrheit.“ (Vgl. Foucault: Genealogie der Ethik, a. a. O., S. 488.) 331 Vgl. Foucault: Technologien des Selbst, a. a. O. [Anm. 301], S. 981f. 332 Vgl. ebd., S. 982. 333 Vgl. ebd., S. 996.
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Effekte, die in der geheimen Verkettung der Ereignisse und dichten Verknüpfung aller Begebenheiten alles konstituieren, nur eins nicht: eine stabile, bleibende Identität“. 334 Noch in der heutigen tele- und intermedial vernetzten Welt perpetuieren Medien mannigfaltige Selbsttechnologien. Fürwahr sind wir, wie Foucault verdeutlicht, zunächst „Erben der christlichen Moraltradition“: 335 Insbesondere die zwischen den 60er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts beschleunigte Verschiebung von der massenmedialen Information zu einem grenzenlosen Kommunikationsdispositiv 336 multiplizierte und mutierte zweifelsohne pastorale Geständniszwänge. Ein auf Skandale und persönliche Verfehlungen spezialisierter Boulevard-Journalismus oder die Ratgeberspalten zu Fragen der Sexualität, Liebe oder Freundschaft in einschlägigen Periodika verweisen bereits auf die mediale Modernisierung älterer Techniken der Selbstbekenntnis. In der Entwicklung von Fernsehformarten der Quiz- und Gameshows über die TV-Talks der 1990er Jahre bis zu den noch jüngst erfolgreichen Talent- uns Schönheitswettbewerben verdeutlicht sich überdies eine der televisuellen Inszenierung gedankte Veröffentlichung mannigfaltiger Geständnisse, die vermehrt als eine Aufgabe der Selbstinszenierung erscheint. 337 In den digitalen Netzwerken des Web 2.0 nun scheinen Selbstdarstellungen das tragende Gerüst jenes ‚user generated contents‘ zu sein, der das Internet zum angeblich demokratisierten Kommunikationsraum erhebt. Darauf verweist schon eine Diskursanalyse der Werbeslogans und Selbstbeschreibungen jener Plattformen, die als Initiantinnen des sozialen Netzes gelten: Der Wahlspruch von Youtube etwa lautet „Broadcast yourself“; das Hauptziel der Fotoplattform flickr liegt darin, „Leuten dabei [zu] helfen, ihre Fotos den Menschen zu zeigen, die ihnen wichtig sind“; Twitter versteht sich als „Echtzeit-Informationsnetzwerk, das Dich mit den neuesten Geschichten, Ideen, Meinungen und Nachrichten über das verbindet, was Du interessant findest“; Facebook stellt bei jedem Besuch die Frage „Was machst Du gerade?“; und die Anmeldung der Konkurrenzplattform Google + erfolgt in zwei Schritten, nämlich „1. Freunde hinzufügen, 2. Sich präsentieren“. Die offenkundige Potenzierung von selbsttechnologischen Metaphorisierungen des Medialen macht im Übrigen auch vor vermeintlich tradierten Mediendispositiven wie der Fotografie nicht halt: Auch wenn Selbstporträts in der Fotografiegeschichte zweifelsohne Tradition haben, so verweist die Tatsache, dass der Neologismus des „Selfie“ unlängst in den Oxford English
334 Bublitz: Im Beichtstuhl der Medien, a. a. O. [Anm. 328], S. 68. 335 Vgl. Foucault: Technologien des Selbst, a. a. O. [Anm. 301], S. 972. 336 Vgl. erneut Dorer: Genealogie des Kommunikationsdispositivs, a. a. O. [Anm. 263]. 337 Vgl. Tholen: Zäsur der Medien, a. a. O. [Anm. 66], S. 147-168, ähnlich zum ‚Talkradio‘ Bublitz: Im Beichtstuhl der Medien, a. a. O. [Anm. 328], S. 119168.
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Dictionary aufgenommen wurde, doch auf einen erheblichen Bedeutungszuwachs dieses Bildgenres. Ein „Selfie“ ist ein eigenhändig geschossenes Foto seiner selbst, „typischerweise mit einem Smartphone oder einer Webcam aufgenommen und auf die Webseiten sozialer Medien hochgeladen“. 338
Abb. 22: „Me, My Selfie, and I“: Auswahl aus den mit dem Hashtag #selfie versehenen Bilder auf Instagram. Das Bildformat ist inzwischen weit verbreitet: Allein die Fotoplattform Instagram verzeichnet im Sommer 2013 an die 32 Millionen Selbstporträts 339 (Abb. 22). Ein Drittel der von zwischen 18- und 24-Jährigen aufgenommenen Fotos, so zeigt eine im britischen The Telegraph thematisierte Studie, sind Selfies – was nicht nur Spekulationen über das nahende Ende des Familienalbums nährt, sondern auch Sorgen darüber weckt, ob zu viele Selbstportraits in sozialen Medien nicht zu einem Egozentrismus führen würden, der die ‚Freunde‘ „befremden“ könnte. 340
338 Vgl. Oxford Dictionaries: „selfie“, URL: http://oxforddictionaries.com/us/ definition/american_english/selfie. 339 Vgl. Hernandez, Selena: Selfies: Me, My Selfie, and I, in: nightcap, Juli 2013, URL: http://nightcaptv.com/2013/07/31/me-my-selfie-and-i/#axzz2ftmWL0DL. 340 Vgl. Hall, Melanie: Family albums fade as the young put only themselves in picture, in: The Telegraph, Juni 2013, URL: http://www.telegraph.co.uk/ technology/news/10123875/Family-albums-fade-as-the-young-put-onlythemselves-in-picture.html; Miller, Tracie: Too many selfies on Facebook can damage relationships: study, in: Daily News, August 2012, URL: http://www.
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Jüngste Entwicklungen im Feld der Medientechnologien wissen um die Hochzeit der Selbstportraits. Neue Mobiltelefone der Marke Samsung verfügen etwa über einen sogenannten „Dual Shot“ Modus: Die Aufnahme eines Bildes beschränkt sich auf Wunsch nicht auf die rückseitige Kamera und den Bildausschnitt vor der Linse, sondern integriert das Gesicht des oder der Fotografierenden über die kleinere Kamera auf der Vorderseite des Smartphones direkt in die Bildkomposition – eine avancierte Methode, so die Werbung für „Dual Shot“, die „Ich-war-da-Momente des Lebens“ festzuhalten (Abb. 23).
Abb. 23: „Dual Shot“: Werbeseite für das Smartphone Samsung Galaxy S4, das die direkte Integration von Selbstporträts in aufgenommene Bilder erlaubt. Insofern jede Subjektivität, wie Hannelore Bublitz schreibt, „an Aufzeichnungs- und Distributionstechniken, an Techniken der medialen (Re-) Produktion“ gebunden ist, erfährt sie in den digitalen Welten ‚sozialer‘ Medien zweifelsohne eine „umfassende Transformation und performative Neucodierung“. 341 Indes greift die Diagnose, dass „narrative und visuelle […] Formen der Selbstthematisierung und -darstellung nicht mehr, wie beim christlich angeleiteten Bekenntniszwang, durch ein übergeordnetes Ziel, etwa die Reflexion der Beziehung des Menschen zu Gott, ausgewiesen“ sind, sondern „selbstreferentiell“ seien, zu kurz. 342 Denn „[a]n die Stelle eines perfekten Selbst, das sich am Ideal einer gelungenen Lebensführung ausrichtet“, so bemerkt Bublitz richtig, „tritt eine – ins Fiktionale – gesteigerte Subjektivität optimierter Selbstentfaltung und Lebensführung, die sich dabei immer zu anderen relationiert, sich des Blickwinkels der anderen versichert, diesen imaginiert und sich insofern auch ‚privat‘ immer im ‚öffentlichen‘ Raum bewegt“. 343
nydailynews.com/life-style/selfies-damage-relationships-study- article-1.14 24830. 341 Vgl. Bublitz: Im Beichtstuhl der Medien, a. a. O. [Anm. 328], S. 169. 342 Vgl. ebd., S. 186. 343 Vgl. ebd., S. 187, Herv. v. m., SaS.
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In dieser veränderten Figur eines optimierten und relationierten Selbst zeichnet sich allerdings ein Makrodispositiv moderner Regierungs- und Steuerungspolitiken ab, das der individualisierenden Diagrammatik der Pastoralmacht in nichts nachsteht: Eine politische Ökonomie ersetzt die Heilsversprechen des Christentums, wobei das Selbst noch immer zum unablässigen Sprechen und Zeigen angehalten, ja nur so überhaupt in dividuelle Kontrolldispositiven einzufassen ist. Die Diskursfiguren des Optimierungsbedürftigen und Unternehmerischen bilden dabei die regierungs- und selbsttechnologische Taktik, welche noch dort Regierbarkeit suggeriert, wo die Subjektivierungslinien den Machttechnologien beständig entfliehen. Die Regierung der Dividuen Im augenscheinlich ungezwungenen Eifer der Selbstdarstellung, der gegenwärtig die digitalen Netze anfüllt, wirkt die gouvernementale These freier Selbsttechnologien seltsam fehl am Platz. Denn gerade die lustvolle Mitteilung seiner selbst im Netz erweist sich als ein Idealfall kontrollgesellschaftlicher Chiffrierung, ja scheint den kühnsten Wunschtraum einer Politik grenzenloser Kommunikation zu übersteigen, jede und jeden noch im letzten Winkel verdaten zu können. Doch diese sich selbstinszenatorisch stetig steigernde Dividualisierung impliziert zugleich eine Eskalierung der Regierungsmechanismen, die sich immer breiter entfalten müssen, um die zergliedernde Individualisierung noch erfassen und steuern zu können. „Herrschaftsfunktion und Kontrollregimes“, so bemerken Michael Hardt und Antonio Negri in Empire, müssen sich nunmehr „in einem Kontinuum entwickeln“, und das „Problem der imperialen Regierung“ besteht folgerichtig darin, „den Integrationsprozess zu leiten“, d.h. sie muss „die gespaltenen und separaten sozialen Kräfte pazifizieren, mobilisieren und kontrollieren“. 344 Hieraus folgt eine Art Paradox, in dem die mikrodispositive Effektivität moderner Regierungstechnologien zugleich zu deren Einschränkung wird: „Genau in dem Ausmaß nämlich, wie die Regierung singularisiert ist und nicht mehr einfach als Ausführende zentralisierter politischer Entscheidungs- und Beratungsorgane funktioniert, wird sie zunehmend selbstständig und verbindet sich enger mit sozialen Gruppen: Firmen, Gewerkschaften, ethnischen oder religiösen, legalen und kriminellen Gruppen etc. Statt zur gesellschaftlichen Integration beizutragen, handelt die imperiale Regierung eher als ein Dispositiv der Streuung und Differenzierung. […] Daher wird Regierungshandeln immer autozentrischer, das heißt, dass es nur noch im Hinblick auf die besonderen Probleme, die es zu lösen hat, funktional ist.“ 345
