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German Pages 410 Year 2015
Christian Pundt Medien und Diskurs
2008-10-23 14-37-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8192667682336|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 994.p 192667682344
Christian Pundt (Dr. phil.) lehrt Medienwissenschaft an der Universität Hamburg.
2008-10-23 14-37-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8192667682336|(S.
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) T00_02 seite 2 - 994.p 192667682360
Christian Pundt Medien und Diskurs. Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens
2008-10-23 14-37-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8192667682336|(S.
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) T00_03 titel - 994.p 192667682392
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2008-10-23 14-37-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8192667682336|(S.
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) T00_04 impressum - 994.p 192667682424
INHALT Einleitung
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TEIL 1 DISKURS UND DISKURSANALYSE Vorbemerkung
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Michel Foucault Archäologie Theorie des Diskurses Aussage Diskursive Formation Diskurs Historisches Apriori und Archiv Genealogische Modellierungen Genealogie als Kritik Macht und Praktiken Dispositiv Diskurs und Genealogie Foucault als Ausgangspunkt ‚Starker‘ Diskursbegriff Diskurse als Kommunikationsprozesse
23 24 29 31 34 37 38 39 42 43 45 46 50 50 51
Norman Fairclough Text – Diskurs – Gesellschaft Vom Text zum Diskurs: Intertextualität Prinzip des Dialogischen Muster massenmedialer Kommunikation Vom Diskurs zur Gesellschaft: Macht Ideologie Hegemonie Vertikales Diskursmodell Diskursordnung Analysepraxis
55 55 57 58 59 63 64 67 69 69 73
Siegfried Jäger Kritische Diskursanalyse Thematische Formation Interdiskursive Ordnung Flussmodell Ereigniszentrierte Analyse Analysestrategie Analysepraxis
79 79 80 82 85 88 88 91
Martin Wengeler Von der Sprach- zur Diskursgeschichte Diskurssemantik Topoi als Zugriffsobjekte auf Diskurse Toposanalyse Toposanalyse als Argumentationsanalyse Argumentative und nicht-argumentative Topoi Allgemeine und besondere Topoi Historiografie von Argumentationsmustern Analysestrategie Analysepraxis
97 99 99 103 104 104 107 109 111 112 114
Zur Analytik medialer Diskurse Mediale Konstitution Topoi als Grundelemente
119 121 124
TEIL 2 MEDIEN UND KOMMUNIKATION Vorbemerkung
131
Institutionalisierte Kommunikation Massenmedien Direkte und vermittelte Kommunikation Massenkommunikation Printmedien Das Informativ Informationsstruktur Schrift als Medium
135 135 135 137 139 139 141 145
Prozessualisierte Kommunikation Intermedialität Transkribieren Kommunikation als mediales Verfahren Selektieren Adressieren
151 151 154 154 157 159
Normalisieren ‚Normalismus‘ und Massenmedien Performatives Normalisieren Evidentes Normalisieren
162 162 166 167
Sozialisierte Kommunikation Öffentlichkeit Kommunikationsraum Funktionszusammenhang Öffentlicher Diskurs Sprechen Thematisieren Meinen
171 172 172 178 181 182 183 195
Spezifizierte Kommunikation Fernsehkritik Kritik Fernsehkritik in Printmedien Skandal Charakteristika des Skandals Klatsch, Skandal, Moral Panic
201 201 202 206 211 211 217
TEIL 3 EIN MEDIENDISKURS: ZUR SKANDALISIERUNG VON PRIVATHEIT IN DER GESCHICHTE DES FERNSEHENS Vorbemerkung
225
Privatheit im Fernsehen Privatheit ‚Great dichotomy‘ Privatheit und Soziokultur Medialisierte Privatheit Die Inszenierung des Privaten vs. das Private in der Inszenierung Privatheit und Fernsehen
229 230 230 232 234 235 237
Methodisches Vorgehen Korpusbildung Recherche Zusammenstellung Auswertung Erschließung Transkonstruktion
239 239 240 241 244 245 247
Analyse 1960/1961: DIE SENDUNG DER LYSISTRATA Ereignisbezug Grenzsetzungen Diskursivierung der Kritik – der zurückgewiesene Skandal Wert des Privaten – paternalistischer Moralbegriff Fernsehen und Öffentlichkeit – das überschaubare Medium 1970–1982: Von MILLIONENSPIEL zu ARENA: DIE NEUEN NACKTEN Ereignisbezüge Grenzsetzungen Diskursivierung der Kritik – Zuschauer als Skandalmesser Wert des Privaten – gesellschaftliche Konfliktlinie Fernsehen und Öffentlichkeit – Kritik des Fernsehens als Kritik des Zuschauens 1986–1995: Von DONNERLIPPCHEN zu DAS WAHRE LEBEN Ereignisbezüge Grenzsetzungen Diskursivierung der Kritik – zwischen Skandal und Moral Panic Wert des Privaten – schleichende Adaption durch das Medium Fernsehen und Öffentlichkeit – Verschwinden der Realität im Medium 1996–2000: Von HANS MEISER zu BIG BROTHER Ereignisbezüge Grenzsetzungen Diskursivierung der Kritik – Inszenierung von Konflikten Wert des Privaten – Adaption durch Medium und Kritik Fernsehen und Öffentlichkeit – Verschwinden des Mediums in der Realität
249 250 250 251 252 254 256 258 258 262 268 273
Privatheit im Diskurs der Fernsehkritik
341
Resümee: Medien und Diskurs
353
276 280 280 285 293 301 307 314 314 315 319 327 333
ANHANG Siglen
369
Abbildungen und Tabellen
371
Literatur
373
Sendungen und Artikel
395
Wortstämme
405
EINLEITUNG Im März des Jahres 2000 startete im Programm des privat-kommerziellen TV-Senders RTL2 eine Show, die unter dem provokanten Namen BIG BROTHER im deutschen Fernsehen die Ära eines neuen, globalen Entertainments einzuläuten versprach. Davon kündete weniger die konkrete Sendung, die sich zunächst als eine eher schleppende Veranstaltung entpuppte. Ihre medialen Inszenierungsweisen konnten nur schwer das eigentlich unspektakuläre ihres Rohmaterials übertünchen. Es handelte sich um den formlosen, gemächlichen Fluss des alltäglichen, privaten Lebens, der mit industriellen Mitteln nachgestellt werden sollte. Der Kick der Sendung, ihre spektakuläre Dramatik erschließt sich erst, wenn man sie im Kontext der kulturellen Kommunikation betrachtet, die sie umschloss und die ihr eine Bedeutungskraft zukommen ließ: Sie wurde über Wochen von einer breiten medienöffentlichen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Medien und Öffentlichkeit begleitet. Das Selbstbezügliche dieser Formulierung verdeutlicht, worum es im Kern ging – nämlich um das kulturelle Selbstverständnis einer sich immer stärker medial reproduzierenden Gesellschaft. Die Unterhaltungssendung wurde zum Symbol einer sich vollziehenden Verschiebung innerhalb der tektonischen Ordnung dieser Mediengesellschaft. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Pathologien dieser Bewegung betreffen einen wesentlichen Baustein deren soziokulturellen Grundgefüges: das Verhältnis zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Wirft man aus der Gegenwart einen zweiten Blick auf das mediale Großereignis BIG BROTHER, ist man dazu geneigt, sich die Augen zu reiben. War da was – und was war daran so spektakulär? Das alltägliche, private Leben ist schließlich immer noch der formlose, gemächliche Fluss, der es früher war, und es gab in der Zwischenzeit andere, bedrohlichere Ereignisse, die die Gesellschaft medial in Atmen gehalten haben. Der Titel des Orwell-Romans wird heutzutage eher mit der geplanten und bereits vollzogenen Sicherheitsgesetzgebung im Zuge der sogenannten ‚Terroristenbekämpfung‘ nach dem 11. September assoziiert. Und abseits einer breiten öffentlichen Anteilnahme endete im Sommer 2008 die mittlerweile achte Staffel der TV-Show, die zu einem mäßig erfolgreichen Dauerbrenner des Spartensenders RTL2 geworden ist. Sie hat sich als eine weitere Sendung innerhalb des unersättlichen Programmbedarfs des Mediums mit den Unterhaltungsbedürfnissen einer Zielgruppe arrangiert. BIG BROTHER lässt sich, so gesehen, als televisuelle Suböffentlichkeit betrachten, die bestimmten, medial vielleicht marginalisierten Formen der Entfaltung von privatem Leben zu Anerkennung verholfen hat. Sie ist damit zu einem gewöhnlichen Element im Prozess gesellschaftlicher Ausdifferenzierung geworden, der auch die Segmentierung der Fernsehentwicklung typisiert. Historisch lässt sie sich in einen Kanon medialer
10 | MEDIEN UND DISKURS
Skandalphänomene einreihen, der aus der Mediengeschichte hinlänglich bekannt ist (vgl. Marcuse 1989). Aus der Gegenwart stellt sich deshalb die Frage: So what? – Worin besteht das spannende Element innerhalb dieses Vorgangs? Und warum sollte man sich heute noch für das medial aufgeblasene Gerede von vorgestern interessieren? Das Fernsehen gilt seit den frühen 1960er Jahren als das unangefochtene Leitmedium der Bundesrepublik. ‚Leitmedium‘ meint nicht nur die exponierte Position, die es innerhalb der massenmedialen Öffentlichkeiten einnimmt, sondern mit seiner zunehmenden Durchdringung der Gesellschaft ist es auch zu einer wesentlichen Kraft eines allgemeinen soziokulturellen Wandels geworden. Dabei steht es in einer doppelten Beziehung zur Gesellschaft – „ist Produkt der gesellschaftlichen Modernisierung und zugleich Transmissionsriemen sozialer Veränderungen“ (Hickethier 1999, 143). Einerseits kristallisieren sich im Fernsehen gesellschaftliche Zustände und Veränderungen heraus, andererseits wirkt das Medium selbst auf Vorstellungen, Trends und Normen ein, ist also zugleich auch ein „Agent“ des stetig ablaufenden Prozesses gesellschaftlicher Modernisierung. Dieses zweifache, gewissermaßen ‚dialektische‘ Verständnis von Medien- und Gesellschaftsentwicklung bildet die gedankliche Folie für die folgenden Ausführungen. Diese Folie wird nun hinter das Auftauchen eines Unterhaltungsformats wie BIG BROTHER geschoben. Auf diese Weise bekommt der Vorgang der öffentlichen Skandalisierung, der mit dem Format verbunden war, eine Art Skript zugeschrieben. So wird eine andere Lesart möglich. Es stellt sich die Frage, woher all das Kommunizieren, das sich mit dem und durch das TVFormat in der Öffentlichkeit gebildet hat, gekommen und wohin es entwichen ist. Unter dem Blickwinkel gesellschaftlicher Modernisierung ist es mehr als nur Schall und Rauch, als ein weißes Rauschen, das sich mit den audiovisuellen Signalen irgendwo im Äther der Zeit versendet. Vielmehr ermöglicht ein solches Ereignis die exponierte Beobachtung der medialen Beschleunigung eines Vorgangs, der unter dem Stichwort ‚soziokultureller Wandel‘ firmiert. Interessant ist in diesem Fall gerade die Tatsache, dass ein Ereignis wie BIG BROTHER im Prozess der kulturellen Selbstverständigung für einen bestimmten Zeitraum eine herausragende Position einnimmt und dann aus dieser Position wieder herausfällt und zu dem sprichwörtlichen Schnee von gestern wird. Der hier unterlegte Prozess der Skandalisierung zeugt sowohl von der Bedeutung, die Medien im Selbstverständnis der gesellschaftlichen Kommunikation einnehmen, als auch davon, wie eine Gesellschaft mit eben dieser Tatsache umgeht, sie sich kommunikativ aneignet und so kommunizierenderweise verarbeitet. An dieser Stelle setzt das forschende Interesse an. Denn mediale Skandalphänomene wie BIG BROTHER lassen sich in diesem Sinne als reale Versuchsanordnungen betrachten, die den Konnex von Medien- und Gesellschaftswandel offenbar werden lassen. Dieser Konnex, so einfach er sich auch voraussetzen lässt, stellt, wissenschaftlich gesehen, jedoch eine Problemstellung dar und darin liegt auch sein wissenschaftlicher Appeal. Denn zunächst werden damit Fragen aufgeworfen – und zwar grundsätzliche Fragen nach den Wegen und Strategien der Beschreibung und Analyse solcher Phänomene sowie den Möglichkeiten ihrer Interpretation und Einordnung.
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Diese Erkenntnis stand am Anfang dieses Buches, dessen Forschungsprozess als eine theoretische und methodische Suchbewegung begann. Ihr vorgeschaltet war ein ähnlich ausgerichtetes Forschungsprojekt über PRIVATHEIT IM ÖFFENTLICHEN RAUM (Weiß 2002a). Das darin enthaltene Modul über KONFLIKTE UM DIE SELBSTBESCHREIBUNG DER GESELLSCHAFT: DER DISKURS ÜBER PRIVATHEIT IM FERNSEHEN (Pundt 2002) lässt sich als eine Art Vorstudie zu diesem Buch betrachten, in der gleichfalls versucht wird, dem medial forcierten, soziokulturellen Gesellschaftswandel auf die Spur zu kommen. Dort wurde die Strategie entwickelt, die historische Entwicklung eines soziokulturellen Grundbausteins, wie ihn Privatheit darstellt, in der Geschichte des Mediums Fernsehen gewissermaßen über Bande zu verfolgen. ‚Über Bande‘ heißt, jene Momente der Fernsehgeschichte zu betrachten, in denen das Verhältnis von Privatheit und Medium massiv in die öffentliche Wahrnehmung gerät und kommuniziert wird. Diese Strategie wird auch hier wieder aufgenommen. Zugleich führte die Untersuchung über die KONFLIKTE zu der Überzeugung, dass die Umsetzung einer solchen Analysestrategie einer ausgefeilten theoretisch-methodischen Rückbindung bedarf. Für diese war in der „eher deskriptiv angelegten Studie“ (Winter 2004), die im Auftrag der Landesanstalt für Rundfunk (heute: Landesanstalt für Medien) in NordRhein-Westfalen ausgearbeitet wurde, kein Raum vorhanden, sodass dort naturgemäß eine weiterführende „theoretische Strukturierung“ auf der Strecke bleiben musste. Eine solche bildet jedoch die elementare Voraussetzung einer genauen diagnostischen Erfassung und Interpretation empirischen Wissens. Das Hauptanliegen dieses Buches ist es, einen Beitrag zu einer solchen theoretischen Strukturierung zu leisten. Und das nicht nur im Rückblick auf die angeführte Studie, sondern auch im Hinblick auf bereits geführte und noch zu führende Diskussionen über die mediale Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens. Dazu wurden die zuvor gewonnenen Erfahrungen und Materialien zum Ausgangspunkt einer neuen Anordnung gemacht, deren zentraler Angelpunkt die Verknüpfung von Medien- und Diskursanalyse ist. Warum Diskursanalyse? Zunächst ist der Bezug auf ‚Diskurs‘ keine Folge einer wissenschaftsideologischen Strategie, mit der versucht werden soll, eine Theorie in ein wissenschaftliches Feld zu pressen. Am Anfang von MEDIEN UND DISKURS stand vielmehr die bereits erwähnte Beobachtung, dass sich die aufgeworfenen Fragen nicht von einem etablierten Standpunkt aus angehen ließen, der es ermöglichte, eine empirische Anordnung durch eine bewährte Analysemaschinerie zu jagen. Hier schloss – zunächst noch intuitiv – die Absicht an, mit dem Diskursbegriff eine Schlüsselkategorie an die Hand zu bekommen, über die ein komplexer wissenschaftlicher Zugriff auf die Beschreibung und Analyse des Zusammenhangs von Medien- und Gesellschaftsentwicklung möglich wird. Dabei zeigte sich, dass die Attraktivität dieses Ansatzes darauf beruht, eine doppelte Verknüpfungsleistung zu ermöglichen. Zum einen lässt sich an ‚Diskurs‘ ein theoretisch anspruchsvolles Konzept binden, über das ein Bezugsrahmen konstruiert wird, der ein analytisches Grundverständnis für die Funktionsweisen medienkultureller Prozesse bereitstellt. Über diesen Bezugsrahmen lassen sich verschiedene Elemente oder Perspektiven miteinander in Verbindung setzen, die oftmals disziplinär voneinander geschieden sind. Das gilt insbesondere für historische, gesell-
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schaftliche, kulturelle und mediale Aspekte. Zum anderen ermöglicht ‚Diskurs‘ eine methodische Vorgehensweise, die sich dadurch auszeichnet, auf die Analyse komplexer – d.h. einzelne Individuen, Texte oder Medien übergreifende – Sinnzusammenhänge ausgerichtet zu sein. Mit dem Rekurs auf ‚Diskurs‘ ist also die Absicht verbunden, den Prozess der medial konstituierten gesellschaftlichen Selbstverständigung in eine strukturierte Analyse überführen und in einen Interpretationszusammenhang einfügen zu können. Ein derartig ausgerichtetes Diskurskonzept ist nur mit Bezug auf den französischen Kulturphilosophen Michel Foucault zu haben. Foucaults Verwendung des Diskursbegriffs zeichnet aus, empirische Analysen auf eine Art und Weise mit einem geschichts- bzw. gesellschaftstheoretischen Denken zu verbinden, dass auch die materielle, mediale Gestalt der Kommunikation darin Platz hat. Um dahin zu gelangen, das hat sich im Forschungsprozess gezeigt, ist es nicht ausreichend, Foucault allein über eine Adaption einzelner Begriffe, Modelle oder Analyseansätze zu erschließen. Ein angemessenes, praktikables Verständnis seiner Schriften bedarf einer breiteren Aneignung, die ganz allgemein seinen Umgang mit der Idee des Diskurses zu berücksichtigen versucht. So lässt sich eine Forschungsperspektive gewinnen, aus der das dynamische Verhältnis zwischen der medialen Verfasstheit der Kommunikation und ihrer diskursiven Praxis deutlich zum Vorschein kommt. Der Foucaultsche Diskursbegriff soll dabei nicht als das Paradigma der Medienanalyse behauptet werden, sondern als ein möglicher, sinnvoller Ansatz, durch den die an Verfahren und Techniken rückgekoppelte Verfasstheit der Kommunikation und unseres Denkens an Kontur gewinnen können. Denn: „The critical point is that what we think about and talk about is reflexively joined with how we communicate“ (Altheide 2002, 31). Damit ist die strategische Ausrichtung dieses Buches benannt; es geht darum, den Diskursbegriff aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive zu erschließen, um die konstitutive Rolle der Medien im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation herauszustellen. Rolf Parr und Matthias Thiele gewähren in einem Aufsatz über FOUCAULT IN DEN MEDIENWISSENSCHAFTEN (2007) einen komprimierten Überblick zu den zahlreichen, bereits existenten Arten dies zu tun. Dabei stellen sie an den Anfang die Diagnose, es gebe weder „durchgehend systematische Anschlüsse an ein als ›geschlossen‹ imaginiertes ›Gesamtwerk‹ Foucaults durch einzelne medienwissenschaftliche Arbeiten“, noch „einen dezidierten Versuch der Medienwissenschaften im engeren Sinne, die Spezifik von Mediendiskursen mit Rekurs auf Foucault zu bestimmen“ (85). Dennoch machen sie eine Reihe „produktiver“ Ansätze aus, die sie hinsichtlich des Diskursbegriffs in fünf Modelle unterteilen, mit denen das Verhältnis von Diskursen und Medien jeweils unterschiedlich austariert werde (104f.). Die auf den folgenden Seiten entwickelte Diskursanalyse stellt, auf diese Einteilung bezogen, einen eigenen Ansatz dar, der darauf abzielt, jener Spezifik medialer Diskurse auf die Spur zu kommen, die Parr/ Thiele als ein Desiderat medienwissenschaftlicher Diskursforschung herausstellen. Als grundlegend erwiesen sich dazu weniger die von Parr und Thiele angeführten, medienwissenschaftliche Konzepte, die häufig in der leicht angestaubten Foucault-Rezeption der 1970er und 80er Jahre hängen geblieben
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sind. Stimuliert wurde diese Arbeit durch die in den 1990er Jahren einsetzende Renaissance von Foucaults Schriften, mit der sein Denken eine neue Aktualität gewonnen hat (vgl. Honneth/Saar 2003; Kammler/Parr 2007). Zurückführen lässt sie sich auf das wegweisende, 1982 in erster Auflage erschienene Foucault-Buch der Philosophieprofessoren Dreyfus und Rabinow (1994), über das, wie allgemein die US-amerikanische Rezeption, Foucault einen neuen Stellenwert in der Kulturtheorie erlangt hat (vgl. Neubauer 1999). Im deutschen Sprachraum wurde diese Entwicklung hauptsächlich von der Wissenssoziologie aufgenommen, durch die in den letzten Jahren eine auf Foucault bezogene Diskursanalyse Einzug in den Kanon der sozialwissenschaftlichen Forschung gehalten hat (vgl. Keller/Hirseland/Schneider/ Viehöver 2001; 2003; 2005). Auffälligerweise geschah das ohne größere Wortmeldungen der medien- oder auch kommunikationswissenschaftlichen Forschung. Das ist eigentlich seltsam. Denn zum einen gab es, in der Medienwissenschaft zumindest, zu keinem Zeitpunkt Berührungsängste mit Foucault und seinem Diskursbegriff. Zum anderen – und das ist der interessantere Punkt – berührt die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, für die medienöffentliche Kommunikationsprozesse eine eminente Bedeutung bei der Erfassung moderner Wissenskulturen erlangt haben, das zentrale Nervensystem der Medien- und Kommunikationswissenschaft. In sozialwissenschaftlichen Konzepten medialer Diskursformationen herrscht aber an der Stelle, wo Kategorien wie ‚Medialität‘ oder ‚Öffentlichkeit‘ ins Spiel kommen, eine theoretische Leerstelle, die zu füllen, auch der Diskursforscher Reiner Keller (2005, 318f.) aus soziologischer Sicht als eine der großen Herausforderungen zukünftiger Diskurstheorien ansieht. Die Absicht, der Spezifik von Mediendiskursen auf die Spur zu kommen, resultiert somit auch aus dem Bestreben, die Medienwissenschaft in einer Diskussion zur Geltung zu bringen, die sich relativ unbemerkt teils in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, teils in ihrem eigenen Haus ereignet hat und immer noch ereignet. Als Inspiration dienten ähnlich gelagerte Forschungsprojekte, die demonstrieren, wie sich Diskursanalyse als ein anspruchsvolles Forschungsprogramm verstehen und auf bestimmte disziplinäre Fragestellungen – wie Geschichte (vgl. Maset 2002) oder Kultursoziologie (vgl. Diaz-Bone 2002a) – übertragen lässt. Mit den folgenden Ausführungen ist der Anspruch verbunden, das Verständnis für die gegenseitige Verwobenheit von Medien und Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen und unter dem Label der medienwissenschaftlichen Diskursanalyse einen programmatischen Ansatz zur ihrer Erforschung bereitzustellen. Der medienwissenschaftliche Bezugspunkt lässt sich nicht nur darauf zurückführen, dass es im Folgenden um Diskurse geht, die in den Massenmedien ihren Ort haben und in denen die gesellschaftliche Rolle von Massenmedien thematisiert wird. Er entspringt auch einer genuin medienwissenschaftlichen Herangehensweise, aus der die Frage, ‚how we communicate‘, nicht ohne Wissen darüber beantwortet werden kann, wie uns Medien kommunizieren lassen bzw. wie wir uns als Gesellschaft Medien für die Kommunikation errichtet und angeeignet haben. Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, über die eine schrittweise Annäherung an die Spezifik massenmedialer Diskurse erreicht werden soll.
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In Teil 1 über Diskurs und Diskursanalyse soll ein Verständnis des Begriffs ‚Diskurs‘ gefunden werden, von dem ausgehend ein heuristischer Ansatz entwickelt werden kann, wie sich Diskursanalyse in eine wissenschaftliche Praxis überführen lässt. Zunächst werden Foucaults Arbeiten hinsichtlich des Diskursbegriffs betrachtet. Dabei kommt es darauf an, sowohl die Konzeptionsweisen Foucaults als auch seine Konzeptionsveränderungen zu registrieren, da in diesen Veränderungen indirekt bereits eine kritische Umschreibung des Diskurskonzepts enthalten ist. So kann gezeigt werden, dass sich Diskurse mit Foucault als flexible Ordnungen zur gesellschaftlichen Produktion von Bedeutungen begreifen lassen, die sich kontextbezogen realisieren und die deshalb auch nur in einem kontextuellen Rahmen systematisiert und analysiert werden können. Im Anschluss an Foucault werden drei neuere diskursanalytische Verfahren betrachtet, die direkt auf Massenmedien bezogen sind. Sie gehen auf Arbeiten der Linguisten Norman Fairclough, Siegfried Jäger und Martin Wengeler zurück und wurden aus zwei Gründen ausgewählt. Erstens stellen sie jeweils sinnvolle Ergänzungen zu Foucault dar und werden dafür verwendet, systematisch einige Leerstellen zu füllen, die sich aus Foucaults Diskursanalyse für das hier verfolgte Projekt ergeben. Zweitens hat es sich als unablässig erwiesen, das mit diesen Ansätzen verbundene Diskursverständnis wiederum auf Foucault zurückzubeziehen, sodass in diesen Kapiteln auch die konzeptionelle Auseinandersetzung mit der Idee des Diskurses weitergeführt wird. Am Ende des ersten Teils werden die Ergebnisse in einem Konzept zur Analytik medialer Diskurse zusammengeführt. Teil 2 über Medien und Kommunikation dient dazu, das zuvor entwickelte Diskursverständnis auf die Massenmedien zu übertragen. Die Funktion dieses Schrittes liegt darin, ein wohl begründetes (Vor-)Verständnis massenmedialer Kommunikationsprozesse zu gewinnen, das in die Analyse einfließen kann. Massenmediale Kommunikation wird unter vier verschiedenen Gesichtspunkten hinsichtlich ihres diskursiven Charakters als Institutionalisierung, Prozessualisierung, Sozialisierung und Spezifizierung von Kommunikation beschrieben. Mit diesem Schritt ist die Absicht verbunden, jene diskursiven Besonderheiten herauszustellen, die Kommunikation im Moment ihrer massenmedialen Diskursivierung erfährt. Diese medialen Voreinstellungen kommunikativer Akte sind auf die in Teil 3 durchgeführte Diskursanalyse ausgerichtet. Diese Fokussierung stellt eine wesentliche Logik des zuvor entwickelten Diskursverständnisses dar, nach der jeder Diskurs in bestimmten Maße eine je eigene Spezifik besitzt. Mit der modellhaften Kartierung des Medialen, wie sie hier vorgenommen wird, ist darüber hinaus der Anspruch verbunden, vom Einzelfall ausgehend einen konzeptionellen Weg aufzeigen zu können, wie eine medienwissenschaftliche Aneignung des Diskurskonzepts ansetzen kann. Im Zentrum dieses Verfahrens steht die Auffassung, dass es durch die Medialisierung gesellschaftlicher Kommunikation zu einer überlagerten Formierung von Kommunikationsprozessen kommt, durch die die Ausbildung und Entfaltung von Wissensbeständen, wie sie auch normative Selbstverständigungsdiskurse darstellen, an spezifische Möglichkeitsbedingungen rückgebunden werden. In Teil 3 wird schließlich das zuvor entwickelte Konzept einer medienwissenschaftlichen Diskursanalyse an einem konkreten Mediendiskurs umge-
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setzt. Hier schließt die Arbeit wieder an die übergreifende Forschungsfrage nach dem Zusammenhang von Medien- und Gesellschaftsentwicklung an, die am Beginn dieser Einleitung aufgeworfen wurde. Die Analyse ist daran ausgerichtet, wie der im Fernsehen stattfindende Umgang mit Privatheit von der printmedialen Fernsehkritik in der bundesrepublikanischen Fernsehgeschichte zwischen 1960 und 2000 diskursiviert, also in die kommunikativen Praktiken der Gesellschaft eingefügt wurde. Das geschieht mittels einer als Transkonstruktion bezeichneten Analysepraxis, mit der das zuvor ausgearbeiteten Konzept umgesetzt wird. Nach einer Einführung in die thematische Ausrichtung des Diskurses, die entlang des Begriffs der Privatheit verläuft, folgt eine Erläuterung der methodischen Vorgehensweise, die mit der Auswahl und Erschließung des Materials einsetzt. Daran schließt die eigentliche Analyse über die Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehen an. Sie ist in vier historische Phasen unterteilt, die der Reihe nach und in einer wiederkehrenden Anordnung aufgefächert werden. In der folgenden Zusammenfassung werden die Ergebnisse der Analyse unter der Überschrift Privatheit im Diskurs der Fernsehkritik in einen gesellschafts-, medien- und diskursgeschichtlichen Kontext eingeordnet. Abschließend erfolgt ein Resümee, in dem noch einmal die Kernpunkte des entwickelten Ansatzes herausgestellt werden und erläutert wird, welche Aussagen sich aus der Diskursanalyse hinsichtlich der Funktionsweise eines medial induzierten gesellschaftlichen Wandels machen lassen und welche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen die Verbindung von Medien und Diskurs bereitstellt.
Danke! Inseln schreiben keine Bücher. Obwohl es gelegentlich fast danach aussah, bin ich auch während der nicht selten zähen Arbeit an diesem Buch zu keiner geworden. Danken darf ich diesmal: Knut Hickethier und Ralph Weiß, die nicht nur das Projekt zu Privatheit initiiert, sondern auch mein eigenes, das sich dann doch sehr von den ihren entfernt hat, begleitet und am Ende überaus wohlwollend zur Kenntnis genommen haben; dem Hans-Bredow-Institut, das mir als Projekt-Mitarbeiter und Mitglied des wissenschaftlichen Kollegiums spannende Einblicke in die praktische Medienforschung gewährt hat; der Universität Hamburg, die mit einem Stipendium den Anschub geleistet hat; Holger und Katharina, die sich mit viel Engagement um die Verstehbarkeit und Lesbarkeit dieses Textes gekümmert haben (wo sie damit nicht erfolgreich waren, stand ich weiterhin im Weg); Pia für technischen Support; dem ‚dritten Stock‘ und dort insbesondere Gerald für räumliches und geistiges Asyl; Conni und Gerd und – zu guter Letzt natürlich – Klara und Hans für die fortwährende Unterstützung und das Vertrauen in eine Tätigkeit, an deren alltagspraktischem Sinn mehr als berechtigte Zweifel bestehen.
T EIL 1 D ISKURS UND D ISKURSANALYSE
VORBEMERKUNG Dieser erste Teil hat die Funktion, die Bedeutung von ‚Diskurs‘ zu erschließen und das grundsätzliche Vorgehen einer Diskursanalyse zu erläutern. Dieses Vorhaben ist vielschichtiger, als es zunächst den Anschein haben mag. Denn das Konzept des Diskurses stellt sich in der Wissenschaft als ein mannigfaltiges und in weiten Teilen unscharfes Terrain dar, das aus einem oftmals beliebig wirkenden und ungeordneten Nebeneinander kaum ausformulierter Diskursbegriffe besteht. Wenngleich es mittlerweile – insbesondere im Zuge der sozialwissenschaftlichen Renaissance des Diskursbegriffs ab Mitte der 1990er Jahre – eine Reihe recht gut ausgearbeiteter Ansätze gibt (stellvertretend: Keller 2005), bleibt mit der Idee des Diskurses ein sehr heterogenes Ensemble wissenschaftlicher Ansätze verbunden. Die Minimalbedingung dieser Ansätze lässt sich, grob betrachtet, darin erkennen, dass mit dem Begriff des Diskurses eine symbolische Ordnung bezeichnet wird, die entsteht, wenn Kommunikation als ein gesellschaftliches Ereignis begriffen wird. Würde man diese symbolische Ordnung beispielsweise auf die aus der Linguistik bekannte Hierarchisierung der Sprache in die Ebenen Phonetik, Morphemik, Syntaktik, Semantik und Pragmatik beziehen, so wäre mit ‚Diskurs‘ eine darüber liegende Ordnungsebene gemeint. Das bedeutet nicht, ein Diskurs ist ein linguistisches Phänomen, sondern das Gegenteil: ‚Diskurs‘ stellt die Frage nach der übergreifenden, empirisch beschreibbaren Strukturierung von Kommunikation durch ein Bündel von Entitäten, zu denen genauso linguistische Kategorien zählen wie soziale, politische, ökonomische – oder auch mediale. Die Herausforderung, die aus der Adaption eines solchen Grundverständnisses von ‚Diskurs‘ folgt, hat der Philosoph Manfred Frank bereits vor 20 Jahren formuliert: Nennen wir – in einer vagen Annäherung – Diskurs eine symbolische Ordnung, die allen unter ihrer Geltung sozialisierten Subjekten das Miteinander-Sprechen und Miteinander-Handeln erlaubt, so werden wir vermuten, dass es immer eine Ordnung des Diskurses geben wird […]. Aber worin besteht [diese] Ordnung? (Frank 1988, 32)
Für Frank kann die Frage nach der Ordnung des Diskurses nur einen rhetorischen Stellenwert haben, da sie seines Erachtens nicht zu beantworten ist. Daraus folgert er, die Idee der Diskursanalyse müsse ein imaginäres Projekt bleiben, solange die Vorstellung eines Diskurses, als der letztgültigen Ebene symbolischer Ordnung, nicht hinreichend bestimmt werden kann. Genau das soll jedoch in diesem ersten Teil versucht werden. Dazu werden allerdings zwei Einschränkungen vorgenommen. Die erste besteht darin, dass die Be-
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schreibung dieser Ordnung nicht auf den Diskurs abzielen kann, sondern immer eine begrenzte Reichweite hat, die sowohl durch den Gegenstand, also den zu analysierenden Kommunikationsbereich, als auch durch das Forschungsinteresse, also die gewählte wissenschaftliche Herangehensweise, limitiert ist. Die zweite Einschränkung besteht darin, dass die Ordnung, die einem Diskurs zugeschrieben werden kann, immer nur das Ergebnis einer mehr oder weniger gut begründeten Annäherung sein kann, da es sich um einen ‚überkomplexen‘ Sachverhalt handelt, der vielfach determiniert und historisch kontingent ist. Für die folgenden Kapitel bedeutet das, die Ausarbeitung von Diskurs und Diskursanalyse geschieht vor dem Hintergrund einer Ausrichtung auf die medienwissenschaftlich ansetzende Analyse von verschiedenen Debatten der Fernsehkritik, die über längere Zeiträume in Printmedien verfolgt werden sollen. Das Ziel dieses Teils besteht mit anderen Worten darin, einen Weg aufzuzeigen, wie sich Zeitungsartikel als Produkte massenmedialer Kommunikation über größere Zeiträume hinweg und in größerer Anzahl mit Rekurs auf die Kategorie des Diskurses erschließen lassen. Dazu soll ein theoretisches und methodisches Gerüst errichtet werden, an dem sich eine medienwissenschaftlich ausgerichtete Analyse orientieren kann. Das geschieht durch die Auseinandersetzung mit vier Vorstellungen und Modellen von Diskurs und Diskursanalyse. Am Anfang stehen die Arbeiten des französische Philosophen, Historikers und Kulturkritikers Michel Foucault, die den gewissermaßen ‚klassischen‘ Grundstock des zuvor skizzierten Diskursverständnisses beinhalten. Die Beschäftigung mit Foucault dient in erster Linie dazu, dieses Grundverständnis von Diskurs und Diskursanalyse herauszuarbeiten. Das FoucaultKapitel nimmt damit einen besonderen Platz ein, der jedoch nicht dahingehend zu verstehen ist, dass hier die ‚reine Lehre‘ des Diskurses exegiert werden soll. Der Grund der exponierten Stellung Foucaults liegt vielmehr in der gleichfalls exponierten wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung, die seine Arbeiten innerhalb der Diskursanalyse einnehmen. Außerdem hat es sich bei der Ausarbeitung gezeigt, dass Foucaults Überlegungen zum Diskurs eine theoretische und methodische Qualität beinhalten, die in diskursanalytischen Adaptionen häufig verloren gegangen ist. Die Ausführlichkeit der Beschäftigung mit Foucault macht es möglich, das dort bereitgestellte Wissen über Diskurs und Diskursanalyse effektiv abzuschöpfen. In den nachfolgenden Kapiteln geht es dann darum, wie sich ein diskursanalytischer Ansatz, wie er von Foucault für die Wissenschaftsgeschichte entworfen wurde, auf den Bereich der Massenmedien übertragen lässt. Dazu wurden drei diskursanalytische Ansätze ausgewählt. Die Auswahl der vorgestellten Autoren ist das Ergebnis einer theorie-strategischen Überlegung, die von dem Gedanken geleitet ist, aus der umfangreichen Literatur zur Diskursanalyse solche Ansätze herauszufiltern, die mit Foucaults Diskursbegriff (einigermaßen) kompatibel sind und jeweils bestimmte innovative Ergänzungen beinhalten, die zusammengenommen die Grundlagen für einen modellhaften Rahmen einer medienwissenschaftlichen Diskursanalyse bereitstellen. Die Auswahl fiel auf die ‚Critical Discourse Analysis‘ des britischen Linguisten Norman Fairclough, an der sich zwei Aspekte medialer Diskurse verdeutli-
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chen lassen: die besondere intertextuelle Struktur massenmedialer Kommunikation und ihre Verankerung in soziokulturelle und -politische Machtkonstellationen. Daran anschließend wird anhand der ‚Kritischen Diskursanalyse‘ des Duisburger Linguisten Siegfried Jäger ein pragmatisches Analysemodell aufgezeigt, das der besonderen Situierung massenmedialer Diskurse Rechnung trägt, die darin liegt, in einem mehrdimensional überlagerten Ereignis-/Themenkontext zu verlaufen. Ergänzt werden diese Ansätze schließlich durch das Konzept einer topostheoretischen Diskursanalyse, wie es von dem Düsseldorfer Linguisten Martin Wengeler erstellt wurde. Da ein wesentliches Kennzeichen des Foucaultschen Diskursbegriffs die Verzahnung von Theorie – als der begrifflichen Konstruktion eines Untersuchungsfeldes – und Analyse – als der systematisierten Beschreibung diskursiver Ereignisse – ist, werden die drei Diskursansätze jeweils auf diese beiden Gesichtspunkte hin abgeklopft. Im Anschluss wird mit Bezug auf die vier Autoren-Kapitel eine Analytik medialer Diskurse entworfen, die den Ansatz aufgezeigt, auf dem die weitere Ausarbeitung einer medienwissenschaftlichen Diskursanalyse basiert.
MICHEL FOUCAULT Michel Foucault ist der Urheber einer Idee von Diskurs, mit der die kulturelle Bedingtheit jeder Kommunikation ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit vorgedrungen ist. Besonders in den Arbeiten aus den 1960er Jahren bildet der Begriff des Diskurses die zentrale theoretische Schnittstelle, die es ihm ermöglicht, historische Analysen zur Geschichte der Medizin und der ‚Humanwissenschaften‘ kulturtheoretisch zu unterfüttern. Eine Art theoretische Quintessenz dieser Überlegungen stellt sein Buch über die ARCHÄOLOGIE DES WISSENS (1981) dar, das die erste methodische Konzeption einer Diskursanalyse enthält. Im Allgemeinen werden Foucaults Arbeiten in der chronologischen Abfolge Archäologie, Genealogie, Ethik gelesen (vgl. Brieler 1998), in der die Diskursanalyse dem Stadium der Archäologie zugeordnet wird, das mit ARCHÄOLOGIE DES WISSENS abschließt. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (1994) weisen jedoch zu Recht darauf hin, dass eine solche Schematisierung dem Verständnis Foucaults eher abträglich ist. Denn bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass bei Foucault eigentlich „keine vor- oder nacharchäologische oder genealogische Phasen“ (133) zu finden sind, sondern lediglich Verlagerungen des wissenschaftlichen Interesses. Deshalb lässt sich auch die Frage nach der Bedeutung des Foucaultschen Diskursbegriffs nicht nur mit Blick auf die Überlegungen der sechziger Jahre beantworten, da auch die späteren Arbeiten teils modellierend, teils erweiternd an die frühen Diskurskonzepte anknüpfen. Vielleicht kann man sogar soweit gehen, dass die unterschiedlichen Forschungsetappen für Foucault lediglich unterschiedliche Versuchsanordnungen darstellten, mit denen er seinem eigentlichen Thema auf der Spur bleiben wollte. In einem 1978 geführten Interview mit dem italienischen Journalisten Ducio Trombadori resümiert Foucault (1997, 52), er habe sich „im Grunde […] immer nur damit beschäftigt, wie die Menschen in den abendländischen Gesellschaften diese zweifellos grundlegenden Erfahrungen wahrgenommen haben: in den Prozeß der Erkenntnis eines Objektbereichs einzutreten und dabei gleichzeitig sich selbst als Subjekt mit einem festen und determinierten Status zu konstruieren“. Anders ausgedrückt lassen sich Foucaults Auseinandersetzungen mit dem Diskurs gleichfalls als Wegmarken einer (unabgeschlossenen) Suche nach der angemessenen Beschreibung und Kritik der Konstitution des Menschen in der modernen Welt lesen. Im Folgenden kann es jedoch nicht darum gehen, diese Suche zu rekonstruieren. Vielmehr liegt der Sinn einer Inspektion der Schriften Foucaults darin, die Bewegungen zu verfolgen, die der Diskursbegriff in den verschiedenen Forschungsphasen gemacht hat. Dazu wird, ausgehend von Foucaults frühen Diskursanalysen (Archäologie), die Diskurstheorie der ARCHÄOLOGIE
24 | DISKURS UND DISKURSANALYSE DES WISSENS ausführlich beschrieben (Theorie des Diskurses), um daran anschließend auf einige wesentliche Modifikationen zu sprechen zu kommen, die mit dem Weg zur Genealogie verbunden sind (Genealogische Modellierungen). Auf dieser Grundlage wird schließlich die Frage beantwortet, inwiefern die folgenden Ausführungen auf Foucault als Ausgangspunkt zur Analyse massenmedialer Diskurse zurückgreifen können.
Archäologie Bei einer oberflächlichen Betrachtung lassen sich die ersten großen Arbeiten Foucaults aus den frühen 1960er Jahren als historische Studien verstehen, die in den Bereich der Medizingeschichte fallen. In WAHNSINN UND GESELLSCHAFT (1969, original 1961) und DIE GEBURT DER KLINIK (1999, original 1963) befasst er sich mit der historischen Ausbildung des medizinischen Systems und damit einhergehenden Entdeckungen neuer Krankheitsbilder und Therapieformen. Aber schon in diesen frühen Schriften wird eine spezifische Sichtweise auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften deutlich. Die Entdeckung des Wahnsinns als Therapiebereich durch die sich herausbildende moderne Medizin gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist für Foucault nicht die logische Folge eines stetigen wissenschaftlichen Prozesses, der Schritt für Schritt die Wahrheit über den Menschen und seine Leiden entdeckt. Die Pathologisierung und Ausschließung bestimmter Verhaltensweisen unter dem Label des ‚Wahnsinns‘ stellt für ihn vielmehr ein „Zivilisationsprodukt“ (Foucault, zit. n. Eribon 1999, 177) dar, das keine eigentliche Entsprechung in der Natur des Menschen habe. Vielmehr handle es sich um eine Form der normativen Ausgrenzung bestimmter Verhaltensweisen und deren ‚Entsorgung‘ in bestimmte gesellschaftliche Institutionen wie Krankenhäuser und Sanatorien. Die historische Annäherung an den Wahnsinn ist deshalb für Foucault nur über einen methodischen Umweg zu erreichen, der das Phänomen des Wahnsinns über die „Geschichte der Kulturen [zu ergründen versucht], die ihn als solchen bezeichnen und verfolgen“. Bereits in diesen Frühschriften werden zwei zentrale Motive Foucaults deutlich. Erstens unterliegen die Normen und Praktiken des gesellschaftlichen Zusammenlebens einer kulturellen Konstruktion, die auf verschiedenen Variablen beruht. Foucault entfaltet seine Kritik am wissenschaftlichen Fortschrittsdenken der Medizin anhand einer Analyse von Schriftstücken, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Blickwinkeln (wie Medizin, Philosophie, Justiz, Theologie oder Pädagogik) den ‚Wahnsinn‘ zu erschließen und definieren trachten. Zusätzlich bezieht er sich auf den praktischen gesellschaftlichen Umgang mit dem Wahnsinn: die Einrichtung von Verwahr- und Heilanstalten, das Arzt/Patienten-Verhältnis, den allgemeinen Umgang mit den als ‚wahnsinnig‘ Stigmatisierten etc. Das heißt, Foucault (1969, 13) berücksichtigt in seiner Argumentation sowohl sprachliche Formen der Wissensproduktion („Begriffe“) als auch eine Reihe außersprachlicher Faktoren („Institutionen und […] Maßnahmen“), die in einem Zusammenhang mit dem Phänomen stehen. Auf der theoretischen Ebene bleibt jedoch offen, wie eine solche „Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit“ angelegt ist. Zweitens
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kommt schon in diesen frühen Schriften eine deutliche Ablehnung eines auf gesellschaftlichen Fortschritt fixierten Weltbildes zum Ausdruck. Auch wenn diese Kritik zunächst noch auf den Bereich der Medizin bzw. der modernen Psychiatrie beschränkt ist, wird darin schon deutlich, warum der Philosoph die Auseinandersetzung mit der Geschichte sucht. Im verschlossenen Raum der Vergangenheit liegen für ihn die Spuren verborgen, ohne die sich die Gegenwart nicht erklären lässt. DIE ORDNUNG DER DINGE (1974, original 1966) ist Foucaults einzige rein diskursanalytische Arbeit geblieben. Ihr Thema ist die Wissenschaftsgeschichte. Das Untersuchungsmaterial besteht aus historischen Schriften, die Foucault allgemein dem Feld der Humanwissenschaften zurechnet und die zwischen dem sechzehnten und neunzehnten Jahrhundert entstanden sind. Anhand dieser Texte rekonstruiert Foucault, wie aus den Erkenntnisbereichen des Lebens, der Arbeit und der Sprache die modernen Wissenschaften Biologie, Ökonomie und Linguistik hervorgegangen sind. Sich auf das Gebiet der Wissenschaftsgeschichte zu begeben, bedeutet für ihn, Wissenschaftsgeschichte nicht im traditionellen Sinne zu betreiben – als Ideengeschichte genialer Denker, die Licht ins Dunkel der Natur gebracht hätten. Wiederum ist er daran interessiert, ob hinter einer Kultur, wie der Geschichte des Wissens, ein formales Regelsystem aufgedeckt werden kann, das den „Gesetzen eines bestimmten Codes“ (9f.) gehorcht. Die diskursanalytische Methode ist darauf ausgerichtet, die Wissensordnung, Episteme, freizulegen, die in der Erforschung und Beschreibung unterschiedlicher Bereiche der Humanwissenschaften innerhalb einzelner Epochen zum Aufscheinen kommt. Mit einer Episteme verbindet Foucault „die Gesetze des Aufbaus, die für sich selbst nie formuliert worden sind, sondern nur in weit auseinanderklaffenden Theorien, Begriffen und Untersuchungsobjekten zu finden sind“ (12). Die Episteme ist also keine unbewusste kollektive Struktur, die außerhalb der wissenschaftlichen Arbeiten angesiedelt ist. Sie soll sich aus den Analysen und Untersuchungen, den Theorien und Begriffen selbst herausdestillieren lassen, von denen sie nicht getrennt werden könne. Die Episteme dient Foucault in DIE ORDNUNG DER DINGE als zentrale analytische Bezugsgröße. Er bezieht sich damit auf eine Tradition französischer Wissenschaftshistoriker wie Gaston Bachelard und den Medizinhistoriker Georges Canguilhem, der nicht nur sein Lehrer und Förderer war, sondern in der Bibliografie auch als einziger zeitgenössischer Historiker angeführt wird. Die französische Epistemologie kennzeichnet eine Abkehr von einem evolutionistisch-transzendentalen Wissenschaftsverständnis, das sie durch die historische Beschreibung und Analyse der normativen Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis ersetzt (vgl. Michaux 1990). Diese Voraussetzungen gründen sich auf eine jeweils spezifische Organisation von Erfahrung, zu der auch soziale Normen, wie die gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit von Wissenschaftlern, gehören (vgl. Canguilhem 1979). Foucault greift in der Archäologie der Humanwissenschaften die Überlegung auf, wissenschaftliche Diskurse als eine normative Struktur zu verstehen. Allerdings folgt er dabei nicht dem Ziel der klassischen Epistemologie, die inneren Normen und Regelstrukturen der Wissenschaften zu beschreiben, sondern versucht genereller, die Verfahrensweisen der Wissensproduktion offenzule-
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gen (vgl. Davidson 2003). So kann er herausarbeiten, dass innerhalb einer bestimmten Epoche ein allgemeiner wissenschaftlicher Blick auf die Welt herrscht, in dem ‚die Dinge und die Sachen‘ (so die deutsche Übersetzung des französischen Originaltitels) über die einzelnen Disziplinen hinweg miteinander verknüpft sind. Diese Perspektive kennzeichnet Foucault als „Archäologie“: Man muss sorgfältig zwei Formen und zwei Ebenen der Untersuchung unterscheiden. Das eine wäre eine Untersuchung von Meinungen, um zu erfahren, wer im achtzehnten Jahrhundert Physiokrat gewesen ist und wer Anti-Physiokrat war, welche Interessen im Spiel waren, welches die Punkte und Argumente der Polemik waren, wie sich der Kampf um die Macht abgewickelt hat. Die andere Frage besteht, ohne dass man den Personen oder ihrer Geschichte Rechnung trägt, darin dass man die Bedingungen definiert, von denen ausgehend es möglich gewesen ist, in kohärenten und gleichzeitigen Formen das ›physiokratische‹ Denken und das ›utilaristische‹ Denken zu denken. Die erste Analyse würde einer Doxologie zukommen. Die Archäologie kann nur die zweite anerkennen und praktizieren. (Foucault 1974, 252)
Foucault zeigt anschaulich auf, wie sich die einzelnen Forschungsgebiete trotz ihrer unterschiedlichen Gegenstände, Begrifflichkeiten und Methoden parallel zueinander entwickeln. Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurde das Wissen über die Welt nach Kriterien der Ähnlichkeit angeordnet. In den darauf folgenden Jahrhunderten wichen diese Denkformen einem System der Repräsentation, dem die Annahme einer gewissermaßen natürlichen Verbindung zwischen den Signifikaten und den Signifikanten zugrunde lag, das mit der aufkommenden Moderne zersprungen ist und durch eine neue Form von Rationalität ersetzt wurde. In diesen verschiedenen Formen der Produktion von Wissen findet die Episteme ihren Ausdruck. Sie bezeichnet für Foucault die Bedingung, von der aus ein bestimmtes Denken innerhalb der Wissenschaften überhaupt erst möglich wird. Auf sie richtet sich das analytische Interesse der Archäologie. Für ein breiteres Verständnis dieser Historiografie ist es nicht ausreichend, die Archäologie nur als einen methodischen Kunstgriff zu betrachten, der dabei helfen soll, historische Konstellationen aufzuschlüsseln. Foucault interessiert sich für die Wissenschaften nicht um ihrer selbst willen. Ihm ist daran gelegen, Wege zur Analyse der kulturellen Beschaffenheit der modernen Zivilisation zu finden, um „die nackte Gestalt der subjektzentrierten Vernunft zu entlarven“ (Habermas 1991, 283). Deshalb verklammert Foucault seine Untersuchungen zur Geschichte der Medizin und zur Entstehung der modernen Wissenschaften im Vorwort zu DIE ORDNUNG DER DINGE (1974, 27). Die Intention von WAHNSINN UND GESELLSCHAFT habe darin gelegen, das „Andere“ zu beschreiben, „das, was für eine Zivilisation […] auszuschließen ist (um die innere Gefahr zu bannen), aber indem man es einschließt (um seine Andersartigkeit zu reduzieren)“. Mit DIE ORDNUNG DER DINGE habe er, spiegelbildlich dazu, die „Geschichte des Gleichen“ geschrieben, das dem System der Ausschließung gegenüberstehe und in dem die Regeln vorgegeben werden, nach denen eine Zivilisation eine Ordnung aufbaut. Die Zivilisationsordnung, die Foucault dabei ins Visier nimmt, betrifft nicht
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die Vergangenheit, sondern die Gegenwart, wie der Historiker Hans-Jürgen Goertz schreibt: Foucault betrieb Geschichte nicht um der Vergangenheit, sondern um der Gegenwart willen. Er wollte die Geschichte der Gegenwart schreiben, d.h. nicht darstellen, wie alles Vergangene auf die Gegenwart zulief (das Vergangene flieht ja eher der Gegenwart), sondern woraus sich die Gegenwart zusammensetzte, um sie deutlich von der Vergangenheit abzusetzen und ihre historisch unverwechselbare, einzigartige Gestalt herauszustellen. (Goertz 2001, 73f.)
Gekennzeichnet ist diese Gegenwart der Moderne für Foucault (1974, 388) dadurch, dass sie den Menschen – wie er anhand einer Bildbeschreibung zu Las Meninas von Velázquez ausführt – auf den „Platz des Königs“ gesetzt und auf diese Weise der problematischen Doppelrolle einer „empirischtranszendentalen Dublette“ ausgeliefert habe. Ein wesentliches Kennzeichen des modernen Wissens sei also die Erschließung des Menschen als Gegenstand empirischer Forschung, der mit einer Vielzahl neuer Methoden beobachtet, katalogisiert und vermessen wird. Zugleich sei der Mensch im Prozess der Säkularisierung durch das anthropozentrische Denken der Philosophie jedoch zum transzendentalen Fixpunkt aller Erfahrung und Erkenntnis erhoben worden. Wenn der Mensch für Foucault eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts darstellt (373), so ist damit diese Doppelstellung als erkennendes Subjekt und analysiertes Objekt gemeint, die für Foucault die Voraussetzung für das Entstehen der Humanwissenschaften ist. An diesem Punkt setzt seine Kritik an den Humanwissenschaften an, unter die er so ziemlich das gesamte Arsenal der Geistes- und Sozialwissenschaften subsumiert. An die Stelle einer „Metaphysik der Repräsentation“ sei mit ihnen eine „Metaphysik des Lebens“ getreten (383), die zur Folge habe, dass die Humanwissenschaften fortlaufend mit Begriffen und Modellen operieren, die aus den Naturwissenschaften oder der Philosophie entliehen sind und in eigentlich unzulässiger Weise auf die Bereiche des Lebens übertragen wurden. Deshalb sind die Humanwissenschaften im Verständnis Foucaults Pseudowissenschaften. Diese Folgerung konfrontiert jedoch auch den Historiker Foucault mit einem grundsätzlichen Paradox. Schließlich forscht und schreibt er ja selbst aus dem Diskurs dieser zweifelhaften Vernunftanordnung heraus und sitzt damit ebenfalls in den Verflechtungen der modernen Episteme des Wissens fest. Foucault musste also mit seiner Archäologie auch eine Antwort auf das Problem finden, „wie eine Geschichte der Konstellation von Vernunft und Wahnsinn überhaupt geschrieben werden kann, wenn sich die Arbeit des Historikers doch ihrerseits im Horizont der Vernunft bewegt“ (Habermas 1991, 290). Am Ende von DIE ORDNUNG DER DINGE deutet Foucault den Weg an, über den er sich von diesem Paradox zu lösen versucht. Er nennt drei junge Wissenschaftsdisziplinen, denen er aufgrund ihrer Stellung im Wissenschaftssystem und ihres jeweiligen Gegenstandsbereichs das Potenzial einräumt, der gescholtenen ‚Metaphysik des Lebens‘ zu entfliehen. Aus diesen Disziplinen hat Foucaults Denken entscheidende Anstöße erhalten: (1) Psychoanalyse, (2) Ethnologie und (3) Linguistik.
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(1) Psychoanalyse. Auf eine Kritik Sartres an DIE ORDNUNG DER DINGE antwortet Foucault 1968 (2001a, 849), als Historiker der Medizin und des Wissens habe er versucht, „in der Geschichte der Wissenschaften, der Erkenntnis und des menschlichen Wissens etwas zu finden, das gewissermaßen deren Unbewusstes darstellt“. Dieses Unbewusste solle jedoch nicht wie in der Psychoanalyse auf ein individuelles oder kollektives Bewusstsein bezogen sein, da „das menschliche Bewusstsein oder die menschliche Vernunft nicht gleichsam Besitzer ihrer Geschichte sind“. Die Geschichte ist für Foucault folglich ein subjektloses Regelsystem, das in der Episteme seinen Ausdruck findet. (2) Ethnologie. Über die Ethnologie schreibt Foucault: Zweifellos ist es schwierig zu behaupten, dass die Ethnologie eine grundlegende Beziehung zur Historizität hat, weil sie nach traditioneller Vorstellung die Kenntnis der Völker ohne Geschichte ist. Auf jeden Fall untersucht sie in den Kulturen vielmehr die Invarianten in den Strukturen als die Abfolge der Ereignisse. Sie hebt den langen ›chronologischen‹ Diskurs auf, durch den wir versuchen, unsere eigene Kultur innerhalb ihrer selbst zu reflektieren, um synchronische Korrelationen in anderen Kulturformen hervorzuheben. (Foucault 1974, 450f.)
Mit anderen Worten weist die Ethnologie, worunter Foucault eine strukturalistische Ethnologie im Sinne von Lévi-Strauss (1967) versteht, zwei wesentliche Merkmale auf, die auch für die Diskursarchäologie kennzeichnend sind. Erstens hat sie ein ‚unhistorisches‘ Verständnis von Geschichte, da sie den fremden Kulturen in einem Ist-Zustand begegnet. Deshalb konzentriert sie sich auf eine Beschreibung vorgefundener Strukturen, die sich ihrerseits nur im Vergleich zu Beschreibungen andere Kulturformen bewerten lässt. Auf ähnliche Art versucht die Archäologie, aus dem Lauf der Geschichte Diskurse als eine bestimmte Form von Strukturen, die eine Episteme bilden, herauszupräparieren und im Vergleich zu anderen Epistemen zu analysieren. Was für den Ethnologen die verschiedenen Kulturen sind, sind für den diskursanalytischen Archäologen die verschiedenen Epochen. Zweitens steht der Ethnologe nicht dem Problem gegenüber, in den „chronologischen Diskurs“ einer Kultur verstrickt zu sein, sondern ist gezwungen, seine Beobachtungen von außen zu machen. Das ist auch Foucaults Ansatz, mit dem er dem Paradox der Verwobenheit in die eigenen Diskurse zu entkommen versucht. Der Archäologie fällt demnach die Aufgabe zu, der eigenen Kultur mit der Unvoreingenommenheit eines Fremden gegenüberzutreten, damit eine „artifizielle Verfremdung der eigenen Kultur“ (Honneth 1989, 124) entstehen kann, die eine möglichst unbefangene Perspektive auf die Diskurse ermöglichen soll. (3) Linguistik. In der linguistischen Analyse sieht Foucault schließlich das wissenschaftliche Werkzeug, mit dem sich ein solches Projekt am sinnvollsten verwirklichen ließe. Unter Linguistik versteht er keine bestimmte Schule, obgleich er sich auch hier in der Nähe strukturalistischer Ansätze bewegt. Ihr Reiz liege in ihrem grundsätzlichen Vermögen, Formen einer ‚reinen‘ Beschreibung und Analyse zu generieren, die unabhängig von den Traditionen der Humanwissenschaften sind, da sie sich auf die Ebene der Zeichen beschränken können. Denn die Linguistik „ist konstitutiv für ihr Ob-
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jekt“ (Foucault 1974, 456). Darüber hinaus falle der Sprache, die sowohl Form als auch Werkzeug des Wissens ist, prinzipiell eine herausragende Bedeutung bei der Analyse kulturell konstituierter Wissensordnungen zu.
Theorie des Diskurses Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der großen Resonanz, die DIE ORDNUNG DINGE in Frankreich gefunden hatte, und der damit einhergehenden Kritik entschloss sich Foucault (1997, 78) dazu, von seiner Forschungspraxis abzuweichen und ein Buch zu schreiben, in dem er explizit über seine Vorgehensweise Rechenschaft ablegt. Trotz der immer wiederkehrenden Rekurse auf die empirischen Studien ist die ARCHÄOLOGIE DES WISSENS (1981, original 1969) jedoch mehr als ein induktives Resümee der vorangegangenen Arbeiten. Über die methodische Vergewisserung eines empirischen Theoretikers hinausgehend, stellt sie in Grundzügen die Ausarbeitung einer diskursanalytisch verfahrenden Geschichtstheorie dar, die darum bemüht ist, einen neuen Zugang zur Geschichte zu finden. Im Kontext des französischen Geschichtsdiskurses reiht sich Foucault in eine neue Art der Auseinandersetzung mit der Geschichte ein (9–13). An die Stelle einer teleologischen Kontinuität fügt sich darin die Vorstellung von Geschichte als einem diskontinuierlichen Prozess, in dem es darauf ankomme, die Brüche und Transformationen der Vergangenheit herauszuarbeiten. An die Stelle der traditionellen Geschichtsschreibung, die für Foucault eine ideologische Konstruktion darstellt, die auf dem Missverständnis beruhe, aus den Dokumenten der Vergangenheit ließe sich eine ‚sinnvolle‘ objektive Geschichte rekonstruieren, soll die „Archäologie“ treten. Ein zentrales Kennzeichen dieses Umgangs mit der Geschichte liegt in dem Verhältnis, das der Historiker gegenüber dem Material einnimmt, über das er auf die Vergangenheit zugreift. Die Bestandteile der Archive, die die materiale Grundlage der Geschichtsschreibung bilden, sollen nicht länger als Teile eines sinnvollen Ganzen betrachtet werden. Deshalb schlägt Foucault vor, die schriftlichen bzw. zeichenhaften Überlieferungen nicht als „Dokumente“ zu begreifen, die sich in einem zu entschlüsselnden, tieferen Sinnhorizont bewegen. Stattdessen spricht er von „Monumenten“ (15). Mit dieser Umbenennung soll deutlich werden, dass der Historiker der Vergangenheit nur in einer Anzahl chaotischer und zufälliger Daten habhaft werden könne:
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Foucault stellt sich die Realität, die nach Abzug der ordnenden Kategorien der Geisteswissenschaften übrig bleibt, als eine chaotische Ansammlung von sprachlichen Aussagen, als eine unüberblickbare Anzahl ›diskursiver Ereignisse‹ vor; diese bilden den rohen Grundstoff, aus dem das Gesamtfeld kulturellen Wissens sich dann zusammengesetzt zeigt, wenn es unter archäologischen Gesichtspunkten betrachtet wird. (Honneth 1989, 149)
Die Archäologie tritt an die Stelle eines hermeneutischen Sinnverstehens der Vergangenheit. Foucault (1981, 19) möchte sich damit von einer Geschichtsschreibung lösen, die er als „globale Geschichte“ bezeichnet und in der ver-
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sucht werde, die einzelnen historischen Dokumente in einen einheitlichen Gesamtzusammenhang zu bringen. Damit ist eine weitere Absicht verbunden. Es geht Foucault nicht nur darum, wie Honneth schreibt, zu gewährleisten, nicht in die Falle zu tapsen, die die Tradition der als problematisch eingestuften Geisteswissenschaften stellt. Foucault will zugleich ein neues Verständnis davon etablieren, wie das Vergangene im Rückgriff des Historikers immer nur aufgefasst werden könne: als ein Konglomerat disparater Ereignisse, zwischen denen zunächst einmal keine übergeordnete logische Verbindung bestehe. Aus diesem Grund solle die Geschichtsschreibung nicht versuchen, die Dokumente in einen ‚globalen‘ Kontext zu drücken bzw. sie als eine Abfolge von Kausalitäten zu deuten. Dieser Punkt ist wesentlich für das Verständnis der weiteren Gestaltung der diskursanalytischen Archäologie. Denn wenn es keine übergreifende Ordnung der Geschichte gibt, diese Erkenntnis aber nicht dazu führen soll, Geschichte grundsätzlich zu leugnen oder zu dekonstruieren, muss eine alternative Ordnung aufgezeigt werden, die an die Stelle des teleologischen Geschichtsbildes gestellt werden kann. Foucault bezeichnet diese Konzeption als „allgemeine Geschichte“ (19), die von dem Gedanken geleitet werden soll, Geschichte als eine Abfolge von diskontinuierlichen Serien anzunehmen, deren Kommen und Gehen die Zeitläufte bestimmen. Anstatt nach dem roten Faden zu suchen, der sich durch die Geschichte zieht, ist die „serielle“ Geschichtsschreibung damit befasst, welche Bezugsform legitimerweise zwischen den verschiedenen Serien beschrieben werden kann; welches vertikale System sie zu bilden imstande sind, welches Spiel von Korrelationen und Dominanzen zwischen ihnen besteht; welche Wirkung die Verschiebungen, die verschiedenen Zeitlichkeiten, die verschiedenen Beharrungszustände haben können; in welchen verschiedenen Mengen gewisse Elemente gleichzeitig vorkommen können; kurz: nicht nur, welche Folgen, sondern welche ›Folgen von Folgen‹ – oder in anderen Worten, welche ›Tableaus‹ gebildet werden können. (Foucault 1981, 20)
Sehr deutlich kommt in dieser programmatischen Textstelle zum Ausdruck, wie sich Foucault einer mathematisch geprägten Terminologie bedient, die sich von geisteswissenschaftlichen Kategorien der Bildung übergeordneter Einheiten deutlich absetzen soll. Zu diesen problematischen Kategorien zählen Begriffe wie: Tradition, Einfluss, Entwicklung und Evolution, Mentalität und Geist, Wissenschaft und Literatur, Autor und Werk, Ereignis, Kontinuität und Ursprung (33–39). Es wäre allerdings ein Missverständnis des Foucaultschen Ansatzes, die Problematisierung dieser Begriffe dahingehend zu deuten, dass er sie als nicht existente Einheiten betrachten würde. Foucaults (2001b, 1031) Diktum über den Autor – „Was liegt daran, wer spricht?“ – meint etwas anderes als Barthes’ (2000) These vom „Tod des Autors“. Foucault ist daran gelegen, diese Begriffe zunächst aus der Analyse auszuschließen, da ihnen eine eigene Wertigkeit anhaftet, die eine möglichst unvoreingenommene Analyse des Materials überlagern könnte. So plädierte er (1981, 40) dafür, diese Begriffe „in der Schwebe“ zu halten, um sie später bei Bedarf unter dem Aspekt ihrer eigenen Konstruktionsmechanismen und Regeln
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zu analysieren. Die primäre Analyse hingegen soll sich nur auf „das Gebiet aller effektiven Aussagen (gesprochen oder geschrieben)“ (41) beziehen. Dahinter verbirgt sich einer der Grundgedanken der Diskursarchäologie. Die Diskurse sollen in einem gewissermaßen ‚unberührten‘ Zustand erfasst werden, damit sie nicht mit vorgelagerten Bestimmungen und Kontexten überwölbt und somit in eine Art ‚falsche Wahrheit‘ gepresst werden. Um das zu gewährleisten, soll die diskursanalytische Methode darauf abzielen, eine Form der „reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse“ aufzuzeigen, die wiederum den „Horizont der Beschreibung der sich darin bildenden Einheiten“ darstellen soll. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise soll das hochgesteckte Ziel der Foucaultschen Diskursanalyse erreicht werden, das an der Frage orientiert ist, wie es kommt, „dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle“ (42). Diskursanalyse ist folglich damit befasst, wie sich einzelne Aussagen zueinander in Beziehung setzen lassen. Jede einzelne Aussage trägt den Status eines singulären Diskursereignisses, in dem sich die Diskontinuität der Geschichte spiegelt. Der diskursanalytischen Methode fällt die Aufgabe zu, diese disparaten Ereignisse aus ihren ursprünglichen Verwendungskontexten heraus zu nehmen und als andere Einheiten neu zu gruppieren und zu beschreiben. Diese anderen Einheiten bilden die Diskurse, die eine in gewissem Sinne artifizielle, auf jeden Fall aber nicht mit außerdiskursiven Elementen überlagerte Anordnung von Aussagen ergeben sollen. Um diese ‚Reinheit‘ zu gewährleisten, ist Foucault gezwungen, einen Begriffsapparat zu entwerfen, der sich nicht auf gängige geisteswissenschaftliche Terminologien stützt, sondern nur auf solchen Konstanten beruht, die innerhalb der Diskurse vorzufinden sind. Im Inneren der Diskurse sollen so die Regeln ermittelt werden, nach denen darüber entschieden wird, welche Aussagen in einer bestimmten Epoche den Status von (für den Bereich der Wissenschaften) ‚wahren‘ Aussagen haben konnten und somit zu Elementen eines Diskurses wurden. Die Diskursarchäologie soll aufzeigen, warum manche Aussagen „gemäß der Seriosität verbürgenden Grundregeln akzeptabel sind und wieso andere Aussagen aus dem Raum des als relevant und wahr befundenen Wissens ausgegrenzt wurden“ (Kögler 1994, 42). Foucault setzt die Diskursarchäologie aus fünf Komponenten zusammen, die im Folgenden genauer dargestellt werden: Aussage, Diskursive Formation, Diskurs, Historisches Apriori und Archiv.
Aussage Die Aussage ist die am einfachsten zu benennende der fünf Kategorien. Foucault (1981, 117) bezeichnet sie schlicht als „die elementare Einheit des Diskurses“. Diskurse bestehen aus einzelnen Aussagen, die in disparater Weise über das Untersuchungsfeld verstreut sein können, und die Diskursanalyse ist damit befasst, diese Aussagen einer neuen Anordnung, dem Diskurs, zuzuordnen. Ein Grundproblem der Archäologie besteht darin, dass diese elementare Einheit für Foucault keine distinkte und autonome Größe darstellt, die eine eindeutig beschreibbare Struktur aufweist. Beispiele für solche identifizierbaren Strukturen wären linguistische Kategorien wie ‚Satz‘, ‚Proposition‘ oder ‚illokutionärer Akt‘, die zwar im Begriff der Aussage anklingen, von
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Foucault jedoch ausdrücklich als elementare Diskurseinheiten ausgeschlossen werden. Diese Vorgehensweise traf bei der Rezeption der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS wiederholt auf Unverständnis, da sie die Definition des AussageBegriffs ungemein verkompliziert und so die gesamte Anlage der Methode in Zweifel zieht (vgl. Frank 1984; Honneth 1989; Privitera 1990). Deshalb ist es sinnvoll, zunächst einmal nachzuvollziehen, warum dieser komplizierte Weg von Foucault gewählt wurde. Foucault (1981, 182) hat sich – vielleicht etwas provokant – als „glücklicher Positivist“ bezeichnet. Hans-Jürgen Goertz versteht diese Selbsteinschätzung als eine leitende Metapher der Diskursanalyse, in der eine Aufhebung der Trennung zwischen „erkennendem Diskurs und zu erkennender Realität“ zum Ausdruck komme. Diskurse fungieren in dieser Herangehensweise als vorgefundene Tatsachen, die nicht „nach den Regeln der Hermeneutik zu verstehen, [sondern] nur genau zu beschreiben sind, wie Objekte beschrieben werden“ (Goertz 2001, 54). Denn Foucault verfährt bei der methodischen Ausarbeitung der Diskursarchäologie letzten Endes induktiv. Grundlegend waren für ihn die Erfahrungen, die er beim Zuordnen und Dechiffrieren der Diskurse über den Wahnsinn und das Wissen gemacht hatte. Diese empirischen Arbeiten haben ihn mit zwei Eindrücken konfrontiert, die dagegen sprechen, Diskursen auf der Ebene der Aussage eine gleichförmige Struktur zu bescheinigen. Der erste Punkt hängt mit der Frage der Begrenzung von Diskursen zusammen. In DIE ORDNUNG DER DINGE taucht wiederholt die Feststellung auf, dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen Wissenschaften wesentlich mit der Anordnung der Zeichen im Gebiet der Wissensproduktion zusammenhängen. Historisch gesehen ist für den Wahrheitswert einer wissenschaftlichen Arbeit somit nicht nur entscheidend, welche Erkenntnisse substanziell produziert werden, sondern auch, wie das Wissen in eine mediale Anordnung gebracht wird, ob und wie es beispielsweise in einem Lexikon, einer Tabelle oder einer Reihung verknüpft ist. Daraus lässt sich unmittelbar der zweite Punkt ableiten. Sprachliche Einheiten wie ein Begriff, eine Proposition oder ein komplexer Satz können eine neue diskursive Bedeutung bekommen, wenn sie in einem veränderten Umfeld auftauchen. Diskursanalytisch würden diese identischen Begriffe, Propositionen oder Sätze eine andere Aussage darstellen, da sie einem anderen Diskurs zuzurechnen wären. Umgekehrt kann, darauf weist Foucault (1981, 151) hin, ein Satz eine identische Aussage bleiben, obwohl er beispielsweise in eine neue Sprache übersetzt wird. Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen, aber auch so wird deutlich, worin die Problematik bei der Festlegung der Aussage liegt: Sie ist nur innerhalb eines konkreten Kontextes eindeutig bestimmbar. Foucault nennt diese Eigenschaft von Aussagen, die Diskurse ausmachen, das Paradox eines „Variationsprinzips“. Es ist darin begründet, dass ein Aussage sowohl „vielfältiger“ als auch „konstanter“ sein könne als ein einzelner Satz bzw. sogar ein einzelner Satz in sich selbst wiederum variieren könne (152). Diesem strukturell widersprüchlichen Variationsprinzip zum Trotz nennt Foucault vier Minimalbedingungen, die eine Aussage erfüllen muss, um einem Diskurs zugerechnet werden zu können. Erstens muss eine Aussage auf ein Referenzial verweisen, das „nicht aus Dingen, Fakten, Realitäten oder
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Wesen konstituiert wird, sondern von Möglichkeitsgesetzen und Existenzregeln für die Gegenstände, die darin genannt, bezeichnet oder beschrieben werden, für die Relationen, die darin bekräftigt oder verneint werden“ (133). Das heißt, für die Diskursanalyse sind solche Performanzen relevant, die darüber Auskunft geben, wie der Kontext des Diskurses beschaffen ist, in dem die Regeln für die Anwendung von Aussagen aufgefunden werden können. Des Weiteren müssen sich Aussagen dadurch auszeichnen, dass sie sich auf ein Subjekt beziehen lassen, das jedoch nicht zwangsläufig mit dem Autor der Aussage identisch sein müsse. Mit Subjekt ist folglich kein konkreter, sondern ein grundsätzlich möglicher Sprecher gemeint. Die Analyse soll klären, „welche Position jedes Individuum einnehmen kann und muss“, um als Subjekt einer bestimmten Aussage Eingang in den Diskurs finden zu können (139). Von einer Aussage könne drittens nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn sie in einem „Aussagefeld“ auftauche, also zusammen mit anderen Aussagen einen größeren Zusammenhang, ein „Raster“ bilde (143). Aussagen können demnach auftreten als stringente Abfolge von Formulierungen, als Menge zusammenhängender Bezugnahmen, als Möglichkeitsbedingungen für weitere Kommunikationen und als Konstruktion von Bedeutungsfeldern. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass jede Aussage immer nur im Kontext anderer Aussagen existieren bzw. für die Diskursanalyse einen Sinn ergeben kann. Erst durch die Verknüpfung einzelner Aussagen zu Aussagefeldern kann einer einzelnen Aussage eine diskursive Bedeutung zukommen. Und viertens bedürfe eine Aussage einer Materialität: „einer Substanz, eines Trägers, eines Ortes und eines Datums“ (147). Aussagen können somit nur aus empirisch nachweisbaren Daten gewonnen werden, sodass Bezugsgrößen wie ‚Gedanken‘, ‚Bewusstsein‘ oder ‚Traum‘ aus der Analyse ausgeschlossen sind. Und sie sind grundsätzlich in einer ‚veränderten Materialität‘ wiederholbar. Verändert eine Aussage ihre Materialität, „wechselt sie selbst [jedoch] die Identität“, sodass jede Aussage ein singuläres Ereignis darstellt. 1979, zehn Jahre nach Veröffentlichung der französischen Erstausgabe der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS, revidiert Foucault seine Bestimmung der Aussage zum Teil. In einem Brief an John Searle, den Mitbegründer der Sprechakttheorie, schreibt er, die zuvor behauptete Differenz zwischen Sprechakten und Aussagen sei falsch und auf ein Missverständnis seiner damaligen Auffassung der Sprechakttheorie zurückzuführen. Diesem Geständnis fügt Foucault (zit. n. Dreyfus/Rabinow 1994, 314) erläuternd hinzu: „Ich wollte damit deutlich machen, dass ich sie unter einem anderen Gesichtspunkt sah, der sich von Ihrem unterschied“. Dreyfuss/Rabinow (1994, 72) versuchen diesem „anderen Gesichtspunkt“ Rechnung zu tragen, indem sie Aussagen als „seriöse Sprechakte“ kategorisieren. Denn im Unterschied zur sprachphilosophischen Herangehensweise, die sich für die Verwendung von Sprache und das Gelingen von Kommunikation im Horizont ihrer alltäglichen Verwendung interessiert, beziehen sich die Aussagen eines Diskurses auf eine bestimmte Form von Sprechakten – und zwar solche, die innerhalb eines spezifischen Kontextes den Status ‚für wahr genommener‘ Sprechakte einnehmen können. Auf diesen Punkt weist auch Paul Veyne (2003, 32) hin, wenn er als eine wesentliche Pointe des Foucaultschen Diskursbegriffs das Merkmal der Ver-
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knappung anführt. Der Diskurs „ist rar, denn jede Zeit sieht und sagt nur, was sie über die mit Scheuklappen versehenen Diskurse wahrzunehmen vermag“. An dieser Metapher lässt sich die Schwierigkeit der Beziehung zwischen Aussage und Diskurs gut illustrieren. Die Scheuklappen eines Diskurses lassen sich nicht auf der Ebene der Aussagen aufzeigen, die nur das Produkt des eingeschränkten Sehfeldes sein können, mit denen reproduziert wird, was die Scheuklappen als Selektionsmechanismen aus dem Sehfeld (also der Anzahl theoretisch möglicher Aussagen) nicht verdecken. Da Foucault in dem Sinne positivistisch vorgeht, dass er die Analyse nur auf das ‚für Wahr genommene‘ (wie die als wissenschaftlich gültig erachteten Aussagen) konzentrieren will, ist er gezwungen, aus den Aussagen auf den Kontext der Bedingungen ihres tatsächlichen Vorkommens zurückzuschließen. Die vier Minimalbedingungen zur Identifikation einer Aussage entscheiden nur darüber, ob ein Zeichen oder eine sprachliche Performanz Teil eines Diskurses sein kann oder nicht. Sie stellen somit lediglich Möglichkeitsbedingungen dar. Würde man sie an eine Reihe von Texten anlegen, ergäben sich noch keine ausreichenden Distinktionskriterien zur Bestimmung relevanter Aussagen, geschweige denn, dass ihre Zuordnung zu einem Diskurs möglich wäre. Deshalb lassen sich Aussagen nicht mit allgemeinen Strukturmerkmalen beschreiben. Foucault (1981, 155) bezeichnet ‚Aussage‘ als eine der Menge der möglichen Aussagen „eigene Existenzmodalität“. Bei ihrer Identifikation sei „die entscheidende Frage die nach ihrer Berechtigung [nicht ‚Berichtigung‘, wie Suhrkamp druckt] (und sei das nur in der Form der ›Akzeptabilität‹)“. Die Selektion der Aussagen eines Diskurses muss von zwei Seiten getroffen werden. Zum einen über die Ausweisung von Erkennungsmerkmalen, die darüber entscheiden, welche Formen von Performanzen oder Sprechakten grundsätzlich in die Auswahl möglicher Aussagen eines Diskurses einbezogen werden können. Zum anderen über die Benennung von Kriterien, die darüber Auskunft geben, welche der möglichen Aussagen in einem empirischen Fall einem konkreten Diskurs zugerechnet werden können. Diese Kriterien lassen sich nur auf der Ebene des Kontextes einfangen, den Foucault als die „diskursive Formation“ (58) bezeichnet. Sie macht aus möglichen Aussagen die tatsächlichen Aussagen eines Diskurses.
Diskursive Formation Wenn die diskursive Formation als regelleitender Kontext des Diskurses erscheint, so ist damit gemeint, dass hiermit eine Beschreibungsebene vorliegt, die darüber Auskunft gibt, welche Voraussetzungen eine Aussage rückblickend erfüllen musste, um in ihrer Zeit Eingang in einen Diskurs gefunden zu haben. Die diskursive Formation bildet also gewissermaßen das Nadelöhr, durch das beispielsweise eine wissenschaftliche Argumentation hindurch musste, um im System der Wissenschaft einen Geltungsanspruch zu erlangen. Dieser Geltungsanspruch ist nicht normativ, sondern ontologisch zu verstehen. Die Formationsregeln geben nicht darüber Auskunft, wie eine Aussage in einem Kommunikationssystem aufgenommen wird, sondern welche Voraussetzungen sie erfüllen musste, um überhaupt in einem System auftauchen zu können.
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Foucault entwirft die diskursive Formation als eine Anzahl von Bezügen, die sich auf eine Gruppe von Aussagen anwenden lassen müssen, damit von einem Diskurs gesprochen werden kann. Diese Bezugspunkte formatieren den Diskurs jedoch nicht mit der Eindeutigkeit eines Codes, der klar das Innen und Außen eines Systems definiert. Vielmehr könne eine bestimmte Zahl von Aussagen ein „ähnliches System der Streuungen beschreiben“ (58). Die Beziehungen, die die Aussagen untereinander eingehen, sind somit eher verwandtschaftlicher Natur, sie liegen – analog zu der oben verwendeten Metapher des Scheuklappenblicks – in einem Feld von Streuungen, deren Gemeinsamkeiten als Ähnlichkeiten zum Aufscheinen gebracht werden sollen. Die Ähnlichkeiten zwischen Aussagen erstrecken sich für Foucault auf vier Formationsbereiche: (1) Gegenstände, (2) Äußerungsmodalitäten, (3) Begriffe und (4) Strategien. (1) Gegenstände sind die Objekte, auf die sich ein Diskurs bezieht. Foucault betrachtet sie als die unterste Schicht der diskursiven Formation, die, anstatt dem Diskurs vorgelagert zu sein, letztlich erst durch den Diskurs selbst hervorgebracht wird. Es wäre jedoch falsch, die darin zum Ausdruck kommende konstruktivistische Perspektive mit einem (trivialisierten) radikalen Konstruktivismus gleichzusetzen, der die vor- oder außerdiskursive Existenz der Gegenstände grundsätzlich leugnen wollte. Foucault (1981, 65) kommt es stärker auf eine analytische Haltung an, die den Diskurs nicht a priori als Abbild einer ihm äußeren Wirklichkeit begreift, die durch die Gegenstände repräsentiert und so wie eine „einfache Inschrift“ in den Diskurs hinein verlängert würde. Die Diskursanalyse gibt dieser Prämisse folgend keine Antworten auf die Fragen, welche Verbindungen zwischen den Gegenständen und den Diskursen bestehen und welcher Wahrheitswert den Diskursen somit zugeschrieben werden kann. (2) Äußerungsmodalitäten beziehen sich auf die externen Umstände und Gesetzmäßigkeiten, in deren Zusammenhang die konkreten Sprechweisen und Äußerungsformen eines Diskurses modelliert werden. Sie bezeichnen die institutionelle Ebene des Diskurses. Mit ihr wird festgelegt, wer sich am Diskurs beteiligen darf, an welchen Plätzen der Diskurs stattfindet und welche Positionen die Subjekte innerhalb des Diskurses einnehmen können. Dadurch entsteht eine Institutionalisierung der Kommunikation, die entscheidend dazu beiträgt, die Praktiken des Sprechens von der Individualität der Sprecher zu lösen. (3) Die Kategorie Begriffe steht für die konkrete Verwendung der Sprache innerhalb des Diskurses. Die Ausgangsfrage liegt darin, zu untersuchen, wie die sprachlichen Ausformulierungen verschiedener Texte miteinander kombiniert werden und ob sich darin ein bestimmtes System oder Muster erkennen lässt. Foucault hält grundsätzlich drei Organisationsformen für möglich: „Formen der Abfolge“, „Formen der Koexistenz“ und „Prozeduren der Intervention“ (83–86). Mit ‚Begriffen‘ ist nicht nur die fachspezifische Terminologie gemeint, sondern auch die strategische Einbindung von Rhetoriken, die Funktion von Rückbezügen und Neubildungen, der Gebrauch von fachsprachlichem Vokabular und Metaphern, also die Art der Verwendung sprachlicher Mittel im Allgemeinen.
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(4) Vom Umgang mit Begriffen zu unterscheiden ist die darüber liegende Ebene der Strategien, die durch die Anordnung der Gegenstände, Äußerungsmodalitäten und Begriffe innerhalb eines Diskurses gebildet werden. Sie werden definiert als „systematisch unterschiedene Weisen, Diskursobjekte zu behandeln, Äußerungsformen zur Verfügung zu stellen, Begriffe zu manipulieren.“ Sie sind „regulierte Weisen, Diskursmöglichkeiten anzuwenden“ (102). Erst durch das Herausarbeiten der in diesen Strategien enthaltenen Systematiken und Regeln lässt sich eine diskursive Formation von einer anderen unterscheiden und können somit historische Veränderungen ans Tageslicht gebracht werden. Foucault konstruiert die diskursive Formation als eine doppelte Bewegung. Zum einen stehen die vier Elemente in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, das von den Gegenständen zu den Strategien reicht, aber auch in umgekehrter Richtung wirksam sein kann, wenn etwa neue wissenschaftliche Paradigmen dazu führen, neue (Untersuchungs-)Gegenstände im wissenschaftlichen Diskurs zu etablieren. Zum anderen kommt in dieser Schichtung der diskursiven Formation zum Ausdruck, wie sich Foucaults Sichtweise auf wissenschaftliche Diskurse von einem traditionellen Verständnis unterscheidet. Die vier Ebenen sind nicht beliebig gewählt, sie gehen auf etablierte Formen der Bildung wissenschaftlicher Diskurseinheiten zurück: (1) der Gegenstand, der zu einem Teil des Diskurses wird, (2) das Subjekt, an dessen Stelle abstrakte Institutionen treten, (3) die wissenschaftliche Begriffsbildung, deren Rationalität zum Produkt formaler Sprachspiele wird, und (4) die Themen und Theorien, deren disziplinäre Abgeschlossenheit in einem historisch determinierten System regulierter diskursiver Handlungsweisen aufgeht. Diese vier Bereiche bilden gemeinsam und synchron die diskursive Formation aus, in deren Kontext mögliche Aussagen zu existenten Aussagen eines Diskurses werden. Um also Aussagen einem Diskurs zuzuschreiben, müsste gezeigt werden, dass sie sich bezüglich dieser vier Bereiche ähnlich verhalten. Das Verhältnis zwischen Aussage und diskursiver Formation beschreibt Foucault wie folgt: Eine Aussage gehört zu einer diskursiven Formation wie ein Satz zu einem Text und eine Proposition zu einer deduktiven Gesamtheit gehört. Während aber die Regelmäßigkeit eines Satzes durch die Gesetze einer Sprache und die Regelmäßigkeit einer Proposition durch die Gesetze einer Logik definiert wird, wird die Regelmäßigkeit der Aussage durch die diskursive Formation selbst definiert. Ihre Zugehörigkeit und ihr Gesetz bilden ein und dieselbe Sache. (Foucault 1981, 170)
An diesem Zitat wird die wissenschaftstheoretische und analytische Herangehensweise Foucaults deutlich. Die Bestimmung, dass die Zugehörigkeit von Aussagen zu einem Diskurs, also die Möglichkeitsbedingungen, und die Gesetze ihres Auftretens, also die Existenzbedingungen, „ein und dieselbe Sache“ bilden sollen, wirkt zunächst paradox. Es bedeutet jedoch nichts anderes, als dass ein Diskurs ein System darstellt, welches nur in der singulären Form seines Existierens begriffen werden kann. Insofern ist die Beschreibung der diskursiven Formation als reguliertes System leicht irreführend. Denn die
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Regeln des Diskurses sind keine allgemeingültigen strukturalistischen (oder systemtheoretischen) Regeln, die einen allgemeinen Status beanspruchen können. Ihre Gültigkeit kann sich immer nur auf den konkreten Diskurs beschränken, der sie selbst hervorgebracht hat: Es gibt kein vollständiges System, keine Weise, im Voraus die Bedingungen der Möglichkeit zu determinieren, deren mögliche Ausprägung das vorliegende System ist. Man kann nur spezifische Systeme beschreiben und feststellen, welche Arten von seriösen Aussagen wirklich auftreten. (Dreyfus/Rabinow 1994, 80)
Aus diesem Grund ist die Archäologie keine strukturalistische Methode.
Diskurs So wird Foucaults Definition des Diskurses verständlich: Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. Er bildet keine rhetorische oder formale, unbeschränkt wiederholbare Einheit, deren Auftauchen oder Verwendung in der Geschichte man signalisieren (und gegebenenfalls erklären) könnte. Er wird durch eine bestimmte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. […] Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst, und stellt das Problem seiner eigenen Grenzen, seiner Einschnitte, seiner Transformationen, der spezifischen Weisen seiner Zeitlichkeit eher als seines plötzlichen Auftauchens inmitten der Komplizitäten der Zeit. (Foucault 1981, 170)
Dreyfus/Rabinow (1994, 81) argumentieren, die Archäologie solle nicht als „Analyse“ bezeichnet werden, weil ihr Begriff von Regeln „wenig gemein hat mit der klassischen Mathesis oder deren modernen strukturalistischen Abkömmlingen und Variationen“. Stattdessen „wäre diese Methode der Zerlegung in eher kontextabhängige Aussagekategorien und deren kontextabhängige Transformationen denn in atomistische Elemente und abstrahierbare Formationsregeln besser, mit Kant, als Analytik bezeichnet, da sie die apriorischen Möglichkeitsbedingungen […] der praktizierten Analyse auszumachen versucht“, die sich allerdings – im Unterschied zur transzendentalen Analytik Kants – auf historische Bedingungen begrenzen. Unter Analytik schwebt Kant (1956, 104) eine Systematisierung der „Elemente der reinen Verstandeserkenntnis und Prinzipien“ vor, „ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann“. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob eine historische Eingrenzung einer solchen Analytik nicht eine contradictio in adjecto wäre, schließlich ergibt die Konstruktion der Kantschen Analytik nur dann einen Sinn, wenn sie eine allgemeine und übergreifende Gültigkeit hat. Darin liegt der Unterschied zur Analyse, die sich in der Anwendung ihrer Kriterien und Unterteilungen immer nur auf abgegrenzte Bereiche bezieht. Foucaults Diskursbegriff ist jedoch nicht nur historisch begrenzt, sondern auch auf das System der (Human-)Wissenschaften und darin auf das, was er als die Ebene des Diskurses herauszuarbeiten versucht – er
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(1981, 169) räumt durchaus ein, dass auch noch „logische, linguistische, psychologische“ Dimensionen am Werk seien. Auf jeden Fall greift ein Verständnis von Foucaults Konstruktion des Diskurses zu kurz, wenn diese nur auf eine Methode zur Analyse kommunikativer Prozesse reduziert wird. Die Definition des Diskurses als ‚begrenzte Menge von Aussagen‘, in die selbst die Regeln ihres Existierens eingeschrieben sind, ist unvollständig. Historisch bedeutsam und somit sinnvoll innerhalb Foucaults Projekt einer Kritik der Humanwissenschaften kann diese paradoxe Umschreibung erst dadurch werden, dass sie mit einer Anbindung an ein Element außerhalb der sich selbst steuernden Diskurse versehen wird und somit nicht als Analyse oder Analytik, sondern als Theorie kulturell determinierter Kommunikationsprozesse auftritt. Diese Anbindung geschieht über den bereits erwähnten Begriff der Praktiken: Diskursive Praxis ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geografische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben. (Foucault 1981, 171)
Vereinfacht ausgedrückt, bezeichnet die diskursive Praxis die begrenzten Möglichkeiten des Sprechens innerhalb des Wirkungsbereichs eines tatsächlichen Diskurses. Gestützt wird diese These mittels einer zweistufigen Argumentation, in deren Zentrum der Begriff des Diskurses liegt. Mit Bezug auf die oben angeführte Metapher des Scheuklappenblicks lässt sich das folgendermaßen umschreiben: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass ein gesellschaftliches Kommunikationssystem in der Praxis immer einer Begrenzung des Sprechens unterliegt, gemessen an den (formal-logischen) Möglichkeiten der Sprache. Diese Begrenzung sind die Scheuklappen. Um diese Scheuklappen sichtbar zu machen, wendet sich das analytische Interesse in einem ersten Schritt dem Gesehenen zu, als dem Feld auf dem die tatsächlich gemachten Aussagen zu finden sind. Aus diesem Sichtfeld gilt es diejenigen Punkte (die Aussagen) zu isolieren – Foucault nennt diesen Vorgang ‚die Positivität des Diskurses ermitteln‘ –, die auf die Ausrichtung der Scheuklappen (die diskursive Formation) schließen lassen. Der dreidimensionale Raum, der von der Ausrichtung der Scheuklappen bis zum Blickfeld reicht, ist der Diskurs. In einem zweiten Schritt wird nun angenommen, dieser dreidimensionale Diskursraum ist keine flüchtige Erscheinung, die mit jedem Wimpernschlag neu entsteht, sondern weist eine gewisse Konstanz auf. Diese Konstanz liegt darin begründet, dass ein Sprecher, der neu in einen Diskurs eintreten oder sich weiter darin bewegen will, sich wiederum innerhalb dieses Raums ausrichten muss, um als legitimer Sprecher in das Kommunikationssystem Eingang zu finden. Als Folge dieser Notwendigkeit wird der Diskurs sowohl in den Bereich des Sozialen hinein verlängert als auch auf der Zeitachse perpetuiert.
Historisches Apriori und Archiv Die Verlängerung der Diskursanalyse auf das Gebiet einer historischen Kulturtheorie drückt sich in den Begriffen historisches Apriori und Archiv aus. Da Foucault in erster Linie diese Seite seines Diskursmodells in den Jahren
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nach der ARCHÄOLOGIE modifiziert und ausgearbeitet hat, soll an dieser Stelle nur kurz erläutert werden, welche Bedeutung diesen Begriffen in Bezug auf den Diskurs zukommt. Die Betonung der Geschichtlichkeit des historischen Aprioris weist einerseits noch einmal darauf hin, dass jeder Diskurs seine eigene Geschichte und Zeitlichkeit besitzt. Und da jeder Diskurs seine eigenen Regeln definiert, kann auch die Geschichte keinen formalen Bedingungen unterliegen, die durch die Zeit hindurch statisch und dem Diskurs übergeordnet bestünden. Stattdessen stellt sich Foucault die Geschichte als eine Abfolge kontingenter Diskurse vor, die den Platz des verworfenen teleologischen Geschichtsmodells einnehmen. Wirkmächtig sind Diskurse deshalb nur innerhalb dieser Zeitlichkeit; dort stellen sie die Regeln auf, denen die Sprecher eines Diskurses unterworfen sind. Historisches Apriori bezieht sich folglich auf die „Gesamtheit von Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren“ (Foucault 1981, 185). Als Archiv bezeichnet Foucault darauf aufbauend das, was durch diese Regeln konstituiert wird: Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was […] das System ihrer Aussagbarkeit definiert. […] es ist das System ihres Funktionierens. […] Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen. (Foucault 1981, 188)
Das Archiv ist also die Gesamtheit der diskursiven Praktiken einer Epoche. Es umfassend für eine Epoche zu beschreiben, stellt für Foucault angesichts der Komplexität der zahllosen Diskurse ein nicht zu bewältigendes Unternehmen dar. Außerdem weist er darauf hin, dass einer solchen Arbeit zeitliche Grenzen gesetzt wären, da es nur möglich sei, einen Diskurs retrospektiv, aus einer anderen Diskurspraxis heraus zu beschreiben. Die Foucaultsche (1981, 190) Archäologie weist sich somit als eine dezidiert historische Methode aus, bei der es darum geht, einzelne „Diskurse als spezifizierte Praktiken im Element des Archivs zu beschreiben“. Zum Diskurs gehört nicht nur das, was an der Oberfläche erscheint, also bestimmte Typen von Aussagen oder seriösen Sprechakten. Diese bilden nur den sichtbaren Teil, die Positivität des Diskurses, ab. Operationalisierbar wird der Terminus ‚Diskurs‘ erst in der Verbindung einer erkennbaren Positivität mit dem, was Paul Veyne (1992, 22) als den „verborgenen Teil des Eisbergs“ bezeichnet hat: die an ihn gekoppelten Praktiken.
Genealogische Modellierungen Ironischerweise bildet die ARCHÄOLOGIE DES WISSENS nicht nur den ersten ausführlichen Versuch einer theoretischen Beschreibung der Mechanismen von Diskursen, sondern auch den Endpunkt der Diskursarchäologie, den Foucault 1970, bereits ein Jahr nach Erscheinen des Buches, mit der programmatischen Antrittsvorlesung über DIE ORDNUNG DES DISKURSES (1991) am Collège de France zu vollziehen beginnt. Mit dem Schritt von der Archä-
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ologie zur Genealogie ändern sich die Analysemethoden, was sich ab Mitte der 1970er Jahre in den empirischen Studien ÜBERWACHEN UND STRAFEN (Foucault 2001c, original 1975) und DER WILLE ZUM WISSEN (Foucault 1983, original 1976) nachhaltig niederschlägt. Die Diskursanalyse wird damit für Foucault aber nicht gänzlich überflüssig. Die analytischen und theoretischen Modifikationen seiner Arbeiten sind auch darauf zurückzuführen, dass sich sein Forschungsinteresse auf neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen kapriziert, die andere Lösungswege erfordern. In dem Interview mit Trombadori sagt Foucault (1997, 70) rückblickend, DIE ORDNUNG DER DINGE sei nur „ein marginales Buch“ innerhalb seiner Studien. Zugleich weist er aber auf die immer noch bestehende Aktualität der damit verbundenen Methode der Archäologie hin. Ihre Aufgabe verortet er dahingehend, „die Konstitution einer Erkenntnis, das heißt einer Beziehung zwischen einem starren Subjekt und einem Bereich von Objekten, an ihren historischen Wurzeln zu fassen, in der Bewegung des Wissens zu verfolgen, das die Erkenntnis ermöglicht“ (52). Die in den siebziger Jahren bearbeiteten Themenbereiche ‚Disziplinierung‘ und ‚Sexualität‘ bedürfen einer Erweiterung dieser Methode, da sie, im Gegensatz zur Produktion von Wissen im Bereich der Wissenschaften, nicht nur von der Seite des Diskurses angegangen werden können. Denn während sich das gesellschaftliche System der Wissenschaft in erster Linie als Diskurs realisiert, berühren die Komplexe Disziplinierung und Sexualität stärker Fragen menschlichen Verhaltens, genuine Praktiken also. Ins Zentrum von Foucaults theoretischem Interesses rückt nun insbesondere der Begriff ‚Macht‘, seine Aufmerksamkeit verschiebt sich von den Diskursen zum Dispositiv. Es wäre jedoch ein Missverständnis, diese Neuausrichtung nur auf gewandelte Interessen Foucaults zurückzuführen. Die Auseinandersetzung mit Macht und Praktiken steht auch in enger Verbindung mit Problemen, die auf die diskursanalytische Methode selbst zurückzuführen sind (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994, 105–132; Kögler 1994, 60–68). Im Folgenden werden drei dieser Probleme angesprochen, da sie auch für die hier erarbeitete Diskursanalyse relevant sind: (1) der wissenschaftliche Anspruch der Analyse, (2) die Regulierung von Diskursen und (3) das Verhältnis von Diskurs und Gesellschaft. (1) Der wissenschaftliche Anspruch der Analyse. Problematisch ist das Verhältnis, in dem sich die Archäologie zu ihrem Gegenstandsbereich bewegen soll. Es ist mehr als fraglich, ob das Postulat der absoluten Neutralität und Distanz gegenüber den Diskursen in der empirischen Praxis durchgehalten werden kann. Denn der vermeintliche Kunstgriff einer semantischen, methodischen und zeitlichen Abtrennung von den untersuchten Diskursen gelingt letzten Endes nur durch den Aufbau einer eigenen, neuen (Diskurs-) Theorie, die wie ein Raster über die Diskurse gespannt wird. Hinzu kommt, dass Foucaults Anstrengungen ja eigentlich weniger auf die Geschichte der vergangenen Diskursformationen gerichtet sind, deren Funktion eher darin besteht, als Kontrastfolie für eine Auseinandersetzung mit dem Archiv der Gegenwart zu dienen. Von diesem Archiv jedoch sieht sich der Archäologe per definitionem ausgeschlossen, sodass seine eigenen Theorien und Unter-
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suchungen scheinbar wie in einer Vakuumkapsel auf dem Meer der Theorien und Diskurse der Gegenwart treiben. (2) Die Regulierung von Diskursen. Eine weitere offensichtliche Schwachstelle der Diskursarchäologie ist der unklare Status des Diskurses. ‚Unklar‘ bleibt, in welcher Art und Weise der Diskurs die kommunikativen Praktiken lenkt, die ihm vorausgehen. Der Diskurs erscheint in der Archäologie als ein sich selbst regulierendes System, das jedoch nicht wie im Strukturalismus durch allgemeine, sondern durch spezifische Regeln konstituiert wird: Diese Regeln können aber einen Diskurs nur in den Bedingungen seiner Möglichkeiten verständlich machen; sie reichen nicht hin, um die Diskurspraxis in ihrem tatsächlichen Funktionieren zu erklären. Es gibt ja keine Regeln, die ihre eigene Anwendung regeln könnten. (Habermas 1991, 315)
Dahinter verbirgt sich ein Problem, mit dem schon Wittgenstein konfrontiert war, als er in den PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN (1967) versuchte, Sprachgebrauch als ein System autonomer Regeln zu verstehen (vgl. Newen/Savigny 1996, 93). Es besteht einerseits darin, dass eine Regel, um verstanden und befolgt werden zu können, wiederum einer weiteren Regel bedarf, die ihre Anwendung festlegt, was für diese neue Regel ebenfalls wieder gelten müsste usw. Eine solche Konzeption würde zu einem infiniten Regress von Regeln führen und ist deshalb keine Lösung des Problems. Andererseits kann ein System von Regeln nur dann funktionieren, wenn es eine faktische Autorität gibt (und keine Regel), die über den Gebrauch und die Einhaltung der Regeln wacht. Diese beiden Funktionen soll in der Archäologie aber der Diskurs selbst übernehmen. Die Regulierung des Diskurses soll allein die diskursive Formation leisten, was jedoch zu dem beschriebenen Regelproblem führt. Die Frage der Autorität wird von Foucault zwar nicht expliziert, aus dem Vorrang, den er den Diskursen vor den Praktiken einräumt, lässt sich aber ableiten, dass die regulierende Instanz ebenfalls in der autoritativen Kraft der Episteme bzw. des historischen Aprioris und somit wiederum in den Diskursen angelegt ist. (3) Das Verhältnis von Diskurs und Gesellschaft. Die Konzeption des Diskurses als autonomes und historisches System führt zu einem Beschreibungsdefizit des Geschichtlichen selbst. Die Beschreibung historischer Prozesse als Abfolge wechselnder diskursiver Formationen bietet keine Möglichkeit, eine Motivation oder Begründung für die Vergänglichkeit der Geschichte und den soziokulturellen Wandel der Gesellschaften anzuführen. Dem Archäologen ist es letzten Endes nicht einmal möglich, die Abfolge, also den Niedergang und Aufstieg von Diskursen, aus der theoretischen Anlage der Diskursanalyse heraus plausibel zu machen. Das lässt sich gut an einem Beispiel aus DIE ORDNUNG DER DINGE illustrieren. Das Aufkommen einer neuen Episteme in der Form neuer Wissenschaften gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts begründet Foucault damit, dass diese einen neuen Raum besetzt habe, den die alte Episteme nicht ausfüllen konnte:
42 | DISKURS UND DISKURSANALYSE Philologie, Ökonomie und Biologie bilden sich nicht anstelle der allgemeinen Grammatik, der Naturgeschichte und der Analyse der Reichtümer, sondern dort, wo diese Wissensgebiete nicht existieren, in dem Raum, den sie weiß ließen, in der Tiefe der Furche, die ihre großen theoretischen Segmente trennte und die die Geräusche des ontologischen Kontinuums füllten. Der Gegenstand des Wissens im neunzehnten Jahrhundert bildete sich genau dort, wo die klassische Fülle des Seins zum Schweigen gelangte. (Foucault 1974, 258)
Die Beobachtung, die eine Diskursverschiebung nicht als lineare Ablösung eines Diskurses durch einen anderen beschreibt, sondern als Eröffnung eines neuen Diskursraums, wirft selbst wiederum die Frage auf, warum und wie es innerhalb des Kraftbereichs der Diskurse einer Episteme überhaupt dazu kommen kann, dass ein solcher Diskursraum entsteht. Entweder haben Diskurse doch nicht die Wirkungsmacht, die ihnen in der Archäologie unterschwellig eingeräumt wird, oder es existieren gewichtige externe Faktoren, die in die Diskurse hineinspielen. Diese Erklärungslücke lässt sich mit der Diskurstheorie nicht füllen, da ein Defizit der Archäologie darin liegt, „das gesellschaftliche Konstitutionsfeld von diskursiven Erfahrungsstrukturen völlig ausgeblendet“ (Kögler 1994, 68) zu haben. Foucault hat seine Hinwendung zur Machttheorie und Analyse gesellschaftlicher Praktiken nicht in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der Archäologie durchgeführt, sondern mehr oder weniger einfach während der frühen 1970er Jahre vollzogen. Damit hat er jedoch, darauf weist auch Habermas (1991, 313ff.) in seiner zweiten Foucault-Vorlesung hin, indirekt auf Unzulänglichkeiten der Diskurstheorie reagiert. Im Folgenden werden drei wesentliche Bereiche von Foucaults Neujustierung der Analyse von Mensch und Kultur angerissen, die hier als Lösungsmöglichkeiten auf die angeführten drei Probleme verstanden werden sollen: das Verständnis von Genealogie als Kritik, der neu entstandene Komplex Macht, Diskurse und Praktiken und der Begriff des Dispositivs. Anschließend wird dann aufgezeigt, wie sich das Zusammenschalten von Diskurs und Genealogie auf die Anlage der Diskursarchäologie auswirkt.
Genealogie als Kritik In Anlehnung an Nietzsche hat ‚Genealogie‘ als historisches Prinzip für Foucault (1987) die doppelte Bedeutung von ‚Herkunft‘ und ‚Entstehung‘, die als Antagonisten zum Begriff des Ursprungs angelegt sind. Damit wendet sich Foucault nicht nur noch einmal gegen teleologische und auf einen transzendentalen Ursprung bezogene Geschichtsmodelle, sondern führt mit den Kategorien ‚Körper‘ und ‚Macht‘ zwei neue Begriffe ein, die in der Genealogie zentrale Bedeutung erlangen. ‚Körper‘ fungiert dabei als ein durch die Geschichte veränderbarer Gegenbegriff zum ‚transzendentalen Subjekt‘, er „ist der Ort der Herkunft: am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse“ (Foucault 1983, 75). Der Körper wird so zum Bindeglied zwischen den Praktiken der sozialen Welt und dem Subjekt. Die Einführung des Körperbegriffs als Metapher zur Kennzeichnung von Übergängen und Veränderungen, durch die die Geschichte auf den Menschen einwirkt, steht in engem Zusammenhang mit der Neuausrichtung von Foucaults Forschungsfeldern
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und führt insgesamt zu der Verlagerung von Diskursen zu Praktiken. ‚Macht‘ hat dabei den Stellenwert des zeitlosen Antriebmechanismus der Geschichte und ist dem Begriff der Entstehung zugeordnet. ‚Entstehung‘ meint, dass sich in der Geschichte immer wieder neue Konstellationen herausbilden, die jeder übergeordneten geschichtsphilosophischen Form eines Sinn oder einer Ursprünglichkeit den Boden entziehen. Das Interesse an der Geschichte zielt im Zuge dieser Neujustierung mit einer anderen Eindeutigkeit auf die Gegenwart ab, als das in der Archäologie der Fall war. Während letztere von dem Gebot geleitet werden sollte, den Diskursen mit größtmöglicher Neutralität gegenüberzutreten, steht am Anfang der Genealogie „die Diagnose der gegenwärtigen Situation“ (Dreyfus/ Rabinow 1994, 148), aus der heraus überhaupt nur entschieden werden kann, welche Fragen es lohnt, an die Geschichte zu stellen. Die historische Perspektive der Genealogie ist deshalb von vornherein und absichtlich hoch selektiv verengt. Die Arbeit des Historikers erscheint in dieser Konzeption als eine bewusste Konstruktion der Geschichte, die so immer zum Produkt einer „pragmatisch ausgerichteten historischen Interpretation“ wird (150). In diesem Punkt liegt die große programmatische Verschiebung von der Archäologie zur Genealogie. Foucault ersetzt den hochgesteckten wissenschaftlichen (Wahrheits-)Anspruch, den er mit der Diskursanalyse verbunden hatte und dessen Einlösung in eine nicht auflösbare, prekäre theoretische Position führte, durch eine Art von Kritik, die sich selbst als eine bestimmte Form einer weiteren diskursiven Praktik versteht, die an der „Auflösung [vermeintlich] selbstverständlicher Identitäten“ arbeitet (Geuss 2003, 152).
Macht und Praktiken Foucaults Vorstellung von Macht ist der wohl am kontroversesten und intensivsten rezipierte Aspekt der Genealogie, da sie quer steht zu allen soziologisch überkommenen Ausformulierungen des Begriffs. Dreyfus/Rabinow (1994, 216) treffen die Intention Foucaults vielleicht am besten, wenn sie ihn dahingehend auslegen, dass er es nicht darauf angelegt habe, eine Theorie der Macht zu entwerfen, sondern in Fragmenten eine „Analytik der Macht“ erstellt habe. ‚Analytik‘ deshalb, weil Foucaults Definition von Macht einen Anspruch auf eine gewisse historische und soziale Allgemeingültigkeit erheben soll und deshalb zwangsläufig fragmentarisch konzipiert ist. Foucaults (1980, 199) Machtverständnis ist also – genau wie sein Diskursverständnis – nicht darauf ausgerichtet, substanziell zu sein, sondern bildet ein „Analyseraster“, das sich jedoch wesentlich fester und homogener anwenden lassen soll, als das bei der diskursiven Formation der Fall war. Gekennzeichnet ist Macht durch eine Reihe von Eigenschaften, die hier nur stichwortartig angeführt werden. Sie sei als ein Geflecht verschiedenster Interdependenzen zwischen Individuen zu verstehen, das sich, ohne ein Zentrum oder eine Begrenzung zu haben, wie eine Matrix über alle gesellschaftlichen Interaktionen legt. Macht sei an jede menschliche Handlungsweise gebunden und existiere demnach nur als konkrete Handlung bzw. Praktik, also „in actu“ (Foucault 1994, 254). Das Ziel einer Analytik, die vermittels eines solchen Machtbegriffs verfährt, kann dementsprechend nicht darin liegen, das Vorhandensein von Macht sui generis quantifizieren, regulieren oder kritisie-
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ren zu wollen. Foucault unterscheidet ‚Macht‘ von ‚Herrschaft‘ und trennt sie so von gängigen Formen einer normativen Bewertung. Denn nach Foucaults Verständnis verläuft die Matrix der Machtverhältnisse in jeder politisch hierarchisch organisierten Gesellschaft nicht nur von ‚oben‘ nach ‚unten‘: Die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. (Foucault 1983, 114)
So wie jeder Mensch ein Bewusstsein hat, das nicht für sich existieren kann, sondern immer nur als ein Bewusstsein von etwas, entsteht Macht für Foucault als strategisches Handeln automatisch dort, wo Menschen in einen Interaktionszusammenhang treten. Dort flotiert sie zwar unabhängig von den einzelnen Subjekten, ist aber – wie das Bewusstsein – nur als ein intentionaler Vorgang erkennbar, der „durch und durch von einem Kalkül durchsetzt ist: keine Macht, die sich ohne ein Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet“ (Foucault 1983, 116). Macht als intentionales Verhalten zu charakterisieren, weist auf die Nähe, in der sie Foucault zu den Praktiken sieht: Macht realisiere sich immer und immer wieder in Form unzählbarer Mikropraktiken und ziehe sich so wie ein feingliedriges Netz durch die Gesellschaft. Deshalb ist der Machtbegriff nicht auf Institutionen beschränkt und mit dem Stigma des Repressiven oder der Rechtfertigung des notwendigen Übels besetzt. Unter ‚Mikropraktiken’ versteht Foucault produktive Kräfte, die menschliche Gesellschaften überhaupt erst als kulturelle Phänomene möglich machen und die an soziale Technologien der Verbreitung gebunden sind. Gesellschaftlich zum Tragen kommen Mikropraktiken aber erst dann – das sollte in ÜBERWACHEN UND STRAFEN gezeigt werden –, wenn sie mit gesellschaftlichen Institutionen eine enge Verbindung eingehen. Dahinter verborgen sieht Foucault aber nicht die Strategien und Kalküle bestimmter Individuen oder Gruppen; vielmehr erzeugen die Machtpraktiken eine eigene emergente Ebene oder „Logik“, die von den Handelnden unabhängig ist. Es handele sich um „anonyme Strategien“ (Foucault 1983, 116), die sich gewissermaßen in die Subjekte einschreiben und dadurch ihre Wirkung erzielen: Die Internalisierung von Überzeugungen […] vollzieht sich auf einer vorbewussten, eben am Körper im Kontext habitueller Übungen vollzogenen Ebene. Auf diese Weise werden den Subjekten bestimmte Einstellungen, Ideen und Normen gleichsam eingeimpft, sodass sich eine klare Trennung in gedankliche Überzeugungen und praktische Verhaltensmuster nicht mehr ziehen lässt. (Kögler 1994, 92)
Habermas (1991, 343) kritisiert an einem solchen Verständnis von Vergesellschaftung, dass es in letzter Konsequenz Menschen nicht mehr als Individuen begreife, sondern zu stereotypen Schemen degradiere: „als die standardisierten Erzeugnisse einer Diskursformation – als gestanzte Einzelfälle“. Die neuere Forschung folgt bei der Frage der Wirkungsmacht der Praktiken – besonders vor dem Hintergrund der späten Schriften Foucaults (vgl. Honneth 2003) – aber einer eher abgeschwächten Lesart, wie sie schon bei Dreyfus/
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Rabinow (1994, 219f.) angelegt ist. Die Frage der Autonomie der Praktiken wird danach von Foucault nicht so beantwortet, dass der Mensch ein von anonymen Praktiken ferngesteuerter Apparat sei. Foucault versucht lediglich aufzuzeigen, dass innerhalb der Sozialität unseres Handelns ein Bereich existiert, der uns nicht zugänglich und somit verstehbar ist, da wir die Folgen unseres Handelns – auch wenn wir uns unserer Handlungen bewusst sind – nicht in ihrer ganzen Komplexität absehen können: Foucault drückte das in einer persönlichen Mitteilung folgendermaßen aus: »Die Leute wissen, was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.« (Dreyfus/Rabinow 1994, 219)
Die gedankliche Figur hinter dieser Formulierung ist analog zu der Vorstellung der Beziehung zwischen der Positivität des Diskurses und den diskursiven Praktiken als dem „verborgenem Teil des Eisbergs“ (Veyne) angelegt. Wiederum zielen die analytischen Anstrengungen auf eine nicht direkt sichtbare, aber doch zugängliche Ebene. Im Unterschied zur Diskursarchäologie ist Foucault aber nicht darum bemüht, den Begriff der Praktiken an irgendeine Art von Struktur zu koppeln, er denkt nun wirklich post-strukturalistisch. Damit gelingt es ihm, sich von der zuvor angesprochenen doppelten Problematik der Regeln autonomer Strukturen zu befreien. Im Zentrum dieses Befreiungsschlags steht die Symbiose kulturell geformter Verhaltensweisen mit einem gewissermaßen „transzendental-historischen“ (Habermas 1991, 298) Machtbegriff, der durch seine Allgegenwärtigkeit, Dezentralität und Richtungslosigkeit die Annahme überflüssig macht, neben dem Diskurs existierten übergeordnete, regelgeleitete Strukturen. Im Begriff der Macht kommt also ein stetiger Mechanismus zum Ausdruck, „in dem Individuen einem gesellschaftskonstitutiven Netz sozialer Regeln dadurch unterworfen werden, dass sie dieses durch wiederholte Formen der disziplinierten Einübung in ihrem psychophysischen Habitus zu übernehmen lernen“ (Honneth 2003, 20). Dieses Netz übernimmt dabei die paradoxale Funktion, sowohl über die Aufrecherhaltung einer grundsätzlichen Strukturlosigkeit zu wachen als auch immer wieder ein ‚Etwas‘ neu zu errichten, das dazu in der Lage ist, Menschen zu formen: das Dispositiv.
Dispositiv Foucaults Abkehr von seinem zumindest strukturalistisch gefärbten Denken der 1960er Jahre wird auch daran ersichtlich, dass er es nach Abfassung der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS unterlassen hat, noch einmal den Versuch einer ausführlichen theoretischen Systematisierung seiner Begriffe und Methoden vorzunehmen. Das ist beim Dispositiv in zweierlei Hinsicht zu beachten. Erstens hat es Foucault auf diese Weise vermieden, den Dispositivbegriff explizit für die Möglichkeiten und Formen seiner Anwendung zu definieren, und zweitens ist ‚Dispositiv‘ in der Genealogie der einzig verbliebene Terminus technicus, der so etwas wie eine Strukturvariable innerhalb des Untersuchungsfeldes benennt. In der definitorischen Unschärfe des Dispositiv-Begriffs steckt jedoch kein Mangel an theoretischem Arbeitswillen, sondern bewusste Systematik.
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Der Begriff zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er sich einer eindeutigen Festlegung entziehen soll. Foucault beschreibt das Dispositiv in einem Interview als eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann. (Foucault 2003, 392)
Die entscheidenden Elemente des Dispositivs setzen sich aus all dem zusammen, was der Genealoge als relevant erachtet, soweit damit ermöglicht wird, jene „Strategien der Machtverhältnisse [freizulegen], die Wissenstypen stützen und umgekehrt“ (Foucault, zit. n. Dreyfus/Rabinow 1994, 150). Die Beziehung, die die einzelnen Bestandteile des Dispositivs untereinander eingehen, sollen nicht als gerichtete Kausalitäten oder Wirkungsweisen aufgefasst werden: „So kann irgendein Diskurs mal als Programm einer Institution, mal im Gegenteil als ein Element erscheinen, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen oder zu verschleiern, die selbst stumm bleibt“ (Foucault 2003, 392f.). Damit ist die Absicht verbunden, jede Form von „Universalien zurückzuweisen“. Es gibt kein Koordinatensystem, keine Systemizität, keine Form einer generellen Ordnung, die sich innerhalb des Dispositivs auffinden lassen kann (vgl. Deleuze 1991, 157). Das Dispositiv steht also gewissermaßen als Oberbegriff einer Metastruktur, die sich erst in der empirischen Analyse in Teilen offenlegen lässt. Die methodische Konstruktion des Dispositivs muss vor dem Hintergrund des gewandelten Selbstverständnisses Foucaults gesehen werden, der sich vom wissenschaftlichen Wahrheitssucher zum genealogischen Kritiker gehäutet hatte. Im Dispositiv-Begriff manifestiert sich die strategische Position der ‚Genealogie als Kritik‘, die Dreyfus/Rabinow (1994, 154) als „interpretative Analytik“ kennzeichnen: „eine pragmatisch orientierte Lektüre der Kohärenz der gesellschaftlichen Praktiken“. Als ein Terminus technicus bezieht sich der Begriff – analog zu ‚Episteme‘ oder ‚Archiv‘ – auf die oberste Ebene der Analysehierarchie. Durch seine Offenheit ermöglicht er in analytischer Hinsicht die Verbindung von diskursiven mit nicht-diskursiven Elemente. So soll das Zusammenspiel zwischen Diskursen und Institutionen deutlich gemacht werden. Damit ist ein fehlendes Glied der Diskursarchäologie gefunden. Es liegt in der Verzahnung der (nun nicht mehr) sich selbst regulierenden Diskurse mit gesellschaftlichen Einflussfaktoren – ‚Gesagtes‘ und ‚Ungesagtes‘.
Diskurs und Genealogie Welche Folgen haben die genealogischen Modellierungen für den Diskursbegriff der Archäologie? Die Etablierung der Kategorie ‚Macht‘ als steuernde Ressource gesellschaftlicher Prozesse und die Anbindung der Diskurse an gesellschaftliche Praktiken führen im Wesentlichen zu drei Verschiebungen des Diskursbegriffs. Sie betreffen (1) die Frage der Steuerung von Diskursen,
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(2) die Verbindung zwischen Diskursen und Praktiken und (3) den Anwendungsbereich der Diskursanalyse. (1) Die Frage der Steuerung von Diskursen. Die in der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS offen gebliebene Flanke der Diskursregulierung, die in die diskursive Formation eingeschrieben sein sollte und einen problematischen Regelbegriff nach sich zog, schließt Foucault, indem er einen ähnlichen Weg beschreitet wie Wittgenstein. Den führte das Paradox sich selbst regulierender Regeln dazu, anstatt von Sprachregeln von Sprachspielen zu sprechen (vgl. Wittgenstein 1967). Die Betonung des Spielcharakters der Sprache heißt bei Wittgenstein, Bedeutungen werden nicht durch (vorsprachliche) Regeln konstituiert, sondern durch „Gepflogenheiten“ (Newen/Savigny 1996, 95), die sich aus einem „größeren oder kleineren zusammengehörenden Komplex von verbalen und damit ›verwobenen‹ nichtverbalen Handlungen“ herleiten (Schneider 1999, 139). Dieser Idee trägt Foucault in seiner Vorlesung über DIE ORDNUNG DES DISKURSES (1991, original 1972) Rechnung. Im Gegensatz zu Wittgensteins Sprachspielen, die auf das Zustandekommen alltäglicher Kommunikation ausgerichtet sind, folgt Foucault bei der Adaption des Spielbegriffs allerdings weiter dem Gedanken, Diskurse als Ausschließungsmechanismen zu betrachten. Diskurse konstituieren sich als ein Spiel mit (Macht-)Prinzipien, das daran ausgerichtet ist, die Möglichkeit der Ausprägung von Wissensformen einzuschränken. Foucault ergänzt damit die Vorherrschaft der diskursiven Formation um drei Bereiche, in denen Prozeduren zum Tragen kommen, die „das große Wuchern der Diskurse zumindest teilweise zu bändigen“ versuchen (33). Der erste Bereich ist kennzeichnend für Foucaults beginnende Hinwendung zum Machtbegriff: „Gewissermaßen von Außen“ lege sich auf den Diskurs ein „Wille zur Wahrheit“ (17), der als eine Art universaler Mechanismus den Motor sowohl für die Mehrung als auch für die Ausschließung von Wissen abgibt. Auch wenn Foucaults Machtbegriff zu diesem Zeitpunkt erst schwach ausgearbeitet ist, so wird daran deutlich, wie er sich Macht als Antrieb sozialer Prozesse vorstellt, dessen Kraft produktiv und repressiv zugleich wirkt. In dieser Doppeldeutigkeit liegt ein Grundprinzip, mit dem Foucault die Geschichtlichkeit von Diskursen erklärt. Ein Diskurs hat immer zwei Seiten: Einerseits ist er fragil und veränderbar in die Zeit hinein, andererseits mächtig und wahrhaftig im Augenblick seines Existierens. Innerhalb der Diskurse, dem zweiten Bereich, äußert sich das Zusammenspiel von Machtpraktiken und Diskursproduktion an einer Ergänzung der bisherigen Konzeption der diskursiven Formation. Obgleich Foucault nicht dazu Stellung nimmt, läuft die nun vorgenommene Beschreibung der „internen Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben“ (17) auf eine Dynamisierung der – in der Archäologie statisch konstruierten – diskursiven Formation hinaus. Deutlich wird das am Beispiel des Kommentars. Mit der Metapher des Kommentars (gemeint ist die fortlaufende Kommentierung kanonischer Schriften) beschreibt Foucault das Prinzip, das der Verstetigung von Diskursen zugrunde liegt. Es betrifft die Selbstbezüglichkeit der diskursiven Praxis. Diese funktioniere wie ein Kommentar, der einem Diskurs nichts grundlegend Neues zum Gesagten hinzufügt, son-
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dern immer auf ein bestimmtes Repertoire zurückgreift und folglich nur das wiederholt, was schon gesagt worden ist. Selbst das Neue und Unbekannte, das vermittels des Kommentars formuliert werden kann, kann für Foucault nur das sein, was schon vor ihm „verschwiegen artikuliert“ wurde (19). Zudem verweist die Bedeutung des Kommentars auf eine soziale Hierarchie und Transformation, die mit den medialen Orten verknüpft ist, an denen ein Diskurs stattfindet: In allen Gesellschaften lässt sich eine Art Gefälle zwischen den Diskursen vermuten: zwischen den Diskursen, die im Auf und Ab des Alltags geäußert werden und mit dem Akt ihres Ausgesprochenwerdens vergehen, und den Diskursen, die am Ursprung anderer Sprechakte stehen, die sie wieder aufnehmen, transformieren oder besprechen – also jenen Diskursen, die über ihr Ausgesprochenwerden hinaus gesagt sind, gesagt bleiben und noch zu sagen sind. (Foucault 1991, 18)
Bemerkenswert ist der Kommentar deshalb, weil er ein Beispiel dafür abgibt, wie sich diskursive Praxis und diskursive Formation gegenseitig bedingen. Der Kommentar als Prinzip der Wiederholung von Gesagtem steht sowohl für die Identifikation des Diskurses als ein System von Ähnlichkeiten als auch für eine rudimentäre Theorie darüber, wie sich ein Diskurs in den Bereich des Sozialen hinein verlängert: über Formen des Praktizierens von Diskursweisen und über die mediale Kontrolle der Kontinuitätsstiftung durch die Praxis des Archivierens. Der dritte Bereich der Begrenzung der Möglichkeiten eines Diskurses ist im Raum des Sozialen angesiedelt. Gemeint sind Formen gesellschaftlicher Voraussetzungen, die Diskursteilnehmer erfüllen müssen – wie fachliche oder gesellschaftliche Qualifikationen, Mitgliedschaften in elitären Zirkeln, Zugehörigkeiten zu bestimmten gesellschaftlichen oder kulturellen Gruppen, die Sozialisation durch ein Erziehungssystem. So komme es auch außerhalb der Diskurse zu einer physischen „Verknappung der sprechenden Subjekte“ (26) und zu Habitualisierungen von Diskurspraktiken. (2) Die Verbindung zwischen Diskursen und Praktiken. Die in diesen drei Bereichen angelegte Erweiterung der Steuerungsfaktoren von Diskursen geht eng zusammen mit der Frage, wie Diskurse und Diskurspraktiken aufeinander bezogen sind. Um ihre Beziehung zu veranschaulichen, ist es sinnvoll, nochmals auf die Parallelen zu Wittgensteins Überlegungen zum Sprachspiel zurückzukommen. Foucaults Charakterisierung von Diskursen als „Spiele der Wahrheit“ (Ewald/Waldenfels 1991) ist unter diesem Blickwinkel keinem relativistischen Wahrheitsbegriff geschuldet – wie auch das Sprachspiel Wittgensteins keinem relativistischen Normverständnis huldigt (vgl. Puhl 1998, 129) –, sondern Ausdruck eines Modells einer über Kommunikation laufenden Form von Subjektivierung. Schon während der Abfassung der ARCHÄOLOGIE hatte Foucault damit begonnen, sich „Wittgenstein und die englischen Analytiker genauer anzusehen“, wie er 1967 in einem Brief mitteilte (zit. n. Defert/Ewald 2001, 44). In der Diskursarchäologie machte er sich den Begriff der Familienähnlichkeiten zu eigen, um die Beziehungen zwischen den Aussagen eines Diskurses zu beschreiben, während er gleichzeitig versuchte, vermittels der diskursiven For-
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mation den Diskurs als eine von den Praktiken getrennte, autonome Ebene zu konstruieren. Was Aussagen zu Aussagen eines Diskurses werden lässt, bestimmt noch allein „ihre Stellung im Netz“ anderer Aussagen (Dreyfus/Rabinow 1994, 83). Diese Konstruktion führt nicht nur zu der erwähnten Regelproblematik, es ist auch extrem widersprüchlich, die Beziehungen eines sich selbst regulierenden Systems mit dem Terminus der Ähnlichkeiten zu markieren. Denn bei Wittgenstein (1967, § 65–71) wird der Begriff im Anschluss an das Sprachspiel eingeführt, um zu beschreiben, wie sich die Beziehung von Aussagen in einem System darstellen lässt, das gerade nicht über eindeutig bestimmbare, dem Sprachgebrauch vorgelagerte Regeln definiert werden soll. Das Sprechen einer Sprache ist für Wittgenstein eine „regelfolgende Aktivität“ (Puhl 1998, 119), bei der wir uns Regeln aneignen, „indem wir lernen ihnen zu folgen, d.h., indem wir lernen uns in bestimmter Weise zu verhalten“ (127). Daraus folgt, dass sich nicht einzelne Regeln beschreiben lassen, die das (Sprach-)Verhalten steuern, sondern nur eine soziale Praxis. Regelfolgendes Verhalten funktioniert für Wittgenstein unabhängig vom genauen Verständnis der Regeln, da nicht für jedes Verhalten in jeder Situation ein ausführliches Regelwissen vorhanden sein kann: Der bisherige Gebrauch der Regel, ihre Erklärung usw. fixieren ihre korrekte Verwendung nur in Abhängigkeit von unseren Reaktionen auf vergangenen Gebrauch und erhaltene Erklärungen. Will man also daran festhalten, dass der Inhalt einer Regel und ihr bisheriger Gebrauch eine bestimmte Anwendung festlegen, tun sie dies eben nur in einem empirischen, nicht in einem logischen Sinn. (Puhl 1998, 133)
Den Grundsatz, dass sich Sprachspiele nur empirisch bestimmen lassen, verfolgt Foucault theoretisch und praktisch bereits mit Beginn seiner Diskursanalysen, indem er Diskurse zu singulären Ereignissen erklärt. Aber erst mit dem Wandel zur Genealogie bezieht er den damit zusammenhängenden Gedanken ein, dass damit ein Prozess verbunden ist, der aus einem Wechselspiel zwischen Diskursen und Praktiken hervorgeht. Das heißt, nicht im anonymen Diskurs werden die Regeln erzeugt, denen dann die Praktiken folgen, sondern Diskurse gehen aus einem untrennbaren Zusammenspiel zwischen der materiellen Positivität des Diskurses und einer Reihe verschiedenster, damit zusammenhängender Verhaltensweisen hervor. (3) Der Anwendungsbereich der Diskursanalyse. Der Stellenwert der Diskursanalyse innerhalb der Genealogie ist damit aber noch nicht hinreichend beschrieben. Durch die herausgehobene Bedeutung von Macht und Praktiken in der Genealogie verschiebt sich Foucaults Analyseraster; der Bereich der Diskursanalyse wird damit zugleich erweitert und eingeschränkt. Erweitert wird er insofern, als Foucault den gesellschaftlichen Raum der zu betrachtenden Diskurse von den Wissenschaften auf die generelle Produktion von Wissen ausdehnt. Eingeschränkt wird der Geltungsraum der Diskurse selbst, die immer von den Effekten der Macht überlagert sind und denen erst aus dem Blickwinkel der subjektivierenden Praktiken eine Relevanz zugesprochen wird. Denn mit der Genealogie zielt Foucault nicht mehr darauf ab, die Geschichten des Sagbaren zu schreiben, sondern die Praktiken offenzulegen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind.
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Foucault als Ausgangspunkt Foucaults eigene Diskurs- und Positionsverschiebungen, die in der Regel eher im- als explizit geschehen, lassen sich als Ausdruck einer bewussten Diskurspraxis verstehen. Er selbst wollte, so erscheint es rückblickend, seine Texte nicht als Zitathaufen in die wissenschaftlichen Diskurse der Sozialund Geisteswissenschaften einfügen. In der Einleitung zu seiner Antrittsvorlesung am Collège de France kokettiert Foucault (1991, 9f.) damit, nun selbst der Urheber eines Diskurses zu werden und sich damit in den Raum einer Doppelbödigkeit zu begeben, der gleichermaßen von der Gefahr geprägt sei, ein neues Terrain zu betreten, wie auch von der Sicherheit, im Olymp des französischen Wissenschaftssystems angekommen zu sein. Aber woraus besteht eigentlich der ‚Diskurs Foucault‘ im Kern, wie er in den vorangegangenen Abschnitten rekonstruiert wurde? Und warum war es nötig, diesen in einer gewissen Ausführlichkeit zu verfolgen? Den verschiedenen Positionierungen, die Foucault zu den Begriffen und Beschreibungsformen bezieht, soll hier deshalb noch einmal das Konstante gegenübergestellt werden, vor dessen Hintergrund sich Foucault bewegt.
‚Starker‘ Diskursbegriff Im Kern kreist das Denken Foucaults um die Frage, auf welche Art und Weise die Konstituierung von Menschen als gesellschaftliche Subjekte in modernen Gesellschaften vonstattengeht. Die Perspektive, aus der Foucault Antworten auf diese Frage anbietet, lässt sich einer interpretativen kultursoziologischen Tradition zuordnen, die zu Weber oder Durkheim zurückreicht, allerdings insofern neue Wege beschreitet, da Foucault am Vorgang der Einübung in soziale Regeln vor allem das physische Moment der Aufzwingung betont: Jede Subjektwerdung, also jede Form der Erzeugung von Typen sozialer Individualität, besitzt für ihn ein unverrückbares Stück materiellen Zwanges, weil es stets wenn nicht der handgreiflichen Disziplinierung, so doch der physischen Präsenz verräumlichter Gewalt bedarf, um ein menschliches Wesen in das entsprechende Netzwerk sozialer Regeln einzuüben. (Honneth 2003, 24)
Eine Art der „physischen Präsenz verräumlichter Gewalt“ stellen auch Diskurse dar. Honneths Gebrauch des Terminus ‚Gewalt‘ zur Kennzeichnung des Machtaspekts ist allerdings etwas irreführend, da Foucault, wie beschrieben, Macht dialektisch als intentionales Verhalten charakterisiert, dem sowohl ein Zwang als auch eine produktive Kraft innewohnt und das deshalb nicht einseitig negativ konnotiert ist. Die Gewalt (und Relevanz) von Diskursen ist darin begründet, dass sie eine Form der Objektivierung von gesellschaftlichem Wissen darstellen. Die Objektivierung von Wissen hat eine doppelte Bedeutung: „Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren dieser Wirklichkeit in einem“ (Berger/ Luckmann 2003, 71). In diesem Sachverhalt verbirgt sich das kultursoziologische Moment Foucaults. Es liegt darin, Diskurse nicht (nur) als sprachliche Repräsentationen der Welt zu verstehen, sondern als „Praktiken zu behan-
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deln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981, 74). Dass einem Diskurs eine physische Präsenz eingeräumt wird, deutet auf einen zweiten Unterschied zur klassischen Kultursoziologie hin. Foucaults Denken steht für einen Paradigmenwechsel in der historischen Kulturanalyse, der unter dem Label des linguistic turn zusammengefasst werden kann (vgl. Schöttler 1997). Ein wesentliches Merkmal des Diskursbegriffs ist jedoch darin zu sehen, dass er – im Gegensatz zu eher sprachphilosophisch ausgerichteten Ansätzen – von Foucault mit einer materialen Komponente ausgestattet wurde, die es bei der Analyse zu berücksichtigen gilt. Denn jede elementare Aussage eines Diskurses ist linguistisch, sozial, historisch und medial kontextualisiert. Diese beiden Aspekte, die historisch ausgerichtete, kultursoziologische Perspektive und die methodische Fokussierung auf sprachliche bzw. symbolische Zusammenhänge, bilden die analytischen Grundpfeiler, auf denen eine auf Foucault basierte Diskursanalyse fußt. Sie führen zu einem ‚starken‘ Diskursbegriff, der für eine Kopplung von Theorie und Methode steht und in der die eigentliche Pointe dieses Ansatzes liegt (vgl. Diaz-Bone 2002b, 127). Das heißt, zum einen geht es bei der Diskursanalyse darum, geeignete Methoden für die Beschreibung von Diskursen oder Diskursordnungen zu entwickeln, und zum anderen, darüber Auskunft zu geben, welcher Stellenwert diesen Ordnungen innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens zugeschrieben werden kann. Wenn in den vorangegangenen Unterkapiteln die Entwicklung des Foucaultschen Diskursbegriffs mit ihren Modifikationen und Verwerfungen nachgezeichnet wurde, so geschah das weder in der Absicht, eine Genealogie des Diskursbegriffs zu erstellen, noch sollte damit der Eindruck erweckt werden, bei Foucault läge das einzig wahre und richtige Verständnis von Diskursanalyse. Vielmehr wird es im Folgenden darum gehen, sowohl die Problematik zu sehen, die sich hinter einem ‚starken‘ Diskursbegriff verbirgt, als auch die Erfahrungen zu nutzen, die Foucault bei seinen Versuchen der Operationalisierung des Diskursbegriffs gemacht hat.
Diskurse als Kommunikationsprozesse Als theoretischer Ausgangsgedanke dient dazu Foucaults Konzeption von Diskursanalyse als Beschreibung von Aussagefeldern innerhalb bestimmter Kontexte. Das Ziel dieser Beschreibung liegt darin, über das Auffinden wiederkehrender, typischer Aussagen darüber Aufschluss zu gewinnen, welche kommunikativen Praktiken innerhalb bestimmter Zeitabschnitte die Kommunikation in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen prägen. Eng daran geknüpft ist die anti-strukturalistische Vorstellung, wonach jeder Diskurs nur in der Einzigartigkeit seines Auftretens beschreibbar ist, da die Verbindung zwischen Aussagen und ihrem Kontext, der diskursiven Formation, aus einem dynamischen, wechselseitigen Spiel von Festschreibungen und Veränderungen besteht. Damit ist in die Analyse ein gewisses Paradox eingeschrieben, dass mit der zunächst widersprüchlich erscheinenden, theoretischen Anlage diskursiver Ordnungen „als Formvorgaben und also als feste Ordnungen und doch zugleich als Prozesse“ (Gehring 2004, 73) zusammenhängt. Folgt
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man Foucault, der in diesem Punkt wiederum Wittgenstein zu folgen scheint, liegt der Grund dafür in der Unordnung der Geschichte bzw. im Spielcharakter ihrer kommunikativen Ereignisse selbst, die nicht der Logik, sondern nur der Empirie zugänglich sind. Gleichzeitig führt die Idee der Archäologie schon bei Foucault (2003, 395) in eine „Sackgasse“, da sie seinem Projekt einer Analytik der gesellschaftlichen Subjektwerdung des Menschen nicht vollauf gerecht wird. Denn als Untersuchungsansatz für komplexere gesellschaftliche Felder, wie es beispielsweise ‚Sexualität‘ darstellt, springt die Archäologie zu kurz. Sie kann mit Hilfe ihrer methodischen Konzeption nur jene Beziehungen aufschlüsseln, die direkt im Feld der Kommunikation liegen: an signifikante Aussagen gebundene diskursive Praktiken. Dieses Dilemma lässt sich auch nicht durch die kursorischen Ergänzungen aufheben, wie sie Foucault mit Bezug auf eine ‚Analytik der Macht‘ erstmals in seiner Vorlesung über DIE ORDNUNG DES DISKURSES vornimmt. Das methodische Dilemma der Archäologie lässt sich anhand Foucaults Analyse zur Geschichte der Sexualität verdeutlichen. Bereits am Ende der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS nennt Foucault (1981, 276) ‚Sexualität‘ als mögliches Feld einer archäologischen Beschreibung. Eine solche würde zeigen, wie alle „sprachlichen oder nicht-sprachlichen Manifestationen [von Sexualität] an eine determinierte diskursive Praxis gebunden sind“. Diese diskursive Praxis wäre ihrerseits mit „gewisse[n] ›Sprechweisen‹“ verklammert, die „in einem System von Verboten und Werten angelegt“ sind. Beim Verfassen des ersten Bandes von SEXUALITÄT UND WAHRHEIT (1983) macht Foucault jedoch eine Erfahrung, die nicht nur einen zentralen Punkt des Buches darstellt, sondern auch ein gewichtiges Argument gegen eine archäologische Beschreibung von Sexualität liefert (die ihm zu dieser Zeit auch nicht mehr vorschwebt). Das wesentliche historische Moment im gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität liegt nun nicht mehr in den ‚Sprechweisen‘, über die im Diskurs ein „System von Verboten und Werten“ (Foucault 1981, 276) produziert wird. Es betrifft vielmehr die Art und Weise, wie das Sprechen über Sexualität in die Gesellschaft eingeflochten ist, als „eine Überlagerung zwischen [zwei] Modalitäten der Wahrheitsproduktion: den Prozeduren des Geständnisses und der wissenschaftlichen Diskursivität“ (Foucault 1983, 83). Mit dieser Argumentation widerspricht Foucault der ‚Repressionshypothese‘, nach der ab dem 17. Jahrhundert eine diskursive Unterdrückung des Redens über Sexualität eingesetzt habe: „Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen“ (49). Diese Sichtweise auf die Geschichte der Sexualität kann Foucault jedoch erst dadurch gewinnen, dass er Sexualität nicht mehr nur als reines Diskursphänomen betrachtet, sondern als „komplexes Dispositiv“, dass „den alten Geständniszwang mit den Methoden des klinischen Abhorchens zusammenschaltet“ (87). Was bedeutet das für die Methode der Diskursanalyse? Eine sehr verbreitete Schlussfolgerung aus Foucaults Hinwendung zur Dispositivanalyse ist die Soziologisierung des Diskurskonzepts. So sieht die Soziologin Hannelore Bublitz (2001, 228) Diskursanalyse als „Methode der Rekonstruktion einer gewissen Regelhaftigkeit sozialer Wirklichkeit“, mit der gesellschaftliche
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„Ordnungsstrukturen“ aufgezeigt werden. Die Verwendung von Diskursanalyse als Methode zur Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit begründet Bublitz (1999, 87) an anderer Stelle damit, es gebe „bei Foucault keinen Gegensatz zwischen dem, was getan, und dem, was gesagt wird“. Als Argument für diese Behauptung führt sie eine Passage aus einem oft zitierten FoucaultInterview von 1977 an, in dem er u.a. seine Idee vom Dispositiv umreißt und in dem auch die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Diskursiven und dem Nicht-Diskursiven angerissen wird. Es wird hier etwas ausführlicher (und in neuerer Übersetzung) wiedergegeben als bei Bublitz, die nur die letzte Äußerung Foucaults anführt: G. Le Gaufey: Aber um auf das Nicht-Diskursive zurückzukommen: Was gibt es außerhalb der Aussagen in einem Dispositiv anderes als die Institutionen? M. Foucault: Das, was man allgemein ›Institution‹ nennt, ist jedes mehr oder weniger erzwungene, erworbene Verhalten. Alles das, was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, ohne dass es eine Aussage ist, zusammengefasst, das gesamte nicht-diskursive Soziale, ist die Institution. J.-A. Miller: Die Institution ist offensichtlich etwas Diskursives. M. Foucault: Wenn du so willst, doch für meine Sache mit dem Dispositiv ist es nicht so sehr wichtig, ob es heißt: Dies da ist diskursiv, dies da ist es nicht. Was ist zwischen Gabriels architektonischem Programm für die École militaire und dem Bau der École militaire selbst diskursiv und was ist Institution? Das interessiert mich nur dann, wenn das Gebäude nicht programmkonform ist. Doch glaube ich nicht, dass es von großer Wichtigkeit ist, genau diese Trennung vorzunehmen, da mein Problem ja kein sprachliches ist. (Foucault 2003, 396)
Klar wird hier zum einen, dass Foucault weiterhin trennt zwischen Diskursen bzw. diskursiven Praktiken, die sich auf ‚Aussagen‘ beziehen, und nichtdiskursiven Praktiken, die auf ‚institutionell‘ begründete ‚Zwangssysteme‘ zurückgehen, wie er sie in ÜBERWACHEN UND STRAFEN dargestellt hat. Andererseits ist Foucaults Aussage („Es nicht so sehr wichtig, ob es heißt: Dies da ist diskursiv, dies da ist es nicht.“) weniger programmatisch, als vielmehr pragmatisch zu verstehen, da Millers Einwurf („Die Institution ist offensichtlich etwas Diskursives.“) genau dem widerspricht, was Foucault zuvor gesagt hatte. Somit bleibt festzuhalten, dass auch nach der Einführung des Dispositivkonzepts die diskursanalytische Methode für Foucault weiterhin auf Kommunikationsprozesse bezogen bleibt, die er nun allerdings direkt an nichtdiskursive Formen der Subjektivierung anbindet. Erst dann, aus Sicht einer Dispositivanalyse, spielt es keine Rolle mehr, welche ‚Zwänge‘ aus Diskursen und welche aus Institutionen herrühren. Für eine soziologische Adaption Foucaults, wie sie Bublitz vorschwebt, ist es sicherlich sinnvoll, an den Dispositiv-Begriff anzuschließen. Es ist jedoch fraglich, ob das Label ‚Diskursanalyse‘ dafür richtig gewählt ist. Stützt sich ein solcher Ansatz auch noch weitestgehend auf das methodische Konzept der Archäologie, wie das beispielsweise in Bublitz’ Einführung zum DISKURS (2003) der Fall ist, so können sich daraus methodische Probleme eröffnen, wenn Diskurse als Aussagefelder beschrieben und dabei mit Dispositiven gleichgesetzt werden oder umgekehrt das Nicht-Diskursive in den Status des Diskursiven gesetzt wird.
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Für eine medienwissenschaftlich ausgerichtete Diskursanalyse lässt sich daraus folgern, mit einem Mediendiskurs werden lediglich Kommunikationspraktiken innerhalb des abgegrenzten Diskursraums vollzogen, den die Massenmedien zur Verfügung stellen. Damit soll nicht gesagt werden, mediale Diskurse stünden außerhalb des Sozialen (ganz im Gegenteil), sondern die Analyse von medialen Aussagefeldern erlaubt in einem ersten Schritt nur Rückschlüsse auf jene diskursiven Praktiken, mit denen innerhalb der Medien kommuniziert wird. Dass Medienanalyse als Diskursanalyse keine Dispositivanalyse ist, wird deutlich, wenn man sich nochmals Foucaults oben angeführte Äußerung vor Augen führt, für eine Dispositivanalyse sei es unerheblich, zwischen Diskurs („architektonischem Programm“) und Institution („dem Bau selbst“) zu unterscheiden, solange beide „programmkonform“ seien. Während solche linearen Zusammenhänge im Bereich der Architektur möglich sind, stellen Medien jedoch keine Programme dar, mit denen Aussagen maßstabsgetreu in die Gesellschaft implementiert werden. Die weitere Ausarbeitung eines Analysemodells setzt deshalb direkt an Foucaults Vorschlägen zur Analyse der wissenschaftlichen Episteme an und beschreitet von da einen anderen Weg. Im Gegensatz zur direkt an Foucault orientierten Dispositivanalyse kommt es so anstatt zu einer Ausweitung zu einer Eingrenzung des Untersuchungshorizonts. In den Mittelpunkt des analytischen Interesses rücken die Begriffe der Kommunikation und des Medialen bzw. der Medialität. Die zentrale Frage lautet dabei zunächst: Was bedeutet es, ein solches Konzept auf die Formierung von Diskursen anzuwenden, die innerhalb der Massenmedien stattfinden? Zur ihrer Beantwortung werden in den nächsten drei Kapiteln diskursanalytische Modelle vorgestellt, die jeweils Teilstücke zur Ergänzung und Übertragung der Archäologie auf das Feld der Massenmedien bzw. den darin zu unterscheidenden Bereich der Printmedien zur Verfügung stellen.
NORMAN FAIRCLOUGH Der britische Linguist Norman Fairclough hat seit Ende der 1980er Jahre unter dem Label ‚Critical Discourse Analysis‘ (CDA) einen eigenen Ansatz einer Diskursanalyse ausgearbeitet, der nicht zuletzt durch die Anwendung auf den MEDIA DISCOURSE (1995) für diese Arbeit von herausragendem Interesse ist. Das Ziel seines Ansatzes besteht darin, linguistische Analysemethoden mit soziologischen Theorien zu einer soziologisch fundierten Sprachtheorie zu verbinden, die sich dazu eignen soll, die generelle Bedeutung und Funktion von Sprache für Prozesse gesellschaftlichen Wandels herauszuarbeiten. Die Entscheidung, Linguistik in Diskursanalyse zu überführen, liegt für Fairclough darin begründet, dass besonders im Foucaultschen Diskursbegriff eine Eigenschaft der Sprache angelegt ist, für die linguistische Theorien in der Regel blind sind: der sozial konstitutive Charakter der diskursiven Praktiken. Dennoch unterscheiden sich Faircloughs Ausformulierungen der Diskursanalyse wesentlich von jenen Foucaults. Neben dem Versuch einer linguistischen Rückbindung durch Modelle der Gesprächs- und Textanalyse kennzeichnet die CDA der Anspruch, den Diskursbegriff so zu konzipieren, dass er auf die Beschreibung gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Verhältnisse und Veränderungen anwendbar ist. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die Faircloughs Ausarbeitung einer Diskursanalyse entscheidend beeinflussen: Zum einen ist Diskursanalyse damit nicht mehr per se eine historiografische Methode. Und zum anderen soll sie zu einem Instrument werden, dass sich für eine sozialkritische Auseinandersetzung mit den politisch umkämpften Praktiken des Sprachgebrauchs und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen gebrauchen lässt.
Text — Diskurs — Gesellschaft Der Diskursbegriff der CDA bezieht sich auf jene Aspekte des mündlichen und medialen Sprachgebrauchs, die als Ausdruck einer gesellschaftlichen Kommunikationspraxis angesehen werden können. Fairclough (2001, 339) unterscheidet im Gegensatz zu Foucault nicht zwischen diskursiver Praxis, der Positivität des Diskurses und der diskursiven Formation, sondern nur zwischen einem abstrakten Diskursbegriff, der sich auf die sozial konstruktive Realitätskonstruktion von Sprache bezieht, und konkreten Ausformulierungen verschiedener Bindestrich-Diskurse, die jeweils „spezifische Formen des Sprachgebrauchs“ auszeichne: „a particular representation, from a specific point of view, of some social practice“ (Fairclough 1995, 18f.). Zur Gesellschaft stehen Diskurse für Fairclough (1994, 64) in einem „dialektischen Verhältnis“: Sie sind sowohl im weitesten Sinne von ihr geprägt, prä-
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gen sie selbst insofern aber auch, als im Diskurs Identitäten, gesellschaftliche Beziehungen und Wissensbereiche errichtet werden. Damit soll verdeutlicht werden, dass Diskurse ihre Wirkungen nur auf der Grundlage einer materiellen gesellschaftlichen Praxis entfalten können, also auf der Lebensrealität konkreter Subjekte beruhen. Diese Subjekte sollen so – im Unterschied zu Foucaults Diskursarchäologie – als handelnde gesellschaftliche Akteure von vornherein Einzug in die Diskursanalyse finden. Die Ordnung von Diskursen versteht Fairclough zwar ähnlich wie Foucault als einen eher lockeren Verbund verschiedener Elemente, die durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, inhomogen und aus Sicht der Agierenden sogar widersprüchlich sein können. Aber die einzelnen Elemente, mit denen sich ein Diskurs konstituiert, gestaltet Fairclough völlig neu. Abbildung 1: Die drei Dimensionen eines kommunikativen Ereignisses
(Text-)Produktion
TEXT (Text-)Rezeption DISKURSIVE PRAXIS
SOZIOKULTURELLE PRAXIS
Fairclough (1995, 59) Fairclough gliedert die Analyse in drei Bereiche (62–72): Der einzelne Text stellt – als gesprochene oder geschriebene Sprache – ein singuläres diskursives Ereignis dar, das im Zentrum der Diskursanalyse steht. Jedes diskursive Ereignis gilt darin wiederum als Teil einer diskursiven Praxis, die sich über das Zusammenspiel der Produktion und Rezeption von Texten regelt, und die selbst wiederum von einer soziokulturellen Praxis gerahmt wird, in der gesellschaftliche Strukturen und Auseinandersetzungen ihren Ausdruck finden sollen. Für die Analyse folgert Fairclough daraus, auf der Ebene einzelner Texte, die die materielle Grundlage der Analyse bilden, lassen sich nur Spuren oder Anzeichen des umfangreichen Prozesses der Diskursproduktion auffinden, denen erst aus der Perspektive der anderen beiden Bereiche eine Bedeutung zugeschrieben werden könne. Die CDA ist als ein dreistufiges Modell angelegt. Zunächst ist sie linguistische Textinterpretation. Darauf auf-
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bauend sollen sich die diskursiven Praktiken darstellen lassen, durch die Bedeutungszuschreibungen im Diskurs strukturiert werden und in denen kommunikative Verhaltensroutinen aufgenommen, ausgebildet und verändert werden. Resümierend soll zuletzt die Überführung der Analyse der diskursiven Praktiken auf den soziokulturellen Kontext erfolgen, der sich aus internalisierten gesellschaftlichen Verhaltensroutinen und der sozialstrukturellen Ausprägung der Gesellschaft zusammensetzt und in dem sich die gesellschaftlich umkämpften Formen der Diskursproduktion artikulieren. Die praktische Durchführung einer Diskursanalyse ist jedoch, darauf weist Fairclough in MEDIA DISCOURSE (1995, 78) hin, nicht als ein dreistufiger Prozess organisiert. Das eigentliche Forschungsinteresse richtet sich nicht auf eine isolierte Beschreibung der drei Dimensionen Text – diskursive Praxis – soziokulturelle Praxis, sondern beschäftigt sich mit den beiden Übergängen zwischen ihnen: Wie hängt die linguistisch beschreibbare Form eines Textes mit den Routinen ihrer Produktion und Rezeption zusammen? Und wie sind diese Diskursroutinen durch allgemeine soziokulturelle Praktiken gerahmt? Die Beantwortung dieser zwei Fragen führt ins Zentrum der CDA. Die eigentliche Auseinandersetzung der Diskursanalyse gilt darin erstens der Beschreibung und Offenlegung der intertextuellen Muster und Typen, die Diskurse ausbilden und durch die Texte und Diskurspraktiken miteinander verbunden sind. Zweitens geht es um die (gesellschaftskritische) Einordnung von Diskursen in soziale Machtverhältnisse, die sich in soziokulturellen Praktiken ausdrücken und die über diesen Einflusskanal bestimmen, welche Formen diskursiver Praktiken im Raum der kulturellen Kommunikation einer Gesellschaft überhaupt realisiert werden können. Damit sind zwei diskurstheoretische Variablen verbunden. Der Übergang vom Text zum Diskurs betrifft den Aspekt der Intertextualität und der Übergang vom Diskurs zur Gesellschaft kreist um die Frage der Auslegung der Kategorie Macht.
Vom Text zum Diskurs: Intertextualität Die Verbindungen zwischen den einzelnen Texten und den diskursiven Praktiken, die sie erzeugen, aufnehmen und erneut hervorbringen, stellt Fairclough über den Begriff der Intertextualität her. Diesem fällt eine ähnliche Bedeutung zu, wie sie die diskursive Formation in Foucaults Archäologie hat; beide werden als Instanzen herangezogen, die für die Regulierung und Ordnung von Diskursen als maßgeblich erachtet werden. Ein wesentliches Argument dafür, die diskursive Formation durch intertextuelle Prozesse zu ersetzen, bezieht Fairclough aus dem selbst gesetzten Anspruch, einen Diskurs nicht als Ausdruck eines statischen Prozesses der Formierung von Kommunikation durch eine übergeordnete Struktur zu sehen. Die diskursive Praxis solle stattdessen als ein komplexer Prozess beschrieben werden, der sich aus einem vielschichtigen Wechselspiel der Produktion und Rezeption von Texten zusammensetzt.
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Prinzip des Dialogischen Der Begriff ‚Intertextualität‘ geht zurück auf einen Aufsatz der bulgarischen Kulturwissenschaftlerin Julia Kristeva (1972), in dem sie Überlegungen des russischen Literatur- und Sprachtheoretikers Michail Bachtin zu einer postmodernen Texttheorie ausarbeitet. (Literarischen) Texten wird darin die grundsätzliche Eigenschaft zugeschrieben, in einem dreidimensionalen Verweisraum positioniert zu sein, der sich zwischen dem schreibendem Subjekt, seinem Adressat und anderen zuvor bereits entstandenen Texten auftue. In letzter Konsequenz heißt das bei Kristeva, dass sich Literatur vor dem Horizont eines entpersonalisierten Text-Text-Universums vollzieht: Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen. (Kristeva 1972, 348)
Kristevas Vorstellung von Intertextualität ist beispielhaft für einen radikal postmodernen Textbegriff, mit dem traditionelle Vorstellungen von insbesondere literarischen Texten infrage gestellt werden. Die Auflösung literarischer Paradigmen wie ‚Werk‘ oder ‚Autor‘ und die Einebnung der Unterschiede zwischen Schreibendem und Lesendem, Text und Kontext gehen einher mit dem Projekt der Dekonstruktion bürgerlicher Subjekt- und Kunstbegriffe. Aber obgleich Fairclough den Terminus ‚Intertextualität‘ mit dem expliziten Verweis auf Kristeva verwendet, ist seine Diskursanalyse kein Teil dieser Bewegung. Er kann sich dieses radikale Verständnis von Intertextualität schon deshalb nicht zu eigen machen, weil er ja darum bemüht ist, Diskurse in soziale Kontexte einzuordnen und mit konkreten sozialen Akteuren in Verbindung zu bringen. Faircloughs Begriff von Intertextualität ist im Wesentlichen geprägt von Bachtins dialogischer Ästhetik und dessen fragmentarisch gebliebenen, sprachtheoretischen Überlegungen. Den Begriff der Dialogizität entwickelt Bachtin (1979) in Auseinandersetzung mit Ästhetiken des Romanschreibens, bei denen er zwischen ‚monologisch-epischen‘ und ‚dialogischen‘ Formen trennt. Während aus dem ‚monologischen Roman‘ nur die eine Stimme des auktorialen Erzählers spreche, zeuge der ‚dialogische Roman‘ von einer „Dezentralisierung des Sprachbewusstseins“ (Pfister 1985a, 3), da er die Vielfalt gesellschaftlicher Redeweisen und Ausdrucksformen zu einem unablässigen Bestandteil der Erzählung erhebt. Darüber hinaus beinhaltet das Konzept der Dialogizität bei Bachtin allerdings mehr als eine literarische Schreibweise; es kündet zugleich von einer demokratischen Kultur der Dezentralisierung und Vielgestaltigkeit, die der lange Zeit marginalisierte russische Wissenschaftler der Realität des formierten Lebens in der Sowjetunion entgegenhalten wollte (vgl. Freise 1993). Während diese kulturpolitische Konnotation des Dialogkonzepts auch in Entwürfen postmoderner Texttheorien aufscheint, unterscheidet es sich von ihnen jedoch einerseits darin, dass Dialogizität bei Bachtin ein Qualitätskriterium und kein generelles Kennzeichen von Texten bzw. Kulturen ist. Andererseits lässt sich Bachtins Theorie nicht dafür gewinnen, den Subjekt-
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begriff in einer Textur selbstreferenzieller Zeichen aufzulösen. So betont er (1979, 353) ausdrücklich, in jedem intertextuellen System sei der „Kontakt von Persönlichkeiten und nicht (im Extrem) von Dingen“ zu sehen. Von den späten texttheoretischen Arbeiten Bachtins bezieht sich Fairclough insbesondere auf den posthum veröffentlichten Aufsatz THE PROBLEM OF SPEECH GENRES (1986), der Teil eines geplanten, aber niemals vollendeten Buches über Sprachgattungen ist. Darin entwirft Bachtin den Ansatz einer Sprachtheorie, die – als Kritik der Unterscheidung Saussures zwischen einem abstraktem Sprachsystem (langue) und einer sich daran orientierenden Sprachverwendung (parole) ansetzend – eine weitere Ebene, eine Art ‚Subsystem‘ der Saussureschen langue einführt: die Redegattung (vgl. Duff 2000, 82). Besonders sind Redegattungen für Bachtin, weil von ihnen eine ähnlich strukturierende Wirkung für die Verwendung von Sprache ausgeht wie von grammatikalischen Formen. Auch sie bilden eine Matrix aus, an der wir den Einsatz unserer Worte orientieren können. Diese Matrix entspringt für Bachtin jedoch keinem abstraktem System, sondern errichtet sich als ein „im Sprechen erzeugtes interaktives Handlungsmuster“ (Günthner 2000, 12). Redegattungen treten auf in Form verschiedener Typen von Äußerungen, die sich nicht eindeutig abtrennen und klassifizieren lassen. Die wesentliche Differenz, die Bachtin vornimmt, verläuft zwischen einfachen Redegattungen, die – mit Günthner gesprochen – auf die „binnenstrukturelle Ebene“ (15) eines Textes abzielen, und komplexen Redegattungen, wie sie beispielsweise ein Roman oder ein wissenschaftliches Traktat darstellen (Bachtin 1986, 61). Wie bereits angedeutet, kümmert sich Fairclough wenig um die Problematiken und Differenzierungen, die mit dem Konzept der Intertextualität verbunden sind. Folgt man Lachmanns (1990, 56–7) Dreiteilung der Intertextualitätsforschung in texttheoretische, kulturkritische und textdeskriptive Ansätze, müsste Faircloughs Umgang mit Intertextualität als integrativer Ansatz beschrieben werden, der alle drei Richtungen zu vereinen versucht. Erstens soll mit Hilfe dieses Konzepts ein theoretischer Ansatzpunkt gefunden werden, mit dem die Kopplung von Texten und diskursiven Praktiken aufgezeigt werden kann. Zweitens soll mit Blick auf Bachtins Überlegungen zur Dialogizität eine qualitative Richtschnur für die Bewertung von Diskursen zur Verfügung gestellt werden. Und drittens soll es den Weg zu einer Heuristik aufzeigen, um die verschiedenen Möglichkeiten textueller Verweisformen überhaupt identifizieren zu können. Den Schwerpunkt legt Fairclough hierbei eindeutig auf die heuristische Funktion des Intertextualitätskonzepts, die im Folgenden mit Blick auf massenmediale Diskurse ausgeführt wird.
Muster massenmedialer Kommunikation In Faircloughs (1995, 79–102) Typologie intertextueller Formen, die für die Diskursanalyse als relevant erachtet werden, wird der starke Einfluss Bachtins deutlich: Die beiden Hauptformen beziehen sich (1) auf den Aspekt der Viel- oder Mehrstimmigkeit von Texten (Diskursrepräsentation), Fairclough bezeichnet ihn als „representation of discourse“ oder auch verkürzt einfach nur als „discourse“, und (2) auf den Aspekt der Strukturierung des Sprechens und Schreibens durch vorgeprägte Handlungsmuster, den Fairclough nach Bachtin „genres“ nennt und die im Folgenden als Kommunikationsgattungen
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bezeichnet werden. Dazu gesellen sich (3) weitere Einzelaspekte, die Fairclough (2003) zuletzt unter der Kategorie „style“ zusammengefasst hat (Stilistische Aspekte). (1) Diskursrepräsentation knüpft an eine der klassischen Grundformen von Intertextualität an: die explizite Einbindung eines Textes oder einer Textpassage in einen anderen Text. Eine solche ‚manifeste‘ Verweisform, deren bekannteste wohl die Praxis des wissenschaftlichen Zitierens ist, stellt für Fairclough einen elementaren Bestandteil medialer Berichterstattung dar. Denn Medienberichte zitieren bzw. beziehen sich nicht nur häufig auf andere Texte, vielmehr konstruieren sie ihren Gegenstand, ihre jeweilige „Version von Realität“, wie Fairclough (1995, 103) medienkritisch anmerkt, im Wesentlichen erst durch die gezielte Übernahme selektiver Informationen. Die Auswertung massenmedialer Texte soll diesem Umstand gezielt Rechnung tragen: The analysis of representational processes in a text, therefore, comes down to an account of what choices are made – what is included what is excluded, what is made explicit or left implicit, what is foregrounded and what is backgrounded, what is thematized and what is unthematized, what process types and categories are drawn upon to represent events. (Fairclough 1995, 104)
Das Augenmerk der Analyse liegt hier also auf dem Wie der Repräsentation. Unter dem Aspekt der Intertextualität fasst Fairclough aber nur solche Formen von Repräsentation, die sich als konkrete ‚Stimmen‘ bzw. Meinungen sozialer Akteure identifizieren lassen. So können beispielsweise einzelne Personen mit ihrer Meinung in direkter oder indirekter Rede in einen Bericht einfließen und dabei ausführlich, knapp, verdreht oder gar nicht zitiert werden. Die zentrale Aufgabe der Diskursanalyse liege darin, zu klären, wie die Kenntlichmachung der textuellen Verknüpfung umgesetzt wird – oder in Faircloughs (1995, 81) Worten: „the degree to which boundaries are maintained between the representing discourse and the represented discourse – between the voices of the reporter and the person reported“. Neben der Frage, wie (fremde) Meinungen in einem Text ausgewiesen werden, sei daneben auch die Art und Weise der Einbindung einer solchen in die Struktur eines Textes zu beachten – wie sind beispielsweise in einem Artikel im PolitikRessort die Aussagen von Mitgliedern verschiedener politischer Parteien verteilt: Wessen Position erscheint zuerst, wessen zuletzt? Dass Fairclough, Bachtin folgend, manifeste Intertextualität in den Massenmedien als Repräsentationen von Äußerungen verschiedener Akteure betrachtet und nicht als Verknüpfungen von Text zu Text, ist Ergebnis der Absicht, zwischen linguistischen und sozialkonstruktivistischen Diskursansätzen zu vermitteln. Während Foucaults Diskursanalyse damit befasst ist, komplexe Kommunikationsordnungen zu beschreiben, durch die Gesellschaften ihre Wissensbereiche organisieren, ist die linguistische Diskursforschung mit der Erfassung von Gesprächstypen befasst, die eine „spezifische Kombination verschiedener Sprechhandlungssequenzen“ konkreter Akteure auszeichnet (Becker-Mrotzeck/Meier 2002, 19). Fairclough (1995, 94) geht es darum, mit seinem Diskurskonzept diese beiden Ansätze zusammenzubringen: „It is use-
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ful to identify discourses with both domain and perspective“. In diesem Zitat kommt die Absicht einer akteursbezogenen Diskursanalyse zum Ausdruck, in der mediale Artefakte kommunikative Ereignisse sind, mit Hilfe derer die Meinungen verschiedener gesellschaftlicher Akteure über die Medien zur Geltung gebracht werden. Diese Meinungen wiederum sollen für kollektive Diskurse stehen, die sich durch einen spezifischen Sprachgebrauch auszeichnen, mit dem die gesellschaftspolitische Absicht der Ausdeutung und Durchsetzung von Wirklichkeitsbildern und Normen verbunden ist. (2) Kommunikationsgattungen bilden den zweiten wichtigen Diskurstyp neben der gesellschaftspolitischen Perspektivierung von Themen durch Akteure in den Medien. Sie betreffen die Art und Weise, wie sprachliche Zeichen innerhalb eines jeweiligen Kontextes überhaupt organisiert und eingesetzt werden können. Fairclough (1995, 56) charakterisiert sie als „a use of language associated with and constituting part of some particular social practice“. Kommunikationstheoretisch drückt sich darin die Bachtinsche Vorstellung aus, dass die Herausbildung diskursiver Muster untrennbar an einen Sprachgebrauch gebunden ist, der einem spezifischen Kontext unterliegt. Auch die Strukturierung von Kommunikationsgattungen folgt Bachtins sprachtheoretischer Überlegung, Redegattungen grob auf einer einfachen und einer komplexen Ebene anzusiedeln. Zu den komplexen medialen Kommunikationsmustern zählt Fairclough, was er nicht explizit ausführt, sich aber nach Fairclough 1994 (126) folgern lässt, journalistische und mediale Genres wie eine TV-Dokumentation, eine Glosse oder auch eine Talkshow. Für die CDA ist die binnenstrukturelle Ebene medialer Texte jedoch von weitaus größerer Bedeutung, Fairclough (1995, 85–94) berücksichtigt sie unter vier Gesichtspunkten. Der erste Gesichtspunkt beschreibt schematische Zwänge, denen ein Artikel oder Bericht unterliegt. Bei der Analyse gelte es zu berücksichtigen, wie ein Text durch vorgegebene medienspezifische Schemata mehr oder weniger vorstrukturiert werde. Damit sind insbesondere solche Zwänge gemeint, die sich aus dem Produktionsprozess des jeweiligen Mediums ergeben, wie beispielsweise die Praxis der Zeitungs- oder Zeitschriftenproduktion, Artikel in ein vorskizziertes Layout (‚Scribble‘) zu schreiben oder auch zeitungs- oder heftspezifische Eigenheiten einer standardisierten Artikel- und Layoutgestaltung. Denn mit solchen formalen Voreinstellungen seien häufig sprachliche Regeln verbunden, die wie ungeschriebene Gesetze die Ausdrucksmöglichkeiten vordefinieren und somit auf das einzelne diskursive Ereignis einwirken. Die nächsten beiden Punkte betreffen die Verwendung und Kombination von Schreib- bzw. Erzählweisen. Dahinter steht die Beobachtung, mediale Texte weisen unter einem linguistischen Gattungsgesichtspunkt oftmals eine hybride Struktur auf, da sie sich aus Elementen zusammensetzen, die auf unterschiedlichen mikrostrukturellen Redegattungen beruhen. So kann ein Zeitungsartikel im Wechsel zwischen einem erzählenden, erläuternden, instruierenden und ermahnenden Tenor hin und her pendeln, was dazu führt, dass es linguistisch oftmals sehr schwer sein kann, einem Artikel eine eindeutige soziale Funktion zuzuordnen (vgl. Leeuwen 1987). Für Fairclough kann eine solche gattungsbezogene Heterogenität medialer Texte eine sequenzielle oder eingebettete Form haben. Davon zu unterscheiden seien allerdings me-
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diale Textformen, die eine Art Stilclash bilden, dessen einzelne Facetten ungeordnet neben- und ineinander liegen und aus verschiedenen Kommunikationsgenres, -stilen und -modi hervorgegangen sind. Die intertextuellen Verknüpfungen gattungsspezifischer Elemente gestalten sich in diesem Fall „polyphon“ (Fairclough 1995, 88). In Ergänzung dazu zeichne den Mediendiskurs viertens eine zunehmende Durchdringung mit narrativen Formen aus, worin für Fairclough letzten Endes ein Tribut an ein gesteigertes Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zum Tragen kommt. (3) Stilistische Aspekte. Neben die Repräsentation von Sprechern und den Gebrauch von Kommunikationsgattungen tritt in ANALYSING DISCOURSE (2003, 157–190), Faircloughs anwendungsorientierter Ausarbeitung der Critical Discours Analysis, das Merkmal „style“: Styles are the discoursal aspects of ways of being, identities. Who you are is partly a matter of how you speak, how you write, as well as a matter of embodiment – how you look, how you hold yourself, how you move and so forth. Styles are linked to identification – using the nominalization rather than the noun ›identities‹ emphasizes the process of identifying, how people identify themselves and are identified by others. (Fairclough 2003, 159)
Mit stilistischen Aspekten sind folglich linguistische Strategien gemeint, die Akteure verwenden, um in der öffentlichen Auseinandersetzung ein bestimmtes Image zu erlangen. Die (auch linguistische) Selbststilisierung ist demnach eine unverzichtbare Handlung, die jeder Akteur vornehmen müsse, um eine Identität anzunehmen, also als Individuum erkennbar zu sein bzw. die Akteure automatisch annehmen, da sie eine Individualität haben. Stilistische Aspekte bilden für Fairclough Mittel, mit Hilfe derer Akteure dazu in der Lage sind, sich selbst innerhalb der vernetzten Diskurse eine Unterscheidbarkeit zukommen zu lassen. Faircloughs Hinweis, dass es sich dabei um einen Prozess handle, verweist auf die Notwendigkeit des permanenten Gebrauchs stilistischer Mittel innerhalb medialer oder auch sozialer Prozesse, da eine Identität in jeder neuen Situation reaktualisiert oder auch verändert werden muss, weil jede Kommunikationshandlung an einen bestimmten Stil gebunden ist. Linguistisch betrachtet, lassen sich spezifische Stile auf verschiedene Arten realisieren. Fairclough konzentriert sich in seiner Darstellung hauptsächlich auf solche, die mit der grammatischen Modalität (als Gradmesser des vertretenen Geltungsanspruchs) und der expliziten Werthaltigkeit von Aussagen zu tun haben. Diese können durchaus mit bestimmten Kommunikationsmustern oder Diskursperspektiven verbunden sein. Der Punkt, auf den Fairclough jedoch hinaus möchte, liegt in der Besonderheit, die ihnen anhaftet. Während Diskursperspektiven und Kommunikationsgattungen zu einer Homogenisierung des Sprachgebrauchs innerhalb bestimmter Diskurse führen, kann der Gebrauch stilistischer Mittel diese Anordnungen durchbrechen. Stilistische Besonderheiten dienen weniger der Kommunikation eines bestimmten Sachverhaltes als vielmehr der Kommunikation des Stellenwerts bzw. der Rolle eines Sprechers selbst. So kennzeichne beispielsweise das Aufeinandertreffen von Experten und Laien bestimmte sprachliche Habitualisierungen,
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die unabhängig sind von dem thematischen Kontext oder den jeweiligen Ansichten (188f.). Stil ist damit kein bzw. ein negatives Element von Intertextualität. Stilistische Aspekte stehen bei Fairclough für die Eigenwilligkeit von Diskursteilnehmern, deren Verhaltensweisen nicht nur Ergebnisse der subjektivierenden Diskurspraktiken sind, sondern zum Beispiel auch etwas mit ihrer sozialen Herkunft zu tun haben. Zugleich geht es Fairclough darum, mit der Betonung der damit zusammenhängenden Differenz zwischen social identity und personality darauf hinzuweisen, dass Akteure trotz ihrer jeweiligen Sozialisierung in der Lage seien: „[to] do things, create things, change things“ (160).
Vom Diskurs zur Gesellschaft: Macht Das sozialwissenschaftliche Verständnis von Macht wird im Allgemeinen (vgl. z.B. Joas 2001) auf Max Webers (1972, 28) Definition zurückgeführt, die besagt, Macht sei „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Da Macht nach dieser Definition schwer zu greifen und zu konkretisieren ist, hat Weber an gleicher Stelle als soziologische Unterform den Begriff ‚Herrschaft‘ vorgeschlagen, womit er die Chance bezeichnet, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Damit Herrschaft ausgeübt werden kann, braucht es demzufolge jemanden, der einen Befehl erteilt, und jemanden, der dem Befehl diszipliniert folgt. Soziologisch lässt sich Herrschaft folglich daran erkennen, dass es innerhalb einer sozialen Ordnung bestimmten Akteuren möglich ist, für Befehle unter bestimmten Bedingungen Gehorsam zu finden. Um Macht als Herrschaft identifizieren zu können, ist es deshalb nicht ausreichend, nur Befehle zu eruieren; es muss parallel dazu sichergestellt werden, dass den erteilten Befehlen auch mit einer gewissen „Fügsamkeit“ (29) Folge geleistet wird. Um die soziale Macht von Diskursen zu bestimmen, ist die Kategorie ‚Herrschaft‘ deshalb nicht geeignet. Diskurse lassen sich nicht als einfache Folge von Befehl und Gehorsam begreifen. Selbst bei Zugrundelegung eines einfachen Sender/Empfänger-Schemas ließe sich nicht jede Aussage eines Sprechers als ein direktiver Sprechakt verstehen, mit dem die Aufforderung verbunden ist, eine bestimmte Handlung auszuführen. Schließlich praktizieren Diskursteilnehmer das gesamte Arsenal ihnen zur Verfügung stehender Sprechakte: sie berichten, definieren, stellen infrage etc. Diskurse sind – wie Fairclough (2002, 7) sagt – „emergente Instanzen“, die eine Reihe von Funktionen erfüllen müssen. Besonders ersichtlich wird das an dem im letzten Abschnitt ausgeführten Umstand der intertextuellen Verknüpfungen, mit denen sich Diskurse realisieren. Insbesondere publizistische Texte beziehen sich nicht nur auf vergangene Texte, sondern richten sich in der Regel auch an andere, zukünftige Texte, sind also an keine bestimmte Person, sondern an eine abstrakte Instanz adressiert: die Öffentlichkeit. Während sozialen Ordnungen im Wesentlichen die Funktion zufällt, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu regulieren, sind Diskurse keine schlichten Abbildungen oder
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Verlängerungen von Herrschaftsverhältnissen. Dennoch besteht der critical approach der CDA darin, Diskurse im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu präsentieren, da sie „articulations of social fields, social groups, social activities etc.“ darstellen. Um diesen Anspruch umzusetzen, greift Fairclough (1994, 86–99) bei der Beschreibung diskursiver Machtverhältnisse auf zwei Konzepte von Macht zurück, die Webers akteurszentrierten Machtbegriff kulturtheoretisch erweitern: Louis Althussers Ideologie- und Antonio Gramscis Hegemoniebegriff.
Ideologie Der französische Philosoph und Reformkommunist Louis Althusser beschäftigt sich mit dem Problem der Ideologie im Kontext einer Auseinandersetzung mit der marxistischen Staatstheorie. Nach Meinung Althussers (1977, 118) begrenzte der klassische Marxismus die Frage nach der Ausübung (und Umwälzung) von Macht in der Gesellschaft zu stark auf den Bereich der „repressiven Staatsapparate“, worunter solche Institutionen fallen, die Macht in erster Linie als Herrschaft im Weberschen Sinne ausüben: Regierung, Verwaltung, Polizei, Gerichte etc. Die Funktion und Reproduktion einer Ordnung, wie sie eine entwickelte bürgerliche Gesellschaft darstellt, kann aber – so Althussers Kernthese – nicht nur auf Institutionen basieren, die lediglich auf Basis eines repressiven Zwangs aufgebaut sind. Denn jede Ordnung benötige ein gewisses Maß an allgemeiner Zustimmung. Diese Zustimmung werde mit Hilfe gesellschaftlicher Institutionen erlangt, die in erster Linie nicht auf Repression setzen, sondern auf „Ideologie“, weshalb er sie als „ideologische Staatsapparate“ (119) bezeichnet. Zu ihnen zählen Einrichtungen wie Kirche, Schule, Familie, politische Parteien, Massenmedien, Künste, Sport etc. Sie zeichne die Verbreitung einer bestimmten, ‚herrschenden‘ Ideologie aus, die erst über diese Kanäle eine Gesellschaft durchdringen kann. Eine soziale und politische Ordnung baut somit auf einen doppelten Machtmechanismus, dem eine Art Arbeitsteilung unterliegt: Auch und vor allem schafft der Staatsapparat durch die Repression die politischen Bedingungen für die ideologischen Staatsapparate. Denn sie sind es nämlich, die zu einem großen Teil die Reproduktionsverhältnisse selbst unter dem ›Schild‹ des repressiven Staatsapparates gewährleisten. An dieser Stelle ist die Rolle der herrschenden Ideologie entscheidend, die die der herrschenden Klasse ist, welche die Staatsmacht innehat. (Althusser 1977, 124)
Eine Ideologie verlängert in Althussers Verständnis die institutionellen politischen Machtverhältnisse in die Gesellschaft oder – genauer gesagt – in die kulturellen Praktiken der Gesellschaft hinein. Unter „Ideologie“ versteht Althusser „das System von Ideen und Vorstellungen, das das Bewusstsein eines Menschen oder einer gesellschaftlichen Gruppe beherrscht“ (130). Der ‚Ort‘, an dem eine Ideologie zum Tragen kommt, ist demnach das Bewusstsein des Menschen. Dort nistet sie sich gewissermaßen ein und bildet so ein Bindeglied zwischen Individuum und Welt, indem sie wie ein Filter Interpretationsraster zur Verfügung stellt, die das Begreifen der Welt und des Lebens ermöglichen. In der Ideologie drücke sich somit „das imaginäre Verhältnis
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der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ (133) aus. Die Ideologie selbst sei aber keine imaginäre Größe innerhalb einer Gesellschaft, sondern fest an staatliche und gesellschaftliche Institutionen, die „ideologischen Staatsapparate“ gebunden. Die ganze Tragweite von Althussers Ideologiekonzept wird ersichtlich, wenn er die Konsequenzen aus seiner Bestimmung des Ideologiebegriffs für die Existenz der Individuen zieht. Die ideellen Gehalte einer Ideologie werden durch die „ideologischen Staatsapparate“ an die Individuen weitergegeben. Sie sind nicht bloß ‚flüchtige Ideen‘, zu denen sich die Individuen so oder so verhalten können, sondern dezidierte Handlungen und Praktiken, die untrennbar mit einer Ideologie verschmolzen und in die institutionalisierten Rituale einer Gesellschaft eingeschrieben sind. Über diesen Weg manifestieren sich die ideellen Gehalte der Ideologien im Bewusstsein der Menschen. Das habe zur Folge, dass die Ideen (und damit auch die Ideologien als solche) letzten Endes in den ritualisierten Praktiken des Alltagslebens zum Verschwinden gebracht werden. So entsteht bei Althusser über den Begriff der Ideologie das System einer geradezu perfekten, weil unterschwelligen Vermachtung der Gesellschaft: Es wird also deutlich, dass das Subjekt nur handelt, indem es durch folgendes System bewegt wird: eine Ideologie, die innerhalb eines ideologischen Apparates existiert, materielle Praxen vorschreibt, die durch ein materielles Ritual geregelt werden, wobei diese Praxen wiederum in den materiellen Handlungen eines Subjekts existieren, das mit vollem Bewusstsein seinem Glauben entsprechend handelt. (Althusser 1977, 139)
Die Vergesellschaftung von Individuen verläuft in Althussers Modell wesentlich über und durch die Effekte der Ideologie. Er wendet sich damit gegen den Materialismus des klassischen Marxismus, der besagt, die Subjektwerdung der Gesellschaftsmitglieder sei in erster Linie eine Folge der ökonomischen Verhältnisse (‚Klassenbewusstsein‘). Für Althusser sind es aber nicht primär die Produktionsverhältnisse, die die Menschen prägen. Erst durch die Einbindung Einzelner in das Netzwerk der ideologischen Staatsapparate können gesellschaftliche Subjekte produziert werden, denen bestimmte Denk-, Sprech- und Handlungsweisen ‚eingeimpft‘ wurden. Im Gegensatz zu einem herkömmlichen ‚humanistischen‘ Ideologiebegriff, mit dem „Bewusstseinsphänomene“ bezeichnet werden, versteht Althusser unter „Ideologie […] die Produktion von [gesellschaftlichen] Subjekten“ (Charim 2002, 92). Als solche ist sie eine aktive gesellschaftliche Praxis, durch die Individuen in gesellschaftliche Subjekte transformiert werden. Althusser beschreibt diese Transformation mit Bezug auf Lacan als „Interpellation“ (Anrufung). Laut Althusser (1977, 142) könne man sich den Vorgang der Anrufung „nach dem Muster der einfachen und täglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: »He, Sie da!«“. Gemeint ist damit, dass die Subjektwerdung durch die Ideologie zwar ein individueller Vorgang sei, aber nichtsdestotrotz einen Akt der Unterwerfung darstelle, der gerade durch seinen subjektivierenden Charakter für den Einzelnen (in der Regel) unsichtbar bleibe.
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Althussers Überlegungen zur Ideologie sind von dem Versuch der Modernisierung des marxistischen Denkens motiviert, dessen starres Modell von Basis und Überbau für dynamische kulturelle und psychoanalytische Aspekte gesellschaftlicher Prozesse geöffnet werden soll. Die Anwendung von Althussers Ideologiebegriff auf einen diskursanalytischen Ansatz hat der französische Soziolinguist Michel Pêcheux bereits ab den späten 1960er Jahren mit dem Modell der ANALYSE AUTOMATIQUE DU DISCOURS (1995) vorgeführt. Stark vereinfachend kann man sagen, dass Pêcheux in Althussers Konzept die Kategorie ‚Ideologie‘ durch ‚Diskurs‘ ersetzt hat. Diskurse sind dann gesellschaftliche Praktiken, die „auf dem Boden eines bereits geformten Alltagsbewusstseins arbeiten, den Pêcheux und [dessen Co-Autor] Henry das ›Präkonstruierte‹ nennen, und [die] so bereits geformte Subjekte durch Anrufung in neue diskursive Beziehungen einordnen“ (Hall 1989, 194). Der Gedanke der Anrufung (und Sozialisierung) der Subjekte durch die Ideologie (bzw. Diskurse) zeichnet auch Faircloughs Adaption von Althussers Ideologiemodell aus. Fairclough (1994, 87) greift drei Eigenschaften von Althussers Ideologiebegriff auf, denen er für die Gewichtung des Machtaspekts von Diskursen eine besondere Bedeutung zuschreibt: die materielle Existenz der Ideologie, die Althusser in den institutionellen Praktiken verortet, den kommunikativen Aspekt des Ideologiebegriffs, der die Effekte von Sprache (als kommunikative Praktik) auf Subjekte beschreibt, und die Anbindung der Machtfrage an gesellschaftliche Institutionen (‚Ideologische Staatsapparate‘), in der zum Ausdruck kommen soll, dass im Diskurs eine institutionell gestützte Auseinandersetzung um politische Positionen stattfindet. Im Unterschied zu Althusser (und Pêcheux) betrachtet Fairclough die Wirkungsmacht von Ideologien bzw. Diskursen jedoch als kein ‚totalitäres‘ System, das – wie Althusser oben sagt – „das Bewusstsein eines Menschen oder einer gesellschaftlichen Gruppe beherrscht“. Fairclough kritisiert an dieser Position eine zu statische Sichtweise auf die alltägliche politische Realität moderner Gesellschaften, die er stärker von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, Widersprüchen und Veränderungen geprägt sieht. Deshalb schlägt er vor, anstatt von der herrschenden Ideologie besser von Dominanzverhältnissen („relations of domination“) zu sprechen. Das hat auch eine Veränderung des interpellativen Charakters von Ideologien/Diskursen zur Folge. Gegen die Vorstellung, die Menschen lebten mit dem Bewusstsein einer imaginären Autonomie und würden unbewusst von den Effekten der „ideologischen Staatsapparate“ gesteuert, wendet Fairclough ein, dass die Effekte und Reichweiten von Ideologien schon deshalb nicht so absolut sein können, weil die Menschen heutzutage im Zusammenhang verschiedener, teils durchaus widersprüchlicher Diskurse subjektiviert werden. Aus dieser Einschätzung zieht er den Schluss: Subjects are ideologically positioned, but are also capable of acting creatively to make their own connections between the diverse practices and ideologies to which they are exposed, and to restructure positioning practices and structures. The balance between the subject as ideological ›effect‹, and the subject as active agent, is a variable which depends upon social conditions such as the relative stability of relations of domination. (Fairclough 1994, 91)
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Während für Althusser kein Bereich jenseits der Ideologie existiert, ist für Fairclough nicht jede gesellschaftliche Praktik und damit auch nicht jeder Diskurs automatisch ideologisch besetzt; Menschen haben die Möglichkeit, in der aktiven Auseinandersetzung mit den Ideologien diese als solche zu erkennen und so Machtbeziehungen zu überwinden. Analog dazu ist die Ideologisierung dann am effektivsten, wenn sie gewissermaßen ‚naturalisiert‘ in Erscheinung tritt, also für die Subjekte nicht mehr als solche kenntlich ist. Das treffe unter linguistischen Gesichtspunkten am ehesten dann zu, wenn sie den Status von ‚Gemeinplätzen‘ einnehme.
Hegemonie Die Bestimmung des Machtaspekts von Diskursen sieht Fairclough in den Diskursanalysen von Foucault und Pêcheux nicht hinreichend gelöst. Die (insbesondere frühe Ausformulierung der) ANALYSE AUTOMATIQUE DU DISCOURS von Pêcheux überbetone mit Bezug auf Althussers Ideologiebegriff die Wirkung von Diskursen auf Subjekte: „there is a one-sided view of the subject as positioned, as an effect“ (Fairclough 1994, 34), während dem teils subversiven Umgang der Sprecher in einem Diskurs zu wenig Raum gelassen werde. An Foucaults post-strukturalistischer Machtanalytik vermisst Fairclough hingegen eine adäquate Berücksichtigung gesellschaftlicher Aspekte, die dazu führen, dass Diskurse nicht nur vom Machtwillen einzelner Diskursteilnehmer bestimmt werden, sondern auch – und für Fairclough zuallererst – eine Folge der Formierung umkämpfter kollektiver Interessen sind. Um diesen beiden Umständen gerecht zu werden, bezieht sich Fairclough auf das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis. Wenn Hegemonie hier, der Argumentation Faircloughs folgend, als Lösung des Machtproblems referiert wird, so ist damit die Reihenfolge der historischen Chronologie der Begriffsbildung auf den Kopf gestellt, da Hegemonie das ältere Konzept ist, das sich über Gramsci hinaus bis in die griechische Philosophie zurückverfolgen lässt. Der italienische Kommunistenführer Antonio Gramsci befasst sich wie Althusser mit der Machtproblematik im Kontext des marxistischen Denkens. Dabei ist zu beachten, dass die wesentlichen Überlegungen Gramscis zur Hegemonie aufgrund ihrer Entstehungsbedingungen kein konsistentes Theoriemodell darstellen, da sie zum großen Teil auf Notizen in Gramscis posthum edierten Gefängnisheften zurückgehen, die während seiner langen Isolationshaft zur Zeit des italienischen Faschismus entstanden sind. Schon Althussers (1977, 120) Überlegungen zur Ideologie, insbesondere die Unterscheidung zwischen repressiven und kulturellen Formen der Reproduktion von Macht, sind von Gramscis Schriften beeinflusst. Während jedoch Althusser zwischen „ideologischem“ und „repressivem Staatsapparat“ unterscheidet, definiert Gramsci (1992f., 783) den Staat als „politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Hinter dieser terminologischen Differenz verbergen sich zwei fundamental unterschiedliche Sichtweisen, wie Macht innerhalb der Gesellschaft reproduziert wird: Gramscis polare Unterscheidung besteht letztlich in einer direkten Zuordnung des einfachen Gegensatzes. Entweder Zwang – oder Konsensus bedeutet: Die politische
68 | DISKURS UND DISKURSANALYSE Gesellschaft unterdrückt, während die zivile den Konsensus organisiert. Bei Althusser hingegen gibt es keine komplementäre Polarisierung – also auch keine einfachen Zuordnungen. So betont er, beide Arten von Staatsapparaten würden sowohl auf Grundlage der Repression als auch auf Grundlage der Ideologie funktionieren. (Charim 2002, 58)
Charim folgert im Weiteren daraus, hinter Gramscis Modell verberge sich ein stärker organisches und hinter Althussers ein stärker apparatives Staatsverständnis. Fairclough greift diese Unterscheidung mit Bezug auf einen Aufsatz von Stuart Hall (1989) im Grunde genommen auf. Auf die Diskursanalyse bezogen, tritt für ihn Gramscis Modell positiv hervor, weil darin die Diskurse einer Gesellschaft nicht automatisch als ein ideologisches Abbild der politischen Herrschaftsverhältnisse angesehen werden müssen. Das Feld des Diskursiven bildet für Fairclough einen Machtbereich, der parallel zur Konstitution von Herrschaft innerhalb des apparativen Bereichs des Staates funktioniert. In Gramscis Denken ist die Erzeugung kultureller Deutungsmacht eine permanente Auseinandersetzung, die auf vielen gesellschaftlichen Feldern stattfindet und nicht mit der Ausformung sozialer Macht identisch sein muss. Die gesellschaftlichen Machtbeziehungen werden so zu einem umkämpften Terrain, das sich unabhängig von der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft verändern kann. Dieser prozessuale Aspekt ist auch im Hegemoniebegriff selbst angelegt. „Hegemonie“ meint bei Gramsci sowohl „die Fähigkeit zu führen“ (Gruppi 1977, 27) als auch eine dominierende Position innerhalb verschiedener Bereiche der Gesellschaft einzunehmen. Wesentliches Kennzeichen dieser Dominanz ist einerseits ihre begrenzte zeitliche und gesellschaftliche Reichweite – Hegemonie kann sich niemals zu einem System verfestigen, sie ist immer umkämpft und somit instabil. Andererseits beruht Hegemonie auf keinem physischen Zwangsmechanismus, sondern stellt das Ergebnis einer kommunikativen Praxis dar, die die Folge eines permanenten Kampfes um Meinungsführerschaft ist – in Hegemonie drückt sich letztlich eine freiwillige Zustimmung, ein Konsens aus. Fairclough verbindet nun diesen prozesshaften Machtbegriff mit Althussers Vorstellung von Ideologie als einer kulturellen, politischen etc. Praxis, die auf die Denk- und Handlungsweisen der Subjekte einwirkt. Ideologische Komplexe sind für Fairclough (1994, 93) also keine fixen Gebilde, sondern „strukturieren und restrukturieren, artikulieren und reartikulieren“ sich immer wieder neu. Die Auseinandersetzungen um Hegemonie vollziehen sich in der Regel eher in Teilbereichen der Gesellschaft wie Familie, Schule, Medien etc. und seien deshalb nur selten trennscharf mit klar erkennbaren politischen Akteuren zu identifizieren. Faircloughs Verständnis von Hegemonie soll deshalb sowohl ein Modell zur Verfügung stellen, das die Strategien der Erlangung von Hegemonie verdeutlicht (Allianzen schmieden, Gruppen einbinden, Vertrauen gewinnen), als auch eine Matrix, mit der sich die Verteilung eines hegemonialen Diskurses über die Gesellschaft beschreiben lässt.
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Vertikales Diskursmodell Den Abschluss der Auseinandersetzung mit Faircloughs Diskursansatz bildet die Auflösung der Frage, worin dessen Wert bei der Ausarbeitung eines an Foucault orientierten Modells zur Analyse massenmedialer Diskurse besteht. Um dahin zu gelangen, sind zwei Schritte notwendig: Zunächst wird beschrieben, wie sich Faircloughs dreigliedriges Diskursmodell zu Foucaults Diskursarchäologie verhält. Leitend ist dabei die Vorstellung, bei Diskursen handelt es sich um Ordnungssysteme, die sich im Verlauf und in der Ausprägung von Kommunikation niederschlagen und – darüber vermittelt – auf das Denken, Handeln und Sein von Menschen einwirken. Dabei wird zu klären sein, welche Art diskursiver Ordnung Fairclough mit seinem Modell etabliert. Daran anschließend wird an einem kurzen Beispiel das von Fairclough empfohlene Vorgehen bei der Diskursanalyse erläutert, um die Stärken und Schwächen seines Analysemodells zu veranschaulichen.
Diskursordnung Die zentrale Idee jeder Diskursanalyse liegt darin, mit dem Diskurs eine emergente Ordnungsebene zu beschreiben, die sich auf Verlauf und Inhalt von Kommunikation auswirkt. Das lässt sich allein mit der isolierten Beschreibung von intertextuellen Mustern, die sich zwischen einem Set von Texten oder innerhalb eines einzelnen Textes ausmachen lassen, und der daran gebundenen Machtwirkungen jedoch nicht erreichen. Der Schritt von der Intertextualitäts- zur Diskursforschung liegt darin, die intertextuellen Muster und sozialen Machtkonstellationen in einen Zusammenhang zu stellen, um sie bewerten und einordnen zu können. Dazu ist eine theoretische Vorstellung davon notwendig, wie sie mit diskursiven Praktiken überhaupt in Verbindung stehen und sich in eine (Diskurs-)Ordnung einfügen. In Anbetracht der Bedeutung, die der Frage nach der ordnenden Kraft von Diskursen entspringt – sie bildet sowohl auf der empirischen als auch auf der theoretischen Ebene das Zentrum von Foucaults Diskursarchäologie –, verwundert der marginale Stellenwert, der ihr in Faircloughs Schriften eingeräumt wird. Sie erscheint als ein Unterproblem, das in verschiedenen Kapiteln eher nebenbei abgehandelt wird. Erst in ANALYSING DISCOURSE findet sich eine ausführlichere Definition: An order of discourse is a particular combination or configuration of genres, discourses and styles which constitutes the discoursal aspect of a network of social practices. As such, orders of discourse have a relative stability and durability – though they do of course change. The term derives from Michel Foucault, but is used in critical discourse analysis in a rather different way. We can see orders of discourse in general terms as the social structuring of linguistic variation or difference – there are always many different possibilities in language, but choice amongst them is socially structured. (Fairclough 2003, 220)
Fairclough ist daran gelegen, die Verwendung eines Diskursbegriffs zu vermeiden, der sich im Kontext der Foucault-Rezeption der 1970er und 80er
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Jahre in einer postmodern orientierten Kulturwissenschaft etabliert hat. Denn dieser führe zu einer Art ‚Diskursimperialismus‘ (Fairclough/Jessop/Sayer 2002, 4), also zu einer Überdeterminierung diskursiver Prozesse, die als selbstreferenzielle Fluktuation von Zeichen gedeutet werden. Fairclough setzt dem ein Diskursmodell entgegen, das im Diskurs mehr sehen soll als einen heuristischen Begriff zur Gliederung kommunikativer Ereignisse und das gleichzeitig von der Einsicht in die sozialen Faktoren geprägt sein soll, unter denen Diskurse ablaufen. Die Diskursordnung der CDA kann folglich sowohl in Anlehnung an als auch in Abgrenzung zu Foucaults Diskursordnung gesehen werden. Angelehnt an Foucault ist Faircloughs Diskursordnung nicht nur, weil er den gleichen Begriff verwendet (wie obiges Zitat aus ANALYSING DISCOURSE vielleicht nahelegen könnte). Fairclough übernimmt drei grundsätzliche Vorstellungen der Diskursarchäologie: (1) die zeitliche und räumliche Begrenzung von Diskursen, (2) die Konzeption eines Diskurses als Verbindung und Korrelation verschiedener Variablen und (3) die Vorstellung, Diskursordnungen als nicht-linguistische (also nicht-grammatikalische, nicht-semantische etc.) Entitäten zu begreifen, die die Möglichkeiten des realen Sprachgebrauchs beeinflussen. Allerdings füllt Fairclough diese drei Grundgedanken der Diskursarchäologie mit anderen Inhalten. (1) Die zeitliche und räumliche Begrenzung von Diskursen. Wenn Fairclough Diskursen eine relative Stabilität und Haltbarkeit attestiert, so bezieht er sich damit auf einen wesentlichen Punkt, der im Hintergrund von Foucaults Diskursarchäologie steht: die Geschichtlichkeit kultureller Praktiken. Wie Foucault kommt es Fairclough darauf an, in der Auseinandersetzung mit kommunikativen Ereignissen die Sensibilität für die historischen Kontingenzen zu schärfen, denen jeder Sprachgebrauch unterliegt. In dieser Position kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass sich mit einem veränderten Umgang mit Begriffen und Redeweisen auch die soziokulturellen Koordinatensysteme einer Gesellschaft wandeln. Foucault versucht dieser Erkenntnis insofern gerecht zu werden, als er Diskursanalyse als eine historiografische Methode ausarbeitet; die historische Formation eines Diskurses bildet darin den Ansatzpunkt, an dem sich Veränderungen im Diskurs und somit auch der soziokulturellen Umgangsweisen einer Gesellschaft ablesen lassen. Zugleich verbindet Foucault diese forschungstechnische Vorgehensweise mit einer selbst auferlegten Begrenzung der Diskursanalyse als rein historische Methode, deren Sinn darin liegt, in den Diskursen der Vergangenheit die Wurzeln der Diskurse der Gegenwart aufzudecken. Fairclough hingegen sucht mit seiner CDA die direkte Konfrontation mit den Diskursen der Gegenwart. Diese Vorgehensweise bietet zunächst den Vorteil einer klareren Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Verhältnissen, da so die Frage eliminiert wird, wie es sich mit der Kluft verhält, die sich zwischen den Wurzeln einer Diskursordnung und ihrer gegenwärtigen Ausprägung auftut. Außerdem – und darin liegt wohl Faircloughs hauptsächliche Motivation für dieses Vorgehen – soll auf diese Weise eine direktere, aktuellere und detailliertere Analyse und Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse möglich werden. Damit verschiebt sich die Perspektive, aus der Diskurse und Diskursordnungen eine forschungsrelevante Größe bekommen. Nicht mehr die großen übergreifenden Diskursordnungen beispielsweise der Wissenschaft oder der
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gesellschaftlichen Zivilisierung bilden den Gegenstand der Analyse, sondern kleinteilige, auf lokale gesellschaftliche Bereiche begrenzte Ordnungen rücken in den Mittelpunkt. Diesem Umstand zollt Fairclough auch auf der theoretischen Ebene bei der Modellierung seiner Diskursordnung Tribut, wenn er anstatt von der Diskursordnung von Diskursordnungen spricht, die ihre Besonderheiten in Abhängigkeit von dem jeweiligen gesellschaftlichen Bereich und der jeweiligen sozialen Situation herausbilden. Im Vergleich zu Foucaults Archäologie verschiebt sich dadurch der Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Diskurs. In erster Linie sind es nicht mehr bestimmte Zeiträume, in denen sich charakteristische Diskurse auffinden lassen, sondern Geflechte sich widerstrebender, miteinander konkurrierender Diskurse, die sich über die Gesellschaft ausbreiten. Fairclough folgert daraus, dass sich eine Analyse gegenwartsbezogener Diskurspraktiken auf stark eingegrenzte Kommunikationsbereiche beschränken muss, in denen sich nur Fragmente auffinden lassen, die verschiedene Diskurse repräsentieren. (2) Diskurse als Verbindung und Korrelation verschiedener Variablen. Foucault beschreibt die diskursive Formation des Diskurses der Humanwissenschaften als eine Verbindung von Gegenständen, Äußerungsmodalitäten, Begriffen und Strategien. Von einem Diskurs kann laut Foucault dann gesprochen werden, wenn sich Aussagen finden lassen, die sich zu diesen vier Bereichen ähnlich verhalten. Ein zentraler Gedanke der Diskursarchäologie liegt folglich darin, Diskurse als relationale Gebilde zu betrachten. Was einen Diskurs auszeichnet, ist der sprachlich konstruierte Zusammenhang von Dingen, die auf den ersten Blick nicht zwingend miteinander verbunden sein müssen. Fairclough übernimmt diesen Grundgedanken der Foucaultschen Diskursanalyse, stattet ihn jedoch anders aus. An die Stelle der diskursiven Formation tritt das Zusammenwirken von Kommunikationsgattungen (genres), Diskursperspektiven (discourses) und stilistischen Aspekten (style). Damit zusammenhängend weist Fairclough wiederholt darauf hin, dass der Begriff der diskursiven Formation zu statisch sei, um den Feinheiten und Differenzen der empirisch vorzufindenden Kommunikation gerecht zu werden. Das heißt, ein Diskurs – als gesellschaftliche Kommunikationspraxis, die das konkrete Sprechen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen steuert – verfügt demnach über keinen trennscharfen Code, mit dem sich ein eindeutiges Innen und Außen definieren ließe. Aus Faircloughs Ersetzung des Zusammenspiels von diskursiver Formation und Aussage durch intertextuelle Muster folgt ein verändertes Modell der Funktionsweise diskursiver Prozesse. Darin wird das ordnende Moment von Diskursen, also das Gemeinsame, das Diskurse als Kommunikationsordnungen verbindet, im Vergleich zu Foucault verkehrt. Das Statische eines Diskurses ist bei Foucault nicht die diskursive Formation, die als ein System von Ähnlichkeiten konzipiert ist, das sich von Diskurs zu Diskurs jeweils völlig unterschiedlich zusammensetzen kann (und nicht zwangsläufig aus Gegenständen, Äußerungsmodalitäten, Begriffen und Strategien bestehen muss); das Statische eines Diskurses sind bei Foucault bestimmte Aussagen, die mit einem konkreten Diskurs in Verbindung stehen und ihn als solchen überhaupt erst identifizierbar machen. Bei Fairclough hingegen ist diese Systematik gespiegelt: Immer gleich ist hier die diskursive Anordnung in genres,
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discourses und styles, während die einzelnen Partikel, an denen sich ein Diskurs identifizieren lässt, relativ frei aus einem Arsenal verschiedenster linguistischer und kommunikativer Variablen zusammengesetzt werden können. (3) Diskursordnungen als nicht-linguistische Entitäten. Das Ordnende von Diskursen liegt sowohl bei Foucault als auch bei Fairclough in der selektierenden Funktion, die ihnen im Rahmen des realen Sprachgebrauchs zukommt. Damit ist die Überzeugung verbunden, der Gebrauch sprachlicher Zeichen ließe sich nicht allein auf Regeln zurückführen, die sich direkt auf linguistische und logische Systeme beziehen. Aber: die Beantwortung der Frage, was den realen gesellschaftlichen Sprachgebrauch jenseits des Linguistischen antreibt, ist bei Fairclough anders gewichtet. Zunächst ist für ihn wie auch für Foucault eine Antwort auf diese Frage nur zu bekommen, wenn Diskursanalyse mit einem Konzept von Macht ausgestattet wird. Das Fehlen eines solchen bildete für Foucault selbst den Pferdefuß seiner Diskursarchäologie; der universale Machtbegriff der Genealogie sollte diesen Makel ausbügeln. Macht hat darin, wie im Foucault-Kapitel ausgeführt wurde, die Funktion einer steuernden Ressource, die auf verschiedenen Ebenen oder an verschiedenen Stellen des diskursiven Prozesses in Erscheinung tritt. Dieser Machtbegriff ist nicht sozial oder historisch orientiert, sondern bildet in seiner Allgemeinheit ein Analyseraster zum Verständnis diskursiver Prozesse. Die Ordnung eines Diskurses ist für Foucault sowohl die notwendige Folge der Übertragung von Macht auf die Ebene des Symbolischen als auch die Unmöglichkeit ihrer Verfestigung innerhalb des diskursiven Prozesses, da jede Diskursordnung zwangsläufig irgendwann von einer neuen ersetzt wird. Fairclough hingegen will in seiner Analyse in erster Linie solche Selektionskriterien des diskursiven Sprachgebrauchs herausarbeiten, die sozial determiniert, also auf hegemoniale gesellschaftliche Machtverhältnisse zurückzuführen sind bzw. ebensolche hervorrufen. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, nochmals auf die Entstehung des Hegemoniekonzepts zurückzukommen. Antonio Gramsci entwirft den Hegemoniebegriff in seinen Gefängnisheften vor dem Hintergrund des Scheiterns der kommunistischen Bewegung im Italien der 1920er Jahre (vgl. Gerratana 1997); es geht ihm darum, zu zeigen, dass eine erfolgreiche Strategie der politische Auseinandersetzung nicht nur auf die Durchsetzung politischer Herrschaft setzen darf. Voraussetzung für eine umfassende Etablierung einer politischen Idee ist die Erlangung von Hegemonie über das Denken einer Gesellschaft, in dem auch die soziokulturellen Werte verortet sind. Unter dem Aspekt der Hegemonie kann selbst für den Sozialisten Gramsci eine Gesellschaft nicht nur als eine Ansammlung antagonistischer politischer Klassen verstanden werden. Vielmehr entstehe durch die klassenübergreifende Übernahme von Ideen und Werten infolge des hegemonialen Prozesses ein „historischer Block“, in dem ein „Kollektivwille“ zum Ausdruck komme (Laclau/Mouffe 1991, 110f.). Diese Blockbildung steht bei Fairclough in unmittelbarem Zusammenhang mit der Diskursordnung: The relationships between different discourses are one element of the relationships between different people – they may complement one another, compete with one another, one can dominate others and so forth. Discourses constitute part of the re-
NORMAN FAIRCLOUGH | 73 sources which people deploy in relating to one another – keeping separate to one another, cooperating, competing, dominating – and in seeking to change the ways in which they relate to one another. (Fairclough 2003, 124)
Die Herausbildung und Ausprägung von Diskursen ist für Fairclough ein Teil der politischen Konstitution einer Gesellschaft; in der Ordnung der Diskurse drücken sich die politischen Kämpfe verschiedener Gruppen um die gesellschaftliche Vorherrschaft aus. Diskurse lassen sich in diesen Auseinandersetzungen als Messinstrumente verstehen, die etwas aussagen über die quantitative Gewichtung von symbolischer Macht und die so letzten Endes auch Auskunft geben sollen über die politischen Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft. Fasst man diese drei Grundaspekte von Faircloughs Diskursmodell zusammen, stellt man fest, dass damit eine im Gegensatz zu Foucaults Archäologie fundamental andere Diskursordnung etabliert wird. Die sehr nachvollziehbare Überlegung, eine gegenwartsbezogene Diskursanalyse könne nicht mit dem Anspruch auftreten, übergreifende Diskursordnungen offenzulegen, führt Fairclough dazu, sein Diskursmodell unter einem strukturellen Gesichtspunkt sehr weit zu reduzieren. Wie Diaz-Bone (2002a, 112) richtig erkennt, „entkernt“ Fairclough im Grunde genommen Foucaults Idee einer Diskursarchäologie, indem er darauf verzichtet, nach den komplexen Formationsbedingungen Ausschau zu halten, mit denen sich ein Diskurs herausbildet. Der CDA fehlt ein Konzept „für einheitliche diskursive Gebilde, die sich zeitweise oder dauerhaft bilden“. Faircloughs Begründung, so eine Überbetonung des Diskursiven zu vermeiden, geht auf eine sehr strukturalistische Auslegung Foucaults zurück, der dieser Problematik u.a. durch terminologische Anleihen an Wittgensteins analytische Sprachphilosophie gerecht zu werden versucht. Auf diese Weise beraubt sich Fairclough der Möglichkeit, diskursive Ordnungen als beschreibungsrelevante Größen in den Fokus der Analyse zu nehmen. Diskurse sind damit zwar weiterhin eine Bezugsgröße seiner Analyse, jedoch nicht ihr eigentlicher Gegenstand. Das führt zu einer reduzierten Form von Diskursanalyse. Sie beschränkt sich auf die vertikale Ebene von Diskursen, die auf den unmittelbaren Kontext diskursiver Ereignisse begrenzt bleiben. In einem neueren Aufsatz versucht Fairclough (et al. 2002) diesem Umstand Rechnung zu tragen, indem er seine Methode nicht mehr als ‚Diskursanalyse‘ bezeichnet, sondern nun von „Semiosis“ spricht.
Analysepraxis Fairclough verfährt bei der Ausarbeitung seines Diskursmodells nach dem üblichen Schema deduktiver Theoriebildung, in dem Theorie und Empirie in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen: Auf die Ausarbeitung des Theoriemodells folgt dessen Anwendung anhand verschiedener empirischer Beispiele. Dahinter steht der Anspruch, ein Modell zu präsentieren, das sich durch eine möglichst breite Verwendbarkeit auszeichnet. Dieses Bestreben führt zu einer Theoriepolitik, die genau gegenläufig ist zu der hermetischen Schreibstrategie Foucaults und die zwei Dinge kennzeichnet. Erstens versucht Fairclough ganz offensichtlich seine eigene Diskursanalyse durch die Einbeziehung zahlreicher aktueller (gesellschaftskritischer) Theorien und
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Bewegungen mit einem erheblichen Maß an Anschlussfähigkeit auszustatten. Zweitens soll sie sich als Analysemodell auf eine große Bandbreite möglicher Fälle anwenden lassen. Dieses Vorgehen führt dazu, dass sein Diskursmodell unter analysestrategischen Gesichtspunkten wesentlich nach dem Baukastenprinzip zusammengefügt ist. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, seine Vorschläge zur Durchführung der Analyse gleich an einem konkreten Beispiel zu betrachten. Den Gegenstand der Analyse bilden bei Fairclough einzelne Texte, die als ‚diskursive Ereignisse‘ unter den Aspekten der mit ihnen verbundenen ‚diskursiven‘ (Produktion und Rezeption) und ‚soziokulturellen‘ (gesellschaftlicher Bezug) Praxis erörtert werden. Das Beispiel, auf das im Folgenden Bezug genommen wird, stammt aus MEDIA DISCOURSE (1995, 68ff.). Analysiert wird dort ein Zeitungsartikel aus dem englischen Boulevardblatt SUN, der unter der Überschrift „Call up forces in drug battle!“ über einen Bericht des Innenausschusses des britischen Parlaments berichtet, in dem der Regierung Vorschläge zur Bekämpfung des Drogenhandels gemacht werden. Faircloughs Analyse des Artikels erfolgt vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen These über die Funktionsweise von Nachrichten. Sie lautet: „The newspaper is mediating source events in the public domain to a readership in a private (domestic) domain“ (73). Medien verklammern demnach die Lebenswelt ihrer Nutzer mit den offiziellen bzw. öffentlichen Ereignissen des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Fairclough (68ff.) bezeichnet diese beiden Bereiche als ‚Diskurse‘: einen „Quelldiskurs“ (source discourse) und einen „Zieldiskurs“ (target discourse). Das Ziel der intertextuellen Analyse besteht nun darin, herauszustellen, wie der Artikel zwischen diesen beiden Diskursbereichen angesiedelt ist. Zunächst wird Wissen über diese beiden Bereiche herangezogen. Die Informationsquellen (‚Quelldiskurse‘) sind der Bericht des parlamentarischen Ausschusses für Innenpolitik, der in dem Artikel genannt und angeführt wird, sowie ein Interview bzw. eine Pressekonferenz eines Politikers dazu, aus der an einer Stelle zitiert wird. Die Zielgruppe (discourse of consumption) ist die Leserschaft der SUN, die für Fairclough insoweit von Interesse ist, als sie eine informelle Umgangssprache des Alltags kennzeichne und sie sich zum Großteil aus der Arbeiterklasse rekrutiere. Wichtig ist Fairclough, dass diese beiden Diskursbereiche linguistisch mit jeweils eigenen, entgegengesetzten Sprachstilen verbunden sind: auf der einen Seite die formale Sprache des Berichts, auf der anderen die informelle Umgangssprache der Leserschaft. In der linguistischen Analyse geht es Fairclough darum, herauszuarbeiten, wie die Informationsquellen in den Artikel übernommen und dabei modelliert werden, indem beispielsweise bestimmte Begriffe oder Phrasen aus ihnen angeführt werden, wie Sachverhalte in Umgangssprache übersetzt werden und auf welche Informationen im Artikel besonders abgehoben wird. So wird ersichtlich, dass der Artikel den Bericht des Innenausschusses zuzuspitzen versucht, wenn aus dem Ratschlag, die Regierung möge im Kampf gegen den Drogenhandel den Einsatz einiger spezieller militärischer Ressourcen in Erwägung ziehen, im SUN-Artikel der (definitive) Ruf nach dem Eingreifen des Militärs wird. Zwei weitere Ergebnisse von Faircloughs Textanalyse sind die Vermengung der formalen Ausdrucksweisen des Berichts mit umgangs-
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sprachlichen Floskeln und die Verbindung von Drogenpolitik mit der Kriegsmetapher aus der Überschrift. Das eigentliche Ergebnis der linguistischen Analyse liegt für Fairclough in der Deutlichkeit, mit der in dem Artikel ‚Quell‘- und ‚Zieldiskurse‘ vermischt werden. Darin sieht er ein typisches Kennzeichen der Kommunikationsgattung, die dem Artikel zuzuordnen ist: die hard-news story. Sie sei typisch für die ‚diskursive‘ Verklammerung von Lebenswelt und Politik. Unter diskursanalytischen Gesichtspunkten sei es deshalb von Interesse, allgemein darauf zu schauen, wie sich der Artikel intertextuell einordnen lässt. Dazu zähle in dem Artikel, neben dem zuvor erörterten Kennzeichen des „publiccolloquial nature of the style“ (72), auch eine Mischung berichtender und kommentierender (persuasive genre) Elemente und die Art und Weise seiner Anbindung an die allgemeine mediale Berichterstattung zum Thema Drogenbekämpfung. Auf diesem Weg kommt Fairclough zu dem Ergebnis, der Effekt des Artikels bestehe darin, die offizielle, ‚hegemoniale‘ Drogenpolitik zu legitimieren. Strategisch versuche der Artikel, seine ideologischen Effekte zu erreichen, indem er die Grenzen zwischen official und colloquial discourses mehrfach verwischt bzw. auflöst. So werde einerseits bewirkt, dass die Vorschläge des Berichts zur Drogenbekämpfung positiv weiterverbreitet werden. Andererseits werde damit eine bestimmte Position im übergeordneten Drogen-Diskurs eingenommen: eine deutliche Parteinahme für eine repressiv ausgerichtete Drogenpolitik. Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen die Stärke der CDA. Sie liegt darin, zu veranschaulichen, wie einzelne Kommunikationspartikel bei ihrem Fluss durch den medialen Raum aufgenommen und verändert werden und wie sich die daran gebundenen Bedeutungsgehalte innerhalb dieses Prozesses verschieben bzw. wie sie bewusst manipuliert werden. In diskurstheoretischer Hinsicht ermöglicht die Einbeziehung des Intertextualitätsbegriff eine Kontextualisierung der kommunikativen Praktiken. Das gilt insbesondere für die diskursanalytische Rahmung der medialen Diskursproduktion, wie sie Fairclough anhand von Bachtins Kategorie der ‚Redegattung‘ verdeutlicht. Denn mediale Diskurse sind – anders als das bei Wissenschaftsdiskursen der Fall ist – sehr stark dadurch gekennzeichnet, dass sie innerhalb verschiedener Kommunikationsgattungen stattfinden, durch die sodann auch die inhaltlichen Möglichkeiten des Zeichengebrauchs in erheblichem Maße vorstrukturiert werden. Andererseits lassen sich anhand des Analysebeispiels drei Aspekte aufzeigen, die auf generelle Probleme der CDA verweisen. Sie betreffen: (1) die Ausrichtung der Analyse auf einzelne kommunikative Ereignisse, (2) die starke Anbindung an soziale Akteure und (3) die Gestaltung des medialen Rahmens. (1) Die Ausrichtung auf einzelne kommunikative Ereignisse. In der Einleitung zu ANALYSING DISCOURSE weist Fairclough (2003, 6) darauf hin, es gehe ihm darum, „a form of ›qualitative‹ social analysis“ zu etablieren, die sich nicht mit einer großen Anzahl von Texten durchführen lasse, da sie sehr arbeitsintensiv sei. Ergänzend könnten zwar quantitative linguistische Verfahren – wie z.B. die Erfassung von Schlüsselwörtern – zum Einsatz kommen, um größere Textmengen zu erschließen, doch ihr Nutzen sei beschränkt und nur in Verbindung mit intensiven und detaillierten Einzeltextanalysen
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wirklich sinnvoll. Dieser Ansatz, der sich in Faircloughs vertikalem Diskursmodell niederschlägt, ist für einen auf Foucault zurückgehenden Diskursbegriff allerdings recht seltsam, schließlich besteht das Ziel der Archäologie – und damit auch der Ausgangspunkt der Diskursanalyse – ja genau darin, eine (kommunikations-)theoretisch gestützte Analysemethode zu begründen, mit der sich große zeitliche Zusammenhänge erfassen lassen. Zwar fällt auch Fairclough (1995, 72) in seiner Beispielanalyse auf, dass die intertextuelle Einbindung eines kommunikativen Ereignisses nicht nur in vertikaler Hinsicht relevant sein kann, denn: „the article is intertextually linked into another chain which consists of previous coverage“. Aber genau dieser Aspekt fällt in Faircloughs ereigniszentriertem Modell unter den Tisch. Daraus ergeben sich gravierende Folgen für den Anwendungsbereich der CDA. Sie betreffen insbesondere das von Fairclough formulierte Ziel, ein Modell zur Beschreibung soziokultureller Veränderungen zu erstellen. Angenommen, man würde mit Hilfe seiner Methode eine Reihenanalyse einzelner diskursiver Ereignisse erstellen, so bliebe immer noch ungeklärt, wie sich die einzelnen diskursiven Ereignisse systematisch zueinander in Beziehung setzen lassen, nach welchen Kriterien sie auszuwählen wären und anhand welcher textueller bzw. linguistischer Eigenschaften sie verglichen werden könnten. Da in Faircloughs punktuellem Analyseverfahren die Zeichen keine beschreibbare Ordnung im Sinne einer diskursiven Formation haben, lassen sich keine „Vergleichstatsachen“ (Foucault 1981, 224) beschreiben, an denen sich diskursive Wandlungsprozesse festmachen ließen und die einen Einblick in die soziokulturelle Beschaffenheit einer Gesellschaften geben könnten. (2) Die starke Anbindung an soziale Akteure. Die Vernachlässigung der horizontalen, zeitlichen Verlaufsebene von Diskursen resultiert aus Faircloughs Bestreben, Diskurse direkt an das Soziale anzubinden. Das bedeutet, Diskurse seien in erster Linie als Ausdruck individueller oder kollektiver Interessen konkreter politischer Akteure zu verstehen. Wenn Fairclough dieses Vorgehen damit begründet, nicht einem postmodernen, zeichenfixierten Diskursbegriff verfallen zu wollen, so wird insbesondere bei der Analyse massenmedialer Diskurspraktiken deutlich, dass auf diese Weise sprichwörtlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Denn schon analysetechnisch dürfte es nur schwer möglich sein, jeden Zeitungsartikel danach aufzuschlüsseln, welche soziale Herkunft seine Diskurspartikel haben, wessen discourse representation sie folglich darstellen. Selbst Fairclough verzichtet in der Beispielanalyse darauf, genauer zu verfolgen, aus welchem Zusammenhang das neben dem Bericht zitierte Statement des Ausschussvorsitzenden stammt. Ließe sich dieses Problem mit einer allgemeine Pressebeobachtung oder der Sammlung von Agenturmeldungen zumindest ansatzweise beheben, wird Faircloughs Methode spätestens dann fehlschlagen, wenn sie Artikel erfassen will, die sehr komplex gebaut sind und nicht nur klar erkennbare PR- oder Agenturmeldungen weiterverbreiten. In diesem Zusammenhang verwundert es, dass in Faircloughs akteurszentriertem Diskursmodell den Journalisten als den unmittelbaren Diskursproduzenten kaum Platz eingeräumt wird. Unklar bleibt zum Beispiel, wie sich ihre Stellung innerhalb der drei Diskursbereiche Text – diskursive Praxis – soziokulturelle Praxis gewichten und beschreiben ließe, wie sich also ihr Anteil an
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der Textproduktion mit linguistischen Mitteln deutlich machen lassen soll. In Faircloughs Modell finden sie eigentlich nur unter dem Aspekt style Eingang in die Analyse; style ist jedoch – wie oben argumentiert wurde – ein ‚negatives‘ Diskurselement, das für den Einfluss der Individualität der Akteure auf den Diskurs steht. Diskursanalytisch wären Journalisten demnach nur als Instanzen identifizierbar, an denen sich die Diskurse brechen und durch die sie neu zusammengefügt werden. Eine weiterführende Analyse ihrer Rolle innerhalb des vertikalen Diskursprozesses ließe sich so diskursanalytisch kaum erreichen, sondern bedürfte anderer, nämlich soziologischer Analyseverfahren, wie sie in der Kommunikationswissenschaft üblich sind (vgl. Löffelholz 2003). Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für den Versuch, Rezeptionspraktiken in die Diskursanalyse einzubeziehen. Dass es sehr problematisch ist, aus medialen Produkten auf die Art und Weise ihrer Rezeption durch die Nutzer zu schließen, darüber ist sich auch Fairclough im Klaren. Bezüglich der ideologischen Effekte des SUN-Artikels merkt er (1995, 73) an, man müsse beachten, dass für eine ausgefeilte Beschreibung dieser Effekte eigentlich konkretes Rezeptionswissen vonnöten wäre. Angenommen Diskursanalyse würde mit Methoden der Rezeptionsforschung ergänzt, mit denen etwa Daten über Lesehäufigkeit und -intensität gewonnen werden könnten, bliebe aber weiterhin offen, wie sich solche Erkenntnisse an eine linguistische Analyse von Diskurspraktiken anbinden lassen. (3) Die Gestaltung des medialen Rahmens. Faircloughs Diskursmodell erhebt den Anspruch allgemeiner Anwendbarkeit. An dem Analysebeispiel werden jedoch nicht nur die problematische Konzentration der Analyse auf einzelne Texte und der unvollständige Versuch der direkten Anbindung von Diskursen an soziale Akteure deutlich. Es zeigt auch, wie stark Faircloughs Modell durch eine linguistische Diskursforschung geprägt ist, in der ‚Diskursanalyse‘ synonym ist mit ‚Gesprächsanalyse‘ – für die sich die CDA u.a. ja auch einsetzen lassen soll. Der Zeitungsartikel wird fast so erörtert, als handle es sich um das Protokoll eines Gesprächs, bei dem es klar identifizierbare Akteure gibt. Ihre mediale Besonderheit liegt nur darin, an fest gefügte Rollen als Sprecher und Hörer gebunden zu sein. In dieser Konstruktion kommt wiederum Faircloughs akteurszentrierte Sicht auf Kommunikation zum Ausdruck, in der die gesellschaftlichen Bereiche durch die Medien hindurch miteinander kommunizieren. Letztere sind dabei nur insofern von Interesse, wie sie diesen Kommunikationsprozess auf verschiedene Arten – technisch, politisch, ökonomisch etc. – mit ‚Rahmen‘ versehen (vgl. Fairclough 1995, 35–52). Davon abgesehen, dass Faircloughs Ausführungen zur Beschaffenheit dieser Rahmungen wenig systematisch sind, stellt sich jedoch die Frage, ob damit die Rolle der Medien hinreichend beschrieben ist. Unberücksichtigt bleibt zum einen die Tatsache, dass Medien nicht nur Mittler, sondern auch Produzenten innerhalb des Kommunikationsprozesses sind. Und andererseits vollzieht sich der Transport von Informationen innerhalb der Massenmedien nach geordneten und beschreibbaren Strukturen, durch die Kommunikationspraktiken institutionalisiert werden, die von individuellen Interessen und Stilistiken der handelnden Akteure emanzipiert sind.
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Fasst man diese drei Kritikpunkte zusammen, lässt sich sagen, dass es Fairclough nur unzureichend gelingt, den eigenen Anspruch umzusetzen, ein Diskursmodell zu entwerfen, mit dem über die Beschreibung diskursiver Zusammenhänge eine kritische Perspektive auf soziokulturelle Veränderungen in der Gesellschaft möglich wird. Sein komplexes Theoriemodell bleibt insgesamt ein uneingelöstes Versprechen, weil sich die zahlreichen, aber isolierten linguistischen Analysemethoden nicht zu einem homogenen Analyseinventar zusammenfügen. Jørgensen/Phillips (2004, 89) kritisieren diesen Umstand aus einem eher soziologischen Diskursverständnis heraus mit Bezug auf eine fehlende Anbindung der Analysepraxis an soziale Aspekte. Analog dazu lässt sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive kritisieren, dass es Fairclough nicht gelingt, den Prozesscharakter der Kommunikation, den er als wesentliches Kennzeichen des Diskursiven erachtet und der ihn dazu veranlasst, Foucaults diskursive Formation ‚abzuwickeln‘, angemessen in die Analyse zu integrieren. Andererseits zeigt sich genau darin, dass Fairclough mit der CDA an einigen sensiblen Punkten von Foucaults Archäologie ansetzt, die sich nicht eins zu eins auf das Gebiet der Massenmedien übertragen lässt, sondern bereits im Vorfeld der Analyse einiger Modifikationen bedarf. Mediale Diskurse, die in die Gegenwart hineinreichen, bauen nicht nur auf eine andere Ordnung als wissenschaftliche Diskurse. Sie treten dem Analytiker auch als kleinteiligere und vielgestaltiger angeordnete Kommunikationspartikel entgegen, die sich nicht mit den abgelagerten Ordnungen der Bibliotheken vergleichen lassen, in denen Foucault die Diskurse der Vormoderne entschlüsseln konnte. Bei aller Kritik stellt Fairclough mit seiner Kernidee, Medien als intertextuelle Verweisräume zu betrachten, in denen soziale Akteure kommunikativ um Geltung kämpfen, somit zwei wichtige Ansatzpunkt zur Ausarbeitung einer medienwissenschaftlichen Diskursanalyse zur Verfügung.
SIEGFRIED JÄGER Standen bei der Auseinandersetzung mit den Modellen von Foucault und Fairclough eher generelle Aspekte der Diskursanalyse im Vordergrund, so geht es im Folgenden stärker um die Ausarbeitung konkreter Ansatzpunkte für die praktische Durchführung einer Analyse. Siegfried Jäger, langjähriger Leiter des Duisburger Institut für Sprachund Sozialforschung, hat nicht nur mit KRITISCHE DISKURSANALYSE: EINE EINFÜHRUNG (1999) ein diskursanalytisches Standardwerk im deutschsprachigen Raum verfasst, das 2004 bereits in vierter Auflage erschienen ist. Er hat auch eine Vielzahl von Veröffentlichungen vorgelegt, in denen diskursanalytisches Denken praktiziert wird. Sein Ansatz baut auf einen ‚starken‘ Diskursbegriff, der auf die Verbindung von Theorie und Analyse setzt, und ist somit grundsätzlich mit der zuvor entworfenen Ausrichtung von Diskursanalyse kompatibel. Dem von ihm entworfenen, ereigniszentrierten Analysemodell kommt die Erfahrung von zahlreichen, praktisch durchgeführten Studien zugute, die eine Auswertung von gegenwartsbezogenen Diskursen in den Printmedien zum Inhalt haben. Auf der anderen Seite tritt durch die damit verbundene Schwerpunktsetzung auf das Empirische die theoretische Auseinandersetzung mit dem Diskurs sehr weit in den Hintergrund. Selbst in seinem Einführungsbuch zur Diskursanalyse werden einige entscheidende Fragen nur in Fußnoten oder Zitaten aufgegriffen. Im Gegensatz zu Faircloughs breit gefächerter, auf die Strategie der Anschlussfähigkeit ausgerichteter Diskurstheorie findet sich somit bei Jäger nur ein sehr dünnes Theoriegerüst, was jedoch dem heuristischen Wert seines Ansatzes keinen Abbruch tut. Bevor das darauf gegründete Flussmodell von Diskursen vorgestellt und Jägers ereigniszentrierte Analyse an einem Beispiel erläutert wird, beginnt dieses Kapitel mit der Einordnung der Kritischen Diskursanalyse vor dem Hintergrund der Arbeiten Foucaults und Faircloughs.
Kritische Diskursanalyse Das Label ‚Kritische Diskursanalyse‘ legt zunächst eine gewisse Nähe zu Faircloughs CDA nahe. Jäger (1999, 122) nimmt Faircloughs Arbeiten überraschender Weise allerdings nur am Rande zur Kenntnis; im Rahmen einer additiven Auflistung verschiedener Diskursansätze bezeichnet er sie als Versuch, eine „Art kritische Diskurs-Linguistik zu entwickeln, [die] auch lose an Foucault orientiert“ ist. Diese etwas abwertende Haltung verwundert, da Jäger und Fairclough sehr ähnliche Absichten verfolgen, schließlich sind beide darum bemüht, eine Diskursanalyse mit großem ‚K‘ im Namen zu etablieren, also eine Erweiterung linguistischer Analyseverfahren zu betreiben, die sich
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in der Tradition der Ideologiekritik bewegt. Das Desinteresse an Faircloughs Arbeiten könnte darin begründet sein, dass sich Jäger der Diskursanalyse von der entgegengesetzten Seite nähert. Während Fairclough den Grund für die Auseinandersetzung mit Diskurstheorie ja tatsächlich in der Begrenzung linguistischer Verfahren sieht, nähert sich ihr Jäger über eine Kritik sozialwissenschaftlicher Methoden. Diskursanalyse ist für Jäger die Antwort auf Mängel soziolinguistischer und hermeneutischer Verfahren innerhalb der Sozialforschung, von deren Kritik er über die Tätigkeitstheorie des russischen Psychologen Alexej N. Leontjew (1984) zur Diskursanalyse gelangt. Allerdings spielt Leontjews Tätigkeitsbegriff in Jägers Diskursmodell kaum eine Rolle. Deshalb muss auch nicht erörtert werden, was die Tätigkeitstheorie zu der komplexen soziologischen Problemstellung des Zusammenspiels von Wissensproduktion und Subjektivierung beizusteuern vermag. Siegfried Jäger sieht (1999, 112) wie Fairclough den Vorteil eines Diskursansatzes in der Möglichkeit, die soziale Konstruiertheit der gesellschaftlichen Kommunikation aufzuzeigen, um „die ›Vermitteltheit‹ von subjektiver und objektiver Seite, von Individuellem und Sozialem deutlicher herauszuarbeiten“. Während Fairclough den Fokus auf die gesellschaftliche Verteilung symbolischer Macht legt, will Jäger die gesellschaftspolitischen Wirkungen aufzeigen, die von Diskursen ausgehen. Mit Bezug auf Foucaults Dispositiv-Begriff schreibt er, „in den Diskursen liegen sog. Applikationsvorgaben für die Formierung/Konstituierung der Subjekte und von deren Bewusstsein und damit auch für ihre Tätigkeit und ihr Handeln vor“ (22). Dieses Zitat weist darauf hin, dass sich Jäger – Fairclough nicht unähnlich – einer sozialkonstruktivistisch modifizierten Ideologiekritik zuordnen lässt. Der Begriff ‚Applikationsvorgaben‘ erinnert an den ‚interpellativen Charakter‘, den Fairclough den Diskursen unter Bezugnahme auf Althussers Ideologie-Modell zuschreibt. Zugleich lässt sich aus Jägers etwas abgeschwächter Beschreibung der Wirkung von Diskursen – ‚Applikationsvorgaben‘ statt ‚Anrufung‘ – auf eine ähnliche Modifizierung dieses Modells schließen, wie sie auch von Fairclough vorgenommen wird.