344 Vgl. Hardt/Negri: Empire, a. a. O. [Anm. 200], S. 348. 345 Ebd., S. 349, Herv. i. Orig.
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Die Steuerungsmechanismen einer modulativen Kontrollgesellschaft können sich weder auf ein universales Zentrum beziehen noch auf eine maßgebliche Souveränität rekurrieren. Moderne Regierungstechnologien sind fraktal und lokal: In einer globalisierten Welt beruht ihre Legitimität, so Hardt und Negri, „auf heterogenen und indirekten Mitteln“, gerade weil „[d]ie vereinheitlichende Grundlage wie der oberste Wert imperialer Regierung […] ihre lokale Wirksamkeit [ist]“. 346 Die Krux einer Gouvernementalität der Gegenwart ist deshalb ihre ständige Verfeinerung: Regierungstechnologien laufen Gefahr, sich in den Chiffren einer dividualisierten Kontrollgesellschaft zu verlieren. Die moderne Aktualisierung der Regierungskunst ist in diesem Sinne von genau denjenigen Momenten gekennzeichnet, die Foucault als maßgeblich für Machtbeziehungen betrachtet, denen Widerstände und GegenVerhalten vorausgehen: Auch wenn sie etwa im Staat oder in Konzernen gewiss immer noch zentripetale Punkte hat, funktioniert Regierung gegenwärtig weitgehend ent-institutionalisiert. Wenngleich überall und abermals Religiöses oder Nationalistisches die politischen Felder zu reterritorialisieren suchen, so beziehen sich Regierungstechnologien doch auf keinen vorgängigen, starren Gegenstand. Und obschon gouvernementale Politiken lücken- und bruchlos, individualisierend und totalisierend zu funktionieren scheinen, zeichnen sie sich vielmehr durch eine fraktale Dysfunktionalität aus, welche das Regieren prozessual zu einem taktischen, d.h. reaktiven Unternehmen macht. 347 Das Zeitalter der Gouvernementalität unterliegt dergestalt einem tiefgreifenden Wandel: Insofern sich die Regierung dezentralisiert, flüchtig und taktisch wird, löst sie sich spätestens im Verlaufe des 20. Jahrhunderts von der Staatsräson und den staatlichen Polizeiinstitutionen ab, welche sie vom 16. Jahrhundert an getragen hatten. 348 Der Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft bedarf zu einem bestimmten Zeitpunkt die Sprengung ersterer: „[D]ie Starrheit dieser standardisierten Teile, dieser durch die Institutionen hervorgebrachten Identitäten“, so argumentieren auch Michael Hardt und Antonio Negri, beginnen „für die weitere Entwicklung von Mobilität und Flexibilität ein Hindernis darzustellen“. 349 Foucault zeichnet diese Bruchlinien der Regierungstechnologien historisch ab dem 18. Jahrhundert in den Entwicklungen des Liberalismus und des Neo-Liberalismus nach: Das Zeitalter der modernen Gouvernementalität erweist sich genaugenom-
346 Vgl. ebd., S. 349. 347 Zur Re-Akzentuierung der Machtbeziehungen bei Foucault vgl. erneut: Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O. [Anm. 28], S. 175-181. 348 Vgl. in diesem Sinne auch Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 157. 349 Vgl. Hardt/Negri: Empire, a. a. O. [Anm. 200], S. 340.
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men als ein „Zeitalter der genügsamen Regierung“, 350 das ganz wesentlich auch von einer Krise des Regierens gezeichnet ist. „[D]er Geburtsort der Politik“, so stellt Foucault am Ende seiner Vorlesung zur Geburt der Biopolitik 1979 fest, liegt „in einem Spiel […] verschiedene[r] Regierungskünste mit ihren verschiedenen Registern“ und in der „Debatte, die diese verschiedenen Regierungskünste entfachen“. 351 Bis zum 19. Jahrhundert vervielfältigen sich die Regierungsmodalitäten, welche – sich teils gegenseitig stützend, teils einander zuwiderlaufend – die „moderne Welt“ ausmachen: „Die Regierungskunst gemäß der Wahrheit, die Regierungskunst gemäß der Rationalität des souveränen Staats, die Regierungskunst gemäß der Rationalität der Wirtschaftsakteure, allgemeiner, die Regierungskunst nach Maßgabe der Rationalität der Regierten selbst. All diese verschiedenen Regierungskünste, diese verschiedenen Arten der Berechnung, der Rationalisierung, der Regelung der Regierungskunst, die sich gegenseitig überschneiden, bilden insgesamt den Gegenstand der politischen Debatte seit dem 19. Jahrhundert.“ 352
Die Differenz dieses multilinearen Dispositivs alternierender Regierungstechnologien zur frühneuzeitlichen Gouvernementalität der Staatsräson und Polizeiwissenschaft liegt im Auftauchen eines ökonomischen Regierungsprinzips, näherhin des Liberalismus. Dieser allerdings bewirkt nicht bloß ein neues Führungsdenken unter der Rigide des Marktes, sondern grundlegender die Ausdehnung seiner Prinzipien in eine „phänomenale Republik der Interessen“. 353 Der strategische Zug des Liberalismus besteht Foucault zufolge darin, den Markt nicht länger als ein (juridisch) reguliertes Feld gelten zu lassen, sondern ihn zu „einem Ort des Wahrspruchs oder der Veridiktion“ 354 zu erklären, d.h. ihm eine gesetzgebende Funktion zuzusprechen. Der Ausgangspunkt des Liberalismus bildet eine Um- und Übercodierung des Marktes, der von einem seit dem Mittelalter „mit Reglementierungen belegte[n] Ort“ zu etwas wird, „das ‚natürlichen‘ Mechanismen gehorchte und gehorchen sollte, d.h. spontanen Mechanismen“. 355 Von daher bedeutet der Liberalismus eine veränderte politische Rationalität: 356 Er verlangt anzuerkennen,
350 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, a. a. O. [Anm. 172], S. 51. 351 Vgl. ebd., S. 429f. 352 Ebd., S. 429. 353 Vgl. ebd., S. 76. 354 Vgl. ebd., S. 56. 355 Vgl. ebd., S. 53f. 356 „Der Liberalismus“, schreibt Foucault, ist „als Prinzip und Methode der Rationalisierung der Regierungsausübung zu analysieren – einer Rationalisierung,
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„daß es irgendwo eine Begrenzung der Regierung geben muß, die nicht einfach ein äußerliches Recht sein darf“. 357 Deshalb stellt sich für den Liberalismus die Frage nach einer genügsamen Regierung: Er ist „eine Form der kritischen Reflexion über die Regierungspraxis“, 358 die – wie Foucault illustriert – mit Modellen staatlicher Regierung weitgehend brechen muss: „Ob es sich nun um das Tableau der Physiokraten oder um die ‚unsichtbare Hand‘ Adam Smiths handelte, also um eine Analyse, die darauf gerichtet ist, in der Form der ‚Evidenz‘ die Wertbildung und die Zirkulation des Reichtums sichtbar zu machen, oder im Gegensatz dazu um eine Analyse, die die Unsichtbarkeit des Zusammenhangs zwischen dem individuellen Profitstreben und dem Wachstum des kollektiven Reichtums voraussetzt, auf jeden Fall zeigt die Ökonomie eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen der optimalen Entfaltung des ökonomischen Prozesses und der Maximierung der Regierungsprozeduren.“ 359
Das ökonomische Regierungsdispositiv ist vom argwöhnischen Verdacht durchdrungen, dass „stets zuviel regiert [wird]“ und die „Frage der Genügsamkeit der Regierung [ist] gerade die Frage des Liberalismus“. 360 Diese Frage aber richtet sich konsequenterweise nicht nur an den Staat und seine polizeilichen Institutionen, sondern auch an seine Subjektivierungsregime. Denn aus liberalistischer Perspektive betrifft die Spontaneität des Marktes mehr als unmittelbar wirtschaftliche Prozesse wie die Preisbildung: Sie konstatiert, so Foucault, zugleich eine „Natürlichkeit der Individuen“, jedoch „nicht als gehorsame oder ungehorsame Untertanen, sondern insofern sie selbst an diese wirtschaftliche Natürlichkeit gebunden sind […]“. 361 Charakteristisch für die liberale Regierungskunst ist, wie Thomas Lemke schreibt, eine ‚Freiheit‘ der Individuen, jedoch nur insofern, als dass diese ‚Freiheit‘ gegen staatliche Herrschaftstechniken gewendet werden kann, um in der Folge eine veränderte Beziehung zwischen Regierung und Regierten zu etablieren: „Das Prinzip der Regierung erfordert die ‚Freiheit‘ der Regierten, und der rationale Gebrauch dieser Freiheit ist die Bedingung einer ökonomischen Regierung. Die Kunst der liberalen Regierung besteht darin, an die Stelle einer äußerlichen Begrenzung über das Recht eine interne Regulation zu setzen: die Politische Ökonomie.“ 362
357 358 359 360 361 362
die, und hierin liegt ihre Besonderheit, der internen Regel maximaler Ökonomie gehorcht“ (vgl. ebd., S. 436.). Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 441. Ebd., S. 439. Vgl. ebd., S. 437, S. 51. Vgl. ebd., S. 42. Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 171f., Herv. i. Orig.
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In diesem Sinne formiert der Liberalismus eine moderne „Regierungskunst nach Maßgabe der Rationalität der Regierten selbst“: 363 Diese Rationalität ist freilich nichts anderes als das Subjektivierungsregime eines Homo oeconomicus, der dem Prinzip des Interessens, d.h. „einer individuellen, nicht weiter zurückführbaren und unübertragbaren Entscheidung“ gehorcht. 364 In dieser selbsttechnologischen Strategie erweist sich der Liberalismus als Motor einer neuen Gouvernementalität, welche die staatlichen Regierungsmodelle in erster Linie kritisiert, um das Diagramm einer zugleich individualisierenden und totalisierenden Steuerungslogik weiter voranzutreiben. Der ökonomisch denkende und handelnde Mensch erlaubt, wie Foucault zeigt, zugleich eine Universalisierung und Verfeinerung der Regierung: „Der Homo oeconomicus ist der Mensch, der seinen Interessen gehorcht. Es ist der Mensch, dessen Interesse derart ist, daß es spontan mit dem Interesse der anderen usw. konvergiert. Der Homo oeconomicus ist, vom Standpunkt einer Theorie der Regierung aus gesehen, derjenige Mensch, der nicht angerührt werden soll. […] Er ist das Subjekt oder das Objekt des Laissez-faire. Er ist jedenfalls der Partner einer Regierung, deren Regel das Laissez-Faire ist. Und nun sieht man […], daß dieser Homo oeconomicus gerade als etwas Handhabbares erscheint, als jemand der systematisch auf systematische Variationen reagieren wird, die man auf künstliche Weise in die Umgebung einführt. Der Homo oeconomicus ist der Mensch, der in eminenter Weise regierbar ist.“ 365
Der Liberalismus perfektioniert seine Regierungskunst also zunächst dahingehend, dass er sie weiter individualisiert, d.h. sich auf eine selbsttechnologisch begründete Ökonomie stützt. Gleichzeitig ist dieses ökonomische Selbst skalierbar – und zwar bis zur Multiplizität einer Gesellschaft. Die liberale Kritik am interventionistischen Staat, so Foucault, lässt sich „nur schwer von einer für die Epoche neue Problematik der Gesellschaft trennen“. 366 Das Ausmaß, ja die grundsätzliche Notwendigkeit einer staatlichen Regierung steht für den Liberalismus gerade auch deshalb in Frage, weil sich die ökonomisch-rationalisierten Subjekte nicht je alleine auf den Markt beziehen, sondern „ihre Zahl, ihre Lebenserwartung, ihre Gesundheit, ihre Verhaltensweisen sich in vielschichtigen und verwickelten Beziehungen zu diesen Wirtschaftsprozessen befinden“. 367 Auch im Liberalismus entspricht die Logik der Selbstregierung jener der Regierung der anderen. Sich gegen eine Regierung des Staates willen wendend, geht das liberale Denken
363 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, a. a. O. [Anm. 172], S. 429. 364 Vgl. ebd., S. 374. 365 Ebd., S. 371f., Herv. i. Orig. 366 Vgl. ebd., S. 437. 367 Vgl. ebd., S. 42.