Thematische Formation Foucaults Diskursarchäologie bildet den übergeordneten Bezugspunkt, an dem Jäger (1997, 71) die Kritische Diskursanalyse „orientiert“ sieht. Die Aneignung der Archäologie erfolgt nach Foucaults Diktum der ‚Theorie als Werkzeugkiste‘ (vgl. Jäger/Jäger 2002a). Eine eigene diskurstheoretische Lesart Foucaults entwickelt Jäger dabei allerdings kaum, vielmehr bezieht er sich im Großen und Ganzen auf die Foucault-Rezeption des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Auch den Diskursbegriff bezieht er in KRITISCHE DISKURSANALYSE aus einem einführenden Aufsatz zur literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse von Link/Link-Herr (1990). Darin versuchen Link und Link-Herr einen auf Foucault bezogenen Diskursbegriff zu formulieren, der sich aus vier fragmentarischen „Aspekten“ (90) zusammensetzt. Jäger (1999, 126f.) konzentriert sich auf einen davon, er lautet: Abweichend von Begriffen wie ›Text‹, ›Textkorpus‹ (oder ›Werk‹) betont ›Diskurs‹ bei Foucault demnach zum einen den Gesichtspunkt der engen Ankopplung an Prak-
SIEGFRIED JÄGER | 81 tiken. Zum anderen betont er aber auch die Priorität der Diskurse als Streuungen von Aussagen gegenüber der relativen Geschlossenheit von Texten. (Link/Link-Herr 1990, 90)
Die entscheidende Stelle innerhalb dieses Zitates liegt für Jäger in der Formulierung, Foucault schreibe Diskursen im Gegensatz zu geschlossenen Texten die Eigenschaft zu, aus „Streuungen von Aussagen“ zusammengesetzt zu sein. Jäger merkt dazu an, dass nicht nur ein Diskurs über mehrere Texte verstreut sein kann, es könne auch der umgekehrte Fall eintreten, dass „einzelne Texte Elemente unterschiedlicher ›Aussagen‹ enthalten“ (1999, 126). Erläuternd fährt er in Fußnote 120 fort: In Texten können mehrere Themen angesprochen sein, sodass thematisch in sich geschlossene Diskurse (die ich als Diskursstränge bezeichne) sich nicht einfach aus Texten zusammensetzen, sondern aus (thematisch einheitlichen) Diskursfragmenten, wie ich deshalb zu sagen vorziehe. Dieses Phänomen bezeichnet Foucault als Streuung. (Jäger 1999, 126)
Wie im Foucault-Kapitel bereits ausgeführt wurde und worauf auch Jäger hinweist, zeigt sich die Aussage als eine der problematischsten Kategorien der Archäologie. Sie bezeichnet dort die kleinste, elementare Einheit, aus der ein Diskurs zusammengesetzt ist. Als solche soll ihr keine feste Struktur zugeordnet werden, damit sie als Kategorie auf die verschiedensten Diskursformen anwendbar bleibt. Dennoch knüpft Foucault einige Bedingungen an die Aussage, damit sie diskursrelevant werden kann. Denn die Aussage bildet in Foucaults Modell nicht die einzige Kategorie, die einen Diskurs festlegt. Diskursrelevant ist eine Aussage erst dann, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllt und sich darüber hinaus einer diskursiven Formation zurechnen lässt. Jäger löst sich nun recht einfach von dieser Problematik, indem er die diskursive Formation lediglich auf die Bedingung einer thematischen Übereinstimmung begrenzt, die bei Foucault nur eine von vier Bedingungen ist. Jäger begründet diesen Schritt ganz pragmatisch damit, er sei im Gegensatz zu Foucault nicht daran interessiert, nach dem „generierenden Prinzip für die Aussagen“ zu suchen, sondern an der Entwicklung eines „rein beschreibenden Verfahrens“. Um ein genaueres Bild von Jägers Diskursverständnis zu bekommen, ist es sinnvoll, danach zu fragen, warum er sich überhaupt mit dem von Link und Link-Herr angeführten Aspekt „Streuungen von Aussagen gegenüber der relativen Geschlossenheit von Texten“ auseinandersetzt. Denn bei Foucault bedeutet der Umstand, dass die Aussagen eines Diskurses über das Untersuchungsfeld (die Texte) verstreut sein können, etwas anderes, als Jägers Zitat nahelegt. Diskurse sind in quantitativer Hinsicht zwar immer über eine Anzahl von Texten verteilt, ihr performatives Gewicht erlangen sie jedoch erst daraus, dass ihnen unter qualitativen Gesichtspunkten eine Eingrenzung des Feldes möglicher Aussagen zugeschrieben wird. Wenngleich ein Text von seiner Form her begrenzt ist, so trifft das für seinen Inhalt nicht zu; ein Diskurs hingegen ist in Foucaults Vorstellung immer ein relativ fest gefügtes, abgeschlossenes Gebilde, das bestimmte Formen und Inhalte einschließt.
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Deshalb räumt er Diskursen einen Vorrang vor einer Kategorie wie beispielsweise dem ‚Werk‘ ein und weist ausdrücklich darauf hin, ein Diskurs lasse sich immer erst im Nachhinein entziffern, wenn er abgeschlossen ist und in die Texte der Gegenwart nicht mehr hineinspielen kann. Zwar teilt auch Jäger die ausschließende Funktion der Diskurse – etwa wenn er (2001a, 83) sagt, Diskurse steckten ein „Feld des Sagbaren“ ab –, andererseits betont er (1999, 132/159) jedoch wiederholt das „große Wuchern“ der Diskurse. Diese Metapher geht zwar auf Foucaults ORDNUNG DES DISKURSES zurück, dort steht sie jedoch in entgegengesetztem Zusammenhang. Foucault (1991, 34) fordert in seiner programmatischen Antrittsvorlesung, sich nicht von dem vermeintlichen ‚Wuchern‘ der Kommunikationen blenden zu lassen, sondern nach einem „Prinzip der Umkehrung“ das „negative Spiel der Beschneidung und Verknappung des Diskurses [zu] sehen“. In diesem auf den ersten Blick eher beiläufigen Aspekt von Jägers FoucaultRezeption steckt ein wichtiges Charakteristikum der Kritischen Diskursanalyse, das mit der beschriebenen Ersetzung der diskursiven Formation durch das singuläre Kriterium der thematischen Kohärenz zusammenhängt. Im Gegensatz zu Foucault, der im empirischen Material von vornherein nach den raren Aussagen Ausschau hält, die das Ergebnis der anonymen Machtpraktiken der formierten Diskurse sind, sieht sich Jäger mit der überbordenden Fülle all jener Kommunikationen konfrontiert, die sich einem Thema zuordnen lassen. Deshalb muss er in seinem Analysemodell aufzeigen, wie der Diskursraum auf eine andere Art strukturiert und geordnet werden kann, damit er sich überhaupt erst einmal erschließen lässt.
Interdiskursive Ordnung Obgleich Jäger die diskursive Formation nicht als Analysekategorie anerkennt, muss er davon ausgehen, dass sich Kommunikation in irgendeine Form einer diskursiven Ordnung fügt – sonst wäre es schließlich widersinnig von ‚Diskursanalyse‘ zu sprechen. Auch dieses Problem löst Jäger mit Bezug auf Jürgen Links (1999) Diskursmodell und der darin vorgenommenen Unterscheidung verschiedener Diskurstypen. Deren wichtigste ist die zwischen ‚Spezialdiskurs‘ und ‚Interdiskurs‘ (49ff.). Sie wird nun vorgestellt. Zu den Spezialdiskursen zählen jene wissenschaftlichen Diskursformationen, die Foucault empirisch untersucht und auf deren Untersuchung aufbauend er die ARCHÄOLOGIE geschrieben hat. Link charakterisiert diese Diskursform als „historisch-spezifische und spezielle, geregelte Formation von Aussagen […], die einem spezifischen und speziellen Gegenstandsbereich zugeordnet sind“ (49). Sie zeichnen sich aus durch ein „Maximum an immanenter Konsistenz und tendieren zu entsprechender Abschließung gegen arbeitsteilig ›externes‹ Diskursmaterial“, was eine „Funktionsweise“ zur Folge habe, in der „die eindeutige Denotation und die Ausschaltung aller Mehrdeutigkeiten und Konnotationen“ dominiere (50). Diese Definition Links deckt sich im Großen und Ganzen mit der im Foucault-Kapitel vorgenommenen Beschreibung von Diskursen als Zusammenspiel von diskursiver Formation und Aussagefunktion, d.h. Link begrenzt im Gegensatz zu Jäger Diskurse nicht nur auf die in ihnen verhandelten Themen. Wenngleich man mit Bezug auf Foucault nicht behaupten kann, dass wissenschaftliche Diskurse
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durch eine „eindeutige Denotation“ von Aussagen bestimmt würden – zwar sind auch die von Foucault analysierten Diskurse um die „Ausschaltung aller Mehrdeutigkeiten“ bemüht, das ist jedoch nur mit Bezug auf außerlinguistische Verfahren der Formierung der Diskursproduktion möglich. Mit dem Begriff ‚Interdiskurs‘, der auf Michel Pêcheux (1995) zurückgeht (Keller 2005, 225), bezeichnet Link entgegengesetzt dazu jene Kommunikationen, die sich nicht homogen einem Spezialdiskurs zuordnen lassen. Sie bestehen aus „Diskurselementen und Diskursparzellen, […] die […] mit variabler und flexibler Bedeutung in einer Mehrzahl von Spezialdiskursen sowie ggf. ebenfalls in allgemeinen, z.B. sog. ›Alltagsdiskursen‹ zirkulieren“. Die Umschreibung als Elemente und Parzellen weist auf eine gewisse Nähe zu dem hin, was Norman Fairclough als die intertextuellen Dimensionen von Diskursen umschreibt. Im Unterschied zu Fairclough, der die Bestimmung intertextueller Formen und Elemente dazu nutzt, die Verbreitung von Diskursen abzustecken, geht es Link jedoch darum, Bereiche innerhalb der Kommunikation aufzuzeigen, die gewissermaßen jenseits der (Spezial-)Diskurse liegen, aber nicht jenseits des Diskursiven. An dieser paradoxen Formulierung wird deutlich, dass Links Form des Anschlusses an Foucault aus der Perspektive des zuvor entwickelten Diskursverständnisses problematisch ist. Die Vorstellung, innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation lägen Bereiche, in denen keine eigenen Formationsregeln die Kommunikationsprozesse zu bestimmen vermögen, wirft die Frage auf, warum dann überhaupt noch von einem Diskurs ausgegangen wird. Link lässt in seinem hierarchischen Modell offen, welcher diskursive Status einem Interdiskurs zufällt. Stellen die Medien einen Diskursraum dar, in dem die objektivierende Kommunikationsfunktion von Diskursen außer Kraft gesetzt ist? Damit ist die Frage verbunden, ob sich innerhalb verschiedener Kommunikationsräume nur das Vorkommen einzelner sprachlicher Partikel ändert, wie bei Link, oder die übergreifende Anordnung, der die Kommunikation genügen muss. Selbst wenn der Begriff des Interdiskurses zumindest die Fragen aufwirft „nach den Grenzziehungen [zwischen Diskursen], den Verboten des Sagbaren und den Verbindungen und Vermittlungsebenen zu anderen Diskursen“ (Sarasin 2001, 61), so lassen sich diese Fragen sinnvoll nur unter der Bedingung stellen, dass mit ‚Interdiskurs‘ keine Entität der Kommunikation bezeichnet wird, sondern nach einer diskursiven Relation gefragt wird. Diese Funktion hat auch der Gebrauch des Adjektivs ‚interdiskursiv‘ bei Foucault (1981, 226). An einem Zitat von Link/Link-Herr, in dem sie sich zu Machtwirkungen von Diskursen äußern, lässt sich das substanzialistische Diskursverständnis verdeutlichen, das ihre Foucault-Rezeption prägt und das auch in Jägers Analysemodell hineinspielt: Wenn eine diskursive Formation sich als ein begrenztes ›positives‹ Feld von Aussagen-Häufungen beschreiben lässt, [...] so gilt umgekehrt dass mögliche andere Aussagen, Fragestellungen, Blickrichtungen, Problematiken usw. dadurch ausgeschlossen sind. (Link/Link-Herr 1990, 90)
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In Foucaults Archäologie ist die diskursive Formation jedoch kein „Feld von Aussagen“, wie Link und Link-Herr hier behaupten, sondern das metaphorische Nadelöhr, das eine Aussage passieren muss, um Teil eines Diskurses zu werden. Deshalb wäre es mit Foucault auch widersinnig von „möglichen anderen Aussagen“ zu sprechen (was „Fragestellungen, Blickrichtungen, Problematiken usw.“ in diesem Zusammenhang sonst noch bedeuten sollen als wiederum „mögliche andere Aussagen“, ist unklar), da damit eigentlich nur die Menge aller linguistisch sonst noch möglichen Aussagen gemeint sein kann, was zu erwähnen jedoch gänzlich überflüssig wäre. Innerhalb der Archäologie definiert Foucault die diskursive Formation als regelleitenden Kontext, der darüber entscheidet, welche Aussagen Teil eines Diskurses werden können; ein ‚Feld von Aussagen‘, das in der Analyse einem solchen Kontext zugeordnet wird, bildet hingegen die identifizierbare Oberfläche eines Diskurses. D.h. Link eliminiert in seinem Diskursmodell das Kontextkriterium; seiner Vorstellung nach sind Kommunikationspartikel fest mit bestimmten Diskursen verschweißt, an die sie auch dann noch gebunden bleiben, wenn sie innerhalb des Kommunikationsprozesses in einen anderen Kontext gelangen. Dieses substanzialistische Diskursverständnis findet sich auch in Jägers Diskursmodell wieder, wenn er (1999, 133 – Abb. 10) etwa den Diskurs in die Kategorien ‚Spezialdiskurs‘, ‚Interdiskurs‘ und ‚Gegendiskurs‘ unterteilt. Gleichzeitig setzt sich Jäger von der Radikalität ab, mit der Link zwischen den Diskursarten trennt. So besteht er darauf, dass auch wissenschaftliche Diskurse keine „eindeutige Denotation“ (Link) von Aussagen aufweisen können und dass nicht behauptet werden könne, „der Interdiskurs wäre nicht geregelt; er ist nur nicht so stark ›reglementiert‹ wie die Spezialdiskurse“ (Jäger 1999, 132). Jäger erläutert nicht weiter, was „nicht so stark ›reglementiert‹“ diskurstheoretisch bedeutet bzw. worin dann eigentlich noch der Unterschied und somit der Sinn einer Unterscheidung zwischen diesen Diskursformen besteht. Worum es ihm geht, ist: Diskursanalyse erfasst […] das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite bzw. alle Aussagen, die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geäußert werden (können), aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleugnungsstrategien, Relativierungsstrategien etc. (Jäger 1999, 130)
Während Foucaults Überlegungen zur Diskursanalyse davon angeleitet sind, genau jene (raren) Aussagen zu ermitteln, aus denen sich Rückschlüsse auf den hoch selektiven Prozess von Diskursen ziehen lassen, geht es Jäger um eine Sichtung und Differenzierung des gesamten Diskursraums. Der Grund für dieses Vorgehen liegt in der Absicht, die Machtspiele aufzudecken, mit denen um die kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft gekämpft wird. Damit das möglich wird, übernimmt Jäger Links substanzialistisch gefärbtes Diskursverständnis, das er dahingehend verändert, Diskurse zunächst über ihre thematische Ausrichtung zu definieren. Sein Diskursmodell soll einen Weg aufzeigen, wie sich die zunächst amorphe Ansammlung von Kommunikationen zu einem Thema erschließen und strukturieren lässt, um sie in dis-
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kursiv geprägte Aussagen zu unterteilen, aus denen sich Aufschlüsse über die politische Konstitution der Gesellschaft ziehen lassen.
Flussmodell Die Anforderung, die Jäger (1999, 158–169) an ein Diskursmodell stellt, besteht darin, das Material zunächst in eine Ordnung zu bringen, auf der aufbauend die ideologisch gefärbten Diskurspositionen ermittelt werden können. Den Ausgangspunkt dazu bildet die Festlegung von Diskursen als „Flüssen von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (158). Diese Metapher beinhaltet die beiden wichtigsten Charakteristika, denen ein Diskursmodell seines Erachtens gerecht werden muss. Diskurse haben zum einen eine zeitliche Dimension, in deren Verlauf sie sich verändern können, und sie stehen in einer Art räumlicher Beziehung zueinander, über die sie aufeinander einwirken können. Jägers Diskursmodell entwirft zunächst unter Berücksichtigung dieser beiden Aspekte (1) ein Instrumentarium, das auf die Identifikation und Beschreibung des Verlaufs von Diskursen angelegt ist (raum-zeitliche Dimension). Diese Heuristik soll dann (2) die Verortung des Diskursgeschehens innerhalb des gesellschaftlichen Raums ermöglichen (soziale Dimension). (1)Raum-zeitliche Dimension. Im Zentrum steht ein Begriffsapparat, mit dem eine Heuristik entworfen wird, deren Aufgabe die Erschließung des ansonsten unübersichtlichen Diskursraums ist. Sie zergliedert das Textmaterial anhand der Begriffe: Diskursfragment, Diskursstrang, diskursives Ereignis und diskursiver Kontext. Die erste zentrale Setzung, die Jäger vornimmt, wurde bereits angeführt; sie betrifft den diskurstheoretisch heiklen Punkt, wie sich Diskurse voneinander abgrenzen lassen. Jäger versteht Diskurse als Bündelungen von Kommunikationen, die ein thematischer Bezug eint. Daraus folgt: Diskurse können über den gesamten Raum gesellschaftlicher Kommunikation verstreut sein. Umgekehrt bedeutet das auch, sie müssen nicht mit abgeschlossenen kommunikativen Artefakten, wie einem Zeitungsartikel, identisch sein. Deshalb lassen sich in einzelnen Texten zunächst nur thematische Diskursfragmente auffinden, die dort neben Textabschnitten stehen können, in denen andere Themen erörtert werden und die somit zu ‚Fragmenten‘ eines anderen Diskurses zählen. Damit von einem Diskurs als ‚Fluss‘ gesprochen werden kann, müssen mehrere thematisch gleiche Diskursfragmente miteinander in Verbindung gebracht werden. Ein solches Set thematisch gleicher Diskursfragmente nennt Jäger einen Diskursstrang. Ein empirisch vollständiger Diskursstrang bestünde aus der Summe aller Äußerungen, die zu einem Thema kommuniziert wurden. Bei der Analyse von Diskurssträngen unterscheidet er zwischen einer synchronen Betrachtungsweise, womit die Analyse der Ausprägung eines Diskursstrangs innerhalb eines kürzeren Zeitraums gemeint ist, und einer diachronen Betrachtungsweise, mit deren Hilfe der Verlauf eines Diskursstrangs über einen längeren Zeitraum ermöglicht werden soll. Die Kritische Diskursanalyse kann somit als Quer- oder Längsschnittuntersuchung angelegt sein; als Querschnitt fungiert sie als Momentaufnahme der öffentli-
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chen Erörterung eines Themas, als Längsschnitt zeichnet sie den gesamten Verlauf einer Themenerörterung innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach. In diesem Zusammenhang ist es Jäger wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Diskursstränge zwar analytisch anhand einzelner Fragmente voneinander trennen lassen, in der Dynamik ihres Verlaufs seien sie jedoch miteinander „›verschränkt‹, d.h. [sie] beeinflussen und stützen sich gegenseitig, wodurch besondere diskursive Effekte zustande kommen“ (160). Die Erörterung einzelner Themen verläuft in der Öffentlichkeit nicht isoliert voneinander, sondern Themenkarrieren, Argumentationen und die Verbreitung eines Themas in der öffentlichen Agenda stehen im Kontext anderer Themen, die zur gleichen Zeit behandelt werden. Deshalb misst Jäger der Identifikation eventueller Beziehungen zwischen verschiedenen Diskurssträngen ein besonderes Gewicht bei. Eine zentrale Stellung fällt in Jägers Flussmodell der daran anknüpfenden Überlegung zu, Diskursstränge nicht nur im Kontext anderer Diskursstränge zu betrachten, sondern darüber hinaus mit Ereignissen in Beziehung zu setzen, die außerhalb des diskursanalytischen Materials liegen und von dort auf den Verlauf der Diskurse einwirken. Jäger bezeichnet diese Faktoren als diskursive Ereignisse; damit werden Ereignisse umschrieben, die in der sozialen Realität stattfinden und denen für den Verlauf der öffentlichen Erörterung eines Themas eine nachhaltige Bedeutung beigemessen werden kann, die sich ersichtlich in den Texten niedergeschlagen hat. Das ist dann der Fall, wenn Ereignisse in einem Diskurs „medial groß herausgestellt werden und als solche medial groß herausgestellten Ereignisse die Richtung und Qualität des Diskursstrangs, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflussen“ (162). Die Summe diskursiver Ereignisse, die sich einem Diskursstrang zuordnen lassen, ordnet Jäger wiederum einem diskursiven Kontext zu, der einen Diskurs rahmt. Dieser Kontext könne im Nachhinein wie „eine Art Chronik der diskursiven Ereignisse“ (163) an den Verlauf eines Diskurses angelegt werden, um beispielsweise eine querschnittartige Betrachtung eines Diskurses historisch einzuordnen. Die zweidimensionale Unterteilung in verschiedene Diskursstränge, die sich sowohl gegenseitig beeinflussen als auch durch kontextuelle Ereignisse beeinträchtigt werden, bezieht sich auf die Frage, wie der raum-zeitliche Verlauf eines Diskurses strukturiert werden kann bzw. welchen Faktoren bei der Beschreibung besonderes Gewicht zugemessen werden soll. Abbildung 2 veranschaulicht diese zwei Einflussdimensionen. Ausgehend von der Flussmetapher, verändert sich danach die Erörterung eines Themas in der öffentlichen Agenda in erster Linie in Abhängigkeit von anderen thematischen Strängen und außerdiskursiven Ereignissen. Die Analyse thematischer Verflechtungen spielte auch schon in Faircloughs Diskursanalyse eine herausragende Rolle. Jäger erweitert dessen statische Sichtweise auf Diskurse, indem er sie als Prozesse betrachtet, die mit der ‚Realität‘ nicht nur durch die Tatsache der gesellschaftlichen Bindung der Akteure in Zusammenhang gebracht werden, sondern auch durch ihre Abhängigkeit von punktuellen historischen Ereignissen.
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Abbildung 2: Der zeitliche Verlauf von Diskursen diskursiver Kontext Ereignis WX
Ereignis YZ
Diskursverlauf Diskursstrang A Diskursstrang B Diskursstrang C Diskursstrang D Diskursstrang E Vgl. Jäger (1999, 160f.) Als Beispiel eines diskursiven Ereignisses führt Jäger die atomaren ‚Unfälle‘ von Harrisburg und Tschernobyl an, die seines Erachtens zwar vergleichbar sind, in die mediale Berichterstattung jedoch unterschiedlich stark Einzug gehalten haben. Daraus folgert er: Ob ein Ereignis, etwa ein zu erwartender schwerer Chemieunfall, zu einem diskursiven Ereignis wird oder nicht, das hängt von jeweiligen politischen Dominanzen oder Kulturen ab. Diskursanalysen können ermitteln, ob solche zu erwartenden Ereignisse zu diskursiven Ereignissen werden oder nicht. Werden sie es, beeinflussen sie die weiteren Diskurse erheblich. (Jäger 1999, 162)
(2) Durch die Einbeziehung einer sozialen Dimension bindet Jäger Diskurse an eine gesellschaftliche bzw. gesellschaftskritische Untersuchungsebene an. Sie bezieht sich auf die ‚Orte‘, in denen oder von denen aus kommuniziert wird. Demnach können einzelne Diskursstränge auf verschiedenen Diskursebenen stattfinden und in ihnen können verschiedene Diskurspositionen zum Ausdruck kommen. Diskursebenen differenzieren einen Diskurs hinsichtlich der „sozialen Orte, von denen aus jeweils ›gesprochen‹ wird“ (163); als Beispiele solcher ‚sozialen Orte‘ führt Jäger die Bereiche „Wissenschaft, Politik, Medien, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben, Verwaltung etc.“ an, die sich sowohl untereinander gegenseitig beeinflussen als auch in sich stark „verflochten“ und somit selbstbezüglich sein können. Diskurspositionen drücken hingegen die unterschiedlichen Ansichten und Wertungen aus, die innerhalb eines Diskursstrangs ausgedrückt werden. Bezeichnet ‚Diskursebene‘ den ‚sozialen Ort‘ eines Diskurses, so drückt sich in ‚Diskursposition‘ der „ideo-
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logische Ort“ aus, mit dem „spezifische Standorte“ (164) im politischen Koordinatensystem einer Gesellschaft benannt werden. Die Wertmaßstäbe dieser politischen Standorte gehen für Jäger wiederum auf die Diskurse selbst zurück, in denen sie ausgeprägt, entwickelt und verändert werden. Ihre Aufdeckung und Zergliederung in hegemoniale und nicht-hegemoniale Positionen und deren Zuordnung zu bestimmten Diskursebenen bildet für Jäger das eigentliche Ziel der Kritischen Diskursanalyse.
Ereigniszentrierte Analyse Wie in der Auseinandersetzung mit den theoretischen Ausgangspunkten der Kritischen Diskursanalyse bereits deutlich geworden ist, baut Jägers Flussmodell auf ein Diskursverständnis, dass nicht mit einer Konzeption von Diskurs als Zusammenspiel von Kontext und Aussagen übereinstimmt, wie es in dieser Arbeit von Foucault ausgehend entworfen wurde. Dennoch entwickelt Jäger ein komplexes und empirisch erprobtes Modell zur analytischen Zergliederung des diskursiven Materials, das einen differenzierten methodischen Ansatz verspricht. Im Folgenden soll deshalb herausgearbeitet werden, wie praktikabel und überzeugend diese Diskursheuristik in der Anwendung ist. Dazu wird zunächst die von Jäger konzipierte Analysestrategie beschrieben, um anschließend die daraus folgende Analysepraxis an einem Beispiel aufschlüsseln zu können.
Analysestrategie Wie entwirft Siegfried Jäger nun also, aufgrund der zuvor beschriebenen Heuristik, die Durchführung einer Diskursanalyse? Obgleich die Aufgabe eigentlich darin bestünde, „Diskursstränge historisch und gegenwartsbezogen zu analysieren und zu kritisieren“ (171) und zu einem ‚gesamtgesellschaftlichen Diskurs‘ zu verbinden, sieht sich der Analyst zunächst mit dem Problem der überbordenden Fülle des diskursiven Materials konfrontiert. An dieser Stelle schlägt Jägers substanzialistisches Diskursverständnis, das Diskurse als Ansammlungen thematisch ausgerichteter Aussagen betrachtet, auf die Durchführung der Analyse zurück. Am Anfang muss somit das forschungspraktische Paradox überwunden werden, das darin besteht, ein quasi unendliches Untersuchungsfeld mit qualitativ aufwendigen Methoden zu erschließen. Dieses Dilemma zieht einige pragmatische Entscheidungen nach sich, die im Vorfeld der Analyse das Untersuchungsmaterial eingrenzen sollen. So rät Jäger dazu, Diskurse nicht in ihrem zeitlichen Verlauf zu analysieren, sondern die Untersuchung auf eine Momentaufnahme, einen „synchronen Schnitt“, zu begrenzen. Außerdem gelte es, die thematische Ausrichtung möglichst stark einzuschränken und auf einen bestimmten Ausschnitt zu beziehen, wie ihn beispielsweise ein Set überregionaler Tageszeitungen darstellt (188f.). Wenn solcherart Eingrenzungen vorgenommen sind, kann der Aufbau eines ersten Untersuchungsfeldes erfolgen, das sich aus einem Textkorpus zusammensetzt, das in der Praxis schon einmal aus über 2500 Zeitungsartikeln bestehen kann (vgl. Jäger/Jäger 2003). Für eine qualitative Auswertung, wie sie Jäger vorschwebt, ist das natürlich viel zu umfangreich. Deshalb
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schlägt er (1999, 192) vor, zunächst „Dossiers“ zu bilden, mit denen die Themen und Unterthemen aller Diskursfragmente des Textkorpus erfasst und geordnet werden. So sollen Artikel identifiziert werden, die sich hinsichtlich ihrer thematischen Ausgestaltung als „typisch“ erachten lassen. Erst sie bilden das engere Untersuchungskorpus, dem sich die „Feinanalyse“ ausführlicher widmet. Ergänzend empfiehlt Jäger bei der Auswahl der zu analysierenden Texte weitere Aspekte zu berücksichtigen: Tauchen ideologische Positionen oder Themenschwerpunkte auf, die beispielhaft für eine Zeitung sind, wie ist die quantitative Verteilung der Unterthemen, gibt es Verschränkungen mit anderen Diskursen, lassen sich stilistische Merkmale oder formale Besonderheit erkennen (193)? Ist das Textkorpus auf diese Weise auf einige hundert Artikel zusammengeschmolzen, kann die Feinanalyse beginnen, die das eigentliche Herzstück der Untersuchung darstellt. Jäger leitet diesen Schritt mit der Bemerkung ein, die Feinanalyse stelle „kein ›Rezept‹ dar oder eine starre ›Methode‹, der jedes Diskursfragment bzw. jeder Diskursstrang schlicht unterworfen werden könnte, sondern ist als Einstiegshilfe für konkrete Analysen gedacht“ (172). Neben einer eventuellen technischen Aufbereitung des Analysekorpus, schlägt Jäger fünf aufeinander folgende Schritte vor, die für jeden einzelnen Artikel durchgeführt werden sollen (175). Erfasst werden soll danach zunächst der „institutionelle Rahmen“, zu dem Daten wie Medium, Textsorte, Autor, aber auch kontextuelle Informationen wie eventuelle außerdiskursive Ereignisse gehören, auf die Bezug genommen wird. Der zweite Schritt widmet sich der grafischen und inhaltlichen Gestaltung bzw. Gliederung, ehe der Einstieg in die eigentliche linguistische Textanalyse beginnt, die sich mit der Verwendung „sprachlich-rhetorischer Mittel“ befasst. Dazu schlägt Jäger – ähnlich wie Norman Fairclough – ein großes Arsenal linguistischer Interpretationsverfahren vor, die sich auf verschiedene syntaktische, semantische und pragmatische Aspekte des Sprachgebrauchs beziehen. Als ein besonders geeignetes Verfahren der feinanalytischen Textinterpretation stellt Jäger das von Jürgen Link u.a. entworfene Modell der ‚Kollektivsymbolik‘ heraus (133ff.). Dieses Modell, das eng an Links Diskurskonzept angelehnt ist (vgl. Link 1999, 344f.), unterscheidet sich wesentlich von allen übrigen linguistischen Verfahren der Textanalyse, die sich bei Jäger und Fairclough finden. Mit ihm soll ein systematischer Zusammenhang zwischen Aussagen, Diskursen und Diskurspraktiken hergestellt werden. Vereinfacht ausgedrückt, versucht Link mit der Kollektivsymbolik eine Symboltheorie zu etablieren, die den kulturellen Gebrauch von ‚Bildern‘ – womit sowohl alle sprachlich wie abbildungstechnisch (re)produzierten Bilder gemeint sind (Becker/Gerhard/Link 1997, 70) – in einen Gesamtzusammenhang stellt. In diesem generiere und produziere „das Interferenzspiel der Diskurse einer Kultur ihr Kollektivsymbolsystem“ (Drews/Gerhard/Link 1985, 270). Link et al. sprechen von einem Kollektivsymbolsystem, um deutlich zu machen, dass der kulturelle Gebrauch von Symbolen auf einen semantischen Strukturzusammenhang zurückgeführt werden kann, der Bedeutungen gesellschaftlich (also z.B. soziokulturell oder politisch) relativ verbindlich determiniert (vgl. Jäger 1997, Abb. 2). Dabei gehen Link et al. so weit, die verkettete Ordnung des Gebrauchs kollektiver Symbole mit der mathematischen Formel
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„A={(p1, s1), (p2, s2), …, (pn, sn)}“ (Drews/Gerhard/Link 1985, 266) auszudrücken. Mit der Beschreibung von Kollektivsymbolen eng verbunden ist der vierte Schritt in Jägers (1999, 184) Diskursanalyse: die Ermittlung „inhaltlichideologischer Aussagen“. Darunter werden (politische, ethische etc.) Wertungen verstanden, die Rückschlüsse auf eine bestimmte ideologische Diskursposition zulassen. Im abschließenden, fünften Schritt, der „Interpretation“, folgt die Aufbereitung und Auswertung des Materials: Das heißt, alle festgestellten (wichtigen) Fakten, die sozialen und sprachlichen Besonderheiten müssen im Zusammenhang gesehen werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um das vom Autor Gemeinte, sondern um das, was beim Leser des Textes ›ankommt‹, also um die Wirkung. […] Dabei ist nicht davon auszugehen, dass jeder Leser den Text so verstehen muss, wie er vom Analysierenden entschlüsselt worden ist. Als Fragment eines Diskurses steht der Text in gewisser Weise als Fragment seiner Gattung da. […] Daher ist es auch erforderlich, eine gewisse Anzahl von Texten zugleich zu untersuchen, wenn man den Diskursstrang (die ›Gattung‹), zu der er gehört, als ganzen in den Blick bekommen möchte, wenn man ihn vollständig und in der ganzen Bandbreite seiner Wirkung erfassen will. […] Es ist nicht der einzelne Text, der wirkt, sondern der Diskurs als Ganzer in seinem Fluss durch die Zeit und seiner kontinuierlichen Entwicklung auf Individuum und Gesellschaft. (Jäger 1999, 184)
Um das zu ermöglichen, sollen an jeden Text fünf Fragen angelegt werden (185): Welche Botschaft wird vermittelt, welche „sprachlichen und propagandistischen“ Mittel werden verwendet, welche Leserschaft wird angesprochen, welche Stellung wird hinsichtlich des gesamten Diskurses bezogen, in welchem Zusammenhang steht ein Text zur Gesellschaft, dem ‚hegemonialen Diskurs‘ und den diskursiven Ereignissen? Erst wenn alle Diskursfragmente auf diese Weise erfasst wurden, kann die „Gesamtinterpretation des Diskursstrangs“ (194) erfolgen, in der die Ergebnisse der Einzelanalysen und die erstellten Dossiers miteinander verbunden werden. Eine bestimmte Vorgehensweise will Jäger dafür nicht anführen, da es sich hierbei um „ästhetische Möglichkeiten“ handle (Fußnote 208). Ergänzend könnten an die Interpretation eines Diskursstrangs zwei weitere Beschreibungen anschließen. Zum einen könnte die Behandlung eines Diskursstrangs auf eine komplette Diskursebene ausgeweitet werden (z.B. den Mediendiskurs) und zum anderen ließe sich die Summe mehrerer Diskursstränge mehrerer Diskursebenen zu einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zusammenfügen. Eine solche Arbeit würde jedoch eine Reihe von Diskursanalysen voraussetzen und wäre für Jäger auch nur bedingt aussagekräftig, da sie immer noch die historische Dimension von Diskursen außer Acht ließe. Deshalb schlägt er (200f.) vor, sich auf die Analyse einzelner Themengebiete zu konzentrieren, die bei regelmäßiger Durchführung zu Diskurs-Paneelen zusammengefügt werden könnten, aus denen sich ein Überblick über die Entwicklungen einzelner Gesellschaftsbereiche gewinnen ließe.
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Analysepraxis Das Analysebeispiel stammt aus einem von Margarete und Siegfried Jäger (2002b) herausgegebenen Sammelband über die Berichterstattung zur militärischen Intervention der NATO-Staaten im Kosovo-Konflikt im Jahre 1999, in dem in lose zusammenhängenden Einzelaufsätzen eine ‚kritische‘ Gesamtschau der Kriegsberichterstattung vorgenommen wird. In einem der Aufsätze, auf den im Folgenden Bezug genommen wird, untersucht Siegfried Jäger die MILITÄR- UND POLITSTRATEGISCHEN VORGABEN IN DER MEDIENBERICHTERSTATTUNG ZUM NATO-KRIEG GEGEN JUGOSLAWIEN (2002a). Das Ziel der Analyse besteht darin, ‚Diskursverfestigungen‘ aufzuzeigen, also solche Kommunikationspraktiken herauszuarbeiten, aus denen sich schließen lässt, „inwieweit durch diese Berichte und Einschätzungen das Kriegführen im Diskurs und damit im Massenbewusstsein als selbstverständlich und normal fixiert wurde“ (119). Als Ausgangsmaterial nennt Jäger ein Korpus von etwa 1000 Artikeln aus acht überregionalen Zeitungen und Zeitschriften, die in einem Zeitraum von rund zweieinhalb Monaten zwischen März und Juni 1999, also zur Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen, publiziert worden sind. Im Vorfeld formuliert Jäger drei aufeinander aufbauende Fragen, die mit der Analyse beantwortet werden sollen. Sie betreffen die „militärischen und politischen Strategien“, die während des Krieges diskutiert wurden, die Art und Weise, wie „diese Strategien bewertet werden“, und die Funktion, die Medien hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz von Kriegen zugeschrieben werden kann (120). Jäger geht bei der Analyse in etwa so vor, wie es zuvor beschrieben wurde. Die Untersuchung ist als ‚synchroner Schnitt‘ angelegt, dessen Gegenstand die öffentliche Erörterung eines Themas ist, das im Kontext eines außerdiskursiven Ereignisses steht. Die Auswertung des Materials erfolgt in vier Etappen: Nach einer ersten Sichtung der Artikel hinsichtlich der behandelten Themen und Unterthemen („Strukturanalyse“) beginnt die eigentliche Auswertung, die mit einer Beschreibung der Themen einsetzt („vergleichende Analyse“). So ergeben sich die vier Themenbereiche „Verschränkung des Kriegsdiskurses mit dem Faschismus“, „Beteiligung Deutschlands“, „Personalisierung von Feindbildern“ und „Normalität des Krieges“, die den engeren thematischen Kontext des eigentlichen Themas abstecken, das da lautet: „Die mediale Auseinandersetzung mit militärischen und politischen Strategien im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg“. Dieses Kernthema wird anschließend, in neun Unterthemen aufgespalten, ebenfalls abgehandelt. So entstehen vergleichende Kurzanalysen, in denen die Gemeinsamkeiten der printmedialen Kriegsberichterstattung herausgestellt werden. Im Anschluss daran werden zwei ausgewählte Artikel analysiert, die sich in der vergleichenden Analyse als „typisch für den hier thematisierten Ausschnitt aus dem Kriegsdiskurs“ (139) erwiesen haben. An ihnen soll – insbesondere unter Bezugnahme auf die vorkommende Kollektivsymbolik – demonstriert werden, welche ‚Effekte‘ (‚Applikationsvorgaben‘) die Artikel für die allgemeine Wahrnehmung und Einschätzung des Krieges nahelegen. Dann folgt ein Fazit. Die Problematik von Jäger Analysepraxis lässt sich an dem Resümee aus dem Fazit verdeutlichen. Dort kommt er zu dem Schluss:
92 | DISKURS UND DISKURSANALYSE Diese Medienstrategie ist geeignet, Applikationsvorgaben zur Konfliktlösung im Massen- und individuellen Bewusstsein zu verfestigen, die folgende zwei Konsequenzen haben: 1. Kriegsführung aller Art zu legitimieren. 2. Gewalt als Mittel der Konfliktlösung als selbstverständlich erscheinen zu lassen. Die Behandlung und Darstellung solcher Strategien in den Medien, die sich damit zum Büttel chauvinistischer Politik erniedrigen lassen, statt zu einer verfassungsgemäßen Demokratiebildung beizutragen, kann daher als tendenziell verantwortungslos und undemokratisch bezeichnet werden. (Jäger 2002a, 166)
Wenn sich die gesamte Presse als Feind von Verfassung und Demokratie herausschält, verwundert es nicht, dass Jägers Analysen zur Berichterstattung der Printmedien wiederholt auf heftige Kritik seitens der betroffenen Akteure in der Öffentlichkeit treffen (vgl. Bührmann 2005). In der Besprechung einer anderen Studie von Margarete und Siegfried Jäger (2003) wird bemängelt, „nicht exakte Empirie bestimmt den Ton dieser Studie, sondern eine Meinungsfreude, die von Vorurteilen kaum zu unterscheiden ist“ (Reinecke/ Semmler 2002). Damit ist ein schwerwiegendes Problem angesprochen, das auch auf die hier thematisierte Beispielanalyse zutrifft. Jägers Ausführungen weisen ein erhebliches Maß an Voreingenommenheit auf, das seine (wissenschaftliche) Argumentationskraft erheblich schmälert, da die Grenze zwischen Beschreibung und Interpretation verschwimmt. Bei der Bewertung seiner Analysepraxis kann dieser Aspekt zwar nicht unberücksichtigt bleiben, aber die nun folgenden Kritikpunkte zielen nicht auf Jägers Ansichten, sondern auf die methodischen Mängel, die der radikalen Medienschelte vorangehen. Sie betreffen: die Anbindung der Analyse an (1) den außerdiskursiven, (2) den diskursiven und (3) den medialen Kontext, (4) die Systematisierung der Auswertung und (5) die Aussagekraft der Analyseergebnisse. (1) Die Anbindung der Analyse an den außerdiskursiven Kontext. Der zentrale Kritikpunkt an der Kriegsberichterstattung liegt für Jäger (2002a, 161) in einer fehlenden Erörterung von Strategien, die über „Probleme der unmittelbaren Kriegsführung hinausweisen“. Daraus folgert er: Die mediale Debatte über eine Beendigung des Krieges blieb bis zum Ende des Krieges überaus wirr: die Lösungsvorschläge oszillierten zwischen Verschärfung der Luftschläge und Einsatz von Bodentruppen. Zugleich wurden beide Optionen immer wieder als untauglich hingestellt, sodass die Möglichkeit einer weiteren militärischen Eskalation unausgesprochen im Raume stand. Wenn beide Optionen untauglich sind, welche Mittel blieben übrig, um den notwendigen Sieg herbeizuführen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage blieb zwar aus, sie lag aber gleichsam diskurslogisch in der Luft: Einsatz von schweren Waffen bis hin zu Atommunition. (Jäger 2002a, 165f.)
Mit anderen Worten kritisiert Jäger, dass einerseits die Debatte insgesamt keine einheitliche Strategie erkennen lasse und andererseits die angeführten Lösungsvorschläge (fast) alle innerhalb der Logik eines unausweichlichen Krieges verharren. Aus diesen Beobachtungen folgert er, die Printmedien würden mit der Anerkennung des Kosovo-Krieges und der strategischen
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‚Ratlosigkeit‘ in der Frage der richtigen Kriegsführung „unausgesprochen“ das Feld bereiten für noch ‚unmenschlichere‘ militärische Strategien. Das Problem dieser Argumentation liegt auf der Hand: Sie ist nicht mehr als eine Mutmaßung über eine ‚Diskurslogik‘, die sich anhand der Analyse nicht begründen lässt. Angenommen, die unterstellte Militarisierung der Debatte wäre stichhaltig und es gab eine immanente Diskurslogik, die diese Befürchtung als richtig erweisen könnte, so ließe sich dies mit der Anlage der Auswertung jedoch nicht begründen. Die Artikel und die darin vorgenommene Behandlung der Themen werden im Design der Untersuchung einem einzigen Ereignis zugeordnet – dem gesamten Krieg. So bleibt unberücksichtigt, welche Dynamik innerhalb des Untersuchungszeitraums zwischen Ereignis und Diskurs vorherrscht. Insbesondere vor dem Hintergrund der Feststellung, dass sich in den Medien eine gewisse (Kriegs-)strategische Ratlosigkeit ausmachen lasse, wird die Frage evident, woran die dennoch vorgenommenen Erörterungen politischer und militärischer Strategien gekoppelt sind. Ein wichtiger Faktor zur Beantwortung dieser Frage wäre – wie sich ja auch aus Jägers Diskursheuristik ableiten lässt –, in welchem Zusammenhang der strategische Kriegsdiskurs zum Wissen über die kriegerischen Auseinandersetzungen steht. Dazu wäre es unerlässlich gewesen, den gesamten Zeitraum in einzelne Phasen zu untergliedern und zu prüfen, wie sich diese zum Verlauf der Debatte verhalten. (2) Die Anbindung der Analyse an den diskursiven Kontext. Jägers Prognose, die Debatte bewege sich „diskurslogisch“ in Richtung einer moralischen Befürwortung des Einsatzes von „schweren Waffen bis hin zu Atommunition“, mündet an anderer Stelle in die These, in Teilen der Medien „dominiert eine instrumentelle Vernunft, die an die Verbrechen der Wehrmacht und der Technokraten und Wissenschaftler des Dritten Reiches [sic] erinnert“ (164). Ausdrücklich bezieht Jäger diesen Vorwurf auf einen Kommentar aus der FRANKFURTER RUNDSCHAU, in dem „für den sofortigen Einsatz von Bodentruppen“ argumentiert wird (127). Erläuternd merkt eine Fußnote an, der Kommentator habe „sich bei der Formulierung seiner Gedanken nicht aus der Eskalationslogik von Kriegen lösen können“ – was aber wohl kaum eine hinreichende Begründung für einen so starken Vorwurf ist. Neben der inhaltlichen Frage, ob der Einsatz von Bodentruppen unter moralischen Gesichtspunkten auf jeden Fall ein Plädoyer für eine ‚militärische Eskalation‘ darstellt (oder nicht auch vielleicht als Versuch der ‚Deeskalation‘ des Bombenkrieges angeführt wird), liegt hier wiederum ein methodisches Problem vor, das mit dem Aufbau der Studie zusammenhängt. Jäger gelingt es nicht, mit seiner Form der thematischen Kontextualisierung der Debatte plausibel zu machen, welche politisch-moralischen Begründungsarten mit den verschiedenen Strategien korrelieren. Hierzu wäre es notwendig gewesen, nach diskursanalytischen Möglichkeiten zu suchen, diese politisch-moralischen Begründungsdiskurse in die Analyse einfließen zu lassen. (3) Die Anbindung der Analyse an den medialen Kontext. In einem Unterkapitel über „Die Reflexion des strategischen Einsatzes der Medien in den Medien“ (129) setzt sich Jäger mit der medialen Selbstthematisierung der Kriegsberichterstattung auseinander. Er kommt zu dem Schluss, die spezielle Problematik der Kriegsberichterstattung werde zwar wiederholt thematisiert,
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doch daraus werde nicht die ‚eigentlich richtige‘ Konsequenz gezogen, die für Jäger darin bestanden hätte, gegen und nicht über den Krieg zu schreiben; somit „verharren [die Printmedien] in dem Widerspruch, nichts abbilden zu können und versuchen dies dennoch“ (130). Hier manifestiert sich für Jäger ein Grundproblem medialer Berichterstattung, das darin liege, Wirklichkeit zu deuten, und so zu tun, als sei die gedeutete Wirklichkeit real. In einem weiteren Aufsatz des Sammelbandes, der sich explizit mit der Problematik des ‚wahren‘ Berichtens auseinandersetzt, wird diese Position weiter zugespitzt: „Auch in diesem [Krieg] gibt es nicht die Wahrheit oder die Wirklichkeit [über den Grund des Krieges], sondern immer nur Diskurse, mit denen Wirklichkeit gedeutet wird“ (Cleve 2002, 218f.). Zugespitzt hieße das: Mediale Berichterstattung ist letzten Endes nur eine Frage der Ideologie. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in Jägers Diskursanalyse an keiner Stelle die Frage aufgegriffen wird, was eigentlich Massenmedien ‚sind‘ – welche Funktionsweisen sie haben, wie sie aufgebaut sind und nach welchen Mechanismen und Möglichkeiten sie überhaupt ‚Wirklichkeit‘ reproduzieren (können). In Jägers Analyse fehlt somit ein angemessenes Verständnis für die Bedeutung der massenmedialen Einfassung der Kommunikation. Die Medienkritik trägt dadurch zum Teil seltsame Blüten. In einer der Einzelanalysen – zu einem Leitartikel aus der FAZ – schreibt Jäger (2002a, 150f.): Ein wesentlicher „diskursiver Effekt“ folge aus der „scheinbar unzweifelhaften Position der Allgemeingültigkeit“, aus der heraus argumentiert wird, denn der Kommentator geriere sich als „Kenner der Situation“ und stelle „Behauptungen als gültige Fakten“ hin. So zutreffend diese Beschreibung auch sein mag, Jäger entlarvt damit aber keine besondere diskursive Strategie, sondern beschreibt lediglich ein wesentliches Merkmal der Textsorte ‚Kommentar‘. Es liegt darin, die eigene Meinung mit möglichst überzeugenden rhetorischen Mitteln zu präsentieren, was mit der Absicht verbunden ist, „über die publizierte Meinung Einfluss auf die Rezipienten“ (Dohrendorf 1990, 127) nehmen zu können. (4) Die Systematisierung der Auswertung. Eine Intention von Jägers Analysemodell liegt in der Zuspitzung des Untersuchungsmaterials von einem großen Korpus auf einzelne, repräsentative Artikel, die in der Feinanalyse genauer betrachtet werden können. Jedoch gelingt es ihm nicht, deutlich zu machen, inwiefern die beiden ausgewählten Kommentare als ‚typisch‘ erachtet werden können. Dieses Verfahren wirkt in dieser Studie schon deshalb eigenartig, weil Jäger ein besonderes Charakteristikum des Kriegsdiskurses in der „wirren“ Uneinheitlichkeit der Argumentationen sieht. Dieser Mangel fällt zumindest zum Teil auch auf Jäger selbst zurück, dem es mithilfe seiner Analysemethoden nicht gelingt, in der ‚vergleichenden Analyse‘ das Untersuchungsmaterial innerhalb der thematischen Schubladen systematisch zu erschließen. So kommt er (2002a, 127) bei der Analyse des überaus zentralen Unterthemas „Luft- und Bodenkrieg im Wettstreit“ zu dem Ergebnis, „dass Gegner und Befürworter in den jeweiligen Zeitungen miteinander ›diskutieren‹“. Die Anführungszeichen bei ‚diskutieren‘ sollen ausdrücken, damit sei alles gesagt, da schon die Tatsache, dass solche Strategien überhaupt diskutabel sind, nach Jägers Meinung selbstredend ist. Offen bleibt jedoch, wie die
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Positionen sprachlich in den Diskurs eingebunden sind, mit welchen Argumenten das Für und Wider unterlegt wird und worin die Unterschiede und Gemeinsamkeiten liegen. In diesem Makel zeichnet sich eine weitere methodische Unvollkommenheit ab: In Jägers Werkzeugkiste befindet sich kaum ein Instrument, mit dem sich die Diskussion von Themen jenseits ihrer ideologischen Zuschreibung strukturieren lässt. Eine Ausnahme bildet das Konzept der Kollektivsymbolik, mit dem es Jäger zumindest in den Einzelanalysen gelingt, rhetorische Muster herauszuarbeiten, die mit einzelnen Diskurspositionen verbunden sind. So macht er deutlich, dass sich die Kommentare zur Unterstützung einer militärischen Intervention bestimmter kulturell eingeführter Metaphern bedienen, in denen zum Beispiel binäre Schemata wie gut vs. böse oder geordnet vs. chaotisch zum Ausdruck kommen. Aber auch hier bleibt oftmals die Frage unbeantwortet, wie solche Kollektivsymboliken an den gesamten Diskurs angebunden sind. Fraglich ist weiter, wie stichhaltig die Idee der Kollektivsymbolik ist, Metaphern als politisch konnotierte Bedeutungsketten zu betrachten, die kulturell verfestigte Assoziationen hervorrufen, die historisch fest determiniert sind. Denn einerseits besteht die Gefahr einer semantischen Entkontextualisierung, da das „Wort keine so selbstständige Größe [ist], es erhält seine Bedeutung nicht nur aus seiner Geschichte, geschweige aus einer bestimmten epochalen Prägung, sondern ebenso sehr aus seinem aktuellen Gebrauch, durch den Sprecher, der es verwendet, und den Sinn, den er ihm in seinem konkreten Zusammenhang gibt“ (Pörksen 2005, 188). Andererseits kann diese Interpretationstechnik zu subjektiven Assoziationsketten anreizen, deren Stichhaltigkeit zweifelhaft ist – wie Jägers Interpretation, die Unterscheidung ‚Heißer Krieg‘ vs. ‚Kalter Krieg‘ rücke Krieg „symbolisch in die Nähe von Naturgewalten, gegen die man kaum gefeit ist“ (Jäger/Jäger 2002b, 157). (5) Die Aussagekraft der Analyseergebnisse. Die Problematik des Verzichts auf eine differenzierte Betrachtung des Diskursrahmens und dessen systematische Beschreibung wird bei der Interpretation der Analyseergebnisse überaus deutlich. Dieser abschließende Schritt soll, wie oben ausgeführt wurde, die Wirkung des Textes auf seine Leser ermitteln. Das ist ein nicht unproblematisches Vorhaben – was selbst Jäger (1999, 184) eingesteht, „da nicht davon auszugehen [ist], dass jeder Leser den Text so verstehen muss, wie er vom Analysierenden entschlüsselt worden ist“. Dennoch nimmt er bei der Interpretation auf diese Binsenweisheit keine Rücksicht, sondern legt vielmehr „einen linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen der Medienberichterstattung und ihrer Wirkung auf die Rezipierenden dieses Diskurses nahe“ (Bührmann 2005, 237). Unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten hätte er bei der Analyse mindestens zwischen dem Berichten über mögliche Strategien der Konfliktlösung und ihrer Kommentierung unterscheiden müssen. Daran anschließend hätte er klären können, welche Strategien aus anderen Diskursbereichen in die Berichterstattung Eingang gefunden haben. Fraglich bliebe damit allerdings, inwieweit sich mittels einer Diskursanalyse Aussagen über die direkten diskursiven Effekte treffen lassen, die Diskurse auf die Gesellschaft haben. Der Hinweis, sie stellten ‚Applikationsvorgaben‘ zur Verfügung, wird so in der Interpretation der Analy-
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seergebnisse seinerseits zu einem Gemeinplatz, der vielfältigen Spekulationen Vorschub leisten kann. In seiner Einführung KRITISCHE DISKURSANALYSE erhebt Jäger den Anspruch mit seinem Modell „eine Auffassung von Diskurs“ zu vertreten, die „einen entscheidenden Perspektivenwechsel gegenüber allen widerspiegelungstheoretisch argumentierenden sozial- und sprachwissenschaftlichen Ansätzen markiert: Dem Diskurs wird damit ein völlig anderer Stellenwert beigemessen, da er selbst als gesellschaftliche und Gesellschaft bewegende Macht (Kraft, Power) verstanden wird“ (Jäger 1999, 23). Jäger möchte also die sozial-konstruktive Dimension von Kommunikation herausstellen (womit er sich mittlerweile allerdings längst im Mainstream der Sozial- und Kulturwissenschaften bewegt). In der Beispielanalyse zeigt sich jedoch, dass ihm genau dies nicht befriedigend gelingt, weil die Beschreibung zu stark an die eigene Diskursposition – hier: die radikale Ablehnung jeglicher Form von militärischer Intervention – gebunden bleibt. Obwohl Jäger konstatiert, die Wahrheit sei in der politischen Auseinandersetzung immer nur als Produkt diskursiver Praktiken zu verstehen, zielt seine Kritik an den Protagonisten des Kriegsdiskurses im Kern darauf ab, ein politisch ‚falsches Bewusstsein‘ vom Krieg zu vertreten. Um die weite Verbreitung dieses ‚falschen Bewusstseins‘ deutlich zu machen, ist Jäger gezwungen, aus einer Defensivposition heraus immer wieder externes Diskurswissen in die Analyse einfließen zu lassen. Diese Vorgehensweise dient nicht nur dazu, die eigene Position zu stützen. Sie hat vielmehr zur Folge, dass sich die Analyse wie der ohnmächtige Versuch liest, dem medialen Mainstream einen eigenen politischen Deutungsrahmen entgegenzusetzen. Dieses Vorgehen mag in Jägers ‚kritischem‘ Wissenschaftsverständnis begründet sein. In der Folge manifestiert sich darin jedoch ein antiquierter Ideologiebegriff, in dem Diskurse dann doch „gleichsam als Werkzeug von Ideologie, als Produkte, Effekte von Ideen gesehen werden, denen eine ›Realität‹ gegenübersteht, die sie verschleiern sollen (und dabei ›falsches Bewusstsein‹ produzieren)“ (Hirseland/Schneider 2001, 394). Auf diese Weise verschenkt Jäger einen Großteil des Potenzials seiner Analysemethode. Es liegt darin, mediale Diskurse als ereigniszentrierte, thematisch kontextualisierte Kommunikationsverläufe zu beschreiben, in denen gesellschaftliche Wissensbestände festgeschrieben und verändert werden.
MARTIN WENGELER Das Diskursmodell Siegfried Jägers wurde im letzten Kapitel hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Erschließung und Strukturierung des diskursiven Materials betrachtet. Fast unberücksichtigt blieb dabei die Frage, auf welche sprachlichen Einheiten sich die Analyse beziehen soll: Welche sprachlichen Elemente sind es, an die gebunden Diskurse in verschiedenen Strängen durch die Zeit fließen? In Foucaults Archäologie setzen sich Diskurse aus einzelnen ‚Aussagen‘ zusammen, die aufzufinden der grundlegende Teil jeder Diskursanalyse ist. Obgleich Foucault später eingestanden hat, dass solche Aussagen die linguistische Gestalt von Sprechakten haben können, ist und bleibt ‚die Aussage‘ eine problematische Kategorie seiner Diskursanalyse. Als ‚Sprechakte‘ lassen sich Aussagen nur in dem Sinne bezeichnen, wie sie sprachliche Handlungsschritte darstellen. Für eine Typisierung der Aussagen eignet sich die Sprechakttheorie hingegen nicht, da sich die komplexen Prozesse der diskursiven Ausbildung von Bedeutungen nicht über eine schlichte Kategorisierung als sprachliche Handlungstypen einfangen lassen. Das ist nicht nur zu einer Grundüberlegung fast jeder linguistischen Gesprächsanalyse geworden (vgl. Levinson 1990, 277ff.), auch Foucault hält es ja für unmöglich Aussagen als die kleinsten Einheiten eines Diskurses substanziell zu fixieren. Deshalb beschreibt er sie als ‚Existenzmodalität‘, womit letzten Endes gemeint ist, dass sich Aussagen nur im Kontext eines existierenden Diskurses bestimmen lassen, wo sie in ‚ähnlicher Gestalt‘ auftreten. Überzeugen kann Foucaults Beschreibung der Aussage als Existenzmodalität nur soweit, wie es um die Ausarbeitung eines generellen diskurstheoretischen Modells geht. Für die tatsächliche Durchführung einer Analyse werden hingegen konkretere Identifikationsmerkmale benötigt. Diese müssten zum Beispiel folgende Fragen auflösen können: Wie lassen sich Aussagen überhaupt als Elemente identifizieren, die einen Diskurs konstituieren; wie soll man bei ihrer Auswertung verfahren; wie lassen sich verschiedene Aussagen zueinander in Beziehung setzen; woran ist zu erkennen, dass zwei Aussagen einem Diskurs zugerechnet werden können? Foucaults Archäologie bleibt forschungspraktische Antworten auf diese Fragen wohl auch deshalb schuldig, weil sie als theoretische Rekonstruktion bereits vollendeter empirischer Arbeiten entstanden ist, sodass diese eher pragmatischen Fragen zu diesem Zeitpunkt für Foucault bereits ad acta gelegt waren. In seinen historischen Diskursanalysen hatte er sie eher intuitiv gelöst, weshalb die „methodische Struktur [dieser Arbeiten] zu sehr mit seiner eigenen Kongenialität verknüpft ist, als dass sie als allgemeine Richtschnur [zur Lösung des Aussageproblems] gelten“ könnten (Busse 1987, 241).
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Hierin liegt ein Grund, weshalb Fairclough und Jäger in diesem Punkt bei der Ausarbeitung ihrer jeweiligen diskursanalytischen Methode relativ losgelöst von Foucault operieren. Beide raten übereinstimmend dazu, diverse linguistische Analyseverfahren zur Anwendung zu bringen – Fairclough bezieht sich besonderes auf die Soziolinguistik Michael A. K. Hallidays (1979), Jäger stark auf Jürgen Links Modell der Kollektivsymbolik. Ein zweiter Grund für das Offenhalten des Aussageproblems hängt mit dem allgemeinen Anspruch ihrer Modelle zusammen. Beiden Autoren ist daran gelegen, methodische Hinweise zur Erschließung eines breiten Spektrums von Diskursen zu entwerfen, das sich in dem gesamten Feld zwischen direkter und audiovisueller Kommunikation bewegt. Nicht zuletzt ist ein dritter Grund für ihr Vorgehen in der Art und Weise der Adaption des Diskursbegriffs zu sehen. Fairclough und Jäger ersetzen Foucaults Konzept des Diskurses als prozessuales Zusammenspiel von diskursiver Formation und Aussage durch eigene Spielarten; so verschieben sich bei ihnen die analytischen Probleme. Der sprachgeschichtlich ausgerichtete Linguist Martin Wengeler entwickelt in seiner Habilitationsschrift TOPOS UND DISKURS. BEGRÜNDUNG EINER ARGUMENTATIONSANALYTISCHEN METHODE UND IHRE ANWENDUNG AUF DEN MIGRATIONSDISKURS (2003) eine Methode, deren Kern die systematische Verbindung von Diskursen und klar zuschreibbaren Aussageformen bildet und die einen Weg zur Lösung des Aussageproblems aufzeigt. Wengelers Idee liegt darin, zwei Analysetraditionen zu verschmelzen: Diskurs- und Toposforschung. Die Idee der Verbindung von Diskurs- und Toposanalyse ist nicht gänzlich neu, schon der Altphilologe und Topik-Forscher Lothar Bornscheuer (1989, 25) plädiert in einem Überblicksartikel zur Toposforschung aus dem Jahre 1987 für eine Zusammenführung seines Fachgebietes mit „einer ›Archäologie‹ im Sinne Foucaults“, und auch neuere diskursanalytisch ausgerichtete Arbeiten messen topischen bzw. rhetorischen Aspekten eine besondere Rolle zu (vgl. Franz 2000; Landwehr 2001). Das Besondere an Wengelers Habilitationsschrift ist der Entwurf einer sprachtheoretisch fundierten Diskurstopik, die in eine breite Darstellung diskurs- und toposanalytischer Verfahren eingebunden ist und die an einer historisch ausgerichteten Analyse des Migrationsdiskurses in bundesrepublikanischen Tageszeitungen vorgeführt wird. Diesem Kapitel fällt damit die Aufgabe zu, die Lücke zu schließen, die Jäger und Fairclough bezüglich der Lösung des Aussageproblems gelassen haben. Wengelers Adaption der Toposanalyse zeigt eine Verfahrensweise auf, mit der sich in printmedialen Diskursen Aussagen auffinden und als jene Elemente identifizieren und beschreiben lassen, die einen Diskurs konstituieren. Die so entstehende Historiografie von Argumentationsmustern ist ihrerseits an eine bestimmte Sichtweise auf Diskurse gebunden. Sie erwächst aus der Erweiterung des Analyserahmens von der Sprach- zur Diskursgeschichte und wird zunächst in ihrer diskurstheoretischen Grundierung aufgezeigt.
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Von der Sprach- zur Diskursgeschichte Wengelers Ausgangspunkt ist die Begriffsgeschichtsschreibung der „historischen Grundbegriffe“ von Reinhard Kosselleck et al. (Brunner/Conze/Koselleck 1972ff.). Deren größtes Defizit sieht Wengeler (2003, 14) in der zu strikten Abtrennung der Begriffsgeschichte von der Sachgeschichte, worin eine „objektivistische Sprachauffassung“ zum Ausdruck komme. Nach Wengelers Auffassung spiegeln oder repräsentieren Begriffe nicht einfach eine äußere Realität, die unabhängig von ihnen existiert, sondern konstituieren diese gleichsam mit. Deshalb könne historische Sprachforschung nicht auf die Analyse einzelner, separierter Begriffe reduziert werden, sondern müsse deren konkreter Verwendung Rechnung tragen. Wengeler fordert mit anderen Worten ein, dass – so wie Teile der Geschichtswissenschaft einen linguistic turn vollzogen haben – sich die Begriffsgeschichte stärker historischen und sozialen Aspekten zuwenden muss, wenn sie die Komplexität von Bedeutungsbildungsprozessen adäquat abbilden will. Die Suche nach Ansatzpunkten für ein sprachtheoretisches Konzept, das seinen Ansprüchen an die historische Semantik gerecht wird, führt Wengeler zu geschichtswissenschaftlichen Ansätzen, die dem sozialkonstitutiven Element von Sprache Rechnung tragen. Dazu gehören auch diskursanalytische Ansätze wie Foucaults Archäologie, die für Wengeler (2003, 82) aber nur insofern von Interesse ist, wie sie die „Selbstverständlichkeiten im Denken und Argumentieren zu einem Thema untersucht“. Da Wengeler eine Vielzahl sprachzentrierter historischer Forschungsprojekte referiert, bleiben die Auseinandersetzungen mit den einzelnen Ansätzen notgedrungen auf einige zentrale Punkte beschränkt – zumal die Strategie seines Vorgehens weniger der produktiven Aneignung oder Abgrenzung dient als vielmehr der Verortung seines Ansatzes im Feld der bestehenden Forschung. Das macht sich insbesondere bei der Foucault-Rezeption bemerkbar, die gemessen an der Komplexität Foucaults oberflächlich bleibt und deren Sichtweise von Sekundärliteraturen überlagert ist. Durch letztere hält Foucaults Archäologie dann allerdings doch wieder Einzug – und zwar nachhaltiger, als das in Wengelers Foucault-Kapitel den Anschein hat. Wengelers Verbindung von Diskurs- und Argumentationsanalyse geschieht im Wesentlichen in Anlehnung an die Arbeiten der Sprachhistoriker Dietrich Busse und Fritz Hermanns, von denen sich besonders Busse sehr stark auf Foucault bezieht. Ihre dramaturgische Platzierung am Ende des Kapitels zur Sprach- und Begriffsgeschichte verdeutlicht die Bedeutung für Wengelers Konzeption von TOPOS UND DISKURS. Sie enthalten den Ansatz des zuvor skizzierten Aussageproblems.
Diskurssemantik Im Grunde genommen ist Dietrich Busses 1987 erschienene HISTORISCHE SEMANTIK das eigentliche Theorieprojekt, auf das Wengeler aufsetzt. Busse entwickelt darin eine theoretische und methodische Grundlegung zu einer systematischen geschichtlichen Sprachforschung, die bei den Anfängen der Begriffsgeschichte als philosophisch und historisch ausgerichtete Disziplin
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ansetzt. Ausgehend von einem Verständnis von Sprache als kommunikativem Handeln, d.h. auf Sinn ausgerichtete kommunikative Praktiken, erweitert Busse die traditionelle Begriffsgeschichte insbesondere durch die Einbeziehung zweier Autoren: Wittgenstein und Foucault. Die Bedeutung von Wittgensteins später Sprachphilosophie für die Erarbeitung einer historischen Semantik macht Busse (1987, 205) daran fest, dass auf Wittgenstein zwei entscheidende Grundlagen der linguistischen Pragmatik zurückgehen: der „Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen“ und „die Einbindung kommunikativer Handlungen in einen allgemeinen Handlungskontext“. Hierbei handle es sich um elementare sprachphilosophische Grundlagen, die Wittgenstein in den Begriff des Sprachspiels eingeflochten habe. Für Busse enthält das Modell des Sprachspiels darüber hinaus eine grundsätzliche Vorstellung davon, wie Kommunikation organisiert ist: als ein System verschiedener Kommunikationsrituale, die aus internalisierten Handlungsmustern bestehen, die sich in ihrem Vollzug immer wieder neu bilden und als gesellschaftliche Konventionen fortschreiben. Und der Prozess der Bestätigung und Neubildung von Konventionen ist in einen umfangreichen Kontext eingebunden, ohne dessen Berücksichtigung er nicht verstanden und erklärt werden könne. Für die sprachgeschichtliche Methodik zieht Busse aus diesen Erkenntnissen Wittgensteins zwei entscheidende Rückschlüsse. Erstens muss eine historische Semantik die potenzielle Einzigartigkeit kommunikativer Handlungen anerkennen, die sich nur bedingt in übergreifende Schemata pressen lassen, und zweitens muss sie die Kontextgebundenheit realisierter Sprechakte berücksichtigen, die für den Akt der Bedeutungskonstitution maßgeblich ist. Beides ist für Busse nur dann möglich, wenn sich die historische Semantik als ein hermeneutisches Verfahren begreift. Diese Anforderungen fügen sich für Busse nicht reibungslos in Foucaults Archäologie ein, die er deshalb nur mit Einschränkungen als Blaupause bei der Erstellung einer historischen Semantik für gebrauchsfähig erachtet: Diskursanalyse, als Offenlegen von Feldern, Konnexen von Sinn, kann sich nicht, wie Foucault es darstellt, als Aufzeigen quasi-objektiver ›Positivitäten‹ vollziehen. Sie verbleibt, ihm entgegen, im Bereich der Interpretation, d. h. des Verstehen von Zusammenhängen. (Busse 1987, 250)
Des Weiteren kritisiert Busse an Foucaults Archäologie einen zu strukturalistischen Sprachbegriff, der den Anforderungen einer Diskursanalyse als einer „Analyse des Sprechens als Praxis“ (246) nicht gerecht werde. Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit vorgenommenen Foucault-Lektüre, erscheint es angebracht, dazu kurz Stellung zu beziehen. Obwohl Busse (als einer der ersten deutschsprachigen Autoren) die Argumentation der Archäologie detailliert und verständlich nachvollzieht, verkennt auch er die Verschiebungen, die Foucault in seiner Diskursanalyse vornimmt. Busse liest Foucault als einen Theoretiker, der sich (so ließe sich mit Anspielung auf die FoucaultRezeption von Dreyfus/Rabinow sagen) ‚diesseits von Strukturalismus und Hermeneutik‘ bewegt. Nur so ist zu erklären, warum Busse zwar die Ambivalenzen in Foucaults Sprachbegriff sieht, andererseits jedoch zu der sonder-
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lichen Einschätzung kommt, Foucault habe Wittgensteins Sprachphilosophie „wohl nicht wahrgenommen“ (246). Wie bereits im Foucault-Kapitel ausgeführt wurde, lässt schon die Übernahme einiger zentraler Begriffe wie ‚Ähnlichkeiten‘ oder , Spiel‘ darauf schließen, dass Foucault sowohl bei der Ausarbeitung der Archäologie als auch bei später vorgenommenen Modifikationen auf Wittgensteins Sprachphilosophie zurückgegriffen haben muss. Deshalb ist Busse sehr viel dichter bei Foucault, als es ihm bewusst ist, wenn er einen analytischen Diskursbegriff vorschlägt, der wie ein komplexes Sprachspiel strukturiert ist, mit dem jedoch nicht die „Perspektive des Individuums“, sondern „die eigene Gültigkeit überindividueller Bedingungen, Strukturen, Regelmäßigkeiten zum Ausdruck“ gebracht werden soll (257). Für die Ausarbeitung eines Analysemodells folgert Busse daraus (und erkennt zugleich, dass er hier wieder mit Foucault zusammengeht), dass es nicht allgemeingültig und vollständig im Voraus formuliert werden könne, sondern nur mit Bezug auf die konkrete empirische Arbeit, die durch die Fragestellung, den zu untersuchenden Diskurs, den ins Auge gefassten Zeitraum etc. bestimmt werde. Das Ziel seiner Ausführungen sieht er darin, „Ansätze einer Diskurssemantik“ zu erstellen, mit Hilfe derer sich Ausgangs- und Zielpunkte der Analyse beschreiben lassen. Den Ausgangspunkt bzw. die „Grundeinheit“ bildet dabei die einzelne kommunikative Handlung als einzelne „sprachliche Äußerung […], die zum Ziel hat, bei einem oder mehreren Adressaten Sinn zu konstituieren“ (258). Der Sinn einer Äußerung kann unter diskurssemantischen Gesichtspunkten also nicht aus dem Verhältnis zwischen einem Wort oder einem Satz und einer allgemein damit verbundenen Bedeutung oder Idee erschlossen werden, wie das in ursprünglichen Verfahren der Begriffsgeschichte versucht wird. Vielmehr muss für Busse „der Sinn einer sprachlichen Äußerung (in seiner historischen Dimension) erst durch eine regulierte Transformation erschlossen und beschrieben werden“ (260). Mit anderen Worten kann die Frage nach der Identifikation von Aussagen nur mit Blick auf den jeweiligen Diskurs beantwortet werden, den es zu beschreiben gilt. Der Diskursanalyse falle die Aufgabe zu, „hinterfragbare Kriterien anzugeben, nach denen bestimmten Texteinheiten bestimmter Sinn zugeordnet“ werden kann. Diese Kriterien beziehen sich in Busses Konzeption von Diskurssemantik auf vier hierarchische Ebenen: den einzelnen kommunikativen Akt, die thematische Strukturierung einzelner Äußerungen in einzelnen Texten, den damit zusammenhängenden (außertextuellen) Sinnkontext und den erweiterten Sinnkontext der Epoche, in den die Äußerung fällt. Fritz Hermanns’ Aufsatz über SPRACHGESCHICHTE ALS MENTALITÄTSGESCHICHTE (1995) unterbreitet einen Vorschlag für eine forschungspraktische Umsetzung von Busses Programm der historischen Semantik. Dass Hermanns Ausführungen, wie am Titel ersichtlich ist, auf Mentalitätsgeschichte abzielen, ist für Wengeler insofern von Interesse, als auch er den empirischen Teil seiner Arbeit als Beitrag zu einer Mentalitätsgeschichte begreift (worauf zum Ende dieses Kapitels zurückzukommen sein wird). Für die grundsätzliche Anwendung von Busses konzeptioneller Diskurssemantik auf ein Forschungsprogramm ist dies jedoch sekundär. Entscheidend ist zunächst, dass es hier um einen Zugriff auf Sprache geht, der unter historischen Gesichtspunkten geschieht. Sprach- oder Begriffsgeschichte ist für Hermanns als Dis-
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kursgeschichte zu konzipieren, weil sich mit dem Diskursbegriff drei Aspekte ausdrücken lassen, die zu einer effektiven Präzisierung der historischen Analyse von Semantik führen. Sie beziehen sich auf ein Verständnis von Diskurs als (1) Textgeflecht, als (2) Dialog zu einem Thema und als (3) Untersuchungskorpus. (1) Textgeflecht. Die Kennzeichnung eines Diskurses als ‚Textgeflecht‘ soll zum Ausdruck bringen, „dass die Sprachgeschichte die Zusammenhänge mitbedenken muss, in denen ihre Quellentexte stehen“ (87). Darin löst sich Busses Forderung auf, Sprachgeschichte nicht als isolierte Analyse entkontextualisierter und somit letztlich ahistorischer Begriffe zu betreiben, sondern Texte im Zusammenhang ihrer sprachlichen Verwendung zu betrachten. Der Terminus ‚Textgeflecht‘ verdeutlicht die einfache Tatsache, dass das Wissen eines einzelnen Textes für sich genommen niemals sinnvoll erscheinen kann, sondern erst im Zusammenspiel mit anderen Texten eine kulturelle Bedeutung erlangt. (2) Dialog zu einem Thema. Auf die kontextuellen Zusammenhänge der Sprache weist auch die zweite Kennzeichnung eines Diskurses hin. In der Umschreibung eines Diskurses als thematisch ausgerichteter Dialog soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Texte durch thematische und intertextuelle Beziehungen verbunden sind. Während der Verweis auf die thematische Bindung hier nicht noch einmal ausgeführt werden muss, da er auf ein analytisches Defizit innerhalb einiger Bereiche der historischen Semantik abzielt, ist die Hervorhebung der intertextuellen Komponente durch Hermanns von Interesse, weil sie eine diskursanalytische Erweiterung des Intertextualitätsbegriffs aus historiografischer Perspektive darstellt. Hermanns führt die intertextuelle bzw. dialogische Verbindung von Texten nicht wie üblich primär unter texttheoretischen, kulturkritischen oder deskriptiven Gesichtspunkten an, sondern sieht sie als Ausdruck ihrer Geschichtlichkeit: Diskurs bedeutet auch im Kontext der historischen Semantik eine Art Gespräch; zunächst ein Zeitgespräch. Also die Diskurse sind zunächst die Zeitgespräche. Für die Sprachgeschichte geht es darum, sich in diese Zeitgespräche sozusagen einzuhören. Quellentexte sind für sie Fragmente der in ihrer Ganzheit nicht mehr existenten Zeitgespräche. Außer durch das Thema sind die Texte des Diskurses daher auch noch dadurch intertextuell verbunden, dass der eine Text die Antwort auf den andern sein kann. (Hermanns 1995, 88)
(3) Untersuchungskorpus. In der Betonung der zeitgeschichtlichen Bindung eines Diskurses steckt ein Hinweis auf die Frage nach der Repräsentativität von Diskursen, auf die sich die dritte Kennzeichnung als ‚Untersuchungskorpus‘ bezieht. Mit diesem Punkt hebt Hermanns darauf ab, dass ein Diskurs unter forschungspraktischen Gesichtspunkten das Ergebnis einer wissenschaftlichen Praxis ist, bei der es letztlich dem Wissenschaftler obliege, „die Grenzen des Diskurses, den wir untersuchen wollen, je nach unserem Interesse und nach unseren Möglichkeiten weiter oder enger abzustecken, wenn auch von der Sache her die Willkür ihre Schranken findet“ (89). Mit anderen Worten setzt die hermeneutische Arbeit der Diskursanalyse spätestens bei der Auswahl der Quellen ein, aus denen in der Analyse ein Diskurs konstruiert
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wird. Hermanns führt diesen Aspekt nicht an, um auf ein limitiertes Geltungspotenzial der Diskursanalyse hinzuweisen. Es geht ihm vielmehr darum, deutlich zu machen, dass in dieser Begrenzung ein Vorteil der diskursanalytischen Methode liegt. Zum einen wird so deutlich, dass die Kommunikationen der Vergangenheit generell nur als Spuren zugänglich sind, zum anderen ein Weg aufgezeigt, wie sich das Material analytisch bewältigen lässt. Dazu bedarf der Prozess der Korpusbildung allerdings einer gewissen Form der Systematisierung. Mit Rückgriff auf Busse/Teubert (1994) gliedert Hermanns die Korpusbildung in drei Phasen: imaginäres Korpus (als die Gesamtheit der Texte, die einen Diskurs quantitativ vollständig abbilden würden), virtuelles Korpus (als die Menge aller noch erhaltenen Texte, in denen ein Diskurs abgebildet wird) und konkretes Korpus (die tatsächlich ausgewerteten Texte).
Topoi als Zugriffsobjekte auf Diskurse Wie verknüpft Wengeler nun die Ansätze von Busse und Hermanns zu einem argumentationsanalytischen Modell von Diskursanalyse? An Busses Programmatik der historischen Diskurssemantik sind für Wengeler (2003) zwei Punkte zentral. Erstens werde darin deutlich, dass sich der Diskursbegriff nicht nur auf die großen, übergeordneten „sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen“ beziehe, sondern eine generelle Beschreibung von Kommunikationsprozessen beinhaltet, mit der „in jedem einzelnen kommunikativen Akt Bedeutung und das heißt auch ›Wirklichkeit‹ konstituiert wird“ (162). Mit anderen Worten ist der semantische Gehalt einer Äußerung nicht bloß die Folge der Ordnung eines übergeordneten Diskurses, sondern wird ebenfalls von der jeweiligen Interaktionssituation geprägt, in der die Kommunikation vollzogen wird. Zweitens zeige Busse, „dass die Bedeutung sprachlicher Zeichen zwar in einzelnen kommunikativen Akten konstituiert wird, dass aber intersubjektives Verstehen nur durch die Annahme verstehbar ist, dass in jeden einzelnen Bedeutungskonstitutionsakt auch gleich bleibende Elemente einfließen“ (158). Entscheidend hinsichtlich des Zusammenspiels von Diskursen und Topoi ist der zweite Punkt, der besagt, Kommunikation werde durch die Wiederaufnahme „gleich bleibender Elemente“ in einen übergreifenden Rahmen gestellt. Diesen Grundmodus sprachlicher Prozesse bringt Wengeler nun mit Hermanns Kennzeichnung von Diskursen als Textgeflechte zusammen. Danach realisiere sich ein Diskurs zwar als ein Ensemble von Texten, der diskursive Zusammenhang zwischen den einzelnen Texten entstehe jedoch erst durch beschreibbare diskursive Partikel oder Elemente, die über den gesamten Textkorpus verteilt sind. Diskursanalyse müsse nun plausibel darlegen, welche sprachlichen Elemente besonders dafür in Frage kommen, diese diskurskonstituierende Funktion zu übernehmen. An dieser Stelle kommt die Argumentationsanalyse ins Spiel, der Wengeler das Vermögen zuspricht, diese Partikel identifizieren zu können: Mit der Argumentationsanalyse soll zumindest z.T. der Anspruch der Diskurssemantik eingelöst werden, über etablierte linguistisch-semantische Methoden hinaus Aussagen und Aussagennetze in Texten zu erfassen, Implikationen und Präsuppositionen des konkret Gesagten einzubeziehen. (Wengeler 2003, 168)
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Wengeler folgt damit einer Überlegung der Diskurssemantik von Busse und Teubert (1994, 23), nach der Argumentationsanalyse über die Beschreibung von Argumentationsmustern eine „Art von ›Tiefensemantik‹“ zu entschlüsseln helfe, die „das Nicht-Gesagte, nicht offen Ausgesprochene, nicht in den lexikalischen Bedeutungen explizit artikulierte Element von Satz- und Textbedeutungen“ betreffe. Analytisch gesehen, lassen sich Topoi somit auch als die „Zugriffsobjekte“ (Wengeler 2003, 168) kennzeichnen, die dem Forscher überhaupt erst einen Zugang zu den Bedeutungsbildungsprozessen des Diskurses eröffnen. Als solche ‚Zugriffsobjekte‘ sollen Argumentationsformen als wiederkehrende, aufeinander bezogene Kommunikationsmuster zwischen den isolierten Texten eines Textkorpus Übereinstimmungen und Unterschiede deutlich machen. Für die Erarbeitung eines argumentationsanalytischen Modells ergibt sich daraus die Notwendigkeit, eine Systematik zu finden, die es möglich macht, die verstreuten Äußerungen, die sich in Texten auffinden lassen, in vergleichbare Argumente zu überführen und so zu systematisieren.
Toposanalyse Bisher wurden die Begriffe ‚Topos‘ und ‚Argument‘ synonym angeführt, womit bereits auf Wengelers Verwendung des Toposbegriffs vorgegriffen wurde. Diese Gleichsetzung ist keinesfalls selbstverständlich, da ‚Topos‘ im wissenschaftlichen Sprachgebrauch „polysem“ (Wengeler 2003, 175) verwendet wird. Die Polysemie des Toposbegriffs ist allerdings keine Folge der Ausdifferenzierung des modernen Wissenschaftssystems, schon in der antiken Rhetorik wird der Begriff mit verschiedenen Inhalten gefüllt. Lothar Bornscheuers grundlegende Studie zur TOPIK (1976) verdeutlicht dies anhand des Bedeutungswandels, den die Topik im Kontext ihrer „historischen Grundlegung“ im Übergang von Aristoteles zu Cicero erfahren hat. In der Geschichte wurden diese Ansätze aufgenommen und verändert, was zu einer Reihe weiterer historischer Konzepte führte wie die mittelalterliche oder die barocke Topik (vgl. Ueding/Steinbrink 1994). Da sich Wengeler direkt auf Aristoteles Schriften zur Topik und Rhetorik und deren Weiterentwicklung innerhalb der germanistischen Linguistik bezieht, müssen die verschiedenen Spielarten der Topik im Folgenden jedoch nicht weiter berücksichtigt werden.
Toposanalyse als Argumentationsanalyse Ins Deutsche übersetzt, bezeichnet das griechische Wort tópos einen ‚Ort‘; die Topik, als Teildisziplin der Rhetorik, die sich mit der „Lehre von den Topoi“ beschäftigt, fragt danach, wo in der Sprache der Ort zu finden ist, an dem die Argumente angesiedelt sind bzw. an dem sie ihren Ausgang nehmen (Bußmann 1990, 794; 797). Aristoteles (1980, 14) hat zur Kennzeichnung dieses Ortes den Begriff des Enthymems gewählt, der sich als „Schlussverfahren“ übersetzen lässt. Ein Topos, als Enthymem verstanden, ist demnach ein Argumentationsverfahren, das aus „einem Dreischritt aus Argument, Schlussregel und Konklusion“ besteht:
MARTIN WENGELER | 105 Eine strittige Aussage (die Konklusion) wird dadurch glaubhaft, überzeugend gemacht, dass ein Argument, eine unstrittige Aussage vorgebracht wird. Deren Überzeugungskraft für die Plausibilität der die Konklusion bildenden Aussage wird garantiert durch das, was seit Toulmin (1975, 89) Schlussregel heißt. (Wengeler 2003, 179)
Ein Topos bezeichnet in der modernen, argumentationsfokussierten Rhetorik eine Schlussregel, die den Kern eines jeden Argumentationsvorgangs bildet, da sie „die Relevanz des Arguments […] garantieren und somit rechtfertigen soll, dass vom Argument auf die Konklusion geschlossen werden darf“ (Kienpointner 1992, 18). Das Muster eines argumentativen Topos lässt sich grafisch in seiner Grundform wie in Abbildung 3 darstellen. Abbildung 3: Einfaches Argumentationsschema Argument
Konklusion
Schlussregel
Vgl. Toulmin (1975, 90) Dieses Schema drückt die rudimentäre Form einer Argumentation aus. In der Literatur zur modernen Rhetorik existiert eine Reihe von Weiterentwicklungen dieses Schemas (Kienpointner 1992, 22ff.), deren bekanntestes wohl das von Toulmin (1975, 86ff.) ist, in dem die Schlussregel in die Variablen „Rechtfertigung“ und „Stützung der Rechtfertigung“ aufgespalten ist und die Konklusion zusätzlich einen „Qualifikator“ besitzen kann, der gegebenenfalls Ausnahmebedingungen ihrer Geltung definiert (vgl. Bayer 1999, 144). Für Wengelers Vorhaben sind weitergehende Differenzierungen des Schemas jedoch nicht notwendig, da er das analytische Unterscheidungspotenzial der Toposanalyse nicht von einem abstrakten Modell abhängig machen will, sondern über die empirische Bestimmung ‚angemessener‘ kontextspezifischer Topoi (s.u.) zu erreichen versucht. Wichtig ist zunächst, dass die Beziehung zwischen Argument und Konklusion nicht beliebig ist: „Es muss vielmehr ein ›sinnvoller‹ inhaltlicher Zusammenhang zwischen Argument und Konklusion bestehen“ (Kienpointner 1992, 20). Genau dieses Verhältnis, also die Schlussregel, ist es, worauf sich das diskursanalytische Interesse Wengelers richtet. Gegen eine konkretere modellhafte Verfeinerung des Argumentationsprozesses spricht ein Umstand, der bei der empirischen Betrachtung alltäglicher Argumentationen schnell deutlich wird: Eine Argumentation lässt sich im realen Sprachgebrauch selbst in der oben beschriebenen, rudimentären Form als Dreischritt von Argument, Schlussregel und Konklusion nur äußerst selten auffinden. Zumeist wird die Schlussregel übersprungen und bleibt da-
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mit implizit oder es wird lediglich das Argument oder die Konklusion angeführt, weil die vollständige Argumentation innerhalb des Kommunikationsvorgangs als bekannt vorausgesetzt wird (Ottmers 1996, 74f.). Da sich Wengelers diskursanalytisch ausgerichtete Analyse der Topoi nur auf die Schlussregeln konzentriert, die als jene Elemente gelten, mit denen Diskurse konstituiert werden, ergäbe es wenig Sinn, für jeden Argumentationsvorgang alle Schritte offenlegen zu wollen. So beschränkt sich die Aufgabe der methodischen Ausrichtung der Analyse darauf, Schlussregeln aufzufinden, die „interpretativ aus den sprachlich realisierten Bestandteilen der Argumentation erschlossen werden“ können (Wengeler 2003, 181). Hinzu kommt, dass Aristoteles’ Beschäftigung mit der Topik die Anerkennung des gesellschaftlichen Wissens- und Kommunikationsbereichs der Doxa, also der allgemeinen öffentlichen Meinung, zugrunde liegt. Damit verbunden ist gleichsam ein Vorverständnis davon, welche Anforderungen an die Sprache in einem solchen Kommunikationsraum gestellt werden können. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Rede, deren Argumentationsformen, die Syllogismen, in der Aristotelischen Argumentationstheorie den Kriterien der Logik gefallen müssen, unterliegt die öffentliche Auseinandersetzung weniger exakten Anforderungen. Denn sie zielt nicht auf letzte Wahrheiten ab, sondern richtet sich an ein konkretes Publikum, das es nach Möglichkeit zu überzeugen gilt. Deshalb fragt die Topik „nach den möglichen Bedingungen einer gegebenen Problemstellung, also nach den Prämissen, die Logik jedoch nach den notwendigen Folgerungen aus gegebenen Prämissen“ (Bornscheuer 1976, 30). Dennoch steht die Topik bei Aristoteles in einer gewissen Nähe zu logischen Argumentationsformen. Aber während es bei einem typischen Syllogismus möglich sein muss, aus der Wahrheit der Prämissen auf die Wahrheit der Konklusion zu schließen, handelt es sich bei den Argumentationsverfahren der öffentlichen Rede, den Enthymemen, um „rhetorische Syllogismen“ (Aristoteles 1980, 1356b). Sie lassen sich als „quasi-logische oder alltagslogische Schlussverfahren [bezeichnen], die auf Wahrscheinlichkeiten, auf Plausibilitäten zielen“ (Wengeler 2003, 178). Toposanalyse als Argumentationsanalyse zu konzipieren, bedeutet somit, nach Wegen zu suchen, wie sich Argumentationen auffinden lassen, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie in der öffentlichen Diskussion auf ein gewisses Maß an Zustimmung hoffen können, weil sie Denkweisen repräsentieren, die allgemein für plausibel gehalten werden. Dabei ergibt sich allerdings eine wesentliche Differenz zu den Anfängen der Topik. Der antiken Toposlehre war daran gelegen, über den Toposbegriff Kriterien zu entwickeln, die sich als konkrete Hilfestellungen für das Argumentieren, beispielsweise in einer öffentlichen Rede, verwenden lassen. Die antike Rhetorik ist deshalb insgesamt auf den Orator bzw. die Produzentenseite der Kommunikation hin orientiert. Wengelers diskursanalytischer Ansatz zielt im Gegensatz dazu auf eine interpretative Anwendung des Toposbegriffs „im Sinne einer rhetorischen Hermeneutik“ (Ottmers 1996, 86). Dabei geht es Wengeler (2003, 179) darum, „in den Stellungnahmen zu einem öffentlichpolitischen Thema […] die verwendeten Argumentations- bzw. Schlussmuster“ aufzufinden und „hinsichtlich ihrer zeit- und gruppenspezifischen Verteilung“ zu bestimmen.
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Argumentative und nicht-argumentative Topoi Mit der Konzentration der Toposanalyse auf das Auffinden von Schlussregeln, grenzt sich Wengeler deutlich von einem großen Feld der ToposForschung ab. Die lange Tradition der Topik, die, aus der Antike kommend, im 18. Jahrhundert allmählich abbricht, erlebt zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer Neuentdeckung der Rhetorik eine Renaissance (Ottmers 1996, 5). Im deutschen Sprachraum ist daran maßgeblich die Literaturwissenschaft beteiligt, deren Topik-Rezeption insbesondere durch das Buch des Romanisten Ernst Robert Curtius über EUROPÄISCHE LITERATUR UND EUROPÄISCHES MITTELALTER (1948) beeinflusst wurde. Curtius versteht Topoi als ein „Vorratsmagazin“, in dem sich „Gedanken allgemeinster Art“ finden lassen, die „bei allen Reden und Schriften überhaupt verwendet werden können“ (87). Damit sind bestimmte „Klischees“ (77) oder Stereotype gemeint, die sich in literarischen Werken auffinden lassen, oft sogar erst durch sie entstehen oder populär werden und so innerhalb bestimmter Kulturräume zu sprachlichen ‚Gemeinplätzen‘ gerinnen. Curtius setzte sich mit seinem Ansatz der Kritik aus, einen Toposbegriff zu verwenden, der sich von der Aristotelischen Tradition allzu weit entfernt habe. Die Erweiterung der Topoi auf so „verschiedenartige Dinge“ wie „Motive, Bilder, Beispiele, Aussageweisen“ führe, so der Vorwurf, zu einer mangelhaften Theoretisierung und Systematisierung, in deren Folge „der Begriff ›Topos‹ bedenkenlos als Gemeinplatz auf alles literarische Gut angewendet [wird], dessen Überlieferungscharakter sich mehr oder weniger deutlich nachweisen lässt“ (Mertner 1972, 25). Im Kontext der Explikation von Wengelers diskursanalytischem ToposVerständnis ist allerdings nicht die methodische Schwäche von Curtius’ „philosophischem Positivismus“ (Bornscheuer 1976, 146) interessant. Es stellt sich vielmehr die Frage, welches Licht der darin zum Ausdruck kommende Umgang mit dem Toposbegriff auf Wengelers Ausrichtung von Toposanalyse als Argumentationsanalyse wirft. Denn die Unschärfe, die auch Wengeler (2003, 191f.) berechtigterweise im Zusammenhang mit einem literaturwissenschaftlichen, nicht-argumentativen Toposkonzept sieht, verweist auf die Idee der Topik selbst. Lothar Bornscheuer (den auch Wengeler als Kronzeugen gegen Curtius ins Feld führt) verweist in seiner Auseinandersetzung mit Curtius auf einen Punkt, an dem er dessen Topik-Rezeption gegen seine Kritiker in Schutz nimmt: ›Topoi‹, ›topoi koinoi‹ und ›loci communes‹, das englische ›common place‹ und die älteren deutschen Begriffe ›Gemeinort‹ und ›Gemeinplatz‹ stehen [...] bei Curtius (1948, 79) zunächst gleichbedeutend nebeneinander, und zwar im Sinne von »Argumenten, die für die verschiedensten Fälle anwendbar sind« bzw. im Sinne von »gedanklichen Themen, zu beliebiger Entwicklung und Anwandlung geeignet«. Curtius greift [...] die Doppelbedeutung des in der antiken Rhetorik beheimateten Topos-Begriffs nach seiner argumentativ-enthymematischen und seiner amplifikatorisch-darstellerischen Funktion auf und vermittelt beide unter dem Gesichtspunkt, dass jede Rede [...] die Aufgabe hat, »einen Satz oder eine Sache annehmbar zu machen«. (Bornscheuer 1976, 140)
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Erläuternd fährt Bornscheuer fort, im antiken Sprach- und Rhetorikverständnis sei der Begriff des Arguments viel breiter gefasst worden, als das in weiten Teilen der modernen Rhetorik der Fall sei, da die antike Topik nicht nur Techniken für den argumentativen Sprachgebrauch der politischen oder juristischen Rede zur Verfügung stellen sollte, sondern beispielsweise ebenso auf dem Gebiet der Dichtkunst zur Anwendung kam. Ein solches, erweitertes Topos-Verständnis, das sowohl auf die „argumentativ-enthymematischen“ als auch auf die „amplifikatorisch-darstellerischen“ Funktionen des öffentlichen Sprachgebrauchs gerichtet ist, lässt sich ansatzweise schon bei Aristoteles finden. Das erste Buch zur TOPIK beginnt Aristoteles (1995) mit dem Aufriss der Problemstellung, die es im Folgenden zu lösen gilt; diese liege darin, mit der Topik „eine Methode zu finden, nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“ (100a). Die Topik zielt folglich nicht darauf ab, eine Argumentationspraxis zu beschreiben, sondern eine komplexe und vielschichtige Redepraxis anzuleiten. Deshalb „bezeichnet der Ausdruck [‚Topik‘] in seiner allgemeinsten Bedeutung bei Aristoteles generelle Gesichtspunkte, deren Vergegenwärtigung den Redner oder Disputanten instand setzt, zweckentsprechende Äußerungen zu machen, wobei diese Äußerungen nicht einmal Enthymeme zu sein brauchen“ (Sprute 1982, 171). Sprute führt als Erläuterung für einen Topos, der kein Enthymem darstellt, einen rhetorischen Ratschlag von Aristoteles an, der sich auf die Verteilung von Lob und Tadel zum Zwecke einer „besonders geschickten Verleumdung“ in der Rede bezieht. Da sich der Gegenstandsbereich der modernen Topik weit über den Bereich der Rede hinaus entwickelt hat und sich ihre Funktion weitestgehend von einer Gebrauchsanweisungen zur richtigen Verwendung der Wörter zu einer heuristischen Interpretationshilfe verschoben hat, ist auch das mögliche Reservoir angewachsen, in dem nicht-argumentative Topoi angesiedelt sein können. Für Bornscheuer (1977, 208) umfasst dieses Reservoir „sämtliche Gesichtspunkte, die für die intersubjektive Problemerörterung und Meinungsbildung innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Horizonts relevant sind“: Jeder formale oder thematische Gesichtspunkt, jede logische oder psychologische, disputationstaktische oder ethisch-normative Verhaltensregel, jedes objektive Faktum oder fiktionale Bild, jedes konkrete Beispiel oder einprägsame Merkwort kann unter bestimmten soziokulturellen Bedingungen den Rang eines Topos gewinnen. (Bornscheuer 1977, 208)
Bornscheuer markiert mit dieser Position einen topostheoretischen Gegenpol zu einem argumentationsbasierten Toposkonzept, wie es von Wengeler vertreten wird. Ein wesentliches Argument für die Einbeziehung nichtargumentativer Elemente liegt für Bornscheuer im Wesen der Idee des toposanalytischen Denkens selbst, das auch die Erklärung für Aristoteles’ ‚systematisch-unsystematische‘ Erörterung der Topoi abgibt. Denn „die Topik als Gehilfin der Dialektik stellt kein wissenschaftlich-systematisch und begriffshierarchisch geordnetes, sondern ein quantitativ wie qualitativ schwer defi-
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nierbares allgemeines Argumentationsreservoir zur Verfügung“ (Bornscheuer 1976, 34) und könne deshalb nicht eindeutig systematisiert und kategorisiert werden. Genau diese systematisierende Funktion ist es jedoch, die sich Wengeler vom Toposbegriff erwartet, der das heuristische Präzisionswerkzeug zur Erstellung einer diskursanalytisch orientierten Sprachgeschichte darstellen soll. Wengeler will das heuristische ‚Unschärfeproblem‘ der Topik weitestgehend umgehen, indem er ganz einfach alle nicht-argumentativen topischen Formen aus der Analyse zu tilgen versucht. Nur so lässt sich seine Absicht umsetzen, eine möglichst genaue und weitgehende Systematisierung und Objektivierung des Interpretationsprozesses zu erreichen.
Allgemeine und besondere Topoi Wengelers Toposanalyse wird neben der Konzentration auf die Beschreibung von Schlussregeln und der Beschränkung auf argumentative Topoi durch eine dritte Feinjustierung bestimmt, mir der zwischen allgemeinen und besonderen Topoi getrennt wird. Schon in der antiken RHETORIK von Aristoteles (1980, 1358a) findet sich die Unterscheidung zwischen „allgemeinen Gesichtspunkte[n], [...] wie beispielsweise der Topos des Mehr und Weniger“, mit dem man „einen rhetorischen Schluss über Recht oder Natur oder über was auch immer bilden [kann], obwohl diese Gegenstände ihrer Art nach verschiedenen sind“, und „spezifische[n] Gesichtspunkte[n] [...], welche von Aussagen abgeleitet werden, die spezifischen Arten und Gattungen angehören, wie es z.B. Aussagen aus der Physik gibt, aus denen weder ein rhetorischer noch ein dialektischer Schluss für die Ethik gewonnen wird, und aus diese[r] wiederum andere Aussagen, aus denen es keine[n] solchen für die Physik gibt“. Anders ausgedrückt, lassen sich einerseits Argumentationsformen bestimmen, die so allgemein sind, dass sie auf verschiedene Kontexte anwendbar sind, während sich andererseits auch solche bestimmen lassen, die so speziell sind, dass sie nur in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen auf einen Geltungsanspruch hoffen können. Das wesentliche Kennzeichen allgemeiner Topoi liegt darin, dass sie eine Argumentation an keine distinkte Diskursposition binden. Mit ihnen können die verschiedensten, auch gegensätzlichen Standpunkte vertreten werden, da sie „in keiner Weise inhaltlich bestimmt“ sind (Wengeler 2003, 182), sondern auf einem „abstrakten Strukturprinzip“ (Ottmers 1996, 90) beruhen, das lediglich festlegt, wie ein Argument in eine Konklusion überführt werden kann. Alle Ansätze von der antiken bis zur modernen Rhetorik gehen davon aus, dass es sich hierbei um eine überschaubare und damit zu bestimmende Anzahl argumentativer Grundformen handelt, die sich vermittels einer Typologie darstellen lassen, „wenngleich deren Zahl in den antiken, mittelalterlichen und modernen Topik-Katalogen teilweise beträchtlich schwankt, was allerdings wesentlich auf der jeweils vorgenommenen Einteilung in Klassen und Subklassen beruht“. Wengeler (2003, 182f.) folgert daraus, es muss möglich sein, „anhand einer solchen Liste bei Annahme ihrer universellen Gültigkeit und annähernden Vollständigkeit in konkreten Texten die typischen argumentativen Muster von Einzelpersonen, sozialen Gruppen, historischen Epochen, fremden Gesellschaften“ herauszufinden.
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Diese allgemeingültige heuristische Funktion kann den besonderen Topoi hingegen kaum zufallen. Da sie auf inhaltlich spezifizierte Schlussregeln zurückgehen, die nur in bestimmten Zusammenhängen einen Anspruch auf Plausibilität erringen können, unterliegen sie einer kontextspezifischen Bindung. Umstritten ist in der Literatur allerdings, welche Verbindungen bzw. Unterschiede zwischen allgemeinen und besonderen Topoi bestehen: Sind besondere Topoi nichts anderes als fallspezifische Konkretisierungen allgemeiner Topoi, bei denen eine abstrakte Schlussregel wie eine Formel als Platzhalter fungiert, deren Variablen mit den Daten eines bestimmten Anwendungsbereichs befüllt wurden? Oder sind sie „fundamental verschieden, [da] sie auf zwei fundamental verschiedene Fähigkeiten des menschlichen logos verweisen, einmal Wirklichkeit in Form von Modellen zu repräsentieren, und, zum anderen, Wirklichkeit mit Hilfe von Schlussprinzipien neu und anders zu erschließen“ (Eggs 2000, 589)? Wengeler (2003, 183) versucht hier eine Zwischenposition einzunehmen, indem er zwar davon ausgeht, besondere Topoi beruhen im Allgemeinen auf einem formalen Schlussmuster, „bewegen sich aber auf einer anderen Abstraktionsstufe, sind konkreter“. Aus der Konkretisierung folge die neue Qualität, die besondere Topoi auszeichne. Sie beziehen sich nicht nur auf ein Schlussmuster, sondern müssen darüber hinaus auch „Sachverhaltszusammenhänge“ (184) beschreiben, die nur in bestimmten argumentativen Kontexten auf Plausibilität stoßen werden, da sie ansonsten absurd erscheinen würden. Entscheidend für Wengelers diskursanalytische Topik ist jedoch nicht so sehr die topostheoretische Frage, worin ein solcher Unterschied unter linguistischen Gesichtspunkten liegt, sondern welche methodischen Schlussfolgerungen sich aus dieser Unterscheidung ziehen lassen – auf welcher Ebene also die Untersuchung sinnvollerweise ansetzen sollte. Für Wengeler will damit einen Mittelweg beschreiten. Einerseits würde es wenig Sinn machen, die Analyse nur auf die abstrakten Topoi zu beziehen, da sich so bestenfalls Aussagen gewinnen ließen, die darüber Auskunft gäben, welche formalen Schlussmuster in einem Diskurs schwerpunktmäßig Verwendung finden, ob also beispielsweise eher Kausal-, Vergleichs- oder Autoritätsschemata vorkommen. Aus einer so groben Kartierung ließen sich kaum Rückschlüsse auf das damit verbundene Denken bezüglich eines bestimmten Themenbereichs erzielen. Andererseits stünde zu befürchten, dass eine zu starke Konkretisierung der einzelnen Argumentationsmuster dazu führen würde, dass lediglich „einzelne, mit singulären Tatsachen angereicherte Argumente verglichen“ (185) würden, nicht aber die mit diesen Einzelargumentationen hergestellten diskursiven Zusammenhänge. Stattdessen soll eine Beschreibungsebene gefunden werden, die es ermöglicht, Argumentationen so zu kategorisieren, dass sie weder auf ein zu allgemein auftretendes noch auf ein zu spezielles Muster, das nur in einer begrenzten Debatte vorkommt, zurückgeführt werden können. Dazu müsse bei der Auswertung eine „Abstraktionsebene“ (185) gewählt werden, die eine Vergleichbarkeit – zum Beispiel zwischen verschiedenen Zeitabschnitten – gewährleistet. Als Ziel gibt Wengeler dazu an:
MARTIN WENGELER | 111 Für einen bestimmten Bereich, in unserem Fall für eine inhaltlich bestimmte politisch-öffentliche Fragestellung, sollte es allerdings möglich sein, eine annäherungsweise vollständige Liste vorkommender Topoi zu erstellen. Dabei ist damit zu rechnen, dass die in dieser Form inhaltlich bestimmten Topoi in ihrer formalen Struktur auf die oben behandelten allgemeinen Topoi zurückführbar sind bzw. […] zusätzlich von den allgemeinen Topoi in ihrer Plausibilität gestützt werden. (Wengeler 2003, 185)
Wengeler versteht diesen Schritt als Synthese von zwei linguistischen Verfahren der Argumentationsanalyse. Josef Kopperschmidts METHODIK DER ARGUMENTATIONSANALYSE (1989) steht dabei Modell für eine „materiale Argumentationsanalyse“, die darauf verweist, dass es sich bei den aufzufindenden Topoi um Musterargumente handelt, die „mit Inhalten aus dem thematisch bestimmten Diskurs gefüllt“ sind (Wengeler 2003, 268). Die formalen Muster der Analyse liefert Manfred Kienpointners theoretisch-empirisch unterfütterte Studie zur ALLTAGSLOGIK (1992) der deutschen Sprache. Kienpointner entwickelt darin eine Typologie allgemeiner topischer Muster, die in der Summe die typischen Argumentationsweisen des alltäglichen – und das heißt für Kienpointner: des allgemeinen öffentlichen und privaten – Sprachgebrauchs im deutschen Sprachraum enthalten sollen.
Historiografie von Argumentationsmustern Im empirischen Teil von TOPOS UND DISKURS demonstriert Wengeler (2003, 285–524) anhand einer „Diskursgeschichte der Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland von 1960–1985“ eine mögliche Vorgehensweise einer argumentationsanalytischen Diskursanalyse. Diese gliedert sich in drei aufeinander folgende Schritte, mit denen die diskurssemantischen und toposanalytischen Vorüberlegungen eingelöst werden sollen: erstens die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus, zweitens die Erfassung von Argumentationsmustern innerhalb dieses Korpus und drittens die Beschreibung und Interpretation des Auftretens der Argumentationsmuster innerhalb der Texte des Untersuchungskorpus aus historischer Perspektive. In diesem Vorgehen drückt sich ein – im Gegensatz zu Fairclough und Jäger – verändertes Verständnis von Diskursanalyse aus. Wengeler entwirft den Analyserahmen in enger Abhängigkeit vom Untersuchungsgegenstand und versteht diesen Schritt bereits als die erste bewusste Interpretationshandlung. Sein Ansatz trennt somit weniger stark zwischen Modell und Analyse, sondern versucht beide in Abstimmung zueinander zu entwerfen. Für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der argumentationsanalytischen Toposanalyse ist es dennoch sinnvoll, den dreigliedrigen Interpretationsprozess in zwei Anschnitte zu unterteilen: einerseits den Aufbau des Korpus und die Systematisierung argumentativer Topoi (Analysestrategie) und die darauf aufbauende Beschreibung und Interpretation (Analysepraxis).
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Analysestrategie Der erste Punkt, die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus, knüpft an die von Busse erhobene Forderung an, bereits den Prozess der Korpusbildung als ein aktives Element der Diskursanalyse fruchtbar zu machen bzw. als einen von der Notwendigkeit einer interpretativen Selektion unterlegten Schritt zu verstehen. Während Busse daraus schließt, die Entscheidung über die weiter zu bearbeitenden Texte als ersten Selektionsprozess zum Auffinden relevanter Diskurselemente zu nutzen, folgt Wengeler einer Idee von Repräsentativität, die auf sozialwissenschaftliche Methoden einer qualitativen Textanalyse zurückgeht. Die Auswahl der Texte soll für sich in Anspruch nehmen können, in der Summe eine Sammlung zu sein, die alle relevanten kontextspezifischen Topoi eines bestimmten, thematisch ausgerichteten Diskurses enthält. Ausgehend von der Unterteilung der Korpusbildung in ‚imaginäres‘, ‚virtuelles‘ und ‚konkretes‘ Korpus, heißt das, die konkret analysierte Textmenge soll gewissermaßen das Destillat eines imaginierten Textganzen sein, in dem ein Diskurs niedergelegt ist. Das bedeutet für Wengeler jedoch nicht, die Frage der Angemessenheit des Korpus einer Diskursanalyse sei mittels mathematischer Methoden verifizierbar. Seine Qualität könne nur an den Ergebnissen abgelesen werden, insofern diese „nämlich […] aussagekräftige Thesen ergeben“ (296). Den Diskurs selbst baut Wengeler, den Vorschlägen von Busse/Teubert (1994, 14) folgend, über die Zuordnung von Texten zu: (a) einem Thema, (b) einem Kommunikationsrahmen, der durch die Kategorien ‚Zeiträume‘, ‚Areale‘, ‚Textsorten‘ eingegrenzt wird, und (c) einem Netzwerk im- oder expliziter (intertextueller) Verweisformen. Auf den Migrationsdiskurs angewendet, ergibt sich dabei folgende Konstellation: (a) das Thema, an dem die Auswahl der Texte orientiert ist, lautet ‚Einwanderung‘; (b) den Rahmen steckt die Auswahl von drei Zeiträumen ab (1960–65, 1970–75, 1980–85), die Begrenzung auf das Areal ‚bundesrepublikanische Öffentlichkeit‘ und die ausschließliche Berücksichtigung von Pressetexten; (c) der intertextuelle Zusammenhang folgt „bei den ausgewählten Texten allein schon aufgrund ihrer inhaltlichen Zugehörigkeit zu einem Thema“ (Wengeler 2003, 294). Diese Eingrenzungen führen allerdings erst zu einem ‚virtuellen‘ Korpus, aus dem erst unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten das ‚konkrete‘ Korpus der analysierten Texte wird. Diesen zweiten Selektionsprozess sieht Wengeler hauptsächlich beeinflusst durch die Tatsache der Vorsortierung des infrage kommenden Materials durch die Archive, über die die Artikel erschlossen werden. Der daraus möglicherweise folgende Mangel an Repräsentativität des Korpus soll durch die schwerpunktmäßige Berücksichtigung von „überregionalen Tageszeitungen verschiedener politischer Couleur“ ausgeglichen werden (295). Konkret ergibt sich so ein Untersuchungsrahmen mit einem Umfang von 1355 Zeitungsartikel (davon 203 aus dem Zeitraum 1960–1965, 621 aus 1970–1975 und 531 aus 1980–1985), die größtenteils aus vier überregionalen Tageszeitungen sowie einigen weiteren Regional- und Wochenzeitungen stammen. Im zweiten Punkt, der Erfassung von Argumentationsmustern, wird das Textkorpus systematisch auf vorkommende Topoi untersucht. Geleitet wird
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dieser Analyseschritt von der Idee, aus den tatsächlich vorkommenden Argumentationen jene Topoi zu filtern, die „auf einem mittleren Abstraktionsniveau“ (Wengeler 1997a, 128) angesiedelt sind. Sie müssen so allgemein gehalten werden, dass sie grundsätzlich in der gesamten Bandbreite des Diskurses aufgefunden werden können, und dabei doch so speziell bleiben, dass sie dem Anspruch einer sinnvollen Differenzierung des Migrationsdiskurses Genüge leisten. Damit das möglich wird, muss Wengeler die allgemeinen Argumentationsmuster aus Kienpointners ALLTAGSLOGIK auf jene Argumentationen im Textkorpus anwenden, die sich thematisch dem Einwanderungsdiskurs zuordnen lassen, und in eine überschaubare Anzahl semi-abstrakter Argumentationen überführen. Das Ziel dieser Vorgehensweise liegt darin, Schlussregeln zu synthetisieren, die als Argumentationsmuster einen Typus repräsentieren, der jeweils für eine Reihe empirisch auffindbarer Topoi steht. Wengeler wählt dazu, einer Konvention folgend, die Form von Kausal- oder seltener auch Konditionalsätzen, in denen die argumentative Konstruktion herausgehoben wird, durch die sich die jeweilige Schlussregel auszeichnet. Diese formelhafte Umschreibung als weil ‚x‘, folgt ‚y‘ ist allerdings nicht gleichbedeutend mit der Art des Argumentationsschemas – d.h. die weilFormulierung steht nicht zwangsläufig für einen kausalen Topos. Das wird beispielsweise am ‚Gerechtigkeits-Topos‘ deutlich, der (nach Kienpointners Typologie) einem ‚Vergleichsschema‘ entspringt: „Weil Personen/Handlungen/Situationen in relevanter Hinsicht gleich oder ähnlich sind, sollten sie gleich behandelt werden“ (Wengeler 2003, 307). Wengeler unterteilt die auf diese Art gewonnenen 38 Topoi in: 24 „inhaltlich zentrale“, die häufig auftreten und eine rhetorische ‚Eigenständigkeit‘ besitzen, 6 „als Stützungen anderer Topoi fungierende“, die keine ‚Eigenständigkeit‘ besitzen, sondern im Zusammenspiel mit anderen Topoi vorkommen, und 8 „weitere“, die aufgrund ihrer geringen rhetorischen Kraft oder ihres seltenen Auftretens im Diskurs keine wesentliche Rolle spielen und deshalb bei der Auswertung vernachlässigt werden können (300 ff.). Den angeführten Gerechtigkeits-Topos zählt Wengeler zu den ‚inhaltlich zentralen‘ Topoi des Migrationsdiskurses. An seinem Beispiel lassen sich zwei Besonderheiten hervorheben, die Wengelers Vorgehen bei der Erstellung einer Liste von Argumentationsmustern kennzeichnet. Erstens werden alle Topoi unter einem Handlungsaspekt umschrieben, sodass die Formel zur Synthetisierung der Topoi, genau genommen lautet: Weil/wenn ‚x‘, sollte die Handlung ‚y‘ folgen. Wengeler führt nicht aus, warum das so sein muss, obgleich sich in Kienpointners Erläuterungen der Typologie von Alltagsargumenten auch genügend Muster finden lassen, deren Konklusion nicht auf eine Handlungsanweisung zielt. Dass Wengeler seine Vorgehensweise nicht als erklärungsbedürftig betrachtet, lässt sich allerdings recht offensichtlich begründen: Der in den Printmedien ausgetragene Diskurs um ‚Migration‘ ist Teil einer politischen Öffentlichkeit, die auf Handlungsanweisungen ausgerichtet ist – und nicht, was ja durchaus denkbar ist, auf die Durchsetzung von Realitätskonstrukten, die von der Frage nach politischen Entscheidungen losgelöst sind. Analog dazu differenziert Wengeler zweitens jeden Topos zusätzlich hinsichtlich einer möglichen Verwendung pro und kontra Einwanderung. Dabei bleibt der Topos an sich gleich, nur seine stra-
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tegische Verwendung variiert mit der Maßgabe der politischen Ausrichtung. Demnach ist der Gerechtigkeits-Topos in seiner abstrakten Form hinsichtlich der formulierten Position neutral. Erst durch die konkrete Verwendung des Topos pro oder kontra Einwanderung wird deutlich, welche politische Diskursposition eingenommen wird.
Analysepraxis Die abschießende und sehr umfangreiche Beschreibung und Interpretation der Argumentationsmuster geschieht auf Grundlage des Textkorpus und der daraus gefilterten Musterargumente. Dazu werden die drei Zeitabschnitte als Diskurseinheiten betrachtet und aufeinander abfolgend hinsichtlich der Verteilung der darin signifikant auftretenden Topoi untersucht. Wengeler ist augenscheinlich darum bemüht, den Interpretationsprozess stark zu objektivieren, indem er ihn schematisch und transparent organisiert. Ausgangspunkt ist die tabellarische Erfassung der statistischen Häufigkeit des Auftretens der inhaltlich zentralen Argumentationsformen innerhalb des jeweiligen Zeitabschnitts. Dabei wird pro Text nur eine Erwähnung gezählt, unabhängig davon, wie oft ein Topos innerhalb eines Textes angeführt wird. Zusätzlich wird jeder Topos, der nach dieser Maßgabe erfasste wurde, danach unterschieden, ob mit ihm pro oder kontra Einwanderung argumentiert wird. Auf diese Weise entstehen für jeden Zeitraum jeweils zwei Tabellen (pro und kontra), die darüber Auskunft geben, welchem Topos in welchem Zeitraum eine gehobene oder verminderte Bedeutung zufällt. Die anschließende Analyse folgt der Gliederung durch die vorgenommene Einteilung in die drei Zeiträume (1960–1965, 1970–1975, 1980–1985) unter der Trennung in Pro- und Kontra-Positionen. In diesen sechs Kapiteln werden die einzelnen Topoi nach der Häufigkeit ihres Auftretens sortiert beschrieben, wobei seltener auftretende Topoi gesammelt oder gar nicht erwähnt werden. Wengeler weist explizit darauf hin, diese quantifizierende Auswertung stelle lediglich ein „methodisches Hilfsmittel“ dar, das dem eigentlichen Ziel der Analyse, „der Rekonstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen“ (300) diene. Insgesamt gelingt es Wengeler durch das sehr systematische Untersuchungsdesign, den Migrationsdiskurs historisch aufzuschlüsseln und so einen Wandel in der öffentlichen Auseinandersetzung nachvollziehbar und transparent zu machen. Es wird schlüssig demonstriert, wie sich in der publizistischen Rede über Migration die Sichtweisen auf das Thema anhand der Karrieren der verwendeten Topoi in den drei Untersuchungszeiträumen verschieben. So kann eine „kontinuierliche Zunahme einwanderungsablehnender Haltung im öffentlichen Diskurs“ (515) plausibel gemacht werden, die mit einer veränderten Art und Weise der Erörterung von Migration zusammenfällt. Für Wengeler bestätigen sich damit sozial- und geschichtswissenschaftliche Feststellungen, dass der Umgang mit Zuwanderung bis in die 70er Jahre öffentlich und politisch rein unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten erfolgt sei, während danach eine politisch und auch parteipolitisch instrumentalisierte Auseinandersetzung mit Zuwanderung begonnen habe, die zunächst auch Integrationskonzepte, seit 1981 aber zuvorderst Begrenzungskonzepte enthalten habe. (Wengeler 2003, 519)
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In diesem Zitat deutet sich jedoch zugleich eine Schwäche einer Diskursanalyse an, die auf die reine Beschreibung des Auf- und Abtauchens von Argumentationsmustern konzentriert ist. Das Aussagepotenzial der Analyse beschränkt sich stark auf die positivistische Feststellung, wann welche Muster aufzufinden sind. Unklar bleibt, worin eigentlich die diskursanalytische Pointe einer qualitativen, hermeneutischen Analyse liegen soll. Damit verbunden fallen drei aufeinander bezogene Schwachpunkte der diskursanalytischen Topik ins Auge: (1) der mentalitätsgeschichtliche Bezugsrahmen, (2) die Formalisierung der Topoi, (3) die Kontextualisierung der Topoi. (1) Der Mentalitätsgeschichtliche Bezugsrahmen. Die Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse leitet Wengeler mit den Worten ein, sie solle den „Beleg dafür liefern, dass die im theoretisch-methodischen Teil der Arbeit begründete Vorgehensweise eine fruchtbare Möglichkeit darstellt, mit einer sprachtheoretisch reflektierten und pragmatisch vorgehenden Methode Diskurse als ›Zeitgespräche‹ über ein Thema zu untersuchen und dabei bewusstseins- und mentalitätsgeschichtlich aussagefähige Ergebnisse zu erzielen“ (515). Legt man diesen Anspruch an die Untersuchung an, ist Wengeler auf ganzer Linie gescheiter. Selbst in der zehnseitigen Zusammenfassung verschweigt er weitgehend, wie es um den Konnex zwischen Argumentationsmustern und Bewusstseins- bzw. Mentalitätsgeschichte bestellt ist. Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz schlägt lediglich in einzelnen Formulierungen durch: Aus den kontextspezifischen argumentativen Topoi werden dann plötzlich „Denk- und Argumentationsweisen“, die u.a. dazu geführt haben, dass Einwanderung „zunehmend als ein Prozess empfunden und diskutiert [wird], der zahlenmäßig zu umfangreich geworden ist und der im politischen Raum Begrenzungs- [und] Abwehrmaßnahmen erfordert“ (523f.). Das Problematische an der Ersetzung von Topoi durch „Denkweisen“ ist erstens, dass Topoi zuvor unter rein methodischen Gesichtspunkten, nach den Kriterien ‚argumentativ‘ und ‚kontextrelevant‘ ausgewählt wurden, und Wengeler zweitens mit keinem Wort darauf eingeht, wessen Bewusstsein oder Mentalität mit diesen Denkweisen als ‚Zeitgespräche‘ wie in Zusammenhang steht. Unabhängig von der Frage nach dem Sinn von Mentalitätsgeschichte, gelingt es Wengeler deshalb nur unzureichend, sein positivistisches Untersuchungsdesign überzeugend an die Absicht anzubinden, qualitativ hochwertige Aussagen zur Geschichte zu machen. (2) Die Formalisierung der Topoi. In einem früheren Aufsatz skizziert Wengeler (1997b, 101) sein Habilitationsprojekt dahingehend, „die theoretische Begründung einer Typologie von Argumentationstopoi diene dazu, die Veränderung in der Benutzung von topischen Mustern in Diskursen in ihrem Zusammenspiel mit der Veränderung von lexikalischen Einheiten wie Metaphern und Schlüsselwörtern zu analysieren, um damit Aufschlüsse über das jeweils dominierende gesellschaftliche Bewusstsein, das kollektive Denken und Meinen einer Zeit zu gewinnen“. In der Umsetzung fehlt jedoch insbesondere die Anbindung an sprachliche Formen wie Metaphern, die – wie Bornscheuers Topik zeigt – ein elementarer Bestandteil des Topischen sind. Interessanterweise tauchen bei der empirischen Beschreibung der Argumentationsmuster wieder vereinzelt metaphorische Gesichtspunkte auf. So kommt Wengeler (2003, 483) zu dem Ergebnis, dass der Gefahren-Topos,
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mit dem gegen Einwanderung argumentiert wird, hinsichtlich der „Gesamtzahl der Vorkommen […] keine deutliche Änderung nach dem Regierungswechsel 1982“ aufweise, aber „bezüglich der inhaltlichen Füllungen des Topos [lässt sich] sagen, dass seit 1983 fast nur noch Beschwörungen eines weiteren Massenzuzugs auftreten“. Als ein besonders extremes Beispiel einer solchen „Füllung“ des Gefahren-Topos führt Wengeler die metaphorisch Umschreibung von Migration als „Landnahme“ an. Eine derartige Berücksichtigung der metaphorischen Umsetzung bzw. Anbindung argumentativer Topoi ist in der – fast 170 Seiten langen – Beschreibung der Pro- und KontraArgumente selten zu finden. Dabei ist die Verschärfung des Gefahren-Topos für Wengelers Interpretation von einiger Bedeutung, da sie ein zugkräftiges Argument für die parteipolitische Instrumentalisierung des Migrationsdiskurses anbietet. (3) Die Kontextualisierung der Topoi. Die unzureichende Einbindung metaphorischer Aspekte in die Analyse verweist auf die Problematik einer starken Formalisierung der Topoi. Es stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, die Historisierung eines Diskurses auf die Verwendung von Argumentationsmustern zu beschränken. Die Krux von Wengelers Toposansatz liegt darin, den Toposbegriff so zu abstrahieren, dass er sich auf eine lange Zeitdauer anwenden lässt, um dann mit einem so konstruierten Auswahlinstrument nach historischen Veränderungen innerhalb dieser Zeitdauer zu suchen. In der Folge können nur bzw. in erster Linie solche Veränderungen erfasst werden, die sich auf diese Abstraktionsebene beziehen. Auf diese Weise gelingt zwar eine transparente Systematisierung des Diskurses, dafür fällt die Berücksichtigung jener diskursiven Veränderungen aus der Analyse heraus, die jenseits der gewählten Argumentationsmuster stattfinden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf Wengelers Intention, politische Mentalitäten in ihrem historischen Gewand zu konturieren. Zur Lösung dieses Problems hätten eigentlich zwei Fragekomplexe behandelt werden müssen. Sie betreffen erstens den Zusammenhang, der zwischen politischem Bewusstsein bzw. politischer Mentalität und Sprache besteht: Wie hängen (politische) Mentalitäten mit der topischen Sprachverwendung zusammen – realisieren sie sich in erster Linie als kontextrelevante Argumentationsmuster? Zweitens stellt sich die Frage, wie sich politische Diskurse unter topischen Gesichtspunkten in der Öffentlichkeit verhalten: Ziehen sie ihre Kraft bzw. Plausibilität nur aus der Verwendung von Pro- und Kontra-Argumenten im Hinblick auf bestimmte Argumentationsmuster oder sind dafür nicht auch die Arten ihrer ‚Füllung‘ oder Verbindung von besonderer Bedeutung? Für die Beantwortung beider Fragen wäre es sinnvoll gewesen, den Sprachgebrauch weiter zu konkretisieren, in dem sich der untersuchte Diskurs realisiert. Im Fall des Migrationsdiskurses hätte stärker berücksichtigt werden können, welcher Zusammenhang zwischen der durch Printmedien konstituierten politischen Öffentlichkeit und dem Gebrauch bestimmter sprachlicher Formen besteht. Der Kern der Kritik an Wengelers diskursanalytischer Topik bezieht sich auf die stark formalisierte Art, mit der er sein Diskurskonzept in der empirischen Analyse umsetzt. Dem ließe sich zwar entgegenhalten, dass ein Untersuchungsdesign immer zwischen einer breiteren, auf Repräsentativität ausgerichteten Strukturanalyse wählen muss, die weniger tiefgreifende Ergebnisse
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produziert, und einer detaillierten Beschreibung, die stärker interpretativ verfährt. Klärungsbedürftig bleibt in Wengelers repräsentativ ausgerichtetem Ansatz dennoch, wofür die zahlenmäßige Gewichtung auftretender Topoi steht: Auf welche Art und Weise wird damit Öffentlichkeit repräsentiert? Zur Beantwortung dieser Frage wäre es notwendig gewesen, die gezählten Artikel in einem Feld von Öffentlichkeit zu verorten und aufzuschlüsseln – beispielsweise nach den verschiedenen Publikationsorganen, deren Reichweite, Leserschaft etc. Ein solches Vorgehen verlangte jedoch ein genaueres Bild von der Bedeutung, die den Medien bei der Generierung von Diskursen zufällt. Die Tatsache der medialen Verankerung von Diskursen bleibt in Wengelers Ansatz jedoch stark unterbelichtet. Das betrifft nicht erst die Umsetzung seiner Diskurstopik in ein Analysedesign, sondern schon das davor liegende theoretische Grundverständnis des Medialen. Die mentalitätsgeschichtlich motivierte Gleichsetzung von massenmedialen Diskursen mit ‚Zeitgesprächen‘ erinnert stark an die esoterische Zeitungslehre eines Bernd Maria Aswerus (1993) und bereitet so eine medien- und kommunikationstheoretische Leerstelle vor, an der eigentlich etwas darüber stehen müsste, wie die massenmediale Konstitution zur Formierung von Diskursen beiträgt.
ZUR ANALYTIK
MEDIALER
DISKURSE
Diskursanalyse zielt – so wurde am Ende des Foucault-Kapitels argumentiert – auf die Beschreibung einer diskursiven Praxis, die als ein Set signifikanter Aussagen innerhalb eines Kommunikationsbereichs niedergelegt ist. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von DIE ORDNUNG DER DINGE (1974, 9) fragt Foucault noch danach, ob dieser Vorgang den „Gesetzen eines bestimmten Wissenscodes“ gehorche, die sich zu einem „System“ verdichten lassen, das sich als die „Geschichte des nicht-formalen Wissens“ beschreiben lässt. In späteren Publikationen hat sich Foucault von dieser Position immer weiter gelöst. Mit der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS verschwindet der Begriff des Codes und das System wird in zahllose „spezifische Systeme“ (Foucault 2001d, 860) aufgespalten, und in der Genealogie geht die stillschweigende Vorherrschaft des Diskursiven in einem komplexen Beziehungsgeflecht diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken auf. Die Ansätze von Fairclough, Jäger und Wengeler stimmen bei allen sonstigen diskurstheoretischen Differenzen mit dem Foucaults darin überein, Diskurse als Prozesse zu beschreiben, deren Konstituierung auf keinen basalen Mechanismus zurückgeführt werden kann. Bei Norman Fairclough gründet diese Einsicht auf Bachtins Sprachtheorie und einen an Althusser orientierten, aber flexibilisierten Begriff kommunikativ erzeugter Macht; Siegfried Jäger folgt hier einer leicht abgewandelten Übernahme von Links Modell des Interdiskurses als massenmedialem Kommunikationsrahmen; und Martin Wengeler bezieht sich auf Busses HISTORISCHE SEMANTIK, die sich in dieser Frage an Wittgensteins Sprachspiel ausrichtet. Diskursen kann damit weder eine allgemeine Grammatik noch ein binärer Code oder eine ontologische Gesetzmäßigkeit zugeordnet werden, auf die bei der Analyse zurückgegriffen werden könnte. Neben diese kommunikationstheoretische Grundannahme tritt ein weiteres Merkmal, das bei der Ausarbeitung eines Analysemodells zu beachten ist – es hängt mit dem eigentlichen ‚Wesen‘ von Diskursen selbst zusammen. Was Diskurse sind, lässt sich nicht allgemein definieren, weil ‚Diskurs‘ eine analytische Bezugsgröße darstellt, mit deren Hilfe Kommunikationsprozesse erschlossen werden sollen. Diese Erkenntnis findet sich zwar in Foucaults Archäologie, aber nur selten in ihren diskursanalytischen Adaptionen. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass die Einbeziehung diskursanalytischer Verfahren generell vor dem Hintergrund eines konstruktivistischen Wissenschaftsverständnisses geschieht, womit das konstruktivistische Element von Diskursanalyse so trivial wird, dass es nicht extra herausgestellt werden muss. Ein anderer Grund könnte hingegen in der Befürchtung liegen, mit dem Eingeständnis des konstruktivistischen Charakters der Analyse würde ihr Geltungspotenzial grundsätzlich infrage gestellt. Diese beiden Positionen führen jedoch in ihrer Ausschließ-
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lichkeit zu einer falschen wissenschaftstheoretischen Grundierung der Diskursanalyse. Dazu noch einmal Foucault: Miller: […] Du stellst mit Lust den artifiziellen Charakter deiner Vorgehensweise heraus. Deine Resultate hängen von der Wahl der Merkmale ab, und die Wahl der Merkmale hängt von den Umständen ab. Das alles ist nur Schein, das sagst du uns doch? Foucault: Das ist kein falscher Schein, das ist Fabriziertes. (Foucault 2003, 411f.)
Vor dem „falschen Schein“ bewahre er sich, so fährt Foucault anschließend recht pragmatisch fort, indem er auf Polemik verzichte und keine politische Zielsetzung verfolge (412). Obgleich diese (durchaus polemische) Antwort nicht sehr befriedigend ausfällt, lässt sich in Foucaults eigener Wissenschaftspraxis, die aus einem Nebeneinander von empirischem Arbeiten und theoretischer Vergewisserung bestand, ansatzweise eine methodische Grundposition für die Diskursanalyse aufzeigen. Konsistenter formuliert diese Grundposition der Soziologe Reiner Keller für die wissenssoziologische Diskursanalyse: Konstruktivismus bedeutet keine Flucht aus der Wirklichkeit und ihrer mitunter schmerzlichen Materialität, auch wenn manche diskurstheoretische Studien solche Assoziationen wecken bzw. zeigen, dass eine gewisse Gefahr der ›Entwirklichung‹ oder des ›Diskursidealismus‹ besteht. Diskurse sind zunächst ja tatsächlich und materialiter stattfindende Sprachhandlungen und Kommunikationsprozesse, die (bestreitbare) Aussagen und Wissensbestände prozessieren. […] Konstruktivismus bedeutet [für die Diskursanalyse], die Kontingenz der symbolischen Ordnung zum Ausgangspunkt der Fragen nach denjenigen Prozessen zu machen, die sie in vorübergehend fixierte Kristallisationen und Strukturzusammenhänge transformiert. (Keller 2005, 266)
Keller leitet daraus den Schluss ab, dass sich die Gefahr einer konstruktivistischen Beliebigkeit nur durch ein gewisses Quantum an „Selbstreflexivität“ (264) bannen lasse. Mit anderen Worten bedarf Diskursanalyse einer theoretischen Rückkopplung, da sie in einem Spannungsfeld zwischen theoretisch zu begründenden Setzungen und empirisch nachweisbarer Materialität operiert. Konkret bedeutet das, bei der Analyse muss in besonderem Maße transparent gemacht werden, wie die Generierung der Datenbasis erfolgt, nach welchen Kriterien die Auswahl der Analyseinstrumente vollzogen wird und welchen Geltungsanspruch die Untersuchungsergebnisse aufgrund dieser Entscheidungen für sich in Anspruch nehmen können. Diskursanalyse wird hier verstanden als eine „interpretative Analytik“ (Dreyfus/Rabinow 1994, 154) zur Ermittlung kommunikativer Regelmäßigkeiten. Der Ausgangspunkt ist die auf Foucault zurückgehende Bestimmung von Diskursen als analytisch konstruierten Gebilden, mit denen versucht wird, einzelne Sprechereignisse zu Aussagefeldern innerhalb spezifischer Kontexte zu verdichten. Der Sinn dieses Vorgehens liegt darin begründet, Rückschlüsse auf jene Kommunikationspraktiken zu gewinnen, mit denen innerhalb eines bestimmten diskursiven Rahmens relevantes Wissen aufge-
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baut, aktualisiert und prozessiert wird. Legt man dabei den Focus auf die Erstellung einer Methode zur Erschließung massenmedialer Wissensproduktion, ergibt sich die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, wie sich in Bezug auf die Massenmedien das wechselseitige Verhältnis von Rahmen und Inhalt sinnvoll erschließen lässt. In diskursanalytische Terminologie übersetzt heißt das: Man muss die diskursiven medialen Kontexte und die Auswahl der als relevant zu erachtenden Aussageformen in enger Abstimmung zueinander austarieren. Dazu wurden in den vorangegangenen Kapiteln drei diskursanalytische Verfahren vorgestellt, die sich explizit mit zeitgenössischen Diskursen innerhalb der Printmedien auseinandersetzen. Deren Funktion besteht im Folgenden darin, die beiden zentralen Analysebereiche der Diskursarchäologie auf den Bereich der Medien anzuwenden: die diskursive Formation als Kontext, der um einen Diskurs gespannt ist, und die Aussage als Grundelement, mit dem ein Diskurs konstituiert wird. Auf diese Weise soll die Entwicklung des Analyseverständnisses transparent gemacht werden, um der selbstreflexiven Bestimmung von Diskursanalyse zu genügen.
Mediale Konstitution An Faircloughs akteurszentriertem Diskursmodell wurde deutlich, Diskursanalyse bedarf einer Vorstellung davon, dass und wie ein Diskurs als emergente Kommunikationsebene in einer Ordnung materialisiert ist. Sonst bleibt ungeklärt, worin überhaupt die Kraft und Bedeutung von Diskursen liegen soll. In seiner Diskursarchäologie hat Foucault zur Bezeichnung dieser Ordnung den Begriff ‚diskursive Formation‘ gewählt. Die diskursive Formation ist dort der regelleitende Kontext eines Diskurses und hat die doppelte Funktion, sowohl „Möglichkeitsbedingung und Einschränkung zugleich“ (Gehring 2004, 62) zu sein. Für die Analyse bedeutet diese paradoxale Konstruktion, dass die diskursive Formation sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel ist. Wie lässt sich dieses Paradox auflösen? Ausgangspunkt ist die diskursive Formation, insofern bereits am Beginn der Analyse ein (Vor-)Verständnis davon vorhanden sein muss, wie die Aussagen und ihr Formationsbereich zusammenhängen können, damit sich die Relevanz des Untersuchungsmaterials überhaupt bestimmen lässt. Gleichzeitig zielen die Anstrengungen der Diskursanalyse darauf ab, über das bloße Auffinden von Aussagefeldern hinausgehende, übergeordnete Praktiken der Diskursproduktion offenzulegen. Auf diese Weise sollen mit den Methoden der Diskursanalyse temporäre Kommunikationsordnungen zum Aufscheinen gebracht werden. In der ARCHÄOLOGIE DES WISSENS wird die diskursive Formation aus den vier Ebenen Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe und Strategien zusammengesetzt, die aus isolierten Strukturkontexten des Wissenschaftsdiskurses abgeleitet sind und mit ihrer Zusammenführung in gewisser Weise als solche dekonstruiert werden. Betrachtet man die Festlegung der Elemente der diskursiven Formation im Kontext von Foucaults Theoriegenese, so lässt sich darin eine Verschiebung erkennen. Bereits bei der Ausarbeitung der ARCHÄOLOGIE nimmt Foucault bezüglich der Frage des Zusammenhangs zwischen Subjekt und Diskurs eine kleine begriffliche Modifikation
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vor. In einer Vorstudie zum Buch spricht er (2001e, 916) anstatt von ‚Äußerungsmodalitäten‘ lediglich von „syntaktischen Typen“ der Diskursproduktion, die rein sprachlicher Natur sind. Die später gewählte Kategorie ‚Äußerungsmodalitäten‘ verdeutlicht im Gegensatz dazu bereits stärker die außerdiskursiven, institutionellen Einflüsse auf die Diskursteilnehmer, wenngleich Foucault damit noch an der „autonomen Wirksamkeit“ (Dreyfus/Rabinow 1994, 95) der Diskurse festhält. Mit der Vorlesung über DIE ORDNUNG DES DISKURSES wird dieser Weg konsequent weiterverfolgt – so zum Beispiel, wenn Foucault (1991, 26) als ein wesentliches Formationsprinzip die „Verknappung der sprechenden Subjekte“ im Vorfeld des Diskurses anführt. Neben der damit einsetzenden Erweiterung des Analysespektrums um gesellschaftliche und handlungs- bzw. sprachtheoretische Prozeduren der Diskursproduktion, liefert Foucault in diesem Aufsatz auch Ansätze zur Erweiterung der vorherigen Konzeption der diskursiven Formation, wie das am Zusammenhang zwischen Archiv und Kommentar verdeutlicht wurde. Für eine Anwendung auf die Analyse massenmedialer Diskurse ist dieser Versuch einer Neufassung der diskursiven Formation jedoch sehr fragmentarisch und weiterhin auf den Bereich der Wissenschaft begrenzt. Außerdem verfährt Foucault bei der Auseinandersetzung mit den kommunikativen Prozeduren von Diskursen immer noch sehr sprachorientiert, wie der Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst am Beispiel des Archiv-Begriffs verdeutlicht: [Foucaults] Definition des Archivs spart die real existierenden Archive bemerkenswert konsequent aus und meint vielmehr ein transzendentales Dispositiv, das über die Möglichkeitsbedingungen bestimmter Redeformen a priori entscheidet. […] Das Missverständnis liegt darin, dass Foucault Archiv schreibt und Bibliothek praktiziert. Foucault schreibt, buchstabenorientiert, von »(Ver)Streuung«, nennt aber kaum deren Infrastruktur. (Ernst 2002, 18)
Ernst weist damit auf die fehlende Selbstreflexivität Foucaults hin, der in seinen empirischen Studien konsequent die Frage ausgespart hat, welche diskursive Funktion den realen Archiven (also Bibliotheken) zufällt, aus denen er sein Untersuchungsmaterial bezogen hat. Im Foucault-Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass Foucault durchaus mediale Aspekte der Wissensproduktion berücksichtigt, allerdings nur solange sie sich – wie die Verwendung von Tabellen – auf die direkte Anordnung der Zeichen innerhalb eines Textes beziehen. Vielleicht hätte Foucault argumentiert, dass sich darüber hinausgehende infrastrukturelle Kontexte bei der Beschreibung wissenschaftlicher Diskurse vernachlässigen lassen, weil sie relativ gleichförmig aufgebaut sind, da die Wissenschaft nur ein sehr eng gesetztes Repertoire an Darstellungsformen kennt. Auf massenmediale Diskurse trifft das jedoch nicht zu. Faircloughs intertextuelle Diskursheuristik verdeutlicht, dass der massenmediale Rahmen Diskurse strukturell beeinflusst, indem verschiedenen Sprechern auf verschiedene Arten Zugang gewährt wird und die Kommunikationsmöglichkeiten grundsätzlich durch die notwendige Einbindung in verschiedene gattungsspezifische und mediale Formen ganz erheblich beeinflusst werden. An Faircloughs vertikalem Diskursmodell wird deutlich, wie Medien als anonyme
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Strukturvariablen dem Kommunikationsprozess Bahnen und Bahnschranken zur Verfügung stellen, durch die sich die Kommunikation bewegen muss. Für die Analyse medialer Diskurse ergibt sich deshalb die Notwendigkeit, die Rolle der Medien als Diskursplattform angemessen zu berücksichtigen. Dafür sollen sie als eigenständiger Diskursort verstanden werden, der jedoch im Unterschied zu Faircloughs CDA nicht über die schlichte Identifikation von Akteuren und den Versuch der Rekonstruktion des Informationsflusses einzelner Kommunikationsereignisse beschrieben werden kann. Damit ist auch die vielleicht naheliegende Schlussfolgerung ausgeschlossen, das Mediale könnte beispielsweise über den Begriff der Infrastruktur einfach als ein weiteres Element in die von Foucault beschriebenen Prozeduren der Diskursproduktion eingefügt werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Modelle und Analysen von Fairclough, Jäger und Wengeler lässt sich erkennen, dass sich die gesamte Anlage der diskursiven Formation des Wissenschaftsdiskurses bei der Umlegung auf Massenmedien als untauglich erweist. Das wird deutlich, wenn man versucht, Foucaults vier Formationsebenen auf Mediendiskurse anzuwenden. (1) Konstruktivistisch lässt sich sagen, dass diskursive Praktiken immer zugleich ihre Gegenstände mit hervorbringen. Während jedoch in den Wissenschaften erstens eine enge Beziehung zwischen einer Disziplin und ihrem Objekt besteht, beziehen sich Medien in ihrer Berichterstattung auf eine Vielzahl von materiellen und nicht-materiellen Objekten, die letztlich nur als Gesellschaft oder Welt im Allgemeinen zu erfassen sind. Zweitens haben die Massenmedien in der Gesellschaft bei der Hervorbringung von Gegenständen einen anderen Status inne als die Wissenschaften, da sich die massenmediale Deutungshoheit über die Gegenstände auf Formen der Berichterstattung oder Kritik beschränkt. Ein wichtiges Kennzeichen medialer Diskurse liegt drittens in der engen, wechselseitigen und zeitlich dynamischen Anbindung an und Abhängigkeit von Weltereignissen, die außerhalb ihres Zugriffbereichs liegen. (2) Wissenschaftliche Diskurse lassen sich auf klar bestimmbare Sprecher zurückführen, die als Autoren direkt mit bestimmten Äußerungen, Texten oder Werken verbunden werden können und über den rigide institutionalisierten Status des Wissenschaftlers verfügen. Demgegenüber sind Medien hinsichtlich der Akteursperspektive anders aufgebaut. In ihnen kommen nicht nur Journalisten zu Wort, sondern von ihrem Selbstverständnis her ‚spricht‘ hier das ‚gesellschaftliche Leben‘ (bzw. was die Medien darunter verstehen), sodass hier eine Vielzahl möglicher Sprecherpositionen eingebunden ist. (3) Die Bildung von Begriffen – oder allgemeiner die Verwendung von Sprache – erfolgt im medialen Rahmen weniger hermetisch und homogen als in den Wissenschaften, da mediale Diskurse zum einen nur auf rhetorische Muster zurückgreifen können und zum anderen auf ein diffuses (Laien-)Publikum bezogen sind. (4) Schlussendlich wird vor diesem Hintergrund fraglich, ob oder inwieweit Medien überhaupt dazu in der Lage sind, rein aus sich selbst heraus diskursive Strategien auszubilden, die wie wissenschaftliche Theorien zu festen Wissenskomplexen verschweißt sind. Als Quintessenz dieser kurzen Gegenüberstellung soll deutlich werden, dass Massenmedien offensichtlich weniger fest gefügte, homogene Diskurskontexte ausbilden als die Wissenschaften. Sie operieren in einem vielfach
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geöffneten Kommunikationsraum, der im Gegensatz zum Wissenschaftssystem in einem ausgiebigen Austausch mit anderen Diskursbereichen steht. Massenmedien stellen eine anders strukturierte Ordnung der Wissensproduktion dar, die sich über Foucaults Formationsbegriff nur unzureichend einfangen lässt. Dieser Umstand führt Fairclough, Jäger und Wengeler indirekt dazu, den Bereich der diskursiven Formation in loser Übereinstimmung auf den Aspekt der thematischen Gleichförmigkeit zu reduzieren: Mediale Diskurse seien demnach lediglich Äußerungen, die sich mit einem bestimmten Thema auseinandersetzen. Zugleich beziehen alle drei Autoren in ihre Analysen jedoch wie selbstverständlich weitere Kontextbedingungen ein, ohne diese als Kontextvariablen explizit transparent zu machen. So ist die mediale Konstitution der diskursiven Wissensordnungen in allen Fällen die Grundvoraussetzung der Analyse, in der Umsetzung findet sie jedoch nicht oder nur unzureichend Berücksichtigung, da sie als ‚selbstredend‘ vorausgesetzt wird. Dabei zeigt die Auseinandersetzung mit den Analysepraktiken von Fairclough, Jäger und Wengeler an genau diesem Punkt ein gemeinsames Beschreibungsdefizit auf, das im Kern auf eine unzureichende Modellierung des medialen Kontextes zurückzuführen ist. Dennoch lassen sich aus diesen so verschiedenen Modellen zwei Ansatzpunkte für eine erste grobe Kartierung medialer Diskursordnungen herauspräparieren. Erstens weist Faircloughs vertikales Diskursmodell darauf hin, dass Massenmedien gesellschaftlichen Diskursen eine vielfältige Infrastruktur zur Verfügung stellen, die das intertextuelle Prozessieren von Informationen in mehr oder weniger geordnete Bahnen lenkt. Dabei erweist sich sein Weg, den massenmedialen Diskursrahmen primär über kulturtheoretisch bzw. linguistisch ausgerichtete Beschreibungen und Kategorien einzufangen, als wenig systematisch, da auf diese Weise alle Aspekte der Formierung diskursiver Praktiken ausgeschlossen werden, die jenseits dessen liegen. Zweitens zeigt Jägers Diskursheuristik, dass ein wesentliches Element massenmedialer Diskurse in der besonderen Einflechtung in die Dynamik von Themenund Ereigniskontexten liegt. Aufgrund dieser zweiten Kontextualisierung ist es nicht ausreichend, mediale Diskurse nur auf den Aspekt ihrer Infrastruktur zu begrenzen, vielmehr ist es notwendig, die Dynamik des Diskursverlaufs vor dem Hintergrund der medialen Konstituierung von Diskursen zu betrachten.
Topoi als Grundelemente Der forschungsleitende Gedanke bei der Bestimmung der elementaren Grundeinheiten, auf die sich die Analyse bezieht, folgt aus dem Zusammenspiel von Kontext und Aussage. Obgleich sich die Formen der Aussagen eines Diskurses nicht im Vorfeld der Analyse festlegen lassen, ist es notwendig, zumindest ein Vorverständnis davon zu entwickeln, wie sie überhaupt beschaffen sein müssen. Dazu muss die gewählte Aussagekategorie bestimmte Kriterien erfüllen. Foucault gibt dazu vier Minimalbedingungen an: Bezug auf ein Referenzial, ein Subjekt, ein Aussagefeld und eine Materialität. Es ist wichtig zu beachten, warum Foucault diese Minimalbedingungen überhaupt
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formuliert. Ihm ist daran gelegen, sicherzustellen, dass die analytische Konzeption der Aussage an die Idee des Diskurses anschlussfähig ist. Warum das wichtig ist, wird deutlich, wenn man sich noch einmal die Problematik der Modelle von Fairclough und Jäger vergegenwärtigt, die diesen Punkt außer Acht lassen. Ihnen gelingt es insbesondere deshalb nicht, überzeugend zu vermitteln, wie sich Diskursordnungen manifestieren, weil sie keine einheitlichen Elemente festlegen, mit denen vergleichbare sprachliche Übereinstimmungen innerhalb eines Textkorpus aufgefunden werden können. Überträgt man Foucaults vier Bedingungen auf Mediendiskurse, lassen sich für die diskursiven Grundelemente vier Kriterien festhalten: (1) Diskursrelevanz (Referenzial). Die Aussage eines Diskurses muss auf einen übergeordneten Bezugspunkt verweisen, damit es möglich wird, eine größere Anzahl von Aussagen aufzufinden, die sich ebenfalls diesem Bezugspunkt zuordnen lassen. Parallel dazu muss dieser übergeordnete Bezugspunkt eine analytische Relevanz besitzen. Für Mediendiskurse gilt das dann, wenn sich zwischen den Aussagen eine (zu definierende) thematische Übereinstimmung ausmachen lässt. (2) Diskurspositionierung (Subjekt). Der Bezug auf ein Sprechersubjekt bedeutet weder die explizite Zuschreibbarkeit einer Äußerung auf den Autor eines Textes noch ihre Verbindung mit einem davon zu unterscheidenden gesellschaftlichen Akteur (wie in Faircloughs Modell), sondern die grundsätzliche Möglichkeit der Zuordnung einer Äußerung zu einer komplexen Sprecherposition innerhalb eines Diskurses. Eine Aussage muss sich also einer überindividuellen Diskursposition zuschreiben lassen. (3) Vergleichbarkeit (Aussagefeld). Die Bestimmung der diskursiven Grundelemente muss so angelegt sein, dass mit der Analyse Erkenntnisse gewonnen werden können, die über die Beschreibung von Einzelfällen hinausgehen. Die zunächst einmal einzeln auftretenden, isolierten Aussagen müssen sich folglich miteinander in Beziehung setzen lassen. Dazu bedarf es einer analytischen Abstraktion von der einzelnen, konkret auffindbaren Äußerung. Es muss möglich werden, Aussagegruppen zu bilden, deren Vorkommen nach Übereinstimmungen und Abgrenzungen untersucht werden können. Eine Aussage muss sich also auf ein sprachliches Muster zurückführen lassen, mit dem ähnliche Gebrauchsarten verbunden sind. (4) Nachweisbarkeit (Materialität). Schließlich muss die Auswahl der Aussagen anhand von und in Abstimmung mit realen empirischen Texten getroffen werden, die ihrerseits in einem sinnvollen Kommunikationszusammenhang stehen müssen. Die Idee von Diskursanalyse, wie sie hier vertreten wird, setzt darauf, dass sich diese diskurstheoretische Funktionsbestimmung der Aussagekategorie mit dem alten rhetorischen Konzept des Topos verschmelzen lässt. Im Gegensatz zu Wengelers Diskurstopik, die mit einem schwach ausgearbeiteten Diskursbegriff arbeitet, demzufolge Topoi lediglich methodische Hilfsmittel der Analyse (‚Zugriffsobjekte‘) darstellen, baut diese Herangehensweise auf eine enge Verbindung zwischen einem ‚starken‘ Diskursbegriff und einem theoretisch aufgeladenen Toposbegriff. Letzteres lässt sich aus einem kommunikationstheoretisch erweiterten Verständnis der Topik gewinnen, wie es Lothar Bornscheuer in TOPIK (1976) entwirft. Für Bornscheuer sind Topoi ein „fundamentales Strukturelement der gesellschaftlichen Kommunikation“
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(108); sie lassen sich durch die „vier Strukturmomente“ (91) Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität kennzeichnen (96–104). Habitualität: Rekurrierend auf Bourdieus Habitusbegriff lassen sich Topoi als Sprachpraktiken bezeichnen, die sich durch ihren ständigen Gebrauch zu „verinnerlichten Mustern“ (Bourdieu 2003, 143) gesellschaftlicher Kommunikation verdichten. Potenzialität: Topoi sind grundsätzlich – sofern sie als allgemeine Topoi fungieren – lediglich formale Sprachformen, die inhaltlich nicht festgelegt sind. Erst in einem „bestimmten Problemzusammenhang [eröffnen sich] für die verschiedenartigsten Interessen konkrete Argumentationsperspektiven“ (Bornscheuer 1976, 99). Intentionalität: Ein unverrückbares Wesensmerkmal der Topoi sieht Bornscheuer in ihrer Doppelstruktur, sowohl auf argumentative als auch auf amplifikatorische (nicht-argumentative, rhetorische) Wirkungsweisen abzuzielen. Erst aus diesem „ambivalenten Charakter des Topos als einer sowohl sinnkonstitutiven wie polyvalenten Orientierungshilfe ergibt sich seine jederzeit aktualisierbare Argumentationsfunktion“ (102). Symbolizität: Das vierte Kennzeichen bezieht sich auf die gesellschaftliche Verwobenheit der Topoi. Ihre Verwendung geschieht im Rahmen soziokultureller oder sprachsoziologischer Horizonte, allerdings „gibt es […] weder für die Beschreibung eines Einzeltopos noch für eine Topik im Ganzen irgendein Vollständigkeitskriterium, sondern lediglich einen umrisshaften Rahmen, innerhalb dessen jede individuelle bzw. gruppenspezifische Aneignung und Verwendung ihre eigene Auswahl und Präzisierung treffen muss“ (104). Bezieht man die vier an Foucault orientierten Grundkriterien der Aussage (Diskursrelevanz, Diskursposition, Vergleichbarkeit, Nachweisbarkeit) auf einen solcherart erweiterten Toposbegriff, wird deutlich, dass sich Foucaults Kriterien darin zusammenführen lassen. Erstens referieren Topoi im Gegensatz zu grammatikalischen Einheiten, wie sie beispielsweise Begriffe oder Aussagesätze darstellen, nicht auf Realitäten, sondern bezeichnen komplexe Muster oder Strukturen, in denen genau jene von Foucault (1981, 133) geforderten „Möglichkeitsgesetze und Existenzregeln“ zum Ausdruck kommen, die eng mit dem gesellschaftlichen Prozess der Wissens- und Bedeutungsbildung verknüpft sind. Zweitens lassen sich über die Bestimmung von Topoi innerhalb konkreter Kontexte solche Sprecherpositionen bestimmen, die über die individuelle Positionierung eines einzelnen Akteurs hinausgehen. Topoi können mit überindividuellen, allgemeinen Sprecherpositionen in Verbindung gesetzt werden. Drittens ist es möglich, Topoi so weit zu systematisieren, dass sie vergleichbar werden können, da sie auf wiederkehrenden und wiederholbaren Mustern beruhen. Viertens bilden Topoi einen geeigneten Zugriffrahmen auf das empirische Material, weil sie nicht das Resultat einer sprachtheoretischen Deduktion sind, sondern analytisch sinnvoll nur auf tatsächlich realisierten Äußerungen beruhen können. Wengelers Überlegungen zur Toposanalyse verdeutlichen allerdings, dass diese Bedingungen nicht schon durch den einfachen Bezug auf Topoi erfüllt sind, da dem Toposbegriff eine gewisse Unschärfe eingeschrieben ist. Sie resultiert aus der Herkunft der Topik, die nicht als Analyseinstrument entstanden ist, sondern als ein Element der antiken Rhetorik ein umfangreiches Reservoir zur Anleitung verschiedenster Sprachgebräuche zur Verfü-
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gung stellen sollte. Wengelers Diskurstopik zeigt eine Möglichkeit auf, wie sich der Toposbegriff einsetzen lässt: über eine systematische Ausrichtung der Analyse auf die Identifikation der Schlussregeln von kontextrelevanten Argumentationsmustern. Der Wert von Wengelers Diskurstopik liegt darin, dass sie eine funktionale Differenzierung des Toposbegriffs aufzeigt. Topoi lassen sich als dynamische sprachliche Muster beschreiben, deren Bestimmung an Eigenschaften wie ‚argumentative Struktur‘, ‚rhetorische Realisierung‘ oder ‚Kontextgebundenheit‘ orientiert sein kann. Die entscheidende Frage ist nun, wie sich aus diesen Eigenschaften jene herausarbeiten lassen, die für eine Diskursanalyse von Bedeutung sind. – Die Antwort darauf lautet: die Bestimmung der Topoi muss angemessen erfolgen, und zwar angemessen an den Kontext ihres Auftretens, also den mit ihnen konstruierten Diskurs. Moderne Gesellschaften stellen nicht nur aus sozialer, sondern auch aus kommunikationstheoretischer Perspektive differenzierte Systeme dar. Neben der Unterscheidung zwischen direkter und medial vermittelter Kommunikation lassen sich diverse Kommunikationsbereiche bestimmen, die einen Diskurs auf verschiedene Arten (vor-)formatieren, da sie in einem jeweils eigenen Funktionszusammenhang stehen, wie es zuvor beispielhaft an der Differenz zwischen wissenschaftlichen und massenmedialen Diskursen aufgezeigt wurde. Dass eine solche systemische oder bereichsspezifische Vorprägung Auswirkungen auf die Realisationsformen eines Diskurses hat, kann mit Blick auf die referierten Diskursansätze als relativ unstrittig gelten. Fraglich ist jedoch, welche Schlüsse daraus für die Modellierung eines angemessenen Toposbegriffs gezogen werden können. Vergleicht man an diesem Punkt die konträren Vorgehensweisen von Jäger und Wengeler, so eröffnet sich ein gangbarer Weg. In Jägers Diskursmodell ließ sich als überzeugendstes Analyseinstrument zur Erfassung diskursrelevanter Aussagen die Methode der Identifikation so genannter ‚Kollektivsymbole‘ evaluieren, mit der die Bedeutung gesellschaftspolitisch konnotierter Metaphern in Diskursen hervorgehoben werden soll. Als problematisch erwies sich jedoch die unzureichende Anbindung der vereinzelt auffindbaren Metaphern an die inhaltliche Erörterung der verschiedenen Themenstränge, da die aufgefundenen Metaphern in erster Linie einem kollektiven, überdiskursiven System einer impliziten, politisch gelagerten Semiotik zugeschrieben werden. Betrachtet man die Theoriegenese der Kollektivsymbolik in der Diskurstheorie von Jürgen Link, tritt ein Grund für dieses analytische Defizit zutage. Ursprünglich resultiert die Idee der Kollektivsymbolik aus einer Theorie kultureller Diskurse, die in Auseinandersetzung mit literarischen Texten konzipiert wurde (vgl. Link 1999). Da literarische Texte Aussagen ausschließlich über narrative Muster etablieren, mag es durchaus möglich und sinnvoll sein, ihre Diskurse auf die dadurch evozierten Metaphern zurückzuführen. Wengelers Diskurstopik demonstriert im Gegensatz dazu eine vollkommen andere Form des Zugriffs auf mediale Diskurse. Dazu konzentriert er die Analyse nicht nur auf Argumentationsmuster, sondern zusätzlich nur auf solche, die sich auf die topische Formel weil/wenn ‚x‘, sollte die Handlung ‚y‘ folgen beziehen lassen. Damit trägt Wengeler der Tatsache Rechnung, dass der untersuchte Migrationsdiskurs Teil des Kommunikationszusammenhangs ‚politische Öffentlichkeit‘ ist, deren kommuni-
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kative Funktion darin liegt, Handlungsanweisungen für politische Verfahren zu produzieren. Spiegelbildlich zu Jäger fallen damit bei Wengeler alle sonstigen topischen Formen und Muster aus der Analyse heraus. Im Vergleich der beiden Ansätze funktioniert Wengelers Methode grundsätzlich gesehen überzeugender, weil sie u.a. unter dem Aspekt des allgemeinen Diskurskontextes das Kriterium der Angemessenheit besser erfüllt, obgleich Wengeler diesen Zusammenhang bei der Konzeption der Topoi genauso wenig reflektiert wie Jäger. Ex negativo lässt sich daraus folgern, dass es zur Bestimmung einer angemessen Modellierung der Topoi notwendig ist, bereits im Vorfeld der Analyse eine Vorstellung davon zu haben, welche topischen Formen innerhalb eines bestimmten Kommunikationskontextes für einen Diskurs relevant sind. Wengelers Eingrenzung des Analyserasters auf das spezielle Argumentationsmuster weil/wenn ‚x‘, sollte die Handlung ‚y‘ folgen und die damit verbundene Bezugnahme auf einen politischen Diskurs verdeutlicht, dass es dafür nicht hinreichend ist, nur von dem Mediendiskurs auszugehen. Vielmehr konstituieren sich Diskurse in Massenmedien auf je spezifische Weisen, die mit einem Set formativer Möglichkeitsbedingungen verbunden sind. Das weitere Vorgehen besteht deshalb darin, diese Bedingungen mit Blick auf den zu ermittelnden Diskurs aufzuschlüsseln. Diese analytische Operation wird keinen Anspruch auf Perfektion oder Vollständigkeit einlösen können, hat jedoch mehr als nur explorativen Charakter. Sie zielt darauf ab, zentrale Elemente der Formierung oder Kontextualisierung des fokussierten Diskurses offenzulegen, um sie in die strategische Ausrichtung der praktischen Analyse mit einzubringen. Dabei gilt es, die Erfahrungen der Analysepraktiken von Fairclough, Jäger und Wengeler aufzunehmen und die dort weitgehend vorherrschende Blindheit für die konstitutive Rolle der Medien durch die Anbindung an etablierte und (für diesen Schritt) brauchbare Konzepte der Medienanalyse zu kompensieren. Diese Funktion fällt dem nächsten Teil zu.
T EIL 2 M EDIEN UND K OMMUNIKATION
VORBEMERKUNG Im vorangehenden Teil wurde ausgehend von Foucaults Arbeiten zur Diskursarchäologie ein ‚starker‘ Diskursbegriff etabliert, der für eine Kopplung von theoretischem (Vor-)Verständnis und methodischer Vorgehensweise steht. Daran anschließend wurden drei diskursanalytische Konzepte vorgestellt, die diesen Ansatz auf die Analyse massenmedialer Diskurse übertragen. Dieser Schritt diente dazu, Schwachstellen und Lösungsansätze für jene Fragen aufzuzeigen, die Foucault für eine medienwissenschaftliche Diskursanalyse hinterlassen hat. Das betraf die intertextuelle und soziale Struktur massenmedialer Diskurse (Fairclough), ihre raumzeitliche Anordnung (Jäger) sowie ihre topische Grundierung (Wengeler). In diesem Teil wird nun der Zugang zur Analyse massenmedialer Diskurse weiter verfeinert, indem auf dieser Grundlage der spezifische Kontext herausgearbeitet wird, den Massenmedien für Diskurse zur Verfügung stellen. Die Grundüberlegung bildet dabei Foucaults Beschreibung von Diskursen als Möglichkeitsbedingungen, durch die den kommunikativen Praktiken in einer Gesellschaft ein Raum zur Verfügung gestellt wird, der sich zu gleichen Teilen als Rahmen einer konstitutiven Ermöglichung und einer formgebenden Einschränkung begreifen lässt. Massenmedien formieren damit einen Diskurs, indem sie spezifische Möglichkeitsbedingungen bereitstellen, die bestimmte kommunikative Praktiken wahrscheinlicher werden lassen als andere. Die folgenden Ausführungen haben die Aufgabe, diesen Vorgang genauer zu bestimmen. Die erste Überlegung greift dazu einen weiteren Grundgedanken Foucaults auf, der integral mit der Methode der Diskursanalyse verbunden ist. Das ist die geschichtsphilosophisch motivierte Einstufung von Diskursen als (historische) Einzelfälle, in denen Formation und Aussagen unverbrüchlich miteinander verschweißt sind. Verallgemeinert folgt aus dieser Festlegung, dass auch jeder massenmediale Diskurs seine eigene Formation/AussageRelation hat. Foucaults Betonung der Einzigartigkeit diskursiver Prozesse muss allerdings vor dem Hintergrund seiner historischen Studien gesehen werden, die auf die großen, übergreifenden Diskurse epochaler Zeitspannen gerichtet sind – und die dabei immer noch genügend Gemeinsamkeiten aufweisen, um vergleichbar zu bleiben. Die Kontextspezifik von Diskursen wird deshalb im Folgenden so verstanden, dass Diskurse an variable Konstitutionsräume angelagert sind, die sich in der Analyse perspektivisch fokussieren lassen. Somit ließe sich – theoretisch – über Reihenanalysen, die verschiedene Diskursvariablen kombinierten, ein allgemeiner Horizont massenmedialer Diskurse erschließen, der sich erst mit der Veränderung temporaler und kulturräumlicher Variablen verschiebt. Die nachstehenden Überlegungen stellen den Versuch dar, einen solchen diskursiven Horizont für den Kommunikationsraum der Massenmedien deduktiv zu skizzieren.
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Einleitend bietet es sich an, das Medienverständnis zu konkretisieren, das diesem Schritt unterlegt ist: Was bedeutet es, Massenmedien als Diskurskontext(e) zu situieren? Versteht man Diskursanalyse wissenschaftsgeschichtlich als Ausdruck eines linguistic turn, mit dem die besondere Bedeutung von Sprache bzw. allgemeiner von Zeichenhaftigkeit für die Ausbildung von Erkenntnisprozessen in den Vordergrund tritt, stellt sich für die Diskursanalyse die Frage, welcher Anteil dem Medialen an der Konstitution von Wissensprozessen zugesprochen werden kann: Wie stark prägt oder beeinflusst das mediale Setting, also die im weitesten Sinne materielle und technische Gebundenheit der Kommunikation, die Entfaltung von diskursiven Räumen? Diese Frage lässt sich nur mit einem medientheoretischen Rückbezug beantworten. In einem grundlegenden Aufsatz zur „Konstitutionsleistung“ der Medien verdeutlicht die Medienphilosophin Sybille Krämer (2003, 80) die darin liegende Problematik: „Wenn sich das Verständnis des Medialen bewegt auf der Skala zwischen ›Übertragung‹ und ›Erzeugung‹, dann wird die Frage: »Übermitteln oder erzeugen Medien etwas« zur Gretchenfrage der Medientheorie“. An anderer Stelle bezeichnet Krämer (2004, 22) die zwei Seiten dieser Skala als „Scylla und Charybdis der Mediendebatte“, da sie in ihrer Ausschließlichkeit beide zu falschen Vorannahmen verleiten. Auf der einen Seite dieser (Schein-)Alternativen befinde sich ein „Medienmarginalismus“, dem zufolge „Medien vermitteln und übertragen, indem sie das zu Übertragende möglichst invariant und stabil halten“, wodurch die Rolle der Medien auf die reine Vermittlung von Botschaften reduziert werde, welche in ihrem ‚Wesen‘ ein unabhängiger Bestandteil innerhalb des medialen Übertragungsvorgangs bleiben. Auf der anderen Seite der medientheoretischen Skala befinde sich ein an McLuhans (1968) Theorem ‚das Medium ist die Botschaft‘ anschließender „Mediengenerativismus“ (Krämer 2004, 22), der für die vollständige Verkehrung des ‚Medienmarginalismus‘ stehe. Im Denken des ‚Mediengenerativismus‘ seien es letztlich allein die Medien in ihrer technischen Konstitution, die „das, was sie übertragen, zugleich auch – irgendwie – hervorbringen“ (23). Das grundsätzliche Dilemma der Bestimmung der Rolle, die Massenmedien bei der Konstitution von gesellschaftlichem Wissen einnehmen, liegt also darin, eine differenzierte Beschreibung zu finden, in der das Mediale mehr ist als ein neutraler Träger von Informationen und weniger als deren subjektloser Produzent. Sybille Krämer setzt zur Auflösung dieses Dilemmas auf eine gesteigerte theoretische Sensibilität für die Bedeutung und die Grenzen der Bedeutung des Medialen. Dazu schlägt sie vor, zwischen ‚Medium‘ und ‚Medialität‘ zu unterscheiden. Medien definiert sie in Anschluss an Luhmanns „Medium/ Form-Relation“ als „die ›historische Grammatik‹ von Formen, Werken, Sinngehalten etc., die durch kulturelle Praktiken entstehen“ (Krämer 2003, 81). Mit dieser unspezifischen Medien-Definition wird zum Ausdruck gebracht, dass Medien zwar eine generative Funktion haben (ob diese als ‚Grammatik‘ treffend bezeichnet ist, kann dahingestellt bleiben), die sich jedoch einer ontologischen Kategorisierung entzieht, da sie von dem jeweiligen „Erkenntnisinteresse“ und „Beobachtungsstandpunkt“ abhängt (82). Diese Grundüberlegungen legen den Schluss nahe, dass das Mediale nur mit Bezugnahme auf
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ein konkretes Forschungsinteresse – eine Forschungsfrage – und auf ein konkretes Forschungsvorhaben – einen Analysefall – zu beschreiben ist. Für die nachfolgenden Ausführungen bedeutet das, die dort aufgeführten medialen Kommunikationskontexte unterliegen einer doppelten Vorstrukturierung. Zum einen sind sie das Ergebnis einer diskursanalytischen Funktionalisierung, wie sie im vorangehenden Teil 1 vorgenommen wurde, und zum andern sind sie an der Analyse eines konkreten Diskurses ausgerichtet, wie sie im anschließenden Teil 3 erläutert und umgesetzt wird. Welche Auswirkungen hat nun ein solcherart ‚entkernter‘ Medienbegriff auf die Beschreibung des Zusammenwirkens von Diskursen und Massenmedien? Ausgangspunkt ist die Grundüberlegung, Massenmedien konstituieren einen diskursiven Möglichkeitsraum, der an Foucaults Prinzip der diskursiven Formation orientiert ist. ‚Prinzip‘ deshalb, weil an der diskursiven Formation Foucaults nicht die vier von ihm entworfenen Kategorien von Interesse sind, sondern der damit zusammenhängende Mechanismus einer überlagerten Einwirkung verschiedener, miteinander zusammenhängender Determinanten (vgl. Busse 2001, 49), die sich zwar einzeln beschreiben, aber nicht unabhängig voneinander begreifen lassen. Dass es sich dabei ebenfalls um vier Bereiche handelt, ist allerdings Zufall. Des Weiteren sind diese vier Bereiche nicht als die diskursive Formation der Massenmedien zu verstehen, sondern stellen ein medienwissenschaftlich ausgerichtetes Modell einer Konstitutionsbestimmung eines spezifischen massenmedialen Diskursraums dar. Dass dieses Modell am Begriff der Kommunikation ausgerichtet ist, ist wiederum die Folge des diskursanalytischen Verständnisses, in dem Wissensordnungen letzten Endes nur durch den Vollzug konkreter kommunikativer Praktiken zum Entstehen gebracht werden können. Diese Kommunikationspraktiken werden in den nächsten vier Kapiteln unter der Maßgabe von vier Grundfragen erörtert, an denen Implikationen herausgearbeitet werden, die für ein angemessenes (Vor-)Verständnis der diskursiven Praktiken massenmedialer Kommunikationsprozesse sorgen sollen. In den vier Kapiteln werden Kommunikationskontexte aufgezeigt, die sich aus der massenmedialen Situierung von Diskursen ergeben, und auf ihre Diskurs-Effekte hin betrachtet. Damit soll erstens der Materialität der Massenmedien Rechnung getragen werden, die zu einer medial bedingten Institutionalisierung von Kommunikationspraktiken führt (Institutionalisierte Kommunikation), zweitens ihre intertextuelle Struktur Berücksichtigung finden, die Kommunikation als distinkte Prozesstypen organisiert (Prozessualisierte Kommunikation), drittens der gesellschaftliche Kommunikationsraum erschlossen werden, in dem massenmediale Diskurse interagieren (Sozialisierte Kommunikation) und viertens die kontextspezifische Verankerung aufgezeigt werden, in dem sich ein massenmedialer Diskurs als eine bestimmte Form einer Ereignisrealisierung konstituiert (Spezifizierte Kommunikation). Diese Kontexte werden sich teils überlagern, teils aneinander anschließen und sollen zusammengenommen den kommunikativen Rahmen aufspannen, an den die Analyse des Diskurses über Privatheit im Fernsehen anschließen kann.
INSTITUTIONALISIERTE KOMMUNIKATION In diesem Kapitel wird die Frage behandelt, wie Kommunikation durch die statische Bindung an ein Massenmedium in einer Gesellschaft auf eine bestimmte Art und Weise auf Dauer gestellt wird. Das Adjektiv ‚institutionalisiert‘ soll darauf hinweisen, dass jede Form medialisierter Kommunikation auf die Ausbildung einer materiellen Infrastruktur angewiesen ist, an die sie gebunden ist. Deren Beschaffenheit wird im Folgenden mit der Fokussierung auf Printmedien dargestellt. Diese Darstellung folgt der diskurstheoretischen Überlegung, dass massenmedialer Kommunikation keine eindimensionale oder monomediale Wesenheit zugrunde liegt, die sie immergleich formt, sondern mit jeweils bestimmten ‚Strukturvariablen‘ in Zusammenhang steht, die sich mit ihr zusammen ausbilden. Um diese medialen Strukturvariablen zumindest ansatzweise herauszuarbeiten, wurde ein analytischer Zugang gewählt, der in einer schrittweisen Fokussierung drei Rahmungen akzentuiert, die mit printmedialen Diskursen verbunden sind. Sie betreffen erstens die allgemeine Situierung jeder Form massenmedialer Kommunikation, die darin liegt, über technische Apparate vermittelt Aktanten miteinander in Beziehung treten zu lassen (Massenmedien), zweitens die Art und Weise wie dies im Bereich der Printmedien realisiert ist und drittens die zentrale kommunikative Form, die damit verbunden ist, die Schrift.
Massenmedien Am Anfang dieses Kapitels steht die Beschreibung der allgemeinen Beschaffenheit der kommunikativen Ausgangsposition von Massenmedien. Die Grundstruktur jeder Form massenmedialer Kommunikation besteht in der Inanspruchnahme technischer Mittel, die es erlauben, eine Struktur zu errichten, mit der Kommunikationsprozesse möglich werden, die über die Begrenzungen direkter Kommunikation hinausreichen. Der Gebrauch verschiedener Techniken der Informationsübertragung folgt dem Ziel, durch die Errichtung einer asymmetrischen Kommunikationsstruktur die Einbeziehung Vieler über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg zu ermöglichen. Welche grundsätzlichen Folgerungen sich daraus für das Kommunizieren schließen lassen, wird mit Hilfe zweier kommunikationstheoretischer Modelle aufgezeigt.
Direkte und vermittelte Kommunikation Theorien massenmedialer Kommunikation schließen in der Regel an das Modell an, das die Mathematiker Claude E. Shannon und Warren Weaver (1976, original 1949) im Auftrag des US-amerikanischen Telekommunikationskonzerns AT&T für die Telefontechnik entworfen haben (vgl. Kunczik/
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Zipfel 2001, 41ff.; Schulz 2002a). Dieses auch als Shannon-Modell (auf den es zurückgeht) bezeichnete Sender/Empfänger-Schema beschreibt einen technisch vermittelten, linearen Kommunikationsfluss (Abbildung 4): Von einer Informationsquelle ausgehend wird eine Nachricht in einen Sender eingespeist, der diese Nachricht in ein Informationssignal umwandelt, das über einen Kanal an einen Empfänger gesendet wird, wo es wieder in eine Nachricht zurückverwandelt wird, um von dort an ein Informationsziel weitergegeben werden zu können. Das technische Interesse der Mathematiker gilt innerhalb dieses Informationsflusses dem mittleren Teil des Modells – der Problematik des Zusammenwirkens von Sender, Kanal und Empfänger. Der Sender hat die Aufgabe, eine Nachricht in ein informationstechnisches Signal umzuwandeln, das aus einem (einfachen) Code bestehen muss. Die Nachricht muss dazu im Sender codiert werden. Der Kanal soll die codierte Information an einen Empfänger übertragen, was jedoch nicht ohne physikalische Verluste möglich ist und außerdem der Gefahr ausgesetzt ist, durch störende Außeneinflüsse verändert zu werden. Im Empfänger schließlich muss das ankommende Signal so zurückübersetzt – decodiert – werden, dass es der Ausgangsnachricht möglichst nahe kommt. Abbildung 4: Vermittelte Kommunikation
Nachricht Quelle
Signal
empfangenes Signal
Sender
Nachricht
Empfänger
Ziel
Störquelle Vgl. Shannon/Weaver (1976) Für Prozesse der massenmedialen Kommunikation ist das Shannon-Modell deshalb von Interesse, weil es zwei grundsätzliche Differenzen zwischen direkter und technisch vermittelter Kommunikation verdeutlicht. Diese bestehen erstens in der Zunahme an Einflussfaktoren auf den Kommunikationsprozess durch die Inanspruchnahme technischer Mittel. So werden die beiden Außenseiten der Informationsübertragung jeweils aufgespalten – der Sender in eine Informationsquelle und einen Enkoder, der Empfänger in einen Dekoder und ein Informationsziel. Die Informationsübertragung unterliegt beim Durchschleifen des Kanals potenziellen Informationsverzerrungen durch den entropischen Verlust von Informationen („Equivocaton“) und die Anreicherung der verbliebenen Signale mit störenden Nebengeräuschen („Noise“), was zu einer Transponierung der übermittelten Informationen führen kann (Krippendorff 1986, 20ff.). Zweitens deutet das Shannon-Modell bereits auf die Gerichtetheit massenmedialer Kommunikation hin. Im Gegensatz zum Telefongespräch, das einen Rückkanal besitzt (hier liegt eine grundsätzliche Schwachstelle für eine kommunikationstheoretische Adaption des Modells),
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kennzeichnet die Kommunikation der Massenmedien ein – mehr oder weniger – kontinuierlicher Fluss von Nachrichten in eine einzige Richtung. Obgleich Massenmedien zumeist über Feedback-Schleifen verfügen – seien es Verkaufszahlen, Quotenmessungen oder Leserbriefe – und somit keineswegs ‚blind‘ Signale ausenden, führt die Gerichtetheit der Kommunikation dennoch dazu, dass der Kommunikationsprozess „immer Übertragung, niemals Austausch von Mitteilungen [ist], d.h. Kommunikator und Rezipient wechseln ihre Rollen nicht, der Kommunikationsprozess ist asymmetrisch“ (Schulz 2002a, 160).
Massenkommunikation Während sich das Shannon-Modell nur auf apparativ vermittelte Medienkommunikation bezieht, entwirft der Kommunikationswissenschaftler Gerhard Maletzke in seinem Buch PSYCHOLOGIE DER MASSENKOMMUNIKATION (1963) ein Modell, das um den Begriff der Masse erweitert ist. Für Maletzke unterscheidet sich „Massenkommunikation“ durch fünf Eigenschaften von interpersonaler Kommunikation: die potenzielle Unabgeschlossenheit des Publikums, die technische Vermitteltheit, die räumliche, zeitliche oder raumzeitliche Distanz zwischen Sender und Empfänger, die Gerichtetheit des Kommunikationsflusses sowie die Ausrichtung auf ein allgemeines, disperses Publikum (32). Ausgehend von der Lasswell-Formel „Who says what, in which channel, to whom, with what effect?” (Lasswell 1948, 37) konstruiert Maletzke (1963, 41) ein Modell, das sich aus den „Grundfaktoren“ Kommunikator, Aussage, Medium und Rezipient zusammensetzt (Abbildung 5). Im Vergleich zum Shannon-Modell ersetzt Maletzke die Variablen Sender und Empfänger durch die weniger technisch determinierten, personalisierten Ausdrücke Kommunikator und Rezipient und integriert die übermittelten Informationen als eigenen strukturellen Faktor (Aussage) in den Kommunikationsprozess. Gleichzeitig wird der linear verlaufende Informationsfluss durch zahlreiche Interdependenzen und Rückkopplungsschleifen erweitert, weshalb das Ergebnis auch weniger ein Verlaufsmodell als vielmehr ein „Feldschema der Massenkommunikation“ abbilde. Für Maletzke (1988, 56) stellt ein Modell „eine vereinfachte, abstrahierende Repräsentation eines Realitätsbereichs“ dar, die darauf abzielt, „unter einer bestimmten Problemstellung relevante Aspekte herauszuheben und überschaubar zu machen“. Das von ihm entworfene Feldschema dient – wie die Lasswell-Formel – dazu, den Prozess der Massenkommunikation analytisch zu strukturieren, um kommunikationswissenschaftliche Forschungsbereiche aufzuzeigen und in einen Gesamtzusammenhang zu setzen. Wie jedes Modell hat auch dieses Feldschema seine Grenzen. Das Forschungsinteresse Maletzkes gilt den psychologischen Dimensionen der Massenkommunikation, weshalb der eigentliche Fokus seines Feldschemas auf die Variablen ‚Kommunikator‘ und ‚Rezipient‘ ausgerichtet ist (McQuail 1993, 46ff.). Der Bereich der ‚Aussage‘ wird hauptsächlich hinsichtlich dieser beiden Kategorien betrachtet, und das ‚Medium‘, worunter Maletzke (1963, 76) lediglich die technischen Apparaturen der Informationsübertragung fasst, bleibt der Betrachtung gänzlich entzogen. Auch kennt sein Modell keine kommunikative Anbindung jenseits der Medien. Zwar sind Kommunikator und Rezipient
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institutionell, sozial und psychologisch involviert, aber es gibt in seinem Feldschema kein kommunikatives Außen, aus dem bzw. in das der Informationsfluss einen In- bzw. Output erhält. Selbst der eher flüchtige Hinweis auf einen Zwang der Öffentlichkeit, der auf den Kommunikator einwirke, wird von Maletzke nur als eine direkte, sozialpsychologische Einwirkung verschiedener Instanzen auf die Kommunikatoren der Massenmedien gesehen (50ff.). Schließlich bleibt offen, welchen Status und Zusammenhang die durch Pfeile markierten Interdependenzen haben, mit denen im Gegensatz zum Shannon-Modell nicht mehr nur ein Informationsfluss, sondern höchst verschiedene (kommunikative, soziale, technische etc.) Einwirkungen gekennzeichnet werden. Abbildung 5: Feldschema der Massenkommunikation Spontane Antworten des Rezipienten Selbstbild
Selbstbild Auswahl aus dem Angebot
als Persönlichkeit Stoffauswahl, Gestaltung im Team
A
K
Zwang der Aussage / des Publikums
M
Erleben, Wirkung Zwang des Mediums
in der Institution in sonstigen sozialen Beziehungen
Bild vom Medium beim Zwang des Mediums Rezipienten Bild vom Rezipienten beim Kommunikator
Zwang der Öffentlichkeit
Bild vom Kommunikator beim Rezipienten
als Persönlichkeit
R
als Glied des Publikums in sonstigen sozialen Beziehungen
Maletzke (1963, 41) Dennoch bzw. gerade deshalb eignet sich Maletzkes Feldschema als eine erste Kartierung des allgemeinen Kommunikationsrahmens medialer Diskurse. Betrachtet man es als eine komplexe Form eines „Transmissionsmodells“ (McQuail 2000, 52f.), wird deutlich, dass schon der einfache Bezugsrahmen massenmedialer Kommunikation ein äußerst vielschichtiges und interdependentes Geflecht mit unterschiedlichen Einflussfaktoren darstellt. Die Komplexität der unterliegenden Kommunikationsstruktur der Massenmedien wirkt sich massiv auf die Möglichkeiten des Spielcharakters der – allgemein ausgedrückt – Zeichenverwendung aus, mit der hier Kommunikationen vollzogen werden können. Massenmedien sind deshalb dazu gezwungen, auf die strukturellen Zwänge und Ungewissheiten, die Störgeräusche und Eigensinnigkeiten, die konstitutiver Bestandteil ihrer Kommunikationssituation sind, mit einer Standardisierung von Kommunikation zu reagieren.
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Printmedien Wie lässt sich die mediale Disposition, also die institutionell bedingte Ausformung der Kommunikation von Printmedien, beschreiben? – Die Geschichte der Massenmedien lässt sich auch als eine Ansammlung von Versuchen lesen, Kommunikation in der Gesellschaft zu institutionalisieren. Mit ‚Institutionalisierung von Kommunikation‘ ist zunächst einmal nur der systemimmanente Hang zu strukturellen Verfestigungen des Kommunikationsfeldes gemeint, das gleichwohl durch gesellschaftliche und technische Veränderungen immer wieder gelöst und somit verändert werden kann. Anders ausgedrückt haben Medien einerseits eine Geschichte, die sie einem steten Wandel unterwirft, andererseits verfügen sie jedoch auch über die quasi-natürliche Trägheit von Institutionen. Der Kommunikationswissenschaftler Erich Feldmann spielt zwecks einer eher lakonischen Definition der Presse darauf an: Der einfachste Medienkomplex ist das Massenblatt Zeitung, in welchem der Redakteur Informationen im Druck wiedergibt und die Zeitung an die Leserschaft verteilen lässt. Diese Massenkommunikation hat sich seit der Erfindung der Buchdruckerkunst zu Beginn der Neuzeit im Buchdruck, im Flugblatt und Plakat, in Tageszeitungen, Wochenblättern und periodischen Zeitschriften mit Sprachtexten und Illustrationen bewährt und die ganze Menschheit schließlich mit Papier überschüttet. (Feldmann 1972, 10)
Das gedankliche Grundmuster, das in dieser Definition aufscheint, ist die aus dem Maletzke-Modell bekannte Vierteilung in Kommunikator („Redakteur“), Aussage („Information im Druck“), Medium („Zeitung“) und Rezipient („Leserschaft“). Darauf bezogen erscheinen Zeitungen und Zeitschriften als verfeinerte historische Ausprägungen des Medientyps ‚Druck‘, der sich durch die Bindung an das Trägermaterial ‚Papier‘ auszeichnet. Feldmanns Definition weist bei aller Korrektheit sicherlich ein gewisse Schlichtheit auf, was auch daran liegt, dass sie eher en passant formuliert wurde, da seine THEORIE DER MASSENMEDIEN (1972) auf die Begründung einer Theorie elektronischer Massenmedien ausgerichtet ist. Sie wird hier als ein Beispiel dafür angeführt, wie sich Massenmedien im Lauf der Jahrhunderte etappenweise in die gesellschaftlichen Kommunikationspraktiken eingewoben haben. Vor dem Hintergrund dieses Entwicklungsprozesses lässt sich die Beschreibung der diskursiven Infrastruktur der Printmedien als ein Prozess der Ausdifferenzierung konzipieren, mit dem eine kommunikative Grundkonstellation, das Informativ, in eine historisch veränderbare Informationsstruktur überführt wird.
Das Informativ Aus den Anfängen der deutschsprachigen Publizistikwissenschaft sind zahlreiche Ansätze überliefert, in denen versucht wird, das Medium Zeitung über so genannte ‚Wesensmerkmale‘ zu bestimmen (vgl. Groth 1928, 21–90). Den in der Kommunikationswissenschaft bis heute gebräuchlichen Konsens dieser Merkmale gibt ein immer noch gern zitierter Satz wieder (z.B. Schulze 2001, 11; Wilke 2002, 460), der auf Emil Dovifat, Nestor der deutschen Zeitungs-
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wissenschaft, zurückgeht. Er lautet: „Die Zeitung vermittelt jüngstes Gegenwartsgeschehen in kürzester regelmäßiger Folge der breitesten Öffentlichkeit“ (Dovifat 1931, 9). In dieser Definition kommen vier Eigenschaften zum Ausdruck, die seit der frühen Publizistik als Kennzeichen des Pressemediums ‚Zeitung‘ gelten, dem später über den Begriff der periodischen Presse noch die ‚Zeitschrift‘ hinzugefügt wurde (Groth 1960, 101ff.). Sie lauten: Periodizität der Erscheinungsweise („in regelmäßiger Folge“), Universalität des Gegenstandsbereichs („Gegenwartsgeschehen“), Aktualität der Ereignisvermittlung („jüngstes Gegenwartsgeschehen“) und Publizität der Vermittlungsform („der breitesten Öffentlichkeit“). Diese vier Grundkriterien, die sich schon für frühe Ausprägungen der ersten Zeitungen nachweisen lassen (vgl. Schröder 1995), beschreiben eine funktionale gesellschaftliche Rolle, die Zeitungen in ihrer Geschichte eingenommen und mit dem Entstehen der modernen Massenpresse ab dem späten 18. Jahrhundert ausgebaut haben. Zeitungen waren im Grunde genommen die ersten Medien, auf die Luhmanns (1996, 9) funktionalistisches Diktum, „was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, gemünzt werden kann. ‚Funktionalistisch‘ ist dieser Satz zu verstehen, insofern er weniger eine allgemeingültige Aussage über die Wahrnehmung der Welt an sich wiedergibt (natürlich wissen wir nicht alles, was wir über die Welt wissen, aus den Medien), als vielmehr die ultimative Voraussetzung oder das konstitutive Versprechen, das der Möglichkeit des Funktionierens von Medien als Massenmedien vorausgeht. Hedwig Pompe (2002, 122) bezeichnet die vier Eigenschaften Periodizität, Universalität, Aktualität, Publizität deshalb etwas ironisch, aber durchaus zutreffend als „Tugenden“, bei denen es sich weniger um eine quasi-natürliche Modalität der Zeitungs-Kommunikation handle, als um normative Zuschreibungen, die schon durch die Zeitungsmacher des 17. Jahrhunderts befeuert wurden und so bereits sehr früh in den ‚innermedialen‘ Diskurs vorgedrungen seien. Daran lässt sich die These knüpfen, dass Zeitungen aus ihrer Historie heraus eine Art diskursive Grundformation ausgebildet haben, die in die Praxis des Zeitungsmachens eingegangen ist. Pompe verdeutlicht die Notwendigkeit einer gewissen Überhöhung des kommunikativen Selbstverständnisses, wenn sie die „Arroganz“ (129) des medialen Anspruchs einer universalen Weltabbildung testweise in ihr Gegenteil verkehrt, die einer Kapitulation des Mediums gleichkäme: „Alles, was in der ›Zeitung‹ steht, ist Alltägliches, nie wirklich Wichtiges, sondern banales Geschwätz – dies alles ist im Vergleich mit anderen Worten der Wissensproduktion und -speicherung nur ›Müll‹“ (Pompe 2002, 129). Dem ‚Müll‘ entgegengesetzt steht der Anspruch des Mediums, unverzichtbarer Teil der Kommunikation über die Gegenwart zu sein: „Die Druckschrift der Zeitung soll dabei helfen, beständiges Archiv und flüchtige Kommunikation mit dem Blick auf Wahrhaftigkeit kurzzuschließen“ (130). Die Umsetzung dieses Versprechens manifestierte sich in einer Vorformatierung der Kommunikationspraktiken, die sich durch die vier Merkmale Periodizität, Universalität, Aktualität, Publizität kennzeichnen lässt. Um dies zu verdeutlichen, wird diese Voreinstellung der Informationsvermittlung im Folgenden als das Informativ der Massenmedien bezeichnet.
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Diskursanalytisch zeichnet das Informativ drei Eigenschaften aus: Erstens soll durch den Begriff herausgestellt werden, dass damit keine unverbrüchlichen ‚Wesensmerkmale‘ beschrieben werden, sondern eine interdependente Anordnung kommunikativer Variablen, die sich nicht voneinander trennen lassen. Um dem Anspruch einer universellen und möglichst aktuellen Berichterstattung gerecht zu werden, ist eine kontinuierliche und möglichst zeitnahe Erscheinungsweise vonnöten. Zugleich „ermöglicht [Periodizität] eigentlich auch erst die Verwirklichung der Publizität, das tatsächliche Eindringen in die breiteste Öffentlichkeit, das einzelne veröffentlichte Nachrichten kaum je erreichen können, da ihr Empfang […] dem Zufall anheimgegeben“ wäre (Groth 1960, 119). Genauso ist der universalistische Anspruch, relevante Informationen über die Gesellschaft bereitzustellen, damit verbunden, mit der größtmöglichen Aktualität über potenziell relevante Ereignisse zu berichten etc. Zweitens weist der Informativbegriff darauf hin, dass die vier Merkmale völlig unterschiedliche Aspekte innerhalb des Kommunikationsprozesses betreffen. Sie „beziehen sich auf Bedingungen, Möglichkeiten und Effekte der ›Zeitung‹ als […] Kommunikationsmedium“ (Pompe 2002, 122) und bilden somit ein Ensemble heterogener Elemente. Die diskursive Funktion dieser heterogenen Elemente liegt drittens darin, die Diskurspraktiken der Zeitungskommunikation bis in ihre Tiefenstruktur hinein so zu präformieren, dass es den Printmedien möglich wird, dauerhaft den gesellschaftlich exponierten Raum eines Massenmediums einzunehmen. Betrachtet man den Weg der periodischen Presse von den ersten Zeitungen, die sich als kleine ökonomische und organisatorische Einheiten auf die ungeordnete Weitergabe von Nachrichten beschränkt haben (vgl. Straßner 1999), bis hin zu der Produktpalette von Zeitungen und Zeitschriften, wie sie heutzutage von großen Verlagshäusern erstellt werden, wird der Prozess der medialen Ausdifferenzierung oder „Ausfaltung“ (Pompe) anschaulich, der mit dem Informativ historisch verbunden ist. Selbstverständlich sind die Realisierungsformen, durch die Printmedien diese gesellschaftliche Rolle in ihrer Geschichte eingenommen haben, untrennbar an technische, gesellschaftliche, ökonomische und politische Bedingungen gebunden (vgl. Stöber 2005). Mit dem Informativ der Printmedien, das wohl auch auf elektronische Massenmedien Anwendung finden könnte, soll jener Ausschnitt des übergreifenden „Mediendispositivs“ (vgl. Hans 2001; Hickethier 2002a) erfasst werden, der für die weiterführende Beschreibung des diskursiven Kommunikationsrahmens von Belang ist. Mit Bezug auf das Maletzke-Modell kann dann danach gefragt werden, wie sich die Existenz eines solchen Informativs auf die komplexe massenmediale Kommunikationssituation auswirkt, die von Maletzke als Verbindung von Kommunikator, Aussage, Medium und Rezipient skizziert wird, und wie es in der historischen Praxis in eine mediale Struktur des ‚Informierens‘ überführt worden ist.
Informationsstruktur Dieser Schritt ist einfacher, als es zunächst den Anschein haben mag, da hierbei auf typische Beschreibungen zurückgegriffen werden kann, mit denen die Organisation des Informationsverkehrs im Umfeld des Mediums Zeitung allgemein strukturiert wird und wie sie schon seit langem in der Zeitungs-
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bzw. Publizistikwissenschaft zu finden sind (z.B. Hagemann 1950; März 1951). Dabei geht es nicht darum, den Autoren folgend eine Anatomie der Zeitung nachzuzeichnen, vielmehr soll die Vielfältigkeit und Mehrdimensionalität der verschiedenen Faktoren aufgezeigt werden, die hier auf den Kommunikationsfluss einwirken. Auch wird schnell deutlich, dass sich diese Faktoren nicht eins zu eins auf Maletzkes Feldschema übertragen lassen, das sich wissenschaftshistorisch gerade dadurch auszeichnet, solche anatomischen Beschreibungsformen durch ein systematisches Kommunikationsmodell ersetzt zu haben. Gleichwohl stellt dessen komplexe Feldstruktur einen Orientierungspunkt dar, an dem die Beschreibung ausgerichtet werden kann. In diesem Fall lassen sich vier Elemente hervorheben, die den Kommunikationsrahmen der Printmedien diskursiv vorstrukturieren. Sie beziehen sich auf (1) Quellen, (2) Kommunikatoren, (3) Gegenstände und (4) Gattungen. (1) Quellen. Im Gegensatz zum Maletzke-Modell, in dem der konkrete Kommunikationsprozess bei einem (journalistischen) Kommunikator seinen Ausgangspunkt hat, trennen beispielsweise der Kommunikationstechniker Shannon (1976) oder der Zeitungswissenschaftler März (1951) zwischen „Quelle“ und „Sender“ bzw. „Stoff“ und „Verarbeitung des Stoffes“. Damit weisen sie darauf hin, dass der massenmedialen Verbreitung einer Nachricht bereits ein Kommunikationsprozess vorgelagert sein muss, der unter mediengerechten Gesichtspunkten Informationen aus dem diffusen Weltgeschehen bereitstellt. Während sich das Zeitungsmedium in seiner Frühphase lediglich als reiner Sammler und ‚Abdrucker‘ von Nachrichten verstand, die von externen Informanten (oftmals reisende Kaufleute) eingesandt wurden (vgl. Püschel 1999), übernimmt diese Funktion im Zeitalter der modernen Massenpresse ein eigens dazu entstandener Bereich von Informationsdienstleistern (Nachrichtenagenturen). Darüber hinaus haben sich mit der steigenden Bedeutung der Massenmedien in ihrem Umfeld Kommunikationsbereiche ausgebildet, die als public relations eigens dazu da sind, Informationen zu produzieren, die in den Medienprozess Eingang finden sollen. Schließlich lassen sich (wenn auch nicht völlig unabhängig davon) Institutionalisierungen von Quellen unterscheiden, die auf Routinen der Berichterstattung selbst zurückgehen. Sie betreffen die Auswahl von bestimmten Personen, Institutionen oder auch anderen Medien, auf die nach Maßgabe der Zeitungskommunikatoren zurückgegriffen wird. (2) Kommunikatoren. Parallel zur Institutionalisierung und Ausdifferenzierung verschiedener Quellen kristallisierte sich mit der modernen Massenpresse eine zunehmende Verfestigung des Kommunikatorbereichs heraus. Hierbei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Erstens kam es mit dem Entstehen von immer regelmäßiger (größere Aktualität) und umfangreicher (größere Universalität) erscheinenden Zeitungen zu einer organisatorischen Professionalisierung; es bildeten sich Redaktionen heraus, die wiederum in bestimmte Themen- und Funktionsbereiche untergliedert sind. Die Herausbildung von Redaktionen hat drei Konsequenzen für die diskursive Strukturierung des Kommunikatorbereichs: (a) Mit der Professionalisierung und der Erlangung kommunikativer Eigenständigkeit entsteht das Berufsbild des Journalisten, dem eine fest gefügte Rolle zufällt. Seine
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Aufgaben liegen in der Erlangung (Recherche), Selektion (Prüfung nach bestimmten Kriterien) und Weitergabe (Berichterstattung und Kommentierung) von Informationen (Esser/Weßler 2002, 171). (b) Die Herausbildung von Redaktionen ist verbunden mit einer Spezialisierung der ‚universalistischen‘ Kommunikatoren nach verschiedenen Gegenstandsgebieten und organisatorischen Aufgabenbereichen. Journalisten gewinnen auf diese Weise einerseits fachliche Kompetenzen oder werden – negativ formuliert – auf bestimmte Themenbereiche festgelegt, andererseits werden die internen Abläufe der Textproduktion durch den differenzierten Aufbau der Redaktion strukturiert. (c) Als Folge von Professionalisierung und redaktionellen Rollenzuschreibungen bildete sich ein spezifisches journalistisches Selbstbewusstsein aus, dessen Kommunikationsverständnis nicht mehr im undifferenzierten Sammeln und Verbreiten von Nachrichten liegt, sondern um eine aktive Rolle im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess bemüht ist. Diese kann allerdings zwischen einem Selbstverständnis als Unterhaltungs- und Servicedienstleister, Informationsagent, Gesellschaftskritiker oder politischer Akteur variieren (Scholl/Weischenberg 1998, 175ff.). Zweitens finden neben den Journalisten als den ‚alltäglichen‘ Kommunikatoren auch immer wieder andere Akteure als Publizisten Eingang in den Kommunikationsprozess. Zu ihnen zählen nicht nur professionelle, ungebundene Autoren, sondern auch eine Vielzahl sonstiger Experten und Spezialisten, die als (Interessen-)Vertreter verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche (Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft etc.) zu Wort kommen können. (3) Gegenstände. Während „der Textaufbau der frühen Zeitungen […] primär nicht an inhaltlich-thematischen Kriterien, sondern an der Überlieferungsgeschichte der Nachrichten orientiert ist“ (Schröder 1995, 68), bildeten sich mit einer zunehmenden Nachrichtenfülle allmählich inhaltliche Gliederungen heraus (vgl. Stöber 2005, 180ff.). Diese führten zu einer medienspezifischen Anordnung der Berücksichtigung von Gegenständen der Berichterstattung, auf die sich die Zeitungskommunikation bezieht. Eine moderne Tageszeitung wäre ohne die Unterteilung in themenspezifische Ressorts wie Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, Lokales etc. undenkbar. Unter Diskursgesichtspunkten sind daran zwei Dinge von Interesse. Zum einen führt die inhaltliche Anordnung der Berichterstattung nicht nur zu einer besser Orientierung der Leserschaft innerhalb der Zeitung und einer übersichtlicheren Organisation der Zeitungsproduktion, sie hat zugleich eine Rasterung der Weltabbildung innerhalb des Mediums zur Folge. Der Universalismusanspruch einer Zeitung ist somit von vornherein auf die Verwertbarkeit von Informationen hinsichtlich einer möglichen Zuschreibung zu einem der bereitgestellten Ressorts angewiesen. Hinzu kommt, dass jeder Sparte einer Zeitung nur ein bestimmtes Volumen zur Verfügung gestellt werden kann, in dem sich jede Nachricht in Konkurrenz zu anderen Nachrichten nach bestimmten Kriterien durchsetzen muss. Zum anderen zieht die ressortspezifische Gliederung der Präsentation von Nachrichten eine Hierarchisierung der einzelnen Ressorts und damit auch der in ihnen verhandelten Inhalte nach sich. So steht in Tageszeitungen an erster Stelle die Politik, in der wiederum in der Regel die Innen- vor der Außenpolitik rangiert, gefolgt vom Wirtschaftsteil oder dem
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Feuilleton etc. Diese Hierarchie bildet eine symbolische Ordnung der Wertigkeit von Themen und Nachrichten. Diese Wertigkeitsskala bezieht sich sowohl auf die Aneinanderreihung der einzelnen Ressorts (durch die z.B. entschieden wird, ob Wirtschaft oder Kultur von größerer Bedeutung ist) als auch auf die Zuordnung einer Nachricht zu einem Ressort (wenn beispielsweise Wirtschafts- oder Kulturthemen zum Politikum erhoben werden) sowie auf die Art und Weise der räumlichen Platzierung oder optischen Hervorhebung einer Nachricht innerhalb eines Ressorts, ihrer zusätzlichen Berücksichtigung auf der Titelseite oder ihrer Thematisierung im Kommentarteil. Neben diesen verschiedenen Zuordnungen von Themen und Vorgängen der Berichterstattung zu Bereichen innerhalb der medialen Gliederung kennzeichnet die Printmedien auch eine typologische Ausdifferenzierung. Diese betrifft sowohl die allgemeine Differenz zwischen Zeitungen und Zeitschriften als auch Differenzierungen innerhalb dieser beiden Typen von Printmedien (vgl. Stöber 2005, 227ff.). Zeitschriften, die sich bereits wenige Jahrzehnte nach den ersten Zeitungen herausgebildet haben, lassen sich aus Sicht der Tageszeitung „als Prozess der funktionalen Differenzierung“ beschreiben, „in dem sich die periodische, feste Strukturen annehmende Publikationsform als die für bestimmte Zwecke geeignetste durchsetzte“ (Wilke 2000, 71). Zeitschriften haben, wie Wilke fortfährt, den Charakter von Zeitungen „in eingeschränkter Weise“, da sie jedem der vier Kriterien des Informativs weniger umfassend gerecht werden. Allerdings ist diese Feststellung dahingehend zu ergänzen, dass Zeitschriften keine ‚gehandicapten‘ Zeitungen darstellen. Erst durch ein anders gewichtetes Informativ wird es ihnen möglich, andere Versprechen zu etablieren: z.B. ein geringerer Informationsaufwand durch selteneres Erscheinen, eine Spezialisierung und Vertiefung der Berichterstattung durch längere Artikel, eine verbesserte Relevanz der Berichte durch stärkere Selektion oder eine Exklusivität der Verbreitung durch eine geringere Auflage. Ließen sich auf ähnliche Weise vereinzelte Unterschiede innerhalb der beiden Pressetypen beschreiben, wird auch so deutlich, wie die Konstruktion und Vermittlung von Gegenständen in den Massenmedien durch komplexe Verbindungen zwischen Medienbeschaffenheit und Publikumserwartungen und -bedürfnissen im eigentlichen Sinne des Wortes vorformatiert werden. (4) Gattungen. Untrennbar verbunden mit der Institutionalisierung von Quellen, Kommunikatoren und Gegenständen ist die Herausbildung journalistischer Gattungen, die den unmittelbaren formativen Rahmen der Weltvermittlung zur Verfügung stellen. Die Expansion und Ausdifferenzierung der Printmedien und ihre Genese zu eigenständigen, auch ökonomischen Institutionen der gesellschaftlichen Kommunikation verlief parallel zur Etablierung bestimmter Mitteilungsformen, in die das Weltgeschehen eingepasst wird. Mit der allmählichen Erlangung politischer Unabhängigkeit durch das Prinzip der Pressefreiheit bildeten sich neben den einfachen Formen der Nachrichtenverbreitung explizit subjektive Meinungsgenres heraus, die Printmedien eine neue Funktion einnehmen ließen. Sie wurden zu Meinungsagenturen. Die damit verbundene Institutionalisierung journalistischer Gattungen zu Rastern der Weltvermittlung, „die den Teilnehmern Orientierung über die Art des stattfindenden Kommunikationsprozesses bieten“ (Keppler
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2006, 312), ist ein komplexer Prozess. Er resultiert aus dem Zusammenspiel von Standardisierungen der Medienproduktion, Rezeptionserwartungen und der journalistischen Praxis (vgl. Fowler 1982, 256; Pörksen 2004, 16–19). Mit Blick auf journalistische Lehrbücher lassen sich grundsätzlich berichtende und kommentierende Muster als Grundformen unterscheiden (vgl. Mast 2000, Ruß-Mohl 2003). Zu den berichtenden und darstellenden Formen gehören die Meldung, der Bericht, das Porträt, die Reportage und das Feature – zu den kommentierenden Formen können der Leitartikel, der ‚kleine‘ Kommentar, die Glosse, die Rezension bzw. Kritik und der Essay gezählt werden. Gleichwohl es keine Möglichkeit des Berichtens ohne Werten gibt, das schon mit der notwendigen Auswahl bestimmter Nachrichtenereignisse und Informationsquellen einsetzt, so kommt in dieser Unterteilung dennoch die journalistische Konvention zum Ausdruck, nach der es zwischen der Beschreibung und der Kommentierung der Welt in bestimmtem Maße zu trennen gelte.
Schrift als Medium Das vielleicht nächstliegende und bisher übergangene Erkennungsmerkmal der Printmedien ist die „Fixierung in Schrift und Druck“ (Wilke 2002, 460) oder, genauer gesagt, die (druck-)technische Fixierung in Schrift, Bild, Layout und Format – schließlich leiten sich aus dieser materialen Gestaltung Bezeichnungen wie ‚Presse‘-, ‚Druck‘- oder ‚Printmedien‘ ab. Da sich die hier vorgenommene Ausrichtung von Diskursanalyse auf die schriftsprachliche Fixierung und Repräsentation von Diskursen in Form rhetorischer Muster konzentriert, lässt sich die Frage nach der Bedeutung des semantischen Trägermaterials von Printdiskursen von vornherein auf den Aspekt ihrer Reproduktion im Medium der Schrift eingrenzen. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass innerhalb der Printmedien auch nicht-schriftliche Erscheinungsformen – wie die Reproduktion von Fotos (vgl. Stöckl 2004) – eine diskursive Relevanz besitzen können. Wenngleich die damit vorgenommene Eingrenzung auf die Schriftlichkeit der Printmedien eine Vereinfachung darstellt, ist der Versuch, einer Bestimmung der Bedeutung von Schriftlichkeit für das Prozessieren von Wissensbestandteilen dennoch nicht unproblematisch. Der Grund dafür liegt in der Vielschichtigkeit des Schriftbegriffs, der zwei mediale Eigenschaften vereint, die je eigene Implikationen beinhalten: die skriptografische und die typografische Konstitution der Kommunikation (Giesecke 1991, 29ff.). Darin enthalten sind der gleichzeitige Bezug auf das eher „informelle“ Medium des geschriebenen Wortes und auf das stärker „formalisierte“ Medium der gedruckten Type (Hickethier 2003a, 20) sowie die Einbeziehung grundverschiedener Prinzipien der Codierung von Informationen, zu denen sowohl die grundsätzliche Unterscheidung in verschiedene Zeichensysteme gehört, wie sie phonetische oder logografische Schriftformen darstellen, als auch die Einteilung in verschiedene Einzelsprachen. Deshalb lassen sich die diskursiven Voreinstellungen oder Möglichkeitsbedingungen, die aus der Schriftlichkeit erwachsen, hier nur in sehr groben Zügen anführen. Die folgende Bestimmung ihrer diskursiven Effekte orientiert sich im Großen und Ganzen an den
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sehr allgemeinen Differenzen zwischen schriftlichen und mündlichen Gesellschaften, deren basale mediale Organisationsweisen des Wissens grundlegende Auswirkungen auf die darin eingebetteten Kulturen haben (vgl. Goody 1990). Dabei gilt es wiederum die besondere diskursive Qualität herauszustellen, die ein Horizont von Möglichkeitsbedingungen eröffnet, der sich hinsichtlich der (1) technisch-funktionalen, (2) medialen, (3) sozialen und (4) rhetoriktheoretischen Implikationen der Schrift unterscheiden lässt. (1) Technisch-funktional betrachtet, ist das Aufkommen der Schrift historischer Ausdruck der kommunikativen Praxis des Schreibens. Damit ist für Walter J. Ong (1987, 86) ein wissenstechnologischer Quantensprung verbunden, der „die intellektuelle Aktivität des modernen Menschen geformt und befördert hat“. Denn Schreiben ist „kein bloßes Anhängsel des Sprechens“, vielmehr „transformiert es Sprechen und Denken gleichermaßen“ (87). Dieser Transformationsprozess entspringt in westlichen Gesellschaften dem zentralen Qualitätskriterium der dort verwendeten Schriftsprachen: ihrer phonografischen Systematik (vgl. Wende 2002). Der Bezug auf ein verbindliches und einfaches Alphabet förderte die Erlernbarkeit von Sprache und erleichterte den intersprachlichen Austausch; die Lautschrift gestattete eine Flexibilisierung der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem und erschloss dadurch der Kommunikation die Möglichkeit, mit konkreten Begriffen und Formulierungen über abstrakte Dinge nachzudenken. Damit fand die Verschiedenartigkeit der Welt innerhalb gleichartiger und damit potenziell anschlussfähiger Diskurse ihren Platz. Diskursanalytisch kennzeichnet phonetische Schriftsprachen eine hohe Abstraktions-, Bildungs-, Übersetzungs-, Übertragungs- und Multifunktionsfähigkeit. (2) Neben diese Gebrauchsaspekte der Schrift tritt eine neue Qualität, die aus dem medialen Vermögen der Schrift resultiert, in Verbindung mit entsprechenden Trägermaterialien als komplexer Speicher gesellschaftlichen Wissens zu fungieren. So entstand kulturgeschichtlich die Chance zur Überschreitung des Wissens einer Gesellschaft über die begrenzten Ressourcen der einzelnen Mitglieder durch die Ausdehnung und Verlagerung des kulturellen Gedächtnisses auf mediale Archive. Jedoch steigert jede schriftliche Kultur mit der Auslagerung des Wissens in mediale Speicher nicht nur ihre Leistungsfähigkeit, indem sie von den kognitiven Fähigkeiten des ‚Mängelwesens‘ Mensch unabhängiger wird. Zugleich ist damit die Notwendigkeit verbunden, über den unmittelbaren Gebrauch des Wissens hinaus auch die Modi der Organisation, des Zugriffs und der Interpretation auf die Archive zu regeln. Texte sind als archivarische Materialisation von Schriftlichkeit, wie Jan Assmann (1999, 91) schreibt, „von sich aus noch nicht [lebendig], sondern nur insoweit, als sie ihrerseits zirkulieren“. Und im Vergleich zu oralen Gesellschaften, in denen Bedeutung und Archivierung in der mündlichen Zirkulation aneinander gebunden seien, gehe jede Schriftgesellschaft mit der medialen Externalisierung des Wissens zugleich das Risiko ein, „den Sinn aus der Zirkulation und Kommunikation auszulagern“. Unter diskurstheoretischen Gesichtspunkten lässt sich dazu die These formulieren, dass gerade in dieser „riskanten Form der Sinn-Weitergabe“ ein qualitatives, weil schöpferisches Moment schriftlicher Diskurse liegt. Paradoxerweise steckt in der technisch verbesserten Speicherung von Wissensbe-
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ständen im ‚verlässlicheren‘ Medium der Schrift, in dem jeder Buchstabe fest an seinem Platz steht, eine kreative Energie, die sich genau daraus ableitet, dass durch die notwendige Benutzung des Archivs als Ort des externalisierten Gedächtnisses die Kommunikation um ein reflexives Moment erweitert wird. Denn das schriftliche Wissen ist nicht mehr personalisiert und insofern ‚selbstredend‘, sondern bedarf einer Art Gebrauchsanleitung, die den Umgang mit dem Archiv als dem Kontext, in den Schriftlichkeit eingebettet ist, regelt. So gehe der Übergang von einer rituellen (mündlichen) zu einer Schriftkultur, wie Assmann fortfährt, mit der Notwendigkeit der Kanonbildung einher, die dem Eintritt eines „Dritten“ in den Kommunikationsprozess gleichkomme: des „Interpreten, der zwischen Text und Adressaten tritt und die normativen und formativen Impulse freisetzt, die in der Textoberfläche eingeschlossen sind“ (95). Das Aufkommen des Buchdrucks verstärkte das reflexive Moment der Schriftkultur noch einmal, indem es für die Archivierung des Wissens notwendig wurde, „wer a) die Informationen gewonnen und bereitgestellt und b) die Daten eingegeben hat“ (Giesecke 1991, 323). Auf diese Weise wurde die Schriftkommunikation mit zurechenbaren Elementen versehen, wie sie Autoren, Titel oder klassifizierbare Inhalte (wie Gattungen) bilden. Allgemein ausgedrückt, gewinnt mit der Umstellung der Speicherung des Wissen auf Schriftbasis die Gebrauchsebene, mit der die organisierte Zirkulation der schriftlich materialisierten Wissensbestandteile angeleitet werden muss, innerhalb der Kommunikation eine immer größere Bedeutung gegenüber der reinen Sinnebene. D.h. schriftliche Texte können nicht nur einfach ihre Inhalte präsentieren, sondern müssen zugleich versuchen, ihre eigenen kulturellen Verwendungsweisen zu antizipieren. So entstehen mit der Schriftkultur nicht nur Diskurse als regelgeleitete Kommunikationspraktiken, in die ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen ‚eingeschrieben‘ sind. Aus der damit einhergehenden Reflexivität erwächst auch erst die Möglichkeit einer Veränderung von Sinngehalten über eine Veränderung der Spielregeln des Zugriffs auf die (schriftlich) gespeicherten Wissensbausteine. (3) Wie an Foucaults (1991, 81) Anmerkung zum Modus der Kommentierung kanonischer Schriften als einer sozial gebunden Interpretationspraxis der Verfestigung von Wissensbeständen deutlich wird, entsteht mit der immanenten Reflexivität der Schriftlichkeit die neue Qualität einer umfassenden gesellschaftlichen Verbindlichkeit von Kommunikation. Lässt sich die gesellschaftliche Funktion von Sprache verallgemeinernd mit Frank Hartmann (2000, 87) als „gemeinsame Anlage des Menschen zur Wirklichkeitsbewältigung im Sinne einer Gebundenheit an seine soziale Organisationsfähigkeit“ beschreiben, so zieht die Materialisierung von Sprache im Medium der Schrift, wie Hartmann – einen Gedanken Ernest Gellners aufnehmend – folgert, „umgekehrt eine Entkörperlichung des Wortes“ (88) nach sich. Die Entkopplung des Wortes von der Bindung an einen konkreten sozialen Sprecher und eine konkrete situative Konfiguration verleihe der Sprache die Gelegenheit, eine soziale „Transzendenz“ zu entflammen: „Das entkörperlichte Wort löst die Menschen aus ihrer sozialen Einbettung“. Schriftlichkeit erschließt der Kommunikation somit einen neuen Möglichkeitsraum, „denn ab jetzt gibt
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es Sinn ohne Sprecher und Zuhörer“ (Gellner 1993, 82), wodurch der Sprache gewissermaßen Flügel verliehen werden: Schrift ermöglicht die Kodifizierung und systematische Abfassung von Aussagen, mithin die Schöpfung einer Glaubenslehre oder Doktrin. Eine Geistlichkeit, eine Gruppe von Spezialisten für die Bereitstellung von Ritualen, Legitimationen, Tröstungen, Therapien wird wie jede andere Unterabteilung der Gesellschaft früher oder später dazu tendieren, ihren Bereich abzustecken, um den Zugang zur Gruppe zu beschränken und sich ein Monopol zu sichern. Adam Smith berühmte Äußerung über Geschäftsleute dürfte ebenso gut für Schamanen gelten. […] Aber wie lässt sich in einem Gebiet mit einer Vielzahl lokaler Kulte Gleichartigkeit des Rituals und eine feste Ritualordnung durchsetzen? Mit der Einführung der Schrift ändert sich die Situation. Standardisierung und Normenkontrolle im Bereich der Vorstellungen werden möglich. (Gellner 1993, 84)
Die Externalisierung des Wissens durch die Archive der Schriftkultur wird auf diese Weise zu einem gesellschaftlichen Machtinstrument, dessen Herrschaftsbereich entsubjektiviert ist und das dadurch neue Wege der Sinnvermittlung und Beeinflussung beschreiten und neue soziale Räume für sich erschließen kann. Mit dem Eintritt der Sprache in den Raum der Schrift entsteht die Möglichkeit, kommunikativ Macht auszuüben, ohne auf unmittelbare soziale Präsenz angewiesen zu sein. Erst unter dieser Voraussetzung kann Macht in Herrschaft und Hegemonie zerfallen. (4) Rhetoriktheoretisch stellt die Schrift ein umfangreiches Kommunikationsmittel zur Verfügung, das an bestimmte Gebrauchstechniken gebunden ist. Im Gegensatz zur direkten Kommunikation ist Schriftkommunikation auf technisch erzeugte Trägermedien angewiesen, die den schriftlichen Kommunikationsprozess einer asymmetrischen Sender/Empfänger-Struktur unterwerfen. Auch für die schriftliche Kommunikation gilt, was nach dem ShannonModell als die ‚Tücken des Kanals‘ bezeichnet werden kann: Die Informationen des Senders können sich im Prozess der Informationsübertragung verändern. Entropie und Rauschen sind dabei allerdings nicht als technische Effekte zu verstehen, da hier nicht der Übertragungsvorgang das primäre Problem ist. Vielmehr ist die Kommunikation einer strukturellen Gefährdung ausgesetzt, die mit dem fehlenden Rückkanal (einseitiger Kommunikationsfluss) und der – im Vergleich zur oralen Kommunikation – eingeschränkten sinnlichen Verbindung zwischen Sender und Empfänger zusammenhängt (Ong 1987, 102f.). Aus rhetoriktheoretischer Perspektive ist der Schriftgebrauch, wie der Rhetoriker Joachim Knape (2000, 62) schreibt, im Gegensatz zur mündlichen Rede mit einem gesteigerten „medialen Widerstand“ behaftet, den es zu überbrücken gilt. Die Anwendung rhetorischer Überzeugungstechniken sei von vornherein auf die central route der kognitiven Verbindung zwischen Sender und Empfänger angewiesen. Zum Einsatz können nur Mittel und Formen kommen, die das „auf Rationalität ausgerichtete Argumentieren“ betreffen, da die peripheral route der Persuasion, „die Einflussnahme über paralinguistische, nonverbale und performative Kommunikationsmittel“ verstellt sei (96). Schriftlichkeit ziehe somit die Notwendigkeit nach sich, mit sprachlichen Mitteln eine „rhetorische Textpräsenz“ (106) zu erzeugen.
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Knape stellt unter Bezug auf Aristoteles POETIK (1994) drei Gesichtspunkte heraus, denen bei der Erzeugung rhetorischer Textpräsenz eine besondere Relevanz zufällt: ethos, diánoia und léxis (Knape 2000, 125–129). Ethos bezieht sich auf die Etablierung und Konturierung des Autors als ‚sprechende‘ Instanz. Er müsse versuchen, innerhalb des Textes ‚Charakter‘ zu beweisen, indem für die Leser identifizierbar wird, „wozu er neigt oder was er ablehnt“ (Aristoteles 1994, 1450b). Bezogen auf einen Diskurs beschreibt ethos somit das Besetzen einer distinkten Position. Diánoia, was sich mit „Gedankenführung“ (1456b) übersetzen lässt, bezieht sich auf die Steuerung des Vermittlungsvorgangs. Ein Schreiber müsse versuchen, mit schriftsprachlichen Mitteln die Rezeption seines Textes anzuleiten, da das „Gedankensubstrat“, das ein Text „lenkend“ vermitteln will, „eine bestimmte sprachliche Gestalt“ finden muss, „um im Bewusstsein des Rezipienten zu wirken“ (Knape 2000, 128). Diskurstheoretisch ist mit diánoia die Notwendigkeit verbunden, eine Argumentation zu entfalten, die einen möglichst hohen Grad an Plausibilität beinhaltet. Léxis bezieht sich schließlich auf den möglichst wirksamen Einsatz der Schriftsprache, die eine bestimmte „Formulierungskunst“ (129) entwickeln müsse. Im rhetorischen Zusammenhang falle darunter die Verwendung von „Gestalttypen der Formulierung“, durch die in einem Text ästhetische Strukturen aufgebaut werden. Diskurspositionen müssen also in treffende, überzeugende sprachliche Formen und Figuren eingefügt werden.
PROZESSUALISIERTE KOMMUNIKATION Norman Fairclough (1994, 71) unterscheidet in den frühen Fassungen der Critical Discourse Analysis die diskursive Praxis der Diskursproduktion in die drei Bereiche Textproduktion, -rezeption und -distribution. Später fällt der Distributions-Bereich aus der diskursiven Formation stillschweigend heraus. Der Grund für die anfängliche Berücksichtigung des Distributionsaspektes liegt vermutlich in der Absicht, den materiellen (diskurs-)ökonomischen Kontext von Kommunikation in die Analyse zu integrieren. Die spätere Tilgung der Kategorie distribution ist allerdings eine konsequente Folge der auf soziale Akteure bezogenen Grundkonzeption von Faircloughs Diskursanalyse. Denn sonst stellte sich die Frage, wie die Distribution von Texten den Status einer Praxis annehmen soll, ohne dabei zu einer Arbeitsbeschreibung für Zeitungs- oder Postboten zu werden. Es steht zu vermuten, dass Fairclough aus diesem Grund bei der Weiterentwicklung seines Ansatzes den Distributionsaspekt aus der diskursiven Praxis eliminiert haben wird. Ungelöst bleibt damit aber die Frage, wie sich der Aspekt der ‚Verteilung‘ von Kommunikation in einem Diskursmodell niederschlagen soll. Relevant ist die Distributionsfrage für Diskurse insofern, als die Zirkulationsweisen von Bedeutungen entscheidenden Einfluss auf Gestalt und Ablauf der Kommunikation selbst haben. Deshalb wendet sich dieser Abschnitt der Frage zu, wie sich Prozesse der Wissenskonstruktion in der diskursiven Praxis massenmedialer Kommunikationsprozesse beschreiben lassen. Da Kommunikationsflüsse als solche nicht sichtbar sind, sondern lediglich anhand von Spuren rekonstruiert werden können, befinden sich Versuche der Sichtbarmachung auf sandigem Untergrund, zumal wenn das in relativ generalisierender Absicht geschieht. Andererseits griffe jedes Verständnis von Kommunikation oder Diskurs zu kurz, dass sich nicht für deren flüchtige Prozesshaftigkeit interessierte. Ein Kommunikationsverständnis, das auf Prozesse bezogen ist, setzt allerdings einen besonderen Blickwinkel voraus, in den einleitend anhand des Begriffs der Intermedialität eingeführt wird, um daran anschließend zwei Momente des (massen-)medialen Prozessierens von Wissen genauer zu betrachten: Transkribieren und Normalisieren.
Intermedialität Dass es Fairclough nicht gelingt, dem Prozesscharakter von Kommunikation gerecht zu werden, um die spielerische, fließende und poröse Formierung von Diskursen in die Analyse medialer Realitäts- und Wissenskonstruktionen einzufügen, hängt auch mit einem unzureichenden Medien- und Kommunikationsverständnis zusammen. Fairclough richtet sein Analysedesign im We-
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sentlichen am Begriff ‚Intertextualität‘ aus. Der Intertextualitätsbegriff erweist sich jedoch insbesondere unter dem Aspekt der medialen Kontextualisierung von Kommunikation als problematisch. Obgleich im Intertextualitätskonzept die Prozesshaftigkeit von Kommunikation in die Beschreibung von Diskurspraktiken Eingang findet, indem Texte in einen übersubjektiven Bezugsrahmen gestellt werden, mit dem die Zirkulation von Bedeutungen zwischen Texten in den Vordergrund gehoben wird, verbleibt in diesem Modell eine offene Flanke. Sie hängt mit der in den Intertextualitätskonzepten weitgehend unberücksichtigten Frage zusammen, wie sich die mediale Struktur von Texten als Raum kommunikativer Möglichkeiten und Zwänge auf das Zirkulieren von Bedeutungen auswirkt. Die Medialität von Diskursen kann diskursanalytisch solange vernachlässigt werden, wie die mediale Basis eines intertextuellen Zusammenhangs ein großes Maß an Gleichförmigkeit aufweist. Solange etwa die Anwendung des Intertextualitätskonzepts auf eine ‚idealtypische‘ literarische Textproduktion bezogen ist, in der literarische Texte im Horizont literarischer Texte verfertigt werden, spielt Medialität für eine diskursanalytische Betrachtung eine untergeordnete Rolle, weil sowohl der Möglichkeitsrahmen der Kommunikation als auch der „mediale Widerstand“ (Knape) der Textproduktion relativ konstant bleiben. Die Konfrontation von Intertextualität mit einer z.B. in der modernen Kunst und Literatur zu beobachtenden zunehmenden Streuung von Gattungen und medialen Formen, in denen sich Schreibakte realisieren, führt das Intertextualitätskonzept jedoch an seine Grenzen. Denn wo „alles zum Text geworden ist“ fallen all jene Transformationsprozesse unter den Tisch, die „in Konfigurationen medialer Gattungen entfaltet werden“ (Paech 1998, 15). Diesen Differenzen soll mit dem Begriff der Intermedialität Rechnung getragen werden. Intermedialität ist in den Kulturwissenschaften – ähnlich wie Intertextualität – mit einer Anzahl unterschiedlicher Konzepte verbunden; es steht als „Hyperonym für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene […], also all der Phänomene, die dem Präfix ›inter‹ entsprechend, in irgendeiner Weise zwischen Medien anzusiedeln sind“ (Rajewsky 2002, 12). An den vielfältigen Konzepten von Intermedialität sind eher generelle Gesichtspunkte des Zusammenhangs zwischen Medialität und Kommunikationsprozess von diskursanalytischem Interesse. Der Bezug auf Intermedialität ermöglicht einen Perspektivwechsel, dessen Wert in der analytischen Identifikation und Strukturierung verschiedener Ebenen und Bereiche liegt, in und zwischen denen Kommunikation prozessiert wird. Mit dem Intermedialitätsbegriff können breiter angelegte Bezüge und Relationen der massenmedialen Kommunikation herausgestellt werden. Zwar existieren schon im Kontext der Intertextualitätsforschung Ansätze, die sich auf ‚systemische‘ Aspekte kommunikativer Bezüge stützen (vgl. Pfister 1985b), die semantische Orientierung auf scheinbar gleichartige Einheiten, wie sie im Textbegriff zum Ausdruck kommt, verstellt jedoch den Blick für das Mediale. Intermedialität lenkt als erweiterter Oberterminus den Fokus bei der Analyse von Kommunikationsprozessen auf die verschiedenen Arten und Formen des Prozessierens von Kommunikationen und bezieht sich damit stärker auf die Frage der „Verfahrenstechnik“ (Spielmann 1995, 115) bei der
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Realisierung von Kommunikationsakten. „Der intermediale Bezug erscheint dabei aber nicht als Folge eines […] Übersetzungs- oder Transformationsprozesses; vielmehr stellt sich dieser als notwendiger verfahrenstechnischer Bestandteil der Umsetzung einer Bezugnahme dar“ (Rajewsky 2002, 63). Irina O. Rajewsky unterscheidet in ihrem Entwurf von INTERMEDIALITÄT (2002) drei Dimensionen, in denen solche prozessualen Verfahrenstechniken unter grundsätzlich veränderten medialen Bedingungen zum Zuge kommen: (a) Intramedialität, (b) Intermedialität und (c) Transmedialität. (a) Intramedialität bezeichnet Prozesse, die sich innerhalb eines identischen Medientyps beobachten lassen; dazu zählt Rajewsky beispielsweise literarische Bezugnahmen eines Romans auf einen anderen Roman oder ein literarisches Genre. Intramedialität umklammert damit jenen Bereich, den die klassische Intertextualitäts- und (literaturwissenschaftliche) Quellenforschung bearbeitet. (b) Intermedialität kennzeichnet Bezugnahmen zwischen verschiedenen Medientypen und bildet das eigentliche Arbeitsfeld der Intermedialitätsforschung. Rajewsky unterscheidet drei Unterformen von Intermedialität (15ff.): „Medienkombination“ – das Zusammenspiel verschiedener medialer Versatzstücke, aus dem selbst wiederum eine neues Medium hervorgehen kann; „Medienwechsel“ – die (mehr oder weniger vollständige) Transformation eines medienspezifischen Textes in ein anderes Medium, wie das beispielsweise bei Literaturverfilmungen der Fall ist; „intermediale Bezüge“ – eine Zwischenform von Medienkombination und -wechsel, die dann eintritt, wenn in einem Medium auf ein anderes Medium rekurriert wird, ohne dass dabei die Struktur bzw. Materialität des bezugnehmenden Mediums grundsätzlich verändert würde („fakultative Bezugnahme“). Dazu zählen sowohl einzeltextuelle Bezüge auf ein anderes Medium, Bezüge auf ein Genre eines anderen Mediums sowie Bezüge auf ein anderes Medium als „System“. (c) Transmedialität kennzeichnet schließlich übergeordnete „medienunspezifische ›Wanderphänomene‹, […] wie das Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik […] in verschiedenen Medien, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebundenen Ursprungsmediums möglich ist oder für die Bedeutungskonstitution des jeweiligen Medienprodukts relevant würde“ (12). Intermedialität im Sinne Rajewskys bezeichnet ein Verfahren der Kennzeichnung medial präfigurierter Übertragungsprozesse. Für einen diskursanalytischen Ansatz bildet er die Möglichkeit einer medialen Differenzierung von Kommunikationsprozessen. Mit Blick auf die Analyse wird das Augenmerk darauf ausgerichtet, dass sich die zirkulierenden Diskurspartikel beim Durchschreiten der Diskursräume an verschiedene distinkte mediale Formungen von Kommunikation anpassen müssen. Allerdings ist der weitere heuristische Nutzen des Intermedialitätsansatzes für die Beschreibung der prozessualen Aspekte von printmedialen Diskursen begrenzt, da Intermedialitätsforschung primär im Kontext ‚ästhetischer Diskurse‘ steht. Sie befasst sich mit komplexen, mehrfach medial überlagerten Prozessen der Transformation von Inhalten als „operative[n] Formen der Differenz im Übergang von einer Form zu einer anderen, indem die vorangegangene Form zum Medium der folgenden gemacht wird“ (Paech 1998, 23). Intermedialität konzentriert sich damit primär auf Fragen ästhetischer Figurationen, womit die hier
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verfolgte Beschäftigung mit der Verdichtung von Wissen als topisch geformten Performanzen in den Hintergrund gerät.
Transkribieren Diskursanalytisch fruchtbarer als die am Problem des intermedialen Transfers von narrativen Stoffen ausgerichteten Intermedialitätskonzepte ist der stärker generalisierte Ansatz zur Intermedialitätsproblematik, der von dem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Germanisten Ludwig Jäger unter dem Begriff der Transkriptivität entwickelt wurde. Mit dem Transkriptivitätsbegriff eröffnet sich eine größere analytische Spannbreite zur Strukturierung medialer Prozesse, die über die Unterscheidung medialer Bezugnahmen hinausgeht. In der folgenden Darstellung wird Jägers Konzept geringfügig modifiziert. Erstens wird anstatt von ‚Transkriptivität‘ von ‚Transkribieren‘ die Rede sein, um den im Transkriptivitätskonzept intendierten Verfahrens- und Praxischarakter hervorzuheben (was durchaus in Jägers Sinne ist). Damit verbunden ist zweitens eine Erweiterung von Jägers Unterscheidung zwischen Transkribieren und Adressieren um den Vorgang des Selektierens.