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Foucault zufolge „von der Gesellschaft aus, die sich in einem komplexen Exterioritäts- und Interiortitätsverhältnis zum Staat befindet“. 368 Von daher rührt auch die Titelgebung der Vorlesung von 1979, Die Geburt der Biopolitik: Diese ist „ein Teil von etwas viel Größerem, das diese neue gouvernementale Vernunft ist“ und es gilt folgerichtig nunmehr, „[d]en Liberalismus als allgemeinen Rahmen der Biopolitik zu untersuchen“. 369 Allerdings ist das Prinzip individueller und kollektiver Freiheiten, welche die marktwirtschaftlich orientierte Regierung vermeintlich impliziert, keineswegs jene natürliche Gegebenheit, die der frühe Liberalismus propagiert. Vielmehr handelt es sich um eine taktische Übercodierung und Reterritorialisierung politischer Phänomenalität: „Die neue gouvernementale Vernunft“, schreibt Foucault, „braucht […] die Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit“ und sie stellt sich als „Manager der Freiheit“ dar. 370 Die vermeintlich vorgängige Freiheit ist eine vorgegebene, weshalb sie sich im gleichen Masse zu verflüchtigen droht, wie der Liberalismus sie hervorzubringen trachtet: „Wenn dieser Liberalismus nicht so sehr der Imperativ der Freiheit ist, sondern die Einrichtung und Organisation der Bedingungen ist, unter denen man frei sein kann, dann wird im selben Zug im Zentrum dieser liberalen Praxis ein problematisches, ständig wechselndes Verhältnis zwischen der Produktion der Freiheit und dem hergestellt, was, indem sie es herstellt, sie auch zu begrenzen und zu zerstören droht. […] Mit einer Hand muss die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, daß man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt.“ 371
Dem Liberalismus stellt sich ein vergleichbares Problem der Sicherheiten, das schon die staatlichen Polizeiinstitutionen forderte: Die Freiheit des Handels, die Vertrags-, Rede- oder Bewegungsfreiheit, schließlich das Interesse des Einzelnen gegenüber den vielen und der vielen gegenüber dem Einzel-
368 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, a. a. O. [Anm. 172], S. 437. Freilich geht es Foucault hier nicht um eine einfache Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft: „Anstatt aus der Unterscheidung von Staat und Zivilgesellschaft eine historische und politische Universalie zu machen, die es gestattet, alle konkreten Systeme zu untersuchen, kann man versuchen, in ihr eine Form der Schematisierung zu sehen, die einer spezifischen Technologie der Regierung eigen ist“ (ebd., S. 438.). 369 Vgl. ebd., S. 43. 370 Vgl. ebd., S. 97. Überhaupt ist Freiheit nicht außerhalb der Machtbeziehungen zu denken, ein Prinzip, dem auch die frühere Analytik der Macht Foucaults schon folgt. Freiheit ist nichts Vorgängiges: „Die Freiheit ist niemals etwas anderes – und das ist schon viel – als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten […].“ (Vgl. ebd.) 371 Ebd., S. 98.
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nen, muss geschützt werden, um Ungleichgewichte zu verhindern. Die Logik der freien Marktwirtschaft bedarf eines Sicherheitsdispositivs. Paradoxerweise ist der schwerwiegendste Effekt des Liberalismus dieses notwendige Regierungsmodell, das „die gewaltige Ausbreitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung des Zwangs“ organisiert und also abermals disziplinarisch verfährt. 372 Deshalb führt die liberale Regierungskunst unweigerlich in eine ganze Serie von Widersprüchen und Spannungen, die Foucault unter einer allgemeinen „Krise der Gouvernementalität“ subsumiert: 373 Dass die Sicherung wirtschaftlicher Freiheit selbst wirtschaftliche Kosten verursacht oder die schwelende Kritik an den interventionistischen Sicherheitsmechanismen stets von neuem aufflammt, ist nur der eine Aspekt dieser Krise. Ihre Kehrseite ist das Scheitern der liberalen Sicherheitsdispositive in einer gesellschaftlichen Dimension, die gefährliche Eigendynamiken entwickelt: Der Liberalismus verantwortet mitunter die Phänomene der Massenarmut, aber auch eine organisierte Arbeiterbewegungen und ihre Aufstände. Zudem erweist sich die propagierte Trennung von Staat und Ökonomie überall dort unhaltbar, wo die ökonomischen Ungleichheiten die Prinzipien politischer Gleichheit verhindern. 374 Die liberale Regierungsrationalität resultiert abermals in einem Unvermögen, die vielschichten Widerspenstigkeiten individueller wie kollektiver Kritik zu regulieren. Auch wenn der Widerstand gegen die neue Gouvernementalität gewiss nicht in der liberalistisch geschaffenen ‚Freiheit‘ zu suchen ist: Er ist auch hier vor- und durchgängig, weil er zunächst eine liberalistische Modernisierung staatlicher Gouvernementalität erzwingt und in der Folge noch diese in eine Krise stürzt. Noch in ihrer flexibel und dynamisch konnotierten, liberalen Fassung sind Regierungstechnologien und Steuerungsmechanismen weniger ein hegemoniales Apriori als vielmehr eine Taktik der Aufstandsbekämpfung. 375
372 Vgl. ebd., S. 102. Foucault unterstreicht die historische Gleichzeitigkeit von Liberalismus und Disziplinartechniken explizit, „die beiden Dinge sind vollkommen miteinander verknüpft“ (vgl. ebd.). 373 Vgl. ebd., S. 104-107. 374 Wie Thomas Lemke zeigt, taucht im 19. Jahrhundert die weder distinkt ökonomisch noch politisch fassbare Problematik der „Sozialen Frage“ auf. Foucault scheint diese ‚gesellschaftliche‘ Dimension einer Krise der Gouvernementalität angedeutet, indes nicht ausgeführt zu haben. Hingegen setzen hier viele Arbeiten aus seinem unmittelbaren Umfeld an, etwa diejenigen von Robert Castel, Daniel Defert, Jacques Donzelot, François Ewald oder Giovanna Procacci. Für eine hervorragende Zusammenfassung dieser Beiträge vgl. Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 192-233. 375 Ich beziehe mich hier auf den von Nicholas Mirzoeff brillant analysierten Begriff der „counterinsurgency“, der seit 2006 eine zentrale Strategie der USamerikanischen Kriegsführung ist und etwa bei der Besetzung des Iraks 2007
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Die Konsequenz ist eine erneute Verschiebung der Regierungsrationalität im 20. Jahrhundert, die sich nunmehr den inhärenten Paradoxa jedes Regierungsdispositivs gewahr zu werden scheint. Der Neoliberalismus, den Foucault sowohl in seiner deutschen wie in seiner amerikanischen Entwicklungsgeschichte untersucht, zeichnet sich wesentlich durch eine im weitesten Sinne dynamischere Konzeption aus, die das Scheitern der Regierung genauso wie die Widerstände gegen sie produktiv zu machen sucht. Bezog sich der Liberalismus auf die Veridiktion einer freien Marktwirtschaft, die er indes weder gegen staatliche Institutionen, noch gesellschaftliche Probleme oder individuelle Widerstände vollständig zu behaupten vermochte, so erprobt der Neoliberalismus nun die Möglichkeit, die marktwirtschaftliche Logik gleichsam aktiv in alle Bereiche zu übertragen, die ihr bislang gegenüberstanden. Dem Neoliberalismus geht es nicht länger bloß darum, der Wirtschaft Freiheit einzuräumen und diese Freiheit abzusichern. Vielmehr stellt sich ihm Foucault zufolge die Frage, „bis wohin sich die politische und soziale Informationsgewalt der Marktwirtschaft erstrecken kann“. 376 Hierfür wird zunächst eine Umcodieren des Marktes selbst notwendig: Dieser kann nicht länger auf wirtschaftliche Prinzipien im engeren Sinne beruhen, sondern muss fortan einer schmiegsameren, d.h. makropolitischen Logik gehorchen. Die erste Verschiebung, die der Neoliberalismus vornimmt, „betrifft den Tausch und geht vom Tausch zum Wettbewerb als Prinzip des Marktes über“. 377 Dieses Wettbewerbsprinzip aber, so unterstreicht Foucault, ist unvereinbar mit jener vermeintlichen Natürlichkeit des Homo oeconomicus, die noch der Liberalismus postulierte: „Seine günstigen Wirkungen verdankt der Wettbewerb nicht einer vorgängigen Natur […], er verdankt sie einem formalen Prinzip“ und bringt „seine Wirkungen als wesentliche Logik der Wirtschaft nur unter einer Reihe von Bedingungen hervor, die sorgfältig und künstlich hergestellt werden müssen“. 378 Folgerichtig expandieren neolibe-
zur Anwendung gelangte. Mirzoeff zeigt nicht nur, dass die Idee der counterinsurgency die Gouvernementalität militarisiert hat, sondern leitet hieraus auch politisch-widerständige Formen von Sichtbarkeitsordnungen („countervisuality“) ab, die sich gegen die Macht hegemonialer Blickregime wendet: „The ‚realism‘ of countervisuality is the means by which one tries to make sense of the unreality created by visuality’s authority while at the same time proposing a real alternative. It is by no means a simple or mimetic depiction of lived experience but one that depicts existing realities and counters them with a different realism.“ (Vgl. Mirzoeff, Nicholas: The Right to Look, in: Critical Inquiry, Bd. 37, Nr. 3, 2011, S. 473-496, hier: S. 485f.) 376 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, a. a. O. [Anm. 172], S. 169. 377 Vgl. ebd., S. 170. 378 Vgl. ebd., S. 172f.
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ralistische Politiken 379 den Defiziten ihrer liberalen Wurzeln zum Trotz ihre Regierungsbemühungen: „Es wird ein Spiel des Marktes geben, das man unbeeinflußt lassen soll, und dann einen Bereich, in dem der Staat zu intervenieren beginnen wird, weil eben der Markt oder der reine Wettbewerb, der das Wesen des Marktes ist, nur dann in Erscheinung treten kann, wenn er hergestellt wird, und zwar von einer aktiven Gouvernementalität. […] Die Regierung muss die Marktwirtschaft von vorne bis hinten begleiten. Die Marktwirtschaft nimmt der Regierung nichts weg. Im Gegenteil […] stellt [sie] eine allgemeine Anzeige dar, nach der man die Regel ausrichten soll, die alle Handlungen der Regierung bestimmen wird.“ 380
Unter dem Vorzeichen eines universal anwendbaren Wettbewerbsprinzips verstetigt der Neoliberalismus die Regierungsaufgabe in jenes bruchloses Kontinuum, das schon die modulative Chiffrierung der Kontrollgesellschaft anzeigt: Regieren hat nicht länger die Funktion, als Trennwand oder Vermittlung zwischen die vermeintlich getrennten politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Sphären zu treten 381 – und es braucht auch nicht länger zwischen individuell und kollektiv wirksamen Machttechnologien zu differenzieren. Vielmehr wird die Regierung im Neoliberalismus zur phantasmatischen Idee einer im kleinen wie im großen wirksamen, jede und jeden erfassenden und steuernden Politik, deren übercodierte Figur Foucault zufolge das Unternehmen ist: „Was man also zu erreichen sucht, ist nicht eine Gesellschaft, die dem Wareneffekt unterliegt, sondern eine Gesellschaft, die der Dynamik des Wettbewerbs untersteht. Keine Gesellschaft von Supermärkten, sondern eine Unternehmensgesellschaft. Der homo oeconomicus, den man wiederherstellen will, ist […] der Mensch des Unternehmens und der Produktion.“ 382
Dieses neue Unternehmensdispositiv ist für Foucault charakteristisch für jüngere Regierungs- und Selbsttechnologien, es scheint ihm 1979 „für die
379 Der Wandel vom Tausch zum Wettbewerb als dominierendes Marktprinzip zeichnet Foucault in erster Linie im deutschen Ordoliberalismus nach (vgl. ausführlich die Vorlesungen vom 31. Januar und vom 7. Februar 1979 in: ebd., S. 112-184. 380 Ebd., S. 174. 381 Vgl. in diesem Sinne ebd., S. 206f. 382 Ebd., S., 208, Herv. i. Orig. Die Expansion der neoliberalen Marktwirtschaft in eine Unternehmensgesellschaft ist Foucault zufolge vor allem dem amerikanischen Neoliberalismus zu verdanken. Für einen prägnanten Vergleich mit der „sozialen Marktwirtschaft Deutschlands“ vgl. ebd., S. 443 sowie Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 234-246.