Kommunikation als mediales Verfahren Jägers Ausgangspunkt bildet ein entkernter Medienbegriff, der ähnlich wie Sybille Krämers Medienphilosophie als eine doppelseitige Kritik ansetzt. Die Kritik richtet sich gleichermaßen gegen postmoderne Medientheorien – wie sie in Baudrillards (1991) Diagnose der Herausbildung einer „Hyperrealität“ zum Ausdruck kommt, die als tragendes Kennzeichen der Medialisierung der gesellschaftlichen Kommunikation das Verschwinden von Realität bzw. Realitätsbezügen ansieht (Jäger 2002b) – und gegen ‚wesenhafte‘ Bestimmungsversuche des Medialen – wie sie in kategorischen Definitionsversuchen zum Ausdruck kommen, die nach allgemeingültigen konstitutiven Eigenschaften suchen (Jäger 2004a). In Abgrenzung zu solchen Ansätzen geht es Jäger darum, nach der „operativen Logik“ (70) des Medialen zu fragen, um die begrifflichen Grenzen aufzulösen, die gleichermaßen von einer postmodernen Medienapokalyptik wie von einer ontologischen Medienforschung gezogen werden. Der Punkt, den Jäger diesen Ansätzen gegenüber macht, liegt in dem Hinweis, dass grundsätzlich keine Kommunikation ohne ‚Medien‘ im Plural möglich sei. Genauso wie es keinen Zugang zur Welt gebe, der nicht durch Medien verstellt sei bzw. erst durch sie bereitet werden müsse, existieren keine monomedialen Weisen der Generierung von Bedeutungen: „Medien operieren […] bereits in sich als ›mixed media‹“. Jäger (2001b, 19) verdeutlicht diesen Umstand an der Konstitution des Mediums ‚Sprache‘, das bereits als präliterales (Ur-)Medium durch die synchrone Bindung an gestische und auditive Organe in seiner Grundkonstellation audiovisuell verfasst sei. Da auch Schriftsprachen auf präliterale Sprachen zurückgehen, seien auch literale Sprachen in diese „visuelle Semantik“ (35) eingebunden. Im Unterschied zu McLuhans Diktum vom ‚Medium als Botschaft‘ ist Jäger daran gelegen, mit dieser anthropologisch-evolutionären Argumentation darauf hinzuweisen, dass Sprachzeichen insgesamt konstitu-
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tiv sind für die „Sphäre des Zeichenhaften“ (20), also Schrift nicht nur ohne (präliterale) Sprache als Kommunikationstechnik undenkbar wäre, sondern generell „das Mediale an den Zeichen nicht nur Bedingung der Möglichkeit ihrer Übertragbarkeit ist, sondern der Sinnbildung selber“ (Krämer 1997, 12). Sprache ist damit für Jäger (2001b, 32) das basale „audiovisuelle Dispositiv des Medialen“ bzw. fungiert – wie er (2004b, 335) an anderer Stelle schreibt – als „medialer Prototyp und als letztes Metamedium“ der Kommunikation. Vor dem Hintergrund eines auf diese Weise gleichermaßen entgrenzten und auf Sprache fokussierten Medienbegriffs verändert sich die Perspektive, aus der die Medialität der Kommunikation in den Blick gelangt: Der überkommene geisteswissenschaftliche Deutungs-Blick auf die Artefakte geistiger Emanationen öffnet sich kulturwissenschaftlich für die Beobachtung der performativen Prozesse medialer Sinn-Generierung. Medien können nun als Verfahren beschrieben werden, die die spezifische Ausprägung gesellschaftlicher Sinn-Inszenierung organisieren – nicht als je autochthone symbolische ›Weisen der Welterzeugung‹, sondern als wechselseitig ineinander verschränkte Kommunikationskulturen. Sie folgen dabei als symbolische Praktiken einer Logik der Prozessierung von intermedialer Differenz, die sich als eine Logik der Transkription näher beschreiben lässt. (Jäger 2004a, 71)
Für die Adaption von Jägers Transkriptionsmodell kann offen bleiben, ob hier tatsächlich eine (bisher verborgene) „Logik“ am Werk ist oder die schlichte Notwendigkeit eines technisch-medialen Zusammenhangs deutlich wird, die aus der wechselseitigen Gebundenheit medialer Kommunikationsformen herrührt. Auch die medientheoretischen Annahmen einer generellen „audiovisuellen“ Grundierung von Sprache lassen sich vernachlässigen. Wichtig ist, dass Jägers sprachlich fixierter Zugang zu intermedialen Prozessen überaus kompatibel ist mit einem Diskursverständnis, das an den sprachlichen Zusammenhängen von Kommunikationsprozessen interessiert ist, die als Praktiken der Ein- und Umschreibung von Wissensformationen begriffen werden. Jägers Transkriptionsmodell ist – anders als die Intermedialitätskonzepte – weniger an der Problematik des Zusammenwirkens medialen Formen ausgerichtet (wie der Übertragung eines filmischen Stoffes in ein Hörspiel), sondern bezieht sich auf die Problematik des Gebrauchs von Kommunikation in medial überformten Kontexten. Verfahren des Transkribierens lassen sich mit Jäger (2002b, 29) als semantische Diskursmechanismen einer medienimmanenten „Generierung und Lesbarmachung von Welt“ beschreiben, denen die kommunikative Funktion zufällt, als ein rezessiver Prozess über die „Erschließung von Bedeutung“ neue Bedeutung zu produzieren – mithin also Sinn aus Sinn jeweils neu zu konstituieren. Jäger unterscheidet dabei analog zu der aus der Intermedialitätsforschung bekannten Kartierung medialer Bezugnahmen zwischen einer infra- und einer intermedialen Ebene, richtet sie jedoch an der unterschiedlichen Funktionalisierung des Sprachgebrauchs aus. Auf einer inframedialen Ebene verweist Transkribieren auf die von Habermas so bezeichnete „eigentümliche Doppelstruktur“ (Habermas 1975, 104) der natürlichen Sprache, die es ermöglicht, mit „Sprache über Sprache kommunizieren“ (Jäger 2002b, 29)
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zu können. Inframediales Transkribieren bezeichnet folglich metasprachliche Verfahren der Selbstregulierung des Sprachgebrauchs (‚Sprachdiskurs‘), um „den Verwendungssinn von Äußerungen zu erschließen bzw. durch SelbstRezeption (Monitoring) und Überarbeitungshandlungen (Repair) zu organisieren“ (Jäger 2004b, 340). Intermediales Transkribieren bezieht sich im Gegensatz dazu auf all jene Verfahren zur Generierung von Bedeutungen, bei denen zumindest ein zweites mediales Kommunikationssystem zur Kommentierung, Erklärung, Explikation oder Übersetzung (der Semantik) eines anderen medialen Systems herangezogen wird (Jäger 2002b, 29). Jäger (2004a, 74) unterscheidet dabei grundsätzlich zwei verschiedene Arten: Als „unidirektionalen Typus“ könne man etwa den Vorgang der Übersetzung oder Kommentierung bezeichnen, bei dem lediglich „die transkribierende Textur den jeweiligen Ausschnitt des transkribierten Symbolsystems semantisch erschließt“. Im Gegensatz dazu lassen sich wechselseitige Vorgänge des Kommentierens, „in dem sich der semantische Effekt dem iterativen Wechsel der Transkriptionsfunktion zwischen den symbolischen Texturen verdankt“, als „oszillierender Typus“ beschreiben. Abbildung 6: Vorgang der Transkription
Präskript Präskript Präskript Präskript Präskript Präskript Präskript Präskript
Präskript
Skript Skript Skript
Skript
Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript
Transkript
Vgl. Ludwig Jäger (2002b) Ein transkriptives Verfahren (Abbildung 6) setzt sich zusammen aus: (a) einem „Transkript“ als der verwendeten medialen Form, mit der ein Diskurs fortgeschrieben wird, wie sie z.B. ein Zeitungsartikel darstellt, (b) einem „Skript“ als dem konkreten Ausschnitt des transkribierten medialen Systems, das ‚lesbar‘ bzw. kommunizierbar gemacht werden soll, (c) einem „Präskript“ als der medialen bzw. textuellen Quelle, dem ein Skript zugerechnet werden kann und auf das im Transkript Bezug genommen wird, sowie (d) der „Transkription“ als dem Vorgang der Konstitution eines neuen Transkripts (Jäger 2002b, 30). Der diskursanalytische Wert dieser Einteilung liegt weniger auf der heuristischen Ebene, die unter dem Verlaufsaspekt in durchaus ähnlicher Weise ja schon an Siegfried Jägers Diskursmodell herausgearbeitet wurde und im vorherigen Abschnitt unter medialen Aspekten in Rajewskys Aufschlüsselung intermedialer Bezugnahmen aufgezeigt wurde. Von Interesse sind vielmehr die Modi des Transkribierens selbst, die in Ludwig Jägers Transkriptionsmodell zum Vorschein kommen:
PROZESSUALISIERTE KOMMUNIKATION | 157 Es offenbart sich hier also eine eigentümlich Beziehungslogik von Prätext, Skript und Transkript: Obgleich der Prätext der Transkription vorausgeht, ist er als Skript doch erst das Ergebnis der Transkription. Insofern darf man […] nicht davon ausgehen, dass zwischen Prätext/Skript und Transkript ein einfaches Verhältnis der Abbildung bestehe. (Jäger 2002b, 30)
Transkribieren kennzeichnet die diskursive Praxis als einen doppelten Vorgang der Lesbarmachung, mit dem vorgelagerte Bedeutungen erschlossen und die erschlossenen Bedeutungen neu konstruiert werden. Wenngleich die Frage der Lesbarkeit grundsätzlich „nur relativ zu bestimmten kommunikativen Situationen“ (Jäger 2004a, 73) beantwortet werden kann, lässt sich der damit einhergehende Vorgang diskurstheoretisch in terminologischer Ergänzung zu Jägers Konzept als doppeltes Verfahren des Selektierens und Adressierens beschreiben.
Selektieren Die Praxis der Transkription ist nicht als eine Abbildung von vorgelagerten Skripten zu verstehen, sondern produziert diese zunächst überhaupt, da die Skripte erst durch das Transkribieren zu Fragmenten eines Diskurses erhoben werden. Für Jäger (2002b, 33) besitzen Skripte deshalb einen „autonomen Status“. Sie bleiben auch im Vorgang der Transkription als vorgängige Symbolsysteme bestehen und bewahren so ein „Interventionsrecht“ innerhalb des Diskurses. Die Zugänglichkeit des Quelltextes vorausgesetzt, ist die diskursive Autonomie eines Skripts zusätzlich jedoch durch die Art und Weise der Transkription vorstrukturiert, da das Skript mit der ‚Einschreibung‘ in den Diskurs nicht mehr unabhängig von diesem ‚gelesen‘ werden kann. Deshalb sollte der diskursive Status eines Quelltextes besser als eine Teilautonomie bezeichnet werden. Darauf spielt auch Jäger an, wenn er hervorhebt, dass die Transkription nicht nur das Skript konstituiere, „sondern sie öffnet über den bestimmten Weg, den sie durch das Netzwerk der Prätexte einnimmt, zugleich auch andere Navigationsoptionen, andere Lektüren, deren Unangemessenheit sie in gleichem Maße postuliert, indem sie diese Postulate Legitimationsdiskursen aussetzt“ (Jäger 2002b, 33). Transkribieren ist ein Prozess der Konstruktion von Skripten aus Prätexten, mit dem in einem Netzwerk von Prätexten auf bestimmte Ausschnitte fokussiert wird, die damit zu Skripten bzw. Diskursfragmenten erhoben werden, die wiederum zu Vorlagen für weitere „Postskripte“ werden können. Dieser Vorgang lässt sich diskurstheoretisch als ein Selektionsprozess beschreiben, bei dem durch die permanente Auswahl von Skripten symbolische Ordnungen gebildet und aktualisiert werden. Mit Bezug auf Jägers Unterscheidung einer infra- und einer intermedialen Ebene des Transkribierens kann dieser Selektionsprozess weiter differenziert werden in Selektionen hinsichtlich der material-medialen Auswahl von Quellen und der Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel. Transkribieren lässt sich demgemäß analytisch als ein doppelter Selektionsprozess charakterisieren, bei dem sich das Fortschreiben eines Diskurses auf mindestens zwei vorgelagerte Präskripte beziehen muss (Abbildung 7).
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Abbildung 7: Infra- und intermedialer Selektionsprozess Medialdiskurs Medialdiskurs Medialdiskurs Medialdiskurs Medialdiskurs Medialdiskurs Medialdiskurs Medialdiskurs
Medialskript Medialskript
Medialskript
Medialdiskurs (intermediales Präskript) Sprachdiskurs Sprachdiskurs Sprachdiskurs Sprachdiskurs Sprachdiskurs Sprachdiskurs Sprachdiskurs Sprachdiskurs
Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript Transkript
Sprachskript Sprachskript
Transkript
Sprachskript
Sprachdiskurs (inframediales Präskript) Eigene Abbildung Einerseits braucht es eine ‚materiale‘ mediale Quelle, die den konkreten Bezugspunkt der Aktualisierung eines Diskurses darstellt. Bei diesem medialen Präskript kann es sich konkret zum Beispiel um einen Zeitungsartikel, ein Interview oder eine Fernsehsendung handeln, aber auch abstrakter um ein übergreifendes Thema, das archivarisch in einer kulturellen Konfiguration niedergelegt ist, oder noch abstrakter um ein reales oder auch traumhaftes Erlebnis, das nur kognitiv vermittelt ist. Deshalb ist es sinnvoller, generell von einem Medialdiskurs zu sprechen, der den allgemeinen Hintergrund der Bezugnahme bildet. Analog dazu ist auch die Wahl sprachlicher Mittel, mit denen die Fort- oder Umschreibung eines Diskurses erfolgt, nicht als Bezugnahme auf ein konkretes sprachliches Präskript zu verstehen, sondern als Aktualisierung eines übergeordneten Bezugsystems, in dem Formen des Sprachgebrauchs permanent ausgehandelt und neu reguliert werden (Sprachdiskurs). Die Unterscheidung zwischen Medialdiskurs und Sprachdiskurs hat analytischen Charakter. In realen Diskursen sind diese zwei Arten des Selektierens aneinander gekoppelt – schließlich ist weder ein Sprechen über Sprache ohne Medien möglich noch könnte die Bezugnahme von Medien auf Medien ohne Sprache auskommen. In medientheoretischer Erweiterung eines zeichentheoretischen Grundsatzes von Saussure (2003, 139) ließe sich sagen: So wie es keine Bedeutung außerhalb des Mediums gibt, gibt es auch kein Medium außerhalb der Bedeutung (vgl. Jäger 2004c). Insbesondere in medial ausdifferenzierten und vielfältig verzweigten Kontexten fällt transkribierenden Prozessen damit die Rolle zu, durch selektive Verfahren zu gewährleis-
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ten, dass die Produktion von Bedeutungen und Verbindlichkeiten nicht an den Rändern einzelner Mediensysteme abbricht (vgl. Jäger 2004b, 340).
Adressieren An die Beschreibung transkriptiver Prozesse als funktionale Formen der Verdichtung von Kommunikation in komplexen medialen Kontexten schließen auch Jägers Überlegungen zum Problem der Adressierung an. Ausgehend von der Beobachtung einer zunehmenden Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und einer damit verbundenen, gesteigerten „Unübersichtlichkeit der kulturellen Semantiken“ (Jäger 2004b, 341), falle insbesondere Massenmedien die Rolle zu, Kommunikation als symbolisches Ordnungssystem so zu organisieren, dass sie gesellschaftlich anschlussfähig wird. Der Anspruch einer Universalisierung der Kommunikation, der schon die Grundkonstellation der Zeitungskommunikation kennzeichnet, zieht ein kommunikationstheoretisches Problem nach sich, dass Jäger systemtheoretisch einzufangen versucht: als den Zusammenhang von Komplexität und Reduktion von Komplexität. Mit der zunehmenden Komplexität medialer Diskurse werde die „Adressenordnung“ (341) der Kommunikation unübersichtlicher, wodurch der „kommunikative Erfolg“ einzelner Kommunikationshandlungen strukturell unwahrscheinlicher werde (Jäger 2004a, 75): Obgleich also die Universalisierung und Globalisierung der Kommunikation mit einer enormen Ausdehnung der kommunikativen Erreichbarkeit verbunden war, führte die Erhöhung der universellen Zugänglichkeit der Gesellschaftsmitglieder paradoxerweise nicht zu einer Vereinfachung, sondern vielmehr zu einer Erschwerung kommunikativer Adressierung. Zugleich erzwangen aber die mit dieser sozialen Differenzierungsbewegung verbundenen komplexitätsinduzierten Störungen der Kommunikation die Ausbildung von Entdifferenzierungsverfahren, die auf eine Reduzierung der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Verständigung ausgerichtet waren. (Jäger 2004b, 342)
Adressieren beschreibt Jäger mit Bezug auf Luhmann als ein kommunikatives Verfahren, dessen Aufgabe darin bestehe, „(unadressierte) Information in (adressierte) Mitteilung zu überführen“ (345), um wiederum die ‚Lesbarkeit‘ transkribierter Kommunikation zu sichern. In der Systemtheorie wird der Vorgang der Adressierung in dem Moment evident, wenn Kommunikation als Mechanismus gesellschaftlicher Sinnkonstitution ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verliert. Für den Systemtheoretiker Peter Fuchs (1997, 72) ist Kommunikation in komplexen Gesellschaften grundsätzlich mit einer „Pluralität der Adressen“ konfrontiert und werde dadurch „typisch daran gehindert, auf nichtunterbrochene Selbstreferenz durchzurechnen“. Kommunikation stoße auf „die Notwendigkeit, Partialadressen konstruieren zu müssen mit entschieden schwacher Selbstreferenz“. Anders ausgedrückt zerfalle nach systemtheoretischer Gesellschaftsdiagnose durch die komplexer gewordene Kontextualisierung der Kommunikationsakte immer mehr die Selbstverständlichkeit der Bindung zwischen Adressat und Adressant, was, wie Fuchs ausführt, auf der Ebene sozialer Binnenkommunikation (z.B. in der Familie) zu Identitätskonflikten führen könne.
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Jägers Verständnis der massenmedialen Adressierung greift diesen systemtheoretischen Ansatz auf und ergänzt ihn wiederum mit der transkriptionstheoretischen Differenz zwischen intermedialer und inframedialer Ebene. Auf der intermedialen Ebene kennzeichne die Massenmedien „Prozesse der Umadressierung“ (Jäger 2004b, 345), mit denen für die Empfänger oder Rezipienten des Kommunikationstransfers „Schnittstellen zur Verfügung“ gestellt werden, „an die (massenhaft) Alltagskommunikationen anschließen können, die es den Rezipienten erlauben, sich als Teile eines öffentlichen Diskurses zu verstehen“ (352). Auf der inframedialen Ebene kommen für Jäger sprachliche Verfahren der „Nachjustierung von Adressierungen“ (345) zum Zuge, mit denen kommunikative Störungen bearbeitet werden, um den (scheinbar) transparenten Fluss der Kommunikation gewährleisten zu können (vgl. Jäger 2004c). Für eine diskurstheoretische Adaption der Verfahren des Adressierens erweist sich Jägers Bezugnahme auf die Systemtheorie als problematisch. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Kommunikationssituation der Massenmedien mit der systemtheoretischen Diagnose gesamtgesellschaftlicher Kommunikationsprozesse vergleichbar ist: Stellt sich für Massenmedien die Frage der Adressierung auf die gleiche Art wie für andere Bereiche des Sozialen? Peter Fuchs (1997, 76) tangiert diesen Punkt, wenn er in anderem Zusammenhang davon spricht, „soziale Beschreibungen der Binnenzustände des Bewusstseins […] können (wenn man von den Moralschemata der Massenmedien absieht) eigentlich nur sozialen Exoten unterstellt werden“ [Hervorhebung CP]. Unabhängig von der genauen kontextuellen Bedeutung dieses Zitates, spricht Fuchs einen entscheidenden Punkt an, den Jäger übersieht. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung in verschiedene Kommunikationssysteme, die im Bereich des Sozialen den Adressierungsvorgängen die Selbstverständlichkeit nimmt, ist so nicht auf die Massenmedien übertragbar. Kommunikationstheoretisch gesehen gehören Massenmedien schon von ihrer Konstitution her zu den von Fuchs erwähnten ‚soziale Exoten‘, da sie keine kommunikative Identität zwischen Adressat und Adressant kennen. Die Entkopplung von Sender und Empfänger beinhaltet bereits die ‚Pluralität der Adressenbildung‘, die keine Folge eines Prozesses gesellschaftlicher Ausdifferenzierung ist, sondern den Normalfall massenmedialer Kommunikation darstellt. Die Unterscheidung zwischen „Selbstreferenz und Fremdreferenz“ (Luhmann 1996, 15) ist im Falle der Massenmedien bei der Adressierung von Kommunikation grundsätzlich konstitutiv. Sie führt zu einer Formalisierung der Kommunikationshandlungen, da weder so etwas wie ein ‚authentisches Selbst‘ noch ein ‚konkreter Gegenüber‘ vorausgesetzt werden können. Der Vorgang des Adressierens stellt für Massenmedien grundsätzlich eine unsichere Strukturvariable dar. Um diese zu beschreiben, ist es sinnvoll, den Vorgang des Adressierens als ein notwendiges Element eines Kommunikationsaktes zu betrachten, der die notwendige Ausrichtung auf einen oder mehrere Adressaten meint. In Abwandlung des Theorems von Watzlawick ließe sich sagen, Kommunikation kann nicht nicht-adressiert sein. Jede Kommunikationshandlung folgt dem Prinzip einer notwendigen Gerichtetheit auf einen oder mehrere Adressaten, auf die sie bezogen ist. Mit diesem Modus der kommunikativen Inklusion findet gleichzeitig eine notwendige Ex-
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klusion anderer, nicht-intendierter Adressaten statt: Adressieren ist eine „Sprachhandlung“ (Kühn 1995, 16). Diskurstheoretisch lässt es sich als ein konstitutives Element der diskursiven Praxis charakterisieren, mit dem die Aus- und Wirkrichtung eines Diskurses bestimmt wird. Jägers doppelte ‚Adressenordnung‘, die auf eine intermediale und eine inframediale Ebene bezogen ist, lässt sich vor diesem Hintergrund diskursanalytisch reformulieren. Danach transkribieren Massenmedien Bedeutungen grundsätzlich zwischen zwei Ebenen oder – besser gesagt – vor dem Hintergrund einer zweifach überlagerten Adressierungsweise. Sie reicht von einer (1) zwangsläufigen bis hin zu einer (2) ausdrücklichen Adressierung. (1) Im Raum der Gesellschaft geschieht jede Transkription, mit der sich Massenmedien in den Diskursprozess einfügen, vor dem Hintergrund einer Ausrichtung an einem faktisch gegebenen intermedialen Netz, in das jede Kommunikation grundsätzlich aufgenommen und weitergeführt werden kann. Der Adressat ist hier kein konkreter, sondern eine angenommene Vielheit von Adressaten, die daher rührt, dass eine nicht intendierte Inklusion intentional exkludierter Adressaten nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann. Die von Jäger so bezeichnete ‚Umadressierung‘ von Skripten entsteht durch die einfache Einbeziehung von Öffentlichkeit in den Kommunikationsprozess. Öffentlichkeit bildet somit den zwangsläufigen Adressat massenmedialer Kommunikation. Sie kann nicht über konkrete Formen der Ansprache (zum Beispiel über die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel) in- oder extendiert werden. Die Umadressierung einer Information als Mitteilung an eine Öffentlichkeit resultiert allein aus der medialen Anordnung, in die ein Transkript eingefügt wird. Sie ergibt sich also als eine zwangsläufige Folge des massenmedialen Settings. (2) Innerhalb dieses Settings stehen grundsätzlich alle möglichen symbolischen Formen zur Verfügung, mit denen weitergehende Adressierungen vorgenommen werden können. Aus diesem Grund erscheint es nicht sinnvoll, hierbei lediglich von einer ‚Nachjustierung von Adressierungen‘ zu sprechen. Der ‚inframediale‘ Aspekt des Adressierens bedeutet zunächst, dass jede Adressierungsweise an das jeweilige Setting gebunden ist, das der mediale Kontext zur Verfügung stellt. So ist der Vorgang des Adressierens in einer Fernsehtalkshow von vornherein anders gelagert als in einem Zeitungskommentar (vgl. Hickethier 2001). Innerhalb eines solchen Rahmens stehen wiederum verschiedene Formen zur Verfügung, die auch mehrfach überlagert zur Anwendung kommen zu können. So ist ein Zeitungsinterview durch eine gegenseitige Adressierung des Frage/Antwort-Spiels gekennzeichnet wie auch durch eine weitergehende Adressierung an die Leser. Die Möglichkeit zu solchen Formen der „Mehrfachadressierung“ (Presch 1985) hängt mit „dem grundsätzlichen Problem der massenmedialen Kommunikation“ (Bernecker 1992, 126) zusammen, das aus der „Unspezifizität ihrer ›Adressen‹“ resultiert. Dabei lässt sich allerdings ein konstitutives Merkmal massenmedialer Adressierungsweisen darin sehen, dass jede Form von Mehrfachadressierung gleichlaufend immer zumindest eine Adresse beinhaltet: den Rezipienten als Leser, Zuschauer oder Zuhörer, der immer als ausdrücklicher Adressat angesprochen wird.
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Normalisieren Die diskursanalytische Pointe der transkribierenden Verfahren der Massenmedien liegt darin, dass jeder massenmediale Diskurs auf zwei Bezugspunkte hin ausgerichtet ist. Einerseits zielt er auf den anonymen Bereich der Öffentlichkeit, andererseits richtet er sich an jeweils individuell identifizierbare Diskursteilnehmer, die als konkrete Individuen in die transkriptiven Verfahren eingeflochten sind. Diesem Grundmuster massenmedialer Diskurse wird in diesem Abschnitt eine weitere Eigenschaft hinzugefügt, die Diskurse als spezifisch selektive Kommunikationsprozesse kennzeichnen: Verfahren des Normalisierens. ‚Normalisieren‘ ist dabei nicht von vornherein gleichzusetzen mit einem Prozess der Bildung gesellschaftlicher Normen- und Wertsysteme, sondern lässt sich eingangs als inhaltlich neutraler Mechanismus begreifen, der an der Überlegung Foucaults ansetzt, Diskurse als semantische und kommunikationspraktische Möglichkeitsräume zu betrachten. Formal betrachtet bilden Diskurse positive Felder von Aussagen, die sich allein über ihre Existenz in das Feld der Kultur bzw. der diskursiven Praktiken einschreiben. Dieser Vorgang vollzieht sich als Ausbildung von Kommunikationspraktiken, die schon durch ihre einfache Existenz festlegen, was in einem bestimmten Diskurs möglich oder sagbar und damit dort in den Status des ‚Normalen‘ erhoben ist. Die Frage, die daran anschließend zu erörtern ist, lautet: Wie lässt sich dieser Grundmechanismus von Diskursen auf die Verfahren der Massenmedien beziehen?
‚Normalismus‘ und Massenmedien Ausgangspunkt dieser Erörterung ist der VERSUCH ÜBER DEN NORMALISMUS (1999) des Diskurstheoretikers Jürgen Link, dessen substanzialistisches Diskursverständnis und das darauf basierende Interdiskurskonzept bereits im Kapitel zu Siegfried Jägers Kritischer Diskursanalyse angesprochen wurden. In seinem Buch über den ‚Normalismus‘ entwirft Link eine „struktural funktionale Theorie des Normalismus“ (313), die als eine Erweiterung von Foucaults Diskurs- und Dispositivanalyse gelesen werden kann, die an der Kategorie des ‚Normalen‘ orientiert ist. Foucault thematisiert das Phänomen der Normalisierung in seinen Arbeiten zur Disziplinargesellschaft – ÜBERWACHEN UND STRAFEN (2001c, 229ff.) und DER WILLE ZUM WISSEN (1983, 111, 171f., 176). In letzterer führt er im Kontext der ‚Biopolitik‘ den Begriff der „Normalisierungsgesellschaft“ ein, die einen „historischen Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie“ darstelle (172), welche sich als eine Ansammlung verschiedener Apparate und Institutionen um die Subjekte herum gruppiert habe. In dieser Beschreibung kommt die Kernthese Foucaults zur veränderten Form der Sozialisierung von Sexualität im Übergang zu modernen Gesellschaften zum Ausdruck, die immer weniger an ‚harte‘ (z.B. juristische) Normen gekoppelt sei, als vielmehr über ‚weichere‘, weniger statische Machtformen verlaufe, da „eine Macht […], die das Leben zu sichern hat, fortlaufender, regulierender und korrigierender Mechanismen bedarf“ (171). Für Link thematisiert Foucault damit einen entscheidenden Aspekt moderner Gesellschaften, ohne ihn jedoch theoretisch hinreichend aus-
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zuführen. Links Kritik an Foucault betrifft hauptsächlich die Frage der Differenzierung und Strukturierung von Norm und Normalität: Die ›Anordnung um die Norm herum‹ meint [bei Foucault] die statistische Distribution um den Durchschnitt. In seiner Darstellung lenkt Foucault den Blick also in die Mitte der Normalität, in ihre Kernzone, die von ihrer Grenze am weitesten entfernt ist. Das entspricht ganz dem Funktionieren des Normalismus selbst. Eine systematische Analyse des Normalismus müsste darüber hinaus aber nach der Konstituierung der Toleranzgrenzen fragen. (Link 1999, 138)
Die Frage nach der „Konstituierung von Toleranzgrenzen“ bildet bei Link das Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Normalismus. Als ‚Normalismus‘ bezeichnet er die gesellschaftliche Ausbildung von „Normalfeldern“, durch die „eine bestehende Menge von Erscheinungen innerhalb des Spezialoder Interdiskurses […] homogenisiert und kontinuiert“ wird (78). Bei der Ausbildung von Normalfeldern lassen sich zwei grundsätzliche Modelle bzw. „(idealtypisch konstruierte) polare Strategietypen“ (81) unterscheiden: „protonormalistische“ und „flexibel-normalistische“ Strategien (78). Sie differieren für Link hinsichtlich der Erzeugung von Toleranzgrenzen. Die protonormalistische Strategie zeichne die Tendenz zur „maximalen Komprimierung der Normalitätszone“ aus, während der flexibel-normalistische Normalismus durch eine „maximale Expandierung und Dynamisierung der Normalitätszone“ charakterisiert werden könne. Diese Differenzierung in zwei Idealtypen von Normalisierung bildet bei Link die Grundlage einer an Foucaults Disziplinargesellschaft gekoppelten Theorie der Modernisierung. Link möchte zeigen, dass moderne Gesellschaften immer stärker über flexibel-normalistische Mechanismen integriert werden, in denen eine statistisch-technische Durchdringung ihrer soziokulturellen Konstitution zum Tragen komme. Dabei stellt Links Interpretation von Foucaults These der ‚Anordnung der Subjekte um eine Norm‘ als „statistische Distribution um den Durchschnitt“ nicht nur ein rhetorisches Sinnbild dar, vielmehr soll damit ein konkreter Strukturmechanismus aufgezeigt werden. Für Link bildet nicht ein ‚irgendwie‘ statistisches Denken die Grundlage der Normalisierung. Es sind die mathematischen Verfahren der Generierung von statistischen Normierungen selbst, die für ihn zu diskursiven Grundmustern geworden sind. Als zentral erachtet Link insbesondere Formeln und Funktionen der statistischen Mathematik, wie sie in der Konstruktion von Normalverteilungen anhand der glockenförmigen Gaußkurve und dem homogenen Verteilungsschema des Galton’schen Siebs niedergelegt sind. Wie ernst es Link mit diesem Strukturschematismus ist, wird deutlich, wenn er vorschlägt, anstatt von Gaußkurven besser von „symbolischen Gaußoidkurven“ (330) zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass damit keine bloße metaphorische Analogie, sondern eine Form der Transgression von Mathematik in Kultur gemeint ist. Die Verfahren des ‚Normalismus‘ definiert Link als: ein unorganisches Kombinat aus heterogenen Diskurskomplexen und Dispositiven, das ›spinnenartig‹ um eine Kernfunktion und ein Kern-Dispositiv herum montiert ist. Die normalistische Kern-Funktion besteht in der ver-sichernden Regulierung der
164 | MEDIEN UND KOMMUNIKATION modernen exponentiellen (positiven und negativen) Wachstumstrends. Hier besteht also eine strukturelle Kopplung zwischen Normalismus und allgemeiner moderner Dynamik. […] Sozusagen im Kern des Kerns liegt die mathematisch statistische Taktik der Normalisierung mittels des Modells der gaußschen (bzw. gaußoiden) Normalverteilung. Dabei handelt es sich (so weit es um den spezifisch normalistischen Einsatz dieses Instruments geht) um einen ›Willen‹, um intervenierende Taktik und nicht etwa um objektive, rein deskriptive Wissenschaft. Das Galtonsche Sieb ist das Realsymbol dieses ›Willens‹ zur Normalisierung […]. (Link 1999, 342)
Link weist hier ausdrücklich auf die Limitierungen jedes ‚Normalismus‘ hin, der nur als ein Teilphänomen moderner Gesellschaften gesehen werden könne und den man sich somit weder als binäre Reinform zweier Typen (nur protonormalistisch oder nur flexibel-normalistisch) noch als singuläres Element der Modernisierung vorzustellen hat. Dennoch ist die grundsätzliche Anlage dieser Normalisierungstheorie nicht unproblematisch. Das beginnt bereits beim Label des ‚Normalismus‘, das einen diskursiven Alleinstellungsanspruch signalisiert, den das Konzept nicht einzulösen vermag. In der Begriffswahl drückt sich Links allgemeiner Hang zur Verwendung von ‚-ismen‘ aus, hinter dem ein grundsätzlicher Widerspruch seines Ansatzes zum Vorschein kommt. Er liegt in dem Versuch, Foucaults dezidiert nicht-strukturalistischen Begrifflichkeiten in eine funktional-strukturalistische Theorie zu überführen. So kann Link auf der inhaltlichen Ebene zwar plausibel erklären, dass es gesellschaftlich relevante Diskursbereiche gibt, die – wie die Erstellung von Intelligenzquotienten – direkt an das Schema der Gaußkurve angelehnt sind und so eine tatsächliche Formierung des Sozialen mittels statistischer Methoden bewirken. Offen bleibt jedoch, wie weitreichend ein solcher „Strategietyp“ als „Spinne im Diskursnetz“ Regulierungsimpulse zu setzen vermag. Auf der theoretischen Ebene bleibt so unbeantwortet, „ob die Kybernetik nur die Beschreibung liefert oder ob sie auf die Ebene des zu Beschreibenden übergewechselt, in die gesellschaftliche Realität als ein integraler Mechanismus also bereits eingegangen ist“ (Winkler 2004, 183). Dennoch eröffnet Links Normalisierungstheorie einen Zugang zur Beschreibung der normalisierenden Aspekte massenmedialer Kommunikationsprozesse. Dazu lassen sich zunächst zwei Teilaspekte herausstellen, denen Link eine herausgehobene Bedeutung bei der Konstruktion von ‚Normalität‘ beimisst. Zum einen sieht Link (1999, 313) normalisierende Verfahren als einen dynamischen Prozess der „Regulierung“ und „Stabilisierung“, der darauf abziele, gesellschaftliche Veränderung (als technischen, ökonomischen etc. ‚Fortschritt‘) zu ermöglichen, indem zugleich sichergestellt werde, dass eine fortlaufende Austarierung von Normalität stattfindet. Diese bewirke einen verbindlich bleibenden Bezug auf allgemeingültige soziokulturelle Ordnungsmuster. Auf der Mikroebene sei dieser Prozess um eine Leerstelle angeordnet. Sie resultiere aus einem fehlenden ‚mechanischen‘ Zusammenhang zwischen Normalisierung und Gesellschaft, da die „generativen Prozesse“ der Beziehung zwischen Symbol- und Sozialdimension eine „black box“ bilden, die „in der ›Tiefe‹“ verborgen liege (321). Deshalb können sich normalistische Strategien nur eines „operationalen Feedbacks“ bedienen und auf die Sozialdimension über das Prinzip von ‚Trial and Error‘ in einem Prozess
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der Selektion und Rekombination einwirken. Zum anderen verdeutlicht Link, dass der diskursive Bezug auf normalistische Strategien insbesondere dann eintritt, wenn Diskurse keine starke einheitliche ‚Formatierung‘ aufweisen – in seiner Terminologie heißt das: nicht als ‚Spezial‘-, sondern als ‚Interdiskurse‘ strukturiert sind. Denn solche heterogenen, interdiskursiven Kommunikationsbereiche können aus ihrer eigenen Konstitution heraus nur schwach ausgeprägte, konsistente Strategien oder Orientierungspunkte von Normalität mitführen bzw. über ihre eigene Formierung mitproduzieren. Deshalb sind sie darauf angewiesen, ‚Normalität‘ über bestimmte Verfahren besonders ausdrücklich in den Diskurs zu integrieren. Link weist an dieser Stelle auf die Bedeutung statistischer Normalitätsvorstellungen hin: Gaußkurve und Galtonsches Sieb sind interdiskursive Dispositive, die sich […] im Prinzip in beliebigen speziellen Sektoren implementieren lassen. Dabei setzt die Homogenität in der Regel Spezialität (Arbeitsteilung, funktionale Ausdifferenzierung) voraus: je spezieller das Feld, umso homogener kann es sein. (Link 1999, 342)
Das bedeutet andererseits: Je heterogener ein (Diskurs-)Feld ist bzw. je komplexer sich ein Diskursspiel gestaltet, desto größer wird der zusätzliche Bedarf nach normalisierenden, diskursive Ordnung vermittelnden, homogenisierenden Verfahren der Diskursproduktion. In Abgrenzung zu Link werden hier Massenmedien zwar nicht als ‚Interdiskurse‘ beschrieben, aber seine Charakterisierung bezüglich der prinzipiell ‚heterogenen Struktur‘ lässt sich sehr gut auf ihre Konstitution beziehen. Die Heterogenität der Massenmedien hängt allerdings nicht an einer elementaren Struktur, die sich an der mehr oder weniger homogenen Zusammensetzung von (kryptischen) „Normaleinheiten (Atomen, Kügelchen)“ (320) bemisst, sie resultiert vielmehr aus der ganz eigenen Rolle, die Massenmedien – nicht nur unter sozialen, auch formal unter kommunikativen Gesichtspunkten – im Raum kultureller Kommunikation einnehmen. Massenmedien bilden einen Diskursbereich, dem ein prinzipiell unbegrenzter (universalistischer) Weltbezug unterliegt und der sich daran angelehnt als medial-transkriptives Verfahren kennzeichnen lässt, dem das Vermögen einer allgemeinen diskursiven Anschlussfähigkeit zufällt. Mit Verweis auf Hartmut Winklers (2004) Rezeption von Links Normalismus lässt sich folglich sagen: Das Verhältnis zwischen Massenmedien und Normalisierung beruht auf einer zweifachen Grundkonstellation, die darin besteht, dass Medien innerhalb der kommunikativen Ökonomie eine Sonderrolle als Instanz einer diskursökonomischen „Entdifferenzierung“ (185) einnehmen und dabei die integrativ wirkende Strategie der „Bestätigung des Normalen“ (186) verfolgen. Vor diesem Grundzusammenhang lassen sich die normalisierenden Prozesse der Massenmedien als das Zusammenspiel zweier Ebenen differenzieren, die gewissermaßen ‚quer‘ zu dieser Grundkonstellation liegen, da auf beiden Ebenen die diskursökonomischen Verfahren der Entdifferenzierung und Normalisierung Anwendung finden. Sie lassen sich als performatives und evidentes Normalisieren charakterisieren.
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Performatives Normalisieren Performatives Normalisieren lässt sich als Effekt der diskursiven Anordnung massenmedialer Prozesse betrachten. Um diesen Effekt zu verdeutlichen, ist es angebracht, noch einmal auf Hartmut Winklers (2004) Überlegungen zur Normalisierung zurückzukommen, die im Gegensatz zu Link den Prozesscharakter zu stärken versuchen und die Effekte der Normalisierung nicht als Abbilder eines mathematisch-statistischen Metadiskurses betrachten. Winkler bezieht Links ‚Normalismus‘ in vier Argumentationsschritten auf diskursive Verfahren. Zunächst verweist er (mit Link) darauf, dass die Bildung von Normen, als industriell-technischer Vorgang der Entstehung von Industrienormen, bereits der Idee des flexiblen Normalismus verhaftet sei, da sie mit Toleranzzonen arbeite (187). Diese entstehen jedoch – in Erweiterung zu Links Modell – als Ergebnis eines ökonomischen Prozesses, in dem „Norm und Toleranz über den Austausch bestimmt“ (188) werden. Daran anschließend argumentiert Winkler, dass der Prozess der Normierung nicht nur auf Güter oder Dinge beschränkt, sondern in modernen Gesellschaften auch auf den Gebrauch von Sprache und die Produktion von Wissen bezogen sei (190f.). Schließlich hebt er an der Vorstellung des Normalismus den damit zusammenhängenden Aspekt der Naturalisierung hervor, der „schon den alltagssprachlichen Begriff des Normalen kennzeichnet: dass nämlich, was normal wird, normalerweise aus dem Blick verschwindet“ (191). Die normalisierenden Effekte von Diskursen stellt Winkler zusammengenommen so dar, dass sie Konventionalisierungsprozesse beschreiben, und genauer: die Tatsache, dass Konventionalisierung immer durch eine spezifische Blindheit gekennzeichnet ist. Diese Blindheit beinhaltet das Paradox, dass gerade das, was diskursiv besonders präsent, dominant und häufig ist, und damit, wie man denken sollte, besonders sichtbar, unter die Schwelle der Wahrnehmung gerät. Als selbstverständlich vorausgesetzt können solche Inhalte von der textuellen Oberfläche der Diskurse sogar ganz verschwinden; sie gehen in das Reservoir jener stummen Vorerwartungen ein, die den Diskurs strukturieren; [und sind] jenseits und unterhalb seiner Oberfläche, und nur noch mit den Mitteln einer neuerlichen Anstrengung für die bewusste Reflexion überhaupt zurück zu gewinnen. (Winkler 2004, 192)
Die zentralen Verfahrensmechanismen, die es Diskursen ermöglichen, solcherart diskursiver Normalität zu produzieren, sind die Prinzipien von Wiederholung und Redundanz. Entscheidend ist an dieser Stelle allerdings nicht so sehr, dass mediale Diskurse auf die ‚Informationstechnik‘ der Redundanz gebaut sind, wie Winkler fortfährt (194). Redundanz ist ein diskursiver Grundmechanismus, mit dem eine „Normalität im Sinne einer Lizenz“ festgelegt wird, „an der sich entscheidet, ob man im diskursiven ›Spiel‹ oder im diskursiven ›Aus‹ ist“ (Willems 2003, 55). Soziologisch lässt sich der Prozess des Verdichtens als Ausbildung von Habitualisierungen und Ritualisierungen beschreiben (vgl. Bohn 2003, 48f.). Für Massenmedien ist daneben jedoch noch ein Zweites konstitutiv. Sie verdichten kommunikative Praktiken nicht nur zu Normalitätszonen, sondern verklammern diesen Prozess mit
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einem weiteren Mechanismus, der sich als Prozess des Verbindens beschreiben lässt. Dazu noch einmal Winklers Link-Rezeption: Die hauptsächliche Leistung von Links Theorie scheint mir zu sein, dass sie den Blick vom Auffälligen, Herausragenden, Einzelnen auf Mainstream und Normalbetrieb zurückorientiert. Dieser Mainstream wird zum eigentlichen Rätsel, und zwar innerhalb wie außerhalb der Medien, sein scheinbar geräuschloses Funktionieren, seine Stabilität und seine zähe Beharrung, seine auftrumpfend-blauäugige Selbstverständlichkeit und sein eigentümliches Bündnis mit Praxen, Pragmatismus und dem Sosein der Dinge. (Winkler 2004, 196)
Dieses Zitat Winklers kann dahingehend konkretisiert werden, dass mit ‚Mainstream‘ kein eigenständiger Diskursraum innerhalb der Massenmedien gemeint sein kann. Die Ausrichtung an einem Mainstream ist vielmehr Produkt des diskursiven Raums, in dem sich die massenmediale Kommunikation vollzieht. Sie hängt mit der systemischen ‚Entdifferenzierung‘ des Kommunikationsbereichs der Massenmedien zusammen, die Link durch das Präfix ‚Inter‘ zu kennzeichnen versucht. Der Universalismusanspruch der Massenmedien, der in der spezifischen Strukturierung der Praktiken des Informierens seinen Ausdruck findet (als ‚Informativ‘), bildet das konstitutive Grundversprechen ihrer Diskursproduktion. Historisch zog der Anspruch einer umfassenden Berichterstattung – parallel zur Durchsetzung von Massenmedien als zentralen Agenturen der Vermittlung von Welt – ein weiteres Versprechen nach sich. Es liegt darin, auch die verstreuten Diskursräume in die Welt des Medialen zu integrieren, die erst auf diese Weise zum Ort der Produktion von gesellschaftlich verbindlicher Normalität werden konnte. Das damit zusammenhängende Verfahren der (potenziellen) Verbindung jeglichen Weltgeschehens lässt sich diskurstheoretisch als die (ideelle) Befähigung zur multiplen Anschlussnahme beschreiben. Es korreliert unter soziokulturellen Gesichtspunkten mit der Ausbildung eines Common Sense, den ein normalistisches Verfahren kennzeichnet, das einen allgemeinen und im Kern nicht begründungsbedürftigen Weltbezug bereitstellt. Denn, wie Clifford Geertz (1983, 264) schreibt, „der Common Sense [begründet seine Sache] damit, dass es sich gar nicht um etwas Begründungsbedürftiges handelt, sondern um das Leben in nuce“. Geschuldet ist er nur einer generellen Bezugnahme „auf die Welt“ als solche.
Evidentes Normalisieren Parallel zum performativen Normalisieren typisiert die Massenmedien ein zweiter normalistischer Effekt, der aus ihrer faktischen Einbindung in den Raum gesellschaftlicher Kommunikation resultiert. Dieses evidente Normalisieren hängt an der einfachen Tatsache, dass Massenmedien schon allein durch ihre kontinuierliche Existenz eine Form von Normalität darstellen. Die Medien sind samt ihrer Kommunikationsleistung, ihrer Formungen und Formate einfach ‚da‘, bilden also einen selbstverständlichen Teil der sozialen Welt und des individuellen Alltags. Man könnte dieses Phänomen in losem Anschluss an Winklers (2004, 212f.) Überlegungen zum Begriff der „Praxen“ als eine zweite Naturalisierung des Medialen beschreiben. Es schließt
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an die Beobachtung, dass Massenmedien, worauf auch Norman Fairclough (1995, 73) aufmerksam macht, scheinbar selbstverständlich private Lebenswelten mit Ereignissen einer politischen, kulturellen, ökonomischen etc., oder allgemeiner, einer ‚äußeren‘ Welt verklammern. Die ‚zweite Naturalisierung des Medialen‘ steht darüber hinaus in einem weiteren Zusammenhang mit der Kategorie des Normalen. Dabei zeigt sich die Normalisierungsleistung der Massenmedien zunächst als ein Paradox, dem folgender Zusammenhang vorausgeht. Genauso selbstverständlich wie das Vorhandensein von Medien ist auch die daran gebundene Rolle, die ihnen innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation zufällt. Sie liegt darin, Kommunikation nicht nur als einen Prozess der Selektion und Adressierung, Verdichtung und Verbindung zu organisieren, sondern dabei nach bestimmten Kriterien zu verfahren. Denn die Aufmerksamkeit, die Massenmedien über diese Verfahren produzieren, kann bzw. darf nicht beliebig sein, wie der Soziologe Alois Hahn ausführt: Im Zentrum der Öffentlichkeit als Generator von Aufmerksamkeit steht die Bekanntmachung: Sie erzeugt sich durch deren ununterbrochenen Strom. […] Fernsehen, Zeitung oder Illustrierte strukturieren die Aufmerksamkeit. Wir sind immer schon aufmerksam auf die, von denen wir bereit sind, uns auf etwas aufmerksam machen zu lassen. […] Das ›Normale‹ lohnt einerseits nicht die öffentliche Mitteilung. Aufsehen erregt nur das, was aus der Normalität herausfällt. Nicht der brave Mann, sondern der Verbrecher, nicht die pünktliche Fahrt der Bahn, sondern der spektakuläre Unfall […] produziert die öffentliche Aufmerksamkeit. Aber das, was für den Einzelnen und seinen Alltag die extreme Ausnahme ist, stellt für die Medien die Normalität dar. Für den Leser oder Fernseher gilt entsprechend, dass er es ›normal‹ findet, dass ihm die Medien ›Anormales‹ servieren. (Hahn 2003, 34)
Das vorgebliche Paradox der Massenmedien besteht in der scheinbar widersprüchlichen Art, wie sie sich in die gesellschaftliche Wirklichkeit einfügen. Einerseits bilden sie einen selbstverständlichen, verlässlichen Teil unseres Alltags, indem beispielsweise jeden Morgen eine ‚frische‘ Tageszeitung vor der Tür liegt. Andererseits verspricht diese Zeitung das Wichtigste zu enthalten, das der vorherige Tag zu bieten hatte – und dieses Wichtigste soll das (vermeintlich) am wenigsten Alltägliche, Belanglose, mithin Normale sein, das es zu berichten gibt. Diese paradoxale Rolle, die Hahn beschreibt, ist jedoch nur die eine Seite der Medaille des evidenten Normalisierens. Die Verunsicherung, die auf diese Weise über ‚die Welt da draußen‘ geschaffen wird, stellt erst einen ersten Schritt des Diskursspiels der Massenmedien dar, in dessen Zentrum die Konstruktion von ‚Normalität‘ liegt. So wie sich mediale Berichterstattung als „symbolhafte Verdichtung allgemeiner Gefährdungen“ (Hickethier 2002b, 42) zuspitzen lässt, bezeichnet und berichtet sie doch zuerst einmal Gefährdungen, die in der Regel, gerade weil sie medial vermittelt werden müssen, für die unmittelbaren, ausdrücklichen Adressaten selbst nicht zugänglich und unmittelbar bedrohlich sind. Auf diese Weise führen die Massenmedien zu einer Bestärkung der lebensweltlichen Normalität ihrer Konsumenten. Denn „als Zuschauer [oder Leser] wissen wir um die Distanz zwischen dem darge-
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stellten Geschehen und unserer eigenen Lebenswelt“ (43). Die eigentliche Funktion von Medien als „Normalisierungsagenturen“ liegt erst im zweiten Schritt des Normalisierungsspiels, wie der Medienwissenschaftler Knut Hickethier am Beispiel der Katastrophenkommunikation verdeutlicht: Die Überführung der Darstellung der Katastrophe, des Unglücks, der Lebensgefährdung in ein Bewältigungsprogramm zur Herstellung von Sicherheit ist grundlegend in die Struktur der Medien eingeschrieben. Normalität wird dadurch erzeugt, dass das Katastrophische durch die Form, durch das Medium selbst eingefangen wird, die Katastrophe wird zum Text, zur Sendung, zum Medienprodukt. Weil sie nun nicht mehr die Aufhebung aller Ordnung und Beständigkeit darstellt, sondern zum konsumierbaren Medienereignis geworden ist, trägt sie umgekehrt zur Bestätigung des Bestehenden bei. Anders gesagt: Die Kommunikation über die Risiken des Lebens, der Gesellschaft, der Welt erzeugt ein strukturelles Bewusstsein, dass man zwar über die Risiken reden kann, diese aber begrenzbar und zu bewältigen sind. (Hickethier 2002b, 44)
Das evidente Normalisierungspotenzial massenmedialer Diskurse liegt sowohl darin, die transkriptiven Prozesse als Verfahren einer laufenden Produktion von Anormalität zu organisieren, als auch darin, sich die produzierte Anormalität gleichfalls zu eigen machen zu können. Massenmedien sind dazu in der Lage, zuerst Wissen über Bedrohungen, Schrecknisse und Abweichungen aus dem alltäglichen Fluss des Lebens zu produzieren und das so produzierte Wissen wiederum zu thematisieren – als Wissen, das über Wissen produziert wird und somit beherrschbar erscheint. Denn bei Bedarf, wenn das als bedrohlich, mithin ‚anormal‘ erzeugte Wissen das Maß des tolerierbaren übersteigt, sind die Medien wiederum in der Lage, es mit weiteren Verfahren der Verdichtung und Rekontextualisierung in den Bereich des Normalen zurückzuführen. Dieser ‚Bereich des Normalen‘ lässt sich mit Jürgen Link als eine flexible Normalitätszone beschreiben, deren An-, Um- und Neuordnung im Spiel eines diskursiven „Konglomerates“ (Winkler 2004, 195) von verschiedenen Normalitäten gefangen ist.
SOZIALISIERTE KOMMUNIKATION Die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Kontextelemente, institutionelle und prozessuale Kommunikation, lassen sich als Anschlussphänomene betrachten. Die dort aufgeführten Aspekte bauen aufeinander auf im Sinne von infrastrukturellen Gegebenheiten – die ihrerseits zwar veränderbar, innerhalb eines Kommunikationsaktes jedoch fixiert sind – und deren prozessualer ‚Verflüssigung‘ durch die Bindung an die dynamischen Verfahren kommunikativer Praktiken. Dieses Kapitel hingegen resultiert aus einem anderen Zugang zur Frage der Kontextualisierung massenmedialer Diskurse. Die Etikettierung ‚sozialisierte Kommunikation‘ meint weder eine explizit soziologische Beschreibungsperspektive noch fragt sie nach der gesellschaftlichen Verankerung einzelner Diskursteilnehmer oder der eigentlich soziologischen Voraussetzung von Diskursen, die in dem konstruierten Zusammenhang von Kommunikation und Praktiken liegt und um die Ausbildung habitualisierter Verhaltensweisen kreist. Die folgende Beschreibungsperspektive hat vielmehr jene Aspekte zum Inhalt, die aus der gesellschaftlichen Verortung massenmedialer Kommunikation entspringen: Es geht um den Zusammenhang von Diskurs und Öffentlichkeit. Dass die Kategorie ‚Öffentlichkeit‘ schon in den vorangehenden Kapiteln auftritt, als Teil des printmedialen Informativs, transkriptiver Adressat und Element des evidenten Normalisierens, verdeutlicht die Verwobenheit der hier analytisch aufgespalteten Kommunikationskontexte. In diesem Kapitel wird nun danach gefragt, wie sich massenmediale Kommunikation im Kontext ihrer öffentlichen Situierung mit Blick auf Diskurse genauer fassen lässt und welche Effekte sich daraus ableiten lassen. Die Notwendigkeit, diesen Schritt zu gehen, lässt sich einleitend an einem Zitat des Soziologen Michael Schwab-Trapp demonstrieren, der in einem Aufsatz über DISKURS ALS SOZIOLOGISCHES KONZEPT (2001) das Verhältnis zwischen Diskurs und Öffentlichkeit folgendermaßen umreißt: Der Begriff des Diskurses setzt die Öffentlichkeit und Konflikthaftigkeit diskursiver Prozesse voraus. Er setzt Öffentlichkeit voraus, weil Diskurse per definitionem nicht aus einem Text bestehen, sondern aus einem Ensemble von Texten, die in Beziehung untereinander stehen und sich zu spezifischen Diskursen verschränken. (Schwab-Trapp 2001, 263)
Es stellt sich jedoch die Frage, ob die beiden Variablen ‚Diskurs‘ und ‚Öffentlichkeit‘ wirklich so ineinander aufgehen, wie Schwab-Trapp schreibt. Zum einen ist fraglich, ob Diskurse nur im Rahmen von Öffentlichkeit stattfinden können, oder sich nicht auch in den nicht-öffentlichen Arkanbereichen gesellschaftlicher Herrschaft oder der lebensweltlichen Privatsphäre des All-
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tags synthetisieren lassen. Daran anschließend lässt sich die geäußerte Kausalität („Diskurs setzt Öffentlichkeit voraus“) in Zweifel ziehen, da man genauso gut sagen könnte, Öffentlichkeit wird erst durch diskursive Verfahren hergestellt, da nur so die notwendige Fokussierung von gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zustande kommt. Diese Anmerkungen greifen im Grunde genommen aber schon zu weit vor, da sie auf die Dringlichkeit verweisen, Öffentlichkeit weiter und anders begrifflich zu positionieren, als das in diesem beispielhaft gewählten Zitat über die Zuschreibungen „Ensemble von Texten“ und „Konflikthaftigkeit“ geschieht. Im Folgenden wird deutlich werden, dass und wie massenmediale Diskurse durch ihre besondere Anbindung an die Gesellschaft ‚öffentlich‘ geprägt werden. Dazu wird unterschieden zwischen Öffentlichkeit als kommunikativer Entität, die diskursive Möglichkeitsräume zur Verfügung stellt, und öffentlichem Diskurs als Ansammlung jener kommunikativen Praktiken, in denen sich die daraus resultierenden Effekte niederschlagen.
Öffentlichkeit Eine Gemeinsamkeit zwischen den Begriffen ‚Diskurs‘ und ‚Öffentlichkeit‘ liegt in der gleichsam unscharfen theoretischen Bestimmung, die ihnen in verschiedenen wissenschaftlichen Verwendungsweisen zukommt. Im Gegensatz zum artifiziellen Diskursbegriff, scheint sich mit Öffentlichkeit jedoch eine konkrete Praxis oder Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Kommunikation zu verbinden, die zu einem selbstverständlichen Element alltagssprachlicher Kommunikation geworden ist. Das lässt sich an der Verwendung gebräuchlicher Formulierungen wie ‚auf Druck der öffentlichen Meinung‘, ‚etwas ans Licht der Öffentlichkeit bringen‘ oder ‚sich an die Öffentlichkeit wenden‘ ablesen. Die wissenschaftliche Rede über Öffentlichkeit ist dieser Selbstverständlichkeit entgegengesetzt; es ist noch nicht einmal klar, ob es sich um ein soziales, politisches, historisches oder kulturelles Phänomen handelt – wohl auch deshalb, weil Öffentlichkeit in all diesen Bereichen eine gesonderte Bedeutung einnimmt. Zugleich wird mit dem Begriff im Kontext verschiedener Theorien verschiedenes bezeichnet. Als wissenschaftlicher Terminus lässt er sich deshalb zusammenfassend als „theoretisches Konstrukt“ (Hickethier 2003a, 202) umschreiben, dass nur im Hinblick auf ein bestimmtes theoretisches Interesse ausgeführt werden kann. Diskursanalytisch bedeutsam sind der Kommunikationsraum, der mit Öffentlichkeit verbunden ist, und der Funktionszusammenhang, in den öffentliche Kommunikationsräume eingebunden sind.
Kommunikationsraum Die semantische Mehrdeutigkeit von Öffentlichkeit ist darauf zurückführen, dass mit Öffentlichkeit oder – besser gesagt – mit moderner Öffentlichkeit immer zwei Dinge auf einmal gemeint sind: ein empirisch beobachtbarer Bereich gesellschaftlicher Obliegenheiten bzw. Kommunikationen und ein weitreichendes normatives Obliegenheits- bzw. Kommunikationsverständnis (vgl. Gerhards/Neidhardt 1991, 32). Im Öffentlichkeitsbegriff kommt sowohl
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die Umschreibung einer gesellschaftlichen Entität als auch der Wille zu einem bestimmten Verständnis und Umgang mit Kommunikation zum Ausdruck. Die Ausbildung moderner Öffentlichkeit ist die Folge einer historischen Entwicklung, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und mit der eine Art Kommunikationspolitik der gesellschaftlichen Verständigung sowohl gefordert als auch praktiziert wird. Sie ist damit als eine Idee zu begreifen, die sich selbst realisiert hat (was nicht bedeutet, dass die Realisierung mit der ursprünglichen Idee in eins fällt). Der Germanist Peter Uwe Hohendahl verdeutlicht diesen Vorgang einer letztlich gesellschaftspolitischen Verschiebung der Kommunikationskultur am Beispiel der zwischen 1711 und 1713 herausgegebenen Londoner Zeitschrift THE SPECTATOR im Hinblick auf die Herausbildung einer literarischen Öffentlichkeit: Hier sprach nicht [mehr] der gelehrte Autor zu seinen Kollegen noch der belletristische Autor zu seinem Mäzen. Stattdessen entwickelt besonders der SPECTATOR die später auf dem Kontinent immer wieder nachgeahmte Form des literarischmoralischen Gesprächs, an dem das Lesepublikum direkt und indirekt beteiligt ist. Der Autor tritt [dabei] als Figur (Mr. Spectator) unter Figuren […] in Erscheinung und bringt sich mit dem Lesepublikum ins Gespräch. Anders gesprochen, literarische Öffentlichkeit wird in der Zeitschrift selbst inszeniert. Der Rezipient wird durch die Lektüre zur Teilnahme an der literarisch-moralischen Kommunikation aktiviert, und eben dadurch entsteht ›the public‹. (Hohendahl 2000, 11)
An Hohendahls Beschreibung einer Frühform medialer Öffentlichkeit lassen sich drei allgemeine Besonderheiten öffentlicher Kommunikation verdeutlichen, die über die historische Begrenzung dieses Beispiels hinausgehend von allgemeiner Relevanz sind: (1) die Bedeutung des Publikums, (2) die Bindung an eine informationstechnische Struktur und (3) die Ausbildung eines spezifischen Kommunikationsmodus. (1) Publikum. Die Verschmelzung von Lesern oder Rezipienten zum ‚Publikum‘ als einem Merkmal von Öffentlichkeit bezieht sich nicht auf die Art und Weise, wie ein solches Publikum seine Rolle innerhalb dieser Konstellation konkret ausfüllt, mit welchen Rezeptionsweisen es also an öffentliche Kommunikation andockt. Mit Blick auf den Kommunikationsakt interessiert ‚Publikum‘ nicht so sehr als soziale, sondern als ideelle, kommunikative Größe – wenngleich das eine nicht ohne das andere möglich ist. Hohendahl (2000, 12–17) zeigt in seiner Begriffsgeschichte, dass während des 18. Jahrhunderts mit dem Auswachsen der kulturellen Infrastruktur einer neuen bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit auch der Begriff des Publikums etabliert wird und in der Folge immer mehr an Bedeutung gewinnt. Der besondere diskursive Effekt, der durch den Eintritt des Publikums in den literarischen Diskurs hervortritt, hängt damit zusammen, dass das neue bürgerliche Publikum nicht nur über seine Anwesenheit zu einer sozialen Tatsache der literarischen Kultur geworden ist, sondern über die Kopplung an den Begriff der Öffentlichkeit selbst ein Teil des literarischen Diskurses wird: Für eine Rekonstruktion der Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts genügt es nicht, den Begriff des Publikums in seiner Evolution zu verfolgen, denn erst in seiner Gestalt
174 | MEDIEN UND KOMMUNIKATION als öffentliche Meinung wird das Publikum kommunikations- und handlungsfähig; und vornehmlich in Verbindung mit dem Begriff der öffentliche Meinung wird der Begriff des Publikums strategisch wichtig. (Hohendahl 2000, 18)
Das Publikum ist der ausdrückliche Adressat von Öffentlichkeit, seine Hervorbringung prägt grundsätzlich die Gestalt einer jeden als ‚öffentlich‘ gekennzeichneten Kommunikation. Das moderne Verständnis von Öffentlichkeit bildete sich historisch mit der Idee der Aufklärung aus, es sollte dem Gesagten und Geschriebenen über die Erhebung einzelner Kommunikationsakte in den Stand einer öffentliche Meinung eine besondere diskursive Geltung verschaffen. Die vereinzelten Meinungen von vereinzelten Privatleuten konnten so auf eine Ebene transformiert werden, die Unabhängigkeit vom sozialen und politischen Status des jeweiligen Adressanten verbürgt. Diese neue Qualität der Kommunikation von Meinungen wurde zunächst besonders in Frankreich und England als opinion publique und public opinion zu einer elementaren Kampfformel in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die um die Variable des Publikums herum angesiedelt ist. Habermas zeigt in STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT (1990, 97–99) anhand der frühen bürgerlichen Öffentlichkeit drei Aspekte auf, die damit verbunden sind und die, leicht variiert, zu Determinanten der publikumszentrierten Kommunikation von Öffentlichkeit generalisiert werden können: (a) Ebenbürtigkeit, (b) Profanisierung und (c) Unabgeschlossenheit. (a) „Ebenbürtigkeit“ steht bei Habermas für das Ideal einer durch Privatleute als Gleiche unter Gleichen gebildeten, nur der Autorität des besseren Arguments unterworfenen (Diskussions-)Öffentlichkeit, die er in den Salons und Kaffeehäusern des frühen 18. Jahrhunderts wenn nicht „verwirklicht“, so doch „als Idee institutionalisiert“ sieht (97). Unabhängig von der philosophischen Frage, wie zwanglos und vernunftorientiert Diskurse generell sein können, und der historischen Frage, wie nah die literarischen Gesellschaften diesem Ideal tatsächlich gekommen sind, lässt sich diese Kategorisierung zu einem Merkmal der Publikumsbezogenheit von Öffentlichkeit ausweiten. Dazu muss die Konnotation von Ebenbürtigkeit als Teilhabe, die Habermas setzt, allerdings auf die einer bloßen Anteilnahme zurückgestuft werden. Öffentlichkeit realisiert Kommunikation, so lässt sich dann sagen, unter dem Aspekt der Ebenbürtigkeit als Prozess einer gleichmäßigen Anteilnahme, indem sie für eine Gesellschaft gleichermaßen sichtbar ist. So sind beispielsweise im Akt des Zeitungslesens alle potenziell gleich – nichts, was geschrieben steht, bleibt geheim oder darf formal für einige verschlüsselt werden, jeder, der es liest, wird als Zeitungsleser Teil der gleichen Kommunikationsgemeinschaft. (b) Mit „Profanisierung“ beschreibt Habermas die Ablösung des staatlichen und kirchlichen Informations- und Thematisierungsmonopols zugunsten einer an den Belangen des Publikums ausgerichteten gesellschaftlichen Informationskultur. Die Säkularisierung gesellschaftlicher Kommunikation lässt sich aber nicht nur idealistisch als ein Akt der Befreiung beschreiben, mit dem sich neue Chancen auftun. Die neue Öffentlichkeit ist damit gleichsam gezwungen, die so gewonnen thematischen und moralischen Freiräume irgendwie mit Verweis auf das Publikum auszufüllen. (c) Die „Unabgeschlossenheit des Publikums“ bezieht sich schließlich auf die
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Reichweite öffentlicher Kommunikation, die – als zentrales Kennzeichen von Öffentlichkeit – nicht festgelegt werden kann. Zwar hat jeder öffentliche Kommunikationsakt ein mehr oder weniger bestimmbares Publikum, doch sind mit diesem im Gegensatz zur interpersonalen Kommunikation zwei Besonderheiten verbunden. Zum einen kann in der Öffentlichkeit niemand grundsätzlich aus der Kommunikation ausgeschlossen werden und zum anderen bildet Öffentlichkeit ein zusammenhängendes Kommunikationsgeflecht, das transkriptiv ineinander verschlungen und aneinander gekoppelt ist und somit jeden einzelnen Kommunikationsakt der (Un-)Gewissheit ausstellt, für ein unbegrenztes Publikum geöffnet werden zu können. (2) Struktur. In Habermas’ Verfallsgeschichte bilden die bürgerlichen Kaffeehaus- und Salongesellschaften die erste Generation einer neuen Sozialsphäre, deren Besonderheit in einem neuen bürgerlichen Selbstvertrauen liegt, dass sich „aus dem Kern der Privatsphäre selber eine Öffentlichkeit entfaltete“ (248). Ihren Wert sieht Habermas in „der fiktiven Identität, der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und Menschen schlechthin“ (121). Diese habe es ermöglicht, Diskurse auf nicht-ideologische Weise an einem Ideal von „Humanität“ auszurichten, während mit dem allmählichen Aufgehen solcher Verbünde in einer durch Massenmedien konstituierten und immer mehr von kommerziellen und politischen Interessen durchsetzten Öffentlichkeit deren Zerfallsprozess beginne (248ff.). Unabhängig von der genauen Stichhaltigkeit dieser These, die er im Vorwort zur Neuauflage von 1990 teils revidiert hat, steckt in der Analyse des Strukturwandels ein wichtiges Element für die Beschreibung von Öffentlichkeit. Habermas verdeutlicht, wie Öffentlichkeit als soziales Kommunikationssystem von den infrastrukturellen Möglichkeiten geprägt wird, in und mit denen es sich realisiert. Wenngleich seine Darstellung historisch mittlerweile zum Teil antiquiert (vgl. Blanning 2006, 17ff.) und medienwissenschaftlich zu einseitig an der These der Kulturindustrie orientiert wirkt, um die Effekte dieses Strukturwandels adäquat zu kennzeichnen, wird darin deutlich, dass jede Idee von Öffentlichkeit auch von einer technisch-medialen Umsetzung abhängt. Der von Hohendahl angeführte SPECTATOR steht nicht nur für die frühe mediale Ausdrucksform einer neuen literarischen Öffentlichkeit, sondern ist darüber hinaus einer der bekanntesten Vertreter des Zeitschriftenformats der Moralischen Wochenschrift geworden. Sein Erfolg habe darin gelegen, „den Bedürfnissen des sich herausbildenden allgemeinen Publikums in England außerordentlich“ entgegengekommen zu sein (Hohendahl 2000, 11). Bei Habermas (1990, 107) fügt sich der SPECTATOR wie allgemein die frühen Moralischen Wochenschriften in das Ideal einer publikumsbezogenen Öffentlichkeit ein, weil das Publikum „sich darin selbst zum Thema hat“. Neben dem sensiblen, kunstpädagogischen Idealismus der Blattmacher Addison und Steel lässt sich das darauf zurückführen, dass sich diese Journale nahtlos in die ortsgebundene Kaffeehausöffentlichkeit einfügten. Sie entstanden aus ihr heraus und für sie (vgl. Stürzer 1984, 35). Dennoch können schon an diesen Frühformen einer medialisierten Öffentlichkeit zwei grundsätzliche Aspekte abgelesen werden, die für ihre Strukturgenerierung allgemein kennzeichnend sind. Erstens ist die Herauskristallisierung einer medialisierten Öffentlichkeit
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verbunden mit einer Verstetigung des Kommunikationsprozesses, der sich auf diese Weise unabhängig macht von der direkten Beteiligung des Publikums. Diese Verstetigung durch Institutionalisierung, wie sie zuvor für moderne Printmedien umrissen wurde, bewegt sich im Rahmen der Möglichkeiten eines Mediums, zu denen neben anderen auch produktions- und vertriebstechnische, personelle und ökonomische Gegebenheiten und Anforderungen zählen. So waren beispielsweise schon die Erscheinungstermine des SPECTATOR-Vorläufers THE TATLER von der Logistik des Postvertriebs abhängig und Format und Umfang an drucktechnische und wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden (vgl. Rau 1980, 14; 51ff.). Zweitens vollzieht sich die Reproduktion medialer Öffentlichkeit als Verstetigung verstetigter Kommunikation unter Orientierung auf mediale Formen, die sich als erfolgreiche Weisen der Kontinuierung von Öffentlichkeit bewährt haben. Die von Habermas so gelobten medialen Frühformen bürgerlicher Öffentlichkeit beinhalten bereits die Blaupausen der weiteren Entfernung der Kommunikation aus dem sozialen Nahbereich einer an die Privatsphäre des Publikums gebundenen Öffentlichkeit. Nicht zuletzt der Ruhm des SPECTATOR beruht darauf, zunächst in England, später auch in Europa und Nordamerika vielfach hinsichtlich „formaler Kriterien und gehaltlicher Besonderheiten“ kopiert worden zu sein (Rau 1980, 353). Der SPECTATOR wurde auf diese Weise nicht nur ein wichtiges Organ einer sich selbst konstituierenden bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern auch ein indirekter Vorbote jener „kritischen Journale“, die „sich vom geselligen Gesprächskreis bereist ebenso abgelöst [haben] wie von den Werken, auf die sie sich beziehen“ (Habermas 1990, 105) und in denen Habermas bereits das Ende des Ideals aufscheinen sieht. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Generierung einer medialen Infrastruktur, mit der Öffentlichkeit in komplexen, modernen Gesellschaften immer stärker verschweißt ist, mit der Errichtung eines – wenn auch vielfach determinierten (vgl. Blanning 2006) – Kommunikationssystems einhergeht. Welche Folgen sich daraus für die Kommunikation ergeben, lässt sich nur soweit verallgemeinern, als sich damit die Bedeutung von Massenmedien vom Pol des Mittlers zu dem des aktiven Mitspielers verschiebt und so die Möglichkeitsbedingungen des gesamten Kommunikationsraums „durch die Bedingungen des jeweiligen Mediums mitstrukturiert und durch neue, aus der Technik und ihrem Gebrauch resultierende Effekte überschrieben“ (Hickethier 2003a, 210) werden. (3) Modus. Öffentlichkeit bildet sich als Modus einer spezifischen Inszenierung von Kommunikation heraus. Dass sich in Hohendahls Beispiel ein Autor als fiktive Figur unter fiktiven Figuren ins Spiel bringt, lässt sich mit einer bestimmten ästhetisch-moralischen Perspektive des fiktiven ‚Mr. Spectator‘ und einer literarischen Tradition erklären, auf die dabei rekurriert wird (vgl. Stürzer 1984, 159ff.). Die darin zum Vorschein kommende bewusste Fiktionalisierung des Kommunikationsaktes, deren Strategie Hohendahl (2000, 12) mit der so möglich gewordenen Unterscheidung zwischen „Autor und Leser“ auf der einen und den „empirischen Personen“ auf der anderen Seite begründet, modelliert Öffentlichkeit jedoch allgemein als einen ‚künstlichen‘ Kommunikationsraum, der auf besondere Art und Weise geschaffen werden muss und eine Umbesetzung der Beteiligten in veränderte Rollen
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nach sich zieht. Sie sind weder gleichberechtigte Interaktionspartner (der besondere Witz der fiktiven Dialogform des SPECTATOR scheint ja darin gelegen zu haben, dieses Verhältnis sowohl illusioniert als auch gebrochen zu haben) noch lediglich neutrale Sender und Empfänger von Nachrichten. Vielmehr werden sie zu Kommunikatoren, die (im Fall des SPECTATOR) literarische Öffentlichkeit als eine spezielle Kommunikationspraxis zum Entstehen bringen, und Publikum, auf das hin ausgerichtet Öffentlichkeit zum Entstehen gebracht wird. Die Beziehung zwischen den Kommunikatoren der Öffentlichkeit und dem Publikum ist keine fixe oder statische Beziehung, ihre Rollen innerhalb des Kommunikationsprozesses sind abhängig von dem Gesamtzusammenhang des Kommunikationssystems, mit dem Öffentlichkeit geschaffen wird. Den Akteuren fällt die Aufgabe zu, sich in diesem Zusammenhang zu positionieren, also eine Rolle als Kommunikator oder Publikum einzunehmen und über diese Rolle die Erscheinungsweise von Öffentlichkeit zu reproduzieren. Den positiven – weil im Diskurs ersichtlichen – Teil dieses Zusammenhangs bilden die Kommunikatoren der Öffentlichkeit, die mit jedem Kommunikationsakt die bzw. eine Idee von Öffentlichkeit praktizieren und auf diese Weise Öffentlichkeit sowohl fortschreiben als auch mit jedem neuen Kommunikationsakt wieder verändern. Sie deshalb als die Produzenten von Öffentlichkeit zu beschreiben, griffe jedoch zu kurz, da die Besonderheit von Öffentlichkeit gerade darin liegt, keinen einfach-linearen Kommunikationsprozess zu etablieren, sondern ein komplexes, emergentes Zusammenspiel zu stimulieren, in dem kein Autor ohne ein Publikum und eine mediale Infrastruktur vorstellbar ist. Wenn Hohendahl (2000, 18) – über die exemplarische Dialogform des SPECTATOR hinausgreifend – bezüglich des 18. Jahrhunderts generell von „Verfahren der kritischen Rationalität“ als zentralen Kommunikationsmodi der neuen bürgerlichen Öffentlichkeit spricht, so ist darin natürlich eine Referenz an Habermas idealisiertes Bild der Kommunikationspraktiken ursprünglicher und unvermachteter Sozietäten enthalten. Gleichwohl steht außer Frage, dass sich durch die Konstruktion eines Publikums als ausdrücklichem Adressaten die Verfahren der nun als ‚öffentlich‘ gekennzeichneten Kommunikationen verändern. Der Eintritt jeder Kommunikation in den Bereich der Öffentlichkeit ist mit einer Modulation der Sprechweisen verbunden, die in erster Linie der Tatsache Rechnung trägt, einen gesonderten Raum zu betreten. Wie diese Modulation der Kommunikation konkret geschieht, hängt nicht nur von den persönlichen oder medialen Möglichkeiten ab, sondern ist auch einer Begrifflichkeit oder einem Bild von Öffentlichkeit geschuldet, auf das dabei immer zurückgegriffen wird. Damit praktiziert öffentliche Kommunikation in jedem Kommunikationsakt einen immanenten Sinndiskurs. Dieser lässt sich mit Verweis auf Schulz von Thuns (1981, 27) Psychologie der interpersonalen Kommunikation gewissermaßen als die ‚Beziehungsebene‘ öffentlicher Kommunikation analogisieren. Öffentliche Kommunikation muss sich also in gewisser Weise selbst legitimieren, da der Zusammenhang zwischen den Kommunizierenden nicht als soziale Gegebenheit vorausgesetzt werden kann.
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Funktionszusammenhang Publikum, Struktur und Modus kennzeichnen moderne Öffentlichkeit als einen dreifach ‚sozialisierten‘, durch spezifische Konstitutionsbedingungen gesellschaftlich rückgebundenen Raum, in dem sich Formen öffentlicher Kommunikation ausrichten müssen. Die Forschungsliteratur versucht die damit einhergehenden Bindungen öffentlicher Kommunikation anhand der Raum-Metapher weiter zu konkretisieren. Dabei bieten sich zwei Optionen: einerseits über eine Veranschaulichung des Raumkonzepts als Forum oder Arena gesellschaftlicher Austauschprozesse, andererseits über die Differenzierung des Raumbegriffs in verschiedene Öffentlichkeiten (Hickethier 2003a, 208). Diesen Zugängen unterliegt ein jeweils verändertes Verständnis von Öffentlichkeit. Die Paarbildung Forum/Arena hebt die Erweiterung des Einflussbereichs von Kommunikation durch Öffentlichkeit hervor und markiert diese unter qualitativen Gesichtspunkten als Ort eines gemeinsamen Austauschs (Forum) oder als diversifizierten Kommunikationsrahmen, in dem verschiedene Akteure mit verteilten Rollen einen fest gefügten Platz einnehmen (Arena). Die Betonung der Differenzierung hingegen hebt auf die faktische Begrenzung jeder Form öffentlicher Kommunikation ab. Sie systematisiert Öffentlichkeit durch die Auftrennung des einen Raums, der in der Umschreibung als Forum oder Arena mitschwingt, in abgrenzbare Kommunikationsbereiche, in denen Öffentlichkeit unter verschiedenen Hinsichten beschreibbar wird – z.B. funktional als politische Öffentlichkeit, medial als Öffentlichkeit einer bestimmten Tageszeitung, sozial als Öffentlichkeit einer Rezipientengruppe oder thematisch als Öffentlichkeit eines differenzierten Sinnzusammenhangs. Beide Ansätze bieten somit einerseits unterschiedliche analytische Zugangsweisen zum Phänomen der Öffentlichkeit, andererseits deutet sich darin die Problematik der Systematisierung eines allzu raumfixierten Öffentlichkeitsbegriffs an. Positiv ausgedrückt lassen sich an den Begriff der Öffentlichkeit weder eindeutige Distinktionskriterien binden, die es ermöglichen würden, hier von einem immer gleich beschaffenen (Kommunikations-)System zu sprechen, noch gibt es die eine Öffentlichkeit als einen alles überwölbenden Kommunikationsraum. Öffentlichkeit ist eine Melange aus verschieden, sich teils überlagernden öffentlichen Kommunikationsräumen, die in sich ganz verschieden strukturiert sein können. Um Öffentlichkeit vor diesem Hintergrund für die Diskursanalyse operationalisierbar zu machen, ist es notwendig, sie weitergehend und anders zu konkretisieren, als das die alleinige Metaphorisierung als Raum zulässt. Das ist auch unter kommunikationstheoretischen Aspekten sinnvoll, da sich Öffentlichkeit als Substantiv nur in Form eines Sozialraums, wie ihn ein öffentlicher Platz oder ein Parlament darstellen, autonom konstituieren kann – als Kommunikationsraum ist Öffentlichkeit hingegen, in diese Richtung zielt auch Luhmanns (1997, 1096ff.) Kritik am Öffentlichkeitsbegriff, immer von einer medialen Form der Realisierung abhängig. Versteht man unter Öffentlichkeit einen Rahmenaspekt von Kommunikation, so lässt sich dieser diskursanalytisch als ein komplexer Funktionszusammenhang beschreiben, in den die Produktion von Wissen eingepasst und an dem sie ausgerichtet ist.
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Dieser Funktionszusammenhang wird nachfolgend am Beispiel der politischen Öffentlichkeit respektive des politischen Diskurses aufgezeigt. Dazu wird auf die von den Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt gemachten Vorschläge einer soziologischen Bestimmung politischer Öffentlichkeit zurückgegriffen (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990; 1991; Gerhards 1994; Neidhardt 1994). Während im vorigen Abschnitt moderne Öffentlichkeit allgemein als gesonderter Kommunikationsraum von Interesse war, deren Grundeigenschaften anhand ihrer Entstehungsbedingungen beschrieben wurden, verdeutlicht eine Konkretisierung von Öffentlichkeit, wie sie Gerhards und Neidhardt vornehmen, dass sich die öffentliche Situierung von Diskursen unter perspektivisch verschiebbaren Bedingungen realisiert. Diese Bedingungen definieren Gerhards/Neidhardt (1990, 7) mit den Anforderungen „funktional differenzierter“ Gesellschaften und mit den spezifischen Funktionen, die politische Öffentlichkeit darin wahrnehmen soll. Die Funktionsbestimmung verdeutlichen sie anhand eines Input-Throughput-OutputModells, das an dem kybernetischen Drei-Ebenen-Schema der Ausbildung politischen Regulierungswissens angelehnt ist, wie es der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni in seinem Buch DIE AKTIVE GESELLSCHAFT (1975, 197–219) skizziert hat. Etzionis Verlaufsschema der Bildung „gesamtgesellschaftlicher Entscheidungsprozesse“ (212) sieht den politischen Diskurs als einen an den öffentlichen Raum gekoppelten Kommunikationsprozess, in dem drei Gruppen von Akteuren (Intellektuelle, Experten, Politiker) durch ihre je unterschiedlichen diskursiven Bindungen jeweils andere Wissensniveaus in den politischen Diskurs einspeisen. Der politische Diskurs stellt für Etzioni idealtypisch einen zielgerichteten Prozess dar, in dem Wissen beim Durchlaufen der drei Niveaus sukzessive gefiltert wird und so in administrative Regulierungsweisen eingepasst werden kann. Gerhards/Neidhardt übertragen dieses Schema, indem sie die drei Stufen unabhängig von der Zuschreibung bestimmter Akteure als verschiedene Weisen konzipieren, wie politische Diskurse im Raum der Öffentlichkeit organisiert sind: Informationen werden gesammelt, verarbeitet und angewendet. Informationssammlung bezieht sich auf den Input des Öffentlichkeitssystems, Informationsverarbeitung bezeichnet den Modus des Throughputs und Informationsanwendung schließlich ergibt den Output des Systems. (Gerhards/Neidhardt 1991, 42)
Ersetzt man in diesem Zitat den (‚systemtheoretischen‘) Systembegriff, den nicht einmal die Systemtheorie in Zusammenhang mit Öffentlichkeit verwendet (vgl. Baecker 1996, 99), durch den neutraleren Terminus ‚Kommunikationsprozess‘, wird an der wissenssoziologischen Kontextualisierung politischer Öffentlichkeit deutlich, dass ein diskursives Grundmuster politischer Öffentlichkeit in ihrer funktionsspezifischen Ausrichtung zu finden ist. Politische Diskurse lassen sich dahingehend identifizieren, dass sie nicht nur Wissen aufbauen, verdichten und gesellschaftlich zu behaupten versuchen, sie sind darüber hinaus durch die Eigenschaft geprägt, im weitesten Sinne auf die Ausübung von Herrschaftsverhältnissen ausgerichtet zu sein. Diskursen fällt im Kontext politischer Öffentlichkeit die Aufgabe zu, mithin direkt über die Erzeugung hegemonialer (Diskurs-)Positionen auf politische Herrschaft
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einzuwirken. Der Kern politischer Diskurse liegt in der Übertragung diskursiver Kommunikationspraktiken in nicht-diskursive Herrschaftspraktiken. Ersichtlich wird diese spezielle Form der Ausrichtung auf politische Herrschaft bereits auf der Diskursoberfläche anhand der argumentativen Muster der konkreten Sprachverwendung, die eine klare Zielsetzung erkennen lassen, wie das Martin Wengeler anhand des Migrationsdiskurses aufgeschlüsselt hat. Allerdings kann eine allzu sehr auf diesen funktionalistischen Kern orientierte Betrachtung dazu einladen, ein unterkomplexes Verständnis diskursiver Praktiken zu applizieren, indem unterstellt wird, Kommunikation würde als Information oder Mitteilung aus dem Diskurs heraus nur oder in erster Linie zielgerichtet ausgewählt und verteilt werden können. Gerade die allgemeine Offenheit öffentlicher Kommunikation, die aus der potenziellen Unabgeschlossenheit ihres Publikums und der Universalität ihrer Gegenstandsbereiche erwächst, multipliziert die Möglichkeiten diskursiver Anschlüsse und Verbindungen. Öffentliche Kommunikation spielt auf der gesamten Klaviatur gesellschaftlicher Zusammenhänge, weshalb es fraglich erscheint, politische Diskurse nur im Rahmen eines expliziten Funktionszusammenhangs zu begreifen: Es geht um Angelegenheiten von kollektivem Interesse, um Probleme, die ›alle‹ angehen oder interessieren sollten. Traditionell ist vor allem an politische oder Staatsangelegenheiten gedacht – also an kollektive Probleme, die einer politischen Regelung schon unterliegen oder zugeführt werden sollen. Für welche Probleme letzteres gilt, ist allerdings umstritten und erst selbst im öffentlichen Diskurs zu klären. Auch ist die allgemeine öffentliche Selbstverständigung nicht zu beschränken auf unmittelbar entscheidungsbedürftige oder -fähige praktische Fragen. Hierher gehören auch Debatten über allgemeine Orientierungen, normative Prinzipien und Werte [...]. (Peters 1994, 45)
Kein politischer Diskurs kann deshalb monofunktional begrenzt werden, da immer potenzielle Einschreibungen aus dem und in das gesamte Feld der Kultur möglich sind. Zusammenfassend kann man sagen, Diskurse sind in der massenmedialen Öffentlichkeit nicht an einen fest gefügten Funktionszusammenhang gebunden, sondern bewegen sich, da sie tendenziell fragil und mehrdeutig sind, orientiert an einer Art gelockertem Funktionszusammenhang, der seinerseits jedoch unerlässlich ist, da sich öffentliche Kommunikation in einen allgemein zurechenbaren Sinnzusammenhang eingliedern muss. Diese Funktionsweise kann, das ist die Ausgangsthese diese Abschnitts, verallgemeinernd auf alle Diskurse der Öffentlichkeit übertragen werden. Wie ein Diskurs diese Verknüpfungen konkret realisiert, ist hingegen eine empirische Frage.
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Öffentlicher Diskurs Verallgemeinernd lassen sich öffentliche Diskurse als jeweils mehr ex- oder implizit ausgeprägte Formen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen begreifen, die mit spezifischen und unspezifischen Adressierungen intendierte und nicht-intendierte Effekte innerhalb des gesamten Feldes gesellschaftlicher Kommunikation hervorrufen können. Die Frage, die daran anschließt, lautet nun, inwieweit sich die Konstitution der Massenmedien auf das Praktizieren von Diskursen im öffentlichen Raum niederschlägt: Welchen Möglichkeitsraum eröffnet die massenmediale Konstitution von Öffentlichkeit den diskursiven Praktiken? Die Notwendigkeit dieser Frage lässt sich verdeutlichen, wenn man noch einmal auf das wissenssoziologische Input-Throughput-Output-Modell von Etzioni zurückkommt. Eine wesentliche Problematik der kybernetischen Modellierung öffentlicher Kommunikationsprozesse entspringt dem damit erweckten Eindruck, die Medien der öffentlichen Kommunikation seien eine Art regulierendes Durchflusssystem, in das Informationen an einem Ort eingegeben werden, die beim Durchlaufen des Systems verschiedentlich manipuliert und gefiltert werden, um am Ausgang des Systems als mehr oder weniger passgenaue Informationen in ein anderes Kommunikationssystem eingespeist werden zu können. Neben der zuvor angerissenen Frage der Intentionalität eines solchen Systems, das Informationen weder passgenau ansaugen, isoliert transportieren noch zielgerichtet ausgeben kann, und der Frage seiner Eigenständigkeit, die müßig zu beantworten ist, da Massenmedien und moderne Gesellschaften nicht voneinander zu trennen sind, berührt eine weitere Problematik des Modells die Materialität der Massenmedien an sich. Denn die Metapher des Durchflusssystems kann dazu verleiten, Massenmedien als eine gewissermaßen ‚leblose‘, inaktive Struktur zu konzipieren, die nur über eine schwache Eigenaktivität verfügt. Dagegen lässt sich argumentieren, dass in den diskursiven Praktiken der Massenmedien eine starke Eigenaktivität einer medialen Diskursformation ihren Ausdruck findet, die davon zeugt, dass Medien einen eigenen produktiven Faktor der gesellschaftlichen Kommunikation bilden. Sie kanalisieren und steuern nicht nur Informationen, sondern sie evozieren und erzeugen sie – und das vielleicht an erster Stelle – auch selbst. Will man das Wie handhabbar beschreiben, das in dieser Feststellung enthalten ist, bietet es sich an, den Dreischritt von Input, Throughput und Output anders zu begreifen: nicht als wissenssoziologisches Steuerungsmodell, sondern als kommunikatives Verfahren medialer Diskurse. Einen guten Ansatz dazu bietet eine Definition des Kommunikationsbegriffs bei Luhmann: Kommunikation setzt mithin außer der gemeinsamen Sprache noch zwei verschiedene Ebenen der Sinnfixierung voraus: die Wahl eines Themas und die Artikulation von Meinungen über dieses Thema; und erst innerhalb dieser Differenz kann die Differenz von übereinstimmenden und nicht übereinstimmenden Meinungen sich konstituieren. (Luhmann 1979, 35)
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Luhmanns Definition legt auch nahe, dass Input, Throughput und Output als Sprache, Themen und Meinungen in der Kommunikationspraxis nicht als reiner Dreischritt funktionieren, sondern im Kommunikationsakt eigentlich zusammenfallen: Eine differenzierte Position ist nur dann möglich, wenn sie zugleich in einer gemeinsam geteilten Sprache formuliert und an einem zuschreibbaren Thema orientiert ist. Die folgende Aufspaltung ist also wieder analytischer Natur und auf die Idee von Diskursen als an kommunikative Praktiken gebundene Formen der Wissenskonstruktion ausgerichtet: als massenmediale Praktiken des Sprechens, Thematisierens und Meinens.
Sprechen Die Orientierung massenmedialer Kommunikation an einem dispersen Publikum führt auf der Ebene des öffentlichen Sprachgebrauchs dazu, die Produktion der Kommunikate an einem größtmöglichen Maß an Allgemeinverständlichkeit zu orientieren. Ein wesentlicher Effekt solcherart sozialisierter Kommunikation liegt in dem (vielleicht vordergründigen) Paradox, dass die gesteigerte Komplexität der kommunikativen Zusammenhänge im Raum der Öffentlichkeit mit einer Reduktion des Möglichkeitsraums für die darin vorkommenden Diskurse einhergeht, wie sie in der Öffentlichkeits-Definition von Gerhards und Neidhardt zum Ausdruck kommt: Unter Öffentlichkeit wird ein Kommunikationssystem verstanden, das prinzipiell für alle Mitglieder einer Gesellschaft offen und auf Laienorientierung festgelegt ist. Diese Merkmale von Öffentlichkeit haben Effekte auf die Informationsbearbeitungsprozesse des Systems. Dass es sich um ein offenes Laiensystem handelt, dass also das Material von Öffentlichkeit allgemein verständliche Kommunikation ist, sichert die Publikumsnähe des Systems. Jeder kann potenziell teilnehmen und möglicherweise alles verstehen. (Gerhards/Neidhardt 1991, 47)
Diese Laienorientierung oder Allgemeinverständlichkeit bildet einen zentralen Mechanismus öffentlicher Diskurse. Für die Herausbildung und Ausdifferenzierung massenmedialer Kommunikation lässt sich die weiterführende These formulieren, dass mit zunehmender Größe und Komplexität des Kommunikationsbereichs der Publikumsbezug immer mehr an Bedeutung gewinnt, da die ‚Unspezifizität‘ der Adressen zu- bzw. die Selbstverständlichkeit der Adressierung abnimmt. Daran wird auch ersichtlich, dass die von Gerhards und Neidhardt vorgenommene Zuschreibung als „offenes Laiensystem“ missverständlich ist. Denn die Laienorientierung ist nicht gleichbedeutend mit einer ‚Laienkommunikation‘, sondern erfordert von den Kommunikatoren ein gesteigertes Maß an journalistischer Kompetenz und Professionalität, mit der die mediale Kluft zwischen ‚Sender‘ und ‚Empfänger‘ überbrückt wird, sodass die Illusion der ‚Ebenbürtigkeit‘ (Habermas) des Kommunikationszusammenhangs gewahrt und eine möglichst weitgehende Anteilnahme erreicht werden kann. Öffentlicher Sprachgebrauch ist – unabhängig von der aus wissenschaftlicher Perspektive vorschnell konstatierten oberflächlichen Simplizität – eine überaus differenzierte und spezialisierte und somit, diskursanalytisch gesehen, organisierte und kontrollierte Form der Verständigung.
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Mit der Institutionalisierung von Massenmedien als den zentralen Agenturen der gesellschaftlichen Kommunikation lassen sich deshalb ähnliche außerdiskursive Kontrollmechanismen beschreiben, wie sie Foucault in DIE ORDNUNG DES DISKURSES für das Wissenschaftssystem anführt. Diese manifestieren sich im Bereich des Journalismus nicht nur an der äußerst selektiven Zugänglichkeit zu den Bühnen der Arenen der Öffentlichkeit, sondern auch an der Normierung und Professionalisierung journalistischer Diskurspraktiken, die in journalistischen Lehrbüchern offensichtlich und in der Ausbildung und der täglichen Routine von Journalisten ‚praktisch‘ werden. Die diskursive Mittlerposition der Massenmedien „zwischen der Gemeinsprache und den verschiedenen Fachsprachen“ (Weinrich 1980, 21), die ihren interdiskursiven Status zwischen Alltags- und Fachdiskursen zum Ausdruck bringt, führte in der Mediengeschichte zur Ausbildung eines politisch, ökonomisch, rechtlich etc. zunehmend unabhängiger werdenden Sozialsystems der ‚Gesellschaftsbeobachtung‘ (vgl. Luhmann 1996). Dass es dennoch als zweifelhaft angesehen werden kann, einer allzu eigenständigen REALITÄT DER MASSENMEDIEN (Luhmann 1996) folgend, ein solches System als selbstreferenziellen, autopoietischen Diskurs-Kosmos zu betrachten, hängt nicht nur mit der offenen Struktur des (Meta-)Mediums ‚Sprache‘ zusammen, das den Medien inhärent ist. Die Abgeschlossenheit des Systems lässt sich insbesondere aufgrund seiner (fiktiven) Allgemeinzuständigkeit bezweifeln, die nicht nur dazu führt, die Gesellschaft ‚zu beobachten‘, wie es das systemtheoretische Vokabular nahelegt. Vielmehr zieht diese mediale Strukturkomponente für die Massenmedien die Erfordernis nach sich, sich transkriptiv in die verschiedenen Diskurse einzuflechten. Denn die Besonderheit des gesellschaftlichen Funktionssystems der Massenmedien liegt darin, dass die Sprachen und Symbolsysteme, mit und in denen hier kommuniziert wird, die gleichen sind, mit und in denen sich die Gesellschaft insgesamt mit und über sich selbst verständigt. Gleichwohl das auf der einen Seite einen gewissermaßen selbstreferenziellen Legitimationszwang nach sich zieht, der – wie zuvor argumentiert wurde – den Grundmodus massenmedialer Kommunikation bildet, so bleibt dieser Vorgang dennoch diskursiv verbunden (und nicht gekoppelt) mit dem ‚Rest‘ gesellschaftlicher Kommunikation – was allerdings auch Luhmann (1997, 1103) gegen den eigenen Systembegriff zumindest in Betracht zieht.
Thematisieren Diskursanalytisch bildet ein Thema den übergeordneten Bezugspunkt, dem sich ähnliche Aussagen zuordnen lassen müssen, damit sie als einem Diskurs zugehörig eingestuft werden können. Analog dazu lässt sich auch – gewissermaßen in ‚Gegenrichtung‘, nicht aus der Spur des Analysierenden, sondern aus der der Praktizierenden – die Funktion von Themen für die soziale Konstruktion von Wissen beschreiben. Auf den Punkt bringt diesen Umstand Luhmann in seinem Aufsatz ÖFFENTLICHE MEINUNG (1979): Unter ›Themen‹ wollen wir bezeichnete, mehr oder weniger unbestimmte und entwicklungsfähige Sinnkomplexe verstehen, über die man reden und gleiche, aber auch verschiedene Meinungen haben kann: das Wetter, das neue Auto des Nachbarn,
184 | MEDIEN UND KOMMUNIKATION die Wiedervereinigung, der Motorlärm von Rasenmähern, das Steigen der Preise, der Minister Strauß. Solche Themen liegen als Struktur jeder Kommunikation zugrunde, die als Interaktion zwischen mehreren Partnern geführt wird. Sie ermöglichen ein gemeinsames Sichbeziehen auf identischen Sinn und verhindern das Aneinandervorbeireden. (Luhmann 1979, 34f.)
Themen bilden folglich einen notwendig zu fixierenden Sinnkontext, ohne den keine Sprache die Ebene der Pragmatik erreichen könnte. Dabei deutet sich in Luhmanns Definition von Themen als „unbestimmte und entwicklungsfähige Sinnkomplexe“ bereits die ‚Dialektik‘ des Themenbegriffs an. Denn so notwendig die gemeinsame Orientierung auf einen thematischen Rahmen auch ist, so unscharf ist das, was mit dem Begriff in der Kommunikationspraxis eingegrenzt werden kann, da die thematische Ordnung von Kommunikation bereits Teil des Sprachspiels ist. So könnte es durchaus Zeiten und Orte gegeben haben bzw. geben, wo das neue Auto des Nachbarn etwas mit der Wiedervereinigung zu tun hat und der Motorlärm des Rasenmähers etwas mit dem Steigen der Preise. Anders ausgedrückt folgt die notwendige thematische Kontextualisierung von Kommunikation selbst einem kommunikativen Akt, der in der Regel eher im- als explizit ist, und die Abgrenzung und Anordnung von Themen ist immer mit einer Interpretationshandlung verbunden. Themen sind – analytisch betrachtet – genauso notwendige wie problematische Gebilde, für deren Auffinden und Abgrenzen keine Formeln zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zur interpersonalen Kommunikation (gemeinsames Sichbeziehen ermöglichen, Aneinandervorbeireden verhindern) nehmen Themen in der massenmedialen Kommunikation stärker die Funktion ein, einen gemeinsamen Erwartungshorizont zu errichten, an dem sich die beiden Seiten des Kommunikationsprozesses orientieren können: als grobes Bedeutungsraster, das „zunächst und vor allem dem Einfangen von Aufmerksamkeit“ (Luhmann 1979, 38) dient. Wie solche Aufmerksamkeitsraster in der medialen Praxis errichtet werden, wird nun an vier Aspekten ausgeführt, die für die Generierung und Strukturierung von Themen in der massenmedialen Kommunikation bedeutsam sind: (1) Nachrichtenwerte, (2) Agenda-Setting, (3) Intermedia-AgendaSetting und (4) Themenkarrieren. (1) Unter der Überschrift der Nachrichtenwerte wird in der Kommunikationswissenschaft danach gefragt, an welchen Kriterien die Selektion von Ereignissen ausgerichtet ist, die sich in der Berichterstattung wiederfinden. Fraglich ist dabei nicht, ob mediale Berichterstattung als Akt der Repräsentation eines äußeren Weltgeschehens mit einer Selektionshandlung verbunden ist – das gilt für jede Form von Kommunikation (vgl. Baecker 2005) –, sondern inwieweit dies nach verallgemeinerbaren Kriterien geschieht, die sich als „endogene Einflüsse“ (Schulz 2002b, 353) direkt auf das Mediensystem beziehen lassen. Wenngleich zahlreiche, unterschiedlich ausgerichtete und operationalisierte Studien dazu für den Bereich der politischen Kommunikation verschiedene Kriterien ermittelt haben (vgl. Staab 1990, 40–92), lassen sich insgesamt dennoch einige Faktoren ausmachen, die eine relativ konstante Relevanz besitzen. Winfried Schulz (1997, 70ff.) subsumiert diese etwa unter die abstrakten Oberbegriffe „Status“, „Valenz“, „Relevanz“, „Identifi-
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kation“, „Konsonanz“ und „Dynamik“, für die er exemplarisch eine Selektion der politischen Kommunikation der Massenmedien an ‚Berichtswerten‘ belegt, die sich vereinfachend als Prominenz, Aufmerksamkeit, räumliche und/oder kulturelle Nähe, kommunikative Anschlussfähigkeit und Zeitbezug übersetzen lassen. Für die Berichterstattungswahrscheinlichkeit einer Nachricht gilt: „Je stärker einer oder mehrere Nachrichtenfaktoren ausgeprägt sind, desto größer ist der Nachrichtenwert eines Ereignisses und damit dessen Chance, als Nachricht veröffentlicht zu werden“ (Schulz 1997, 75). Zu dieser Grundregel der Nachrichtenwerte lässt sich ergänzend die These aufstellen, dass sich mit in der Auswahl einer Nachricht aus dem theoretisch unbegrenzten Feld möglicher Nachrichten und ihrer weiteren Bearbeitung durch die jeweilige Art und Weise der Integration in die Berichterstattung das Informativ eines Mediums realisieren muss. Gleichzeitig kann aus der Abstraktheit der Nachrichtenwerte geschlossen werden, dass es sich hierbei zwar um relativ allgemeine, aber um keine ‚monolithischen‘ Kriterien handelt. Die Selektion von Nachrichten findet unter heterogenen Bedingungen statt, die von dem einzelnen Autor über die Redaktion, das Ressort bis zu den medialen Anforderungen eines Mediums, dem öffentlichen Funktionszusammenhang der Nachricht und der gesellschaftlichen Funktionalisierung von Öffentlichkeit reichen. (2) Agenda-Setting. Die Nachrichtenwerttheorie zielt auf die allgemeinen Mechanismen ab, die bei der Auswahl von Informationen innerhalb des journalistischen Kommunikationsprozesses zum Tragen kommen. Einen stärker auf die Berücksichtigung von Themen – als komplexe gesellschaftliche Konstrukte der öffentlichen Kommunikation – bezogenen Ansatz bietet das Agenda-Setting-Modell, wenngleich beide Konzepte in einem ähnlichen theoretischen „Zusammenhang“ stehen (Rössler 1997, 410). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Agenda-Setting auf eine Hypothese baut, die in der Kommunikationswissenschaft eine Art Paradigmenwechsel nach sich gezogen hat. Bekannt geworden ist der Agenda-Setting-Ansatz durch eine Studie zum US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 1968, die von den Kommunikationswissenschaftlern Maxwell McCombs und Donald L. Shaw durchgeführt wurde. Anhand einer Befragung von 100 noch unentschiedenen Wahlbürgern der Gemeinde Chapel Hill konnten sie zeigen, dass deren Auswahl von als relevant erachteten politischen Streitfragen (issues) signifikant mit der Medienberichterstattung zum Wahlkampf übereinstimmte. Ihre Ergebnisse veranlassten sie zu der berühmten These über Medienwirkungen: “While the mass media have little influence on the direction or intensity of attitudes, it is hypotised that the mass media set the agenda for each political campaign, influencing the salience of attitudes toward the political issue” (McCombs/Shaw 1972, 177). Die besondere Forschungsperspektive, die in der Chapel-Hill-Studie deutlich wird, liegt in einer veränderten Annahme über die Einflusssphäre der Medien (salience of attitudes). Für die Bestimmung des performativen Gehalts der Massenmedien ist damit weniger von Interesse, „ob die Medien Einstellungen und Verhalten der Menschen beeinflussen, sondern wie die Massenmedien den Grad der Wichtigkeit beeinflussen, der einem Thema im öffentlichen Diskurs zugemessen wird“ (Rössler 1997, 16f.). Dabei wird darauf
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abgehoben, dass Massenmedien – im Gegensatz zu älteren Widerspiegelungstheorien, die eine ungebrochene Einschreibung massenmedialer Kommunikation in die Wahrnehmungswelten der Rezipienten unterstellen – auf die gesellschaftliche Kommunikation den weniger einflussreichen Effekt der Etablierung von Themen (und nicht Einstellungen) haben, indem sie eine Tagesordnung (Agenda) von Themen festlegen, die von allgemeinem Belang sind. Medien fokussieren also die gesellschaftliche Aufmerksamkeit, indem sie beeinflussen, „welche politischen Themen zur Zeit wichtig sind“ (Schulz 1984, 206). Schulz weist an gleicher Stelle darauf hin, dass es sich bei dem Begriff des Agenda-Settings um eine Metapher handelt, die zwei spezifische diskursive Konstruktionsleistungen der Massenmedien hervorhebt: Wesentliches Merkmal von der Metapher als Themenagenda ist, dass es eine eindeutige Rangordnung der politischen Themen gibt. Nach dieser Vorstellung sind bestimmte Themen wichtiger als andere, es gibt ein jeweils wichtigstes, zweitwichtigstes usw. Ein zweites wesentliches Merkmal der Metapher ist, dass die Rangordnung mit der Zeit variiert. Was heute noch wichtig war, kann schon morgen oder nächste Woche oder nächsten Monat auf die hinteren Plätze der Agenda zurückgefallen sein. (Schulz 1984, 206)
Diese Selektionsfunktionen lassen sich als relativ unspektakulärer Ausdruck des massenmedialen Informativs verstehen, die in einem Medium nach Maßgabe der jeweiligen Informationsstruktur realisiert werden. Dabei ist zu beachten, dass die gesamte Konstruktion der Metapher der einen Agenda in höchstem Maße vereinfachend ist – also nicht mehr als modellhaften Charakter hat. Deutlich wird das schon an der in der Metaphorisierung enthaltenen Gleichschaltung der Medien mit einer Agenda, die eine analytische, aber keine empirische Beschreibung des komplexen Systems der Massenmedien darstellt. Auch sind die Methoden und Theorien des Agenda-Setting-Ansatzes eigentlich auf die Frage der Medienwirkung ausgerichtet. Genauer: auf den quantifizierbaren Einfluss der medialen Berichterstattung auf das in der Agenda-Setting-Forschung zumeist als ‚Öffentlichkeit‘ titulierte Publikum. In dieser Gleichsetzung, die „Öffentlichkeit implizit auf das Publikum reduziert“ (Rössler 1997, 391), wird bereits ein problematischer kommunikationstheoretischer Aspekt dieses Ansatzes deutlich, der insgesamt – zu diesem Schluss kommt auch Rössler in seiner umfangreichen Studie – keine „eigenständige“ (410) (Wirkungs-)Theorie darstellt: „Agenda-Setting [ist] weniger ein Modell begrenzter Medieneffekte denn ein begrenztes Modell von Medieneffekten“ (20). Da es bei der Diskursanalyse nicht darum geht, quantifizierbare Aussagen über den Einfluss von Medien auf individuelle Einstellungen zu treffen, sind für die Beschreibung öffentlicher Diskurse am Agenda-Setting-Modell Erkenntnisse über die Konstruktionsweisen von Themen relevant. Dafür bietet sich eingangs das „Modell gesellschaftlicher Themenstrukturierungsprozesse“ an, wie es von dem Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Eichhorn (1996, 173–182) im Kontext des Agenda-Settings für die politische Kommunikation entworfen wurde (Abbildung 8). Eichhorn greift dort die in der Agenda-Setting-Forschung gebräuchliche Dreiteilung in public agenda,
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media agenda und policy agenda (Dearing/Rogers 1996) auf, die – wie bereits angedeutet – insofern fragwürdig ist, als es eine äquivalente Publikumsagenda eigentlich gar nicht geben kann, da das Publikum ein Konglomerat von Einzelindividuen ist, die keine Agenda gemeinsam ausbilden können, ohne sich diesseits einer zuschreibbaren Form einer sozialen (Kommunikations-)Öffentlichkeit zu bewegen. Eichhorn versucht diesem inhärenten Widerspruch des Agenda-Setting auszuweichen, indem er sein ThemenModell aus einem passiven Publikum, den Massenmedien und einem (aktiven) Elite-Publikum zusammenfügt, außerdem dämpft er (1996, 176) allzu große Erwartungen an ein solches Modell dahingehend, dass es nicht mehr leisten könne, „als die beteiligten Akteure zu identifizieren und generelle Funktionen und Prozesse zu beschreiben“. Abbildung 8: Modell gesellschaftlicher Themenstrukturierungsprozesse
passives Publikum
Medien
Elitepublikum: - politische Akteure, - Interessengruppen, - aktive Bürger. = Interaktion (b.a) = fokussierte Einflüsse (b.b) = unfokussierte Einflüsse (b.c) = latente Einflüsse (b.d) = Berichterstattung (b.e)
Eichhorn (1996, 173) Die folgende, komprimierte Darstellung beschränkt sich auf die Beschreibung der (a) Funktionsweisen und (b) Austauschprozesse, wie sie Eichhorn anhand seines Modells skizziert. (a) Den Funktionsweisen (178f.) rechnet er drei Bereiche zu: (a.a) die Herstellung einzelner Themen, an der alle Akteure auf verschiedene Arten beteiligt sind; (a.b) das Emergieren komplexer Themenstrukturen aus dem Zusammenwirken einzelner Themen, einerseits über die Hierarchisierung verschiedener um Aufmerksamkeit konkurrierender Themen und andererseits über die „Verknüpfung einzelner Themen zu größeren Strukturen“; (a.c) die Bindung von „individuellen und kollektiven kognitiven Strukturen“, einerseits aus einer Publikumsperspektive, durch die Verbindung der jeweiligen
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individuellen Erfahrungen mit „sozial produzierten Frames“, andererseits aus einer Kommunikatorenperspektive, durch die Bindung der von ihnen produzierten ‚sozialen Frames‘ an die eigenen individuellen Erfahrungen. (b) Die verschiedenen kommunikativen Austauschprozesse zwischen den drei Akteursbereichen passives Publikum, Elite-Publikum und Massenmedien, die im Modell durch die Pfeile symbolisiert werden, unterscheidet Eichhorn in fünf Typen (179f.): (b.a) individuelle, interaktive Kommunikationsprozesse, die zwischen einzelnen Akteuren stattfinden („interaktive Prozesse“); (b.b) kollektive, interaktive Kommunikationsprozesse, die zwischen Institutionen stattfinden („fokussierte Einflussprozesse“); (b.c) öffentliche, nicht-interaktive Kommunikationsprozesse, die sich an ein mehr oder weniger disperses Publikum richten („unfokussierte Einflussprozesse“); (b.d) nicht-kommunikative, kollektive Einflüsse, die aus der allgemeinen Bedeutung des Publikums für die öffentliche Kommunikation erwachsen („latenter Einfluss“); (b.e) kollektive Realitätskonstruktionen, die keinen Austauschprozess darstellen und aus der allgemeinen Funktion der Massenmedien erwachsen, eine verbindliche gesellschaftliche Wahrnehmung der Umwelt zu leisten („Berichterstattung“). Inwieweit gibt dieses Modell nun Aufschluss darüber, wie die Herausbildung von Themen in massenmedialen Diskursen beschaffen ist? Zunächst zeigt das sich überlagernde Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren, Funktionsweisen und Prozessformen, dass die Generierung von Themen im öffentlichen Diskurs eine überaus komplexe Diffusion verschiedener Einflussphänomene ist, die eine statische Modellierung, worauf ja auch Eichhorn selbstkritisch hinweist, in gewissem Sinne ad absurdum führt. Des Weiteren ist Eichhorns Modell auf den Bereich politischer Kommunikation und die Frage der Medienwirkung ausgerichtet, was sich insbesondere in der Zusammensetzung der Akteursbereiche niederschlägt. Eine diskursanalytische Adaption kann deshalb einige Streichungen vornehmen, die jene Aspekte betreffen, die jenseits des hier verfolgten diskursanalytischen Interesses liegen. Das sind die Akteursbereiche ‚passives Publikum‘ und ‚Elite-Publikum‘ (public agenda und policy agenda), die aus der Sicht des medialen Diskurses Umgebungsvariablen darstellen, die bereits mit den beschriebenen ‚Formierungen‘ öffentlicher Diskurse durch einen je spezifischen Kommunikationsraum und Funktionszusammenhang erläutert wurden, und – daraus folgernd – alle damit verbundenen Funktions- und Prozessaspekte. Klammert man diese Aspekte aus, ergibt sich ein zwar reduziertes, aber immer noch überaus komplexes Arbeitsmodell der Strukturierung von Thematisierungsprozessen. Von Eichhorns Modell unterscheidet es sich durch die Konzentration auf die Perspektive der Massenmedien, die bezüglich (a) der Produktion und (b) des Prozessierens von Wissensformen in den Blick gelangen. (a) Für die Funktionsweisen der Generierung von Themen in und durch öffentliche Diskurse lassen sich zwei Aspekte hervorheben: Zum einen unterliegt die Etablierung von Themen (a.b) der inhärenten Konkurrenz eines potenziellen Themenspektrums, das allerdings durch die Umgebungsvariablen eingeschränkt ist. Sie vollzieht sich in einem thematischen Kontext, der jedoch nicht nur, wie Eichhorn schreibt, zu einer „Verknüpfung einzelner Themen zu größeren Strukturen“ führt. Aus diskursanalytischer Perspektive
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impliziert der thematische Kontext gleichzeitig einen ‚ordnenden‘ Funktionsmechanismus, da sich jedes Thema zu einem gewissen Grad in den mit der Behandlung anderer Themen bereits etablierten diskursiven Möglichkeitsraum öffentlicher Kommunikation einfügen muss. Dieser Vorgang findet auf verschiedenen Ebenen statt, die von der Integration von beispielsweise Wertvorstellungen bis zur Art und Weise der Strukturierung der Bearbeitung von Themen reichen. Der zweite Aspekt betrifft den Vorgang, den Eichhorn als die „Vermittlung zwischen individuellen und sozialen kognitiven Strukturen“ (179) beschreibt (a.c) und der die zentrale Fragestellung des AgendaSetting-Konzepts enthält. Im Gegensatz zum (traditionellen) Agenda-SettingAnsatz, der Publikum und Kommunikatoren gegenüberstellt, ist für die Beschreibung der medialen Generierung von Themen eine dritte Perspektive von Interesse. Sie beinhaltet eine Verbindung von Publikums- und Kommunikatorrolle. Denn die von Eichhorn als „zwei Seiten“ bezeichneten Formen der gesellschaftlichen Strukturierung von Themen, die „Eigenschaften des kulturellen Systems, in dem sie ablaufen, und [die] gemeinsamen Eigenschaften der Akteure, die in diesem System tätig sind“ (179), fallen in der medialen Diskurspraxis zusammen. Die Produzenten medialer Diskurse sind zugleich auch Publikum, also Adressaten medialer Diskurse, die ihre Diskurspraktiken an individuellen und kollektiven kognitiven Strukturen ausrichten. (b) Zu den diskursanalytisch relevanten transkriptiven Austauschprozessen, die dabei zum Tragen kommen, zählen (b.b) fokussierte und (b.c) unfokussierte Einflussphänomene und (b.e) Berichterstattung. Da hier, wie gesagt, nicht das Zusammenwirken individueller und gesellschaftlicher kognitiver Einflussnahmen untersucht wird, müssen diese allerdings leicht umgestellt werden, indem sie an den beiden zentralen Kategorien transkriptiver medialer Prozesse orientiert werden: Selektieren und Adressieren. Als fokussierte Einflüsse lassen sich dann all jene Transkriptionsprozesse beschreiben, denen eine explizite, weil im Diskurs ersichtliche Selektion oder Adressierung unterliegt, während unfokussierte Einflüsse für eine implizite Selektion oder Adressierung stehen. Das bedeutet einerseits eine Einschränkung gegenüber Eichhorns Modell, da Diskursanalyse nicht ermitteln kann, welche transkriptiven Verfahren hinter den Kulissen, unter der Oberfläche der ‚Positivität‘ der Diskurse vonstatten gehen, sondern nur, welche Einflussphänomene bei der Generierung eines Themas im Diskurs sichtbar gemacht werden. Dafür lassen sich auf diese Weise andererseits die Strukturelemente der Themengenerierung besser kenntlich machen, da so auch der Faktor ‚Berichterstattung‘, der bei Eichhorn nur schwer von fokussierten und unfokussierten Einflüssen zu trennen ist, als transkriptiver Prozess begriffen werden kann. Als Ergebnis entsteht eine Matrix mit vier Feldern (Abbildung 9), die – anders als in Eichhorns Modell – keine distinkten Prozesstypen, sondern Strukturvariablen der gesellschaftlichen Themengenerierung darstellt. Die Ausbildung und das Prozessieren eines Themas findet in einem öffentlichen Diskurs unter allen vier Hinsichten zugleich statt – und zwar unabhängig davon, wie es um die Intentionen der Akteure eines Diskurses bestellt ist. Da die vier Stichworte dieser Matrix nicht selbsterklärend sind, bedarf es nachfolgend einer kurzen Erläuterung.
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Abbildung 9: Matrix der diskursiven Themengenerierung
Selektieren
Adressieren explizit
EREIGNISSE
GESELLSCHAFT
THEMEN
KULTUR implizit
Selektieren
Adressieren
Eigene Abbildung Die Variable ‚Ereignisse‘ steht für die Selektion solcher Informationen, die auf (mehr oder weniger) explizit zuschreibbares Wissen zurückgeführt werden können. Diese Ereignisse können sowohl diskursiven als auch nichtdiskursiven Charakter haben, also auf diskursiven oder nicht-diskursiven Praktiken oder sonstigen Weltereignissen beruhen. Mit ‚Themen‘ sind hingegen jene Selektionsweisen gemeint, durch die isolierte Ereignisse in einen Bedeutungszusammenhang eingebunden werden. Die – innerhalb dieser Matrix dem ersten Eindruck nach widersprüchlich erscheinende – Variable ‚Themen‘ verdeutlicht die rekursive Struktur der Themengenerierung, die an implizite Bezugsweisen gekoppelt ist. Das betrifft sowohl die Art und Weise der Themenbehandlung, die an vorgängigen Praktiken der ereignisbezogenen Themenkonstruktion orientiert ist, als auch die Positionierung eines Themas innerhalb eines existierenden Themenspektrums. ‚Gesellschaft‘ steht für all jene überlagerten, aber grundsätzlich beschreibbaren Formen direkter oder indirekter Adressierungen, die mit der diskursiven Praxis eines Diskurses in einem direkten Zusammenhang stehen. Dazu gehören das gegenwärtige (passive) Publikum wie auch potenzielle (aktive) Diskursteilnehmer sowie speziell adressierte Akteure oder Institutionen. Im Gegensatz dazu ist mit ‚Kultur‘ als impliziter Adressierung ganz allgemein die zukünftige Behandlung des gleichen Themas oder anderer Themen durch die Praxis der gegenwärtigen Themengenerierung gemeint. ‚Kultur‘ repräsentiert den allgemeinen diskursiven Horizont einer Gesellschaft, in den sich Themen einschreiben und in dem sie eine historische Präsenz entwickeln. Ohne den analytischen Gebrauchswert dieser Matrix allzu sehr zu dehnen, kann man darüber hinaus sagen, dass die zwei Berührungslinien unterschiedliche Beziehungen und Ebenen markieren. Selektieren und Adressieren markieren die zwei Seiten einer transkriptiven Kommunikationspraxis – werden also in Abhängigkeit zuein-
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ander vollzogen. Das Gegensatzpaar explizit/implizit bezeichnet ein davon zu trennendes, graduelles und ineinanderfließendes Differenzspektrum, das den Prozess des Selektierens und Adressierens vertikal stratifiziert. (3) Intermedia-Agenda-Setting. Die Struktur der Themengenerierung, wie sie in der Matrix in Abbildung 9 auf Eichhorns Einflussmodell aufbauend entworfen wurde, lässt einen zentralen Aspekt der medialen Konstruktion von Themen unberücksichtigt. Ein Thema wird nicht nur in einem Spannungsverhältnis von Einflussfaktoren konstruiert, es muss sich auch innerhalb des Mediensystems als Thema etablieren, indem es dort fortgeschrieben wird. Diese weiterführende Transkription eines Themas bezeichnet das Stichwort Intermedia-Agenda-Setting: „the diffusion of news stories, including angels as well as topics, among the news media themselves“ (McCombs 1992, 816f.). Wenngleich das damit bezeichnete Wechselspiel der Medien in der Kommunikationswissenschaft (immer) noch ein recht unbestelltes Feld ist (Jäckel 2005, 183), lässt sich die Funktionsweise des Intermedia-AgendaSetting in medialisierten Gesellschaften auf eine grobe Verlaufsformel bringen. Ihren Ausgangspunkt bildet die Tatsache der historischen Ausdifferenzierung medialer Angebotsformen, die zu einer Verselbstständigung der Produktionsweisen medialer Kommunikate und einer zunehmenden Konkurrenz verschiedener medialer Angebote geführt hat. In diesem Kommunikationsrahmen operieren Medien mit dem Paradox, ihre Kommunikationsweisen an diesen beiden Faktoren ausrichten zu müssen. Einerseits müssen sie versuchen, sich gegenüber anderen Medien – sowohl inner- als auch intermedial – auf dem ‚Markt‘ der begrenzten Aufmerksamkeit des Publikums zu behaupten (vgl. Franck 1998). Andererseits müssen sie sich dabei an Kommunikationspraktiken orientieren, die sich innerhalb des eigenen medialen Systems als erfolgreich erwiesen haben. Für das Setzen und Fortschreiben von Themen lassen sich deshalb zwei miteinander zusammenhängende Strategien unterscheiden. Erstens ist die Zuschreibung einer möglichen Relevanz, die ein Thema für die öffentliche Kommunikation haben kann, direkt an die Berichterstattung der anderen Medien angelehnt, genauer an die Relevanz, die einem Thema dort entgegengebracht wird: Scheint bei Kollegen ein interessantes Thema auf, wird es aufgegriffen und dargestellt. Dadurch entsteht die Chance der schnellen Diffundierung bestimmter Themen und Meinungen. Zumindest für die Bundesrepublik scheint darüber hinaus zu gelten, dass das Referenzsystem innerhalb der Massenmedien hierarchisiert ist. Bestimmte Massenmedien sind die agenda setter; die anderen nehmen die dort produzierten Themen auf und bearbeiten sie weiter. (Gerhards/Neidhardt 1991, 78)
Diese Art der zeitlichen „Fokussierung von Themen“ lässt sich auch mit Anspielung auf einen Begriff aus der Wählerforschung als „Bandwagon-Tendenz der Medien“ (Rössler 1997, 32) beschreiben. Dabei ist es sicherlich richtig, den Bandwagon-Effekt zur ‚Tendenz‘ abzumildern, wie Rössler es vorschlägt. Ursprünglich ist die Bandwagon-Metapher auf jene unentschlossenen Wähler gemünzt, die in einer Wahl für die Partei votieren, die ihrer
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Meinung nach am aussichtsreichsten positioniert ist, um so „im sprichwörtlichen Sinne der Kapelle des Siegers [...] (Bandwagon)“ (Jäckel 2005, 236) hinterherlaufen zu können. Medien sind aber nur begrenzt mit den bedingt mündigen Bürgern dieser Metapher vergleichbar. Nachrichtenauswahl und Themensetzung erfolgen nicht nur unter ähnlichen Gesichtspunkten, weil eine interne Orientierung an anderen Medien existiert, sondern weil zugleich mit ähnlichen Nachrichtenwerten gearbeitet wird, die im Falle eines ‚thematischen Bandwagoning‘ nicht außer Kraft gesetzt sind. Außerdem agieren die professionellen Akteure des Journalismus aus einem gemeinsamen Berufsverständnis heraus (vgl. McCombs 1992, 817). Hinzu kommt, dass die Motivation bzw. Rationalität der Medien eine andere ist: Das Aufnehmen und Weiterführen von Themen kann unter der einfachen Prämisse als ‚rational‘ angesehen werden, wonach ein Thema mit der Positionierung auf einer bestimmten Medienagenda mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch für das eigene (diffuse) Publikum interessant geworden ist bzw. werden kann. In diesem Vorgang kann, darauf weisen Gerhards und Neidhardt in obigem Zitat hin, bestimmten Einzelmedien eine besondere Position zufallen. Diese fungieren dabei als „gateways“ (Dearing/Rogers 1996, 33) für das Setzen von Themen, da die journalistische Wahrnehmung von Öffentlichkeit besonders stark auf sie konzentriert ist (vgl. Mathes/Pfetsch 1991). Zweitens ist die bloße Berücksichtigung eines Themas, das auf die Medienagenda gelangt ist, nicht zwangsläufig ausreichend, um sich auf dem Marktplatz öffentlicher Kommunikation zu behaupten. ‚Thematisches Bandwagoning‘ zeichnet sich deshalb zusätzlich dadurch aus, dass ein Thema nicht nur aufgegriffen, sondern auch fortgeschrieben werden muss, um auf der Medienagenda zu verbleiben. Auf ein einmal selektiertes und auf bestimmte Art und Weise konstruiertes Thema werden in der inner- und intermedialen Folgekommunikation immer wieder neu die Selektionsformen journalistischer Praxis angewendet. Dabei können die verschiedensten Nachrichtenwerte greifen. Ganz allgemein müssen dabei neue Informationen an ein Thema gebunden werden, bei denen es sich nicht unbedingt um neue Fakten handeln muss, auch Verfahren einer Umschreibung und Zuspitzung können diesen Effekt erzielen. (4) Themenkarrieren. Der Aktualitätsbezug der Massenmedien, der im Begriff der Themenagenda mitschwingt, führt nicht nur dazu, dass Medien Medien transkribieren, er impliziert gleichzeitig ein begrenztes ‚Haltbarkeitsdatum‘ für jedes Thema, sodass zum Agenda-Setting nicht nur ein zeitnahes Aufgreifen von Themen gehört, sondern – quasi als Schatten – ebenso deren Verschwinden von der Agenda. Diesen Doppelschritt bezeichnet der Begriff der Themenkarriere. Eine Themenkarriere lässt sich aus zwei Perspektiven zeitlich unterschiedlich fokussieren: (a) als vereinzeltes und (b) als längerfristiges, wiederholtes Auf- und Abtauchen auf der medialen Agenda. (a) Der amerikanische Politikwissenschaftler Anthony Downs stellt in einem 1972 veröffentlichten Aufsatz ein Modell vor, das ein Muster für das Setzen von Themen bei der Erörterung öffentlicher Streitfragen vorgibt: der issue-attention-cycle. Downs untergliedert den Verlauf einer Themenkarriere in fünf Phasen: „pre-problem stage“, „alarmed discovery stage“, „realising the cost of problem solution“, „decline of public interest state“ und „post-pro-
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blem stage“ (Dearing/Rogers 1996, 61). Demnach muss der öffentlichen Themengenerierung im Vorfeld so etwas wie ein schwebender, latenter Konflikt vorgeschaltet sein, der den Bezugspunkt für das Aufgreifen eines Themas bilden kann. Die zweite Phase, die den eigentlichen Beginn des Thematisierungsprozesses darstellt, setzt mit dem Eintreten eines Ereignisses ein, das mit diesem latenten Konflikt in Zusammenhang gebracht wird. In der dritten Phase gewinnt das Thema in der Berichterstattung an Relevanz und nimmt so einen exponierten Platz in dem hierarchisch strukturierten Raum medialer Agenden ein. Nimmt die öffentliche Relevanz ab, fällt es in einer vierten Phase wieder zurück, um letztlich mehr oder weniger vollends von der Agenda zu verschwinden. Mit Steffen Kolb (2005, 301) lässt sich ein solcher Zyklus auch als die Abfolge von „Latenz“, „Aufschwung“, „Etablierung“, „Abschwung“ und „Marginalisierung“ fassen. Zwar richtet sich der issue-attention-cycle eigentlich auf die public agenda (vgl. Dearing/Rogers 1996), also die Relevanzzuschreibung des Publikums zu einem Thema, beschreiben lässt er sich jedoch nur anhand der Quantität der medialen Berichterstattung selbst. Mit Blick auf letztere ist es zwar fraglich, wie stark sich solche Abläufe schematisieren lassen, ob ihnen gar unter Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien als „Lebenszyklen“ (Kolb 2005) eine fast naturalisierte Selbstverständlichkeit zugeschrieben werden kann. Jedoch demonstrieren verschiedene empirische Fallstudien, dass das zugrunde gelegte Muster des „wellenartigen Aufschaukelns“ (Berens 2001, 180) und Zusammenbrechens der Berichterstattung bei erfolgreichen Thematisierungsprozessen immer wieder anzutreffen ist (vgl. ebd.; Kolb 2005; Weßler 1999). (b) Der zentrale Stimulus für das Eintreten solcher kaskadenartiger Thematisierungseffekte geht von bestimmten Ereignissen aus, die insofern einen Bezugspunkt bilden, als sie für die Nachrichtenwertigkeit eines Themas bürgen. Das könnte theoretisch dadurch geschehen, dass ein Thema überhaupt erst durch ein Ereignis produziert wird, weil es zuvor noch gar nicht vorhanden war. Eine solche Konstellation wäre jedoch ein absoluter Sonderfall. In der Regel werden Ereignisse dadurch kommunizierbar, dass sie an vorhandene Themen angebunden werden, damit sie an etablierte und geordnete Deutungsrahmen anschließen können. Nur auf diese Weise können Ereignisse als Ausdruck gegenwärtigen Geschehens an die diskursiven Praktiken einer Gesellschaft anschließen. Längsschnittanalysen politischer Debatten zeigen etwa, dass öffentliche Diskurse an Ereignisse geknüpft sind, die eine Veränderung rechtlicher Normen nach sich ziehen könnten. So gruppieren sich beispielsweise die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Abtreibungsregelung in der Bundesrepublik „um die politischen Entscheidungsprozesse der Gesetzgebung und der Gesetzgebungsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht“ Mitte der 1970er und Anfang der 1990er Jahre (Gerhards 1997, 15) und die Debatte um die Freigabe ‚weicher‘ Drogen zwischen 1988 und 1995 ist primär an der Initiative eines regierenden Politikers und zwei Gerichtsurteilen orientiert (Weßler 1999, 155f.). Themen werden somit in einer Gesellschaft punktuell reaktualisiert, indem sie für einen kurzen Zeitraum auf die Agenda der Medien rücken.
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Die mediale Generierung von Themen wird in der Gesellschaft somit insgesamt durch „Aufmerksamkeitszyklen“ (Jäckel 2005, 196) strukturiert, deren Beziehung – also die Frage: ‚Was macht aus einem Geschehen das Ereignis einer Themenkaskade?‘ – aber nur schwer zu formalisieren ist. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Reaktualisierung eines Themas wiederum von der Zuschreibung von Nachrichtenwerten im IntermediaAgenda-Setting abhängt, wie Michael Jäckel am Beispiel der beiden O.J. Simpson-Prozesse verdeutlicht: Während der Strafprozess [...] 1994 eine hohe Medienaufmerksamkeit erfuhr, wurde dem [...] Zivilprozess 1995 eine wesentlich geringere Aufmerksamkeit entgegengebracht. [...] Solche Aufmerksamkeitszyklen sind typisch, weil die wiederholte Kommentierung desselben Sachverhalts nur in solchen Fällen einen Nachrichtenwert behält, in denen neue und unbekannte Fakten auftreten. (Jäckel 2005, 196)
Die geringe „Halbwertzeit der Themen“ (Gerhards/Neidhardt 1991, 77) auf der Agenda der Medien führt zu einer ausgeprägten Dynamik massenmedialer Kommunikation, die einerseits eine große inhaltliche Flexibilität und kurze Reaktionszeiten ermöglicht, andererseits jedoch den Spielraum der Erörterungstiefe eingrenzt. Gerhards (1997) folgert aus dem Verlauf der Debatte über die Legalisierung von Abtreibungen in den Printmedien, dass auch die zyklische Wiederkehr eines Themas auf der Agenda – der untersuchte Zeitraum umfasst 25 Jahre – nicht zu einer Erhöhung des (diskursethischen) ‚Rationalitätsniveaus‘ geführt habe: Entgegen der theoretisch-normativen Erwartung hat sich der diskursive Charakter der öffentlichen Debatte im Zeitverlauf nicht erhöht, sondern verringert; der Anteil der Idee-Elemente mit Begründung ist im Zeitverlauf zurückgegangen. Zunehmend finden sich in der medialen Kommunikation Deutungen des Themas Abtreibung, ohne dass deren Geltungsgründe über Begründungen abgesichert werden. (Gerhards 1997, 26)
Mit einem Foucaultschen Diskursbegriff lässt sich aus Gerhards Ergebnissen folgern, dass die öffentliche Debatte im dargestellten Fall ihren ‚diskursiven Charakter‘ eigentlich doch erhöht hat. Was aus einer diskursethischen Perspektive als Verlust an Rationalität erscheint, ist in diskursanalytischer Lesart Ausdruck einer Verfestigung von Diskurspositionen, die selbstverständlicher und damit auch weniger begründungspflichtig geworden sind. Wenngleich hier nicht geklärt werden kann, ob dahinter eher eine fallspezifische Diskurslogik oder eine allgemeine Veränderung der medialen Berichterstattung steht, lässt sich an Gerhards Beispiel sehr anschaulich der Zusammenhang zwischen medialem Agenda-Setting und Diskurs aufzeigen: Während Themen temporär und ereignisbezogen in den Massenmedien aufgebaut und fallen gelassen werden, laufen die Diskurse, die über die Generierung von Themen in den Medien verhandelt und verändert werden, über die an der Oberfläche zu verzeichnenden Thematisierungsschübe hinweg. Themen können nur zyklisch in der Öffentlichkeit gebildet werden. Die Generierung und Bearbeitung von Themen ist in der massenmedialen Öffentlichkeit an zeitlich begrenzte
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und auf Ereignisse bezogene Debatten gebunden, die in einem direkten Zusammenhang mit den Verfahrensweisen öffentlicher Kommunikation stehen. Im Gegensatz dazu sind Diskurse komplexere Wissensraster, die in den Archiven einer nicht sichtbaren Öffentlichkeit präsent bleiben (vgl. Ernst 2002). Aus dieser Position können sie jederzeit infolge eines Ereignisschubs erweckt und in einer neuen Debatte fortgeschrieben werden. Über Massenmedien produzierte Öffentlichkeit verfügt über ein eigenes diskursives Gedächtnis. Dieses Gedächtnis verklammert im Feld der Massenmedien nicht nur gesellschaftliche Bereiche innerhalb eines bestimmten – thematisch und zeitlich orientierten – Kommunikationsprozesses. Darüber hinaus stellt es ein zusätzliches Kraftfeld dar, das die Kommunikation in actu auf die Kommunikate der Vergangenheit rückbezieht.
Meinen Wie jede sinnhafte Kommunikation erzeugen die Diskurse der Massenmedien ‚Aussagen‘ als distinkte und verdichtete Formen einer Zuschreibung und Verbindung von ansonsten sinnlosen semiotischen Operationen – mithin: Wissen. Im Diskurs über Öffentlichkeit besitzt die Frage der Aussagen, die in/mit/über oder durch Öffentlichkeit hergestellt werden, einen besonderen Stellenwert, weil ihnen ein besonderer Status innewohnt, der in der Umschreibung als ‚öffentliche Meinung‘ seinen Ausdruck findet. Öffentliche Meinung ist genau wie Öffentlichkeit ein umstrittener, weil nicht eindeutig, d.h. einvernehmlich, definierter und zu definierender Sachverhalt. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass erst im Begriff der öffentlichen Meinung – als jenem Element, das die Legitimationsgrundlage von Öffentlichkeit als Kommunikationsraum bildet – die paradoxale semantische Selbstreflexivität der sich selbst legitimierenden Funktionsweise von Öffentlichkeit ersichtlich wird. Schließlich hat sich Öffentlichkeit als eine ‚Idee‘ konstituiert, die sich nur in/mit/über und durch sich selbst realisieren kann. An der Frage des Status der öffentlichen Meinung hängt somit das Verständnis von Öffentlichkeit wie an einem seidenen Faden. Im Begriff der öffentlichen Meinung wird manifest, wie das Verhältnis zwischen Publikum, Struktur und Modus von Öffentlichkeit zu begreifen ist. Zu einer ersten Bestimmung von öffentlicher Meinung wird deshalb ein Verfahren vorgeschlagen, das mittels einer Abgrenzung eine Annäherung an diesen Status versucht. Gleichwohl es schwierig erscheint, zu bestimmen was öffentliche Meinung ist, lässt sie sich doch von dem abgrenzen, was sie nicht ist. Öffentliche Meinung ist erstens kein bloßes, gesellschaftlich beliebiges und insofern irrelevantes Meinen Einzelner, im Sinne einer ‚Privatmeinung‘. Von einer solchen unterscheidet sie sich aufgrund ihrer exponierten Position im Raum gesellschaftlicher Kommunikation. Denn sie besitzt ein größeres Einflusspotenzial und der kommunikative Zusammenhang, in dem sie sich ausbildet, verläuft über einen kollektiven Transkriptionsprozess, der gleichermaßen die Verfahren des Selektierens und Adressierens bestimmt. Öffentliche Meinung ist zweitens von der Produktion von (mehr oder weniger) unhintergehbarem Wissen zu trennen, wie es in theologischen oder wissenschaftlichen Diskursen produziert wird. Davon unterscheidet sie sich funktional durch die Allgemeinheit des Weltbezugs und das Fehlen eines Gegen-
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standsbereichs, der ihr eigen wäre und für den sie die Definitionshoheit in Anspruch nehmen könnte, und verfahrenstechnisch durch weniger stark selektierende und kontrollierende Praktiken der Diskursproduktion. Drittens ist öffentliche Meinung von einem volonté general zu trennen, wie er von Rousseau (2004) als Gleichsetzung von öffentlicher Meinung mit einem imaginären ‚Volkswillen‘ formuliert wurde (vgl. Hohendahl 2000, 21f.). Wenngleich öffentliche Meinung kollektiv gebunden ist, so spielt sie dennoch in einem heterogenen Bereich verschiedener ‚Formierungen‘ und Interessen, weshalb sie nur im Plural zu haben ist. Abbildung 10: Bezugsfeld des Geltungsanspruchs öffentlicher Meinung allgemeine Meinung
öffentliche Meinung beliebige Meinung
absolute Meinung
Eigene Abbildung Öffentliche Meinung unterscheidet sich aber nicht nur von diesen drei Formen der Ausbildung von Wissen, zugleich ist sie auch von allem ein bisschen: bloßes, vergängliches und plurales Meinen, festes unerschütterliches Weltwissen und Ausdruck einer höheren – und in gewissem Maße imaginären – Legitimation durch den Publikumsbezug. Ihr Status lässt sich deshalb dahingehend beschreiben, dass sie in einem Feld angesiedelt ist, das sich zwischen diesen drei Bezugspunkten von allgemeiner, absoluter und beliebiger Meinung auftut (Abbildung 10). Obgleich öffentliche Meinung damit zunächst recht allgemein definiert ist, schließt dieses Feldschema doch ein solches Verständnis von vornherein aus, wie es in der behaupteten Differenz zwischen öffentlicher und „veröffentlichter Meinung“ (Noelle-Neumann 2002, 398) zum Ausdruck gebracht werden soll. Problematisch an der Konstruktion dieser Differenz ist sowohl die Verwechslung von komplexen Kommunikationsprozessen mit „Resultaten der Umfrageforschung“ (Habermas 1992, 438) als auch die damit zusammenhängende Grundvorstellung, dass unabhängig von der kollektiv konstruierten Welt öffentlicher Meinung (als ‚veröffentlichte Meinung‘) eine zweite existierte, die zum Vergleich der ersten herangezogen werden könnte. Öffentliche Meinung bezieht sich also auf verschiedene Weisen der kollektiven Bildung von Wissen, die allgemein im Raum gesellschaftlicher Kommunikation stattfinden. Sie wird nicht nur in den Massenmedien gebil-
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det, sondern tritt an allen möglichen Orten, in denen sich Öffentlichkeit als Kommunikationsraum zu konstituieren vermag. Diese Konstituierung ist kommunikationstheoretisch ein Prozess, den drei Merkmale kennzeichnen: (1) Formung, (2) Verdichtung und (3) Verbindung von Informationen. Sie werden nun mit Bezug auf die Massenmedien ausgeführt. (1) Formung. Zur Verdeutlichung dieses Prozesses bietet es sich an, auf die von Luhmann (1997, 190–202) gewählte Unterscheidung von Medium und Form zurückzugreifen, die in der Systemtheorie das erste Kennzeichen jeder Kommunikation darstellt. Medium und Form stehen dort für zwei zusammenhängende Mechanismen, die einem Kommunikationsakt unterlegt sind und sich gegenseitig ergänzen: „Ein Medium besteht in lose gekoppelten Elementen, eine Form fügt dieselben Elemente dagegen in strikter Kopplung zusammen“ (198). Übertragen auf die Massenmedien meint das: Die ‚Formen‘ sind die Selektionsmechanismen, mit denen die Massenmedien Aussagen herstellen, die im ‚Medium‘ der öffentlichen Meinung ihren Ausdruck finden (Luhmann 1990). Massenmedien fungieren somit als die Formgeber im Prozess der Ausbildung öffentlicher Meinungen, die als das Trägermedium massenmedialer Kommunikation die Ergebnisse dieses Prozesses quasi in sich tragen. Luhmanns Medium/Form-Differenz verdeutlicht, wie die Verfahren der Formgebung und die Herstellung von Meinungen wechselseitig aneinander gebunden sind: Ohne Medium keine Form und ohne Form kein Medium, und in der Zeit ist es möglich, diese Differenz ständig zu reproduzieren. [...] Im Hinblick auf dies laufende Binden und Lösen des Mediums kann man auch sagen, dass das Medium im System ›zirkuliere‹. Es hat seine Einheit in der Bewegung. Dieser zeitliche Vorgang des laufenden Koppelns und Entkoppelns dient sowohl der Fortsetzung als auch der Bildung und Änderung der dafür nötigen Strukturen [...]. Er unterläuft also die klassische Unterscheidung von Struktur und Prozess. Das heißt nicht zuletzt, dass die Einheit des Systems nicht mehr durch (relative) strukturelle Stabilität definiert sein kann, obwohl es nach wie vor um Systemerhaltung geht, sondern durch die Spezifik, in der ein Medium Formbildungen ermöglicht. (Luhmann 1997, 199)
Dieses Modell eines an der Unterscheidung von Medium und Form orientierten Kommunikationsprozesses lässt sich als Blaupause für eine grundlegende Funktionsweise der diskursiven Meinungsproduktion verstehen, das die Ausbildung von Aussagen im Diskurs der Massenmedien präzisiert. Die Produktion von Meinungen ist demnach nicht nur eine Folge der Selektions- und Adressierungsverfahren, zu denen in der Summe sämtliche Strukturdeterminanten und Verfahrensmechanismen der Massenmedien beitragen, auch die Organisation der formgebenden ‚Strukturen‘ ist ihrerseits auf die Produktion bestimmter Aussagen ausgerichtet. Für die Massenmedien ist dieser immanente Zusammenhang zwischen Kommunikationspraxis und medialer Infrastruktur schon auf der Ebene der Institutionalisierung ersichtlich, wie sie mit Bezug auf die Printmedien am Zusammenhang von Informativ und medialer Struktur aufgezeigt wurde. Gleichzeitig werden im öffentlichen Diskurs nicht nur Meinungen als systemischer ‚Output‘ erzeugt. Öffentliche Meinung ist wiederum selbst Material für die Generierung öffentlicher Meinung, da mas-
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senmediale Diskurse zugleich infra- und intermediale Verfahren der Kontinuierung von Kommunikation sind. Die Anwendung von Luhmanns Zitat auf den Diskursbegriff verdeutlicht, dass Diskurse nicht als invariante, sondern lediglich als temporäre und fallspezifische Strukturen begriffen werden können, die sich letztlich nur an ihrem ‚Output‘, der Hervorbringung von Aussagen erkennen lassen: als Meinungen, die den indifferenten Status des Öffentlichen in sich tragen. (2) Verdichtung. Eine Betrachtung öffentlicher Diskurse aus einer Vielzahl von Mikroperspektiven würde zu dem Ergebnis kommen, hier werden unablässig und in scheinbar unendlicher Vielzahl Meinungen produziert – unabhängig davon, ob dies intendiert ist oder nicht. Das von Foucault so bezeichnete ‚Wuchern‘ der Kommunikation wird wohl nirgendwo so offensichtlich wie im Bereich der Massenmedien, was in gewisser Weise ja auch in ihrer ‚Natur‘ begründet ist, die – neutral formuliert – darin liegt, Meinungen zu produzieren und zu verbreiten. Die Anwendung diskursanalytischer Forschungspraktiken setzt mit Foucault an dieser Betrachtung an und damit verbunden voraus, dass die ‚ungebremste‘ Produktion von gezwungenermaßen öffentlichen Meinungen durch Massenmedien den (Diskurs-)Logiken formgebender Verfahren unterliegt, die den kommunikativen Output nicht beliebig werden lassen. Die damit verbundene Verdichtung von Meinungen beginnt bei der Kommunikationsstruktur der Massenmedien, der die Konzentration der Aufmerksamkeit Vieler auf die Kommunikationsleistungen Weniger inhärent ist, und reicht bis zur selektiven und ereignisbezogenen Verarbeitung einzelner Themen. Diskursanalytisch ist damit der Prozess der Formgebung noch nicht beendet. Man könnte sagen, bis zu diesem Punkt findet eine Art gestufte Eingrenzung von Möglichkeitsräumen statt, durch die die themenbezogene Konstruktion von Meinungen vorstrukturiert wird. Die eigentliche Verdichtung von Meinungen zu den gesellschaftlich relevanten Meinungen eines Diskurses, die sich mit Siegfried Jäger als Diskurspositionen beschreiben lassen, kann jedoch erst in der konkreten Auseinandersetzung mit Themen als engeren Sinnhorizonten der Kommunikation einsetzen. Die Ausformung von Meinungen ist Teil einer politischen bzw. kulturellen Auseinandersetzung um hegemoniale Deutungshoheit, die in modernen Gesellschaften allerdings in einem Netz vielfältiger Interessen zu verorten ist, zu dem insbesondere auch die Massenmedien zählen. Jedoch: Eine gewisse Ordnung kann allerdings dadurch entstehen, dass Meinungsantagonismus zu deutlich polarisierten Meinungssyndromen führt. Die Vielzahl von Meinungen ist dann auf ein pro und contra reduziert. Eine solche Reduktion der Informationsmengen mag mehrere Ursachen haben. Die carrying capacity der Öffentlichkeitsarenen ist begrenzt; die Differenziertheit von Zwischenpositionen überfordert das Publikum. Das Spektrum möglicher Meinungen ist deshalb auf handlich binäre Schemata zu bringen. (Gerhards/Neidhardt 1991, 77)
Kennzeichnend sind solche Pro/Kontra-Positionierungen speziell für politische Konflikte, in denen Diskurspositionen zu politischen Antagonismen wie Regierung vs. Opposition (vgl. Luhmann 2000) oder the power block vs. the
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people (vgl. Fiske 1989) vereinfacht und somit auf soziale Machtkonstellationen bezogen werden können. In der hier konzipierten Fassung von Diskursanalyse werden solche in Printmedien verdichteten öffentlichen Meinungen anhand von Topoi beschrieben. Dabei zeigt die rhetorische Struktur argumentativer Topoi, dass die Zuspitzung von Diskurspositionen keine schematische Formierung propositionaler Akte darstellt, sondern graduell und kontextspezifisch verläuft. Bei der empirischen Betrachtung der Bildung öffentlicher Meinungen muss berücksichtigt werden, dass diese heuristische Unschärfe ebenso auf die Prozesse der Ausbildung von Meinungen zutrifft wie auf deren analytische Erfassung. Zusätzlich wird „die Informationsverarbeitungskapazität der Öffentlichkeit durch deren konkurrenzbestimmte Eigendynamik begrenzt“ (Gerhards/Neidhardt 1991, 79), was nicht nur die Konsensfähigkeit (als Rationalität) massenmedialer Diskurse betrifft, auf die Gerhards und Neidhardt hier anspielen. Die Spontaneität und Offenheit medialer Berichterstattung führt darüber hinaus dazu, dass die Prozesse der Verdichtung von Meinungen abbrechen, im Zustand des Vagen verbleiben oder einen präsumtiven Charakter aufweisen können. (3) Verbindung. Ein Verständnis von öffentlicher Meinung, das diese nur mit verschiedenen isolierten Topoi gleichsetzt, würde der Tatsache ihrer Situierung im Raum öffentlicher Kommunikation nicht gerecht werden. Die Ausformung von Meinungen ist Teil einer komplexen Produktion von Bedeutungszusammenhängen, die sich über den gesamten Raum gesellschaftlicher Kommunikation erstreckt. In diesem Sachverhalt liegt der Unterschied einer diskursanalytischen Betrachtungsweise zu Luhmanns Reduktion von Prozessen der öffentlichen Meinungsbildung auf momentane und verstreute Kommunikationsereignisse, die dem Schema der Medium/Form-Relation genügen. Denn begreift man Topoi als Ausdruck öffentlicher Meinung, so ist es nicht ausreichend, diese nur als Ergebnis eines Formungsprozesses zu sehen. Damit einher geht auch eine Art der Formierung von Wissen, die in der jeweiligen Kontextualisierung von Aussagen im Diskurs begründet ist. Sie kann sowohl in bestimmten Arten der Verbindung, Reihung und Gewichtung von Aussagen zum Tragen kommen wie auch in deren Ausschließung, Auslassung oder Veränderung. Öffentliche Meinung fokussiert somit nicht nur auf verschiedene Aussagetypen, sie produziert zugleich Relationen. Diese lassen sich als zwei parallele Weisen der sprachlichen Vermittlung von Welt verstehen: einerseits modal, über die Herstellung von Relevanz, Konsonanz oder Dissonanz zwischen einzelnen Aussagen, und andererseits strukturell, über die Verklammerung von Ereignissen und Themen.
SPEZIFIZIERTE KOMMUNIKATION Während sich die ersten drei Kapitel relativ allgemein mit der massenmedialen Formierung von Kommunikation auseinandergesetzt haben, geht es in diesem vierten Kapitel darum, die stärker fallspezifisch-bezogene Konstituierung des diskursiven Kommunikationsrahmens zu erläutern. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, mit welchen kommunikativen Verfahren massenmediale Diskurse ihre externen Ereignisbeziehungen realisieren, wie sie also eine außerdiskursive ‚Realität‘ in den Diskurs integrieren. Die Umschreibung der Realisation dieses Ereignisbezugs als ‚spezifizierte Kommunikation‘ bezieht sich im Folgenden auf die Art von Ereignissen, an denen der analysierte Mediendiskurs ausgerichtet ist: Fernsehsendungen. Eine letzte grundlegende Formierung des Kommunikationsrahmens liegt also darin, dass von einem Medium auf ein anderes Medium Bezug genommenen wird. Diese Bezugnahme wird durch die Überlagerung von zwei kommunikativen Verfahren erreicht, die unter den Überschriften Fernsehkritik und Skandal erläutert werden. Mit ihnen sind spezifische Kommunikationspraktiken verbunden, durch die Diskurse reproduziert und aktualisiert werden und die je eigene Möglichkeitsbedingungen der Wissensproduktion mitführen. Dass sich der anschließend analysierte Mediendiskurs dieser Kommunikationsmodi bedient, stellt allerdings weder ein allgemeines Kennzeichen der Bezugnahme auf außerdiskursive Ereignisse dar noch auf das Fernsehen im Besonderen, sondern resultiert aus der Anlage der hier durchgeführten Diskursanalyse, ist also das Ergebnis einer forschungsstrategischen Überlegung.
Fernsehkritik Mit ‚Fernsehkritik‘ ist im Folgenden ein bestimmtes Verfahren eines intermedialen Transkriptionsprozesses gemeint: Umschreibungen des Massenmediums Fernsehen durch das Massenmedium Print. Das ist insofern von Bedeutung, da sich die folgende Ausformulierung von Fernsehkritik nicht auf alle möglichen Arten der Transkription von ‚Fernsehtexten‘ bezieht, sondern nur auf solche, die in Zeitungen und Zeitschriften ihren Ausdruck finden. Andere Formen der Fernsehkritik, die durch andere Diskurs- oder Medienbereiche wie Wissenschaft, Literatur, Radio, Musik oder das Fernsehen selbst realisiert werden (vgl. Bleicher 2005a; Hoffmann/Dallinger 1988), wären anders anzulegen. Die transkriptive Bezugnahme der printmedialen Fernsehkritik auf das Fernsehen kennzeichnet eine zweifache Diskursverschiebung. Einerseits werden darstellende, erzählende oder unterhaltende Kommunikationsmodi in den Typus der Kritik überführt, andererseits audiovisuelle Zeichen schriftsprachlich kommentiert. Die weitere Beschreibung versucht, die-
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sen Vorgang genauer zu fassen, indem die beiden, damit verbundenen, formgebenden Eigenschaften ausgeführt werden – als die Praxis der Kritik und deren Einlagerung in ein mediales Informativ (Fernsehkritik in Printmedien).
Kritik Etymologisch ist mit dem Begriff der Kritik allgemein die „Kunst der Beurteilung“ (Gronke/Brune 1999, 307) gemeint; als solche lässt er sich auf verschiedenen Feldern und in verschiedenen historischen Gebrauchsformen beschreiben (vgl. Holzhey 1976). Innerhalb dieses Bereichs von Bedeutungen, Diskursen oder Techniken von Kritik ist für die Herausbildung der Fernsehkritik insbesondere die Literaturkritik relevant, in deren „Tradition“ sie steht (Hickethier 1994a, 21). Mit der Literaturkritik verbindet die Fernsehkritik in erster Linie die komplexe Bindung an eine Form und ein Verständnis von Öffentlichkeit. Wie zuvor bereits ausgeführt wurde, bildete sich moderne Öffentlichkeit ursprünglich in Verbindung mit dem Medium der Literatur heraus. Mit der Betonung auf ‚Kritik‘ lässt sich dieser Sachverhalt so ausdrücken, dass sich mit dem Entstehen einer modernen Öffentlichkeit neue Formen der Diskursivierung von Literatur herauskristallisiert haben. Zwar gab es auch schon vor dem Auftauchen einer bürgerlichen Öffentlichkeit Formen von Literaturkritik, mit dem Eintritt der Literatur in den Kontext moderner Öffentlichkeit veränderten sich diese jedoch: Die [...] spezifische Eigenart der Kritik in den Jahrzehnten der Frühaufklärung liegt darin, dass sie noch fest in die Grenzen des gelehrt-wissenschaftlichen Diskurses, in dem über Wahrheit kommuniziert wird, eingebunden bleibt. Kritik wird noch eindeutig auf die Wertungsalternative (man könnte auch sagen den kommunikativen Code) ›wahr/falsch‹ verpflichtet, [während sich] im Laufe des 18. Jahrhunderts der Code des ästhetischen Diskurses ›schön/hässlich‹ Geltung verschafft. (Jaumann 1990, 21).
Damit ist ein historisch überaus komplexer und vielschichtiger gesellschaftlicher Prozess verbunden, der mit der schleichenden Ablösung von quasinatürlichen Autoritäten und der Verlagerung der kulturellen Reproduktion westlicher Gesellschaften auf das im Entstehen begriffene Kultur- und Wirtschaftsbürgertum einhergeht. Wenngleich ‚Kritik‘ so insgesamt in einen neuen Rahmen gestellt wird, gilt es zu beachten, dass es eine unzulässige Verkürzung wäre, würde man den Begriff der Kritik nur auf einen veränderten ‚kommunikativen Code‘ („schön/hässlich“) reduzieren. Nicht zuletzt bildeten sich seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts vielfältige, teils widerstreitende Formen und Theorien von Literaturkritik heraus, die dazu führten, dass ‚Kritik‘ als Element der literarischen Kultur insgesamt an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Fontius 2001). Mit diesem Bedeutungsgewinn ist nicht die Wirkung von Kritik als kulturelle Praxis innerhalb des literarischen Feldes gemeint, sondern die daraus resultierende Verknüpfung mit dem Begriff der Ästhetik, die ‚Kritik‘ zu einem Schlüsselbegriff des literarischen Diskurses werden ließ:
SPEZIFIZIERTE KOMMUNIKATION | 203 In der kritischen Erörterung wurde am kritisierten Gegenstand eine ästhetische Diskussion über die Prinzipien und Regularien der Kunst geführt. Die Kritik formulierte normative Ansprüche, entwickelte induktiv, aus den Produktionen heraus, eine ästhetische Theorie ihres Gegenstandes. (Hickethier 1994a, 23)
Von Interesse für die Beschreibung der diskursiven Verfahren der Fernsehkritik sind an der Literaturkritik aber weniger die konkreten historischen Ausformulierungen ihrer ästhetischen Diskurse, als vielmehr die kommunikativen Verfahren, die damit etabliert wurden. Ausgerichtet sind sie insbesondere an zwei Aspekten, die mit dem öffentlichen Charakter der Kritik zu tun haben. Zum einen verschiebt sich bereits mit den Frühformen einer bürgerlichen Literaturkritik der Bereich möglicher Adressierungen. In der vor- oder frühmodernen Literaturkritik ging es darum, bei der ‚kritischen‘ Beurteilung von Literatur in erster Linie die Einhaltung eines verbindlichen Regelsystems der Literaturproduktion zu überprüfen, um festzustellen, ob einem Text überhaupt der rechtmäßige Status als ‚Literatur‘ zugesprochen werden kann. Dieser Vorgang war mit einer sehr engen Adressierung verbunden: Literaturkritik war Gelehrtenkommunikation (vgl. Jaumann 1990). Mit der Herausbildung einer breiten Öffentlichkeit erweiterte sich gleichzeitig der Adressatenkreis. Kritik war nun immer weniger auf eine kleine Kaste von Gelehrten beschränkt, sondern richtete sich an das weite Feld der am Literaturbetrieb beteiligten Akteure, zu dem von nun an insbesondere das literarische Publikum zählte (vgl. Hohendahl 2000, 14). Zum anderen besetzte die Literaturkritik auf diese Weise eine Mittlerposition bzw. eine Mehrzahl von Mittlerpositionen, die den neu entstandenen Raum öffentlicher Kommunikation ausfüllten, der sich zwischen Autor/Werk und dem literarischen Publikum auftat. An diesem Sachverhalt wird zugleich deutlich, dass Öffentlichkeit ein sich selbst ‚legitimierendes‘ Kommunikationsphänomen bezeichnet. Die Legitimationsweise der Kritik veranschaulicht Martin Fontius für ihre Anfänge im Raum moderner Öffentlichkeit mit Bezug auf Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT (1956): Dem Begriff [der Kritik] wuchs neuer Sinn und damit kategoriale Bedeutung erst zu, als Autorität und Norm »selbst in den Brennpunkt der Kritik gerieten« (Bormann 1973). Mit dieser im 17. Jh. beginnenden Entwicklung kann der Begriff zu einer absolute Normen bezweifelnden Gegeninstanz aufsteigen. Er ist in diesem Sinn von Kant 1781 (1956, 7) gegen alle Anwürfe verteidigt worden: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« (Fontius 2001, 458)
Kant formuliert hier retrospektiv, mit Blick auf Staat und Politik, ein Ideal, dass sich zuerst mit und in der literarischen Öffentlichkeit des Bürgertums herauskristallisiert hatte. Herausheben lassen sich an dem Zitat von Fontius
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(resp. Kant) zwei Eigenschaften, an die der moderne, aufgeklärte und auch idealisierte Begriff der Kritik unverbrüchlich gebunden ist. Das ist zum einen der Wegfall absoluter, weil nicht kommunizierbarer Normen, denen gegenüber Kritik eine „zweifelnde Gegeninstanz“ errichtet, und zum anderen der Verweis auf eine Form von ‚Vernunft‘ als der Möglichkeit der „freien und öffentlichen Prüfung“ von Geltungsansprüchen. Bezogen auf das zuvor entwickelte Öffentlichkeitsmodell lässt sich Kritik damit als ein kommunikatives Verfahren beschreiben, das den diskursiven Freiraum, der aus der Ersetzung natürlicher Autoritäten durch den diffusen Publikumsbezug entsteht, durch einen spezifischen Kommunikationsmodus zu tilgen versucht. Dieser Kommunikationsmodus lässt sich mit dem Begriff des Räsonnements umschreiben, der für eine bestimmte (freie, öffentliche, argumentative etc. und insofern ‚vernunftorientierte‘) Form der Kommunikation bürgen soll. Dieser Umstand ist nicht damit gleichbedeutend, dass die Kritik diesen Anforderungen gerecht wird, es muss noch nicht einmal sicher sein, ob sie ihnen überhaupt gerecht werden kann. Wichtig ist lediglich, dass auf diese Weise ein kommunikativer Erwartungshorizont geschaffen wird, an den sich die diskursiven Praktiken anlehnen müssen und an dem sie gemessen werden können. Kritik wird damit verfahrenstechnisch zu einer reflexiven bzw. selbstreflexiven Diskurspraxis, die sich in ihrer Ausgestaltung zwar verändern kann, ihrem selbstreflexiven Charakter jedoch nicht entfliehen kann, ohne Gefahr zu laufen, das gesamte Bezugssystem zum Einsturz zu bringen. ‚Räsonnement‘ steht für einen besonderen Gebrauch von Kommunikation im variablen Modus der Kritik. Diese Praxis ist von einem wissenschaftstheoretischen Verständnis von Kritik zu unterscheiden, welches Popper (1971, 225) als das „rücksichtslos kritische, das unablässige Suchen nach Wahrheit“ charakterisiert. Wenngleich Poppers Wissenschaftsdefinition auf einen ähnlichen Begriff von Kritik zurückgeführt werden kann (vgl. Fontius 2001), besitzt die (Literatur-)Kritik der räsonierenden Öffentlichkeit eine andere Funktion. Wie zuvor bereits ausgeführt wurde, erweiterte die moderne Literaturkritik die Auseinandersetzung mit Literatur um die Ausformulierung eines ästhetischen Diskurses, dessen Beginn in der Philosophiegeschichte mit A.G. Baumgartens ersten Band der AESTHETICA im Jahre 1750 gesetzt wird (Barck/Heiniger/Kliche 2000, 317). Barck beschreibt die Absicht Baumgartens dahingehend, die „als niedere Erkenntnisvermögen diskriminierten Sinne philosophisch zu legitimieren“ (308). Von diesem (konstruierten) Ausgangspunkt hat sich der moderne Begriff der Ästhetik, wie Barck ausführt, bis in die Gegenwart hinein immer weiter verzweigt, verschiedene Gegenstandsbereiche besetzt, Geltungsweisen beansprucht und Gestalten angenommen. Bedeutsam für den Begriff der Kritik ist daran nun, dass sich auf diese Art und Weise ein weitgehend autonomer Diskursbereich etablieren konnte, der zunächst Literatur, später allgemein die Künste (und noch später und allgemeiner die Kultur) in einen spezifischen Funktionszusammenhang gestellt hat. Dessen Kern liegt – im Gegensatz zum politischen Diskurs, der um die Ausübung gesellschaftlicher Herrschaft gruppiert ist – darin, über den ‚räsonierenden‘, ‚kritisierenden‘ Diskurs Wissen zu formulieren und zu Geltung zu bringen, das sich im weitesten Sinne dem Umgang mit Literatur, den Künsten bzw. der Kultur widmet.
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Die diskursive Ausrichtung (und damit auch Legitimation) von beispielsweise Literaturkritik lässt sich darin sehen, dass hier vermittels von Diskursen allgemein anerkannte Praktiken etabliert werden sollen, die die Reproduktion von Literatur in der Gesellschaft betreffen. Die verschiedenen, zur Auswahl stehenden Adressierungen, Formen und Theorien machen es möglich, in diesen Vorgang ein breites Spektrum kultureller Praktiken einzuschließen. Sie reichen von der Produktions- über die Rezeptionsästhetik bis hin zur Frage des Konsums. In der Kritik wird sowohl ‚ausgehandelt‘, was Literatur ist – d.h. welche Praktiken der Verfertigung von Texten den Anspruch für sich erheben können, als Literatur geadelt zu werden –, als auch, welche Lesarten und Lektürepraktiken das Publikum im Akt des Lesens oder der symbolischen Konsumption den literarischen Texten zukommen lassen soll. Dieser Umstand ist insofern von Bedeutung, als damit gesagt wird, dass die Diskurse der Kritik keine l’art pour l’art im Umfeld ihres Gegenstandsbereichs sind (wenngleich sie sich durchaus in diese Position begeben bzw. so rezipiert werden können), sondern manifeste und bedeutungsvolle Formen der Transkription und Lesbarmachung von künstlerischen oder kulturellen Praktiken darstellen. Als solche sind sie auf der Oberfläche ebenso vielfältig und potenziell umstritten wie die Gegenstände, auf die sie sich beziehen. Zugleich sind sie selbst wiederum eingebunden in eigene, spezifische Diskurse, in denen ‚geregelt‘ wird, mit welchen diskursiven Praktiken auf die Praktiken der Literatur eingewirkt werden kann. Wenn die Diskurse der Kritik damit in eine Mittlerposition zwischen den Künsten bzw. der Kultur und dem Publikum gestellt werden, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass mit ihnen festgelegt wird, welche Praktiken und Umgangsweisen tatsächlich realisiert werden. Dass sich die performative Kraft der Kritikdiskurse nicht automatisch in den tatsächlich ausgeübten Praktiken der Kulturproduktion und des Kulturkonsums widerspiegelt, hängt nicht allein damit zusammen, dass es sich auch hier nur um Diskurse handelt, die in erster Linie nur ihre eigenen diskursiven Praktiken reproduzieren können, und dass sie (als Diskurse) wiederum in sich plural aufgefächert sind. Die Besonderheit der Diskurse der Kritik liegt darüber hinaus in dem Raum begründet, den sie innerhalb des Kommunikationsprozesses einnehmen. Denn während beispielsweise in modernen Gesellschaften die Vermittlung von Politik fast ausschließlich über einen medialen Diskurs verläuft (vgl. Meyer 2001), gilt das für die Kultur nicht gleichermaßen, da ihre Gegenstände dem Publikum unmittelbarer zugänglich sind. Obgleich Kritik diese Kontakte oftmals erst ermöglicht, da sie auch eine berichtende, informierende Funktion übernimmt, schiebt sie sich dennoch zwischen den in gewissem Sinne intimen Prozess der Produktion und Konsumption von Kultur. Dieser Prozess des Austauschs zwischen Kulturgut und Konsument ist jedoch selbst wieder überlagert von anderen ex- oder impliziten Diskursen und Praktiken, die vielfältig auf Seiten der Produzenten und Konsumenten mit einer eigenen Dynamik eigene Ordnungsmuster und Konventionen produzieren. Die historische Entstehung der Diskurse der Kritik zeigt dabei, dass die Ausbildung von Kritik von ihrem Gegenstand abhängt – sei es Literatur, bildende Kunst, Musik, Radio oder Fernsehen. Wie Öffentlichkeit im Allgemeinen muss sich auch die Kritik ihre Räume und Möglichkeiten in einem ge-
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sellschaftlichen Kontext erarbeiten, in den der avisierte Gegenstand eingebettet ist. Deshalb konnte sich beispielsweise eine Kritik der bildenden Künste oder der Musik erst knapp 150 Jahre nach dem Entstehen literarischer Öffentlichkeiten herausbilden (vgl. Fontius 2001, 476ff.). Auch die Fernsehkritik kennzeichnet ein eigener Gegenstandsbezug, der sie von der Literaturkritik unterscheidet. Ihre konkreten diskursiven Praktiken sind nur sehr indirekt von denen der Literaturkritik geprägt, weil die Transkription des Fernsehens stärker an den Praktiken der Kritik von Kino und Hörfunk orientiert ist. Denn das Fernsehen wurde nicht nur als „Kunst im tradierten Sinne“ wahrgenommen, „sondern [als] etwas anderes, das zwar auch Kunst enthalten konnte, aber daneben andere Programminhalte umfasste, für die eine Notwendigkeit der Kritik nicht unbedingt gegeben schien“ (Hickethier 1994a, 32). Fernsehkritik war somit einem stärkeren Legitimationszwang ausgeliefert, der sie mit der „Ambivalenz“ konfrontierte, „sowohl Kunst- als auch Medienkritik zu sein“ (30). Deshalb betrifft die ‚räsonierende‘ Auseinandersetzung mit dem Fernsehen nicht nur das Feld ästhetischer Praktiken, sondern zugleich auch den weiter reichenden Bereich soziokultureller und gesellschaftspolitischer Fragestellungen.
Fernsehkritik in Printmedien Die Logik von Kants Idee einer Rationalität, der sich im Modus der Kritik „alles unterwerfen“ müsse, scheitert mit Blick auf die printmediale Fernsehkritik schon an der schlichten Tatsache, dass sie den Preis für ihren öffentlichen Status damit begleichen muss, selbst den real existierenden Anforderungen eines Massenmediums zu genügen. Innerhalb des Informativs der Printmedien nimmt die Fernsehkritik einen schmalen Raum ein, der die Möglichkeiten der Transkription des Fernsehens vorstrukturiert. Während sich der vorangehende Abschnitt der Frage der Kritik als einer diskursiven Praktik gewidmet hat, geht es im Folgenden darum, die Einbettung der Fernsehkritik innerhalb dieses institutionalisierten Kommunikationsrahmens zu beschreiben. Mit dem Begriff der Fernsehkritik sind jene Formen der Thematisierung des Fernsehens gemeint, die auf die Tradition einer engeren diskursiven Bezugnahme im Modus der Kritik zurückgeführt werden können. Mit diesem Modus ist eine selektive Wahrnehmung des Fernsehens verbunden. Im Zentrum der Kritik stehen Sendungs- und Programmformen, also allgemein Auseinandersetzungen mit der ‚Ästhetik‘ der Inhalte des Mediums, und nicht medienpolitische, technische oder ökonomische Aspekte. Letztere sind zwar ebenfalls Teil der Thematisierung des Fernsehens durch die Printmedien, die als eigene Diskurse beschrieben werden können und die über diese Anordnung in die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Fernsehen einfließen können. Aber sie lassen sich dennoch von einer ästhetischen Kritik des Fernsehens abgrenzen: In der printmedialen ‚Logik‘ der Abbildung der Welt findet das Fernsehen als Gegenstand ästhetisch-räsonierender Diskurse seinen Platz im Bereich des Feuilletons. Der Gegenstandsbereich des Feuilletons lässt sich mit dem vielschichtigen Begriff der Kultur ummanteln. Pressegeschichtlich hat sich das Feuilleton jedoch nicht zu einem Ressort entwickelt, das ‚Kultur‘ in ihren breitesten
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Erscheinungsformen abhandelt, wie ein moderner Kulturbegriff nahelegt. Vielmehr zeichnet das Feuilleton ein normativ aufgeladenes Verständnis von ‚Kultur‘ aus, mit dem auf das kulturell Besondere des Gegenstandes abgehoben werden soll. „Wo Kultur drauf steht, ist vor allem Kunst drin“, schreibt der Publizistikwissenschaftler Gunter Reus über das RESSORT: FEUILLETON (1999, 27). Kunst ist dabei freilich zu verstehen als ein Bereich, der Kunst als die Künste in einem weiten Sinne zum Inhalt hat: Literatur, Theater, Musik, Film etc. Werden auf diese Weise die Gegenstände des Feuilletons eingeklammert und damit zugleich symbolisch als gegenstandswürdig besetzt, so findet sich ihre Darstellung in einem engeren Korridor journalistischer Gattungen eingelagert, bei denen eindeutig die Texttypen ‚Nachricht‘ und ‚Rezension‘ dominieren, die numerisch etwa zu gleichen Anteilen „rund drei Viertel der Beiträge in den Tageszeitungen“ (30) ausmachen. Die journalistische Besonderheit des Feuilletons liegt damit in der (im Vergleich zu anderen Ressorts) überproportional starken Ausrichtung auf kommentierende, kritisierende Kommunikationsmuster, die – wie Reus fortfährt – „als Inbegriff dessen [gelten], was vom Feuilleton zu erwarten ist“ (32). Man kann folglich sagen, dass die diskursive Ordnung des Feuilletons primär darin zum Ausdruck kommt, über die doppelte Selektion von Gegenstandsbereichen und darin auftretenden Ereignissen ästhetisches Wissen im Modus der Kritik an ein breites Publikum zu adressieren. Wenn die Fernsehkritik dem institutionellen Kontext des Feuilletons zugerechnet wird, müssen zwei Dinge beachtet werden. Mediengeschichtlich hat das Fernsehen als Gegenstand der ästhetischen Betrachtung seinen Platz und somit eine bestimmte Form von Anerkennung innerhalb dieses institutionell-kommunikativen Kontextes im Widerstand gegen die etablierten Künste erobern müssen (vgl. Hickethier 1994a, 45ff.). Den Anfang der bundesrepublikanischen Fernsehkritik leisteten zu Beginn der 1950er Jahre zunächst Medienfachdienste wie KIRCHE UND RUNDFUNK (heute EPD-MEDIEN) und FUNK-KORRESPONDENZ, ehe in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die ersten Tageszeitungen dazu übergingen, mehr oder weniger kontinuierlich Fernsehkritiken abzudrucken: Anfang der sechziger Jahre hatte sich die Fernsehkritik in verschiedenen Formen und unterschiedlichen Pressetypen etabliert. Sie hatte sich ihre regelmäßige Präsenz erkämpft und innerhalb der Zeitungen institutionalisiert. Der Kulturbetrieb begann sich langsam auf das neue Medium einzulassen, arrogant, abfällig zwar noch, auch distanziert, doch die oft launigen Darstellungen, wie der Kritiker zum Fernsehapparat kam, fanden sich häufig in den Beiträgen, weil es noch lange als degoutant galt, als ›Kulturmensch‹ einen solchen Kasten in der Wohnung zu haben. (Hickethier 1994a, 79)
In diesem Zitat aus Hickethiers GESCHICHTE DER FERNSEHKRITIK IN DEUTSCHLAND kommt zum Ausdruck, wie umfochten der symbolische Raum der universalistisch apostrophierten Tageszeitungen insbesondere hinsichtlich des kulturellen Diskurses ausgerichtet ist. Das Fernsehen hat darin nicht zuletzt deshalb einen Platz als berichtenswertes Ereignis gefunden, weil es in seiner Geschichte einen kontinuierlichen Bedeutungsgewinn verzeichnete,
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der nicht ignoriert werden konnte. Innerhalb der Printmedien entstand so, ausgehend von den 1950er Jahren, eine eigene Teilöffentlichkeit der Fernsehkritik. Sie verteilte sich auf verschiedene Printmedien, die auf je eigene Art zwischen Berichtsgegenstand und Publika ‚vermitteln‘: Neben Tageszeitungen und Fachdiensten etablierten sich in Programmzeitschriften, Wochenzeitungen und Illustrierten verschiedene Orte für eine Kritik des Fernsehens. Auf diese Weise verdichtete sich Fernsehkritik zu einem intermedial verflochtenen, mehr oder weniger eigenständigen Diskursraum, in dem verschiedene Praktiken der Kritik miteinander konkurrieren. Dieser Prozess der Ausdifferenzierung der Fernsehkritik in den verschiedenen Printmedien soll nicht allzu stark vertieft werden. Bezeichnend für die Institutionalisierung des Fernsehens als Objekt der Kritik ist, neben dem Entstehen einer eigenen Publikumspresse (den Programmzeitschriften), die allmähliche Ablösung vom Feuilleton durch die Einführung von speziellen Fernsehseiten ab den 1960er Jahren, auf denen zusätzlich das Programm abgedruckt ist und die später insbesondere bei den überregionalen Tageszeitungen zu speziellen Medienseiten ausgebaut wurden. Gegen Ende der 1990er Jahre führten auch Illustrierte wie DER SPIEGEL oder STERN eigenständige Medienseiten ein. Diese Entwicklung wird auch in einem Vergleich von Stichprobenbefragungen zum Medienjournalismus deutlich, wie sie von Schulz (1968, 281), Waldmann (1982, 57) und Malik (2004, 238) durchgeführt wurden: Rechnete sich Mitte der 1960er und zu Beginn der 1980er Jahre noch der überwiegende Teil der für das Fernsehen zuständigen Redakteure dem Ressort des Feuilletons zu, so war im Jahre 2002 etwa die Hälfte aller Redakteure – mit überproportionaler Häufigkeit bei überregionalen Tageszeitungen – in einem eigenen Medienressort tätig. In der Folge verschob sich die Thematisierung des Fernsehens immer mehr aus dem kunstorientierten Kontext des Feuilletons in Richtung eines eigenen Mediendiskurses, in dem sich das Fernsehen weniger in Konkurrenz zu den ‚Künsten‘ befindet als zu anderen Massen- oder Informationsmedien wie Radio, Print oder Internet. Das Fernsehen hat sich damit zunehmend als Berichtsgegenstand des Journalismus etabliert, was für die Art seiner Transkription nicht folgenlos blieb. Die Thematisierung des Fernsehens im Rahmen des Feuilletons legt in erster Linie eine Bezugnahme im Modus der Kritik nahe, der einen Grenzbereich des auf Information und Berichterstattung ausgelegten Journalismus darstellt. Mit der Ausweitung des Medienjournalismus wurden zum einen die Diskursformen journalistischer, zum anderen veränderten sich die Bezugsformen der Kritik, indem z.B. medienökonomische oder medienpolitische Gesichtspunkte an Bedeutung gewannen. Maja Malik zeigt in ihrer explorativen Studie zum JOURNALISMUSJOURNALISMUS (2004) anhand des journalistischen Selbstverständnisses der Akteure, wie sich die Berichterstattung über Journalismus in die allgemeinen Modi einfügt, mit denen verschiedene Zeitungs- und Zeitschriftentypen Räume in der Medienöffentlichkeit besetzen. In der von ihr entworfenen Typologie journalistischer Praktiken, die zwischen „kontinuierlich-reflektierendem“, „periodisch-problematisierendem“, „sporadisch-verhaltenem“ und „zufällig-unterhaltendem“ Medienjournalismus trennt (309ff.), spiegelt sich die Art und Weise, mit der die verschiedenen Zeitungstypen (überregionale Ta-
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geszeitungen, Wochen-, Regional- oder Boulevardzeitungen), denen sich die Journalisten zuordnen lassen, allgemein ihre Publikumsbezüge realisieren – also mit welcher Kontinuität und welchem Umfang berichtet wird, welche Selektionsweisen und Darstellungsformen dabei realisiert werden etc. Wenngleich sich Malik auf die Selbstthematisierung des Journalismus bezieht, worunter sie nicht die Fernsehkritik zählt (wobei fraglich ist, inwieweit diese systemtheoretisch deduzierte Trennung empirisch haltbar ist), scheint es grundsätzlich plausibel zu sein, davon auszugehen, dass sich auch die Fernsehkritik den Konventionen unterordnet, mit denen sich verschiedene Typen von Printmedien in das Mediensystem einfügen. Zwei typische Kennzeichen der Fernsehkritik entspringen hingegen der Besonderheit ihres Gegenstandes. Erstens verfügt das Fernsehen, da es ein komplexes audiovisuelles Massenmedium ist, über ein breites heterogenes Programmangebot; es verbindet gleichermaßen einen Kunst-, Informationsund Unterhaltungsanspruch. Dieser Umstand führte dazu, dass es sich nicht ohne weiteres in das Informativ der Printmedien eingliedern ließ, sondern entweder ein eigenes Ressort etablieren musste oder in die Zuständigkeit verschiedener Ressorts aufgeteilt wurde. Zweitens hat sich das Fernsehen als Rundfunk- und Programmmedium realisiert. Dieser Umstand bezieht sich für die Problematik der Fernsehkritik weniger auf die darin eingebettete gesellschaftliche Konstitution, die es auch zu einem Gegenstand politischer oder ökonomischer Diskurse macht, sondern auf die ästhetische Erscheinungsform des Fernsehens, sowohl komplex als auch flüchtig zu sein. Für die Fernsehkritik ergeben sich aus dieser Konstitution zwei mögliche Formen der Bezugnahme: Sie kann (1) Kritik einer einzelnen Sendung oder des Programms sein und (2) der Sendung vorausgehen oder im Nachhinein erfolgen. (1) Programm- vs. Sendungskritik. Besonders in der Frühphase der Fernsehkritik wurde dieses Problem über die Publikation von Sammelkritiken aufzulösen versucht, in denen verschiedene Sendungen in einen groben thematischen oder zeitlichen Zusammenhang gestellt und nacheinander besprochen wurden (Hickethier 1994a, 45ff.). Am allmählichen Verschwinden dieser Kritikform in den 1960er Jahren wird deutlich, dass sie sich immer mehr als dem Gegenstand unangemessen erwies, da sie zu einer „summarischen Behandlung der einzelnen Produktionen“ führte, die eine „gattungs- oder formtheoretische Durchdringung“ unmöglich machte (62). Etabliert hat sich hingegen eine Verfeinerung der Kritik des Fernsehens als komplexes Programm oder einer einzelnen darin vorkommenden Sendung. Die Übergänge zwischen Einzel- und Programmkritik sind allerdings fließend. So kann eine Kritik eine einzelne Sendung, eine Serie oder Reihe oder ein komplettes Format zum Gegenstand erwählen. Deshalb verweist die Differenzierung in Sendungs- und Programmkritik eher auf zwei grundsätzliche Optionen, mit denen alternative Zugänge zur Kommentierung des Fernsehens verbunden sind. Während die Einzelkritik stärker in der Tradition des feuilletonistischen Rezensionswesens wurzelt, in dem einzelne Produkte auf ihren kulturellen Wert – der genauso im Großen-Schönen-Wahren wie im Versprechen auf Unterhaltung liegen kann – hin abgeklopft werden, ist mit Programmkritik die sendungsübergreifende Erfassung des Mediums verbunden, die auch die Besonderheit seiner Ästhetik zum Inhalt hat.
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(2) Vor- vs. Nachkritik. Anders als das bei Literatur oder Kino der Fall ist, ist die Ästhetik des Fernsehens mit dem Charakter der Sendung als punktuellem und einmaligem Ereignis verbunden. Zwar ist, seitdem die Möglichkeit der elektromagnetischen Aufzeichnung besteht, jede Sendung prinzipiell wiederholbar, das Programm als solches ist es faktisch aber nicht. Und – was noch wichtiger ist – eine einmal gezeigte Sendung ist für das Publikum im herkömmlichen Rundfunk zeitnah nicht wieder rückholbar (auch ein Recorder muss vorher programmiert werden). Für die Fernsehkritik ergeben sich aus diesen recht schlichten Tatbeständen in der Praxis enorme Konsequenzen, da jede einzelne Kritik mit der Frage konfrontiert ist, ob sie eine Sendung im Voraus oder im Nachhinein thematisiert. Die „klassische Form der Fernsehkritik“ (Bleicher 2005b, 8) stellt die Nachkritik dar. Der Grund dafür liegt neben der Spezifik der Programmförmigkeit des Mediums, die erst im Moment der Sendung entsteht, auch darin, dass selbst vorab produzierte Sendungen lange Zeit nicht vor der Ausstrahlung zugänglich waren, weil die technischen Möglichkeiten fehlten bzw. die Sender keinen Anlass sahen, sie der Kritik zugänglich zu machen. Der Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz kam deshalb 1968 zu dem Schluss: Eingespannt in das Joch der Periodizität – jeden Tag bietet das Fernsehen seinem Publikum und seinen Kritikern ein abendfüllendes Programm – ist sie zugleich eingeschränkt in ihrer Wirkungsmöglichkeit, denn Fernsehkritik ist in der Regel Nachkritik – wenn sie erscheint, ist die kritisierte Sendung schon für alle Zeiten abgesetzt, und die Chance, das ›Vorurteil‹ des Publikums und damit den Erfolg der Darbietung zu beeinflussen, besteht kaum. (Schulz 1968, 274)
Dieses Urteil wurde mit der Zeit jedoch zum Teil hinfällig, da die Anbieter mit dem Aufkommen des Videorekorders und der Verschärfung der Programmkonkurrenz der Kritik den Zugang zu vorab produzierten Sendungen verbesserten. In den Printmedien konnte sich die Vorabkritik somit immer weiter durchsetzen, zumal sich die Zeitungsmacher von ihrem Abdruck einen strategischen Gewinn erhoffen, da sie für die Leserschaft eine Servicefunktion bei der Programmauswahl zu übernehmen verspricht – ein strategischer Gedanke, der insbesondere mit der Ausweitung der Programme an Gewicht gewann. Vorabkritiken können aber nur jene vorproduzierten Programmteile abdecken, die von den Sendern zur Verfügung gestellt werden und konzentrieren sich in der Regel nur auf einzelne Sendungen. Bedeutung innerhalb der Fernsehkritik gewannen sie damit in erster Linie in der „Hervorhebung von zumeist künstlerisch bedeutsamen und kulturell wichtigen Sendungen“ (Hickethier 1994a, 175). Hickethier sieht die Durchsetzung der Vorabkritik mit zwei Veränderungen der Fernsehkritik verbunden. Zum einen führe die Vorabkritik mit ihrem „Ziel, Einfluss auf das aktuelle Verhalten der Zuschauer zu nehmen“, die Fernsehkritik zurück auf die Tradition der feuilletonistischen Kunstkritik, „während für eine Medienkritik gerade des Fernsehens, das viele seiner Charakteristika dem Live-Prinzip verdankt, sich der Gedanke an eine Vorabkritik von vornherein verbot“ (174). Zum anderen „reduzierte sich [mit der Ausbreitung der Vorabkritik] in gleichem Maße das kritische Moment“ (176) und der Servicegedanke rückte stärker in den Vordergrund.
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Skandal Der Begriff des Skandals besitzt bei weitem nicht jene Mächtigkeit, mit der sich der Begriff der Kritik in die kulturellen Diskurse der Moderne eingebrannt hat. Das bezieht sich weniger auf das Auftreten von Skandalen, als vielmehr auf die Tatsache, dass mit ‚Skandal‘ im Gegensatz zu ‚Kritik‘ keine reflexive Diskurspraxis verbunden ist, die sich auf eine Theorie, ein Ideal oder ein Modell stützen lässt, die der Praxis des Skandals vorgeschaltet ist. Mit dem Begriff des Skandals wird auf mehr oder weniger ephemere Ereignisse verwiesen, die sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit beobachten lassen. Ein Blick auf die Literatur zu Skandalen verdeutlicht, dass dabei zwei Grundverständnisse vorgefunden werden können. Auf der einen Seite existieren Publikationen, denen ein objektbezogen-performativer Skandalbegriff unterlegt ist; in ihnen wird durch die Titulierung eines Ereignisses oder Sachverhalts als ‚Skandal‘ diesem Ereignisse oder Sachverhalt ein bestimmter Status zugesprochen. Dieses eher publizistische Verständnis kann sich beispielsweise auf bestimmte politische Vorkommnisse (vgl. Ramge 2003) oder Fernsehereignisse (vgl. Kreymeier 2004) beziehen, ist jedoch ebenso in wissenschaftlichen Ansätzen zu finden (vgl. Kepplinger 2002; Gerhards 2005). Dem gegenüber steht ein beobachtend-analytischer Skandalbegriff, der sich damit auseinandersetzt, wie Skandale als komplexe soziale Phänomene produziert werden und welche übergreifenden gesellschaftlichen Funktionsmechanismen und Wirkungsweisen ihnen zugrunde liegen. Ein solcher Skandalbegriff steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Um ihn für die Diskursanalyse aufzuschließen, wird zunächst nach den allgemeinen Charakteristika des Skandals gefahndet, ehe in einem zweiten Schritt die Einbettung von Skandalen in massenmediale Diskurse erörtert wird. Dabei wird gezeigt, dass Skandalen eine bestimmte Art der Diskursivierung von Normen eigen ist, die zwischen Klatsch und Moral Panic angesiedelt ist.
Charakteristika des Skandals Aus einer beobachtend-analytischen Betrachtung lassen sich Skandale als kommunikativ konstituierte, soziale Ereignisse beschreiben, die in einer Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen in bestimmten Kontexten emergieren. Dieser auf den ersten Blick unscharfe Zugang zum Skandal resultiert aus der empirischen Beobachtung, dass es keine klaren übergeordneten Regeln gibt, mit denen sich festlegen ließe, welche Ereignisse zu Skandalen werden, wie ein objektbezogen-performativer Skandalbegriff nahelegt. Denn zum Skandal gehören immer zwei Dinge: ein Sachverhalt, auf den Bezug genommen wird, um skandalisiert zu werden, und der Vorgang des Skandalisierens selbst, der ein komplexes kommunikatives Verfahren darstellt. Diesem Umstand werden in erster Linie soziologische Zugänge gerecht, die eine phänomenologische Annäherung wählen (vgl. Hondrich 2002; Neckel 1989; Thompson 1997; 2000). Denn der Sinn von Skandalen lässt sich nicht erfassen über einen Rückbezug „auf die Motive der Handelnden, sondern [muss] auf das Funktionieren von sozialen Gebilden“ bezogen werden (Hondrich
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2002, 17). Die folgende Darstellung greift auf den Ansatz des britischen Mediensoziologen John B. Thompson zurück, der mit seinem Buch POLITICAL SCANDAL (2000) die bisher ausführlichste systematische Darstellung zum Skandal vorgelegt hat, auf den sich auch Steffen Burkhardts Studie über MEDIENSKANDALE (2006) im Wesentlichen bezieht. Thompson charakterisiert Skandale anhand von fünf Merkmalen: 1 Their occurrence or existence involves the transgression of certain values, norms, or moral codes; 2 their occurrence or existence involves an element of secrecy or concealment, but they are known or strongly believed to exist by individuals other than those directly involved (I shall refer to these individuals as ›non-participants‹); 3 some non-participants disapprove of the actions or events and may be offended by the transgression; 4 some non-participants express their disapproval by publicly denouncing the actions or events; 5 the disclosure and condemnation of the actions or events may damage the reputation of the individuals responsible for them (although it does not always or necessarily the case, as we shall see). (Thompson 2000, 13)
Diese fünf Charakteristika des Skandals – (1) Normübertretung, (2) Geheimnis, (3) Diskreditierung, (4) Anklage und (5) Personalisierung –, die ähnlich auch bei Hondrich und Neckel wiederzufinden sind, werden nun der Reihe nach erläutert. (1) Normübertretung. Die Normüberschreitung als „Verletzung gesellschaftlicher Wertsysteme“ (Neckel 1989, 57) ist gewissermaßen die conditio sine qua non eines jeden Skandals. Zwar zieht nicht jeder Normverstoß automatisch einen Skandal nach sich, aber jedem Skandal liegt in der einen oder anderen Weise eine Überschreitung (vermeintlich) allgemein geteilter Werte zugrunde. Allerdings sind gesellschaftliche Werte keine monolithischen und statischen Bezugssysteme, da sie mit soziokulturellen Veränderungen in Zusammenhang stehen, die sich in jeder komplexen, modernen Gesellschaft permanent vollziehen. Hinzu kommt, dass in pluralen Gesellschaften Werte in verschiedenen sozialen Milieus jeweils andere Bedeutungen haben können und auch zwischen verschiedenen Gesellschaften variieren – Normen sind in historische, soziokulturelle und räumliche Kontexte eingebettet. Thompson (1997, 40) spricht deshalb von einem unterschiedlichen Grad an „scandal sensitivity”, die Normverstößen in verschiedenen Kontexten zuteil wird. Nichtsdestotrotz gibt es bestimmte Normen, die für einen Skandal potenziell eine größere Relevanz besitzen als andere, für politische Skandale zählt Thompson dazu die Bereiche Sexualität, Geld und Macht. Der Bezug auf Normen und deren Verletzung führt dazu, dass die tangierten Wertvorstellungen im Skandal zwangsläufig aktiviert werden müssen, um die Normverletzung deutlich zu machen. In diesem Moment liegt ein entscheidender Punkt des Normbezugs von Skandalen. Denn diese Anordnung führt dazu, dass im Skandal nicht nur Normenüberschreitungen thematisiert werden, sondern die Skandalisierung eines einzelnen Sachverhalts an einen
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übergeordneten moralischen Diskurs gebunden ist, der so exemplarisch exekutiert werden kann: In many cases, scandals are not just about actions which transgress certain values or norms: they are also about the cultivation or assertion of the values or norms themselves. Thus the making of a scandal is often associated with a broader process of ›moralization‹ through which certain values or norms are espoused and reaffirmed – with varying degrees of effectiveness and good faith – by those who denounce the action as scandalous. (Thompson 2000, 16)
Daneben sind Skandale prozesshafte und in gewissem Sinne auch ergebnisoffene Ereignisse, die eine eigene Dynamik entwickeln. Das hat zur Folge, dass die Normverletzung, die am Anfang eines Skandal steht, im weiteren Verlauf in den Hintergrund treten kann, wenn an ihre Stelle eine neue Normverletzung tritt, die den ursprünglichen Ausgangspunkt eines Skandals überlagert und somit eine Art Wendepunkt in der Skandalisierung nach sich zieht. Thompson bezeichnet eine solche Entwicklung als „second-order transgression“ (17), da sie aus Folgeereignissen entspringt, die erst durch den ursprünglich Normverstoß möglich geworden sind: „Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert“ (Luhmann 1996, 61). (2) Geheimnis. Die Normübertretung steht üblicherweise in Verbindung mit der Aufdeckung eines ‚Geheimnisses‘, als einem Sachverhalt, der zwar schon vor dem Skandal existiert, aber als solcher nur einem kleinen Kreis von ‚Eingeweihten‘ bekannt ist. Typisch für einen Skandal ist, dass dieses Geheimnis nicht nur einfach aufgedeckt wird, sondern damit gleichzeitig einem erweiterten Kreis von nicht direkt Involvierten (non-participants) zugänglich gemacht wird. Damit müssen drei weitere Voraussetzungen erfüllt werden: ein Skandal muss einen bestimmten Grad von Öffentlichkeit berühren, wofür Unbeteiligte miteinbezogen werden müssen und es bedarf einer sozialen Kommunikationsstruktur, in der dies geschieht (Thompson 2000, 19). Der Soziologe Sighard Neckel weist in seinem Aufsatz ZUR SOZIOLOGIE DES POLITISCHEN SKANDALS (1989) darauf hin, dass eine Besonderheit von Skandalen in ihrem Umgang mit Geheimnissen zum Ausdruck kommt. Schließlich ist die Existenz von Geheimnissen an sich nicht verwerflich, da die „Verwendung des Geheimnisses im privaten Verkehr [...] eine allgemein anerkannte Technik des sozialen Handelns“ darstellt: „Nicht die Existenz, sondern die Verletzung des Geheimnisses – der Klatsch, die Indiskretion, der persönliche Verrat – gelten als moralisch verwerflich“ (59). Skandale operieren damit in einem sensiblen Gebiet, das sie selbst einem besonderen (normativen) Rechtfertigungsdruck ausliefert. Dieser Punkt ist entscheidend für die Funktionsweise von Skandalen, da im Skandal selbst eine Schnittstelle berührt wird, die das normative Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit betrifft. Sie ist weitreichender als das von Thompson angesprochene, rein formale Setting, in dem das zu entdeckende Geheimnis steht. Skandale decken nicht nur Normübertretungen auf und aktualisieren Moraldiskurse, sie stellen ihrerseits selbst eine Normverletzung dar, die ihnen – anders als das
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bei den reflexiven Diskursen der Kritik der Fall ist, denen eine Art Theorie vorgeschaltet ist – eine implizite Reflexivität unterlegt. (3) Diskreditierung. Die Rechtfertigung der Normverletzung, die im Skandal selbst durch die Verbreitung von geheimem, nicht-öffentlichem Wissen vorgenommen wird, geschieht wesentlich über eine Art ‚Flucht nach vorn‘, indem ein Konsens organisiert (oder zumindest der Eindruck eines solchen erzeugt) wird. Das zieht für die Akteure die Notwendigkeit nach sich, eine Diskursposition zu erzeugen, mit der die Normverletzung als eine moralisch zu diskreditierende Handlung dargestellt werden kann. Je allgemeiner und breiter diese Position angelegt ist, desto größer ist der zu vermutende Erfolg der Skandalisierung. Allerdings findet der Vorgang der Diskreditierung des Normverstoßers – genau wie der Normverstoß selbst – in modernen Gesellschaften in einem plural ausdifferenzierten soziokulturellen Umfeld statt, in dem es kaum noch Normverstöße gibt, die wirklich direkt ‚schockierend‘ wirken: Today many scandals involve the transgression of values and norms which have become fairly routine features of social life. They are adhered to loosely (if at all) by most people, and may be adhered to more in principle than in practice. They are token values to which many people may pay lip service but which, when it comes to making key decisions, play a relatively marginal role in their lives. When scandals involve the transgression of token values and norms of this kind, they have a certain formulaic character and a certain moral vacuousness. (Thompson 1997, 44)
Jeder Skandal operiert folglich im moralischen Bereich einer gewissen ‚Verlogenheit‘ oder – neutraler – doppelten Ambivalenz. Sie hängt einerseits mit der Notwendigkeit zusammen, einen gewissen Grad an moralischer Abstraktion zu praktizieren. Diese beruht darauf, dass an einem konkreten Beispiel ein allgemein gehaltener und somit letzten Endes ‚oberflächlicher‘ oder fragmentierter moralischer Diskurs geführt wird. Möglich wird diese Konstellation durch die Rolle der nicht direkt involvierten non-participants, die als unbeteiligte Richter mit eingeschränktem Rechtfertigungsdruck agieren. Neckel vergleicht die Rolle der non-participants unter Verweis auf Luhmann mit dem Hinzutreten eines ‚Dritten‘, der nicht von vornherein mit einem (unbeteiligten) ‚Zuschauer‘ verwechselt werden dürfe: Das Publikum des Skandals besteht nicht aus Akteuren, die der Aktualität eines Geschehens unmittelbar als Zuschauer beiwohnen, sondern aus eben jenem Dritten, [...] »der mit anderen Dingen beschäftigt ist, aber möglicherweise für ein aktuelles Miterleben, Miturteilen, Mitverurteilen, Mithandeln zu gewinnen ist« (Luhmann 1972, 66). (Neckel 1989, 66)
Auf diese Weise wird die implizite Reflexivität von Skandalen mit einem zweiten Funktionsrahmen konfrontiert, der – im Gegensatz zur Funktion eines realen Richters – auf den spielerisch-fiktiven Charakter von Skandalen verweist. Die moralische Entrüstung, die mit dem Skandal hervorgerufen wird, ist Teil eines komplexen „Schauspiels in vielen Abschattungen“, dem zumeist eine „glänzende Dramaturgie ohne Dramaturgen“ unterlegt ist (Hon-
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drich 2002, 26). In diesem Punkt liegt die zweite Ambivalenz von Skandalen verborgen. Denn durch die Dramatisierung der Ereignisse wird eine große moralische Kulisse errichtet, in der die Betroffenen zugleich als Akteure einer Tragödie und einer Komödie agieren können: „Few people are shocked or offended by what they hear, but many are mildly amused by the sight of a minister on stage with his pants down“ (Thompson 1997, 44). (4) Anklage. Die Skandalisierung eines Geschehens wird nur dann möglich, wenn ein komplexes intertextuelles Diskursspiel angeschoben wird (Lull/Hinermann 1997, 17), mit dem durch Anschlusskommunikation Aufmerksamkeit produziert wird, die aus einer einfachen Empörung eine „kollektive Entrüstung“ (Hondrich 2002, 16) werden lässt: „The responses of others are integral to the scandal, not retrospective commentaries on it. In short: no responses, no scandal“ (Thompson 2000, 20). An dieser ausdrücklichen Formulierung von Thompson wird der performative Charakter von Skandalen deutlich; sie sind immer darauf angewiesen, sich selbst zu konstituieren, indem ein Ereignis zum Skandal erklärt und weiterkommuniziert wird. Kennzeichnend ist dabei ein bestimmter Kommunikationsmodus, der Skandale als distinkte Transkriptionsprozesse unterscheidbar macht. Während die Diskurse der Kritik, wie zuvor argumentiert wurde, im Modus des Räsonnements organisiert sind, bedient sich die Skandalkommunikation ihrerseits spezifischer, inframedialer Sprachskripte: […] they are all forms of what I shall call ›opprobrious discourse‹. This is a kind of moralizing discourse which reproaches and rebukes, which scolds and condemns, which expresses disapproval of actions or individuals. It is discourse which carries the implication that the actions are shameful or disgraceful, and hence that the actions bring shame, disgrace, or discredit to the individual or individuals who performed them. (Thompson 2000, 20)
Auf der sprachlichen Ebene stellen Skandale somit eine relativ eng definierte Sonderform von ‚Kritik‘ dar. Allerdings wird Thompsons Umschreibung als opprobrious discourse (was sich als ‚Schmähdiskurs‘ übersetzen lässt) der Skandalkommunikation nicht vollauf gerecht, da sie zu ungenau ist und den Transkriptionsprozess von Skandalen zu weit einengt. Zu ungenau ist die Bezeichnung opprobrious discourse, weil sie den eigentlichen Kern der moralischen Konstitution von Skandalen verfehlt. Deutlich wird das, wenn man den Umgang mit Moral in der Skandalkommunikation in ein diskursives Verfahren übersetzt. Rhetorisch lassen sich Skandale als Wertkonflikte charakterisieren, die an normative Argumentationsweisen gebunden sind. Sie können argumentationstheoretisch auf eine spezielle Struktur zurückgeführt werden. Diese ‚Struktur normativer Argumente‘ (Abbildung 11) lässt sich dahingehend aufschlüsseln, dass die Rhetorik der Ausbildung von Bewertungen verschiedene vergleichende Abwägungen vornimmt, die von einem bestimmten Bezugspunkt, einer je eigenen Hinsicht ausgehen. Dabei wird einem gegenwärtigen Zustand, z.B. ein Politiker mit vielen Aufsichtsratsposten, der sich weigert, seine Steuererklärung zu veröffentlichen, mit anderen alternativen Zuständen, wie Politikern, die keine Aufsichtsratsposten haben oder ihre Steuererklärung publizieren, in Verbindung gebracht. Mit dieser gegenstandsbe-
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zogenen Urteilsbildung ist eine abstrakte Bewertungshandlung verbunden, bei der einem gegenwärtigen Zustand ein Istwert zugeschrieben wird, der an einem Sollwert, also einer Norm, gemessen wird. Abbildung 11: Struktur normativer Argumente Sollwert Istwert (gegenwärtiger Zustand) (normativer Zustand)
Hinsicht
alternative Zustände Vgl. Bayer (1999, 203) Auf eine weitere Besonderheit des Transkriptionsprozesses von Skandalen, die in Thompsons Definition nicht hinreichend zum Ausdruck kommt, macht der Soziologe Otto Hondrich (2002, 20) aufmerksam. Er stellt nämlich heraus, dass im Skandal „mehr als eine moralische Verfehlung“ offensichtlich werde. Vielmehr werde im Skandal ein „Konflikt der Moralen – nicht zwischen fremder und eigener Moral, sondern im gleichen, im eigenen Haus offenbart“. Anders ausgedrückt können sich Skandale nur dann herausbilden, wenn zwischen den verschiedenen Akteuren eine bestimmtes Maß an Mindestübereinstimmung, ein moralischer Grundkonsens herrscht. Dieser Gedanke lässt sich mit Bezug auf Bayers Argumentationsschema weiter konkretisieren. Um den allgemeinen Eindruck einer besonders dramatischen Diskrepanz zwischen Istwert und Sollwert zu erzeugen, ist es notwendig, aus einer möglichst gemeinsamen Hinsicht einen allgemein geteilten Sollwert in die Skandalkommunikation einzubringen. Aus diesem Grund ist es, wie Hondrich weiter ausführt, im Skandalfall nicht ausreichend, die „Unterwelt der Unmoral“ an den Pranger zu stellen. Jede Skandalkommunikation ist dazu gezwungen, mit dem Negativ der Anklage auch dem Positiv der Moral diskursiv Geltung zu verschaffen. In der medialen Praxis führt das dazu, dass sich Skandale oftmals als weit verzweigte Themenkomplexe realisieren. (5) Personalisierung. Der Wertediskurs des Skandals ist nicht nur an bestimmte Ereignisse gebunden, sondern auch an einzelne Individuen, denen Normverstöße als individuell zu verantwortende Handlungen zugeschrieben werden und deren Reputation damit auf dem Spiel steht (vgl. Thompson 2000, 22). Der Aspekt der Personalisierung ist die am besten sichtbare Schicht, die in einem Skandal zum Vorschein kommt. An den beteiligten Personen orientiert sich sowohl die Skandalisierung als auch die Kritik am Skandal selbst. Denn an den beteiligten Personen wird deutlich, dass Skandale nicht nur eine symbolische oder diskursive Dimension haben. Sie sind zugleich konkrete soziale Ereignisse, aus denen für die Beteiligten konkrete
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Folgen erwachsen können. Insbesondere die eigentümliche Dynamik, die Skandalen oft innewohnt, lässt sich hierauf zurückführen. Denn die Skandalisierung nötigt die Betroffenen zum Handeln, um dem möglichen Verlust an Reputation oder „symbolischem Kapital“ (Bourdieu 1992) entgegenzutreten. Personalisierung bedeutet zugleich, dass bestimmte Personen für eine Skandalisierung besser geeignet sind als andere bzw. dass die Art der Skandalisierung eng mit dem gesellschaftlichen Status oder der öffentlichen Rolle einer Person verbunden ist: Individuals who, by virtue of their positions or affiliations, espouse or represent certain values or beliefs (such as those advocated by a religious organization or a political party) are especially vulnerable to scandal, since they run the risk that their private behavior may be shown to be inconsistent with the values or beliefs which they publicly espouse. (Thompson 1997, 40f.)
So wäre beispielsweise das Bekanntwerden eines Alkoholexzesses für einen Rockmusiker weniger bedrohlich als für einen Politiker. Und besonders bedrohlich wäre ein solcher Fall für einen Politiker, der vehement für das Verbot des freien Verkaufs alkoholischer Getränke eintritt. Abstrakter formuliert tritt eine Steigerung der Skandalisierungswahrscheinlichkeit dann ein, wenn über eine besondere symbolische Verknüpfung von Moral und Person eine große moralische Fallhöhe gegeben ist: „Many scandals involve an element of hypocrisy – not just the transgression of norms, but the transgression of norms by individuals whose practice falls short of what they (or their organizations) preach for themselves and others“ (41). Prinzipiell können Skandale, da sie ergebnisoffene Prozesse sind, jedoch nicht nur zu einer Verurteilung oder Abwertung von Personen führen. Genauso ist es möglich, dass der Verlauf eines Skandals zu einer Entlastung der – wenn auch erst im Skandal produzierten – Vorwürfe führt. Generell ist dabei zu beachten, dass das ‚Richtertum‘ des Skandals die Subjekte anders in Beschlag nimmt als ein ordentliches Gericht. Die performativen Akte der Skandalisierung schreiben den Betroffenen nicht Schuld oder Unschuld zu; sie betreffen weniger die Personen selbst, als deren Image. Denn Skandale zielen auf die soziale Integrität einer Person ab – als „the collective willingness of others to impose shame“ (Lull/ Hinermann 1997, 25).
Klatsch, Skandal, Moral Panic Aus einer beobachtend-analytischen Perspektive betrachtet, lassen sich Skandale als symbolische Inbeziehungsetzungen von Werten & Normen und Personen & Handlungen begreifen, durch die es einer Gesellschaft möglich wird, unterschwellige Moraldiskurse zu (re-)aktualisieren. Will man die Frage beantworten, wie sich diese an Skandale gebundenen Moraldiskurse in die Massenmedien einfügen, muss berücksichtigt werden, dass es sich bei Skandalen um intertextuelle bzw. intermediale Kommunikationsereignisse handelt, die über die institutionellen Strukturen der Massenmedien hinweg verstreut sind; sie werden nicht durch etwaige Skandalressorts, -redaktionen oder -medien konstituiert. Außerdem stellt das diskursive Grundmuster, auf das in der Skandalkommunikation zurückgegriffen wird, kein ursächlich me-
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diales und in einem modernen Verständnis ‚öffentliches‘ Phänomen dar. Skandale bauen, gleichwohl sie heutzutage fest in die Massenmedien eingewoben sind, auf soziale Kommunikationsformen, die aus der interpersonalen Kommunikation übernommen wurden. Um die diskursive Spezifik von massenmedialen Skandalen herauszustellen, werden sie im Folgenden in Relation gesetzt zu zwei verwandten Weisen der diskursiven Produktion von Moral. Diese sind gewissermaßen von zwei Seiten an Skandale angelagert und lassen sich unter die Oberbegriffe ‚Klatsch‘ und ‚Moral Panic‘ subsumieren. (1) Klatsch, (2) Skandal und (3) Moral Panic bilden in dieser Heuristik eine Hierarchisierung der gesellschaftlichen Diskursivierung von Moral. (1) Die Kategorie Klatsch – als „informal, private communication between an individual and a small, selected audience concerning the conduct of absent persons or events” (Merry 1984, 275) – dient bei der Frage nach der medialen Konstituierung von Skandalen lediglich als Ausgangpunkt, da sie bei der empirischen Beschreibung des Mediendiskurses keine Rolle spielen wird. Von Interesse ist Klatsch deshalb, weil er sozial und historisch die Mikroperspektive darstellt, die dem Skandal unterlegt ist. Klatsch ist – ethnologisch gesehen – eine soziale Aktivität, die in jeder Gesellschaft anzutreffen ist. Ihm können zwei Funktion zugewiesen werden: Mit den Praktiken des Klatsches werden einerseits Informationen über eine soziale Gruppe vermittelt und andererseits interaktiv Werturteile ausgebildet und verfestigt (276), wodurch „die Einheit, Sitten und Werte sozialer Gruppen aufrecht“ erhalten werden (Gluckman 1989, 19). Klatsch lässt sich als eine kommunikative Praxis verstehen, die zur sozialen Integration gesellschaftlicher Gruppen beiträgt. Er ist fest in den verschiedenen informellen Netzwerken der Gesellschaft verankert, aber auch in den Massenmedien, insbesondere der Boulevardberichterstattung, anzutreffen (vgl. Thiele-Dohrmann 1997). Die diskursive Struktur, in die diese Form des alltagspraktischen Bewertens eingebettet ist, lässt sich mit Clifford Geertz (1983) als eine Art Common-Sense-Diskurs beschreiben, den Geertz durch fünf Eigenschaften geprägt sieht, denen er die Attribute „natürlich, praktisch, dünn, unmethodisch und zugänglich“ (277) zuordnet. (2) Skandal – und das ist der entscheidende Punkt – schließt nun an die diskursive Struktur des Klatsches an, mit der Einschränkung allerdings, dass im Skandal die informierende Funktion des alltäglichen sozialen – oder mit Blick auf die Medien: parasozialen – Klatsches in den Hintergrund gerät. In informellen, nicht massenmedial konstituierten Kontexten wird mit dem Skandal eine Art Ausnahmesituation hergestellt, in der die Feinheiten des Informationsverkehrs dadurch aufgehoben werden, dass „everyone knows that everyone knows“ (Merry 1984, 275). Auf diese Weise entsteht eine subkutane Öffentlichkeit, die nur schwer mit den Begriffen eines modernen Öffentlichkeitsverständnisses zu fassen ist, da sie in gesellschaftlichen Organisationsformen entstanden ist, denen solche Formen ‚sozialisierter Kommunikation‘ nicht zur Verfügung standen. John B. Thompson (2000, 31–59) zeigt in seiner kurzen Mediengeschichte des politischen Skandals, dass Skandalisieren eine Kommunikationspraxis ist, die zwar sehr früh in der medialisierten politischen Kommunikation (z.B. in Flugblättern) aufgegriffen wurde, mit
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dem Entstehen der modernen Massenpresse im 19. Jahrhundert jedoch ausgebaut und dadurch verändert wurde. Skandalisieren wurde immer mehr zu einem Grundmodus massenmedialer Kommunikation, da die Stilisierung eines Ereignisses zu einem Skandal einen eigenen Nachrichtenwert bekam. Mit seinem Übergang in die Massenmedien verändert der Skandal seine soziale Kontextualisierung, indem er an deren kommunikative Möglichkeitsbedingungen angebunden wird. Mit Bezug auf Thompson (2000, 60–71) und die zuvor vorgenommenen Ausführungen zum kommunikativen Kontext massenmedialer Diskurse lassen sich dabei drei Dinge hervorheben. Erstens verändern sich so die Möglichkeiten der Bezugnahme auf Normverstöße, die mit dem gesamten Arsenal medialer Darstellungsformen an die Öffentlichkeit gebracht („modes of disclosure“, 66) und darin weiterkommuniziert („modes of disapprobation“, 66) werden können. Dadurch können andere Normverstöße in den Fokus rücken, und die Diskursivierung des Skandals hängt nun allein an den Selektionsmechanismen und dem Normverständnis der Massenmedien. Zweitens erlangen Skandale durch ihre Medialisierung eine größere Evidenz, da sie nicht mit der Flüchtigkeit direkter Kommunikation behaftet sind und vielfältigere Möglichkeiten einer transkriptiven Verbreitung bekommen. Drittens wird so eine stärkere gesellschaftliche Entgrenzung des Skandals und der daran gekoppelten Moraldiskurse möglich. Damit verändern Skandale ihre Gestalt, die an die Berichterstattungsmuster der Medien angelagert ist. Dieser Aspekt lässt sich auf verschiedenen Ebenen mit spezifischen Weisen des Schreibens, Thematisierens und Meinens verfolgen, in denen in der Skandalkommunikation Praktiken des sozial strukturierten Klatsches in solche der öffentlich strukturierten Massenmedien eingeschmolzen werden. Die daraus resultierende Formung von Skandalen hat auch Folgen auf den Moraldiskurs, der im Modus des Skandals vollzogen wird. Soziologisch lässt sich die Funktion der medialen Thematisierung von Normverstößen im Skandal als „eine laufende Selbstirritation der Gesellschaft, eine Reproduktion moralischer Sensibilität auf individueller wie auf kommunikativer Ebene“ (Luhmann 1996, 64) umschreiben, mit der das „Bewusstsein für Grenzen“ (Hondrich 2002, 60) geschärft wird. Die Anlagerung eines Moraldiskurses an „Grenzen [...], die durch Machtübergriffe einer Sphäre auf andere Sphären verletzt werden“ (46), ist im massenmedialen Skandal immer – und das ist sein erstes diskursanalytisches Kennzeichen – an konkrete Fälle, Personen und Verhaltensweisen angelehnt, über deren Einbeziehung Moral gesellschaftlich konstituiert wird. Diese Verknüpfung hat zur Folge, dass die Art und Weise, wie im Skandal Werte und Normen austariert werden, selbst einer bestimmten Begrenzung unterliegt. Ein Skandal stellt – und das ist sein zweites diskursanalytisches Kennzeichen – ein „middle-order moral event“ (Tomlinson 1997, 67) dar, das sich für den britischen Mediensoziologen John Tomlinson durch drei Eigenschaften von übergreifenden philosophischen oder akademischen Moraldiskursen unterscheidet: Scandals, by contrast, seem to engage people very sucessfully (if only transitory), partly as a function in the way they are narrated by the media, partly since their moral content is concretized in the example of individual actions, but also partly be-
220 | MEDIEN UND KOMMUNIKATION cause they often pose genuine moral issues that are recuperable to – that resonate with – the everyday experience of large numbers of people. (Tomlinson 1997, 68)
Anschließend weist Tomlinson auf die soziologischen Konsequenzen hin, die eine solche diskursive Einordnung von Skandalen nach sich zieht. Die Begrenzung der Diskursivierung von Moral im Skandal dürfe nicht als eine Trivialisierung von Skandalen verstanden werden. Ganz im Gegenteil liege genau hier ihre soziologische Bedeutung. Skandale ermöglichen gerade durch ihre oftmals banalen Ausgangspunkte eine breite gesellschaftliche Fokussierung auf normative Fragen, die im Alltag komplexer Gesellschaften ansonsten nur in abgeteilten Bereichen und Diskursen angesprochen werden. Diskursanalytisch gewendet heißt das, die besondere diskursive Bedeutung medialer Skandale erwächst nicht nur aus der quantitativen medialen Aufmerksamkeit, die auf der öffentlichen Transformation nicht-öffentlicher Ereignisse beruht. Skandale bieten durch ihr inhärentes Erregungspotenzial, ihre ambivalente Mischung von Moral und Voyeurismus, ihr Spiel mit Grenzen und Grenzübertretungen eine umfangreiche Projektionsfläche, die ihnen eine übergreifende diskursive Anschlussfähigkeit und somit eine herausragende Relevanz für die Diskursivierung des Alltags verleiht. Diskurstheoretisch lassen sich Skandale als effektive mediale Strategien zur Produktion von Normalität begreifen. Sie ermöglichen im heterogenen Feld der Massenmedien eine breite Verknüpfung und Anbindung der Kommunikation an vielfältige Ereignisse, die als personalisierte bad news ausgestellt werden können. Gleichzeitig ermöglicht der performative Akt der Skandalisierung durch seine unterschwellige Einforderung von Normalität, deren Existenz in der unterstellten Grenzverletzung auf dem Spiel steht, eine Zurückschreibung der Welt in den Bereich des Normalen. Skandale lassen sich somit als ein geradezu idealtypisches Beispiel für den evidenten Normalisierungsprozess der Massenmedien betrachten. (3) Moral Panic. Wenn Klatsch die alltagspraktische Unterebene von Moraldiskursen im Modus des Skandals bildet, lässt sich mit dem Konzept der Moral Panic gewissermaßen auf deren medialisierte ‚Überebene‘ verweisen. Der Begriff ‚Moral Panic‘ geht zurück auf die britischen Soziologen Stanley Cohen und Jock Young (1973), die sich Anfang der 1970er Jahre mit der medialen Diskursivierung normabweichender Verhaltensweisen im Umfeld jugendlicher Subkulturen auseinandergesetzt haben (McRobbie/Thornton 1995). Bekannt geworden ist der Begriff insbesondere mit Cohens Buch FOLK DEVILS AND MORAL PANICS (1980, original 1972). Darin werden die in den Massenmedien sehr stark dramatisierten gesellschaftlichen Reaktionen auf die teils gewalttätigen Auftritte von Mods und Rockern im England der frühen 1960er Jahre beschrieben. Cohens Argument lautet, dass sich im Verlauf der Berichterstattung eine Art gesellschaftliche Hysterie, Angst oder eben Panik herausgebildet habe, die nicht mehr nur mit den Anlässen (vereinzelten Ausschreitungen) zu erklären sei: „The mods and rockers symbolized something far more important than what they actually did“ (192). Die eigentliche gesellschaftliche Bedrohung geht in Cohens Analyse weniger von einem tatsächlichen kriminellen Potenzial der Subkultur aus als vielmehr von den in der Subkultur zum Ausdruck kommenden abweichenden Lebenswei-
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sen, die von der Mehrheitsgesellschaft als Infragestellung ihrer Wertebasis betrachtet und insofern als allgemein bedrohlich thematisiert werden. Cohens Studie ist keine reine Medienanalyse, da sie die Reaktionen anderer gesellschaftlicher Kräfte mit einbezieht. Dennoch misst Cohen der symbolischen oder diskursiven Bearbeitung subkultureller Erscheinungsweisen durch die Massenmedien eine besondere Bedeutung zu. Denn sie stellen das entscheidende Bindeglied dar, über das ein spezifischer Moraldiskurs in der Gesellschaft implementiert wird. Cohen stellt die These auf, dass die Konstruktion von Moral Panic einem typischen Verlauf unterliegt, in dem die Berichterstattungsmuster der Massenmedien, wie sich mit Verweis auf neuere Studien ergänzen lässt (vgl. Critcher 2003), ähnlich wie das bei Skandalen der Fall ist, den entscheidenden Faktor der Strukturierung einnehmen: Societies appear to be subject, every now and then, to periods of moral panic. A condition, episode, person or group of persons emerges to become defined as a threat to societal values and interests; its nature is presented in a stylized and stereotypical fashion by the mass media; the moral barricades are manned by editors, bishops, politicians and other right-thinking people; socially accredited experts pronounce their diagnoses and solutions; ways of coping are evolved or (more often) resorted to; the condition then disappears, submerges or deteriorates and becomes more visible. Sometimes the subject of the panic is quite novel and at other times it is something which has been in existence long enough, but suddenly appears in the limelight. Sometimes the panic passes over and is forgotten, except in folklore and collective memory; at other times it has more serious and long-lasting repercussions and might produce such changes as those in legal and social policy or even in the way society conceives itself. (Cohen 1980, 9)
In diesem Zitat findet sich die Kernidee von Cohens Konzept der Moral Panic (vgl. Thompson 1998, 8; Critcher 2003, 9). Im Anschluss an Cohen wurde sein Ansatz in verschiedene Richtungen erweitert und verändert (vgl. Goode/Ben-Yehuda 1994, 124–143), indem beispielsweise auf die strategische Inbeschlagnahme von Moral Panic durch politische Akteure und Bewegungen im Kampf um kulturelle Hegemonie abgehoben wird (vgl. Hall 1978). Bereits an Cohens Studie lassen sich jedoch zwei Dinge herausstellen, die es erlauben, über den Begriff ‚Moral Panic‘ eine distinkte Formierung bei der Diskursivierung von Moral kenntlich zu machen. Im Gegensatz zu Skandalen, an deren Beginn typischerweise eine Handlung steht, die als ein personalisierter Normverstoß in einem bestimmten Kontext ausgelegt werden kann, verweisen Moral Panics auf Normkonflikte innerhalb kulturell differenzierter Gesellschaften, die nicht auf einzelne Fehltritte zurückgeführt werden können, sondern mit denen tiefer liegende, soziokulturelle Konflikte zum Ausdruck gebracht werden (sollen). Man kann folglich sagen, am Konzept der Moral Panic wird erstens deutlich, dass es im Moraldiskurs der Massenmedien komplexer Gesellschaften Normkonflikte gibt, die nicht über eine Skandalisierung Einzelner aus der Welt geschafft werden können. Denn in diesen Fällen stehen den Medien von vornherein keine Sanktionsmechanismen zur Verfügung, durch die – zum Beispiel über die performativen Akte der personalisierten, medialen Produktion von Scham – eine Auflösung des
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Konflikts bzw. dessen Rückführung in den Raum einer Normalität erreicht werden könnte. Die fehlende Möglichkeit zur Personalisierung führt zweitens dazu, dass Moral Panics eine andere intertextuelle Dramaturgie aufweisen als Skandale. Am Leben gehalten werden sie in den Medien weniger durch Twists, die als second-order trangressions den Diskursverlauf verändern können, als vielmehr durch ein spiralförmiges aufschaukeln der kommunikativ konstruierten Bedrohung durch neu konnexierte Ereignisse, mit denen die Bedrohlichkeit des Phänomens zu steigern oder zumindest am Leben zu halten versucht wird (Thompson 1998, 16). Moral Panics stehen für „the increasingly rapid succesion of scares in the mass media about risks to the social or moral order“, bei denen die Normalisierungsfunktion der Massenmedien selbst auf dem Spiel steht. Panikdiskurse entstehen, weil die Rückführung der Normverletzung, anders als das beim Skandal der Fall ist, nicht über die medialen Verfahren selbst möglich erscheint. Sie lassen sich damit als Ausformungen oder Unterformen eines modernen Risikodiskurses (vgl. Beck 1986) betrachten, in dem die moralische (und nicht etwa die ökologische oder militärische) Ordnung der Gesellschaft in den medialen Blick gerät, dem nicht die Verhaltensweisen Einzelner, sondern größerer Gruppen oder Teile der Gesellschaft als deviant erscheinen. Gleichwohl sie sich so von der Diskursivierung von Moral im Modus des Skandals unterscheiden, können die Berührungspunkte zwischen Skandal und Moral Panic als fließend begriffen werden: The media scandal and the moral panic are not mutually exclusive. The behaviour of individuals who create scandals can even stimulate a moral panic when their actions are interpreted as symptomatic of a larger social problem. Furthermore, in many scandals the manner of the moral violation overshadows the actual persons involved. (Lull/Hinermann 1997, 4)
Zusammenfassend lassen sich mit den Begriffen ‚Skandal‘ und ‚Moral Panic‘ unterscheidbare Ausformungen der medien-öffentlichen Thematisierung moralischer, normativer oder soziokultureller Konflikte beschreiben. Gleichwohl sie sich so als unterscheidbare intertextuelle bzw. transkriptive Kommunikationstypen bestimmen lassen, bleiben sie in der Realität der Massenmedien an die Besonderheiten ihres Auftretens gebunden, die nicht mit dem modellhaften Typ übereinstimmen müssen. Bei der Analyse medialer Diskurse ermöglicht die Identifikation einzelner Elemente dieser Typen die Bestimmung der gesellschaftlichen Relevanz, die einem Thema in der Öffentlichkeit zufällt, und die Beschreibung und Einordnung des intertextuellen Verlaufs, der einer Debatte eigen ist.
T EIL 3 E IN M EDIENDISKURS : Z UR S KANDALISIERUNG VON P RIVATHEIT IN DER G ESCHICHTE DES F ERNSEHENS
VORBEMERKUNG Diskursanalyse ist darauf ausgerichtet, die Anordnungen offenzulegen, in denen Wissen in einer Gesellschaft abgelegt ist und prozessiert wird. Das geschieht, indem versucht wird, die oberflächliche Ordnung oder ‚Logik‘, in der sich das Wissen präsentiert, aufzubrechen und neu zusammenzufügen. Das Ziel dieser Prozedur ist die Beschreibung der Konstruktionsweisen, die mit der Ausbildung des Wissen verbunden sind, das sich dem Betrachter auf der Oberfläche zur Ansicht bietet. Diese Konstruktionsweisen beziehen sich auf die jeweiligen Diskurspraktiken, die als Grundvoraussetzung einer jeden Wissensordnung betrachtet werden. Die methodische Herangehensweise der Diskursanalyse baut in dem hier praktizierten Verständnis auf die theoretische Vorüberlegung, dass die zu entdeckende Ordnung eines Diskurses weder ein (ab-)geschlossenes, fixes System darstellt, das sich beispielsweise durch die Benennung eines Codes identifizieren ließe, noch dass es sich dabei um den Ausdruck einer invarianten Struktur handelt, die in einer einfachen Schematik ihre Entsprechung finden könnte. Die Ermittlung einer Wissensordnung verläuft deshalb über die methodisch angeleitete Kristallisation von Aussagen, die als konstitutiver Ausdruck eines Diskurses verstanden werden. Die Diskursanalyse zielt schlussendlich darauf ab, diese Aussagen in einen Interpretationskontext einzufügen. Was bedeutet diese Grundeinstellung für die wissenschaftstheoretische Ausrichtung dieser Diskursanalyse? In einem Aufsatz über SOZIALWISSENSCHAFTLICHE DISKURSANALYSE IN DEUTSCHLAND (2005) fragt der Soziologe Johannes Angermüller nach dem wissenschaftstheoretischen Grundverständnis neuerer Forschungsansätze, die sich grob einem Foucaultschen Diskursbegriff zurechnen lassen. Gemeinsam sei diesen, dass sie eine konstruktivistische Grundausrichtung haben, also an eine erkenntnistheoretische Position anschließen, mit der „jede Form der Kognition, Wahrnehmung und Erkenntnis […] als eigenständige aktive Konstruktion eines Beobachters und nicht als passive Abbildung aufgefasst“ (Kneer 1999, 299) wird. Davon ausgehend lässt sich in diesen Ansätzen nach Angermüllers (2005, 28) Lesart „eine ›rekonstruktive‹ und eine ›dekonstruktive‹ Tendenz“ ausmachen. Einen ‚rekonstruktiven Konstruktivismus‘ kennzeichne der Verzicht einer „privilegierten Beobachterposition“ sowie die Absicht, „das implizite Wissen, die intersubjektiven Deutungsmuster, den sozialen Sinn bzw. die geteilte Kultur eines Handlungszusammenhangs […] zu erfassen“. Ein ‚dekonstruktiver Konstruktivismus‘ gehe im Gegensatz dazu von keinem „intersubjektiv geteilten Sinn aus, der darauf wartet, verstanden und rekonstruiert zu werden“ (29). Denn das „sprechende und handelnde Subjekt“ sei „seines originären sinnkonstitutiven Ortes in der sozialen Welt verlustig gegangen“ (ob das auch für den dekonstruktivistischen Diskursanalytiker gilt, lässt Angermüller offen). Im An-
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schluss an diese elementare Differenz, die sich auch als Unterschied zwischen interpretativer Soziologie und radikalem Konstruktivismus beschreiben lässt, ordnet Angermüller eine Reihe neuerer Diskursanalysen diesen beiden Richtungen genauer zu, sodass es sich anbietet, den hier entwickelten medienwissenschaftlichen Ansatz mit dieser „Kartierung“ in Beziehung zu setzen. Angermüller macht die unterschiedlichen Zugänge zum Diskurs an fünf Aspekten fest, die sich zu Fragen an die Diskursanalyse umformulieren lassen (38ff.): Bezieht sich die Analyse auf den Handlungsraum von Subjekten oder auf entsubjektivierte Zeichengebilde? Steht hinter dem Diskurs ein intersubjektiver Sinn oder das Verlangen eines symbolischen Mangels? Dient die Analyse der Ermittlung von Inhalten, die im Diskurs verborgen liegen, oder der Offenlegung von Form/Inhalt-Relationen? Soll der methodische Zugang das Material ‚zum Sprechen‘ bringen oder ein Konstrukt erzeugen, mit dem vorhandenes Wissen gebrochen wird? Folgt die Auswertung dem „Ideal“ einer ‚dichten Beschreibung‘ oder der Schaffung einer „intervenierenden Praxis“ (44)? Abschließend merkt Angermüller an, dass diese Gegenüberstellung keine „binäre Opposition“ darstelle, in die sich Diskursanalysen zwangsläufig einfügen müssen. Dieser selbst formulierte Widerspruch lässt sich auch aus der Perspektive dieses Ansatzes gegen die konstruierte Frontstellung anbringen, ohne ihren Gebrauchswert zu schmälern. Eine medienwissenschaftliche Diskursanalyse, wie sie in dieser Arbeit vertreten wird, zielt auf die Vermittlung zwischen einem (sozialwissenschaftlich geprägten) handlungstheoretischen und einem (geisteswissenschaftlich geprägten) zeichentheoretischen Zugang zum Phänomen des Diskurses. Das ist nicht der Ausdruck eines Mangels an disziplinärer oder wissenschaftsideologischer ‚Reinheit‘, sondern die beabsichtigte Folge eines auf Foucault zurückgehenden Diskursverständnisses, in dem diese beiden Perspektiven bereits indirekt angelegt sind, indem sie in ihrer Ausschließlichkeit zurückgewiesen werden. Foucault war weder strukturalistischer Kultursoziologe noch poststrukturalistischer Dekonstruktivist, weder Bourdieu noch Derrida – womit nicht ausgeschlossen werden soll, dass sich seine Überlegungen in die eine oder andere Richtung verschieben lassen. Aus diesem Grund wird das hier gewählte Vorgehen in Abgrenzung zu den von Angermüller erstellten, antagonistischen Typen als Transkonstruktion bezeichnet. Dieser Terminus soll einerseits die ‚wissenschaftsideologische‘ Offenheit dieses Ansatzes hervorheben. Andererseits soll verdeutlicht werden, dass die Diskursanalyse selbst eine transkriptive Kommunikationspraxis ist. Als solche bringt sie einen spezifischen Diskurs überhaupt erst aus dem unablässigen Strom der gesellschaftlichen Kommunikation zum Entstehen, ohne den Anspruch erheben zu können, en miniature das Modell einer ‚äußeren Realität‘ nachzubilden. Dieser Vorgang ist jedoch zugleich an bestimmte reglementierende Verfahrensweisen gebunden, denen die Aufgabe zukommt, die Analyse am empirischen Material auszurichten und nicht von vornherein als eine ‚widerständige‘ (politische) Praxis zu stilisieren. Die medienwissenschaftliche Ausrichtung legt den Schwerpunkt auf die von Angermüller (2005, 44) als „zeichentheoretisch“ benannte, also nicht originär soziologische Perspektive. Diese ist allerdings nicht dekonstruktivistisch ver-
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engt, sondern medientheoretisch erweitert, wie das im vorangehenden Teil über ‚Medien und Kommunikation‘ ausgeführt wurde. Die interpretative Analytik der Diskursanalyse bedient sich somit verschiedener Techniken, die sich aus einer Grundvorstellung der Funktionsweise des Prozesses der Wissensproduktion ableiten und die sich in Bezug auf den hier analysierten Mediendiskurs als institutionalisierte, prozessualisierte, sozialisierte und spezifizierte Kommunikation beschreiben lassen. Dieser Vorgehensweise liegt die Kernüberlegung zugrunde, dass sich Diskurspraktiken in Abhängigkeit voneinander ausbilden und in gegenseitiger Orientierung aneinander vollzogen werden. Das konkrete Ziel der Analyse besteht darin, die für einen Diskurs charakteristischen Aussagen aufzufinden, zu beschreiben, zu gewichten und miteinander in Beziehung zu setzen. Mit Bezug auf den medienöffentlichen Diskurs bilden diese Aussagen die letzte Stufe in der Ausbildung öffentlicher Meinungen, die das Ergebnis eines kollektiven Kommunikationsprozesses der Formung, Verdichtung und Verbindung von Wissen darstellen. In diesem Teil wird das zuvor entwickelte Verständnis einer medienwissenschaftlich ausgerichteten Diskursanalyse konkretisiert – als Transkonstruktion eines Mediendiskurses über die printmediale Kritik der Inszenierung von Privatheit im Fernsehen. Dazu wird die Analyse in vier Kapiteln entfaltet. Zunächst wird die inhaltlich-thematische Ausrichtung umrissen, die den Diskurs bestimmt (Privatheit im Fernsehen). Anschließend wird die methodische Vorgehensweise erläutert, mit der die Analyse in einen schrittweisen Prozess der Korpusbildung und Auswertung zerlegt wird (Methodisches Vorgehen), ehe die interpretierende Transkonstruktion folgt, die den eigentlichen Kern der Diskursanalyse darstellt (Analyse). Abschließend werden die Ergebnisse der Diskursanalyse in einen breiteren historischen Kontext eingeordnet (Privatheit im Diskurs der Fernsehkritik).
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Diskursanalyse ist mit der Idee verbunden, das nach bestimmten Kriterien selektierte Diskursmaterial, so weit als möglich ‚zum Sprechen‘ zu bringen, um relevante Aussagen über die gesellschaftliche Produktion eines bestimmten Wissensbereichs machen zu können. Auf diese strategische Ausgangsposition bezieht sich die Bezeichnung Transkonstruktion. Für die thematisch-inhaltliche Kontextualisierung hat das zwei Folgen. Auf der einen Seite ist es sinnvoll, die Analyse von vornherein in einen größeren Diskurskontext einzugliedern, auf der anderen Seite darf dieser Kontext die Analyse nicht überlagern. Das ist gerade im Hinblick auf massenmediale Diskurse zu beachten. Denn allzu leicht unterliegt die Analyse der Versuchung, bereits im Vorfeld aus einem wissenschaftlichen (oder ideologischen) Wissen heraus die ‚eigentlichen‘ Diskurse vorzugeben, in denen die ‚relevanten‘ Themenstränge und Positionen gebildet werden und in denen die ‚richtigen‘ Begriffe liegen, an welchen dann der medienöffentliche Diskurs zu messen sei. Die zu beschreibenden Diskursstränge und die hier vorgenommene thematische Rahmung stehen in einem doppelten Verhältnis zueinander. Einerseits bildet wissenschaftliches Diskurswissen sowohl den Zugang als auch den einzig möglichen Maßstab jeder Urteilsbildung in der Auseinandersetzung mit der massenmedialen Diskursivierung von Privatheit, andererseits sollen die akademischen Diskurse in einer gewissen Distanz zur Analyse verbleiben. Ihre Bedeutung liegt zuvorderst darin, mögliche Relevanzkontexte in der Ausbildung des massenmedialen Wissens zu skizzieren. Damit bleibt der wissenschaftliche Diskurs zwar erkenntnisleitend, er muss jedoch mit einer gewissen Sorgfalt auf die Transkriptionsprozesse der Medien bezogen werden. Konkret bedeutet das, dieses Kapitel dient nicht dazu, Hypothesen aufzustellen, die es in der Analyse zu verifizieren gilt. Die skizzierten Themenfelder dienen in erster Linie einer besseren Orientierung, durch die die inhaltliche Anbindung und Einordnung der Diskursstränge des Mediendiskurses verständlicher werden soll. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der methodischen Ebene liegt, erfolgt die Skizzierung des thematischen Rahmens sehr pointiert. Ausgehend von einer Einführung in Diskurse über Privatheit umreißt sie die Problematik der Einbeziehung des Privaten in die Öffentlichkeit der Medien (Medialisierte Privatheit).