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„meisten Regierungen kapitalistischer Länder zum Programm geworden“ zu sein. 383 Symptomatisch ist etwa, wie die Redefigur des Humankapitals aus der Arbeitskraft eine „Kompetenz/Maschine“ formt, von der vor allem eine uneingeschränkte Mobilität erwartet wird. 384 Der gewichtigste Vorteil neoliberalistischer Regierung besteht freilich in den ihr inhärenten Subjektivierungsregimen: Sie erlauben es, so Foucault, „Verhaltensweisen in Begriffen des individuellen Unternehmens zu analysieren, eines Unternehmens seiner selbst mit Investitionen und Einkommen“. 385 Dass „die Unternehmen eine Seele haben“, schreibt Gilles Deleuze in seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, sei „wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt“. 386 Erschreckend ist allerdings auch die Umkehr dieses Vergleichs, dass nämlich die Seele ein Unternehmen ist, d.h. sich – immer unabgeschlossen und optimierungsbedürftig – in ständiger Entwicklung und stetigem Wachstum befinden muss. Das Subjekt der neoliberalen Regierung ist ein unternehmerisches Selbst. In seiner gleichnamigen Studie beschreibt Ulrich Bröckling die spezifische Verknüpfung von Regierungs- und Selbsttechnologien, die das unternehmerische Selbst zum politischen Makrodispositiv der Gegenwart erheben: „In der Figur des unternehmerischen Selbst verdichten sich sowohl normatives Menschenbild wie eine Vielzahl gegenwärtiger Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamen Fluchtpunkt die Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship bildet. Der Topos bildet nicht nur einen Kanon von Handlungsmaximen, sondern definiert auch die Wissensformen, in den Individuen die Wahrheit über sich erkennen, die Kontroll- und Regierungsmechanismen, denen sie ausgesetzt sind, sowie die Praktiken, mit denen sie auf sich selbst einwirken. Anders ausgedrückt: Ein unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden. Und man kann es nur werden, weil man immer schon als solches angesprochen ist.“ 387
383 Vgl. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, a. a. O. [Anm. 172], S. 211. 384 Vgl. ebd., S. 314-320. 385 Vgl. ebd., S. 321. 386 Vgl. Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 207], S. 260. 387 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007, S. 74. Bröcklings lesenswerte Studie arbeitet die Konturen des unternehmerischen Selbst zunächst an der Ratgeberliteratur der 90er Jahre heraus, die sich als richtiggehende „Bauanleitungen für die IchAG“ präsentiert, um in der Folge einige zentrale Konzepte des makrodispositiven Unternehmertums aufzuzeigen, etwa die Figur der Kreativität, die Idee des Empowerment, die Programme des Qualitäts- und Projektmanagements (vgl. ebd.).
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Das Unternehmen ist eine vollständig skalierbare und also zumindest vermeintlich universal anwendbare Figur. „In der neoliberalen Rationalität“, schreibt ähnlich Thomas Lemke, sind ökonomischer Wohlstand und persönliches Wohlsein eng miteinander gekoppelt“, d.h. „es gibt keine Schranke zwischen dem Ökonomischen, dem Psychologischen und dem Sozialen“. 388 Ebendarin entspricht diese neue Regierung der kontrollgesellschaftlichen Logik einer unmittelbaren und omniversalen Kommunikation: Beide produzieren keine starre Subjektivität, sondern, wie Michael Hardt und Antonio Negri argumentieren, eine, „die keiner Identität und allen zugehörig [ist] – außerhalb der Institutionen und doch ihren Disziplinarlogiken noch intensiver unterworfen“. 389 Die Dividualisierung der ‚Individuen‘ korreliert mit einer Dynamisierung von Steuerungsmechanismen: Regierung wie Kontrolle werden in einer entgrenzten Welt zugleich kurzfristig und kontinuierlich, miniaturisiert und skalierbar. Das Strategem der Unternehmensfigur erlaubt die an und für sich widersprüchliche Produktion eines ‚autonomen Selbst‘, das umgekehrt zur Ressource und zum Kapital einer ganzen Unternehmensgesellschaft von Firmenstrukturen, Managementprogrammen und Beratungsangeboten wird. 390 „Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle“, so Deleuze weiter, „und formt die schamlose Rasse unserer Herren“. 391 Zugleich aber sind Dynamik, Wachstum und Erfolgsstreben die Euphemismen einer permanenten Unabgeschlossenheit, die nicht nur das neoliberale Subjektivierungsregime, sondern auch die Kontroll- und Sicherheitsdispositive jeder Regierung betrifft. Genauso, wie Ulrich Bröckling zufolge „das unternehmerische Selbst nur im Gerundivum“ besteht, so verweist nun auch jede ‚gute‘ oder ‚genügsame‘ Regierung auf ihre Entwicklung und künftige Perfektionierung – und also auf ihre aktuellen Mängel. Die Aufstandsbekämpfung der neoliberalen Gouvernementalität persifliert ihre Taktiken als Strategie: Insofern die Regierungskunst sich hier ‚selbst‘ ähnlich den Regierten als a priori unfertige Entwicklung konnotiert, suggeriert sie die vereinnahmende Antizipation jedes Widerstands – und also dessen Delegitimierung ex ante. Tatsächlich aber erweisen sich gesteigerte Produktivität, variable Flexibilität und die ad absurdum geführte Wettbewerbsfähigkeit als „flüchtige Ziele“, 392 deren Unerreichbarkeit das beständige Scheitern von neoliberaler Regierung und kontrollgesellschaftlicher Modulation anzeigt. Das pausenlose Taktieren der Unternehmens- und Kontrollgesellschaft spiegelt sich abermals in gegenwärtigen Mediendispositiven: auch die neoliberale Regierungsrationalität vollzieht sich entschieden gouvernemedial.
388 389 390 391 392
Vgl. Lemke: Kritik der politischen Vernunft, a. a. O. [Anm. 153], S. 250. Vgl. Hardt/Negri: Empire, a. a. O. [Anm. 200], S. 340. Vgl. Miller/Rose: Governing the present, a. a. O. [Anm. 181], S. 48-50. Vgl. Deleuze: Kontrollgesellschaften, a. a. O. [Anm. 207], S. 260. Vgl. Miller/Rose: Governing the present, a. a. O. [Anm. 181], S. 50.
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Das gilt an erster Stelle, weil noch das unternehmerische Selbst der Präsentation bedarf, nicht nur seiner Kontrollierbarkeit willen, sondern um überhaupt als gleichsam mikrologisches Pendant der Unternehmensgesellschaft erscheinen zu können. Der Zwischenraum von modernen Regierungs- und Selbsttechnologien wird deshalb von Mediendispositiven operationalisiert, welche einerseits das Projekt eines sich unablässig selbstinszenatorisch fortschreibenden Selbst fordern. Andererseits sind jüngste Metaphorisierungen des Medialen gleichfalls neoliberal, d.h. dynamisch und fragmentarisch konnotiert: Mediendispositive werden, zumal seitens der Hersteller medientechnischer Apparate und Gadgets oder seitens der Unterhaltungsindustrie, weniger als abgeschlossene Systeme starrer Kommunikationsmodi oder unveränderlicher Ästhetik denn vielmehr als eine Dynamik stetiger Innovation und Aktualisierung akzentuiert. Für das ‚neue‘ Fernsehen etwa zeigt Markus Stauff, dass sich aktuelle televisuelle Innovationen vor allem durch die Versprechen von Optimierung und Individualisierung auszeichnen, die sich freilich hauptsächlich auf das Medium ‚selbst‘ beziehen: „Das Problem, das mit dem Medium bearbeitet werden soll, ist in erster Linie das Medium selbst. Mediale Defizite sollen überwunden, Funktionen des Mediums gesteigert und überboten werden; die Bedienung des Fernsehens soll nicht erleichtert werden, um etwas Bestimmtes mit dem Fernsehen erreichen zu können, sondern alleine, um ‚besser‘ fernzusehen. Begriffe wie ‚Vergnügen‘ und ‚Spaß‘, aber auch ‚Information‘ tauchen in diesem Zusammenhang als Hilfsbegriffe auf, die mögliche Rationalitäten des Fernsehens andeuten; sie werden allerdings nicht positiv konkretisiert, sondern dienen vor allem dazu, Defizite zu markieren, die einem optimalen Fernsehen gegenwärtig noch im Weg stehen.“ 393
Im Zeitalter digitaler Medien findet sich diese Optimierungsversprechen vervielfacht: Nicht nur die allgegenwärtigen Tablets und Smartphones, sondern vermehrt auch Computer am Arbeitsplatz, Fernsehgeräte im Wohnzimmer oder Navigationsgeräte im Fahrzeug werden erst vermittels ständiger Erweiterung und permanenter Aktualisierung zu jenen ‚innovativen‘ oder ‚sozialen‘ „Lebensbegleitern“, 394 welche das Marketing prophezeit.
393 Stauff, Markus: ‚Das neue Fernsehen‘. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005, S. 211. 394 Als „Life companion“ vermarktet etwa Samsung seit 2013 ausgewählte Smartphones: „Make your life richer, simpler, and more fun. As a real life companion, the new Samsung GALAXY S4 helps bring us closer and captures those fun moments when we are together. Each feature was designed to simplify our daily lives. Furthermore, it cares enough to monitor our health and wellbeing. To put it simply, the Samsung GALAXY S4 is there for you.“ (Vgl. Samsung: „Samsung Galaxy S4. Life companion“, URL: http://www.samsung. com/global/microsite/galaxys4.)
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Digitale Gerätschaften der neusten Generation gelten in aller Regel buchstäblich als Konfigurationen, erscheinen sie doch wesentlich als geschmeidige Hüllen, die mit Applikationen aus schier uferlosen Märkten wie dem Apple App Store oder Google Play anzufüllen sind. Der Apple-Werbeslogan für die erste iPhone-Generation von 2009, „There is an app for just about anything.“, kann längst als medienbestimmendes Programm gelten: Die dominierende Metapher digitaler Mediendispositive ist gegenwärtig das Update. Zu aktualisieren sind nicht nur die beständig veraltenden Applikationen und Programme, sondern die immer fragmentarisch bleibende Funktionalität und Ästhetik digitaler Geräte überhaupt. Gewiss geht mit solchen Metaphorisierungen des Medialen, wie Markus Stauff vorschlägt, eine „Problematik des Zugriffs“ einher, die „von ökonomischen Kalkülen gestützt wird“ und sich als „Artikulation eines individuellen Wollens und Wünschens“ manifestiert. 395 Gerade diese Individualisierungsfunktion entspricht freilich jener Taktik gouvernemedialer Politiken des Neoliberalismus, die Schnittstelle selbst- und regierungstechnologischer Unternehmensdispositive zu bewirtschaften. Offenkundig wird die dividualisierende und dynamisierende Verschaltung von Regierungsprogramm und Subjektivierungsregime auch am Beispiel des populärsten ‚sozialen‘ Netzes Facebook in dessen 2011 eingeführten ‚Timeline‘-Profil.