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Privatheit In der Vorbemerkung zu einer Geschichte der GRENZEN UND ZONEN DES PRIim 20. Jahrhundert, mit der der fünfte Bande der von den französischen Historikern Philipp Ariès und Georg Duby herausgegebenen HISTOIRE DE LA VIE PRIVÉE (1985ff.) eröffnet wird, schreibt Antoine Prost (1993, 17), das Private sei keine „Naturtatsache“, sondern eine „geschichtliche Wirklichkeit, die von den einzelnen Gesellschaften in unterschiedlicher Weise konstruiert“ werde. Philippe Ariès (1991, 7) geht in der Einleitung zu einem anderen Band der GESCHICHTE DES PRIVATEN LEBENS soweit, das gesamte Projekt in Frage zu stellen, weil mit dem Begriff des Privaten zu unterschiedliche „Befindlichkeiten und Werte“ verbunden sein könnten, zwischen denen im Raum der Geschichte vielleicht gar „keine Kontinuität in der Differenz“ bestehe. Und Gérard Vincent (1993, 10) weist in der Einleitung zum fünften Band darauf hin, dass es selbst innerhalb eines Zeitraums „unmöglich (unseriös)“ sei, „die Opazität des Mafioso-Daseins neben die – vielleicht illusorische – Transparenz schwedischer Bürgerlichkeit“ zu stellen. Und selbst die Beschränkung auf einen Kulturraum, so schreibt er weiter, sei noch mit der Schwierigkeit behaftet, die „singuläre Lebenspraxis“ von Millionen hinsichtlich ihres jeweiligen Umgangs mit Privatheit „klassifizieren“ zu wollen. Das Problem der Bestimmung von Privatheit hängt damit zusammen, dass mit dem Begriff die gesamte kulturelle Disposition einer Gesellschaft verbunden ist, die mit der gesellschaftlichen Komplexität wächst. Ariès und Duby lassen ihre Geschichte mit dem Römischen Imperium beginnen, der Philosoph Raymond Geuss (2002) setzt an den Anfang ihrer Genealogie eine Szene, die sich auf dem Marktplatz im antiken Athen zugetragen haben soll. Wenngleich es also schon seit langer Zeit ein ‚privates Leben‘ gibt, Privatheit vielleicht sogar dort vorhanden war, wo es noch nicht einmal ein Bewusstsein von ihr gab (Ariès 1991, 7), und bereits seit langer Zeit normative Konzepte des Privaten bestehen, so lässt sich dennoch die Moderne als der eigentliche Fluchtpunkt des Diskurses über Privatheit betrachten. Denn erst mit der im weitesten Sinne liberalen Idee einer modernen, demokratischen, kapitalistischen Gesellschaft erlangte das Private eine herausgehobene, konstitutive Bedeutung. Dieses moderne Verständnis von Privatheit wird nun von zwei Seiten erläutert: über einen begriffstheoretischen und einen kulturgeschichtlichen Zugang. VATEN
‚Great dichotomy‘ Ein Blick in Grimms (1991, 2137) Wörterbuch von 1889 weist in die Richtung, aus der man dem Privaten auf die Spur kommen kann: In seiner adjektivischen Form wird es dort als „amtlos, besonders, geheim, unöffentlich, persönlich, häuslich, überhaupt dem amtlichen, öffentlichen, allgemeinen, gemeinsamen entgegengesetzt“ umschrieben. Mit anderen Worten ist das Private wesentlich über den Gegenbergriff des Öffentlichen zu erschließen, sodass es nicht eindeutig definiert, sondern nur in Relation betrachtet werden kann. Hier setzt auch der italienische Demokratietheoretiker Norberto Bobbio (1989) an, wenn er über die GREAT DICHOTOMY: PUBLIK/PRIVATE schreibt.
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Bobbio erläutert in seinem ideengeschichtlich ansetzenden Aufsatz, dass die Dichotomie privat/öffentlich auf vier verschiedene Arten aufeinander bezogen sein könne: Erstens können die beiden Seiten der Dichotomie „either be defined independently of each other or else only one is defined while the other is defined negatively with respect to it” (2); letzteres habe zur Folge, dass das definierte Element eine größere Bedeutung habe („private is often defined as ›not-public‹“). Zweitens könne es vorkommen, dass die Unterscheidung privat/öffentlich für weitere, spezifischere Differenzierungen stehe, wie sie (politisch) in dem Gegensatz einer Vereinigung von Gleichen und Ungleichen oder (juristisch) in dem von Gesetz und Vertrag zum Tragen kommen. Drittens könne die Unterscheidung aus einer normativen Perspektive vorgenommen werden, aus der einem der Elemente ein Vorrang eingeräumt werde („the primacy of private“ vs. „the primacy of public“, 10–15). Und viertens könne eines der Elemente durch einen weiteren Begriff ersetzt werden, wodurch sich Dichotomien wie public vs. secret (17) oder publicity vs. invisible power (18) ergeben können. Bobbios Systematik verdeutlicht sowohl die gesellschaftstheoretische Bedeutung als auch die semantische Offenheit der Dichotomie. Privatheit und Öffentlichkeit sind die zwei Seiten der gleichen Medaille im Diskurs der Moderne, die auf sehr verschiedene Bereiche Anwendung finden können. Das zeigt auch ein zweiter Blick in Grimms (1991) Wörterbuch. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts konstatieren dort die Autoren, die Komposita von ‚privat‘ haben sich in den letzten 100 Jahren „ins unerschöpfliche“ (2138) vermehrt. Mit Bezug auf die von dem Kommunikationswissenschaftler Ralph Weiß (2002b) vorgenommene Erschließung der Dichotomie zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, lassen sich drei wesentliche Diskursbereiche unterscheiden, in denen dem Privaten eine wichtige Rolle zufällt: Erstens steht es in Verbindung mit einer „Privatmacht“, mit der „die individuelle Verfügung über Güter und Dienstleistungen“ sichergestellt werden soll – das Private hat in einem ökonomischen Diskurs die Funktion, eine „Gesellschaft von Privateigentümern“ zu begründen (30). Zweitens ist es mit der Idee der „Privatleute“ verbunden, die „gegenüber […] der verselbstständigten bürokratischen Apparatur des Staates den Anspruch auf Teilhabe an der Gestaltungsmacht der öffentlichen Gewalt geltend“ machen – das Private hat im politischen Diskurs die Funktion, die „Freiheit des Staatsbürgers“ gegenüber der Autorität des Leviathan abzugrenzen (32). Und drittens steht es in Verbindung mit der sozialräumlichen „Sphäre der Häuslichkeit“, in der es dem „subjektiven Maß der Selbstverwirklichung“ zur Geltung verschaffen soll (33) – das Private hat in einem soziokulturellen Diskurs die Funktion, die Gestaltungsspielräume des individuellen Lebens gegenüber den Außenwelten festzulegen. Dabei ist zu beachten, dass die gewachsene Bedeutung der Dichotomie, gerade weil sie ein zentrales Charakteristikum des modernen Denkens darstellt, das zu einer Selbstverständlichkeit ökonomischer, politischer und soziokultureller Diskurse geworden ist, einer diskursiv produzierten Kraft entspringt, deren Entgegensetzung nicht zwangsläufig eine Entsprechung in der gesellschaftlichen Realität finden muss (vgl. Weintraub 1997). Auch lässt sich die Problematik der great dichotomie noch steigern, wenn man die beschriebenen drei diskursiven Funktionszuschreibungen gegeneinander aus-
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spielt. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob sich die ökonomisch, politisch und soziokulturell behaupteten Wertigkeiten des Privaten in ein einheitliches Bild einfügen, miteinander kollidieren oder „untereinander nicht sonderlich eng zusammenhängen“ (Geuss 2002, 128). Für die Diskursanalyse lassen sich aus diesen Annäherungen an den Privatheitsbegriff zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen ist es sinnvoll, die Erschließung eines Diskurses über Privatheit an die Erschließung eines Diskurses über Öffentlichkeit anzubinden. Zum anderen muss beachtet werden, dass sich Diskurse über Privatheit (und insofern ist der Begriff eigentlich trügerisch) in mannigfacher Gestalt verbergen können. Privatheit ist in verschiedene Diskurse eingebunden, von denen jeder einzelne bestimmte semantische Felder abdeckt, die sich je nach Zugangsweise anders darstellen können und von denen die nachfolgende Diskursanalyse ihr hauptsächliches Augenmerk auf jene richtet, die mit soziokulturellen Aspekten in Zusammenhang stehen.
Privatheit und Soziokultur In der bereits angeführten Vorbemerkung umreißt Antoine Prost (1993, 17) den Rahmen einer Geschichte der GRENZEN UND ZONEN DES PRIVATEN im 20. Jahrhundert folgendermaßen: Es gibt nicht ›das‹ private Leben mit ein für allemal festgelegten Schranken nach außen; was es gibt, ist die – selber veränderliche – Zuschreibung menschlichen Handelns zur privaten oder zur öffentlichen Sphäre. Privates Leben zieht seinen Sinn aus der Differenz zum öffentlichen Leben, und seine Geschichte ist vor allem die seiner Definition: Wie hat sich die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit […] entwickelt? Welche Wandlungen hat die Privatsphäre erfahren? Die Geschichte des privaten Lebens beginnt mit der Geschichte seiner Markierungen. (Prost 1993, 17)
Diese „Markierungen“ lassen sich nicht als eindeutige Codierungen erkennen, sondern bilden, wie Prost fortfährt, ein „Netz von Geboten und Verboten“, die zeitlich, räumlich und sozial variabel sind. Aus diesem Netz lassen sich mit nochmaligem Rückgriff auf die Systematisierung von Weiß (2002b, 38–71) zwei Knotenpunkte herausgreifen, die für die soziokulturelle Diskursivierung von Privatheit eine besondere Bedeutung haben: (1) Privatheit und Gesellschaft und (2) Privatheit und Identität. (1) Privatheit und Gesellschaft. Folgt man Raymond Geuss’ (2002, 33) Genealogie der gesellschaftlichen Differenz von „public goods, private goods“ (so der Originaltitel von PRIVATHEIT. EINE GENEALOGIE), dann beginnt die Geschichte des Privaten mit der Produktion von „Schamlosigkeit“ im Angesicht einer Welt des Öffentlichen. In einer Grobform bedeutet das, in einer Gesellschaft existieren Normen, mit denen bestimmte Verhaltensweisen an bestimmte gesellschaftliche Bereiche angepasst werden sollen. In Geuss’ Beispiel sind das die Praktiken des Masturbierens und Essens, die auf der Agora Athens nicht gern gesehen waren. Sozial- und diskursgeschichtlich relevant wird der Zusammenhang von Privatheit und Gesellschaft mit dem in die Moderne einmündenden „Prozess der Zivilisation“, wie er von Norbert Elias (1997) beschrieben wurde. Im
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Mittelpunkt des Elias’schen Zivilisationsprozesses steht die Beobachtung, die Entwicklung westlicher Gesellschaften charakterisiere die Ausbildung und Zunahme von Lebenspraktiken, mit denen die Menschen ihre Affekte kontrollieren, um ihr Selbst für die Anforderungen des immer stärker differenzierten und funktionalisierten gesellschaftlichen Lebens zu disziplinieren. Elias will in verschiedenen kulturgeschichtlichen Exkursen zeigen, „wie etwa von den verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird“ (Bd. 2, 324). Für Elias errichtete sich auf diese Weise die moderne Zivilisation als eine interdependente und überindividuelle Ordnung, in der Gefühle wie Scham oder Peinlichkeit zum Indikator der verinnerlichten Mechanismen der Selbstkontrolle ‚zivilisierter‘ Menschen wurden. In der Aufspaltung des Lebens in private und öffentliche Räume manifestiert sich nach einem Elias’schen Verständnis die Zähmung des Menschen auf dem Weg in die Zivilisation. Anders herum lassen sich damit die Formen und Markierungen, über die bestimmte Verhaltensweisen mit den Geboten des Schamvollen besetzt werden – also: „welches Maß an Zurückhaltung die Menschen voneinander erwarten, wie stark die Empfindsamkeit gegenüber eigenen wie fremden Triebäußerungen sowie die Neigung schon entwickelt ist, sich und andere in Erscheinung und Verhalten zu beobachten“ (Neckel 1991, 125) –, als Indikatoren für den jeweiligen Grad an ‚Zivilisiertheit‘ interpretieren. Diese Kurzfassung von Norbert Elias’ Zivilisationstheorie bietet ein Beispiel für den diskursiven Zusammenhang von Privatheit und Gesellschaft. In diesem Kontext existieren auch andere Positionierungen, wie – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die umfangreiche Materialsammlung des Ethnologen Hans-Peter Duerr über den MYTHOS VOM ZIVILISATIONSPROZESS (2002). Für Duerr ist Scham „nichts anderes als eine Privatisierungsreaktion, eine Einschränkung der sexuellen Reizung anderer Personen“, der die Funktion der Verfestigung der „Paarbindung [innerhalb] der Gesellschaft“ zukomme (Bd. 4, 376). Wenngleich es sich bei Elias und Duerr um entgegengesetzte Positionen handelt, so heben sie doch gemeinsam auf die spezifische Bedeutung von Verhaltensnormen ab, die mit der Markierung einer Grenzziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zusammenhängen. Die Schärfe, mit der die Kontroverse zwischen Elias und Duerr geführt wurde (vgl. Hinz 2002), verdeutlicht darüber hinaus, dass die Diskursivierung von Privatheit und Soziokultur um die so elementare Frage der Funktionstüchtigkeit der empirischen Verfasstheit einer Gesellschaft kreist. (2) Privatheit und Identität. Eine weitere Unterkategorie der Distinktion privat/öffentlich, die einen soziokulturellen Diskurs betrifft, lässt sich auf den von Raymond Geuss (2002, 77–95) konstatierten Zusammenhang zwischen Spiritualität und Privatheit zurückführen. Ausgehend vom „augustinischen Modell philosophischer Reflexion“ sei das Private mit der Zeit zu einem „kognitivistischen Modell der Selbsterkenntnis“ umgedeutet worden, mit dem Privatheit jenen ideellen und praktischen Wert erlangt hat, den die Phi-
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losophin Beate Rössler (Rössler 2001, 25) „dezisional“ nennt. Mit dieser ‚dezisionalen Privatheit‘ ist der Anspruch auf einen (nicht nur räumlichen) Bereich verbunden, der von „Hineinreden, von Fremdbestimmen bei Entscheidungen“ freizuhalten sei, da er der Idee einer Verwirklichung der persönlichen Selbstentfaltung vorbehalten bleiben soll. In der Moderne ist dieser Aspekt des privaten Lebens mit der Etablierung der Idee der Familie verbunden, die – als bürgerliche Familie – im 19. Jahrhundert zum Äquivalent des privaten Lebens aufstieg: Die Bedeutung der Familie wandelte sich. Sie war nicht mehr – oder nicht mehr ausschließlich – eine Wirtschaftseinheit, für deren Reproduktion man alles andere opferte. Sie war nicht länger ein Ort des Zwangs und der Unterjochung des Individuums, das nur außerhalb der Familie frei sein konnte […]. Vielmehr wurde sie zum Refugium, wo man sich vor den Blicken der anderen verbarg; zur Szenerie des Gefühlsaustausches, in der sich emotionale Bindungen zwischen den Ehepartnern und zwischen Eltern und Kindern entfalteten […]. (Ariès 1991, 15)
Die Familie wurde so zur konstitutiven Voraussetzung einer modernen Form von Privatheit, die den Rahmen zur Verwirklichung individueller Vorstellungen des guten Lebens abgab. Diese bestanden (zunächst) hauptsächlich in der Besetzung der Rollen ‚Vater‘, ‚Mutter‘ und ‚Kind‘, auf deren Grundlage sich mit der Zeit neue Formen von Individualität aufbauten, durch die – vom Sozialraum der Familie ausgehend – „individualisierte Lebensentwürfe“ hervorgebracht wurden, „die sich von dem engen Zusammenhalt der Familie unabhängig“ (Weiß 2002b, 39) zu machen trachteten. Diskursanalytisch gesehen durchzieht den Zusammenhang zwischen Privatheit und Identität die Frage, wie sich in einer Gesellschaft die Persönlichkeit des Einzelnen ausbilden soll: Wo liegen die Grenzziehungen und Ansprüche, die ein einzelner Mensch gegenüber sozialen Institutionen wie der Familie oder der Gesellschaft als Ganzes für sich geltend machen darf? Und welche Erwartungen an Zugänglichkeit und Bereitschaft können umgekehrt kollektive Institutionen wie die Familie oder die Gesellschaft von dem Einzelnen abverlangen? Diese Fragen zeigen den weitreichenden Zusammenhang zwischen Privatheit und Identität, der an nicht weniger als die sozialphilosophische Frage nach dem guten und gerechten Leben gekoppelt ist.
Medialisierte Privatheit In welcher Beziehung stehen die zuvor umrissenen Formen von Privatheit zu den Medien? Ruft man sich noch einmal in Erinnerung, dass die Bereiche Privatheit und Öffentlichkeit in der Entwicklung komplexer, moderner Gesellschaften die zwei Seiten der gleichen Medaille bilden, ergibt sich eigentlich ein Definitionsproblem. Denn ausgehend von der Einordnung von Massenmedien als Materialisationen einer öffentlichen Kommunikationspraxis, stellt sich die Frage, wie diese mit dem Privaten interagieren kann. Unmittelbar ließe sich der Schluss ziehen, Privatheit und Massenmedien (=Öffentlichkeit) müssen sich grundsätzlich ausschließen, weil jedes Element
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nur auf einer Seite der Medaille angesiedelt sein kann – soll die great dichotomy nicht in Auflösung geraten. In dieser Beschreibung steckt bereits die wesentliche Essenz der diskursiven Problematisierung des Verhältnisses von Privatheit und Massenmedien, die in der Frage nach den grundsätzlichen soziokulturellen Folgen der Einbeziehung des Privaten in die Öffentlichkeit der Medien verborgen ist. Dazu lässt sich die Frage des Verhältnisses von Privatheit und Medien einleitend in zweifacher Hinsicht differenzieren. Erstens kann ihre Beziehung dahingehend konkretisiert werden, dass sie in kommunikative Akte eingebettet ist – als Thematisierung oder Inszenierung von Privatheit in der medialen Öffentlichkeit. Und zweitens ist die Dichotomisierung privat/öffentlich selbst das Resultat einer Festlegung, die besagt, es sei für bestimmte Gesellschaftsformen unerlässlich oder zumindest sinnvoll, diese Trennung vorzunehmen. Das heißt, die eindeutige Trennung privat/öffentlich ist keine zwangsläufige Tatsache des (alltäglichen) Lebens, sondern eine normative Zuschreibung – so beschreibt zum Beispiel Antoine Prost (1993, 166) die Nachbarschaft als einen typischen Zwischenbereich innerhalb des sozialen Raums von Privatheit und Öffentlichkeit. Dieses Verhältnis wird nun mit Blick auf die Analyse in zwei Abschnitten konturiert. Ausgehend von einer grundsätzlichen Beschreibung über zwei mögliche Zugangsweisen zum Problem der Medialisierung von Privatheit (Die Inszenierung des Privaten vs. das Private in der Inszenierung) wird die Beziehung von Privatheit und Fernsehen konkretisiert.
Die Inszenierung des Privaten vs. das Private in der Inszenierung Die Philosophin Beate Rössler identifiziert in ihrer Studie DER WERT DES PRIVATEN (2001, 305ff.) beim Aufeinandertreffen von Privatheit und Medien zwei „Schnittstellen“, die sich jeweils als eine Folge der diskursiven Perspektivierung des Verhältnisses darstellen – ähnliches implizieren auch Imhof (1998) und Weisbrod (2003) mit den Titeln ihrer Sammelbände. Mit dieser Betrachtungsweise lässt sich die Einbeziehung des Privaten in die Öffentlichkeit der Medien wechselseitig als (1) die Inszenierung des Privaten oder (2) das Private in der Inszenierung problematisieren. (1) Inszenierung des Privaten. Aus Sicht der Öffentlichkeit, d.h. ausgehend von einem Öffentlichkeitsbegriff, der auf einem Vorrang des Öffentlichen gegenüber dem Privaten beruht, wird die Schnittstelle privat/öffentlich unter dem Aspekt einer möglichen ‚Überformung‘ des Öffentlichen durch das Private betrachtet. Damit tritt die Frage nach den Grenzen der Inszenierung des Privaten in der Öffentlichkeit in den Mittelpunkt der Diskussion. Den Wertmaßstab der Beurteilung bilden damit mögliche Folgen, die sich „für den öffentlichen Raum“ ergeben können, „wenn ehemals Privates hier ungehemmt zum Thema gemacht werden kann“ (Rössler 2001, 322). Mit der Betonung des Öffentlichen wird somit auf die gesellschaftlichen Auswirkungen einer medialen Inszenierung oder Thematisierung des Privaten abgehoben. Rössler verdeutlicht diese Betrachtungsweise an Arbeiten des US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel (2002), der drei Bedeutun-
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gen einer Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem hervorhebt, die durch die Medien gefährdet seien: Diese Trennung ermöglicht zum einen soziale Beziehungen und Kommunikationen überhaupt, ohne sie würden Beziehungen im Chaos der jeweiligen privaten Gedanken, Intentionen, und daraus resultierenden Konflikten und Beleidigungen versinken. Zum Zweiten hat jene Trennung die Funktion, das je private individuelle Leben vor dem Zugriff anderer zu schützen und auf diese Weise allererst menschliche Freiheit zu ermöglichen, und zwar nicht nur im räumlichen Sinn, sondern im Sinn der sozialen Distanz. Und drittens schließlich öffnet sich mit dieser Trennung ein Zwischenbereich der Intimität, weil nämlich nur aufgrund jener Trennung Subjekte sich bestimmten anderen auf bestimmte Weise erschließen. (Rössler 2001, 323f.)
Ein genauerer Blick auf diese drei Argumente, zeigt, was Rössler nicht ausführt, dass in der Anwendung einer solchen Argumentation auf die Medien indirekt, weil von Nagel zu normativen Figuren geformt, verschiedene komplexe Theorien zur Anwendung kommen können, die mit mehr oder weniger direktem Bezug zu der Problematik des Privaten in den Medien formuliert sein können. So scheint im ersten Argument Norbert Elias’ Zivilisationstheorie auf, mit der an die Medien die Forderung herangetragen wird, im Umgang mit ‚privaten‘ Themen und Praktiken eine besondere moralische Sorgfalt an den Tag zu legen. Das zweite Argument (‚soziale Distanz schützen‘) verweist auf Richard Sennetts (1986) Verfallsgeschichte des öffentlichen Raums, den Sennett immer mehr von der Gefühlskultur der Intimität durchdrungen sieht, in deren „Besessenheit“ er „das Kennzeichen einer unzivilisierten Gesellschaft“ (427) erblickt. Im dritten Argument wird auf die Bedeutung des Geheimen abgehoben, wie es von Georg Simmel in einem Aufsatz über die PSYCHOLOGIE DER DISKRETION (1906) entworfen wurde. Für Simmel besteht die „soziale Funktion“ der Diskretion in der „›generellen Rätselhaftigkeit‹, die, gegeben durch die Fremdheit der Subjekte, das soziale Band der Beziehungen füreinander knüpft“ (Jung/Müller-Doohm 1998, 143). Denn ein wesentlicher Reiz des Sozialen erwachse erst daraus, dass „die Menschen füreinander ständige Geheimnisträger sind“. Und diese soziale Funktion werde in dem Maße schwächer, wie Privates immer selbstverständlicher in die Transparenzmaschinerie der Öffentlichkeit einbezogen wird. (2) Das Private in der Inszenierung. Wird das Verhältnis privat/öffentlich aus der entgegengesetzten Perspektive evaluiert, steht die Bedeutung des Privaten im Zentrum des Interesses. Der leitende Gesichtspunkt ist dann die Frage nach dem Grenzverlauf des Privaten in der öffentlichen Inszenierung, mit dem bestimmt werden soll, ab welchem Punkt der Medialisierung das Private aufhört ‚privat‘ zu sein und in die Gefahr einer Auflösung gerät. Für Rössler lässt sich dies „in doppelter Hinsicht problematisieren: erstens nämlich als die Inszenierung von Privatheit als Privatheit im öffentlichen Raum; und zweitens als die Inszenierung von Privatheit als Ver-Öffentlichung im öffentlichen Raum“ (Rössler 2001, 306). Damit ist das normative Kriterium genannt, an dem die Diskussion verläuft. Rössler verdeutlicht den Unterschied zwischen einer Inszenierung von Privatheit als ‚Privatheit‘ und als
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‚Ver-Öffentlichung‘ an dem Unterschied zwischen (mobilem) Telefonieren in der Öffentlichkeit, bei dem das Private ‚privat‘ bleibe, und dem Auftritt von Privatpersonen in Talkshows, wodurch eine „programmatische Preisgabe“ solchen Wissens drohe, „das eigentlich in den verborgenen Bereich dessen gehört, das allenfalls in nahen Beziehungen zum Thema erhoben wird“ (313). Der springende Punkt liege damit darin, dass „nicht mehr das Private als Privates, sondern das Private als Öffentliches“ in den öffentlichen Blick gerate. Die Beispiele ‚in der Öffentlichkeit telefonieren‘ und ‚in einer Talkshow sein‘ demonstrieren die Diskursverschiebung, die mit dem Wechsel der Perspektive von der ‚Inszenierung des Privaten‘ zum ‚Privaten in der Inszenierung‘ vorgenommen wird. In letzterer ist nämlich die Schwerpunktsetzung auf das Private gleichbedeutend mit einer Betonung der Autonomie oder Integrität einzelner Personen, denen der Status von Privatpersonen zugeschrieben wird. Ins Zentrum des Interesses rückt damit die Frage, ob bzw. inwieweit dieser Status durch Öffentlichkeit einer Gefährdung ausgesetzt ist. Spinnt man diese Argumentation weiter, wird allerdings deutlich, dass diese perspektivische Unterscheidung ab einem bestimmten Punkt der Abstraktion nicht mehr durchzuhalten ist. Fragt man beispielsweise danach, was eine Privatperson ausmacht oder warum ein Mensch überhaupt einen privaten Status besitzen soll, so lassen sich diese Fragen nur mit Rekurs auf eine gesellschaftliche Argumentationsebene beantworten.
Privatheit und Fernsehen Aus einer soziokulturellen Perspektive lässt sich die diskursive Verknüpfung von Privatheit und Fernsehen wiederum in doppelter Hinsicht vornehmen, indem zwischen (1) dem Angebotsmedium und (2) der sozialen Institution Fernsehen unterschieden wird. (1) Die Diskursivierung des Fernsehens als Angebotsmedium bildet gewissermaßen den inneren Diskursbereich bei der Verknüpfung von Privatheit und Fernsehen. Der Bereich des Privaten rückt dabei als eine ästhetische Ressource der Programmproduktion in den Mittelpunkt des Interesses. Historisch gesehen bilden Erscheinungsweisen von Privatheit einen kontinuierlichen Bestandteil des bundesrepublikanischen Fernsehens. So konstatiert die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher (2002, 208), schon „seit der Neuaufnahme des Sendebetriebs in den fünfziger Jahren hat das Fernsehen in diversen Programmformen unterschiedlich gestaltete Einblicke in private Lebensräume gegeben“. Entscheidend für die Diskursivierung der Einbindung von Privatheit ins Programm ist deshalb nicht das Ob, sondern das Wie. Bleicher verdeutlicht das anhand eines Aufrisses verschiedener Grundmuster der Thematisierung bzw. Inszenierung von Privatheit im Programm. Dazu zählt sie (209): fiktionale Sendeformen, in denen modellhaft über die Inszenierung von Figurenbeziehungen normative Fragen des Privatlebens angeschnitten werden können; dokumentarische Sendeformen, in denen über die Thematisierung privater Lebensbereiche scheinbar authentische „Abbilder von Privatheit“ evoziert werden können; Werbespots, die verschiedene Alltagspraktiken unter dem Aspekt des Konsums thematisieren; sowie Gameund Talkshows, in denen ‚normale‘, nicht-prominente Menschen in Anforderungssituationen agieren oder ihr Privatleben zur Diskussion stellen können.
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Diese kurze Auflistung verdeutlicht das weite Spektrum von Angebotsformen, in die das Private auf verschiedene Arten eingebunden sein kann – sei es in der fiktiven Inszenierung professioneller Darsteller oder in der Selbstinszenierung von Gameshowkandidaten oder als Sujet von Daily Soaps oder als Diskussionsgegenstand nachmittäglicher Talkshows. Wobei zu beachten ist, dass insbesondere durch die Etablierung hybrider Formen der Fernsehunterhaltung im Zuge der Einführung des kommerziellen Formatfernsehens die verschiedenen Genres – und damit auch die Inszenierungs- bzw. Thematisierungsformen des Privaten – immer stärker ineinanderfließen. (2) Als soziale Institution kennzeichnet das Dispositiv Fernsehen, dass es – im Gegensatz zu seinem audiovisuellen Vorläufer, dem Kino – den Zuschauer ‚intimer‘ an eine mediale Öffentlichkeit anbindet. Denn der Zuschauer ist beim Fernsehen „gegenüber dem Bild beweglicher und freier; er befindet sich auch (zumeist) im eigenen, privaten Bereich“, was insgesamt zu einer Individualisierung der Medienkommunikation geführt hat (Hickethier 2003b, 82). Das Fernsehen lässt sich deshalb als ein Alltagsmedium charakterisieren, das spezifische Nutzungs- und Angebotsstrukturen hervorgebracht hat, die auf subtile Weise zu einer Vermischung von Öffentlichkeit und Privatheit geführt haben (vgl. Meyrowitz 1987). Unter dem Gesichtspunkt des Diskursiven ist die Positionsbestimmung des Fernsehens als einer Institution des Sozialen, die in einem privatöffentlichen Zwischenraum angesiedelt ist, an einen medientheoretischen Diskurs gebunden. In diesem wird danach gefragt, ob „mit einer solchen Medialisierung des Alltags faktisch eine Einziehung des Unterschiedes zwischen Sein und Schein, als der zwischen tatsächlichem Alltag und dem Medium des Films“ erfolge (Rössler 2001, 314). Die Verbindung zu den oben skizzierten Privatheitsdiskursen liegt dann darin, dass sich damit die übergeordnete Frage stellt, ob „mit dem Verlust dieser Unterscheidung notwendig der Verlust der Fähigkeit einherginge, zwischen privat und öffentlich zu differenzieren, und zwar deshalb, weil dem Medium qua Medium alles öffentlich ist, eine kontrollierte Differenzierung zwischen dem, was für mich, privat, und dem, was auch für die (und zwar für alle) anderen zugänglich ist, verunmöglicht wird“. Diese Form der Diskursivierung des Schnittbereichs von Privatheit und Fernsehen bildet einen die Angebotsebene übergreifenden Diskursstrang, mit dem die ‚Realität des Mediums‘ über ästhetische und normative Aspekte hinausgehend an gesellschaftliche Diskurse angebunden werden kann.
METHODISCHES VORGEHEN In diesem Kapitel wird erörtert, wie die konkrete Analyse als ein methodisch abgesicherter Forschungsprozess gestaltet wurde. In diesem Prozess wurden die zuvor gemachten Überlegungen zur Diskursanalyse in eine konkrete Forschungspraktik überführt. Diese gliedert sich in die Abfolge zweier Analysestufen: Die erste Stufe, Korpusbildung, beschreibt die Auswahl des Materials, das in einem Analysekorpus zusammengestellt wird, auf der zweiten Stufe wird das Korpus einer gegliederten Auswertung unterworfen, mit der die Diskursanalyse vorbereitet wird.
Korpusbildung Die Generierung der Datenbasis nimmt in der Diskursanalyse einen besonderen Platz ein, da sie den Grundstock für die Beschreibung der diskursiven Praktiken darstellt und somit für die ‚Reichweite‘ der Analyseergebnisse zu einem wesentlichen Teil verantwortlich ist. Mit diesem Vorgehen wird von vornherein ein Analyseverständnis ausgeschlossen, das dem Korpus eine repräsentative Stellvertreterfunktion zuschreibt. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Vorstellung einer repräsentativen Erfassung im Bereich öffentlicher Kommunikation generell erklärungsbedürftig ist (soweit damit keine Bevölkerungsmeinungen abgefragt werden), sondern ganz wesentlich auch damit, dass ein Diskurs immer über die Auswahl von Texten im Vorfeld der Analyse festgelegt wird (vgl. Busse 2001). Die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus ist damit die erste Interpretationshandlung, die bei der Analyse vorgenommen wird, und fällt unter das im Kapitel ‚Zur Analytik medialer Diskurse‘ angeführte Transparenzgebot der Diskursanalyse. Der hier zum Zuge kommende Ansatzpunkt der Korpusbildung erschließt sich zum einen aus der zugrunde gelegten Fragestellung. Daneben steht eine Vorüberlegung, die aus einem allgemeinen Wissen über die Funktionsweise öffentlicher Diskurse resultiert. Neben die Frage nach dem historischen Wandel der Bewertung der Inszenierung von Privatheit im Fernsehen durch die printmediale Fernsehkritik, trat bei der Anlage der Untersuchung also ein Vorwissen über unterschiedliche Modi der Thematisierung gesellschaftlich strittiger Fragen durch mediale Skandale. Skandale sind, wie bereits ausgeführt wurde, in ihrem Kern Normkonflikte, durch die gesellschaftliche Grundsatzfragen an die Thematisierung eines Ereignisses angebunden werden. Die Analyse macht sich diesen Umstand konzeptionell zunutze: Mit dem Untersuchungskorpus soll die Fernsehkritik im (Ausnahme-)Zustand des Skandals festgehalten werden – genauer: im Zustand der Skandalisierung der televisionären Inszenierung von Privatheit. Neben der Aktivierung normati-
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ver Fragen haben Skandale noch eine weitere Eigenschaft, die für diese Vorgehensweise spricht. Skandale sind darauf angewiesen, ein intertextuelles Thematisierungsspiel anzuschieben, um ihre Geltungskraft voll auszuschöpfen. Das hat zur Folge, dass im Skandalfall eine breite Öffentlichkeit in die Diskursivierung eines Ereignisses einbezogen wird. Zusammenfassend ist somit die Thematisierung des Fernsehens im Modus des Skandals mit der Aktivierung normativer Grundsatzdiskurse verbunden und dehnt die Teilöffentlichkeit der Fernsehkritik kurzzeitig auf Übergröße.
Recherche Für die Erstellung des Untersuchungskorpus bedeutet das, es mussten zunächst TV-Sendungen gefunden werden, die von der Printöffentlichkeit als (skandalöse) Konfliktfälle thematisiert wurden. Da die Analyse den Anspruch einer historischen Ausrichtung hat, sollten sich die ausgewählten Fälle zusätzlich möglichst gleichmäßig über einen breiten Zeitraum des bundesrepublikanischen Fernsehens verteilen. Neben fernsehgeschichtlichen Vorkenntnissen stützte sich die Recherche auf zwei Typen von Quellen. Zum einen wurde medienwissenschaftliche Literatur ausgewertet, aus der Hinweise auf Skandalfälle der Fernsehgeschichte gewonnen werden konnten (vgl. Bleicher 1993; Deutsches Rundfunkarchiv 1976ff.; Hallenberger/Foltin 1990; Hickethier 1998; Loewy/Klünder 1973ff.; Müllender/Nöllenheidt 1998; Schindler 1999). Dieser erste Rechercheschritt diente dazu, Programmereignisse und Sendungs- oder Formattitel zu eruieren, die erste Indizien für brauchbare Fälle lieferten. Daraufhin wurden mit diesem Wissen Primärquellen erschlossen, in denen printmediale Skandaldebatten abgelegt sind. Dazu wurden die Zeitschriften DER SPIEGEL, STERN und HÖRZU mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln ‚durchforstet‘: Der SPIEGEL stand mit den Jahrgängen ab 1980 als ein digitales Volltextsuchsystem und für den davor liegenden Zeitraum als Stichwortregister zur Verfügung, der STERN konnte ab 1993 digital und der davor liegende Zeitraum ebenfalls mit einem Stichwortregister erfasst werden, während die HÖRZU auf Mikrofiche durchgesehen wurde. Wesentlich ergänzt wurden diese Suchen durch Recherchen im Medienarchiv des NDR in Hamburg und im Archiv des Ausschnittdienstes der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, in denen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zur Programmgeschichte des deutschen Fernsehens gesammelt werden. Die Auswahl der Fälle wurde nach drei Kriterien getroffen. Erstens musste das Fernsehprogramm von der printmedialen Kritik unter dem Aspekt ‚Privatheit‘ thematisiert werden. Dieses Kriterium wurde dann als erfüllt angesehen, wenn die Ästhetik des Programms unter einem der Aspekte Sexualität, Selbstdarstellung oder Intimität problematisiert wurde. Zweitens musste die Thematisierung im Modus des Skandals erfolgen. Für die Artikel bedeutete das, sie mussten die Kritik des Programms mit einem gesellschaftlichen Normkonflikt verbinden, wobei diese Sichtweise nicht zwingend von der Kritik geteilt werden musste. Drittens sollte eine ausreichende Menge an Artikeln als Untersuchungsmaterial zu Verfügung stehen. Da das Fernsehprogramm auf verschiedene Art aufgegriffen werden kann, wurde zwischen drei Formen der Bezugnahme unterschieden, an die bestimmte Anforderungen
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geknüpft wurden: einzelne Sendungen, Sendungsformate, wie sie mit einer Reihe oder einer Serie verbunden sind, und komplexe Programmformate, die mehrere Sendungen und Sendungsformate in sich einschließen.
Zusammenstellung Die praktische Zusammenstellung des Korpus hing darüber hinaus von dem Material ab, das die Archive zur Verfügung stellten. Außerdem musste sich der Gesamtumfang der Fälle und Texte in einem Bereich bewegen, der eine qualitative Auswertung ermöglichte. Die Korpusbildung gestaltete sich somit als ein Prozess des Abwägens zwischen den vorstehenden Kriterien und wurde zusätzlich durch zwei Setzungen strukturiert. Ein Konfliktfall sollte in mindestens zwei der drei zugrunde gelegten Printmedien SPIEGEL, STERN und HÖRZU aufzufinden sein und die drei Fallarten Sendung, Sendungsformat und Programmformat sollten mit jeweils 10, 20 und 40 Artikeln vertreten sein. Als Ergebnis entstand ein Korpus mit 17 Konfliktfällen. Ein Blick auf die Liste der 17 Diskursereignisse zeigt, dass sie einen breiten zeitlichen und ästhetischen Bereich abdecken, der sich vom Fernsehspiel DIE SENDUNG DER LYSISTRATA von 1960 bis zur Real-Life-Soap BIG BROTHER im Jahre 2000 erstreckt. Die Verteilung der Fälle auf über 40 Jahre Programmgeschichte weist jedoch einige Zeiträume auf, die stärker vertreten sind als andere. Das gilt für die Jahre 1970 bis 74 und 1990 bis 94, außerdem entstammt das Gros der Artikel der Zeit nach 1990. Dieses Ungleichgewicht in der Verteilung der Artikel stellt in einem diskursanalytischen Verständnis keine Mangelerscheinung dar, sondern wird bereits als ein erstes zu interpretierendes Ergebnis der Analyse verstanden. Darüber hinaus zeigt ein Blick auf die umseitig abgedruckte Tabelle 1 einige weitere Unregelmäßigkeiten, die erläuterungsbedürftig sind. In fünf Fällen (E4, E7, E10, E11, E12) unterschreitet die Artikelzahl die vorgegebene 10/20/40-Schematik (zumeinst geringfügig), weil sich trotz ergänzender Nachrecherchen in ausgewählten Printmedien, die in der Hamburger Staatsbibliothek archiviert werden, keine weiteren relevanten Artikel ermitteln ließen. Da der ausgetragene Normkonflikt in diesen Fällen sehr stark ausgeprägt war, erschien eine Aufnahme ins Korpus dennoch sinnvoll. Dieses Problem betrifft besonders weiter zurückliegende Zeiträume, die sich nur mit einem relativ großen Aufwand genauer erschließen lassen. Jüngere Fälle konnten über die Volltextdatenbank Lexis/Nexis ergänzt werden, die bis 1993 zurückreicht. In drei Fällen (E1, E3, E8) wurden hingegen ein bis zwei Artikel mehr aufgenommen, da eine weitere Selektion brauchbare Artikel ausgeschlossen hätte. Im Fall der Real-Life-Soap BIG BROTHER (E17) wurde die Artikelzahl von vornherein auf 40 verdoppelt, da die Debatte einen überproportional großen Umfang hatte (es standen über 200 Artikel zur Auswahl), der sich mit 20 Artikeln nur sehr ungenügend hätte einfangen lassen. Auch die Dreiteilung Sendung/ Sendungsformat/Programmformat wurde in einigen Fällen geringfügig modifiziert. Einerseits wurden die zwei Sendungen von WÜNSCH DIR WAS (E3) als Skandalisierung eines Sendungsformats zusammengefasst, andererseits pärchenartige Reihen wie 4 GEGEN WILLI und DONNERLIPPCHEN (E9), EXPLOSIV: DER HEISSE STUHL und ULRICH MEYER: EINSPRUCH! (E12), TRAUMHOCHZEIT und VERZEIH MIR (E14) jeweils zu ei-
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nem Diskursereignis zusammengezogen, das mit je 20 Artikeln Berücksichtigung fand, wobei die einzelnen Reihen möglichst gleichmäßig berücksichtigt wurden. Tabelle 1: Diskursereignisse Diskursereignis: Sendung/Reihe/Format
E1 E2
DIE SENDUNG DER LYSISTRATA (ARD) DAS MILLIONENSPIEL (ARD)
E3
WÜNSCH DIR WAS (ZDF)
E4
DIE LETZTE STATION (ARD) NICHT DER HOMO-
E5
SEXUELLE IST PERVERS, SONDERN … (WDR/ARD)
E6 E7 E8 E9 E10 E11 E12
E13 E14 E15 E16 E17
DAS PODIUM (ARD) SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN (WDR) ARENA (ARD) 4 GEGEN WILLI (ARD) / DONNERLIPPCHEN (ARD) Erotikformate (RTL, Tele5) TUTTI FRUTTI (RTL) EXPLOSIV – DER HEISSE STUHL (RTL) / ULRICH MEYER: EINSPRUCH! (Sat.1) Reality-TV (Tele5, RTL, Sat.1) TRAUMHOCHZEIT / VERZEIH MIR (RTL) DAS WAHRE LEBEN (Premiere) Daily-Talks (RTL, ARD, Pro7, Sat.1) BIG BROTHER (RTL2)
Zeitraum: Ereignis
Zeitraum: Debatte
Anzahl: Artikel
17.01.1961
12/1960–2/1961
11
18.10.1970
10-11/1970
10
07.11.1970 27.03.1971
11/1970–12/1972
22
03.10.1971
10/1971–10/1972
9
13.01.1972 15.01.1973
2/1972–2/1973
10
19.08.1973
8–9/1973
10
13.10.1974
10/1974
7
07.09.1982 ab 04.02.1986 ab 11.10.1986
9–10/1982
11
2/1986–1/1989
20
ab 24.02.1987
2/1987–11/1990
13
ab 01.01.1990
1/1990–5/1992
19
10.12.1991 14.09.1993
1/1991–11/1994
19
ab 12.01.1992
1/1992–3/1994
40
ab 19.01.1992 ab 15.12.1992
2/1992–4/1994
20
ab 17.09.1994
4/1993–11/1993
20
ab 14.09.1992
2/1996–12/1998
40
ab 01.03.2000
10/1999–6/2000
40
Die Begründung für dieses Vorgehen liegt auch in der Menge des zur Verfügung stehenden Archivmaterials und der notwendigen Begrenzung des Korpus auf einen handhabbaren Umfang. Den entscheidenden Ausschlag für die Zusammenlegung dieser Sendereihen gab jedoch die Praxis der Fernsehkritik, in der die unterschiedlichen Reihen zu einer Debatte zusammengefasst
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wurden, was bei der Beschreibung der Skandalfälle deutlich werden wird. Der Abschnitt Sendungen und Artikel im Anhang dokumentiert die Quellen aller Artikel und die dazugehörigen Diskursereignisse des Fernsehprogramms in 17 Listen, die jeweils chronologisch angeordnet sind. Das Untersuchungskorpus setzt sich aus insgesamt 321 Artikeln zusammen, die primär hinsichtlich inhaltlicher, also qualitativer Gesichtspunkte ausgewählt wurden. Die Frage der Zusammensetzung der vorkommenden Kritik-Öffentlichkeit spielte im Prozess der Recherche eine untergeordnete Rolle, was jedoch nicht bedeutet, sie wäre zu vernachlässigen. Tabelle 2: Untersuchungskorpus (Zusammensetzung nach Pressetypen) Tageszeitungen davon: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG DIE TAGESZEITUNG
DER TAGESSPIEGEL FRANKFURTER ALLGEMEINE DIE WELT BERLINER MORGENPOST STUTTGARTER ZEITUNG FRANKFURTER RUNDSCHAU KÖLNER STADTANZEIGER NEUE ZÜRICHER ZEITUNG HAMBURGER ABENDBLATT MÜNCHNER ABENDZEITUNG BERLINER ZEITUNG NEUES DEUTSCHLAND MÜNCHNER MERKUR N.N. BADISCHE ZEITUNG HANNOVERSCHE ALLGEMEINE LÜBECKER NACHRICHTEN NEUE RUHR-ZEITUNG STUTTGARTER NACHRICHTEN WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU Magazine/Wochenzeitungen davon: DER SPIEGEL DIE ZEIT D. A. SONNTAGSBLATT DIE WOCHE FREITAG
158 29 20 16 14 13 12 12 7 5 5 4 4 3 3 2 2 1 1 1 1 1 1 1 83 46 14 12 3 3
DIE WELT AM SONNTAG DIE WELTWOCHE FAZ-MAGAZIN FOCUS RHEINISCHER MERKUR
1 1 1 1 1
Boulevardzeitungen/Illustrierte davon: STERN BILD HAMBURGER MORGENPOST
43
TZ
QUICK STERN – SONDERHEFT BILD AM SONNTAG WOCHENPOST Programmzeitschriften davon: HÖRZU STERN-TV FUNKUHR TV HÖREN & SEHEN RTV
BILD UND FUNK Fachdienste davon: EPD-MEDIEN FUNK-KORRESPONDENZ FUNK-REPORT KATHOLISCHE NACHRICHTEN RUNDY
25 6 4 2 2 2 1 1 31 18 6 3 2 1 1 6 2 1 1 1 1
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Nach Pressetypen aufgeschlüsselt setzt sich das Korpus wie folgt zusammen (Tabelle 2). Etwa die Hälfte der Kritiken stammt aus Tageszeitungen, von denen SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, DIE TAGESZEITUNG, DER TAGESSPIEGEL, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, DIE WELT, BERLINER MORGENPOST und STUTTGARTER ZEITUNG mit mehr als zehn Artikeln vertreten sind. Etwas mehr als ein Viertel der Beiträge wurde in Nachrichtenmagazinen oder Wochenzeitungen (zu denen auch Sonntagszeitungen gezählt wurden) publiziert, von denen über die Hälfte aus dem Spiegel stammen, der mit 46 Artikeln auch insgesamt am häufigsten vertreten ist. Erwähnenswert sind daneben noch DIE ZEIT und DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT mit 14 und 12 Artikeln. Schwächer repräsentiert sind die Segmente Boulevardzeitungen/ Illustrierte (ein Achtel aller Artikel) und Programmzeitschriften (knapp ein Zehntel), die hauptsächlich durch den STERN und STERN-TV sowie die HÖRZU in das Korpus Eingang gefunden haben. Die Teilöffentlichkeit der Medienfachdienste fand nur mit sechs Artikeln Berücksichtigung. Dass die Korpusbildung nicht primär unter dem Aspekt der ‚Repräsentation‘ von Öffentlichkeit stattfand, indem beispielsweise die Verteilungshäufigkeit der Quellen vorgegeben worden wäre, hängt nicht nur mit dem fragwürdigen Anspruch eines solchen Verfahrens zusammen, sondern folgt auch aus der damit verbundenen Schwierigkeit der Zusammenstellung des Untersuchungskorpus, das mit zu vielen Anforderungen überfrachtet worden wäre. Die Frage der Öffentlichkeitsrelevanz des Untersuchungskorpus wurde in diese Analyse anders zu integrieren versucht. So wurden – durch die Orientierung der Recherche an den Printmedien SPIEGEL, STERN und HÖRZU – drei Medien als Stichwortgeber und Materialgrundlage (sie stellen knapp ein Drittel aller Artikel) ausgewählt, die breite Teilbereiche der Printöffentlichkeit abdecken und innerhalb des Intermedia-Agenda-Settings eine exponierte Position einnehmen. Hinzu kommt, dass die Recherche über die Ausschnittdienste eine ergänzende Variabilität auf das Korpus überträgt, die eine (wenn auch schwache) Systematik besitzt, da in diesen Archiven über lange Zeiträume ein zumeist relativ gleichbleibendes Set an Medien ausgewertet wird.
Auswertung Diskursanalyse ist eine hybride Analysepraktik, die zwischen den texthermeneutischen Interpretationsansätzen der Geisteswissenschaften und den standardisierten Methoden der sozialwissenschaftlichen Forschung angesiedelt ist. Diese Veranlagung reicht zu Foucaults ursprünglicher Intention zurück, mit der Archäologie eine Methode zu entwickeln, durch die etablierte geisteswissenschaftliche Kategorien (wie ‚Autor‘, ‚Werk‘ etc.) zugunsten inhaltlich neutralerer, objektivierter Interpretationsverfahren in den Hintergrund gedrängt werden sollen. Diese Vorgehensweise muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Anspruch, den Foucault an die Analyse stellt, sehr weit gefasst ist. Es geht ihm nicht darum, ‚Meinungen‘ zu dechiffrieren, sondern komplexe Wissensordnungen freizulegen. Im diskursanalytischen Verfahren soll deshalb die Erschließung großer Textmengen Hand in Hand gehen mit der Erfassung übergreifender gesellschaftlicher Wissensfelder.
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Der eigentlichen Auswertung, die eine ‚klassische‘ Interpretation darstellt, muss somit ein Analyseschritt vorgeschaltet sein, der bei der Erfassung und Umorganisation des Materials behilflich ist. In diesem Zwischenschritt der Analyse liegt ein wesentlicher Unterschied zu traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden. Foucaults Analytik gibt allerdings nur ansatzweise darüber Aufschluss, wie das geschehen kann. Die Grundabsicht der Diskursanalyse, das Material in eine neue Anordnung zu bringen, ist bei Foucault mit einigen Strategien verbunden, wie sie die Bildung von Reihen und Serien, die Suche nach Ähnlichkeiten und Streuungen oder die Markierung von Brüchen und Kontinuitäten darstellen. Darüber hinaus fehlen jedoch „konkrete Techniken“, die die Analyse „anleiten bzw. organisieren helfen“ und deren Sinn darin bestehen muss, „die Analyse der Systemizität der unterliegenden Organisation der diskursiven Praxis zu ermöglichen“ (Diaz-Bone 2002a, 197). Um diesen Anspruch umzusetzen, wurden verschiedene Analysetechniken kombiniert, die im Folgenden dargestellt werden.
Erschließung Die erste Entscheidung zur Erschließung des Materials folgte unmittelbar auf die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus. Mit ihr wurden die 321 Einzeltexte in eine historische Abfolge gebracht, wodurch die isolierten Skandalfälle als abfolgende Debatten zu einem übergreifenden, chronologischen Diskurs zusammengefügt wurden. Auf diese Weise ließ sich ein roter Faden schaffen, an dem entlang und in dessen Wirkungsbereich der printmediale Diskurs über die Inszenierung von Privatheit im Fernsehen verfolgt werden konnte. Mit diesem Faden wurde das Verlaufsschema der Kritischen Diskursanalyse von Siegfried Jäger aufgegriffen, in dem sich Diskurse als Wechselspiel eines Themen/Ereignis-Bezugs fortschreiben. Die zweite Maßnahme zur Erschließung des Materials bestand darin, die zweite Koordinate aus Jägers Diskursmodell in die Analyse einzubeziehen: die Identifikation von Themensträngen. Diskursanalytisch stellen Themen Aussagekomplexe zu bestimmten Gegenstandsbereichen dar, die in der Analyse in Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsmaterial aufgefunden und beschrieben werden sollen. Der erste Ansatzpunkt ist die Zusammenstellung des Korpus, mit dem bereits ein thematischer Bezug selektiert wurde: die Bewertung der Inszenierung von Privatheit im Fernsehen. Diese bildet den thematischen Kern für die weiterführende, inhaltliche Erschließung des Textkorpus. An diesem Punkt liegt die eigentliche Kunst bzw. das Interpretationsgeschick der Diskursanalyse, das darin besteht, dem Material genau die Aussagen abzuringen, an denen sich die diskursiv aktivierten Wissensbereiche und ihre Veränderungen ermitteln lassen. Dazu bedarf es eines gewissen Fingerspitzengefühls, das sich durch den Gebrauch strukturierter Analyseverfahren absichern lässt. Die thematische Erschließung stützte sich deshalb auf zwei etablierte Weisen der strukturierten Textanalyse: die Zergliederung des Materials durch Kodierungen und die Berücksichtigung von Begriffsfeldern. Eine herausragende Bedeutung haben Kodiertechniken in der empirischen Sozialforschung der GROUNDED THEORY (Strübing 2004, 19). Dass sie sich auch für die Diskursanalyse anbieten, hängt mit der gemeinsamen Grundproblematik beider Ansätze zusammen, die darin liegt, empirisches Ma-
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terial mit standardisierten, übergreifenden Analyseverfahren (Vergleichen, Verdichten, Rekontextualisieren) in eine theoriegeleitete Beschreibung zu überführen. Für die Diskursanalyse ist die Grounded Theory insofern von Interesse, wie sie als „Stil“ der „qualitativen Datenanalyse“ (Strauss 1991, 30) verstanden wird. Die Interpretationsstilistik, die sich von der Grounded Theory auf die Diskursanalyse übertragen lässt, liegt in der gestaffelten Organisation der Strukturierung des Untersuchungsmaterials, das der Soziologe Anselm L. Strauss als einen dreistufigen Prozess beschreibt, der vom „offenen“ über das „axiale“ zum „selektiven“ Kodieren reicht (Strauss/Corbin 1996, 43ff.). Mit Bezug auf die Diskursanalyse heißt das, am Beginn der inhaltlichen Auseinandersetzung wird das Korpus als eine Sammlung von Aussagen betrachtet, die alle den gleichen Status besitzen. Diese gilt es zunächst zu sichten und als möglicherweise interessante, da später brauchbare Aussagen zu markieren (offenes Kodieren). Anschließend lassen sich die gefundenen Aussagen um bestimmte Themen gruppieren (axiales Kodieren), die sich dann wiederum hinsichtlich des Vorkommens bestimmter Aussagen verdichten lassen (selektives Kodieren). Rainer Diaz-Bone (2002a, 200) weist in seiner Ausarbeitung einer diskursanalytischen Distinktionstheorie darauf hin, dass dieser Vorgang nicht im freischwebenden Raum stattfindet, sondern immer auf ein „Kodiermodell“ bezogen bleibt, in dem eine bestimmte Analyseintention zum Ausdruck kommt. Aus diesem Grund lässt sich beim Kodieren nur das grobe Vorgehen der Grounded Theory übernehmen, denn Diskursanalyse ist aus einem anderen kommunikationstheoretischen Vorverständnis heraus formuliert, das in der Konzentration auf die Aussagen/Themen-Relation zum Tragen kommt. Während unter ‚Aussagen‘ kontextspezifische Topoi gefasst werden, wie sie in Auseinandersetzung mit Martin Wengelers Toposanalyse beschrieben wurden, muss bei der Auswahl der Themen berücksichtigt werden, dass sie eine interessegeleitete Entscheidung des Interpretierenden ist. Das betrifft sowohl die Zusammenfassung von Topoi unter einem Thema als auch die Auswahl der Themenfelder, die in die Auswertung einbezogen werden. Bei der Auswertung hat es sich als sinnvoll erwiesen, das Korpus nicht nur hinsichtlich des Auftretens von Topoi zu sichten, sondern darüber hinaus auch die Verteilung von Begriffen zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen sollte jedoch weder mit inhaltsanalytischen Theorien der Sozialforschung verwechselt werden (vgl. Merten 1995), deren aufwendige Systematik nicht lohnenswert wäre und in Anbetracht der ‚qualitativen‘ Korpusbildung auch zweifelhaft, noch ist damit das Einziehen einer begriffsgeschichtlichen Ebene verbunden (vgl. Schultz 1979), da nicht die Bedeutungsverschiebung einzelner Begriffe zur Analyse steht. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein ergänzendes Verfahren, mit dem der Analyse der diskursiven Themenkonstruktion zugearbeitet werden soll. Deshalb geschieht die Einbeziehung von ‚Begriffen‘ in die Analyse anhand grober Verteilungshäufigkeiten und ist zumeist auf die Verwendung semantisch kaum bestimmter Wortstämme konzentriert. Ihre Berücksichtigung dient der Ermittlung von Indizien, an denen die Beschreibung der historischen Verschiebung diskursiver Argumentationspraktiken ansetzen kann. Im Text werden die exakten Suchbegriffe durch Einschließung in zwei senkrechte Striche angezeigt (z.B.: |privat|), ge-
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gebenenfalls wurden bei der Zählung bestimmte Bedeutungsvarianten ausgeklammert (wie ‚Privatfernsehen‘ bei |privat|). Eine Übersicht über die Verteilung der wichtigsten in der Analyse verwendeten Wortstämme ist am Ende des Anhangs in einer Kurzübersicht dokumentiert (Tabelle 8). Um die Erschließung des Untersuchungsmaterials zu vereinfachen, wurde das Textkorpus digitalisiert und in ein Computerprogramm zur qualitativen Datenanalyse eingespielt (MAXqda), das speziell auf die strukturierte Textanalyse ausgerichtet ist (vgl. Kuckartz 2005).
Transkonstruktion Die Transkonstruktion der Daten ist das eigentliche Herzstück der Diskursanalyse, wie sie im nächsten Kapitel ausgeführt wird. Der Begriff meint den Vorgang der wohl begründeten, beschreibenden Neuorganisation des Untersuchungsmaterials. Im Vergleich zu anderen Diskursanalysen liegt in diesem Punkt die eigentliche Pointe dieses medienwissenschaftlichen Ansatzes. Dessen Basis bildet Siegfried Jägers Verlaufsmodell, in dem Diskurse in einem zweidimensionalen Raum zwischen verschiedenen thematischen Diskurssträngen und einem Ereigniskontext angesiedelt sind. Im Gegensatz zu Jägers Konzeption, in der dieser zweidimensionale Raum durch ‚soziale Orte‘ bestimmt wird, über die ‚ideologische Positionen‘ reproduziert werden, wird in dem hier zugrunde gelegten Transkonstruktionsmodell eine dritte Dimension in die Analyse einbezogen. Mit ihr werden Diskurse als medial konstituierte Praktiken gekennzeichnet, die sich in der Analyse als Topoi niederschlagen, mit denen um hegemoniale Deutungshoheit gerungen wird. Mit Hilfe dieser medienwissenschaftlichen Differenzierung lässt sich die massenmediale Rückbindung der Diskursproduktion in der Analyse konkretisieren. Die medienwissenschaftliche Transkonstruktion basiert darauf, dass die drei Dimensionen außerdiskursiver, thematischer und kommunikativer Kontext in einen modellhaften Zusammenhang gestellt werden, wie das in Abbildung 12 dargestellt ist. Damit wird Jägers Idee einer Verknüpfung massenmedialer Diskurse mit einem gesellschaftlichen Ereignishorizont durch die Einbeziehung eines kommunikativen Kontextes ergänzt, wodurch ein medialer Horizont in die Analyse integriert wird. In der vorliegenden Diskursanalyse findet dieser auf zwei Arten Berücksichtigung. Zum einen ist er Teil der praktischen Beschreibung der diskursiven Prozesse, die vor dem Hintergrund eines begründeten Verständnisses für die Funktionsweisen der Massenmedien geschehen soll, wie sie in Teil 2 beschrieben wurden. Zum anderen resultiert aus diesem Vorverständnis medialer Diskurspraktiken eine bestimmte Vorgehensweise bei der Grobstrukturierung des Diskurses, womit die spezifische Gestalt massenmedialer Diskurse berücksichtigt wird. Um dieses Modell umzusetzen, wird das Untersuchungsmaterial einer doppelten Strukturierung unterworfen. Einerseits gliedert die Transkonstruktion den Diskurs in historische Abschnitte, mit denen die einzelnen Ereignisse und Kritiken in einen historischen Bezug gestellt werden, durch den Brüche und Kontinuitäten herausgestellt werden sollen. Andererseits ist diese Unterteilung des Diskurses in zeitliche Phasen an einer Binnenstrukturierung ausgerichtet, mit der die drei Dimensionen Ereignisse/Medien/Wissen in eine lineare Beschreibung überführt werden.
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Abbildung 12: Dreidimensionales Modell eines Diskurses der Fernsehkritik
außerdiskursiver Kontext: Fernsehprogramm
thematischer Kontext: gesellschaftliche Wissensfelder
E1
E2
E3
Analysebereich Diskursstrang A
Diskursstrang B
Eigene Abbildung Auf diese Weise entstehen aufeinander abfolgende Phasen, die jeweils eine identische Binnenstruktur aufweisen. Der Grundgedanke dieser Verfahrensweise liegt darin, die Beschreibung diskursiver Wissensfelder, die den eigentlichen Kernbereich der Diskursanalyse darstellt, sowohl an die Ereignisdimension als auch an die medialen Konstitutionsweisen des Diskurses rückzubinden. Für die Analyse dieses Diskurses spielt die Tatsache eine entscheidende Rolle, dass es sich um Normkonflikte handelt, wodurch die Diskursivierung des Wissens einem bestimmten intertextuellen Skript zugeteilt werden kann. Dessen Kern liegt darin, dass das Fernsehprogramm hinsichtlich eines normativen Konfliktpotenzials selektiert und auf bestimmte Art und Weise weiterkommuniziert wird. Dieser Vorgang bildet die Voraussetzung für die Entfaltung diskursiver Wissensfelder, die ihrerseits jedoch auch auf diesen Vorgang zurückwirken, da das hier ‚veröffentlichte‘ Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge den Prozess der Normbildung beeinflusst. In der empirischen Transkonstruktion muss dieses Zusammenspiel notwendigerweise in eine lineare Struktur überführt werden, die jedoch keine kausale Abfolge darstellt.
ANALYSE In diesem Kapitel wird die eigentliche Diskursanalyse entfaltet, mit der durch eine beschreibende Transkonstruktion ein konkreter empirischer Wissensbereich erschlossen wird: die printmediale Kritik der Inszenierung oder Thematisierung von Privatheit im Fernsehen. Diese Beschreibung ist in vier Kapitel unterteilt, die historische Phasen in der Entwicklung des transkonstruierten Diskurses markieren. Sie umfassen die Zeiträume 1960/1961 (E1), 1970–1982 (E2–E8), 1986–1994 (E9–E15) und 1996–2000 (E16–E17). Zu deren Grundverständnis muss eingangs betont werden, dass sie eine unmittelbare Folge des im Korpus verwendeten Materials darstellen. Aus diesem Grund kann die historische Phasenbildung keine lückenlose Rekonstruktion eines allgemeinen Diskurses darstellen, sondern unterliegt der partiellen ‚Blindheit‘ der vorgefundenen Debatten, deren Anfangs- und Endpunkte die zeitlichen Rahmenbereiche abstecken, was – wie ein erster Blick verrät – insbesondere auf die weiter zurückliegenden Zeiträume zutrifft. Des Weiteren bilden die vier Phasen keine homogenen Diskursfelder. Das können sie schon deshalb nicht sein, weil die Binnenstruktur verschiedene Dimensionen miteinander vereint, die zwar voneinander abhängen, sich aber nicht gezwungenermaßen parallel zueinander verändern müssen. Für die vorgenommene Gliederung war vielmehr die Intention ausschlaggebend, Veränderungen herauszuarbeiten und – soweit möglich – aus der Anlage der Diskursanalyse heraus zu begründen. Deshalb folgte die Zusammenstellung der einzelnen Phasen dem Gedanken, die Fortentwicklung des Diskurses in Abschnitte zu unterteilen, in denen sich schrittweise Verschiebungen in der diskursiven Tektonik beobachten lassen. Die Vergleichbarkeit der vier Diskursphasen wird durch die Binnengliederung der Beschreibung gewährleistet, die durch die jeweils wiederkehrende Abfolge von fünf gleich ausgerichteten Unterkapiteln zustande kommt: (1) Ereignisbezug, (2) Grenzsetzungen, (3) Diskursivierung der Kritik, (4) Wert des Privaten, (5) Fernsehen und Öffentlichkeit. (1) Ereignisbezug. Am Anfang stehen jeweils die Diskursereignisse, also die skandalisierten Sendungen, Sendungs- oder Programmformate, die den diskursiven Ereignisrahmen der Debatten bilden. In diesen Kapiteln werden alle 17 skandalisierten Programmereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge mit Blick auf die Programmgeschichte und ihre Thematisierung im TV-Diskurs einleitend vorgestellt. Die programmlichen Informationen wurden – soweit nicht anders vermerkt – der HÖRZU entnommen. (2) Grenzsetzungen. Daran anschließend wird für jedes Ereignis die normative Konfliktlinie skizziert, an der entlang die Skandalisierung des Fernsehprogramms verläuft. Das geschieht unter Orientierung an Bayers (1999, 203) Schema der Struktur normativer Argumente, mit dem zwischen Istwert
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und Sollwert, dem (gegenwärtigen/alternativen/normativen) Zustand und der Hinsicht einer Beurteilung unterschieden werden kann. Mit Hilfe dieses Vorgehens können die Lokalisierungen von Grenzen und Grenzverletzungen nachgezeichnet werden, wie sie durch die Kritik vorgenommen werden. Die so entstehende, abfolgende Aneinanderreihung von Programmereignissen und diskursiven Normsetzungen geht auf Foucaults Idee einer Serialisierung historischer Ereignisse zurück. Ihr Zweck liegt darin, am Anfang jeder Phase die Entwicklung von Programmgeschichte und Inszenierungsnormen als einleitenden Problemaufriss vorweg zu stellen. (3) Diskursivierung der Kritik. In den dritten Unterkapiteln werden die transkriptiven Verfahren aufgezeigt, mit denen sich die Kritik des Fernsehens annimmt. Dabei werden die jeweiligen Zeiträume auf übergreifende, intertextuelle Muster der Ausbildung der printmedialen Kritik untersucht, um die Prozesse herauszustellen, mit denen das Medium Fernsehen in den Diskurs eingebunden wird. Die Folie dazu bildet die Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten der Transkription des Fernsehens, wie sie zuvor anhand der diskursiven Modi der ‚räsonierenden Kritik‘ und des ‚verurteilenden Skandals‘ ausgeführt wurden. (4/5) Wert des Privaten/Fernsehen und Öffentlichkeit. Abschließend erfolgt die Beschreibung des Privatheits-Diskurses über zwei ausgewählte Themenstränge, mit denen sich die Kritik des Fernsehens in die Kultur der Gesellschaft einschreibt: als Diskurs über den Sinn von Privatheit (Wert des Privaten) und – in dichotomischer Entgegensetzung – als Diskurs über die Funktion und Rolle des Fernsehen innerhalb der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (Fernsehen und Öffentlichkeit). In diesen Unterkapiteln geht es darum, in den normativen Debatten über das Fernsehen Aussagen aufzufinden und zu systematisieren, die sich auf die im Kapitel zu Privatheit im Fernsehen angerissenen Diskurse beziehen lassen.
1960/1961: DIE SENDUNG DER LYSISTRATA Ereignisbezug (E1) Das Fernsehspiel DIE SENDUNG DER LYSISTRATA wurde im Jahre 1960 von dem Theaterregisseur und Schauspieler Fritz Kortner im Auftrag des NDR und in Zusammenarbeit mit dem Filmproduzenten Gyula Trebitsch in dessen Hamburger Studios produziert. Der Film basiert auf der gleichnamigen antiken Komödie des Dichters Aristophanes. Diese erzählt davon, wie es den Frauen der Bürger Athens und Spartas gelingt, durch eine List einen drohenden Krieg zwischen den benachbarten Völkern zu verhindern, indem sie sich zusammenschließen und ihren Gatten mit einem umfassenden ‚Liebesentzug‘ drohen. Kortner hat den Originaltext für das Fernsehspiel bearbeitet und um eine Rahmenhandlung ergänzt, die einen zeitgenössischen Kommentar zu der antiken Geschichte bildet. Diese zweite Erzählebene handelt von einer Gruppe von Zuschauern, welche die antike Komödie vor dem Fernseher verfolgen, dialogisch aufarbeiten und auf die Gegenwart beziehen (vgl. Kortner 1961).
ANALYSE | 251
Die LYSISTRATA-Verfilmung lässt sich dem Genre der Klassikeradaption zurechnen und bildet somit die typische Form des bundesrepublikanischen Fernsehspiels der 1950er Jahre. Die von Kortner gewählte Inszenierungsform der direkten Parallelsetzung von antiker Vergangenheit und bundesdeutscher Gegenwart stellt hingegen einen „Neuansatz“ in der Klassikerrezeption des Fernsehens dar, besaß also zum damaligen Zeitpunkt ein innovatives ästhetisches Element (Hickethier 1980, 82; 210). Dem Film wurde bereits im Vorfeld eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil, weil er die erste Fernseharbeit Kortners darstellte und der durch die SISSI-Triologie (BRD 1955-57) populär gewordenen Schauspielerin Romy Schneider ein Comeback versprach. Zu einem übergreifenden Thema wurde Kortners Fernsehdebüt aber erst, nachdem bekannt geworden war, dass sich einige ARD-Anstalten nach einer (eher unüblichen) Vorführung des fertiggestellten Films im Zuge einer Programmkonferenz weigern würden, die NDR-Produktion im Rahmen des ARDProgramms auszustrahlen. Der Sendetermin wurde daraufhin vom 5. auf den 17. Januar 1961 verschoben, sein Sendeplatz auf 22:15 Uhr gelegt, wodurch ‚unwilligen‘ Anstalten die Möglichkeit eröffnet wurde, sich der Ausstrahlung zu entziehen, ohne ein Sendeloch zu hinterlassen. Zusätzlich wurden an dem Film nochmals einige Schnitte vorgenommen. Ausgestrahlt wurde DIE SENDUNG DER LYSISTRATA letztendlich im gesamten Sendegebiet der ARD, mit Ausnahme des Bayrischen Rundfunks, da die Intendanten vom WDR, SDR, SR und SWF kurz vor der Ausstrahlung von dem zunächst erwogenen Sendungsboykott doch noch Abstand genommen hatten.
Grenzsetzungen (E1) In der Auseinandersetzung mit dem Fernsehspiel kommen die Kritiken sehr übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der von den Intendanten veranstaltete Trubel mit dem Fernsehspiel selbst nicht in Einklang stehe, da der „vieldiskutierte Fernsehfilm Kortners keinen auf die Barrikaden“ (WELT 18.01.1961) bringe. Dabei wird durchgängig zwischen „moralischen und politischen Einwendungen“ (WELT 12.12.1960) unterschieden, die bereits im Vorfeld der Sendung in die Debatte eingeführt wurden. Sie gehen hauptsächlich auf Clemens Münster zurück, der zum damaligen Zeitpunkt Intendant des Bayerischen Rundfunks und Programm-Koordinator der ARD war. Er hatte sich am massivsten gegen die Ausstrahlung ausgesprochen: „»Das sittliche Empfinden der Zuschauer wird verletzt, die Vertreter einer politischen Auffassung werden lächerlich gemacht, die Bemühungen um Frieden werden in ein falsches Licht gesetzt«“ (SPIEGEL 5/1961). Die moralischen Einwände, die von den Rundfunkintendanten, insbesondere Münster, eingebracht wurden, werden in den Artikeln durchgängig zurückgewiesen. Bei der Beurteilung unterscheidet die Kritik zwischen einer Bild- und einer Textebene. Besonders anschaulich wird dieses Vorgehen in der Kritik von Dieter E. Zimmer, die den Film – wie ein richterliches Kurzurteil – in drei ‚Anklagepunkten‘ freispricht. Der erste lautet: 1. Das filmische Bild enthält keine erotischen Entgleisungen. Wenn die Fernsehanstalten, die sich ursprünglich der Sendung enthalten wollten, ihrem Publikum gewisse Laszivitäten nicht anbieten zu können glaubten, dann muß sich dieser Vorbehalt
252 | EIN MEDIENDISKURS auf den ins Deutsche übersetzten Originaltext des Aristophanes bezogen haben, dessen sich die Fernsehsendung auf weite Strecken bedient. (FAZ 19.01.1961)
Hervorzuheben ist an Zimmers Urteil, dass sich mit der Zurückweisung bildlicher „erotischer Entgleisungen“ und dem Verweis auf den „Originaltext des Aristophanes“ die Frage, ob hier eine moralische Grenzverletzung vorliegt, die für einen Sendungsboykott Anlass gebe, erledigt hat. In einer TelemannKritik wird dieser Aspekt aufgegriffen und in die rhetorische Frage verwandelt, „welchen Unterschied es ausmacht, ob unsere reifende Jugend im Theater oder im Wohnzimmer herumrätselt, was denn wohl ein ›achtzölliger Tröster‹ sei“ (SPIEGEL 51/1960b). Allerdings scheint hier für die Fernsehsender durchaus ein Unterschied vorgelegen zu haben, da genau diese Stelle in der letzten Schnittfassung entfernt worden sein soll (SPIEGEL 1961). Unabhängig davon gibt Telemann, aka Günther Goercke, ergänzend zu bedenken, dass „das Deutsche Fernsehen schon manches unmoralische Stück mit durchaus salonfähigen Wechselreden ins Jungmädchengemach gefunkt“ (SPIEGEL 51/1960b) habe. Kortners Adaption des antiken Klassikers wird zusätzlich durch den Hinweis einer „sprachlich gemilderten Fassung“ des „derben“ Originaltextes von dem Vorwurf sittlicher Verwerfungen entlastet (SPIEGEL 51/1960a). Überführt man diese Argumentationsweisen in eine übergeordnete topische Struktur lässt sich zusammenfassend sagen, dass DIE SENDUNG DER LYSISTRATA in der Beurteilung durch die Kritik nicht als Normverstoß wahrgenommen wurde, weil keine Differenz zwischen Istwert, als der Inszenierung des Fernsehspiels, und Sollwert, als dem akzeptablen Rahmen televisionärer Inszenierungsweisen, ausgemacht werden konnte. Auffällig wird das insbesondere an der Abwesenheit von konkreten Beispielen aus dem Fernsehspiel, an denen sich Normverstöße festmachen ließen, und an der Abwesenheit von Argumentationen, die für eine Ausweitung oder Stärkung von inszenatorischen Normen plädieren. Deshalb war der apodiktische Freispruch der LYSISTRATA – wie er in der oben zitierten FAZ-Kritik zum Ausdruck kommt – nicht begründungsbedürftig. Denn, wo nichts Anstößiges zu sehen ist, kann auch nichts Anstößiges verborgen sein. Selbst dort, wo sich dann noch Normverstöße vermuten ließen, nämlich auf der Textebene, werden diese mit einer fernsehgerechten Umarbeitung des Stückes und dem Hinweis auf das ‚Kulturmedium‘ Theater entkräftet. Damit wird der Versuch der Skandalisierung des Fernsehspiels durch die Rundfunkintendanten zurückgewiesen und als ein vorgeschobenes Ausweichmanöver dargestellt, mit dem die politischen Vorbehalte der Adaption eines pazifistischen Stoffes im Kontext der Auseinandersetzung über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik kaschiert werden sollen.
Diskursivierung der Kritik — der zurückgewiesene Skandal In der Gesamtschau folgte die Art und Weise der durch den erwogenen Sendungsboykott initiierten Thematisierung dem Verfahren eines zurückgewiesenen Skandals. Der Verlauf der Thematisierung der LYSISTRATA begann, soweit sich das aus den Artikeln rekonstruieren lässt, mit einem für die Print-
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berichterstattung gut verwertbaren Ereignis: dem erwogenen Sendungsboykott der Intendanten. Mit diesem Schritt nahmen sie – so zitiert sie der SPIEGEL (51/1960) – „den größten Skandal in der Geschichte des deutschen Fernsehens“ in Kauf. Führte dies zunächst zu einer zum Teil „fanatisierten Diskussion der Kommentatoren“ (SPIEGEL 5/1961), so hat sich deren ‚fanatischer‘ Gehalt mit Voranschreiten der Berichterstattung immer mehr abgeschwächt. Das zu enthüllende ‚Geheimnis‘ des vermeintlichen Skandals erschien mit der allmählichen Kenntnisnahme des Korpus Delicti durch Einsichtnahmen in das Drehbuch, Informationen von Vorabsichtungen und schließlich die Sendung selbst unter normativen und politischen Gesichtspunkten immer weniger skandalös. Darüber hinaus wurde nicht nur das Skandalpotenzial des Fernsehfilms einhellig zurückgewiesen, weil der Film nicht als Normverstoß wahrgenommen wurde, es fand auch kein wesentlicher Twist in der Berichterstattung statt, mit dem die offensichtlich politischen Motive der Intendanten – deren Vorhandensein in den Kritiken nicht in Zweifel gezogen werden – in den Vordergrund der Debatte gestellt worden wären. Stattdessen verfestigte sich die Kritik bereits am Tag nach der Ausstrahlung des Films zu einer konsensuellen Diskursposition, die den Konflikt auflöste. Dazu wurde der nicht vorzufindenden Anstößigkeit des Fernsehspiels und den politischen Bedenken einiger Intendanten, zu denen zuletzt nur noch Münster zählte, der Verriss von Kortners Inszenierung entgegengestellt – und zwar ebenso einhellig. Alle Artikel, die den ästhetischen Gehalt der Verfilmung ansprechen, kommen zu diesem Ergebnis, für das hier stellvertretend aus einer HÖRZU-Kritik zitiert wird: Unternimmt es dann mal einer, einen alten Stoff wenigstens ein bißchen aufzumöbeln, wie es Fritz Kortner mit der Lysistrata versuchte, dann soll das aus der Art geschlagene Machwerk gleich verboten werden; woraufhin sich weit mehr Leute die halbe Nacht um die Ohren schlagen, als es normalerweise tun würden. Man will sich ja nichts entgehen lassen. Fritz Kortner also sei Dank, daß er ein wenig Staub aufwirbelte, auch wenn dem Wirbel, den seine Lysistrata vor dem Fest ausgelöst hatte, nach dem Fest eine Art Katzenjammer folgte. So unmoralisch, so staatsfeindlich, so verderblich, wie man erwartet hatte, war das ja gar nicht; doch leider war auch die künstlerische Bewältigung der Aufgabe, die Kortner sich gestellt hatte, unvollkommen. Ruhe deshalb sanft, Lysistrata! (HÖRZU 6/1961)
Dieser Argumentation liegt der Topos der doppelten Zurückweisung zugrunde, mit dem sowohl die moralische (oder politische) Anstößigkeit als auch der ästhetische Gehalt eines kulturellen Artefakts in Zweifel gezogen werden. Das Resultat dieser Argumentationsstrategie war das Ende der öffentlichen Thematisierung, da sich die unbotmäßige Einflussnahme auf die Kunst und die unterstellte Minderwertigkeit des inkriminierten künstlerischen Produkts rhetorisch gegenseitig verrechnen ließen. Zurück blieb ein argumentatives Nullsummenspiel, das sich der Überschrift ‚Viel Lärm um Nichts‘ subsumieren ließe. Die Kritik folgte damit dem Muster einer diskursiven Normalisierung, das idealtypisch das Ende jeder Skandalisierung bildet. Verstärkt wurde die-
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ser Effekt durch die damit verbundene, vereinzelt einsetzende Selbstreflexivität. Es wurde unterstellt, dass die durch die Printmedien vorangetriebene Auseinandersetzung um die LYSISTRATA letztlich doch einen Gewinner habe – nämlich den Regisseur Kortner. Dessen Inszenierung bzw. politisches Sendungsbewusstsein sei auf diese Weise „ein mehr als fernsehübliches Interesse entgegengebracht“ (WELT 18.01.1961) worden, das – ökonomisch betrachtet – „aus eigenen Mitteln von einer Filmfirma kaum zu finanzieren [gewesen] wäre“ (SPIEGEL 5/1961a). Damit wurde die unterstellte politische Strategie der ARD-Intendanten, durch die Zensur einer Sendung auf die Rezeption des Programms Einfluss zu nehmen, als medial kontraproduktiv gekennzeichnet und dem Regisseur Kortner als dem vermeintlich Leidtragendem eine symbolische Entschädigung zugesprochen.
Wert des Privaten — paternalistischer Moralbegriff Auch der an den Normverstoß angelagerte Diskurs über den Wert des Privaten schließt in der LYSISTRATA-Debatte an die Logik der Praxis von Skandalen an. Das bedeutet in diesem Fall, er fand kaum statt – oder als Kurzformel: Kaum Skandal, kaum Wertekonflikt. Im Gesamtzusammenhang der Debatte ist das weitgehende Ausbleiben eines ersichtlichen Privatheits-Diskurses allerdings durchaus vielsagend. Denn es deutet darauf hin, dass die gesamte Auseinandersetzung über die LYSISTRATA vor dem Hintergrund eines breiten normativen Konsenses geführt wurde, der nicht eigens expliziert werden musste, da er durch Kortners Inszenierung dem allgemeinen Vernehmen nach nicht angetastet wurde. Die Stärke der allgemein herrschenden Vorstellung eines fest gefügten Rahmens, in dem das Fernsehen Intimität filmisch inszenieren konnte, führte dazu, dass die Gegner der Sendung zuletzt (vergeblich) versuchten, Kortners erzählerische Parallelführung von Antike und Gegenwart als ein Verstoß gegen Inszenierungsnormen geltend zu machen. Dennoch lassen sich Spuren eines Diskurses über das Private in der Art und Weise auffinden, wie der vermeintliche Normverstoß des Fernsehspiels debattiert wurde. Auffällig sind zwei Aspekte, die einen Privatheits-Diskurs zumindest schemenhaft einfassen. Erstens tauchen Begriffe wie ‚Moral‘ und ‚Sitte‘ oder ‚Sittlichkeit‘ im Vergleich zu den späteren Fällen des Untersuchungskorpus signifikant häufig auf: Der Wortstamm |moral| wird in den 11 Artikeln zur LYSISTRATA 18 Mal, |sitt| 9 Mal angeführt (bei insgesamt 138 bzw. 66 Nennungen in allen 321 Texten). In Anbetracht der jeweils verschiedenen Verwendungsweisen und Sinnzusammenhänge bedeutet das zunächst einmal nicht mehr, als dass es sich hier um einen Bezug handelt, der allgemein als relevant angesehen wurde. In der Fernsehkritik der frühen 1960er Jahre galten folglich moralische und sittliche Kategorien bei der Beurteilung des Programms als legitime Maßstäbe. Der Bezug auf ‚Moral‘ bildete ein nicht nur legitimes, sondern geradezu selbstverständliches Element des Privatheits-Diskurses. Darin wird ein bestimmter Umgang mit der Geltung von Werten ersichtlich, der sich in einem autoritären bzw. paternalistischen Moralbegriff niederschlägt. Deutlich wird das in einem SPIEGEL-Artikel, der die Pro- und Kontra-Positionen gegeneinander stellt:
ANALYSE | 255 Etliche der Fernseh-Oberen, so schien es, mochten ihrem Publikum die aristophanischen Frivolitäten nicht zumuten. Allein die Auffassungen in der Branche gingen auseinander. Während Mit-Produzent Trebitsch (Realfilm) beispielsweise äußerte: »Ich würde nichts machen, wofür ich mich vor meinen Kindern geniere«, bekundete WDR-Fernsehdirektor Dr. Lange: »Mit meiner Frau zusammen würde ich den Fernsehfilm nicht sehen wollen. Auch nicht mit meinem 19jährigen Sohn.« (SPIEGEL 51/1960)
In diesem Zitat wird die Malaise des Privatheits-Diskurses doppelt auf den Punkt gebracht. Die genauere Ausdeutung von Moral ist dort, wo es um Fragen der Sexualität geht, an die Einschätzung des erwachsenen Mannes als ‚treusorgendem‘ Familienvater gebunden, für den eigene moralische Maßstäbe gelten. Was bezüglich des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität akzeptabel ist und was nicht, bleibt seiner individuellen Wahrnehmung unterworfen. Auf diese Weise wurde die diskursive Eingrenzung der Inszenierung von Sexualität mit einem Problem konfrontiert, da im Konfliktfall nicht rationale Argumente oder fest gefügte Normvorstellungen den Bezugsrahmen für die Auseinandersetzung bilden konnten, sondern das subjektive Befinden der bevormundenden Autoritätspersonen. Zu denen zählen die Intendanten wie auch die Fernsehkritiker selbst. Besonders deutlich wird die paternalistische Haltung in dem einzigen der 11 Artikel, der die Absetzung der LYSISTRATA für gerechtfertigt hält. Der rechts-konservative Publizist William S. Schlamm, einer der prominentesten Verfechter der atomaren Wiederbewaffnung (Peters 2005), verteidigt das Vorgehen des bayerischen Intendanten Münster damit, dass am „Liebesstreik der Frauen gemessen die Absetzung der Kortnerschen Lysistrata wahrhaftig eine humane und geradezu harmlose Vernichtungswaffe“ darstelle. Denn: Wie können Leute, die zur Durchsetzung politischer Ansichten die Verweigerung so wesentlicher privater Rechte empfehlen, Rundfunkintendanten das Recht verweigern, in Vertretung ihrer politischen Ansichten eine Affäre mit Herrn Kortner abzulehnen? (STERN 1/1961)
Wenngleich neben Schlamms Beistand zu Münsters Position auch seine zugespitzte Formulierung „privater Rechte“, mit der die Verfügung des Ehemanns über die Sexualität seiner Frau legitimiert werden soll, im untersuchten Artikelset keine Rolle spielt, so lässt sich das darin liegende Argumentationsschema im gesamten Diskurs wiederfinden. Zwar nicht in dem Sinne, dass Frauen das Recht zum Ehestreik abgesprochen werden soll – selbst der Polemiker Schlamm vertritt diese konservative Position nur mit einer gewissen Ironie (wenngleich er es tut). Wohl aber in einem generelleren Sinn, demnach gesellschaftliche Fragen, die den Bereich des Privaten tangieren, der Subjektivität männlicher Entscheidungen unterliegen. Schlamms Nonsens-Analogie von „Leuten“, die „die Verweigerung wesentlicher privater Rechte empfehlen“, mit den Entscheidungen der Rundfunkintendanten baut auf das Bild der bevormundenden Vaterfigur, deren Handlungsweisen als nicht begründungspflichtig angesehen werden.
256 | EIN MEDIENDISKURS
Die allermeisten Kritiker greifen bei der Beurteilung auf diesen Topos zurück, anstatt z.B. rechtlich, kulturgeschichtlich oder soziologisch zu argumentieren. Ironischerweise findet sich jedoch parallel dazu ein Argumentationsstrang, der genau diese Beliebigkeit zum Anlass der Kritik nimmt. Lauert diese Kritik unterschwellig schon in der Parallelisierung der Äußerungen von Produzent Trebitsch und Fernsehdirektor Lange im oben zitierten SPIEGEL-Artikel, so wird dieser wunde Punkt der Debatte in der ZEIT (5/1961) unter der Überschrift „Wessen Schamgefühl wird verletzt“ zum eigentlichen Thema gemacht. Dazu werden die Ereignisse um die Ausstrahlung der LYSISTRATA mit der Absetzung einer Reihe vertonter Gedichte von Hans Magnus Enzensberger durch den Hessischen Rundfunk verglichen, die von anderen Hörfunkanstalten gesendet worden waren. Eine Zensur, so lautet die Botschaft des Artikels, „kann in sich konsequent nur im Rahmen eines durchformulierten Wertsystems, das eindeutig Gut und Böse bestimmt, ausgeübt werden“. Geschehe sie hingegen „im Namen des unwägbaren Seelenlebens einer unbestimmbaren Allgemeinheit“, sei das „ein Ding der Unmöglichkeit“. Denn: „Haben die Hessen etwa eine andere, empfindlichere Moral als die Bayern oder Westfalen?“ Mit der Moral der Hessen, Bayern oder Westfalen sind hier freilich weniger die Moralvorstellungen der Bayern, Hessen oder Westfalen gemeint. Die Bundesländer stehen hier als Metonymie für die Moral ihrer Intendanten, die dazu angehalten werden sollen, einen einheitlichen Wertebegriff vorzugeben, mit dem sich die Grenzen der medialen Inszenierung von Privatheit verbindlich abstecken lassen.
Fernsehen und Öffentlichkeit — das überschaubare Medium Den wesentlichen Kern für die Thematisierung des Fernsehens als gesellschaftliches Kommunikationsmedium bildet die Zensurfrage. Auffälligerweise geschah das in einem relativ unaufgeregten Ton (wobei es fraglich ist, inwieweit die Ablehnung der Ausstrahlung einer Sendung durch den Intendanten eines Sendegebiets einer Zensur gleichkommt). Dieser Umstand mag zum Teil auf ein für heutige Verhältnisse autoritätsbezogenes Gesellschaftsbild zurückzuführen sein. Eine weitere Erklärung, die sich direkt aus den Kritiken ableiten lässt, liegt darin, dass die Institution Fernsehen im Diskurs als das Produkt individueller Entscheidungsträger porträtiert wird. Dieses Erscheinungsbild ermöglichte die Identifikation verschiedener Protagonisten, die das Bild des Mediums bestimmen und kontrollieren und deren Ansichten und Haltungen im Konfliktfall aneinandergeraten. Das lässt sich auf verschiedenen Ebenen verfolgen: von den Schauspielern (insbesondere Romy Schneider) über den Regisseur Kortner, den Produzenten Trebitsch bis hin zu den Intendanten, denen in allen Artikeln die Rolle der Protagonisten zukommt. Und die Kritik positionierte sich ihrerseits auf Augenhöhe zu diesen Protagonisten, indem sie sich deren Motiven und Interessen gegenüber als vertraut darstellt. Das Fernsehen wurde auf diese Weise nicht als ein anonymes System oder ein mechanistischer Apparat evoziert, sondern als ein regulier- und beherrschbares Produkt gesellschaftlicher Eliten, dessen Mechanismen für die Kritik durchschaubar bleiben.
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Dabei wurde diesen Eliten – das wird an der Verhandlung moralischer Konventionen deutlich – ein erhebliches Maß an Vertrauen entgegengebracht. Einem Kritiker der WELT genügt schon der Blick in das Drehbuch, um zu wissen, dass kein Tabubruch stattgefunden haben konnte: Selbst wenn man aber vermutet, in seinen Film sei wortlos obszönes hineinkomponiert – ist es anzunehmen, die Intendanten der Sender hätten es nicht bemerkt? Der neue Frankfurter Programmdirektor beispielsweise ist Pastor. (WELT 12.12.1960)
Das Fernsehen stand anno 1960/61 nicht in dem Ruf ein Skandalmedium zu sein. Im Gegenteil wurde das junge Massenmedium als schon etwas angestaubt, langweilig und altbacken angesehen. Das Fernsehen fühle sich „in seiner Rolle als Bildungsinstitut offensichtlich wohl“, heißt es abwertend in einer Sammelkritik der HÖRZU, und mit Bezug auf den Skandalgehalt der LYSISTRATA fährt der Autor fort, es sehe „trübe […] aus, wenn man diese ›Lysistrata‹ als Maßstab nimmt für das, was im Deutschen Fernsehen erlaubt oder nicht erlaubt sein soll“ (HÖRZU 6/1961). In eine ähnliche Kerbe schlägt der SPIEGEL mit der Feststellung, die Aufregung um die LYSISTRATA hätte „bei den wahrhaft nicht verwöhnten Zuschauern Hoffnungen erweckt, von denen nicht eine erfüllt wurde“ (SPIEGEL 5/1961). In diesen Zitaten klingt an, dass die autoritäre, bildungsbürgerliche Verfasstheit des Fernsehens bereits von Teilen der Kritik unter Bezugnahme auf ein mündiges Publikum abgelehnt wurde. Bezogen war die Kritik am Fernsehen jedoch nicht auf den Umgang mit Sexualität, sondern in erster Linie auf den Unterhaltungsgehalt des Fernsehens. Verdeutlichen lässt sich dies an der Einbeziehung des Zuschauers in die Frage der Rechtmäßigkeit der Sendungszensur. Kritisiert wurde an der Haltung der Intendanten, die sich gegen die Ausstrahlung der LYSISTRATA ausgesprochen hatten, nicht der indirekte Eingriff in die Meinungsfreiheit Kortners, als eventuelles Recht sein Fernsehspiel gesendet zu sehen – das wird zwar angesprochen, aber nicht als problematisch angesehen. Kritisiert wurde hingegen, den Zuschauern damit ein eventuelles Fernsehereignis vorenthalten zu haben, das aus dem faden Einerlei historischer Inszenierungen herausrage. Ein solcher Verweis auf das Recht der Zuschauer, ein einmal produziertes Programm zu sehen, muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das Vertrauen, das dem ‚überschaubaren‘ Medium entgegengebracht wurde, auch für dessen Zuschauer galt, die „keinen Vormund“ brauchen (STERN 52/1960). Die Fernsehzuschauer galten zur damaligen Zeit noch als eine durchaus exklusive, bildungsbürgerliche Teilöffentlichkeit, der der Film „zur eigenen Entscheidung vorgelegt werden muß“ (WELT 12.12.1960), wenngleich unklar sei, ob Kortners „inszenierte Propaganda die Zuschauer so zum Nachdenken gebracht hätte, wie er es wollte“ (WELT 18.01.1961). Solche Positionen müssen allerdings zum Teil relativiert werden, da der Umgang der printmedialen Kritik mit dem Fernsehen zweigeteilt ist. Einerseits gibt es Artikel, die aus der Position des traditionellen Feuilletons geschrieben sind, andererseits solche, in denen die junge Fernsehkritik ihren Ausdruck findet. Während die noch kaum institutionalisierte Fernsehkritik einen latent ironischen Umgang mit ihrem Gegenstand pflegte, mit dem indi-
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rekt signalisiert wurde, es mit einem eher leichteren Unterhaltungsmedium zu tun zu haben, begegnete das klassische Feuilleton dem Fernsehen als humorfreier Großkritiker mit hochgerecktem Zeigefinger. Das wird in der bereits angeführten FAZ-Kritik gut deutlich. Bezüglich der ästhetischen Qualität des Fernsehspiels heißt es dort, dem Topos der doppelten Zurückweisung folgend: Insbesondere die Massenszenen der Athenischen Frauen sind mühsam, fast temperamentlos fotografiertes Theater, gelegentlich nicht ohne Anklänge an Meiningerei. Die Rahmenhandlung ist modernistisch aufgeputzt und entspricht trotz Barbara Rüttings tragischer Pose nicht ganz dem Ernst des Themas und dem politischmoralischen Anspruch. (FAZ 19.01.1961)
Der hier erhobene Vorwurf, Kortners Aufbereitung der Komödie sei ein minderwertiges Sublimat („temperamentlos fotografiertes Theater“), das keine Substanz aufweise („modernistisch aufgeputzt“) und deshalb ästhetisch unangemessen sei („entspricht nicht ganz dem Ernst des Themas und dem politisch-moralischen Anspruch“), lässt sich über die LYSISTRATA hinaus als eine Abfolge zeitgenössischer Klischees zum Fernsehspiel lesen. In ihnen drückt sich der ästhetisch minderwertige Status aus, der dem Fernsehen von der traditionellen Kulturkritik eingeräumt wurde. Spiegelverkehrt dazu sind es genau die Modernität des Gegenwartsbezugs und eine gewisse Leichtigkeit der Inszenierung, die sich der HÖRZU-Kritiker von der LYSISTRATA versprochen hatte, die er aber genauso wenig eingelöst sieht.
1970—1982: Von MILLIONENSPIEL zu ARENA: DIE
NEUEN
NACKTEN
Ereignisbezüge (E2) DAS MILLIONENSPIEL ist ein 1969/70 vom WDR produziertes Fernsehspiel von Tom Toelle (Regie) und Wolfgang Menge (Buch), das auf die Kurzgeschichte THE PRIZE OF PERIL (1958) des amerikanischen ScienceFiction Autors Robert Sheckley zurückgeht. Die Erstausstrahlung war am 18.10.1970 um 20:15 Uhr in der ARD. Im Zentrum des MILLIONENSPIELs steht eine gleichnamige Fernsehshow, die in der zum damaligen Zeitpunkt imaginären Zukunft eines ‚dualen Rundfunksystems‘ angesiedelt ist. In der Show des fiktiven Senders TETV ist der Wettkampfgedanke televisionärer Unterhaltung zu einem mörderischen Spiel pervertiert. Ein Kandidat wird eine Woche lang von drei Konkurrenten durch die Bundesrepublik gehetzt, die den Auftrag haben, den Flüchtenden zur Strecke zu bringen. Als Gewinn ist ein Preisgeld von einer Million D-Mark ausgeschrieben. Die mörderische Jagd wird von Kamerateams begleitet und ist in die abendfüllende Unterhaltungsshow des privat-kommerziellen Fernsehsenders eingebunden, in der es auch zum letzten Showdown zwischen dem Opfer und seinen Killern kommt. Beim MILLIONENSPIEL handelt es sich um eine Mediensatire, die mit einer überzeichneten Projektion die Veränderung des Fernsehens durch die Zulassung rein kommerzieller Anbieter zu antizipieren versucht.
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Die ästhetische Besonderheit der Satire liegt in der Art und Weise der Inszenierung, die über große Strecken das Fernsehspiel wie eine tatsächliche Show aussehen lässt. So war bei der Originalausstrahlung beispielsweise bereits die Fernsehansagerin, die eine Spielshow und keinen Film ankündigt, ein Teil der Fiktion. Gleichwohl der fiktionale Charakter des MILLIONENSPIELs insgesamt für geübte Zuschauer kaum zu übersehen ist (Hickethier 1994b, 318) und es in der Programmpresse (z.B. HÖRZU 44/1970) auch als „Fernsehspiel“ angekündigt war, wurde es in der Öffentlichkeit zu einem Ereignis, da einigen Zuschauern das fiktive Setting und damit das kritische Moment entgangen war. Bei den Sendeanstalten meldeten sich in der Folge genauso Menschen, die ihre moralische Abscheu kundtun wollten, wie solche, die sich als Kandidaten für zukünftige Folgen zur Verfügung zu stellen gedachten. (E3) Die Samstagabendshow WÜNSCH DIR WAS war eine Gameshow, in der Familien gegeneinander um ein kleines Preisgeld wetteiferten. Den Spielen lag zumeist die Idee zugrunde, zu überprüfen, wie vertraut die jeweiligen Familienmitglieder miteinander sind. Über Gewinn und Niederlage entschieden die Zuschauer der Stadt, in der die Sendung zu Gast war, mittels einer Abstimmung per Stromverbrauchsvoting (‚Lichttest‘). Die Spielshow wurde von 1969–1972 in Koproduktion von ZDF, ORF und dem Schweizer Fernsehen produziert und war der Versuch einer Erneuerung des Unterhaltungsfernsehens, das mit – wenn auch diffusen – politisch-pädagogischen Elementen aufgetankt werden sollte (vgl. Hickethier 1998, 216). Flankiert wurde dieses Bestreben von der neu einsetzenden Unterhaltungsstrategie des ZDF und den gesellschaftlichen Veränderungen zum Ende der 1960er Jahre. Die Konzeption versuchte, diese beiden Entwicklungen zu vereinen und das Unterhaltungsgenre „zu nutzen, um die Zuschauer in spielerischer Form zum Nachdenken über sich selbst, ihre angelernten Verhaltensweisen und die Gesellschaft, in der sie leben, anzuregen“ (Hallenberger/Kaps 1991, 48). WÜNSCH DIR WAS stand damit im Ruf, einer ‚links-liberalen‘ Ideologie anzuhängen, was besonders auf Dietmar Schönherr zurückgeführt wurde, der zusammen mit seiner Frau, der Dänin Vivi Bach, alle Sendungen moderierte. In diesem Korpus sind zwei Folgen vertreten, die auf die Jahre 1970 und 1971 datiert sind. In der Folge vom 07.11.1970 war das übergreifende Thema die neue gesellschaftliche Freizügigkeit beim Umgang mit dem eigenen Körper. Zu Beginn der Show wurden die Spielfamilien gefragt, ob sie es sich vorstellen könnten, ihre Töchter ‚oben ohne‘ fotografieren zu lassen, was alle Familien ablehnten (die Familien internen Diskussionen wurden heimlich aufgezeichnet). Im späteren Verlauf wurde dann ein Spiel gespielt, bei dem zuerst von professionellen Models drei mehr oder weniger freizügige Bekleidungskombinationen vorgeführt wurden. Die Töchter der gegeneinander angetretenen Familien hatten dann die Aufgabe, sich für eines der Outfits zu entscheiden, und die anderen Familienmitglieder sollten vorhersagen, welches das sein würde. Das zentrale Diskursereignis der Sendung erwuchs daraus, dass sich die 17-jährige Tochter Leonie der Familie Stöhr für eine Kombination entschied, zu der eine durchsichtige weiße Bluse gehörte, die – da sie wie das Model keinen BH trug – die natürliche Anatomie ihres Oberkörpers durch
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den Stoff schimmern ließ. Familie Stöhr wurde von den Zuschauern zur Siegerfamilie gewählt. Das zweite Ereignis geht auf die Sendung vom 27.03.1971 zurück, in der – in Vorbereitung der beginnenden Urlaubssaison – das Thema ‚Verkehrssicherheit‘ spielerisch umgesetzt werden sollte. Als ein Highlight nahm die vierköpfige Familie Dreyer in einem Kleinwagen Platz, der an einem Kran hängend in einem übergroßen Wasserbassin versenkt wurde. Mit der Vorführung sollte vermittelt werden, wie wichtig es in einer solchen Situation ist, möglichst schnell die Türen zu öffnen, um das Auto verlassen zu können. Der Mutter der Familie misslang das in der einsetzenden Panik jedoch, sodass ein bereit stehendes Rettungsteam eingreifen und sie aus dem versenkten Auto befreien musste. Für ein weiteres Ereignis sorgte eine (lilafarbene) Nelke, die Moderator Schönherr im Knopfloch trug, da sie ihm als ein Statement zur bevorstehenden Bundestagswahl in Österreich ausgelegt wurde. Nach zahlreichen Anrufen entfernte er sie im Verlauf der Sendung. (E4) DIE LETZTE STATION, eine am 03.10.1971 um 17:15 Uhr im Nachmittagsprogramm des ZDF gezeigte Dokumentation von Siegfried Braun und Reinhold Iblacker, bildet – ähnlich wie DAS MILLIONENSPIEL – einen selbstreferenziellen Verweis auf das Medium Fernsehen. Entstanden ist sie als Ergänzung zu der im Juni 1971 gesendeten ZDF-Dokumentation NOCH 16 TAGE, in der die Filmemacher über eine Londoner Sterbeklinik berichten, die unheilbar erkrankten Menschen Zuflucht für ihre letzten Tage ist. Für DIE LETZTE STATION haben die Filmer die dokumentarische Blickrichtung gewendet und die Dreharbeiten des eigenen Filmteams in dem gesellschaftlich tabuisierten Bereich der Sterbeklinik zum Thema gemacht. Der Film konfrontiert die Zuschauer mit der routinierten, manchmal zynischen Abgeklärtheit der Filmleute im Antlitz des allgegenwärtigen Todes. (E5) NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE GESELLSCHAFT IN DER ER LEBT ist ein 1970 vom WDR produziertes Fernsehspiel, das Rosa von Praunheim (mit bürgerlichem Namen Holger Mischwitzky) inszeniert und zusammen mit dem Soziologen Martin Dannecker geschrieben hat. Der Titel des Films ist das Resümee einer Studie über Homosexualität in der Bundesrepublik, die Dannecker zur gleichen Zeit zusammen mit Helmut Reiche am Frankfurter Institut für Sexualforschung durchgeführt hat (vgl. Dannecker/Reiche 1974). Er erzählt von einem jungen Mann, der aus der Provinz nach Berlin zieht und in die schwule Subkultur der Metropole eintaucht. Diese Subkultur entpuppt sich als ein Randbereich der Gesellschaft, der Homosexuelle in die soziale und emotionale Isolation treibt und aus der es – so die Botschaft – nur ein Entkommen gebe, wenn es den Homosexuellen gelingt, ihre Sexualität zu einem normalen Erscheinungsbild des alltäglichen Lebens werden zu lassen. Praunheims Fernsehfilm, der in der rauen Ästhetik des Autorenfilms gedreht ist, macht trotz des soziologischen Untertons nicht den Versuch, das ‚Problem‘ Homosexualität der Gesellschaft nahezubringen, sondern wendet sich direkt an die Leidensgenossen, die aufgefordert werden, ihre marginalisierten Ghettos zu verlassen und aktiv ihre Rechte einzufordern. Er stieß auf eine Gesellschaft, in der erst 1969 durch die Novellierung des § 175 gleichgeschlechtliche Sexualität juristisch legitimiert worden war. Für die Fernseh-
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kritik wurde NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE GESELLin zwei aufeinander folgenden Jahren zum übergreifenden Thema, weil sich einige Rundfunkanstalten weigerten, ihn auszustrahlen (vgl. Lange 1973). Die ursprünglich vorgesehene Erstausstrahlung in der ARD im Januar 1972 wurde von der Mehrzahl der Intendanten verhindert, sodass die Erstsendung am 31.01.1972 nur im Spätprogramm des WDRRegionalfernsehens erfolgte. Erst im darauf folgenden Jahr, am 15.01.1973, hatte der Film um 22:35 Uhr in der ARD Premiere, bei der sich der BR aus dem Programm ausklinkte. Im Anschluss an die Ausstrahlung wurde von 23:40 bis 00:55 Uhr eine Publikumsdiskussion mit den Autoren gesendet, die von dem Fernsehjournalisten Reiner Münchenhagen moderiert wurde. (E6) DAS PODIUM war eine vom WDR veranstaltete, monothematische Diskussionssendung, die im Nachmittagsprogramm der ARD angesiedelt war. Erörtert wurden zumeist sogenannte ‚weiche‘ gesellschaftlichen Themen. Die Diskussionen wurden von der Ärztin und FDP-Politikerin Hedda Heuser moderiert und in den Kölner Studios des WDR vor Publikum aufgezeichnet. Dabei bediente man sich auch kleinerer Einspielfilme, um in das Thema einzuführen. Die hier verhandelte Sendung wurde am 16.08.1973 von 16:20–17:00 Uhr mit dem Untertitel »HAUSFRAU, VERHEIRATET, 7 KINDER, SUCHT BEGEGNUNGEN IN KÖRPER, GEIST UND SEELE« gesendet. Im Mittelpunkt stand die verheiratete Hausfrau Helga Götze aus Hamburg, die den Text der Titelfolge regelmäßig in den ST. PAULI NACHRICHTEN annonciert haben soll. Nach einem kurzen Porträtfilm zu Frau Götze, in dem über ihren freizügigen und emanzipierten Umgang mit Sexualität berichtet wird (auch der Mann und die erwachsenen Kinder hatten kaum etwas gegen ihr Liebesleben einzuwenden), folgte eine hitzige Diskussion zwischen der 51-Jährgen und einer Handvoll Gäste, zu denen der Schriftsteller Volker Elis Pilgrim, der Journalist Wulfing von Rohr, die Oberstaatsanwältin Barbara Just-Dahlmann und der Medizinalassistent Clemens Cording zählten. Der WDR zeigte die komplette, ursprünglich zweistündige Diskussion (in der ARD waren nur die ersten etwa 25 Minuten zu sehen) am nächsten Abend ab 20:15 Uhr im Rahmen der Gesprächsreihe ENDE OFFEN. (E7) Unter dem Titel SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN sendete der WDR ab Sonntag dem 13.10.1974 im Regionalprogramm eine monatliche Servicesendung, in der Zuschauern die Möglichkeit geboten wurde, das Fernsehen als Forum bei der Suche nach einem Lebenspartner zu nutzen. Die Sendung beruht auf einer Idee des Bühnen- und Fernsehautors Tankred Dorst, die von dem WDR-Redakteur Rolf Spinrads umgesetzt wurde. In der zwischen 21:00 und 21:45 Uhr ausgestrahlten Sendung erhielten drei Personen, die sich zuvor beim WDR beworben hatten, die Möglichkeit in 15minütigen Gesprächen mit dem Moderator Reiner Münchenhagen über sich und ihren Partnerwunsch Auskunft zu geben. Die Gespräche wurden in einer vertraulichen Studioatmosphäre ohne Publikum an einem kleinen, runden Holztisch aufgezeichnet, an dem nur der Moderator und die drei Kandidaten Platz genommen hatten. (E8) ARENA war eine sechzigminütige Diskussionssendung zu kulturellen Themen, die von den ARD-Anstalten im Wechsel live produziert und in vierwöchentlichem Rhythmus dienstags im Spätprogramm der ARD ab 23:00
SCHAFT IN DER ER LEBT
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Uhr ausgestrahlt wurde. Das Setting bestand aus einer Gesprächsrunde, die im Halbrund sich erhebender Ränge platziert war, von denen aus das Studiopublikum auf die Diskutierenden hinabblickte. Zum Diskursereignis geriet die Folge vom 07.09.1982, die unter dem Titel „Die neuen Nackten – eine neue Erkenntnis?“ vom SFB verantwortet wurde. Die Diskussionsrunde unter der Leitung des Moderators Justus Boehncke setzte sich zusammen aus dem Autor Ernest Bornemann, dem Filmemacher Rosa von Praunheim, der Journalistin Carmen Thomas, der mit einem Pfarrer verheirateten CDUPolitikerin Elisabeth Motschmann und dem Theologen Waldemar Molinski. Ereignischarakter gewann die Sendung, als sich – im Anschluss an die vorgesehene Performance eines ‚Nacktkünstlers‘ – die inkognito unter den Publikumsgästen weilende, mittlerweile 61-jährige Helga Götze von ihrem Zuschauerplatz erhob und ihrer Kleidung entledigte. In der Folge verschärfte sich der Streit unter den Diskutanten. So wurde u.a. die über den GötzeAuftritt besonders empörte Pfarrersgattin Elisabeth Motschmann von Filmemacher Praunheim gefragt „wie oft sie in der Woche gebumst“ (zit. n. BUF 08.10.1982) werde.