Abb. 24: Porträt und Hintergrundbild in der Facebook Timeline. Still aus einem Einführungsvideo. ‚Facebook Timeline‘, zu Deutsch: ‚Facebook Chronik‘, ersetzte ab Frühjahr 2012 die ältere Profilseiten der Facebook-Nutzerinnen und Nutzer. Zu den entscheidenden Neuerungen zählte einerseits die verstärkte Visualisierung in Form eines großen ‚Hintergrundbildes‘ im oberen Seitenbereich, das
395 Vgl. Stauff: Das neue Fernsehen, a. a. O. [Anm. 393], S. 208.
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durch das eigene Profilbild überlagert und von den wichtigsten Informationen zum aktuellen Arbeitsplatz, Ausbildung, Wohnort oder Beziehungsstatus flankiert wird (Abb. 24). Darunter folgen zwei Spalten, in der sich entlang eines Zeitstrahls wahlweise eigene Posts, Bilder, besuchte Orte oder neue ‚Freundschaften‘ mehr oder minder prominent einordnen lassen. Diese Darstellung ist mindestens ‚zurückscrollbar‘ bis zum Facebook-Beitritt, werden noch ältere Bilder und Ereignisse erfasst, theoretisch sogar bis zur Geburt. Das Resultat ist ein idealiter lückenloser Strom des ‚eigenen Lebens‘, der sich tagtäglich aus neuen Aktivitäten und Beiträgen speist: Was auf der eigenen Timeline zu sehen ist, können Nutzerinnen und Nutzer weitgehend selbst entscheiden. Indes übernimmt Facebook vorschlagshalber nach spätestens sieben Tagen alle Aktivitäten in die Timeline, so diese denn nicht fortlaufend bearbeitet und gestaltet wird. Insbesondere auch außerhalb von Facebook besuchte Webseiten, gelesene Artikel oder kommentierte Bildern sollen in der ‚Lebenschronik‘ erfasst und dargestellt werden. 396 Die intermedialen Verkreuzungen des Internets finden hier eine nutzerzentrierte Plattform. Doch die eigene ‚Chronik‘ ist in der Timeline niemals vollständig und detailliert genug. In der Tat kann Facebook, wie Carolin Wiedemann schreibt, als „Assessment-Center der alltäglichen Lebensführung“ gelten, das unternehmerische Subjekte „fordert und fördert, die sowohl marktförmig angepasst und konkurrenzorientiert als auch kreativ und kommunikativ sind“. 397 Diesem zugleich unabgeschlossenen, in Fenstern fragmentarisierten und entlang des Zeitstrahls dynamisierten Selbst entspricht die Inszenierung eines ‚Mediums Facebook‘ durch dessen Betreiber. Ein Werbevideo 398 zur Einführung der Timeline präsentiert ihr Format als eine intermediale Konfiguration, die in einem gleichsam berauschenden Vorwärtstaumeln dem im Vergleich fast statisch wirkenden oberen Seitenrand des Facebook-Profils entgegenstürmt. Ausgehend von einem einfachen Textkasten mit einem Geburtsdatum schwenkt die Einstellung zunächst langsam, dann immer schnel-
396 Dieses Austauschregime basiert auf der Technologie offener Programmierschnittstellen (APIs, application programming interfaces), die es etwa ermöglicht, sich auf einer Newswebseite mit seinem Facebook-Profil anzumelden und umgekehrt Facebook die Nachverfolgung ihrer Nutzer ‚außerhalb‘ des eigenen Netzwerks erlaubt (Vgl. hierzu ausführlich: Bodle, Robert: Facebook: Regime des Austauschs. Offene APIs, Interoperabilität und Facebook, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld 2011, S. 79-100.). 397 Vgl. Wiedemann, Caroline: Facebook: Das Assessment-Center der alltäglichen Lebensführung, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld 2011, S. 161-181, hier: S. 177. 398 Einsehbar unter: Facebook: Introducing Timeline. Tell your life story with a new kind of profile, URL: https://www.facebook.com/about/timeline.
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ler nacheinander auf verblasste (digitalisierte) Analogfotografien einer Kindheit, bleibt kurz bei körnigen Bewegtbildern einer universitären Abschlussfeier stehen, zeigt einen sich aktualisierenden Beziehungsstatus und Bilder einer nun immer häufiger auftauchenden Frau, zoomt dann in eine Karte der Hochzeitsreisedestination, springt zu Videos der schwangeren Ehegattin, der Geburt eines Kindes, dessen erste Schritte und Worte und endet schließlich am oberen Rand der Profilseite, die vom großformatigen Hintergrundbild von Vater und Tochter dominiert wird. Dabei neigen und verzerren sich die beiden Timeline-Spalten immer rasanter einem imaginären Fluchtpunkt entgegen, lediglich sich von links und rechts nahtlos einschiebende Textbausteine und Bildmaterialien und ein sich im Hintergrund abzeichnendes Zeitraster verleihen dem Bildfluss eine gewisse Struktur (Abb. 25).
Abb. 25: ‚Berauschenden Vorwärtstaumeln‘: Inszenierung der Facebook Timeline im Werbevideo. Unfertig und immer den Versprechen der Zukunft ausgeliefert, so zeigt sich hier, ist im Zeitalter neoliberaler Regierung nicht nur ein unternehmerisches Selbst, sondern gleichermaßen die gouvernemediale Konfiguration eines Mediums, das mit den unvollkommenen, laufend zu perfektionierenden Regierungstechnologien harmoniert. Die (Un-)Regierbarkeit der Kommunikation Regierungstechnologien, zumal jene einer neoliberalistischen und kontrollgesellschaftlichen Gouvernementalität, verweisen auf ein Zukünftiges, das ihre Gegenwart nur legitimiert, indem es ihre Unzulänglichkeit in das phantasmatische Versprechen einer kommenden Optimierung projiziert. Dieser gleichsam unternehmerischen Makropolitik entsprechen die gouvernemedialen Kommunikationsdispositive der Gegenwart: Wo sogenannte soziale und partizipative Medien die Bühnen der unablässigen Produktion eines ökono-
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misierten Selbst inszenieren, dort gilt auch jede mediale Disposition als verbesserungswürdige Konfiguration. Die Gouvernemedialität jüngster Kommunikations- und Darstellungsmittel gründet in der Metaphorisierung jenes Zwischenraums von Regierungs- und Selbsttechnologien als Projekt, Unternehmen und Entwicklung – und sie entspricht, ihrer figurierten Dynamik zum Trotz, immer noch einer polizeilichen Reterritorialisierung und Übercodierung der Medialität der Medien. Indes verleiht die scheinbar unbegrenzte Flexibilität moderner Regierung der These eines definitiven Kniefalls vor den Technologien der Macht vielenorts Auftrieb: In seinen letzten Winkeln erfasst, scheint das Dividuum vollständig unterworfen, d.h. von anreizenden und steuernden Regierungskünsten beherrscht, die ausgeklügelt genug sind, ihre Hegemonie hinter einer Maskerade aus individueller Autonomie und Freiheit zu verschleiern. Seit sich etwa in den einst so hoffnungsvoll als rhizomatisch imaginierten Heterotopien der digitalen Netze die Identitätsspiele von Avataren und virtuellen Persona zugunsten einer einzigen, vermeintlich ‚wahren‘ Identität verschoben haben, erscheint ein allenfalls widerspenstiger Selbstbezug nicht nur unmöglich, sondern auch zwecklos. Das Internet der 1990er Jahre, so zeigte Sherry Turkle am Ende des letzten Jahrtausends, trug entschieden zur „Idee einer multiplen Identität“ bei: In Chaträumen und Internetforen war es möglich, beliebige Benutzernamen und Rollen zu übernehmen – auch solche anderen Geschlechts, anderer Nationalität oder anderer Ethnizität. 399 Das gegenwärtige Internet hingegen zeichnet sich durch einen Wandel „[v]on der Selbst-Offenbarung zur SelbstPromotion“ aus und mündet, wie Geert Lovink meint, in einer „Krise des multiplen Selbst“: „Durch den Krieg gegen den Terror wurde der Wunsch nach einer echten Parallelkultur des ‚zweiten‘ Selbst erstickt, stattdessen entstand eine globale Überwachungsund Kontrollindustrie. Auf diesen Angriff auf die Freiheit reagierte das Web 2.0 taktisch mit kohärenten, singulären Identitäten, die mit den Daten der Polizei wie der Sicherheits- und Finanzinstitutionen übereinstimmen. […] Bei Facebook gibt es keine Hippie-Aussteiger, sondern bloß ein übermäßiges Bekenntnis zum echten Selbst, das Hand in Hand geht mit der Annehmlichkeit, sich nur unter Freunden und in einer sicheren, kontrollierten Umgebung zu befinden.“ 400
Doch greift diese düstere Dystopie des sich medial präsentierenden, ‚echten‘ Selbst zu kurz, weil sie einem zweifachen Trugschluss unterliegt: Einerseits nämlich geht das „Lob der multiplen Identitäten“ 401 von einem ‚echten‘, gleichsam vorgängigen Subjekt aus, das – wenn es sich auch mimetisch
399 Vgl. Turkle, Sherry: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 287f. 400 Lovink: Das halbwegs Soziale, a. a. O. [Anm. 179], S. 55f. 401 Vgl. ebd., S. 54f.
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multiplizieren kann, doch immer eine ‚feste‘ Identität hat, d.h. eine Singularität, die nicht pluralisierbar wäre. Schon die Idee eines sich verstellenden Selbst entspricht deshalb andererseits einem Regierungs- und Kontrollideal, welches Subjekte nur zu führen vermag, wenn sie eine feste und also adressierbare Form annehmen. Übergangen werden damit die Machtbeziehungen zwischen (dominierenden) Regierungskünsten und (widerspenstigen) Selbsttechnologien im Foucault’schen Sinne. Die „Frage des ‚Mit‘“, schreibt ähnlich Jean-Luc Nancy, kann „wohl auch in folgenden Termini ausgedrückt werden: niemals Identität, immer Identifizierungen“. 402 Die Klage über die freiwillige Preisgabe vermeintlich echter Identitäten in digitalen Netzen setzt ihre Kritik nicht nur an der falschen Stelle an, sie vollendet gleichsam die kybernetische Vision einer Regierungsmacht, die jede Dissidenz als produktiven Input in ein flexibles Kontrollsystem verstehen zu können glaubt. Die Gouvernementalität, so zeigen Foucaults Untersuchung von einer antiken Ästhetik der Existenz bis zur neoliberalistischen Unternehmensgesellschaft, zeichnet sich weder historisch noch gegenwärtig durch strategische, sondern vielmehr durch taktische Politiken aus. Unabhängig davon, ob die jeweiligen Regierungsprogramme religiösen Heilsversprechen, einem zentralisierten Polizeistaat, der autonomen Marktwirtschaft oder einem universalen Unternehmertum entstammen: Sie operationalisieren deshalb je spezifische Subjektivierungsregime, weil sie in ihrer selbsttechnologischen Dimension keineswegs automatisch wirksam werden und sich also einem a priori widerspenstigen Selbst aufoktroyieren müssen. „Ob gut oder schlecht“, bemerken Gilles Deleuze und Félix Guattari, „die Politik und ihre Beurteilungen sind molar, aber es ist das Molekulare und seine Einschätzungen, das sie ‚macht‘“. 403 In diesem Sinne dürfen die modernen Regierungsdispositive nicht als realisierte Utopie vollständiger Regierung und uneingeschränkter Kontrolle missverstanden werden. Vielmehr müssen noch sie als unlösbare Heterotopie von Widersprüchen und Gegen-Verhalten gelten, um die sich Machttechnologien formieren. Es ist diese politische Perspektive der Gouvernementalität, der sich Foucault kurz vor seinem Tod in seinen letzten Vorlesungen zuwendet. Auch im Hinblick auf seine älteren Untersuchungen nennt er 1984 in seiner Vorlesung Der Mut zur Wahrheit drei Elemente, die sein gesamtes Forschungsprogramm nunmehr konturieren: „[Es geht] um die Analyse komplexer Beziehungen zwischen drei unterschiedlichen Elementen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen, sie sich nicht ineinander auflösen, sondern deren Beziehungen füreinander konstitutiv sind. Diese drei Elemente sind: die Gestalten des Wissens, insofern sie in der Besonderheit ihrer Veridiktion untersucht werden; die Beziehungen der Macht, insofern sie nicht als Ausfluß einer
402 Vgl. Nancy: singulär plural sein, a. a. O. [Anm. 82], S. 105f. 403 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari Félix: Tausend Plateaus, Berlin 2005, S. 303.
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substantiellen und zudringlichen Macht, sondern anhand der Verfahren erforscht werden, durch die das Verhalten der Menschen regiert wird; und schließlich die Modi der Konstitution des Subjekts aufgrund der Selbstpraktiken. Durch diese dreifache theoretische Verschiebung – vom Thema der Erkenntnis zudem der Veridiktion, vom Thema der Herrschaft zu dem der Gouvernementalität, vom Thema des Individuums zu dem der Selbstpraktiken – kann man, so scheint mir, die Beziehung zwischen Wahrheit, Macht und Subjekt untersuchen, ohne sie jemals aufeinander zu reduzieren.“ 404
Vergleichsweise verändert tritt hier das Konzept der Veridiktion hervor. Gemeint ist ein Wahrsprechen, das, wenn es auch nicht ohne Bezug zu disziplinären Informationsregimen oder pastoralen Wahrheitstechnologien auskommt, sich doch nicht zwingend aus diesen ergeben muss. Foucaults frühere machtanalytischen Studien, etwa zur Disziplinarmacht oder zu den christlichen Geständniszwängen, vermochten zu zeigen, wie Machtbeziehungen die historischen Schichten der Sag- und Sichtbarkeit ausrichten und aktualisieren. Die nun gewählte Perspektive, die zur Irritation noch der jüngeren Foucault-Rezeption überdies erneut die Antike zu ihrem Forschungsfeld erklärt, dreht diese wohlvertraute Untersuchungsrichtung gewissermaßen um und fragt nach Wahrheiten, die sich durch einen selbsttechnologischen Bezug entfalten und den Machtbeziehungen zuwiderlaufen können. Deshalb nimmt Foucault zunächst eine Art Seitenwechsel vor: Ausgehend von den Selbsttechnologien der antiken Kultur, jener „ganze[n] Menge von Praktiken, die das Wahrsprechen über sich selbst zum Gegenstand haben“, wendet er sich nun dem Gegenüber dieses Selbst zu, jenem „anderen, der zuhört und der zum Sprechen ermahnt und selbst spricht“. 405 Dieser andere verfügt Foucault zufolge über eine Qualifikation, die „nicht wie in der christlichen Kultur beim Beichtvater oder beim Leiter des Gewissens durch
404 Foucault, Michel: Der Mut Zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesungen am Collège de France 1982/1983, Frankfurt a.M. 2010, S. 24. 405 Vgl. ebd., S. 17f. Lesbar ist diese Verschiebung tatsächlich – und das mag ein entscheidender Grund für die skeptische Rezeption der erst unlängst ins Deutsche übersetzten letzten Vorlesungen Foucaults sein – als ein Perspektivenwechsel von den Regierten und den Regierenden. Unter dem Vorzeichen einer gouvernementalen Machtanalyse, die eben nicht länger Herrschaftsverhältnisse, sondern die Beziehungen von Macht und Widerstand untersucht, erscheint dieser umgedrehte Zugang aber keineswegs rückschrittlich. Regierte und Regierende sind gleichermaßen Punkte in einem Netz von Wahrheit, Macht und Subjektivität, was die verbundenen Mechanismen der Regierung des Selbst und der Anderen gerade unterstreichen. (Für eine kritische, gleichwohl lesenswerte Rezeption der letzten Foucault-Vorlesungen vgl. Waldenfels, Bernhard: Wahrsprechen und Antworten, in: Petra Gehring/Andreas Gelhard (Hg.): Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Berlin 2012. S. 63-81.).
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die Institution verliehen“ wird: Vielmehr zeichnet sich diese „etwas nebelhafte und schwankende Persönlichkeit“ in der Antike aus durch „eine bestimmte Praxis, eine bestimmte Weise des Redens, die gerade parrhesia (das freimütige Reden) genannt wird“. 406 Entscheidend ist an diesem freimütigen Sprechen nun, dass es wortwörtlich sowohl frei als auch mutig sein muss. „Der Parrhesiast“, so Foucault, „gibt seine Meinung kund, er sagt, was er denkt, er unterzeichnet gewissermaßen selbst die Wahrheit, die er ausspricht, er bindet sich an diese Wahrheit und verpflichtet sich folglich auf sie und durch sie“. 407 Dadurch birgt die parrhesia gleichzeitig ein Risiko: „[D]as Subjekt [muss] indem es die Wahrheit sagt, die es als eine Meinung, seine Gedanken, seine Überzeugung kennzeichnet, ein gewisses Risiko eingehen, ein Risiko, das gerade die Beziehung zu demjenigen betrifft, an den es sich wendet“. 408 In diesem Sinne bedeutet die parrhesia, wie Foucault festhält, einen Mut zur Wahrheit von zwei Seiten: „Die parrhesia ist also, kurz gesagt, der Mut zur Wahrheit seitens desjenigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt, sie ist aber auch der Mut des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die er hört, als wahr akzeptiert.“ 409
In Foucaults Interpretation der parrhesia, so bemerkt Petra Gehring, sind nicht nur „weder Zwang noch Amt noch Maske […] im Spiel“, es handelt sich mehr noch um „eine Form des Aussagens bei der die mögliche Wahrheit des Gesagten sich untrennbar bindet an ein ethisches Faktum: an den Wagemut und an die Selbstexposition des- oder derjenigen der oder die spricht“. 410 Damit zeichnet sich für die Formen des Wahrsprechens wie diejenigen der Wahrheitsregime, d.h. in der Regierung des Selbst wie in der Regierung der anderen, eine Bedingung ab, welche diese vermeintlich opponierenden Pole allererst ermöglicht: Eine Beziehung, die den Zwischenraum von Sprechendem und Zuhörenden, Regierendem und Regiertem, Macht und Subjekt überbrückt, ohne ihn indes fest zu verfugen. 411 Machtvolle und subjektivie-
406 407 408 409 410
Vgl. Foucault: Mut zur Wahrheit, a. a. O., [Anm. 404], S. 20, Herv. i. Orig. Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 29, Herv. i. Orig. Vgl. Gehring, Petra: Foucault’sche Freiheitsszenen, in: dies./Andreas Gelhard (Hg.): Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Berlin 2012. S. 13-31, hier: S. 13. 411 Die parrhesia kommt hier dem Konzept einer zugleich verbinden und trennenden Medialität außerordentlich nahe: Sie stellt, wie Foucault ausführt, „zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, eine feste, notwendige konstitutive Verbindung her, lockert jedoch in Form des Risikos die Verknüpfung zwi-
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rende Wahrheiten können sich nur, wie Foucault nun unterstreicht, „in so etwas wie einem parrhesiastischen Spiel ausbilden, entwickeln und stabilisieren“. 412 Und dieses Spiel betrifft jeweils Subjekte wie Mächte gleichermaßen: Foucault verortet es bei den Fürsten, Tyrannen und Königen, die – um ‚richtig‘ zu regieren – auf die Anleitungen von Beratern hören müssen, beim in der antiken polis versammelten Volk, das der Rede des Politikers lauscht oder auch auf der viel feineren Ebene der Freundschaftsbeziehungen, die sich durch gegenseitige Beratung und Kritik auszeichnen. 413 Weiter spielt der Minister im 16. Jahrhundert das Wahrheitsspiel, wenn er sich im Namen einer Staatsräson an und gegen den König wendet, im 18. Jahr hun dert taucht die „Figur des ‚Kritikers‘“ auf und im 19. und 20. Jahrhun dert jene des Revolutionärs. 414 In der gesamten Geschichte der Gouvernementalität beginnt sich so in den Wogen zwischen Verhaltensführung und Gegen-Verhalten eine „‚Dramatik‘ des Diskurses“ abzuzeichnen, die „das Spiegelbild dessen sind, was man Diskurspragmatik nennt“, weil erstere zeigt, „wie das Ereignis der Äußerung selbst das Sein des Sprechers beeinflussen kann“. 415 Der Entstehungsherd jeder Kritik, so schreibt Foucault 1978, kann konsequent „nur das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt“ bilden: „Wenngleich es sich bei den Regierungsintensivierungen darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ 416
Das Band zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen bedeutet dergestalt nicht die bloße Individualisierung von Herrschaftstechniken oder eine mikropolitische Fortschreibung von Unterwerfungen – nicht einmal im Zeitalter der Unternehmens- und Kontrollgesellschaften. Vielmehr hebt Foucault hervor, dass „die Möglichkeit des Wahrsprechens in
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schen dem Sprechenden und dem Angesprochenen“ (vgl. Foucault: Mut zur Wahrheit, a. a. O., [Anm. 404], S. 30.). Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 28f., sowie Gehring: Foucault’sche Freiheitsszenen, a. a. O., [Anm. 410], S. 15. Vgl. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesungen am Collège de France 1982/1983, Frankfurt a.M. 2009, S. 98f. Vgl. ebd., S. 96f. Foucault: Was ist Kritik?, a. a. O. [Anm. 289], S. 242.
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den Verfahren der Regierung zeigen können, wie das Individuum sich in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen als Subjekt konstituiert“. 417 In diesem Verhältnis von Subjekt und Macht zeichnet sich ein für Regierungstechnologien wie Selbstpraktiken gleichermaßen konstitutiver Zwischenraum ab: Was Verhaltensführung und Fluchtlinien ermöglicht und begrenzt, ist die Kommunikation als Mit-Teilung und Zusammenerscheinen im Sinne Jean-Luc Nancys. Regieren im Sinne einer vollständigen Unterwerfung, Kontrolle oder Steuerung ist in diesem Zwischenraum nur vermittels reterritorialisierenden und übercodierenden Dis-Positionen möglich, welche die Wahrheitsspiele vermeintlich verfestigen. Ebendarum verfährt das Zeitalter der Gouvernementalität gouvernemedial: In den regierungstechnologischen Metaphern des Medialen erscheint entweder ein begrenzter und also verwaltbarer Kommunikationsraum, oder aber es nimmt eine Dynamisierung ihren Lauf, die scheinbar jede Fluchtlinie zu integrieren und jeden dysfunktionalen Steuerungsmechanismus zu perfektionieren weiß. Im selben Kommunikationsraum und im Zuge derselben Dynamik erscheinen indessen die Selbsttechnologien in Form von Widerständen, dissidentem Denken oder alternativer Inszenierung. In den fast ausschließlich ‚freundschaftlich‘ konnotierten Welten ‚sozialer Medien‘ mag dabei in der Tat selten an ein parrhesiastisches Spiel im Sinne einer antiken Ästhetik der Existenz zu denken sein, 418 können hier die Aussagen, Bilder und Bewegungen des Anderen doch meist nur ‚gemocht‘ werden. 419 Gleichwohl ist Kritik in den digitalen Netzen nicht auszuschließen – sei es in ‚freundschaftlich‘ inszenierten Posts der ‚sozialen‘ Netzwerke, sei es in immer neuen, divergierenden Konfigurationen des Medialen oder sei es in den Aufständen und Protestbewegungen gegen Staat, Ökonomie oder Globalisierung, die sich entgegen jeder polizeilichen Antizipation medial zu kommunizieren wissen. Ein selbstbezügliches und riskantes Wahrsprechen kann nur hier, im Raum dieser Mit-Teilung, überhaupt in Erscheinung treten. Das parrhesisatische Spiel ent-täuscht die totalitäre Macht und die individuelle Subjektivität gleichermaßen, sie verweist auf die unverlierbare Möglichkeit der Alterität.
417 Vgl. Foucault: Regierung des Selbst und der anderen, a. a. O. [Anm. 414], S. 64, Herv. v. m., SaS. 418 Richtigerweise verweist Petra Gehring darauf, dass die von Foucault nur angedeuteten „Kette“ von Aktualisierungen der parrhesia nicht unproblematisch ist, weil sie „ahistorische Gleichungen und vorschnelle Aktualisierungen nahelegt“ (vgl. Gehring: Foucault’sche Freiheitsszenen, a. a. O., [Anm. 410], S. 15.). 419 Nicht zu Unrecht identifiziert etwa Geert Lovink anhand der „Like“-Funktion in sozialen Netzwerken eine „Religion des Positiven“ (vgl. Lovink: Das halbwegs Soziale, a. a. O. [Anm. 179], S. 59f.).
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Der Schlusssatz von Foucaults allerletztem Vorlesungsmanuskript, den er aus Zeitgründen nicht mehr vorträgt, scheint das Politische der Wahrheitsspiele in ebendiesem Sinne ein letztes Mal zu unterstreichen: „Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben.“ 420
Das Politische der Medialität ist zu denken als ein konstitutiver Zwischenraum von Macht und Widerstand. Die Analyse dieses Zwischenraums verlangt konsequent, über die vermeintlich gestaltgebenden polizeiliche Regelungen und ihre widerständigen Gegen-Verhalten hinauszugelangen. Insofern das Konzept der Gouvernementalität auch für die Analyse einer Gleichursprünglichkeit von Machtbeziehung und Widerstandspunkten stehen kann, verweist die Gouvernemedialität so zugleich auf die Unregierbarkeit der Kommunikation. Bildet ein mediales Dazwischen überhaupt erst die möglichen Pole von Macht und Subjekt aus, so sind widerständige und hegemoniale Bezugnahmen in diesem Verhältnis wechselwirksam. Auch wenn daher die Heterotopien und Rhizome von Wahrheit, Macht und Subjekt in neoliberalistischen Regierungsprogrammen und kontrollgesellschaftlichen Modulationen vielleicht mehr denn je ins Werk gesetzt und vorweggenommen erscheinen: In den Politiken der Medien rumort unablässig das Politische der Medialität.
420 Foucault: Mut zur Wahrheit, a. a. O., [Anm. 404], S. 438.
5. Ausblick: Die Medien und die kommende Demokratie „Das Politische – das heißt in der Offenheit, im freien Spielraum und im gesamten Umfang, in der bestimmten Unbestimmtheit seiner Bedeutung das Demokratische.“ 1 „Die Demokratie ist nicht in eine Gestalt zu bringen. Besser, sie ist ihrem Wesen nach nicht figürlich.“ 2
Die Geschichte medialer Dispositive ist zugleich eine Geschichte politischer Technologien: Von der antiken parrhesia bis zur modernen TwitterNachricht, von der frühen Schrift bis zu den gegenwärtigen Computernetzen sind Kommunikations- und Mediendispositive in ein Spiel der Macht eingeschrieben, das von der absolutistischen Monarchie bis zur kontemporären Demokratie, von einem frühchristlichen Geständniszwang bis in die neoliberalistische Unternehmensgesellschaft des 21. Jahrhunderts, die Phänomenalität des Politischen je unterschiedlich konturiert hat. Gleichwohl deuten die epistemologischen Schnittstellen von Politik und Medien weniger auf politische Kontinuitäten oder auf mediale Epochen hin. Vielmehr scheint eine „serielle Geschichte“ auf, von der Foucault 1972 schreibt, sie stelle sich „als eine Verflechtung sich überlagernder Diskontinuitäten dar“ in der „die Schichten von Ereignissen [sich] vervielfachen“. 3 Die Beziehungen von Politik und Medien sind nicht nur vielgestaltig und ereignisreich. Vielmehr verdanken sich ihre Schnittstellen und Bruchlinien mit Jacques Derrida gesprochen einer Politik der différance. Ereignishaft sind die Politiken der Medien als Aufschub, d.h. als „Weg des Umwegs,
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Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2003, S. 49f. Nancy, Jean-Luc: Wahrheit der Demokratie, Wien 2009, S. 57. Foucault, Michel: Zur Geschichte zurückkehren, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 331-347, hier: S. 344.
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als gewundener Weg, Vertagung in der Ökonomie des Selben“ und damit als Verweis auf die „Erfahrung der Andersheit des anderen, des Heterogenen, Singulären, Nichtselben, Verschiedenen, der Asymmetrie und Heteronomie“. 4 Dem Politischen im Zeitalter digitaler Medien, d.h. in den Gesellschaften der Netzwerke oder der Überwachung, der Kommunikation oder der Kontrolle, gerecht zu werden, könnte deshalb über einen Demokratiebegriff gelingen, insofern dieser weniger eine bestimmte Staatsform denn vielmehr der „Name einer Sinnordnung“ ist, „deren Wahrheit unter keine ordnende, weder religiöse noch politische, weder wissenschaftliche oder ästhetische Instanz untergeordnet werden kann“. 5 Die medialen Dis-Positionen des Politischen verweisen auf eine aufgeschobene und vertagte, indes immer im Kommen begriffene Demokratie. Die Medialität der Medien umreißt die Phänomenalität des Politischen: Medien eröffnen und begrenzen jenen Raum, in dem politische Regime oder Revolutionen, Figuren der Nation oder des Gemeinschaftlichen, sich formieren und verschieben. An jenen Stellen, an denen das Politische einer Politik vorausgeht oder aber tradierte Machtverhältnisse verschiebt, wird die Medialität der Medien eingerichtet oder readjustiert, näherhin als mediale Konfiguration disponiert. Als Kommunikationsmittel, Speicherarchiv, Regierungsinstrument oder Dissidenzmedium bilden Mediendispositive die ihnen zugeschriebenen Wissens- und Blickregime aus, welche gemeinhin – und im Zeitalter digitaler Medien zweifelsohne vermehrt – als Macht der Medien gelten. Nun impliziert, wie Jacques Derridas Dekonstruktion der aporetischen Gesetzeskraft belegt, jedes politische Gründungsmoment allerdings eine Erfahrung des Ab-Grundes. Eine politische Entscheidung kann sich – will sie nicht auf alte Souveränitätsfiguren wie Gott, König oder Geld rekurrieren – nur auf ihre eigene Autorität und ihre eigene Begründung beziehen, weshalb sie wesentlich eine grund-lose Gewalttat ist. Politik ist in diesem Sinne die Entscheidung des unentscheidbaren Politischen, die immer dringlich und vermittels eines a priori unvollständigen Wissens über Zukünftiges die Zukunft gleichwohl prägt und vereinnahmt. In diesem Sinne rechtfertigt sich jede politische Strategie – so hegemonial oder revolutionär sie auch anmuten mag – in einer gleichsam schon vergangenen Zukunft, womit ihre Struktur eine aporetische ist und jede politische Setzung einem Aufschub des Politischen gleichkommt. Vergleichbar beschreibt Jean Luc Nancy das Politische als Prinzip einer Identität, die immer schon vervielfacht ist, genauer als eine undarstellbare Pluralität des Singulären. Eine Politik setzt in dieser Perspektive die Erfahrung von Gemeinschaft ‚ins Werk‘, so dass sich – je anders – die prinzipielle Komparenz des Zusammen-Erscheinens und die Kommunikation als Mit-
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Vgl. Derrida: Schurken, a.a.O. [Anm. 1], S. 61. Vgl. Nancy: Wahrheit der Demokratie, a.a.O. [Anm. 2], S. 68.
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Teilung verflüchtigen und etwa in vermeintlich ursprünglichen Figuren des Gesellschaftlichen oder Individuellen verlieren. Doch das Singulär-Plurale des Seins und die Erfahrung eines ‚Mit‘ kommen auch für Nancy stets von neuem auf die Politiken zu. Ebendies belegt die gegenwärtige Herausforderung des Gemeinschaftlichen in einer kommunikativ entgrenzten, globalisierten Welt. Ähnlich wendet sich auch Michel Foucaults Analytik der Macht von kategorialen Souveränitäten ab und erprobt zunächst ein kriegerisches Modell konfliktreicher Machtbeziehungen, um von hier aus die vermeintlich unverrückbaren Institutionen zu dezentrieren, die angeblichen Gegebenheiten einer Politik zu demontieren und schließlich die unweigerlichen Dysfunktionalitäten jeder scheinbar funktionalen Macht auszustellen. Für die zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Kommunikation beziehungsweise Macht und Widerstand oszillierenden Spiele einer politischen Differenz fungiert die Medialität der Medien gleichsam als die Bedingung ihrer Möglichkeit: Bevor Medialität in spezifischen Mediendispositiven Politiken formiert oder mit solchen korreliert, ist sie der Zwischenraum, in dem sich allererst die Erfahrungen der Mit-Teilung und der Aporie jeder Gesetzeskraft, aber auch jene souveräner Herrschaft vollziehen können. Die Medialität der Medien bedeutet die ‚Un-Mittelbarkeit‘ des Mitteilbaren, die freilich nur als ‚Mit-Geteiltes‘ oder als ‚Mit-Teilung‘ erfahren werden kann, deshalb aber nicht verloren geht. Vielmehr verantwortet sie – das jeweils Wahrnehmbare und Mitteilbare ein- und entrahmend – den Spielraum medialer Politiken. Als medientheoretischer Zugang zu diesen wechselseitig produktiven Differenzen des Medialen und Politischen habe ich ein Konzept heterotoper und rhizomatischer Mediendispositive vorgeschlagen. Dieses erlaubt zunächst, die diskursiven Formationen der Medien als audiovisuelle Archive zu fassen, die einem historischen Apriori unterstehen. Medien sind in dieser Perspektive strategische Sag- und Sichtbarkeitsordnungen, d.h. Wissensregime, an deren Rändern das Unsagbare und Ausgeblendete rumort oder sogar verspricht, als künftiges Wahrheitsspiel in die diskursiven Formationen der Medien politisch zu intervenieren. Freilich wird hierin zugleich eine medientechnische Konnotation der Medienarchive vorstellbar: Die Diskursvierungen des Medialen formieren Orte und Träger, an und auf denen jeweils Sag- und Sichtbares ‚zusammengeschrieben‘ wird, um von hier aus iterativ in der Zukunft zu wirken. Doch diese Iterierbarkeit, so unterstreicht Jacques Derridas Dekonstruktion des Archivbegriffs, fügt eher hinzu, als dass sie identisch wiederholt: In der speichernden und akkumulierenden Funktion medialer Archive verdeutlicht sich gerade die Aporie der Gesetzeskraft, welche die zukünftige Erfahrung der Grundlosigkeit jeder Begründung gewissermaßen garantiert. In Mediendispositiven werden mediale Archive deshalb als heterotope Konfigurationen vorstellbar, in denen diskursive Praktiken mit spezifischen Machttechnologien und divergierenden Subjektivierungsweisen in Bezie-
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hung treten. Weder als mediale Mikrodispositive – etwa dem beschriebenen Dispositiv Fernsehen – noch als gesellschaftsweites Makrodispositiv, wie es anhand televisueller Kommunikations- und Unterhaltungsprinzipien illustriert wurde, erscheinen Medien als statische Ordnungsmächte. Vielmehr implizieren ihre mikro- und makropolitischen Verflechtungen beständig dynamische Kräfteverhältnisse, welche die dominierenden Machtbeziehungen ebenso motivieren wie selbsttechnologische Fluchtlinien, die den Subjektivierungsregimen gleichsam entkommen. Insofern sind mediale Dispositive heterotop, d.h. sie bilden komplexe Raumzeiten und Zeiträume, die sich durch ein Spiel von Öffnungen und Schließungen auszeichnen. Das Netz, das sich zwischen den Elementen eines Mediendispositivs aufspannt, ist folgerichtig als rhizomatisches Geflecht zu bestimmen: Keine feste Hierarchie und kein lineares Wachstum von unten oder oben vermag die heterotopen Ensembles des Medialen zu bestimmen. Vielmehr zeichnen sie sich durch eine wuchernden Bewegung aus, ein Hin- und Herlaufen von (Un-)Sag- und (Un-)Sichtbarem, von Macht und Widerstand, von Unterwerfung und widerspenstigen Selbstbezügen. Mediendispositive akzentuieren so – anders als die Modelle der AkteurNetzwerk-Theorie oder medientechnizistische Denkbilder – einerseits das Politische der Medialität in und vor den Medien. Damit dekonstruieren sie andererseits auch polizeiliche Machttechnologien, die jede Abweichung durch antizipierende Steuerungsmechanismen zu reterritorialisieren suchen. Das zeigte sich etwa am intermedialitätstheoretischen Gegensatz von Remediation und Hybridisierung: Erstere suggeriert eine intermediale Inszenierung jeweils ‚neuer‘ mithilfe ‚alter‘ Medien, die zugleich tradierte Machttechnologien und Subjektivierungsregime perpetuiert. Die Figur des Hybriden hingegen verweist auf Neuartiges und Verschiedenes im Feld der Medien, durchaus auch im politischen Sinne. Das gegenwärtige Zeitalter digitaler Medien globalisiert die Welt vollständig und beschleunigt ihre Kommunikation. Beide Tendenzen verdanken sich den intermedialen Überschneidungen und Bruchlinien in divergierenden Dispositiven ‚neuer‘ Medien. Wo vermeintlich distinkte Einzelmedien noch eine lokalisierte und also kontrollierbare Phänomenalität des Politischen – etwa in Gestalt von Staaten, Nationen oder Kulturen – zu tragen schienen, dort entgrenzt nunmehr die Gestaltoffenheit digitaler Medien die kategorialen Konfigurationen politischer Institutionen und Regime. Vermittels einer globalen Expansion der Kommunikationsräume taucht die eigensinnige Medialität der Medien erneut auf – und verlangt, vertraute politische Topologien als rhizomatische Heterotopien zu entziffern. So verdanken sich die weltweiten Revolutions- und Protestbewegungen von Iran 2009 bis Brasilien 2013 mitunter gewiss den veränderten Möglichkeiten der Kommunikation und des Zusammen-Erscheinens in digitalen Netzen und mobilen Medien. Die euphorische Rede von den Medienrevolutionen ist indes deshalb nicht oder nur begrenzt haltbar, weil ebendiese Medien längst wieder
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durch ebenso veränderte, deswegen aber nicht weniger wirkmächtige Verwaltungstaktiken reterritorialisiert und übercodiert werden. Das ausgezeichnetste Beispiel hierfür ist eine regierungstechnologische Konnotation ‚neuer‘ Medien, die ich unter dem erweiterten Konzept einer Gouvernemedialität zusammengefasst habe: In Figuren des Netzwerks und der Crowd, der kollektiven Intelligenz und der Schwärme zeigt sich eine Gouvernementalisierung des Medialen, die derzeit die Politiken der Medien dominiert. Die den intermedialen Inszenierungen des Digitalen geschuldete Entgrenzung der globalisierten Welt evoziert ein äußerst flexibles Makrodispositiv der Regierungskünste, das sich um individualisierte wie kollektivierende Führung und Lenkung sowie um die sicherheitstechnische Verwaltung jedes Ereignisses im Namen einer ökonomisch rationalisierten Macht bemüht. Die jüngsten Spielformen dieser Gouvernementalität nehmen in überstilisierten liberalen Marktmechanismen und in der Idee einer neoliberalistischen Unternehmensgesellschaft Gestalt an, in der nicht nur jede und jeder ihr oder sein eigenes Unternehmen ist, sondern sich die Macht selbst dynamisiert, indem sie sich als ein entwicklungsfähiges, niemals abgeschlossenes Projekt ausgibt. Damit einher gehen die medialen Metaphern ständiger Updates und gleichsam fragmentarischer Medien, die aus einer Flut sogenannter Apps erst zu konfigurieren sind. Bestandteil dieser medialen Regierungstechnologien der Gegenwart sind freilich auch die Überwachungsdispositive und Kontrollregime in digitalen Netzen, wie sie unlängst die Skandale um Wikileaks oder auch die Verheißungen einer ubiquitären Verdatung (‚Big Data‘) deutlich vor Augen geführt haben. Gouvernementale Politiken rekurrieren nicht nur regelmäßig auf vermeintlich überkommene Souveränitätsfiguren der Staatlichkeit, sie haben vor allem und vielmehr disziplinarische Wissensordnungen und Blickregime modernisiert und perfektioniert. Die Gouvernementalisierung des Politischen wird von der Verschiebung der Disziplinar- zu einer Normalisierungsgesellschaft und schließlich von deren Transformation in eine Kontrollgesellschaft begleitet – und auch dieser Wandel vollzieht sich vornehmlich medial. Denn die Disziplinarmechanismen, die Foucault zwischen Einsperrung und Überwachung, Dressur und Abrichtung beschreibt, umfassen nicht nur die auf den Körper zielenden Subjektivierungsregime: Sie funktionieren vielmehr als ein an sich selbst disponibles Dispositiv, gebildet aus der unabschließbaren Textur von normierenden Sag- und Sichtbarkeitsordnungen. Die mediale Phänomenalität des Politischen, näherhin und mit Derrida gesprochen seine Artefaktualität und Aktuvirtualität, resultiert gerade aus einer disziplinären Politik der Information im Wortsinne: Insofern moderne Politiken die einst unhinterfragten Souveränitäten von Gott, König oder Staat aufs Spiel setzen, tritt an die aufklaffende Leerstelle eine grund-lose Aufteilung des Sinnlichen im Sinne Jacques Rancières: In-formierende Sag- und Sichtbarkeitsregime bestimmen fortan die Räume des Politischen. Mediendispositive wiederum richten das auf diese bewegliche Weise – jeweils und
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jeweilig – normiert-disziplinäre Politische ein und stellen es damit zur Disposition. Die listige Taktik der Gouvernementalität besteht angesichts dieser Normierungen darin, die Disziplinargesellschaft zu flexibilisieren und zu dynamisieren, indem sie die Grenzen der disziplinierten Räume zu Übergangszonen verbreitert. Den Normierungsregimen folgt dergestalt eine Normalisierungslogik, die weniger aus- und einschließt als vielmehr Abweichungen (re-)normalisiert, also eine Politik der Er- und Vermittlung betreibt – insbesondere die des quantitativ ermittelten Durchschnitts. Paradigmatisch hierfür sind die statistischen Denk- und Visualisierungsmodelle, die gegenwärtig das Politische wie das Mediale betreffen, wenn – beispielsweise – die schiere Anhäufung riesiger Datenmengen gleichermaßen mediale Rezeption und politische Partizipation charakterisieren soll. In der Kontrollgesellschaft steigern sich die Politiken der Information und Mittelung zu einer Politik vermeintlich rand- und bruchloser Kommunikation, die jede Differenz zu nivellieren und vergleichbar machen sucht, um überall universal gerasterte und modulativ anpassbare Kontrollregime installieren und diese wiederum regulieren zu können. Doch noch im nahtlosen Kontinuum solcher gouvernementalen Regierungen tauchen ständig neue Zentren und Hierarchien auf, die gleichsam auf das Scheitern dieser angeblich uneingeschränkt integrativen Machttechnologien der Gegenwart verweisen. Dies verdeutlichte auch das Zusammenspiel von Regierungs- und Selbsttechnologien, das sich in Foucaults Spätwerk schwergewichtig zu Gunsten letzterer verschoben findet. Zwar rekurriert die gouvernementale Rationalität noch in ihrer neoliberalistischen Fassung auf eine christliche Pastoralmacht, die sich als eine Regierung des Einzelnen wie der Vielen ausbildet. Doch dürfen die sich hierin abzeichnenden Selbsttechnologien nicht als bloße Unterwerfung von Subjekten missverstanden werden. Vielmehr geht schon dem pastoralen Ideal individueller und totalisierender Führung ein Gegen-Verhalten voraus. Die selbsttechnologische Dimension der Regierungsmacht impliziert deshalb einen Bezug oder ein Beziehen-Müssen des individuierten Selbst zu sich selbst, mithin ein Selbstbezug, der sich erst im Zusammenstoßen mit Machtdispositiven herausbildet und gleichwohl irreduzibel bleibt. Dergestalt verweisen auch die derzeit in sogenannten sozialen Mediennetzwerken von Facebook bis Youtube florierenden Selbstinszenierungen weder auf ein angeblich vorgängiges Selbst noch auf sich im Interesse einer anreizenden Kontrollmacht freiwillig exponierende (In-)Dividuen. Vielmehr scheint hier eine mikropolitische Dimension der Subjektivität auf, die sich zwischen Regierungs- und Selbsttechnologien (trans-)formiert. In diesem Sinne wurde das parrhesiastische Wahrsprechen, das Foucault in den letzten Vorlesungen vor seinem Tod untersuchte, als eine Differenzierung der gouvernementalen Konzeption der Macht lesbar, die dem Politischen in jeder Machtbeziehung in einer subjektiven Dimension Rechnung trägt. Insofern die Medialität der Kommunikation die Möglichkeit der Mit-Teilung und des
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Zusammen-Erscheinens birgt, ist sie regierbar nur über ihre reterritorialisierende Konfiguration. Im politischen Sinne dagegen bleibt die Kommunikation als der Spielraum, in dem sich Subjektivität und Macht – konfligierend ebenso wie konform – aufeinander beziehen, wesentlich unregierbar. Die medialen Politiken der Gegenwart sind gouvernemental, d.h. sie funktionieren über in Größe und Intensität skalierbare Regierungstechnologien, die von flexiblen und dynamischen Überwachungsdispositiven flankiert werden. Noch diese Form der Gouvernemedialität aber – darauf verweisen gerade die zunehmende Lokalität ihrer Strategien sowie die Dynamisierung ihrer Normalisierungsmechanismen – ist als Politik strukturell gefährdet, d.h. sie wird von politischen Interventionen heimgesucht und von Fluchtlinien durchschnitten. Insofern verweisen Mediendispositive vielleicht stärker denn je auf ein kommendes Demokratisches, auch und gerade dann, wenn ihre Machttechnologien lücken- und randlos erscheinen. Als eine mögliche Form, das Politische zu denken, bedarf die Demokratie einer vorab begrifflichen Revolution. Diese Revolution besteht, wie Jean-Luc Nancy schreibt, darin, „die Basis der Politik selbst umzudrehen“, mithin diese Basis „der Abwesenheit einer Grundlage aus[zu]setzen“ und die Rückkehr zur Grundlage zu verhindern – „[e]ine Revolution in der Schwebe also“. 6 Das Demokratische im Sinne des Politischen weiß sich von Anfang an als unbegründet, und darin liegt seine Stärke wie seine Schwäche. 7 Dergestalt bezeichnet die Demokratie, wie Nancy schreibt, sowohl „die Bedingung der möglichen Regierungs- und Organisationspraktiken, solange kein transzendentes Prinzip beanspruchen kann sie zu regeln“, als auch „die Idee des Menschen und/oder die der Welt, sobald sie, jeder Treue gegenüber einer Hinterwelt entledigt, nichts desto weniger ihre Fähigkeiten postulieren, durch sich selbst und ohne Erschleichung ihrer Immanenz Subjekte einer unbedingten Transzendenz zu sein, das heißt fähig, eine vollständige Autonomie zu entfalten“. 8 Zwischen dieser begrenzten und unendlichen Figur bleibt die Demokratie Jacques Derrida zufolge stets im Kommen, denn was ihr fehlt, ist „der Sinn des Selben selbst […] das, was sie selbst ist, das Selbe, das wahrhaft Selbe ihrer selbst […]“. 9 Eine politische Demokratie zeichnet sich „durch diesen Mangel des Eigenen und Selben“ aus, d.h. sie besteht „allein durch Wendungen [tours], Tropen und Tropismen“. 10 Die Demokratie ist zu-künftig – und ebendiese Zukunft ist auch den heterotopen Dispositiven der Medien, d.h. den sich rhizomatisch verformenden Netzen medialer Sag- und Sichtbarkeit im Feld der Macht- und Selbsttechnologien bereits innewohnend. In diesem Sinne verliert sich das Politi-
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Vgl. Nancy: Wahrheit der Demokratie, a.a.O. [Anm. 2], S. 81f. Vgl. ebd., S. 78f. Ebd., S. 74f. Derrida: Schurken, a.a.O. [Anm. 1], S. 60. Vgl. ebd., S. 60f.
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sche weder in einer Mediendemokratie noch in der Netzwerk- oder Kontrollgesellschaft, sondern kündigt sich in einer nur als kommende Demokratie möglichen Politik des Medialen immer wieder an.
Anhang
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288 | M ACHT UND M EDIEN . Z UR D ISKURSANALYSE DES P OLITISCHEN
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MedienAnalysen Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka (Hg.) Heterotopien Perspektiven der intermedialen Ästhetik 2013, 648 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2482-3
Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen (Hg.) Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien 2011, 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1779-5
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Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res Medienkulturwissenschaftliche Positionen 2011, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1181-6
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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