Grenzsetzungen (E2) Der Erörterung des MILLIONENSPIELs muss vorangestellt werden, dass es sich hier um ein Ereignis handelt, dass nur indirekt das Diskursfeld ‚Privatheit‘ berührt, da das Fernsehspiel selbst bereits eine reflexive Verknüpfung zwischen der Frage nach Inszenierungsgrenzen und der Einbindung von Zuschauern in den Inszenierungsrahmen des Fernsehens vornimmt. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts können zwei Argumentationsweisen unterschieden werden, mit denen Grenzüberschreitungen thematisiert werden. Auf der einen Seite lassen sich Argumentationen finden, die dem Fernsehspiel vorwerfen Grenzen überschritten zu haben. Diese greifen jedoch nicht auf Fragen zurück, die die Inszenierung von ‚Privatheit‘ betreffen oder ähnlich gelagerte Fragen nach den Grenzen der fiktiven Repräsentation von beispielsweise Gewalt stellen. Vielmehr richtet sich die Kritik auf die selbstreflexive Inszenierungsweise des MILLIONENSPIELs, in der eine bewusste Irreführung der Zuschauer gesehen wird. Rhetorisch wird diese Argumentation in der Regel indirekt umgesetzt, durch die wörtliche Wiedergabe von Zuschauerkommentaren. Häufig wird diese Argumentation jedoch durch ebenfalls angeführte, entgegengesetzte Zuschauermeinungen oder die Hervorhebung der in den Zitaten zum Ausdruck kommenden Fehlinterpretationen der Satire konterkariert oder zumindest abgeschwächt. Nur die Kritikerin Sibylle Wirsing vertritt diese Position offensiv im TAGESSPIEGEL, indem sie schreibt, „Fairness und Verantwortungsbewußtsein hätten es geboten, das Spiel kurz zu unterbrechen und noch einmal dezidiert auf seinen kritischphantastischen Charakter hinzuweisen“ (TS 29.10.1970). Ein anderes, singuläres Argumentationsmuster, dass sich auf die Inszenierungsweise des MILLIONENSPIELs bezieht, ist in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu finden. Der Autor wirft dem MILLIONENSPIEL vor, mit der Verlegung der Handlung in die fiktive Zukunft eines fiktiven kommerziellen Senders politisch gewollt vom eigenen, öffentlich-rechtlichen Programm ablenken zu wollen und damit gleichzeitig die Möglichkeit zu ergrei-
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fen, das eigentlich Kritisierte erst möglich werden zu lassen: „die Satire wird zum Vorwand, gerade das zu zeigen, was man zu verdammen vorgibt“ (FAZ 20.10.1970). Als das ‚Verdammenswerte‘ (also die Grenze) wird allgemein das „Spiel mit der Brutalität“ ausgemacht, das in der Narration auch noch ‚ausgerechnet‘ im „Bischofssitz Osnabrück“ angesiedelt sei. Die Mehrzahl der Artikel lokalisiert die eigentliche Grenzverschiebung in den affirmativen Reaktionen der bzw. einiger Zuschauer auf das Fernsehspiel. Der FAZ-Kritik entgegengesetzt wird im MILLIONENSPIEL ein Katalysator gesehen, der offenbar werden lasse, dass seitens des Publikums die Bereitschaft bestehe, ein anderes Fernsehen zu akzeptieren, in dem die gesetzten Normen eines menschenwürdigen Umgangs mit Kandidaten außer Kraft gesetzt sind. Während die meisten Artikel dies anhand der – in der Regel von den Sendeanstalten übermittelten – Zuschauerreaktionen zu belegen versuchen („Noch während der Sendung meldeten sich beim WDR 14 Männer zwischen 17 und 50 Jahren als Todeskandidaten, etliche als Jäger“, HÖRZU 45/1970), formuliert der Kommentator der HAMBURGER MORGENPOST einen anthropologischen Gemeinplatz, der das Verhältnis der Zuschauer zum Fernsehen bestimmen soll: [...] unser Hunger auf Brot und Zirkus ist unstillbar, bis wir ins Gras beißen. Rennfahrertod, Boxertod, Fußballertod, Startod, – Galgen im Irak, Garotte in Spanien, das war, das ist, da fehlt das Besondere. Wir wissen, daß wir rufen können: »Spring!«, wenn einer oben im Fenster steht und Schluß machen will. Wir jodeln ihm Mut zu, wir wollen sehen, wie er stirbt. Daß er stirbt. Dann haben wir Stoff für den Stammtisch und glauben daß wir – nun erst recht – leben. (HMP 19.10.1970)
DAS MILLIONENSPIEL wurde somit im Mainstream der Kritik als die Blaupause eines Mediums begriffen, das sich in dem Moment in eine Art Horrorszenario verwandle, wo es aus den Händen regulierender, Normen verbürgender Instanzen gerät und nur mehr dem freien Spiel der Zuschauererwartungen ausgeliefert ist. Der Kritiker Alexander Rost kommt vor diesem Hintergrund zu der Überlegung, das Fernsehspiel könne als eine „Dokumentation“ betrachtet werden, mit der „Volkesstimme“ der Spiegel vorhalten werde (ZEIT 23.10.1970). (E3) WÜNSCH DIR WAS-Folge vom 07.11.1970 (‚Schülerin in durchsichtiger Bluse‘): Ein kleinerer Teil der Artikel (5 von 12) wendet sich der versteckten Aufzeichnung zu, in der die Familien darüber beratschlagen, ob sich ihre 16- und 17-jährigen Töchter ‚oben ohne‘ fotografieren lassen sollen. Für die LÜBECKER NACHRICHTEN liegt in dieser Spielidee die eigentliche Grenzverletzung, da den Spielfamilien in diesem Moment die Kontrolle über ihre telegene Außenwirkung entzogen sei. Damit laufe das Fernsehen Gefahr, in eine neue Phase des Umgangs mit Laienkandidaten einzutreten, in der sich die „mitspielenden Familien darüber im klaren sein [müssen], daß mit ihnen alles gemacht wird“ (LN 10.11.1970). Die Spielfamilien würden auf diese Weise eine Art natürlichen Schutzraum verlieren und seien der Allgegenwärtigkeit des „Fernsehauges“ (LN) ausgesetzt, die einem „Eingriff in die Privatsphäre“ (TZ 14.11.1970) gleichkomme. Diese Kritik erweist sich insgesamt jedoch als randständige Position, was neben der geringen Thematisierung
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auch daran deutlich wird, dass zwei der fünf Artikel, die auf diese Szene eingehen, darin lediglich ein „munteres Spiel“ (WELT 10.11.1970) wahrnehmen, das der Spannung zuträglich und damit gerechtfertigt sei (STN 09.11.1970). Der Auftritt der 17-jährigen Schülerin Leonie Stöhr ist hingegen das Ereignis, auf das alle 12 Kritiken eingehen. Sie kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Durchsichtigkeit der Bluse einem ‚barbusigen‘ Erscheinungsbild gleichzustellen sei. Bei der Bewertung dieses Bildes scheiden sich hingegen die Geister. Auffällig ist, dass nur zwei Artikel in einem Tenor geschrieben sind, der darin eine Übertretung von Normen der televisionären Zeigbarkeit des weiblichen Körpers gegeben sieht. Häufiger tritt die Verurteilung des Auftritts als kritikexterne Position auf, die auf Zuschauer oder Interessenverbände (z.B. die Katholischen Elternverbände Österreichs) zurückgeht. Deren Empörung setzt in erster Linie an der Tatsache an, dass Leonie Stöhr noch minderjährig war. Deshalb sei ihr die Fähigkeit abzusprechen, die Außenwirkung ihres Verhaltens über den Moment der Sendung hinaus abschätzen zu können. Dagegen hebt die überwiegende Mehrzahl der Kritiken darauf ab, dass auch hier keine Grenzüberschreitung festzustellen sei, da „der weibliche Busen sich soweit herumgesprochen zu haben scheint, daß er heutigentags kaum noch der Textilstütze, gewiß aber nicht des schwül parfümierten Tabus bedarf“ (WELT 10.11.1970). Die mediale Zurschaustellung der weiblichen Brust wurde somit insgesamt als ein mittlerweile selbstverständlicher Akt einer neuen Körperlichkeit begriffen, in dem ein um sich greifender soziokultureller Wandel seinen Ausdruck finde, vor dem auch das Fernsehen nicht Halt machen könne. WÜNSCH DIR WAS-Folge vom 27.03.1971: Die ‚Wasserung‘ der Schweizer Familie Dreyer wird im Gegensatz zum vorherigen Fall allgemein im Grenzbereich der akzeptablen Behandlung von Spielkandidaten im Fernsehen gesehen. Der Topos, auf den dabei Bezug genommen wird, lautet ganz allgemein: Das Fernsehen darf nicht die körperliche Unversehrtheit der Kandidaten aufs Spiel setzen. Anwendung fand dieser Satz jedoch erst allmählich. So lobt ein Kommentar der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG noch in der Montagsausgabe nach der Samstagssendung das Spiel als „aufregende Vergegenwärtigung der Risiken des Autofahrerdaseins“ (SZ 29.03.1971). Erst mit Beginn einer ausholenderen Berichterstattung schälen sich zwei Argumentationsweisen heraus, die über unterschiedliche Arten der Stützung die WÜNSCH DIR WAS-Sendung mit dem Gefährdungs-Topos verknüpfen. Zum einen fließen entweder zusätzliche Informationen über den Gefährdungsgrad der Kandidaten in die Argumentation ein (in der Regel über eingeholte Kommentare von Ärzten oder Rettungsfachleuten) und/oder es wird von der nachträglichen Einlieferung der Frau Dreyer in ein Krankenhaus berichtet. Das hatte in der weiteren Debatte zur Folge, dass die Verurteilung der Sendung als ‚menschenverachtend‘ in dem Maße an Plausibilität einbüßte, wie diese Formen der Stützung durch weitere Expertenurteile und Hintergrundinformationen ihrerseits an Stichhaltigkeit verloren (so stellte sich z.B. heraus, dass die Frau zum Zeitpunkt der Sendung unwissentlich an Mumps erkrankt war). Die zweite Argumentation bedient sich einer Parallelisierung mit dem „berühmt-berüchtigten“ MILLIONENSPIEL, an dessen „Nähe“ das Fernsehen hier „heranreichte“ (FUNKUHR 17.04.1971). Wenngleich dieser
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Vorwurf (insbesondere von Programmverantwortlichen) mit Verweis auf die pädagogische Ausrichtung von WÜNSCH DIR WAS zurückgewiesen wird, handelt es sich hier doch um die erfolgreichere Argumentationsstrategie, da der Spielshow auf diese Weise eine Steigerungslogik der schrittweisen Grenzverschiebung unterstellt werden konnte, die durch die Fiktion des MILLIONENSPIELs in den Unterhaltungs-Diskurs Eingang gefunden hatte. Das Versenken der Familie Dreyer wurde zu einer Diskursmetapher für die potenzielle Entgrenzung eines Fernsehens, das auf dem „schmale[n] Grat zwischen dem Anstoß und dem Anstößigen, zwischen der Provokation und dem Skandalon“ (SPIEGEL 22/1972) wandle. (E4) Im Artikelset zu DIE LETZTE STATION finden sich drei differierende Argumentationsmuster. Sie lassen sich, da sie indirekt aufeinander bezogen sind, zusammengenommen wie eine Skalierung möglicher Positionen lesen. Die schärfsten Verurteilungen bauen auf den Begriff des Tabus, das in der Dokumentation bewusst gebrochen werden solle als „Tabubruch um des Tabubrechens willen“ (MAZ 05.10.1971). Dem wird entgegengesetzt, dass „aus dem Sterben kein Spiel mit dem Tod“ werden dürfe (FUNKUHR 42/1972). Welche Konventionen dabei gelten sollen, ob oder unter welchen Bedingungen es im Fernsehen also statthaft sein sollte, über den Tod zu berichten, lassen die Kritiken jedoch offen. Abgehoben wird in der FUNKUHR lediglich auf den unpassenden Sendeplatz am Samstagnachmittag. Differenzierter argumentiert die – man könnte sage – Mittelposition, die sich dem Topos der doppelten Zurückweisung folgend gegen die „lautstark vorgetragenen Proteste“ wendet, den Film aber auch nicht „als gelungen […] betrachten“ will (STZ 05.10.1971). Kritisiert wird die Verquickung von selbstreferenzieller TV-Dokumentation und Porträt einer Sterbeklinik deshalb, weil damit – in loser Anknüpfung an die erste Argumentation – „das dem Zuschauer zumutbare Maß beträchtlich [...] überschritten“ sei. Die einzige positive Kritik, mit der eine dritte Position bezogen wird, findet sich im „Streiflicht“ der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 05.10.1971. Dort wird auf die Authentizität des Films abgehoben („so ehrlich, daß der Zuschauer sich selbst leicht wiederfand“) und den anderen Kritikern eine Doppelmoral unterstellt, da ihr eigentliches Interesse darin bestehe, gesellschaftlich unangenehme Themen wie ‚Altern‘ oder ‚Tod‘ aus dem Fokus der Öffentlichkeit verbannen zu wollen. (E5) NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE GESELLSCHAFT IN DER ER LEBT wurde im Hinblick auf die öffentliche Akzeptanz der Thematisierung von Homosexualität diskutiert. Analog zur Behandlung von DIE LETZTE STATION treten hier drei unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Diskurspositionen auf. Allerdings lässt sich – soweit hier dem Artikelset eine gewisse Repräsentativität unterstellt werden kann – ein Unterschied darin erkennen, dass die generelle Ablehnung einer fernsehöffentlichen Auseinandersetzung mit Homosexualität weniger stark ausgeprägt ist. Lediglich der Kommentar der konservativen KATHOLISCHEN NACHRICHTEN (17.01.1973) spricht über die Zuschreibung von Homosexuellen als Menschen, „die sich von ihrer geschlechtlichen Veranlagung her abweichend von den aus der Sicht des Naturrechts evidenten Normen verhalten“, diesen indirekt das Recht ab, ihre Sexualität in der Öffentlichkeit repräsentiert zu sehen. Deshalb
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wird auch nur in diesem Kommentar der Sendungsboykott des Bayerischen Rundfunks unterstützt. Im Zentrum der beiden anderen Argumentationsmuster steht der Begriff der Toleranz, der als der Angelpunkt der Debatte angesehen werden kann (|toleran| kommt 19 Mal in 10 Artikeln vor, bei 43 Nennungen in allen 321 Kritiken). Daran gebunden ist die Frage, wie weit die Toleranz gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten im Mainstreammedium reichen soll. Die eine Haltung kritisiert an dem Film, dass er für den Durchschnittsseher nicht verständlich sei, weil er durch seine Adressierung an ein homosexuelles Publikum für die breite Masse „keine aufklärerische Funktion im landläufigen Sinne“ erfülle (HÖRZU 5/1973). So werde das Fernsehen mit der Ausstrahlung des Films nicht seinem erzieherischen Auftrag gerecht, Toleranz gegenüber Homosexuellen zu fördern. Demgegenüber drehen Kritiken, die den Film verteidigen, dieses Argument um: [...] man sei nämlich, so war in Gesprächen des öfteren zu hören, ›eigentlich‹ ganz tolerant, man habe lediglich Einwände gegen ›Auswüchse‹. Eine solche Toleranz ist in Wirklichkeit keine. Denn Toleranz beweist sich immer erst gegenüber ›Auswüchsen‹, alles andere braucht keine Toleranz. (FAZ 18.01.73)
Gemeinsam ist beiden Positionen, dass sie das Fernsehen in der Pflicht sehen, Homosexualität zum Gegenstand des Programms zu machen, und dass es sich dabei um eine heikle Angelegenheit handle, die ausgesuchte Darstellungsweisen erfordere. (E6) DAS PODIUM. Die Konfliktlinie der Folge »HAUSFRAU, VERHEIRATET, 7 KINDER, SUCHT BEGEGNUNGEN IN KÖRPER, GEIST UND SEELE« verläuft in den Kritiken entlang der Frage, ob es gerechtfertigt sei, einer 51-jährigen Hausfrau im Fernsehen ein – im wahrsten Sinne des Wortes – Podium zu bereiten, auf dem sie sich und ihrem freizügigen Umgang mit Sexualität Aufmerksamkeit verschaffen kann. Die massivste Verneinung dieser Frage vertritt im Korpus der TV-Kritiker Egon Klohn in der HÖRZU (36/1973). Das zentrale Argument Klohns baut auf den Topos der illegitimen Veröffentlichung von Dingen, die dem entgegengesetzten Bereich der Intimsphäre zugehörig sind und die deshalb einem besonderen Schutz unterliegen sollen. Die ‚Dinge‘ sind in der Argumentation Klohns nicht generell der Bereich der Sexualität, als vielmehr die Sexualität der Ehegattin, Mutter und Hausfrau, die sich aus genau diesen drei Rollenzuschreibungen in der Sendung nicht hätte inszenieren dürfen. Beschädigt – der Autor spricht sogar von „geopfert“ – würden damit nicht nur „Helga Götzes Mann und Kinder“, sondern auch der „Mensch Helga Götze“, die sich als ‚einfache‘ „Hamburger Hausfrau“ nicht ihrer Außenwirkung innerhalb des Mediums bewusst sein könne. Dass diese Argumentation in keiner anderen Kritik mit dieser Stringenz aufzufinden ist, liegt daran, dass Klohns Stützung des Intimitäts-Topos über die Zuschreibung der Opferrolle auf Frau Götze und ihre Familie nicht geteilt wird. Die meisten Artikel verbinden die Beschreibung der Sendung mit ausgedehnteren Charakterisierungen der 51-Jährigen, die darin – wie auch bei ihrem Auftritt in der Sendung – als selbstbewusste und selbstverantwortlich handelnde Person geschildert wird, die selbst den Weg in die Öffentlichkeit
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suchte und dabei auf das Einverständnis ihres Mannes und ihrer Kinder bauen konnte. Auf diese Weise wird aus der ‚durchschnittlichen Hamburger Hausfrau‘ ein tendenziell skurriler „Sonderfall – mehr aber auch nicht“ (N.N. 18.08.1973), von dem keine akute Gefährdung gesellschaftlicher Normvorstellungen ausgehe. Der ‚Fall Götze‘ wird von diesem Punkt aus – je nach individuellem Standpunkt – dahingehend kommentiert, dass es sich hier um ein Beispiel handle, das „vielleicht manchem weiterhilft“ – aufgrund dessen jedoch „nicht alle einer doppelbödigen Moral bezichtigen [werden sollten], die so nicht leben wollen“ (TZ 17.08.1973) – oder das einen „Vorstoß in bürgerliche Moralvorstellungen“ vornehme, „dem zumindest eine ausführliche Diskussion zu wünschen wäre“ (STZ 18.08.1973). (E7) Im Vergleich zu den anderen Fällen liegt die Besonderheit von SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN darin, dass es sich hier um eine Sendung handelt, die in der printmedialen Rezeption kaum zu skandalisieren versucht wurde. Dennoch bewerten die Kritiken das neue Unterhaltungskonzept, mit dem ‚gewöhnliche‘ Privatpersonen die Möglichkeit bekommen, ihren Partnerwunsch vor der Kamera publik zu machen, mit einer erhöhten Sensibilität. Der SPIEGEL (41/1974) spricht von einem „problematischen Experiment“, mit dem sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen zum ersten Mal „aktiv in die Vermittlung privater Beziehungen zwischen seinen Kunden“ einschalte. Die Partnervermittlungsshow wird in den Kritiken aus diesem Grund behutsam nach eventuellen Grenzverletzungen gleichsam abgetastet. Den dabei – so kann man sagen – den Diskurs anleitenden Topos formuliert MarieLuise Scherer in der Einleitung zu einer Nachkritik über „Die telegene Brautschau“ im SPIEGEL: Die Veröffentlichung anderer Leute Menschlichkeit kann behaglich wie ein Unwetter sein: Zumindest für den, der nicht hineingerät, vielmehr hinterm Fenster zusieht, wie die Hüte fliegen und die Schirme sich nach oben stülpen. (SPIEGEL 43/1974)
In dieser Metapher werden zwei Dinge zusammengeschaltet: der Zuschauer, der sich bei der Betrachtung „anderer Leute Menschlichkeit“ an der Grenze zum Voyeur befinde, und die TV-Kandidaten, die Gefahr laufen, in der Öffentlichkeit des Mediums Fernsehen einem Sturm ausgesetzt zu sein, zu dessen Spielobjekt sie zu werden drohen. Da der heimliche Voyeurismus des Fernsehpublikums als ein immanenter Teil der medialen Anordnung betrachtet wird, fokussieren sich die meisten Kritiken auf den Umgang mit und die Darstellung von den Heiratskandidaten im Rahmen der Show. Beides wird als akzeptabel hingestellt, weil den Sendungsverantwortlichen und den Kandidaten abgenommen wird, dass sie die Einblicke in das Privatleben mit ernster Absicht betreiben, d.h. als Kuppler und Heiratswillige auftreten, und weder die Unterhaltung des Publikums noch die eigene Selbstdarstellung in den Vordergrund rücken. (E8) Die Ausgangssituation bei der ARENA-Folge „Die neuen Nackten – eine neue Erkenntnis? “ weist die Besonderheit auf, dass der Auslöser für die Skandalisierung der Sendung nicht den Programmverantwortlichen und damit dem Medium Fernsehen zugeschrieben wird, sondern auf die Finte der mittlerweile 61-jährigen Helga Götze zurückgeführt wird, die dabei ausweis-
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lich einiger Artikel von Diskussionsteilnehmer Rosa von Praunheim unterstützt worden war (BMP 09.09.1982, EPD 71/1982). Die Sendung selbst sei dadurch nach einhelliger Meinung zu einem „tumultösen“ (SPIEGEL 37/1982) „Tollhaus“ (FAZ 09.09.1982) geworden, in dem eine „Zirkusstimmung aufkam“ und der Moderator die Kontrolle über seine Studiogäste verloren habe (HÖRZU 38/1982). Die weiterführende Beurteilung des tumulthaften Geschehens einer ansonsten eher seriös inszenierten Kultursendung ist zweigeteilt. Einerseits wird der Versuch unternommen, die Ereignisse zu einem „handfesten Fernseh-Skandal“ (BMP 09.09.1982) aufzuschaukeln, denen eine übergreifende Symbolkraft zugeschrieben wird. Dazu wird die „Pfarrersfrau“ (BAS 37/1982) Elisabeth Motschmann als eine moralischen Ikone hingestellt, der „die Sympathien von Millionen [sicher] sind“ (BUF 08.10.1982). Denn sie habe sich gegen die im Ausnahmezustand der Sendung deutlich werdende moralische Verrohung einer Gesellschaft gestellt, in der es „tatsächlich fünf Minuten vor zwölf ist“. Die Bewertung der Ereignisse stützt sich in dieser Argumentation auf den Begriff der Scham. Er fließt über direkte oder indirekte Äußerungen Motschmanns in die Debatte ein; so zum Beispiel über die (eigentlich auf Freud zurückgehenden) Formel „das Fehlen von Scham ist das sicherste Kennzeichen von Schwachsinn“ (BAS 37/1982). Der Alarmismus der Motschmann-Position wird besonders durch die konservativen Springer-Blätter BILD AM SONNTAG, BILD UND FUNK und WELT AM SONNTAG transportiert. Die übrigen Kritiken versuchen durch die Zurückweisung des Vorwurfs der skandalträchtigen Grenzübertretung zugleich der Sendung die gesellschaftliche Relevanz abzusprechen, da sowohl die verbalen Ausfälle einiger Diskutanten als auch der Nacktauftritt der Frau Götze im Medium Fernsehen keinen Neuigkeitswert mehr besitzen. Stellvertretend dafür eine andere Springer-Zeitschrift: „Am Ende hatten alle Beteiligten vergessen, daß ein nackter Hintern noch keine klassenlose Gesellschaft macht und dümmlicher Exhibitionismus keinen Kulturschock auslöst“ (HÖRZU 38/1982). Diese Mainstreamposition kennzeichnet aber noch eine zweite Eigenschaft, die mit Blick auf die Debatten der 1970er Jahre von Interesse ist. Die von Götze und Praunheim angewendete Strategie der Provokation als gesellschaftspolitisches Mittel zur Fokussierung der Öffentlichkeit auf bestimmte Themen, der ein Spiel mit dem Austesten von Grenzen unterliegt, wird nun rundweg abgelehnt. So kommt Birgit Weidinger in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (09.09.1982) zu dem Schluss, dass sich als ein Fazit der Sendung auch die Frage einstelle, „wie weit Anstößigkeit zu Denkanstößen führt“.
Diskursivierung der Kritik — Zuschauer als Skandalmesser Das auffälligste Mittel, dessen sich die Kritiken durchgängig bedienen, ist die Einbeziehung des Fernsehpublikums. Aus der Anlage dieser Diskursanalyse könnte man schließen, Das MILLIONENSPIEL stellt in dieser Hinsicht einen Wendepunkt in der Fernsehkritik dar. Zur Erinnerung: Die breite Thematisierung des MILLIONENSPIELs kam in erster Linie durch die Kolportage der Reaktion einiger Zuschauer auf das Fernsehspiel zustande, der die „größte Publikumsresonanz in der Geschichte des deutschen Fernsehspiels“ (SPIEGEL
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44/1970) vorausgegangen war. Da zwischen DIE SENDUNG DER LYSISTRATA und dem MILLIONENSPIEL, mit dem der Einstieg in den TV-Diskurs der 1970er- und frühen 1980er Jahren beginnt, ein bewegtes Dezennium der Fernsehgeschichte liegt, sollte die Rolle, die dem MILLIONENSPIEL für einen ersichtlichen Wandel der Fernsehkritik zufällt, allerdings weniger als Wendepunkt, denn als paradigmatisches Ereignis betrachtet werden, an dem sich bestimmte Praktiken der Kritik – wenn nicht herausgebildet, so doch – bewährt haben. Für Teile der Printmedien scheint am Fall des MILLIONENSPIELs deutlich geworden zu sein, wie sich Zuschauerreaktionen nutzen lassen, um ein Skandalisierungsspiel mit dem Fernsehen zu betreiben. In diesem Spiel gerät die Kategorie des Zuschauers zum Ansatzpunkt einer komplexen Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen, die wahlweise als Kritik des Mediums oder des Publikums ansetzen kann. Im Anschluss an das MILLIONENSPIEL kamen zwei Strategien zum Einsatz, die häufig auch kombiniert wurden. Die erste Strategie besteht darin, Reaktionen von Zuschauern direkt, in Form von Zitaten zu transportieren – als Topos von der Stimme des Volkes. Dazu werden extreme Positionen selektiert, die dem Fernsehen den Bruch allgemeiner Normen unterstellen. Besonders offensichtlich wird dieses Vorgehen, wenn Zuschauerreaktionen als Zitate gleich in die Überschrift übernommen werden: [1] »Ich wär’ ein guter Killer« (HÖRZU 45/1970) [2] »Ihr seid alle Porno-Säue« (STERN 50/1970) [3] »Die Homos sollen in der Ecke bleiben und nicht herauskommen« (HMP 17.01. 1973)
Die zweite und wesentlich häufiger aufzufindende Strategie liegt in der Quantifizierung von Telefonanrufen, die während und nach einer Sendung bei den Anstalten eingingen und von dort an die Presse weitergegeben wurden. Diese Anrufe funktionieren wie ein Grandmesser der Konflikthaltigkeit, die einer Sendung für das Fernsehpublikum zugesprochen werden kann, und dienen als Orientierungspunkt für die Nachrichtenwertigkeit einer möglichen Thematisierung. Der Beginn eines Artikels von Michael Jürgs aus der MÜNCHNER ABENDZEITUNG veranschaulicht die Rolle von Zuschauerreaktionen als journalistisches Mittel zur Generierung von Themen: 680 Anrufer, die sich am Samstagabend beim Österreichischen Rundfunk meldeten, hatten eine Antwort auf die Aufforderung ›Wünsch Dir was‹ parat: Dietmar Schönherr muß weg. Ihnen ging es nicht um die Show, sondern um die rote Nelke im Knopfloch des Showmasters. Die, meinten sie, sei ein Symbol für die österreichischen Sozialisten und somit Schleichwerbung. Schönherr reagierte sauer und warf die Nelke weg. Übrigens: sie war nicht rot, sondern eindeutig violett. 520 andere Seher griffen zum Telefon, weil sie um das Leben der Schweizerin Irene Dreyer fürchteten. Gebannt hatten sie mit Millionen anderer verfolgt, wie die Tür im versenkten Auto klemmte und ein Froschmann der Quizkandidatin zu Hilfe eilen mußte. Auch sie forderten: Schönherr muß weg. Muß er wirklich? (MAZ 30.03. 1971)
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An diesem Ausschnitt wird deutlich, wie die Reaktionen der Zuschauer dazu genutzt werden, das Fernsehen auf das Tableau der Kritik zu heben. Die Kritik konstruiert eine Position, mit der die Thematisierung (in diesem Fall: der Folge von WÜNSCH DIR WAS) in eine bestimmte Richtung vorgezeichnet wird – nämlich als Skandal. Die Verdichtung zu der Formel „Dietmar Schönherr muß weg“, die kaum die Quintessenz aller 1200 Anrufe gewesen sein wird, verkürzt diese Position zugleich, da mit ihr der letzte Zug des Skandalisierungsspiels, die Forderung nach persönlichen Konsequenzen, an den Anfang gestellt wird. Die Kritik entwarf mit solchen Mitteln die Zuschauerposition als einen Spielball, der sie selbst zum Zug kommen ließ. Da sich die nicht immer eindeutigen Zuschauerreaktionen als ein Reservoir möglicher Positionen begreifen und verschiedentlich ausgestalten lassen, behielt die Kritik mit dieser Strategie die Zügel weitgehend in der Hand. Sie benutzte die Reaktionen des Fernsehpublikums, ohne sie sich zu eigen machen zu müssen, als einen Katalysator zur Produktion der eigenen Relevanz. So wird im KÖLNER STADTANZEIGER (30.03.1971) zu der WÜNSCH DIR WAS-Folge angemerkt, nur 71 Zuschauer haben sich über das versenkte Auto beschwert (die unterschiedlichen Zahlen kommen offensichtlich dadurch zustande, dass sie einmal vom ORF und das andere Mal vom ZDF stammen). Darauf basierend wird dann unter Einbeziehung eines nicht namentlich genannten Psychologen die Argumentation entwickelt, hieran zeige sich die fortschreitende Abstumpfung der Zuschauer, die „nicht erkannt [haben], daß hier für eine Schau ein zulässiges Maß überschritten wurde“. Auf diese Weise konnte auch die Abwesenheit des Moments, das den Skandal auslöst, zum Skandal erklärt werden. Auf die gesamte Debatte bezogen, lässt sich in diesem Spiel jedoch eine recht eindeutige Demarkationslinie erkennen. Die Funktionalisierung des Publikums für die Skandalisierung des Fernsehens ist eine Strategie, die besonders in der Boulevardberichterstattung zur Anwendung kam. In ihrer Extremform gestaltet sie sich als unverbundene Aneinanderreihung von Zitaten, in denen nur durch die dramaturgische Anordnung so etwas wie eine Kritikermeinung entsteht; häufig wird nur ungeordnete Aufregung erzeugt, zu der Zitate von Zuschauern mit solchen von Medienprominenten, Fachleuten oder Programmbeteiligten vermengt werden. Das eigentlich Interessante an der Einbeziehung des Fernsehpublikums liegt darin, dass sich auch die institutionalisierte Fernsehkritik im Fall einer Skandalisierung offensichtlich immer wieder gezwungen sah, darauf einzugehen. Dieses Eingehen beginnt schon damit, dass durch die boulevardeske Skandalisierung einer Sendung ein bestimmter Modus vorgegeben wurde, den die übrigen Presseorgane offensichtlich nicht ignorieren konnten, um in der öffentlichen Diskussion Anschluss zu halten. Das ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das Skandalöse, also die unterstellte Normverletzung durch das Fernsehen, in fast allen Fällen von der feuilletonistisch geprägten Fernsehkritik nicht geteilt wurde. Durch die Vorreiterrolle der Boulevardmedien wurde sie jedoch gezwungen, ihre Urteile aus einer rhetorisch zurückgenommenen Position zu formulieren. So kommentiert Eckhart Schmidt in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die WÜNSCH DIR WAS-Folge von 1970:
ANALYSE | 271 Für viele dürfte diese Sendung wieder ein Ärgernis gewesen sein, denn wer sieht sich schon gern mit einer so kritischen Show konfrontiert? Für mich jedenfalls war dieser Abend einer der aufregendsten Live-Abende, die ich bisher vom ZDF gesehen habe und ich kann nur hoffen, daß die Leute im Hintergrund auch weiterhin ihre Ideen so konsequent verwirklichen können wie bisher. (SZ 09.11.1970)
Aus dieser zurückgenommenen Perspektive erfolgte häufig ein Twist innerhalb des Skandalisierungsspiels, der in Schmidts Kritik nur vage angedeutet ist. Die Kritik am Medium wird dabei in eine Kritik der Zuschauer gewendet, deren Reaktionen als das eigentlich Skandalöse gewichtet werden: Liest man diese Protestbriefe, ist man ziemlich überrascht. Sie kommen doch von jenen Fernsehzuschauern, denen es keine Skrupel bereitet, nacktes Fleisch auf Illustrierten-Titeln zu sehen, die sich längst damit abgefunden haben, daß Voyeurismus via Zeitungspapier an der Tagesordnung ist. Eine moralisierende Heuchelei zieht Grenzen, wo keine sind, und will in ›Wünsch Dir was‹ nicht sehen, was im ›Nightclub‹ goutiert wird. (DAS 17.12.1972)
Nur selten kommt es hingegen vor, dass das Spiel der Kritik mit dem Fernsehen selbst thematisiert wird. Ein Beispiel stellt die Kritik des MILLIONENSPIELs von Alexander Rost dar, in der die Konstruiertheit eines großen Teils der öffentlichen Erregung bloßgestellt wird: Der Film war kaum ausgeblendet, als schon Volkesstimme herausgefordert wurde: ›Bild‹, versteht sich, fragte prompt: »Was meinen Sie? Reizte dieses Fernsehspiel zum Mord oder sollte es die Zuschauer vielleicht nur auf ihre eigene Sensationslust hinweisen...?« Und den Fragen mit den drei Bedeutungspunkten am Ende war dreimal Vorsagerei, fettgedruckt, vorangestellt, ganz besonders schnelle ›Bild‹-Leser hatten sich empört »Das ist einfach geschmacklos«, »Die größte Schweinerei, die uns jemals vorgesetzt wurde«, »Der Mann, der erlaubt hat, dieses Spiel zu senden, würde von mir fristlos entlassen werden«. Man möchte ein Quiz veranstalten: Wer denn sind die H. Winkel und M. Steckel aus Hamburg 62 und Hamburg 52 und der W. Hensemann aus Stuttgart, die so rechtzeitig zum Redaktionsschluß der ›Bild‹Spätausgabe reagierten? (ZEIT 23.10.1970)
Ein zweites Kennzeichen, das auf alle ausgewählten Diskursereignisse zutrifft, ist die Bezugnahme der Kritik auf das Fernsehen über einzelne Sendungen oder Sendungsereignisse. Darin weist der TV-Diskurs eine Gemeinsamkeit mit dem LYSISTRATA-Beispiel auf, das jedoch dahingehend anders gelagert ist, als die Thematisierung der LYSISTRATA weit vor der Ausstrahlung einsetzte und der angelehnte Skandal mit dem Zeitpunkt der Sendung von der Kritik für beendet erklärt wurde. Nun liegt in diesem Unterschied zunächst einmal noch keine signifikante Differenz, mit der die Transkription des Fernsehens durch die Kritik zeitspezifisch typisiert werden könnte, da sie einfach auf die Andersartigkeit der Fälle zurückgeführt werden kann. Grob vergleichen lässt sich mit dem LYSISTRATA-Beispiel aus dem Korpus der 1970er und frühen 1980er Jahre hingegen der Praunheim-Film, der zunächst ebenfalls über eine Zensur-Debatte thematisiert wird, die gleichsam an die
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Frage nach den Grenzen der Inszenierung von Sexualität gekoppelt ist. Obschon die Artikel zu beiden Fernsehspielen nicht hinsichtlich der ZensurFrage ausgewählt wurden, lassen sie dennoch Rückschlüsse über deren Behandlung zu. Der Unterschied ist leicht zu fassen: Der Ausstieg des Bayerischen Rundfunks aus dem Gemeinschaftsprogramm der ARD – 1960 noch von den Programmverantwortlichen selbst als „größter Skandal“ annonciert – hatte diesbezüglich 1973 ein weitaus geringeres Potenzial, da der Neuigkeitswert gefallen war. Beispielhaft wird das an einem Artikel, der begleitend zu der ARDPremiere von NICHT DER HOMOSEXUELLE IST als Vorberichterstattung im SPIEGEL (02/1973) erschien. Der Untertitel stellt bereits wesentliche Informationen bereit: „Der Bayerische Rundfunk schaltet wieder bei zwei ARDSendungen ab und will auch die ›Lach- und Schießgesellschaft‹ nicht zeigen“. Im Artikel werden die aktuellen Ereignisse, die Entfernung des Praunheim-Films und der SESAMSTRAßE aus dem bayerischen TV-Programm, in eine Reihe historisch ähnlich gelagerter Entscheidungen des BR gruppiert, an deren Beginn DIE SENDUNG DER LYSISTRATA stehe. Eine Folge dieser TVGeschichtsschreibung beinhaltet bereits der Artikel selbst. Seine journalistische Wertigkeit zieht er nicht aus der einfachen Tatsache, dass sich der BR aus dem ARD-Programm ausklinken wird, sondern erst aus der Vermutung, dafür sei der direkte Einfluss der CSU-Landesregierung verantwortlich. Beobachten lässt sich hier der journalistische Effekt, dass der Nachrichtenwert eines Themas mit dessen Reaktualisierung geringer ausfällt. Im konkreten Fall verschiebt sich so die Einbindung des Fernsehens in den Diskurs. Bedeutsam ist dabei weniger, dass die Thematisierung des Sachverhalts so generell erschwert wird, sondern dass damit die Festschreibung vorgenommen wird, hier passiert nichts Ungewöhnliches. So erübrigte sich die Explizierung angelagerter Diskurse – wie der Frage, ob die Bayern eine andere Moral haben, die anhand der LYSISTRATA-Verfilmung ausführlich debattiert wurde, nun aber unterschwellig, kurz und bündig mit Ja beantwortet werden konnte. In Kurzform ist diese Argumentation schon in der zugehörigen Überschrift „Bayerns Abfall“ enthalten, die eine Anspielung auf das inkriminierte Programm der Lach- und Schießgesellschaft („Der Abfall Bayerns“) darstellt. Über diese pointierte Formulierung fließt die daran gebundene Positionierung in die Debatte um den Praunheim-Film ein; in drei der sieben Nachkritiken zu NICHT DER HOMOSEXUELLE IST taucht der Topos vom ‚Abfall Bayerns‘ auf und entlastet die Kritiken damit gleichzeitig von einer ausführlicheren Beschäftigung mit der Zensur-Frage. An solch einem intertextuellen Mikroereignis wird ersichtlich, dass sich die Fernsehkritik in den 1970er Jahren allmählich als ein eigenständiges Diskurssubjekt zu sortieren begann. Der dazugehörige, transkriptive Rahmen erschließt sich durch einen einfachen Blick auf die zeitliche Schichtung, über die sich die Kritik zu den Programmereignissen positioniert. Die Skandalisierung des Fernsehens – also die Thematisierung des Mediums als Konfliktbereich gesellschaftlicher Normen – erfolgte überwiegend ex post als Nachkritik einzelner Sendungen und Sendungsereignisse und bewegte sich in einem sehr engen Zeitrahmen zum Sendungstermin des betreffenden Ereignisses. Der TV-Skandal der 1970er Jahre schließt damit an das typische Zeit- und
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Bezugsschema an, das in der zeitgenössischen Fernsehkritik vorherrschend war.
Wert des Privaten — gesellschaftliche Konfliktlinie In der Verknüpfung der Fernsehkritiken mit einem Privatheits-Diskurs wird der soziokulturelle Wandel offensichtlich, der sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Übergang der 1960er zu den 1970er Jahren vollzogen hatte. Das lässt sich beispielhaft an der in Tabelle 3 chronologisch aufgelisteten Verwendung des Begriffs ‚Moral‘ demonstrieren, der sich in den Artikeln des Zeitraums 1960–1982 insgesamt 32 auffinden lässt. Tabelle 3: Verwendung des Wortstamms |moral| zwischen 1960 und 1982 Wortstamm |moral| Moralische Einwände (2x) Moral und Sitte moralisches / unmoralisches Stück Moralische Gegengründe öffentlichen Moral Moralische Bedenken (2x) Moralwächter politisch-moralischen Anspruch moralisch überwindet empfindlichere Moral moralischen Vergnügens Moralische Bedenken / Einwände unmoralisch unmoralisch Doppelbödigkeit unserer Moral doppelbödigen Moral Moralische Bedrängnis Moralhüter Moralhüter der kleine ›Moralische‹ moralisierende Heuchelei doppelbödigen Moral bürgerliche Moralvorstellungen bürgerlichen Moralvorstellungen Moraltheologe Moraltheologen menschlich-moralische Position sauertöpfische Moral
Medium WELT 12.12.1960 WELT 12.12.1960 SPIEGEL 51/1960 SPIEGEL 51/1960 STERN 52/1960 STERN 52/1960 WELT 18.01.1961 FAZ 19.01.1961 FAZ 19.01.1961 ZEIT 5/1961 ZEIT 5/1961 SPIEGEL 5/1961 SPIEGEL 5/1961 HÖRZU 6/1961 HÖRZU 42/1970 KSA 09.11.1970 STN 09.11.1970 MM 13.11.1970 STERN 50/1970 MAZ 05.10.1971 DAS 17.12.1972 TZ 17.08.1973 STZ 18.08.1973 HÖRZU 36/1973 HÖRZU 38/1982 WELT 09.09.1982 BUF 08.10.1982 BUF 08.10.1982
In der LYSISTRATA-Debatte besaß ‚Moral‘ eine eigenständige, positiv konnotierte Geltung, die nicht infrage gestellt wurde und deshalb wie selbstverständlich zur Bewertung des Fernsehens herangezogen werden konnte. Zu
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Beginn der 1970er Jahre hat sich das geändert. Der Wortstamm |moral| ist nicht nur wesentlich seltener aufzufinden (14 Mal in 79 Texten), ein Blick auf seine Verwendungsweisen zeugt auch von einem Geltungsverlust. An 8 der 14 Stellen steht |moral| in Verbindung mit Metaphern, die einen Bezug auf ‚Moral‘ als argumentative Stütze problematisch erscheinen lassen – als „doppelbödige Moral“ (KSA 07.11.1970; HÖRZU 42/1970; TZ 17.08.1973) oder „moralisierende Heuchelei“ (DAS 17.12.1972), in Verbindung mit Personen ist vom „Moralhüter“ (MM 13.11.1970; STERN 50/1970) die Rede und selbst dort, wo sich ein positiver Bezug findet, dient er dem Hinweis, keine „sauertöpfische Moral“ (BUF 08.10.1982) zu vertreten. Die Schlussfolgerung dieses Befundes kann allerdings nicht lauten, die Fernsehkritik sei damit ‚unmoralisch‘ geworden. In Formulierungen wie „doppelbödige Moral“ oder „Moralhüter“ findet eine in Bewegung geratene gesellschaftliche Wertebasis ihren Ausdruck, die in die Transkription des Fernsehens übergegangen ist. So heißt es in einer Beurteilung des Auftritts der Frau Götze in DAS PODIUM: Das Wichtigste und wohl Bemerkenswerteste an der Goetze-Sendung waren die Aussagen der beiden Töchter über die Mutter. Sie haben deren Lernprozeß in Sachen sexueller Befreiung schon zum größten Teil mitgemacht, sie leben nicht mehr mit Tabus wie die Generation vor ihnen. (STZ 18.08.1973)
Gegen das alte Verständnis einer „bürgerlichen Moral“, die zum Inbegriff einer traditionell geordneten Sittsamkeit geworden ist, wird das Ideal der Befreiung des Individuums in Stellung gebracht, wodurch Werte wie ‚Selbstverwirklichung‘ oder ‚Toleranz‘ an Bedeutung gewinnen. Diese neuen Werte werden aber nicht in allen Kritiken so offensiv ins Feld geführt, wie es das letzte Zitat nahelegt. Versucht man aus den Kritiken einen argumentativen Mainstream herauszudestillieren, trifft man auf drei Positionen, die in einem Artikel zu SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN aneinandergereiht sind: [1] Barbara Hahne zum Beispiel, als erste ›Wort zum Sonntag‹-Frau auf dem Bildschirm selbst eine Pionierin, gibt zu bedenken: »Ich finde, die Intimsphäre des Menschen müßte respektiert werden.« [...] [2] ›Forellenhof‹-Familienvater Hans Söhnker [...]: »Aber bitte, die Zeiten haben sich geändert. Vielleicht kann man sich auch übern Bildschirm beschnuppern. Wär’ mir aber zu unromantisch.« [...] [3] Die rheinische Schauspielerin Lotti Krekel, 28, ist sogar begeistert: »Wäre ich nicht Lotti Krekel und daher ziemlich bekannt, würde ich selber gern mitmachen.« (HÖRZU 41/1974)
Die Kritik selbst nimmt wie in diesem HÖRZU-Artikel auffallend häufig eine Vermittlerposition ein, mit der neue und alte Wertvorstellungen letztlich indifferent zusammengefügt werden. Typisch hierfür ist die unter [2] angeführte Argumentation des Schauspielers Hans Söhnker, der seine ablehnende Haltung der Sendung mit der Anmerkung ergänzt, „die Zeiten haben sich geändert“. Auch dort, wo die Kritik nicht nur Stimmen montiert, sondern direkt argumentiert, geschieht das mit dem Verweis auf den quasi ‚natürlichen‘
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Wandel jeder Gesellschaft, mit dem der Modernisierungs-Topos ‚Neue Zeiten, neue Sitten‘ als Mainstreamposition etabliert wird. Auf diese Weise erkannte die Kritik eine Art nachholende Entwicklung des Mediums in Sachen soziokultureller Wertewandel an. Das Eindringen neuer Wertvorstellung ins Programm erschien gerechtfertigt zu sein, weil auf diese Weise innerhalb des Mediums nur nachvollzogen werde, was sich in der Gesellschaft längst ereignet habe. Die Position eines neuen Werteverständnisses symbolisiert in der HÖRZU die 28-jährige Schauspielerin Lotti Krekel [3]. In ihrem Statement kommt die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, mit der die junge Generation diesen Wertewandel längst verinnerlicht hatte. Während diese Positionszuschreibungen in der wenig kontroversen Auseinandersetzung um SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN wie Bezugnahmen auf einen vergänglichen Zeitgeist erscheinen, tritt in anderen Fällen deutlicher zutage, dass dahinter ein gesellschaftspolitischer Diskurs thronte, der sich in zwei komplexen Wertvorstellungen niederschlug, die sich als konservativ und progressiv gegenüberstanden. Von diesen Warten aus wurde auch die Frage nach dem Wert der Inszenierung televisionärer Formen des Privaten bestimmt. Der explizite Bezug auf ‚Privatheit‘ war in dieser Unterscheidung ein eindeutiges Element einer konservativen Position. Die Verknüpfung von Privatheit und Fernsehen wird in der Regel im Normbereich der Zurschaustellung von Sexualität realisiert, findet aber auch in der Forderung der Tabuisierung der öffentlichen Thematisierung des Todes Anwendung. Im Zentrum dieser Verknüpfung steht der Topos vom Eingriff in die Privatsphäre, den sich das Fernsehen durch bestimmte Inszenierungsweisen zu Schulden kommen lasse. Die gesellschaftspolitische Kontextualisierung dieser Position wird daran ersichtlich, dass sie vornehmlich von politisch als konservativ identifizierbaren Akteuren vertreten wird (wie die Katholischen Elternvereine Österreichs oder die CDU-Politikerin Elisabeth Motschmann) und dass die Ausdeutung von Privatsphäre eng mit dem Begriff der Familie verbunden ist. Dem Vorwurf vom Eingriff in die Privatsphäre fällt damit eine symbolische Funktion zu. Unabhängig davon, ob es in der öffentlichen Rezeption bestimmter Inszenierungsformen und Ereignisse zu konkreten Einschnitten in die Privatsphäre einzelner beispielsweise Kandidatinnen kam, die sich – wie im Fall der mit einem Auto im Wasser versenkten Familie – eventuell physisch oder psychisch nachweisen lassen, wird pauschal auf die dem Individuum übergeordnete Instanz der Familie verwiesen. Mit der Gleichsetzung von ‚Privatsphäre‘ und ‚Familie‘ erscheint letztere als der eigentliche Schutzraum des Privaten, deren Integrität durch die TV-Ereignisse gefährdet sei. Die Kritik am Fernsehen wurde auf diese Weise politisiert. Dem Medium wurde eine negative gesellschaftliche Wirkung unterstellt, die über die Zersetzung der sakrosankten Institution Familie verlaufe und weit über die einzelnen Sendungen hinausreiche. Spiegelbildlich dazu spielte für die ‚progressive‘ Gegenposition der Aspekt des Privaten so gut wie keine Rolle. Damit wurde implizit der normativen Gleichsetzung von Privatheit und Familie widersprochen und der Wert des Individuums (als eigenverantwortliche Tochter oder Ehefrau) herausgestellt. Auf diesem Familienbild aufbauend, bekam die öffentliche Inszenie-
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rung von Privatheit einen positiven Anklang, insofern es sich dabei nicht um eine selbstdarstellerisch, sondern politisch motivierte Geste handelte. Dieser Position ist der Topos von der Politisierung des Privaten unterlegt, der sich rhetorisch in einer positiv konnotierten Verwendungsweise des Begriffs ‚Öffentlichkeit‘ niederschlägt. Die skizzierte Konfliktlinie konservativ vs. progressiv verlief entlang einer rhetorischen Trennlinie, die zwischen den als Gegensatzpaar markierten Begriffen öffentlich vs. privat fixiert wurde. Mit Blick auf den 12-jährigen Zeitraum, in den die Debatten E2–E8 fallen, muss allerdings angefügt werden, dass sich die strikte Trennung dieser Positionen im Laufe der 1970er Jahre zunehmend verflüssigte. Das lässt sich einerseits daran festmachen, dass sich die heftigsten konservativen Angriffe auf das Programm – als „Einbruch in die Privatsphäre, die Nackedei, der Mensch als Schwein“ (TZ 14.11.1970) – zu Beginn der 1970er Jahre finden, während parallel dazu die öffentlichen Verteidigungen einer Politisierung des Privaten immer seltener werden. Letzteres wird an den Reaktionen zur ARENA-Sendung anno 1982 deutlich. In relativ großer Einmütigkeit, die von der HÖRZU bis zur SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG reicht, werden den Protagonisten des gesuchten Skandals, zu denen die Boulevardzeitungen und das Duo Praunheim/Götze gezählt werden, sowohl die Aufrichtigkeit der Empörung als auch die politische Relevanz der provokativen Performance abgesprochen.
Fernsehen und Öffentlichkeit — Kritik des Fernsehens als Kritik des Zuschauens Das Fernsehen erlangte in den 1970er Jahren zunehmend den Status einer komplexen Institution, die nicht mehr nur über die Benennung der handelnden Akteure und deren vermeintliche Interessen identifiziert wird. Der Personalisierungslogik des Skandals folgend, bilden diese Akteure – wie im Fall der LYSISTRATA – allerdings weiterhin das Hauptangriffsziel der Kritik. Dabei hat sich die Stoßrichtung der anklagenden und entlastenden Argumentationen im Vergleich zu DIE SENDUNG DER LYSISTRATA verschoben. An die Stelle der Intendanten treten in zunehmendem Maße die direkten Protagonisten der einzelnen Sendungen – als Moderatoren, verantwortliche Redakteure und Kandidaten, deren Reputation im Skandal ins Licht der Öffentlichkeit rückt. In der Personalisierung des Mediums durch die Fokussierung auf handlungsleitende Akteure kommt eine Tradition zum Ausdruck, die bereits mit der Popularisierung anderer Medien in die Kritik Eingang gefunden hatte. Ausgehend von der Etablierung der Starberichterstattungen im Theater des späten 19. Jahrhundert, die mit dem Erfolg des Mediums Kino ausgebaut wurde, gehört die Persona-bezogene Auseinandersetzung mit dem Medium auch zu den traditionellen Verfahrensweisen der Fernsehkritik, wenngleich das Fernsehen mit seinen ‚Showmastern‘, Ansagerinnen und Sprechern neue Charaktere in die Palette der Medienfiguren eingefügt hat. Ein illustres Beispiel dafür, wie weit die Identifikation von Fernsehen und Figur reichen kann, ist die in der Berichterstattung über DAS MILLIONENSPIEL wiederholt verbreitete Nachricht, sogar die Mutter des Schauspielers Jörg Pleva soll nach der Sendung am Telefon beschimpft worden sein, „wie [sie] zulassen
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konnte“ (HÖRZU 45/1970), dass ihr Sohn einem solchen Spiel ausgesetzt sei. Während in der Kolportage dieser Meldung zuschauerkritische Ironie mitschwingt, richten sich zahlreiche Kritiken in ernster Absicht direkt an die Protagonisten vor der Kamera, die als Spiel- oder Diskussionsleiter fungieren. Dabei spiegelt sich in der Ambivalenz, mit der – nicht die einzelnen Artikel, sondern – die Debatte insgesamt ihnen begegnet, die Einstellung der printmedialen Öffentlichkeit gegenüber dem Fernsehen. Am stärksten in die Kritik des Fernsehens einbezogen ist WÜNSCH DIR WAS-Moderator Dietmar Schönherr. Für sich genommen ist dieser Umstand seltsam, da die skandalisierten Vorfälle der Show nicht mit dem direkten Verhalten Schönherrs zusammenhingen (schließlich hatte er weder die Kandidatin in die Bluse gezwungen noch die Familie zu Wasser gelassen). Zu erklären ist die exponierte Rolle Schönherrs, der von den Boulevardmedien mit Überschriften wie „Das war grausam, Herr Schönherr“ (Bild 29.03.1971) oder „Empörung über Schönherrs Autotest“ (BMP 30.03.1971) zum Verantwortlichen erkoren wird, mit einer starken Identifikation von Moderator und Show und dessen medialer Prominenz, die für die notwendige Fallhöhe sorgte. Ein Teil dieser Fallhöhe resultiert auch daraus, dass mit Schönherr im Mainstream der Kritik eine neue Form von Unterhaltung verbunden wurde, „die mit dem Friedhofs-Frieden in dieser Sparte gründlich aufräumt“ – wie SÜDDEUTSCHE (09.11.1970) und MÜNCHNER ABENDZEITUNG (30.03.1971) einhellig loben (bzw. letztere erstere zitiert). Positiv gewichtet wird also einerseits die mit Schönherr assoziierte Modernisierung des Unterhaltungsbereichs, nach der latent bereits in den frühen 1960er Jahren gerufen wurde. Andererseits ist es genau dieser moderne Anspruch, der für WÜNSCH DIR WAS zum Aufhänger der Skandalisierung wurde. Hinsichtlich der Moderatorenrolle wird Schönherr angelastet, das „ganze Spiel mit pädagogischem Hintergrund zu verbrämen“ (FUNKUHR 17.04.1971), während die Kandidaten einem unkontrollierten Spiel ausgesetzt seien. Mangelnde Kontrolle über das Sendungsgeschehen ist der zentrale Vorwurf, mit dem nicht nur Schönherr, sondern auch andere Moderatoren immer wieder konfrontiert werden. Schönherr selbst verteidigt sich in einem Interview im HAMBURGER ABENDBLATT (02.04.1971) damit, dass er wie jeder Mensch Fehler habe, zu denen er auch stehe. Aber genau diese Unzulänglichkeiten, die – auf das Medium übertragen – Kennzeichen einer offenen Fernsehästhetik sind, die Überraschungen einkalkulieren und neues Terrain betreten will, sind es, die den zumeist jüngeren Moderatoren vorgehalten werden. So werden sie als „weitgehend ahnungslos“, „verwirrt“ oder „ratlos“ charakterisiert (HÖRZU 05/1973; 36/1973), die als „Profilierungsstütze“ für einen Kandidaten „wegknicken“ (SPIEGEL 43/1973). Von solchen Situationen einer kurzzeitigen Überforderung abgesehen, haben die Moderatoren insgesamt jedoch ein positives Image. Einzelne Artikel beziehen auch die Arbeit von Autoren, Redakteuren und Regisseuren in die Berichterstattung mit ein. Hier entsteht in Ansätzen ein anderes Bild des Fernsehens, in dem die Motive und Verhaltensweisen der ‚verborgenen Macher‘ beschrieben werden. Diese Einblicke ins Medium verkehren geradezu die Sichtweise des Fernsehens, wie sie zuvor anhand der Präsentation der Moderatoren beschrieben wurde. Erscheinen diese im Konfliktfall als sympathisch, aber zuweilen überfordert,
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so werden die Kollegen hinter den Kulissen spiegelverkehrt als professionell und kompetent, aber abgehoben und (moralisch) unsensibel gezeichnet. Deutlich wird das an einem SPIEGEL-Artikel zum Ende von WÜNSCH DIR WAS, in dem die Redaktion „in fröhlicher Frustration“ zusammenhockt, sich in „Spezialjargon“ und „Begriffskürzeln“ ergeht und insgesamt charakterisiert wird als „eine geschlossene Gesellschaft, aber fidel“ (SPIEGEL 22/1972). Die öffentlichen Auftritte nicht-prominenter Personen werden mit einer fürsorglichen Anteilnahme begleitet, was besonders am Fall der Kontaktshow SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN deutlich wird. Im Brennpunkt der Bewertung der Sendung steht durchweg die Frage, ob die drei Kandidaten bei der Partnersuche des WDR auch ihrem Status gemäß behandelt werden. Als notwendige Voraussetzung für eine angemessene Behandlung der Kandidaten gilt der Verzicht des Mediums, die Fernsehlaien dem Diktat der Unterhaltung auszuliefern. Sie sollen in der Sendung nicht anders als in der Rolle seriöser, integrer Menschen präsentiert werden, die sich auf Partnersuche befinden. Die Gesamtschau der untersuchten Fälle offenbart an dieser Stelle eine Art moralisches Verlaufsschema, das an die Behandlung von nichtprominenten Fernsehlaien angelegt wird. Der Schutzraum, den ihnen das Medium zur Verfügung zu stellen habe, wird in dem Maße als geringer erachtet, wie ihre Auftritte den Charakter des ‚unschuldig Ausgeliefertseins‘ verlieren. Das gilt besonders dann, wenn den nicht-prominenten Akteuren ein bestimmtes strategisches Interesse unterlegt wird. Geraten die Fernsehamateure in den Verdacht eine finanzielle (WÜNSCH DIR WAS) oder politische (ARENA) Motivation zu haben, durch die sie sich gewissermaßen selbst zu professionalisieren trachten und somit zu einem Teil des medialen Apparats werden, gerät die Fürsorge der Kritik schnell an ihre Grenzen. Die vor dem Hintergrund der LYSISTRATA-Kritiken entworfene Verschiebung der Ausrichtung der Kritik von den Intendanten auf Moderatoren, Produktionsverantwortliche und Kandidaten muss nicht zwangsläufig repräsentativ sein, da die ‚Anatomie‘ der beschriebenen Fälle anders gelagert ist (schließlich waren die Intendanten die Initiatoren zur ‚Akte‘ LYSISTRATA). Ein deutlicher Unterschied ist jedoch darin zu erkennen, dass mit den 1970er Jahren in der Fernsehkritik eine breite Diskussion über das Fernsehen als Unterhaltungsmedium einsetzte. An diese Diskussion ist eine Bewertung des Fernsehens gebunden, die immer weniger an den Inszenierungsweisen anderer Medien wie Theater, Literatur oder Film orientiert ist. Damit fügte sich ein Verständnis des Fernsehens in den Diskurs, mit dem neben einer Kritik des Fernsehens als Produkt individueller Entscheidungen eine Kritik des Fernsehens als eigenständiges mediales System etablierte wurde. Der TV-Diskurs der 1970er Jahre operierte bei der partiellen Systembildung des Fernsehens mit zwei Variablen, die in gegenseitige Abhängigkeit gesetzt wurden: die (voranschreitende) Professionalisierung der Produktion und das (immer hemmungsloser werdende) Unterhaltungsinteresse der Zuschauer. Dabei lässt sich eine gewisse Ironie darin sehen, dass dieses als gefährlich erachtete Amalgam aus Aufmerksamkeit kalkulierendem Massenmedium und unterhaltungsorientiertem Publikum – über Wolfgang Menges MILLIONENSPIEL vermittelt – eigentlich als Fingerzeig einer zukünftigen Science-Fiction-Welt eines privat-kommerziellen Fernsehens eingeführt wurde.
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Menges These besagt, dass die Kommerzialisierung des Fernsehens ein potenzielles Gefahrenmoment entfalte, da sich das Medium immer mehr der gesellschaftlichen Kontrolle zu entziehen und ein Eigenleben jenseits der moralisch kontrollierten Bereiche der Gesellschaft anzunehmen drohe. Mit der Ausstrahlung des Fernsehspiels wurde diese These von der Kritik zu einem Kennzeichen des Mediums schlechthin erwählt. Während bereits im unmittelbaren Kontext von Ausstrahlung und kolportierten Zuschauerreaktionen einige Kritiken eher vage andeuten, das entworfene Szenario liege näher an der Gegenwart des Fernsehens, als der Science-Fiction-Rahmen glauben lasse, wurde Menges These nach dem Versenken des Autos in der WÜNSCH DIR WAS-Folge im März 1971 immer mehr zu einem elementaren Bestandteil einer ‚negativen Utopie‘ des Fernsehens. Wenngleich die unmittelbare Verbindung von MILLIONENSPIEL und Fernsehen im Artikelset auf diese Sendung beschränkt bleibt, wird (spätestens) ab diesem Zeitpunkt die Rede über das Fernsehen durch einen Topos bestimmt, der sich mit dem Begriff der Steigerungslogik umschreiben lässt. Die einzelnen Fernsehsendungen fügen sich darin in einen übergeordneten Mechanismus, der insbesondere im Bereich der Unterhaltung als virulent erachtet wird: Um beim Publikum neue Impulse zu setzen, müsse das Medium ein sukzessives Steigerungsspiel mit der Verschiebung inszenatorischer – und damit letztlich auch moralischer – Grenzen betreiben, das zu einer Eigenlogik führe, in der einzelne, kleine Grenzverschiebungen unversehens das Zusammenbrechen etablierter Grenzenziehungen nach sich ziehen können. Das Medium wird in dieser Argumentation zum Verstärker und Stimulator der versteckten und unterdrückten (niederen) Triebe seines Publikums. Auf diese Weise wird ihm ein potenzielles Gefahrenmoment zugeschrieben, mit dem jede noch so kleine Veränderung des Status Quo fast beliebig ins Ungewisse hochgerechnet werden kann. Der Steigerungs-Topos kollidierte besonders in der Fernsehkritik der frühen 1970er Jahre mit der weit verbreiteten Überzeugung, dass sich das Medium nachhaltig zu reformieren habe. Der Kern des Anforderungsprofils, das an das Fernsehen geknüpft wird, drückt sich in einer Reihe von normativen Zuschreibungen aus, die insbesondere in positiven und negativen Bewertungen zum Vorschein kommen. Auffällig sind an diesen Stellen Formulierungen anzutreffen wie: das Fernsehen solle „auf dem Stand seiner Zeit“ sein (DAS 17.12.1972), einen „Ausschnitt unserer Gesellschaft“ liefern (KSA 07. 11.1970), „der [gesellschaftlichen] Situation [...] gerecht“ werden (HMP 17. 01.1973), „Denkanstöße für Menschen in ähnlicher Situation“ bereitstellen (HÖRZU 36/1973), der „kritischen Auseinandersetzung“ dienen (TS 29.10. 1970), „den Zuschauern Auskunft geben“ (SZ 02.10.1971), „zum Nachdenken“ anregen (SZ 05.10.1971), die „öffentliche Toleranz“ fördern (WELT 17. 01.1973). Zusammengenommen formulierte die Kritik damit an das Medium die Erwartung, Zeit- und Gesellschaftsnähe zu praktizieren und als ein umfassender Ort gesellschaftlicher Diskussionsprozesse den Zuschauern positive Orientierungen zu vermitteln. Damit wurde das Fernsehen als ein Instrument anerkannt, das einen aktiven Beitrag zur gesellschaftlichen Modernisierung leisten soll. Für den Mainstream der Kritik war in dieses Anforderungsprofil allerdings die Bedingung eingeschlossen, dass der Grad der Modernisie-
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rungsleistung des Fernsehens in einem moderaten Rahmen zu verbleiben habe. Das Fernsehen sollte kein Instrument der Avantgarde sein, sondern zuallererst ein realitätsgetreues Abbild eines konsensuellen Normbereichs der gesellschaftlichen Mitte bieten.
1986—1995: Von DONNERLIPPCHEN zu DAS
WAHRE
LEBEN
Ereignisbezüge (E9) Bloßstellungsshows. Die Gameshow DONNERLIPPCHEN startete am Dienstag, dem 4. Februar 1986 mit dem Untertitel „Spiele ohne Gewähr“ als 45-minütiges Kurzformat um 20:15 Uhr in der ARD. Sie wurde vom WDR nach dem US-amerikanischen Vorbild GAME FOR A LAUGH produziert und vom damals 37-jährigen Entertainer Jürgen von der Lippe moderiert, der sich durch die Talkshow SO ISSES einen Namen als gewitzter Fernsehunterhalter gemacht hatte. Bei DONNERLIPPCHEN mussten sich Kandidaten einer schnellen Abfolge von Spielen unterziehen, in deren Verlauf sie mit unangenehmen Überraschungen konfrontiert wurden, die oftmals durch den Auftritt von Freunden, Kollegen oder Familienangehörigen eingeleitet wurden. Wegen des großen Publikumserfolgs wurde die Reihe ab der dritten Sendung auf den Samstagabendtermin verlegt und auf 90 Sendeminuten ausgedehnt. Die Show wurde mit einem Saalpublikum aufgezeichnet, das sich zum Teil aus dem Bekanntenkreis der Spielteilnehmer rekrutierte, und im Zweimonatsrhythmus ausgestrahlt. 4 GEGEN WILLI wurde vom Bayerischen Rundfunk nach einer Idee des Redakteurs Jochen Filser als Samstagabendshow konzipiert. Die erste Folge lief am 11. Oktober 1986 um 20:15 Uhr in der ARD, Spielleiter war der 34-Jährige Mike Krüger, der sich ähnlich wie von der Lippe bereits als massenwirksamer Komiker etabliert hatte. Die Show persiflierte Spielarten des Genres, wie die WÜNSCH DIR WAS-Reihe, indem das Konzept des pädagogischen Wettstreits zwischen Familien in nonsensartige Spiele verkehrt wurde: Zwei Familien mussten jeweils ein Mitglied in verschiedene Wettkämpfe schicken, die sich in der Regel als Mutproben für die Kandidaten erwiesen. Um das Preisgeld zu ergattern, reichte es nicht, aus den Spielen als Sieger hervorzugehen, zuletzt musste die Siegerfamilie erraten, welchen Ausgang ein Hamster („Willi“) aus einem kleinen Labyrinth nehmen wird. 4 GEGEN WILLI wurde vor Livepublikum aufgezeichnet und in drei Staffeln mit jeweils fünf Folgen im sechswöchigen Rhythmus ausgestrahlt. Beide Reihen bauten auf eine collagenartige Unterhaltungsästhetik, mit der etablierte Versatzstücke verschiedener Gameshow-Formate neu kombiniert wurden. Einen besonderen Unterhaltungsanreiz stellten die Moderationsstile von der Lippes und Krügers dar, durch die das Gameshow-Format mit Comedyelementen verquickt wurde. Sie trugen wesentlich zu einem „ironischen, teilweise auch zynischen Unterton“ (Hallenberger 1994, 56) bei. Zielscheibe des Humors waren die Kandidaten, die in entwürdigende Situationen gebracht wurden und durch bissige Kommentare der Moderatoren dem Spott des Publikums ausgesetzt waren. Das Unterhaltungskonzept der beiden Showformate reizte so die (freiwillige) Selbstentblößung der Kandidaten vor
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dem Fernsehpublikum aus, weshalb sie den Beinamen „Bloßstellungsshows“ (Bleicher 2002, 216ff.) bekamen. DONNERLIPPCHEN und 4 GEGEN WILLI stehen für eine ab Mitte der 1980er Jahre forcierte Neuausrichtung der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung vor dem Hintergrund der aufziehenden privat-kommerziellen Konkurrenz. Trotz anfangs guter Quoten wurden beide Reihen nach anhaltender öffentlicher Schelte immer weiter entschärft, bis sie so weit an Popularität eingebüßt hatten, dass sie nach nur drei Jahren wieder eingestellt wurden. (E10) Erotikformate. Im Jahr 1987 begann der privat-kommerzielle Sender RTL mit der Ausstrahlung ‚erotischer‘ TV-Programme, um sich gegenüber den öffentlich-rechtlichen Anbietern in einer Nische zu etablieren. Den Anfang machte ab dem 24. Februar der Sexual- und Partnerschaftsratgeber EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE, in dem die (selbsterklärte) ‚Sexualexpertin‘ Erika Berger in drei- bis vierwöchigem Rhythmus dienstags im Spätprogramm nach dem Vorbild von Lebenshilfesendungen aus dem Hörfunk Zuschauern am Telefon Ratschläge zu Fragen des Beziehungslebens gab. Angereichert waren diese Gespräche mit Ausschnitten älterer Aufklärungsfilme (vgl. Neumann-Bechstein 1994, 257). Im gleichen Jahr begann RTL mit der Erschließung des Samstagabends als Abspielstation von FSK-16-Erotikfilmen wie der israelischen EIS AM STIEL-Reihe und der vereinzelten Ausstrahlung von Erotikmagazinen wie SEXY FOLLIES (im Juli/August) oder SEXY CLIPS (zu Silvester). Ab 1988 lief EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE dienstags im wöchentlichen Wechsel mit den französischen Produktionen SÉRIE ROSE und (ab 24. Mai) SEXY FOLLIES, die ab dem 9. April sonntags im Spätprogramm durch MÄNNERMAGAZIN M, einer „dem Printmagazin ›Playboy‹ nachempfundenen“ (Schumacher 1994, 169) Reihung erotischer und nichterotischer Magazinbeiträge, ergänzt wurde. RTL hatte bis in die frühen 1990er Jahre eine Art Monopol im Erotiksegment inne, in das nur der Münchner Clip-Kanal Tele 5 kurzzeitig einzubrechen versuchte. Zweimal wurde dort, am 14. Juli und 18. August 1988, jeweils in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, unter dem übergreifenden Label „Sexy Night“ ab 23:00 Uhr eine ‚Erotiknacht‘ gesendet, die sich aus Filmen, Gesprächen und Clips zusammensetzte, vom Sender aber nicht fortgeführt wurde. Erst mit Beginn der 1990er Jahre begann auch der konservative Privatsender Sat.1 den Samstagabend mit Sexfilmen zu bespielen, während RTL mit dem Erreichen der Marktführerschaft 1993 dieses Segment wieder aus seinem Programm entfernte. (E11) TUTTI FRUTTI. Die Gameshow TUTTI FRUTTI war ein weiterer Baustein von RTL zum Ausbau des Erotikbereichs. Die Erstausstrahlung der „Spielshow mit erotischem Flair“, so der Untertitel, war am Sonntag, den 21. Januar 1990 um 22:40 Uhr. Unter der Spielleitung des Schauspielers und Kabarettisten Hugo Egon Balder, der durch die RTL-Comedy ALLES NICHTS ODER?! beim TV-Publikum Bekanntheit erlangt hatte, spielten ein männlicher und ein weiblicher Kandidat ein einfaches Ratequiz um 3000 DM Siegprämie. Das Spiel diente als Kulisse für eine Reihe von Stripeinlagen, bei denen die Spielkandidaten und eine feste weibliche Model-Riege (das ‚Cin-CinBallett‘) zum Einsatz kamen. TUTTI FRUTTI adaptierte, abgesehen von einigen Feinheiten des Regelwerks, die Strip-Show COLPO GROSSO des italieni-
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schen Privatsenders Italia 7 und wurde auch in der gleichen Studiokulisse in Mailand ohne Publikum abgefilmt. Die Kandidaten der einzelnen Folgen wurden von der Illustrierten NEUE REVUE, die RTLs Kooperationspartner bei der Produktion und Vermarktung der Show war, in deutschen Großstädten gecastet. Die erste Staffel bestand aus 53 Folgen von je 40 Minuten Länge, die bereits komplett fertiggestellt waren, bevor sie im wöchentlichen Rhythmus am Sonntagabend versendet wurden. Das extrem billig hergestellte Format TUTTI FRUTTI bescherte dem Kölner Privatsender anfangs die besten Einschaltquoten in der jungen Firmengeschichte und wurde zum Symbol dafür, wie sich mit wenig finanziellem Aufwand und dem kalkulierten Spiel mit moralischen Konventionen im Fernsehen Geld verdienen lässt. Bis 1993 strahlte RTL noch zwei weitere Staffeln aus, die jedoch nicht mehr an die Anfangsquoten anknüpfen konnten. (E12) Confrontainment-Shows. Unter diesem Punkt sind zwei einzelne Sendungsereignisse zusammengefasst, die auf das ‚Outing‘ öffentlich tätiger Personen im Rahmen des Confrontainment-Formats zurückgehen. Confrontainment ist ein Subgenre des Talkshow-Formats, das gezielt darauf ausgerichtet ist, mit reißerischen Themen und ausgesuchten Gästen verbale Konflikte anzureizen und zu schüren – also Konfrontation um ihrer selbst Willen zu produzieren. EXPLOSIV – DER HEISSE STUHL (RTL) und ULRICH MEYER: EINSPRUCH!, um die es im Folgenden geht, waren in den frühen 1990er Jahren im deutschen Privatfernsehen die bekanntesten Vertreter ihres Genres (vgl. Foltin 1994, 99f.). DER HEISSE STUHL startete bereits am 05.01.1989 als Ableger des Nachrichtenmagazins EXPLOSIV im RTL-Abendprogramm; konzipiert und moderiert wurde die Sendung vom damaligen EXPLOSIVRedaktionsleiter Ulrich Meyer, der nach seinem Wechsel zu Sat.1 „dort die fast identische Talkshow“ (101) EINSPRUCH! aus der Taufe hob und ab der Erstsendung am 02.04.1992 moderierte. Das Setting der beiden wöchentlichen Talk-Reihen bestand darin, möglichst pointierte und gegensätzliche Aussagen zu produzieren. Bei DER HEISSE STUHL geschah das durch die Fokussierung auf einen einzelnen Gast, der auf dem sprichwörtlichen ‚heißen Stuhl‘ Platz nahm und seine Thesen gegen mehrere Kontrahenten verteidigten musste. EINSPRUCH! konfrontierte zwei sich gegenüberstehende Lager miteinander, wobei Moderator Meyer bewusst für die eine oder andere Seite Stellung bezog. Beide Formate wurden 1994 eingestellt. Die thematisierten Sendungen aus den Jahren 1991 und 1993 standen unter der Leitung von Ulrich Meyer. Für Gesprächsstoff in der spätabendlichen Ausgabe (22:00–22:55 Uhr) von DER HEISSE STUHL vom 10.12.1991 sorgte der Filmemacher Rosa von Praunheim, der auf dem berüchtigten Stuhl Platz genommen und u.a. Alfred Biolek und Hape Kerkeling als ‚homosexuell‘ geoutet hatte. Das Diskursereignis der EINSPRUCH!-Sendung vom 14.09.1993 (22:30–23:30 Uhr) betraf nicht die Praxis des ‚Outing‘ als solche, sondern die Art und Weise, wie es in der Sendung vonstatten ging. Thema der Sendung war eine politisch umstrittene Einrichtung für minderjährige Strichjungen in Hamburg. Kurz vor Ende der hitzigen Diskussion trat ein offensichtlich unter Drogen stehender 17-Jähriger auf, der einen der Diskutanten, den Grünen Kommunalpolitiker Peter Mecklenburg, vor den Kameras als einen seiner Freier bezichtigte. Zusätzliche Brisanz erhielt diese Szene durch
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den Kommentar von Moderator Meyer, dass seine Redaktion die Aussage des minderjährigen Drogensüchtigen, der Mecklenburg erst während der laufenden Sendung identifiziert haben wollte, kurzfristig „gecheckt“ habe und somit bestätigen könne. Mecklenburg, der die Vorwürfe vehement abstritt, brach im Anschluss der Sendung zusammen. Im Januar 1994 widerrief der 17-Jährige im Zuge eines einsetzenden Gerichtsverfahrens seine Aussage bei der Polizei. (E13) Reality-TV. Unter dem Oberbegriff ‚Reality-TV‘ ist eine Reihe von Sendungen zusammengefasst, die ein aus den USA stammendes Programmformat adaptierten und zwischen 1992 und 1994 im Privatfernsehen boomten. Es handelt es sich um moderierte Magazine, die tatsächliche Geschehnisse im Form von Originalaufnahmen oder nachgestellten Szenen aufbereiten. Die Magazinbeiträge haben keinen aktuellen gesellschaftspolitischen Bezug, sondern schöpfen ihre mediale Wertigkeit vorwiegend aus Schilderungen physischer oder psychischer Gewalterlebnisse des Alltagslebens, in denen ‚gewöhnliche Menschen‘ Gefahren ausgesetzt waren bzw. zu Opfern oder Tätern wurden (vgl. Wegener 1994, 17). Den Anfang machte am 12. Januar 1992 der ein Jahr später eingestellte Münchner Programmveranstalter Tele 5 mit der sonntäglichen Vorabendreihe POLIZEIREPORT DEUTSCHLAND. Auf RTL begannen darauf die Reihen NOTRUF (wöchentlich ab Donnerstag, den 6. Februar 1992), AUF LEBEN UND TOD (vier wöchentliche Folgen, ab Mittwoch, den 6. Mai 1992), AUGENZEUGEN-VIDEO (zwei Folgen, am 15. und 22. September 1992) und das Polizeimagazin SK 15 (zweiwöchentlich, ab Dienstag, den 16. Februar 1993). Der Konkurrenzsender Sat.1 stieg am 27. Oktober 1992 mit einer Pilotfolge des Magazins RETTER in das Reality-Format ein. RETTER zeigte Originalaufnahmen von Rettungseinsätzen und war ab dem 21. Dezember zunächst montags, ab 1993 dienstags im wöchentlichen Wechsel mit dem am 30. November 1992 gestarteten Fahndungsmagazin K – VERBRECHEN IM FADENKREUZ zu sehen. Innerhalb des Magazinrahmens spezialisierten sich die einzelnen Reihen auf unterschiedliche Formen und Themen. Die gezeigten Beiträge waren komplett eigenproduziert (POLIZEIREPORT DEUTSCHLAND), aus dem USamerikanischen Markt zusammengekauft (AUGENZEUGEN-VIDEO) oder eine Mischform aus Kauf- und Eigenproduktionen. Die Fernsehästhetiken reichen von den Amateurvideos spektakulärer Unglücksfälle bei AUGENZEUGENVIDEO bis zu den mit Laiendarstellern fiktiv nachgestellten Szenen von Rettungseinsätzen bei NOTRUF, deren Realitätsgehalt durch die teilweise Einbeziehung der am realen Unfall Beteiligten verbürgt werden sollte. Die Eingrenzung dieser Formate unter dem – mittlerweile vielfältig gebrauchten – Label ‚Reality-TV‘ folgt dem Verlauf des TV-Diskurses. Etabliert hat sich der Begriff, der ursprünglich als formatspezifische Kategorisierung von TVProduzenten gebraucht wurde, im deutschsprachigen Raum erst kurz nach Anlaufen der ersten Formate. Ausgehend von einem Tagungspanel zu „Reality-TV“ auf dem 4. Medienforum NRW (vom 31.05.–03.06.1992 in Köln) floss die Bezeichnung in die Fernsehkritik ein und wurde zum Synonym für die Problematik der medialen Präsentation von Gewalt im Fernsehen. (E14) Beziehungsshows. Die Beziehungsshows TRAUMHOCHZEIT und VERZEIH MIR waren Bestandteil eines größeren Programmpakets, das der
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Sender RTL bei der niederländischen TV-Firma John de Mol Producties in Auftrag gegeben hatte. Sie basierten nicht nur auf Sendungskonzepten von de Mol, sondern wurden auch – unter Hinzuziehung deutscher Zuschauer und Kandidaten – in den Niederlanden staffelweise vorproduziert. Im Gegensatz zu den Reality-TV-Formaten, die auf die Illusion einer ungebrochenen Repräsentation von Realität setzen, sind TRAUMHOCHZEIT und VERZEIH MIR typische Vertreter des in den 1990er Jahren verstärkt auftretenden „performativen Realitätsfernsehens“ (Keppler 1994), mit dem das Medium der Illusion Vorschub zu leisten versucht, aktiv in die Alltagspraktiken der Gesellschaft einzugreifen. Die erste Staffel von TRAUMHOCHZEIT, deutsche Variante von de Mols Produktidee LOVE LETTERS, war ab dem 19. Januar 1992 en bloc an 14 aufeinander folgenden Sonntagabenden zwischen 20:15–22:00 Uhr im RTLProgramm zu sehen. Unter der Moderation von Lina de Mol, der Schwester des Firmeninhabers, traten drei potenzielle Brautpaare zu verschiedenen Wettbewerbsspielen an, die ihnen Geschicklichkeit und Beziehungswissen abverlangten. Eingeführt wurden die Kandidaten durch MAZ-Beiträge, in denen nach dem Prinzip der versteckten Kamera Heiratsanträge inszeniert wurden (vgl. Bente/Fromm 1997, 375). Erinnerte die Show insgesamt eher an Konzepte abendfüllender Unterhaltung aus den 1950er Jahren (vgl. Hallenberger 1994, 65), so lag ihr Aufmerksamkeitswert, mit dem sie sich auch von zeitgenössischen Heiratsshows wie FLITTERABEND (ARD) absetzten, im Finale des Unterhaltungsreigens. Als Besonderheit winkte dem Siegerpaar eine ‚Traumhochzeit‘ vor laufenden Kameras mit einem echten deutschen Standesbeamten. Wegen des großen Publikumserfolges wurde die Show in späteren Jahren auf den Samstagabend verlegt. VERZEIH MIR lief ein knappes Jahr später, am Dienstag, den 15.12.1992 im Hauptabendprogramm von RTL an. In der 60-minütigen Sendung traten verfeindete oder zerstrittene Familienangehörige, Freunde, Kollegen etc. auf, die sich unter der Moderation der ehemaligen RTL-Wetterfee Ulla Kock am Brink in der Show nach kurzem Aufeinandertreffen wieder versöhnen sollten. Die unterlegte Dramaturgie war auf die oftmals tränenreichen Aussöhnungsszenen ausgerichtet, mit denen ein stark emotionaler Unterhaltungsanreiz gesetzt werden sollte. (E15) DAS WAHRE LEBEN. Mit der unverschlüsselt ausgestrahlten RealLife-Soap DAS WAHRE LEBEN versuchte der junge Pay-TV-Anbieter Premiere 1994 einen Aufmerksamkeitserfolg beim Fernsehpublikum zu verbuchen. Die Serie ist eine Adaption des zwei Jahre zuvor angelaufenen Formats THE REAL WORLD des US-amerikanischen Musiksenders MTV. Sie wurde auf Anregung des Fernsehproduzenten Markus Peichl, ehemaliger Mitgestalter der Zeitgeistmagazine WIENER und TEMPO, von dessen Produktionsgesellschaft Mediaboard für Premiere hergestellt. Die Idee von DAS WAHRE LEBEN bestand in einer Verbindung von Reality-Fernsehen und Seifenoper: In einem öffentlichkeitswirksam durchgeführten Casting wurden vier männliche und drei weibliche Kandidaten ausgewählt, die drei Monate in einer Wohngemeinschaft in Berlin-Mitte zusammenleben mussten und während dieser Zeit durch ihren Alltag in und außerhalb der WG von Kamerateams begleitet wurden. Für diesen Zweck wurde eigens ein Loft angemietet, das – abgesehen von den Schlaf- und Badezimmern – zur besseren Koordination der Ka-
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meraeinsätze in der WG mit Überwachungskameras und Mikrofonen ausstaffiert war (während der Produktion stellten die Bewohner allerdings fest, dass auch die Schlafräume, entgegen den vertraglichen Bestimmungen, mit Mikrofonen überwacht wurden). Die Dreharbeiten fanden schon mit einiger printmedialer Begleitung zwischen April und Juli statt, ehe DAS WAHRE LEBEN an 14 aufeinander folgenden Samstagen in halbstündigen Episoden zwischen dem 17. September und dem 17. Dezember 1994 um 19:30 auf dem Kabelkanal zu sehen war.
Grenzsetzungen (E9) Bloßstellungsshows. Die Frage der Grenzüberschreitung wird in den Kritiken zu DONNERLIPPCHEN und 4 GEGEN WILLI mit Bezug auf zwei Aspekte thematisiert. Zu Beginn der Debatte wird den Showreihen eine negative Verschiebung von Geschmacksgrenzen hinsichtlich der im Fernsehen möglichen Ausgestaltung von Humor unterstellt, mit der ein ehemals gemeingültiges Verständnis von Unterhaltung eine Umwertung erfahren habe: Undenkbar wäre noch vor zehn Jahren gewesen, daß sich Witz ausschließlich in Gemeinheiten erschöpft und auf Vorurteile gründet, daß ein Schlag auf den Solarplexus umwerfendere Komik als eine Pointe erzeugt, daß Intellektualität wieder einmal zur unterschwelligen Lachreizung herhalten muß. (DAS 14.12.1986)
Prägend werde durch die neuen Formen der Unterhaltung immer mehr ein „Humor des Häßlichen“, der das „Abstoßende [als] anziehend“ deklariere und „Unmenschlichkeit“ zum Stilprinzip der Unterhaltung werden lasse. Diese Kritik bezieht sich explizit auf die Performance der Moderatoren, denen die wohl kalkulierte Funktion zugeschrieben wird, als ausführende Organe eines neuen Unterhaltungstyps zur Absenkung der Niveaugrenzen im Fernsehen beizutragen. Die damit verbundene Argumentation steht im Mittelpunkt der anfänglichen Thematisierung beider Shows. Gleichwohl wird sie nicht überall geteilt. Als Gegenargument wird ins Feld geführt, dass die „Grenzen des provokativen Klamauks“ nur relativ zu bestimmen seien, da es sich hier um subjektive Geschmacksfragen handle: „Was für den einen eine Katastrophe ist, wertet ein anderer als amüsanten Schabernack“, schreibt die Illustrierte QUICK (52/1986) zu der Mike-Krüger-Show 4 GEGEN WILLI und verortet diese gleichzeitig, so die Überschrift, „Am Rand des guten Geschmacks“. In der Unterzeile zu dieser Überschrift nimmt die Autorin Irmgard Hochreiter die allgemeine Einschätzung auf, dass die Kandidaten durch den ‚grenzwertigen‘ Humor der Reihe „bewusst provoziert“ würden. Etwa zwei Monate später erfuhr diese Lesart der Sendung eine Ablösung. Unter der Überschrift „Der Kandidat als öffentliches Opfer“ erschien am 25.02.1987 im Feuilleton der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG ein Artikel, mit dem der Autor Michael Mönninger die Argumentation gegen die Unterhaltungsshows neu ausrichtete. Seiner Meinung nach werden in den Shows nicht bloß Geschmacksgrenzen tangiert, das zentrale Element ihrer Ästhetik sieht er in der bewussten Verschiebung von Grenzen im Umgang des Fernsehens mit seinen Kandidaten:
286 | EIN MEDIENDISKURS Der Kandidat hat keine Chance. Er wird nicht als Spieler auf die Bühne geholt, er wird aufs Spiel gesetzt. Bei neueren Fernseh-Spielshows [...] sind Kandidaten der lebende Hauptgewinn in einer Lotterie, die nur Verlierer auslost. Ihre Aufgabe im Spiel ist die Selbstaufgabe. Was sie als Applaus erhalten, ist in Wahrheit eine kollektive Ohrfeige. (FAZ 25.02.1987)
Mönninger konstatiert in der Behandlung der Fernsehlaien einen Prinzipienwechsel in der kulturellen Ausrichtung des Mediums, das sich mit dem Verzicht auf grundlegende Prinzipien allgemein geteilter Bewertungs- und Belohnungsmuster (‚protestantische Ethik‘) gegen die Lebensrealität nicht nur der Gesellschaft, sondern des Menschen im Allgemeinen stelle: „Nicht mehr durch Leistung, sondern durch Leiden kommen Fernsehkandidaten neuerdings zu öffentlichen Ehren.“ Der Topos vom Kandidaten als öffentliches Opfer wurde mit Mönningers Kurzessay zur leitenden Metapher der weiteren Thematisierung der beiden TV-Shows. Von den 14 Artikeln im Korpus, die nach Mönningers Artikel publiziert worden sind, beziehen sich alle, die sich konkret mit einer der beiden Sendereihen auseinandersetzen, auf Mönninger. Davon verweisen drei Artikel direkt auf die FAZ, während sich sieben weitere Artikel wörtlich oder metaphorisch auf den Opfer-Topos beziehen. (E10) Erotikformate. Die Ausstrahlung von Sendungen, die gezielt auf die Präsentation von Erotik setzen, führte in der Kritik zunächst zu keiner Position, die darin eine Verletzung von Grenzen erkennen wollte. Die Anerkennung der Rechtmäßigkeit solcher Programmformen geschieht anfangs mit Hinweis auf den Jugendschutz, der durch funktionierende Kontrollinstanzen gewahrt bleibe, und die Logik einer am finanziellen Gewinn orientierten Programmpraxis, der privat-kommerzielle Sender unterliegen. Damit zusammen wird immer wieder auf die ‚Harmlosigkeit‘ der erotischen Formate hingewiesen, die Sexualität auf eine Art inszenieren, die so – wenn auch auf einzelne Szenen reduziert – auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen sei, „wo zu später Abendstunde immer wieder frech ein blanker Busen aus dem Bildschirm blickt“, wie in der STUTTGARTER ZEITUNG (02.02.1987) kurz vor dem Start von EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE zu lesen war. Erst im Verlauf der Debatte finden sich vereinzelte Stimmen, die wie die kirchlichen Frauenverbände in einem Format wie MÄNNERMAGAZIN M eine „entwürdigende Darstellung“ (SZ 22.02.1989) der Frau erkennen. Die diskursive Randständigkeit dieser Position – mit der nicht die Inszenierung von Sexualität an sich bemängelt wird, sondern deren frauenverachtende Realisierung – wird jedoch daran ersichtlich, dass sie im zweiten Zug dadurch eingegrenzt wird, nicht von „Berufsnörgler[n]“ zu kommen, sondern lediglich „zu einem distanzierten und kritischen Urteil verhelfen“ wolle. In die Nähe einer Transgression gerieten die Erotikformate erst zu dem Zeitpunkt (gegen Mitte des Jahres 1989), als sie von der Kritik nicht länger als vereinzelte Momente einer formatgerechten Inszenierung von Sexualität beschrieben wurden. Den Anlass für diesen Umschwung bilden weniger die einzelnen Sendungen selbst, die sich inhaltlich kaum verändert hatten, sondern vermehrt einsetzende oder zumindest kolportierte Überlegungen von ARD/ZDF und Sat.1, RTL folgend, den Erotikbereich besetzen zu wollen.
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Der SPIEGEL kreierte in diesem Kontext den Topos von der „neuen Sex-Welle im deutschen Fernsehen“: So derb und ungeniert fördert neuerdings die Television den sexuellen Sinnenrausch. Was ist nur aus dem guten alten beschaulichen Bildschirm geworden. Radikal sind, mit dem kommerziellen Fernsehen, die Schamgrenzen gefallen, die Exhibitionisten drängen ans Licht. Nun ist das einst so prüde Medium ein Schlaraffenland für Voyeure. Intimes wird öffentlich gnadenlos ausgewalzt; zuweilen wirkt das TVStudio wie ein gynäkologisches Seminar. Und all jene Fernsehkunden, die jahrzehntelang ein stilles, erotisches Behagen an der aseptischen Lotterie-Blondine Karin Tietze-Ludwig fanden, sind nun womöglich den grellen Reizen kommerzieller Stripperinnen verfallen. (SPIEGEL 30/1989)
Der Kern des Arguments zielt auf die quantitative Ausbreitung erotischer Programmanteile, die auch eine qualitative Veränderung in Form einer ‚Verschärfung‘ der sexuellen Reize nach sich ziehen und zu einer Sexualisierung der Medienkommunikation führen werde. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Position, die von der Kritik konstruiert wird, um sie sogleich damit zu relativieren, dass man es mit einer Entwicklung zu tun habe, die nicht wirklich dramatisch sei, weil weiterhin funktionierende Kontrollinstanzen bestehen und in der (Fernseh-)Gesellschaft ein Bedürfnis nach einer moderaten Liberalisierung der Präsentation sexueller Programminhalte vorherrsche. (E11) TUTTI FRUTTI. Die Fernsehkritik ist sich nach Inspektion der ersten Folge darin einig, dass mit der Auszieh-Show TUTTI FRUTTI keine Grenzen hinsichtlich der Inszenierung von Sexualität im Fernsehen überschritten werden, da die „moralische Schallgrenze“ gewahrt bleibe, die da laute: „Das Höschen bleibt an“ (BMP 21.01.1990). Als Unterstützung dieser Grenzziehung wird häufig ein Relativierungs-Topos herangezogen, mit dem das Medium Fernsehen an anderen medial oder gesellschaftlich praktizierten Umgangsweisen der Präsentation von Sexualität und Körperlichkeit gemessen wird: „Offenherzige Einblicke gewähren uns seit langem die BoulevardBlätter, wohlgeformte Körper gleiten durch jede Kosmetik-Werbung, und am Strand von Ibiza schlagen wir auch nicht züchtig die Lider nieder, wenn nahtlos Braune vorübergehen“ (SZ 20.01.1990). Die hier zum Ausdruck kommende antizipierte Entlastung der Sendung von moralischen Bedenken ist in allen fünf Zeitungskritiken, die im Artikelset direkt auf die erste Folge Bezug nehmen, in den Topos der doppelten Zurückweisung eingebettet: In einem nachfolgenden Argumentationsschritt werden TUTTI FRUTTI alle ästhetischen oder erotischen Qualitäten abgesprochen. Das allgemeine Urteil lautet „phantasielos, fad und überflüssig“ (SZ 23.01.1990). Der Vorwurf der Grenzüberschreitung wird nur von vereinzelten gesellschaftlichen Akteuren erhoben. Dazu zählen weiterhin Vorwürfe von (insbesondere christlichen) Frauenverbänden, TUTTI FRUTTI missachte die Würde der Frau, da „das weibliche Geschlecht durch die Sendung »in primitivster Weise vermarktet und diffamiert« [Ingrid Bellmann von der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands]“ werde (WAZ 16.02.1990). Diese in den Artikeln zumeist explizit als ‚feministisch‘ oder ‚frauenrechtlerisch‘ heraus-
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gestellte Position wird im Lauf der Debatte dadurch leicht verstärkt, dass sie als Zuschauerinnenmeinung wiederholt auftaucht. Die beiden beschriebenen Positionen sind meistens direkt aufeinander bezogen und lassen sich ähnlich auch in der Auseinandersetzung mit den Erotikformaten wiederfinden. Als Novum im Artikelset tritt in der Debatte über TUTTI FRUTTI eine Argumentation hinzu, mit der die grundsätzliche Erörterung der Frage, ob eine Grenzverletzung vorliegt oder nicht, in Zweifel gezogen wird. In Ansätzen ist diese Position bereits in einer Kritik von Bert Kock in der WELT (23.01.1990) vorhanden, für den die „Spielshow [...] gewiß noch nicht der Untergang abendländischer Fernsehunterhaltung“ darstellt, da hier „nur gelacht, geraten und gestrippt“ werde. Expliziter formuliert Hugo Egon Balder in einem Interview in der HÖRZU: Das ist eine Unterhaltungssendung, die darf ich gar nicht ernst nehmen. [...] Ich halte die Aufregung für völlig überflüssig. Die Sendung ist harmloser als Seifenwerbung. Man guckt sich das an – und schon ist es vergessen. (HÖRZU 23/1990)
Fernsehunterhaltung wird in dieser Argumentation generell als eine Art extraterritorialer Raum markiert, mit dem eine karnevaleske Ausnahmesituation hergestellt werde, die andere Maßstäbe der Beurteilung verlange. (E12) Confrontainment. Der Auftritt von Rosa von Praunheim in der RTL-Sendung EXPLOSIV – DER HEISSE STUHL wird unter dem Gesichtspunkt thematisiert, ob das Outing von prominenten Homosexuellen eine gerechtfertigte Praxis darstellt oder nicht. Dabei herrscht von vornherein Konsens, dass Praunheims Vorgehen nicht akzeptabel sei. Begründet wird die Kritik an Praunheims Outing-Vorstoß mit dem Argument, dass Sexualität Teil des Privatlebens sei und es deshalb „jedem Menschen erlaubt sein müsse, selbst darüber zu bestimmen, ob und wann er seine Sexualität öffentlich macht“ (STERN 52/1991). Am Pranger stehen im Korpus durchgehend Rosa von Praunheim und die Praxis des Outings, eine Beziehung zum Fernsehen im Allgemeinen oder der Sendung im Speziellen wird hingegen nicht aufgebaut. Auch das vermeintliche Outing des Grünen-Politikers Peter Mecklenburg in der EINSPRUCH!-Sendung auf Sat.1 wird im Artikelset einmütig als unzulässige Grenzüberschreitung markiert. Den Bezugsrahmen bildet nicht der Aspekt des Outings als umstrittene gesellschaftspolitische Praxis, sondern das Verhalten von Moderator Meyer und seiner Redaktion. Das geschieht unter zwei Hauptgesichtspunkten. Zum einen wird die überfallartig in Szene gesetzte Konfrontation Mecklenburgs mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen als unzulässig zurückgewiesen, indem dem EINSPRUCH!-Team unterstellt wird, gezielt eine Situation herbeigeführt zu haben, die lediglich dazu diente, einen Talkgast vor laufenden Kameras fertigzumachen. Das Verhalten der Fernsehleute wird in Anbetracht des körperlichen Zusammenbruchs von Mecklenburg als ein übermächtiger physischer Übergriff dargestellt, dem der Betroffene schutz- und wehrlos ausgeliefert war. Zum anderen wird dieses Vorgehen mit der darin zum Ausdruck kommenden journalistischen Praxis verknüpft. Beanstandet wird die Weigerung der EINSPRUCH!-Redaktion die vermeintlichen Informanten preiszugeben, mit deren Aussagen die Anschuldigungen des 17-Jährigen angeblich abgeglichen wurden. Als Maßstab diente
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die Maxime, die Integrität eines Menschen müsse höher gestellt werden als das Recht auf Informantenschutz (deren Existenz allerdings massiv in Zweifel gezogen wird). (E13) Reality-TV. Die sukzessive Ausbreitung von Reality-TV im Laufe des Jahres 1992 wird von einer breiten Auseinandersetzung begleitet, die sich um die Frage einer möglichen Entgrenzung der Darstellung von Gewalt im Fernsehen dreht. Das neue Format wird zum Synonym einer partiellen Aufweichung und Verschiebung von Konventionen der Abbildbarkeit realer Ereignisse durch das Medium Fernsehen. Das zentrale Kriterium von RealityTV wird darin gesehen, „bisher respektierte Grenzen ständig [zu] überschreiten“ (NZZ 11.06.1992). Kann diese Festlegung als Konsens der Debatte angesehen werden, die auch den journalistischen Anreiz einer Beschäftigung mit Reality-TV beinhaltet, so war die Kritik bei genauerer Betrachtung mit vier Argumentationsmustern verbunden, die sich dahingehend unterscheiden, die Normabweichung aus einer je anderen Hinsicht zu formulieren. Aus einer ästhetisch-moralischen Perspektive, die sich hauptsächlich den Fernsehkritikern selbst zurechnen lässt, erscheint Reality-TV als ein Format, dessen integraler Bestandteil das kalkulierte Spiel mit den Grenzen medialer Darstellungsformen der Repräsentation von Gewalt ist. Diese Argumentation stützt sich oftmals auf die Schilderung einzelner Beiträge, die in der Regel wie im folgenden Beispiel unkommentiert einen Artikel einleiten: Nächtliche Verkehrskontrolle auf einem Highway: Plötzlich reißen zwei junge Männer den Polizisten zu Boden und treten ihn tot. Die Szene stammt nicht aus der Krimiserie ›Die Straßen von San Francisco‹, sondern aus dem wirklichen Leben: In seiner neuen wöchentlichen Sendereihe ›Augenzeugen-Video‹ zeigt RTL plus heute um 21 Uhr 15 den Mord, festgehalten von einer Kamera im Polizeiwagen. (TS 15.09.1992)
Die überschrittene Grenze ist in diesem Beispiel die filmische Darstellung eines realen (Gewalt-)Todes, die sich im Diskurs zum Topos vom Sterben live verdichtet: „Live aus der Blutlache“ (DAS 03.07.1992; STERN-TV 01.04. 1993), „Sterben ›live‹ vor der Fernsehkamera“ (STZ 20.06.1992), „Live-Aufnahmen der Beerdigung“ (ZEIT 19.03.1993). Der – falsch verwendete – Begriff ‚live‘ wird im Verlauf der Debatte zu einer Art Signalwort (in 9 von 40 Artikeln), das die von den Produzenten versprochene Authentizitätsgarantie des Reality-Fernsehens als eine obszöne journalistische Praxis kennzeichnen soll. Diese sei zusätzlich dadurch herabzuqualifizieren, weil sie keinem Informations-, sondern einem Unterhaltungsinteresse diene. Aus einer medienpsychologischen Perspektive wird Reality-TV als Ausdruck einer Durchdringung der Medien mit Gewalt gesehen, die zu problematischen Wirkungen bei den Konsumenten führen könne. Bezogen ist diese Argumentation auf eine Studie des Medienpsychologen Jo Groebel (1993), die eine Auswertung der quantitativen Verteilung von Gewalt-Szenen im Fernsehen darstellt und auf die in acht Artikeln Bezug genommen wird. Obwohl die Studie ausschließlich Material beinhaltet, das zeitlich vor dem Auftreten der ersten Reality-Formate liegt, werden diese – durch Äußerungen Groebels untermauert – in die Argumentation einer quantitativen Grenzüber-
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schreitung einbezogen. Reality-TV wird damit zur quasi-logischen Konsequenz einer medialen Entwicklung, die sich – journalistisch attraktiv – durch den ‚objektiven‘ Beweis eindrücklicher Zahlen belegen lässt: „2745 Gewaltszenen einer Fernseh-Woche würden, zusammengeschnitten, einen 25stündigen mörderischen Non-Stop-Clip ergeben“ (STERN 2/1993). Wesentlich gestützt wird die gesellschaftliche Relevanz der quantitativen Grenzüberschreitung durch die These der daraus resultierenden gesellschaftlichen Wirkungen, die von Groebel als „Abstumpfungseffekte“ beschrieben werden, die „wiederum mit immer härteren Szenen aufgefangen werden müßten“ (STZ 20.06.1992). Im Verlauf der Debatte rückt eine von politischen Akteuren vertretene medienrechtliche Perspektive immer stärker in den Vordergrund. Sie lässt sich als ein Versuch verstehen, die ästhetisch-moralische und die medienpsychologische Perspektive zusammenzufügen und in eine politische Praxis zu überführen. Maßgeblicher Protagonist ist der CDU-Politiker Horst Eylmann, zum damaligen Zeitpunkt Vorsitzender im Rechtsausschuss des Bundestages, der politisch gegen die Reality-Magazine vorzugehen versuchte und u.a. in zwei ausführlichen Interviews im FAZ-MAGAZIN und dem SPIEGEL zu Wort kam. Eylmann versuchte insbesondere durch den Bezug auf das Persönlichkeitsrecht („Wenn ein Mensch in einer Notsituation gefilmt worden ist und eine Veröffentlichung nicht will, dann darf der Film nicht gesendet werden“, SPIEGEL 09/1993) und den Jugendschutz („Die exzessive Darstellung von Gewalt fördert zumindest bei Kindern und Jugendlichen die ohnehin vorhandene Neigung zu mehr Aggressivität“) Anschluss an die öffentliche Kritik zu finden. Während sich die zuvor genannten Kritikansätze auf einzelne Sendungsereignisse beziehen, mit denen punktuelle Spitzen benannt werden, die Reality-TV als Grenzüberschreitung kennzeichnen, zieht sich durch die Artikel eine vierte, publizistische Perspektive, die das Format generell mit der Überschreitung einer Grenze verbindet: nämlich der zwischen Unterhaltung und Information. Diese Argumentation stützt sich weniger auf die ästhetische Form der Magazine. Sie beruht vielmehr auf Selbsteinschätzungen der Produzenten, die ihre Sendungen als neue, wirklichkeitsgetreuere Formen des Journalismus zu vermarkten versuchten, und auf eine allgemein diagnostizierte Entwicklung des Fernsehens, das immer stärker vom Diktat der Unterhaltung geprägt werde. Die vier vorgestellten Kernargumentationen treten in vielen Artikeln nebeneinander auf und gehen zum Teil auch ineinander über. Die Plausibilität der Kritik an den Reality-Magazinen beruhte zu einem wesentlichen Teil an der so möglich gewordenen Mehrfachpositionierung gegen sie, die zusätzlich dadurch begünstigt wurde, dass zwischen den einzelnen Magazinen kaum differenziert wurde. ‚Reality-TV‘ wurde auf diese Weise zu einem negativ besetzten Begriff, dessen Nennung oder die Anführung von dazugehörigen Sendungsreihen wie AUGENZEUGEN-VIDEO schon zur Markierung einer Grenzverletzung ausreichte. Die Massivität der Kritik hatte zur Folge, dass auch seitens der Produzenten Positionen bezogen wurden, mit denen die Rechtmäßigkeit bestimmter inszenatorischer Grenzen eingeräumt wird, wie das Versenden der „Videoaufnahme eines Selbstmords“ (Olaf Kracht, Mo-
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derator von AUF LEBEN UND TOD in TAZ 23.10.1992) oder „keine Zeitlupe und Detailaufnahme, wenn Blut spritzt“ (RTL-Chef Helmut Thoma in STERN 2/1993). (E14) Beziehungsshows. Die Shows TRAUMHOCHZEIT und VERZEIH MIR werden von der Kritik als Indizien einer schleichenden Grenzverschiebung in der Fernsehunterhaltung gedeutet, mit der sich das Medium immer weiter des Privatlebens seiner Zuschauer bemächtige. Beide Sendungen werden in den Kritiken, die kurz nach Anlaufen der jeweiligen Reihe publiziert wurden, als eine weitere Wegmarke innerhalb dieser Entwicklung verstanden: [1] Das bisher absolut Letzte, die Konsequenz der Konsequenzen sozusagen, bietet nunmehr RTL plus mit seiner ›Traumhochzeit‹. (SZ 08.02.1992) [2] Und keine [Reality-Show] reicht so tief wie die Versöhnungsshow ›Verzeih mir‹, die am Dienstag zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Anders als in Linda de Mols ›Traumhochzeit‹ steht die Seele, um die es geht, hier nicht am Anfang, sondern am Ende eines Weges. (FAZ 17.12.1992)
Das Neue an der Heiratsshow TRAUMHOCHZEIT wird in der gesteigerten Inszenierung des ‚Hochzeitsspiels‘ durch den „abgefilmten Heiratsantrag“ (TAZ 06.02.1992) und insbesondere die abschließende Trauzeremonie gesehen. Das entscheidende Kriterium einer Verurteilung der Zurschaustellung dieser Elemente des Hochzeitsrituals ist jedoch nicht ihre bloße Reproduktion im Medium Fernsehen, sondern betrifft ihre Einbettung in den Rahmen einer von kommerziellen Interessen geleiteten Fernsehshow, wodurch – so René Gralla in der HÖRZU (7/1992) – „ein billiges Geschäft mit den Gefühlen“ entstehe. In der Kritik der Versöhnungsshow VERZEIH MIR wird die von der HÖRZU konstatierte Ausbeutung von Gefühlen zum zentralen Topos. Das Reizwort lautete ‚Träne‘, was sich nicht nur an den 19 Nennungen von |träne| in 10 Texten (bei insgesamt 49 in 321 Artikeln) ablesen lässt, sondern auch an Überschriften wie „»Und wenn Ihnen Tränen kommen, schämen Sie sich nicht…«“ (HÖRZU 6/1993) oder „Der Lohn der Tränen“ (STZ 06.02.1993). Der relativ ungehemmte Fluss von Tränen vor der Kamera, der schon als ein ‚grenzwertiges‘ Element der „RTL-Tränendrüse“ (SPIEGEL 9/1992) TRAUMHOCHZEIT herausgestellt wird, erfährt in der Behandlung von VERZEIH MIR eine nochmals gesteigerte Bedeutung. Den Ausschlag dafür, darin eine Grenzverschiebung wahrzunehmen, gibt wiederum das Setting der Show ab, das dahingehend interpretiert wird, bewusst auf die Produktion solcherart von Gefühlsausbrüchen hin konzipiert zu sein. Gleichwohl die Echtheit der Tränen nicht in Zweifel gezogen wird, erscheinen sie – und damit auch die Kandidaten, die sie vergossen haben – als ein seiner Unschuld beraubtes Produkt einer kalkulierten Formierung durch die Gewalt des Mediums: „Softpornos für die Seele“ (DAS 03.09.1993). Zusammengenommen standen die Beziehungsshows, die nach ihrem Start vom Mainstream der Kritik verrissen wurden, für eine schleichende Entwertung der Authentizität des Gefühlslebens durch die kalkulierte Ausbeutung der „weichen“ (FAZ 17.12.1992) Ressourcen des Privatlebens. Formuliert wurde diese Kritik ausschließlich aus einer ästhetisch-moralischen Perspektive, die durch keine anderen Hinsichten ergänzt wurde und nur über
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das relativ komplexe Muster einer produktions-ästhetischen Bezugnahme auf den Sendungsrahmen wirksam werden konnte. (E15) DAS WAHRE LEBEN. In der über ein knappes Dreivierteljahr verteilten Berichterstattung über die Real-Life-Soap wird die Thematisierung der Sendungsreihe als Grenzübertretung bereits durch die publicityträchtig inszenierten Dreharbeiten, für die die Überwachungsanordnung in der künstlichen WG zentral war, und den ironisch provokanten Titel vorgegeben. Diese Voreinstellungen bestimmen das Einsetzen der Kritik mit den ersten Vorberichten zu den Dreharbeiten und werden mit Beginn der Ausstrahlung durch PRKommentare des Produzenten Markus Peichl („Wir wollten keine Tabus“ in STERN 08.09.1994) noch einmal gezielt angeheizt. Die Kritik ist dadurch mit dem Umstand konfrontiert, auf eine offen inszenierte Grenzüberschreitung zu treffen, mit der absichtlich die Aufmerksamkeit des Skandalträchtigen gesucht wird. Ein längerer Ausschnitt aus einer Kritik von Manfred Riepe zeigt, wie die Kritik anfangs versuchte, sich zu der Sendung zu positionieren: Wer nach dem erwarteten Ergebnis des TV-Experiments fragt, erfährt von den Machern: »Nicht ein Drehbuch beantwortet diese Frage, sondern die Wirklichkeit.« Da aber, wie wir gesehen haben, die Wirklichkeit längst im Fernsehen und das Fernsehen in Wirklichkeit stattfindet, können wir – egal wie das Casting ausfällt – davon ausgehen, daß das dreimonatige Leben im Loft-Studio (»Ton und Licht sind fest installiert«) von vornherein kein Leben um des Lebens willen ist, sondern ein Leben für die Kamera. Auch wenn der Pressetext von den Akteuren verspricht, daß sie aus »völlig unterschiedlichen Milieus, Subkulturen und sozialen Schichten« kommen, so kennzeichnet sie doch allein schon der gemeinsame Wunsch nach Fernsehpräsenz als Serienmenschen: Telegene Exhibitionisten werden in einem Akt selbsterfüllender Prophezeiung genau die Vorstellung bieten, die durch die Auswahlkriterien und die Struktur bereits vorgegeben sind. (TAZ 22.04.1994)
Dem Topos der doppelten Zurückweisung folgend bezieht Riepe eine Position, die von der Mehrzahl der Kritiken geteilt wird, die vor Beginn der Ausstrahlung erschienen sind. Nicht kritikwürdig sei die propagierte mediale Zurschaustellung der Privatheit eines unverstellten Alltagslebens, mit dem die Produktionsfirma skandalträchtig zu spielen versucht, weil jede Realität des ‚wahren‘ Lebens vom Medium aufgesaugt und nach seinen Regeln umgestaltet werde. Diese Art der Inszenierung des Privaten, die im Falle der Beziehungsshows TRAUMHOCHZEIT und VERZEIH MIR noch zur Kritik gereichte, wird im Fall der Real-Life-Soap noch einmal gewendet. Der Verweis auf die charakterliche Disposition der Kandidaten („telegene Exhibitionisten“) durchkreuzt aus einer ästhetisch-moralischen Perspektive jede Kritik, die sich gegen die Art und Weise stellt, wie das Medium über sie verfügt. Riepes Position, die bereits zu einem Zeitpunkt formuliert wurde, als noch nicht einmal das Casting beendet war, durchzieht fast alle Artikel bis zum Beginn der Ausstrahlung. Artikel, die nach Beendigung des Castings und der Dreharbeiten erschienen, konzentrieren sich in zum Teil recht ausführlichen Reportagen auf die Kandidaten, die als mediengewandte Twens porträtiert werden und insofern das charakterliche Gegenüber zu der Doku-Serie abliefern.
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Allerdings bezieht die Kritik diese Position zunächst unter einem gewissen Vorbehalt, der sich darin äußert, dass die Produktion der Real-Life-Soap immer wieder nach Vorkommnissen gescreent wird, in denen die Symbiose zwischen Kandidaten und Medium zu Lasten ersterer zerbrochen sein könnte (FAZ 09.09.1994). In den fünf Artikeln, die nach dem Start der ersten Folge erschienen sind, als alle Kandidaten längst wieder wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt waren, deutet sich jedoch eine Verschiebung an. Was zählt, ist nicht mehr länger die Wertigkeit der Privatheit der Kandidaten, sondern der Unterhaltungswert der Sendung. Beanstandet wird nun der artifizielle Rahmen der Serie: die rasante Dynamik der Videoclip-Ästhetik und die Oberflächlichkeit der Inszenierung des WG-Alltags. Der damit beklagte Mangel an Authentizität wird zur konstitutiven Voraussetzung, um der Privatheit der WG-Bewohner am TV-Schirm beiwohnen zu können: „›Das wahre Leben‹ ist, was es ist: lebloses Designer-Fernsehen“ (MAZ 19.09.1994). Die Kritik tauschte damit das moralische Moment ihrer Bewertung zugunsten einer unterhaltungsästhetischen Perspektive.
Diskursivierung der Kritik — zwischen Skandal und Moral Panic Die sieben Kritik-Debatten, in denen zwischen 1986 und 1994 auf das Fernsehen Bezug genommen wird, weisen eine breite Palette möglicher Formen der Diskursivierung von Normfragen auf. Mit ihnen sind verschiedene Arten der Transkription des Mediums Fernsehen durch das Medium Print verbunden, die bereits in ihrer Bandbreite eine Veränderung der Fernsehkritik kennzeichnen. Sie setzte mit Beginn der 1990er Jahre ein. In dieser Ausweitung der intermedialen Kritikmuster drückt sich eine hierarchische Ordnung aus, die über den Grad an Konflikthaftigkeit Auskunft gibt, der dem Fernsehen zugeschrieben wird. Die Spanne reicht vom eng gefassten, gewöhnlichen Skandal durch das Prominenten-Outing Rosa von Praunheims bis hin zum Einsetzen einer Moral Panic nach dem Aufkommen der Reality-TV-Formate. Im zugrunde liegenden Untersuchungskorpus bilden diese beiden Fälle das Gegensatzpaar intermedialer Kritikmuster, das im Folgenden zunächst dargestellt wird. Die öffentliche Rezeption des Praunheim-Auftritts in DER HEISSE STUHL vollzog sich nach dem Muster eines typisch modernen Skandals, in dem die Medien zwar die konstitutive Voraussetzung bilden, aber nicht zum Ziel der Skandalisierung werden. Am Anfang steht die öffentliche Bezichtigung der sexuellen Orientierung einiger prominenter Personen durch Praunheim – als eine kalkulierte Indiskretion, mit der eine Wertedebatte über Homosexualität entfacht werden soll. Im zweiten Zug folgt mit den ersten Reaktionen der Öffentlichkeit sogleich die Wende, indem der Vorwurf eines Normverstoßes von den Prominenten, die sich nicht öffentlich zu ihrer Homosexualität bekannt haben, auf den Skandalisierer zurückfällt, dem entgegengehalten wird, durch das Outing einen unzulässigen Eingriff in deren Privatsphäre vorgenommen zu haben. Die Protagonisten des Skandals bleiben während der gesamten Auseinandersetzung, wenngleich es sich um Medienpersönlichkeiten handelt, einzelne Figuren mit individuellen Motiven, deren Konflikt auf der Bühne der Medien ausgetragen wird. Die Normalisierungsleistung der ‚Be-
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richt erstattenden‘ Medien führt somit nicht nur dazu, dass die Skandalisierung auf Praunheim zurückfällt, sondern stellt diesen auch, als dingfest gemachten Normübertreter, wirkungsvoll an den Pranger – in der ARD wurde für ihn sogar ein Auftrittsverbot erwogen (TAZ 18.02.1992). Parallel dazu wird versucht, das beschädigte Image der Angegriffenen durch wohl gesonnene Interviews wiederherzustellen (STERN 11/1992; SPIEGEL 19/1992). Die starke Personalisierung und die enge Bindung der Protagonisten an die Medienöffentlichkeit ermöglichten der Fernsehkritik somit, zu einem gewichtigen Mitspieler innerhalb des Skandalisierungsspiels zu werden und am Skandal die Durchsetzung öffentlich geteilter Normen zu demonstrieren. Anders verhielt es sich in der Auseinandersetzung über Reality-TV. Die breitere Thematisierung der neuen Magazin-Formate wird nicht durch einen direkten Bezug auf Programmereignisse ausgelöst. Die Fernsehkritik nimmt von den drei zuerst gestarteten Reihen POLIZEIREPORT DEUTSCHLAND, RETTER und AUF LEBEN UND TOD nur spärlich und kaum unter dem Aspekt des Normkonflikts Notiz. Der Beginn der Debatte setzt erst einige Wochen später ein, mit dem 4. Medienforum NRW, auf das sich alle neun Artikel im Korpus beziehen, die zwischen dem 05.06. (TAZ) und dem 25.06.1992 (STERN) erschienen sind. Die ersten Artikel zum Medienforum ziehen ihre Wertigkeit daraus, dass sie einen Konflikt aufgreifen, der in einem Tagungspanel über das neue Format Reality-TV anhand der Diskussion der Teilnehmer aufgekommen war (TAZ 05.06.1992; SZ 09.05.1992). Erst über diesen Umweg gelangt der Begriff ‚Reality-TV‘ – davor wird von „Reality-Shows“ (STERN 3/1992) gesprochen – als „neues Genre“ (SPIEGEL 26/1992) bzw. „neuer Trend“ (WELT 20.06.1992) aus den USA in den Diskurs. Diese Entstehungsbedingungen blieben für den weiteren Verlauf der Debatte nicht folgenlos, da mit ihnen zwei Grundeinstellungen vorgezeichnet wurden. Sie betreffen erstens die Personalisierung von Normkonflikten und zweitens die Optionierung von annexierbaren Diskursereignissen. Zu erstens: In der Regel werden Fernsehsendungen von der Kritik im Konfliktfall medialen Akteuren wie Moderatoren, Sendungsverantwortlichen oder Produzenten zugerechnet, deren Entscheidungen oder Verhaltensweisen im Modus des Skandals direkt angreifbar werden. Die Bindung der Kritik an den Begriff ‚Reality-TV‘ erschwerte diese Personalisierung. Mit dem Terminus wurde ein übergreifendes Phänomen konstruiert, das wie eine Mode oder eine metaphorische Flut oder Welle über das Fernsehen zu kommen drohte und nicht so sehr vom Verhalten einzelner Akteure abhängig zu sein schien. Zu zweitens: Die Bezeichnung ‚Reality-TV‘ ermöglichte eine Pauschalisierung der Kritik, die auf ein unklar eingegrenztes, weil im Entstehen begriffenes Programmformat Anwendung finden konnte. Die Skandalträchtigkeit, die Reality-TV nach dem Medienforum bekam, geht hauptsächlich darauf zurück, dass dort auf Sendungen verwiesen wurde, die im US-amerikanischen Fernsehen angelaufen waren oder sich für den dortigen Markt in Vorbereitung befanden. Die deutschen Varianten „erscheinen dagegen nur als blasse Kopien der Vorbilder“ (NZZ 11.06.1992), denen durch die gleiche Formatzugehörigkeit jedoch auf einmal eine ganz andere Sichtweise zuteil wurde. Darüber hinaus wurde mit ‚Reality-TV‘ nicht nur ein Sendeformat verbunden, der Begriff sollte – so propagierte es die Eigenwerbung der Produ-
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zenten – auch für eine neue Form des Journalismus stehen, der den Schauwert einer direkteren und ungeschönten Reproduktion der gesellschaftlichen Realität verbürgen sollte. Dieses an die Zuschauer und indirekt vielleicht auch an die Werbekunden gerichtete Versprechen zielte auf den Kernbereich des journalistischen Selbstverständnisses und stellte somit für die journalistischen Akteure der Fernsehkritik eine Provokation dar. Diese reagierte darauf, indem sie den selbstgesetzten Anspruch der Produzenten aufnahm und dahingehend wendete, dass nun die Reality-TV-Formate ihrerseits in einen Rückbezug zur Wirklichkeit gestellt wurden. Von dieser Grundkonstellation ausgehend formierte sich die Kritik in den nächsten Monaten immer mehr zu einem Diskursspiel, das alle Kennzeichen einer Moral Panic in sich trug. Diese Entwicklung kann wesentlich auf drei Faktoren zurückgeführt werden. Zum einen gelang es im Voranschreiten der Debatte, neue Diskursereignisse in die Berichterstattung einzubinden. Dabei handelt es sich einerseits um die neuen Reality-Magazine, die zwischen September 1992 (AUGENZEUGEN-VIDEO) und Februar 1993 (SK15) bei RTL und Sat.1 angelaufen waren und von denen besonders die zwei Folgen des RTL-Formats AUGENZEUGENVIDEO zum Zeichen einer „weiteren Dimension der Fernsehgewalt“ werden: „Unter dem Siegel ›garantiert echt‹ fällt das letzte Tabu: Morde kommen frei Haus“ (TS 15.09.1992). Hinzu kommt zweitens eine Besonderheit der Reality-TV-Debatte, die daher rührt, dass in den Diskurs über das Fernsehen nicht nur Ereignisse eingebunden werden, die innerhalb des Mediums stattgefunden haben. Neben dem Hinweis auf die voranschreitende Verschärfung der Programmformen finden sich in den Artikeln zahlreiche Verweise auf gesellschaftliche Entwicklungen und Vorkommnisse, die nicht das Programm betreffen, aber in einen Kausalzusammenhang damit gestellt werden. Besonders dann, wenn sie mit Jugendkriminalität zu tun haben. So wird in drei Artikeln der ‚Mord von Liverpool‘ erwähnt, bei dem am 12. Februar 1993 ein knapp dreijähriges Kleinkind von zwei Zehnjährigen in einem Kaufhaus entführt und kurz darauf ermordet worden war. Da der Vater einer der Täter im Besitz einer umfangreichen Sammlung von Gewaltvideos war, führte der Mord an dem kleinen James Bulger in der britischen Presse zu einer Moral Panic, während der die Frage der Wirkung medialer Gewaltdarstellungen auf Kinder und Jugendliche ausgiebig diskutiert wurde (vgl- Franklin/Petley 1996). Die Übertragung solcher und ähnlicher Ereignisse auf die Kritik des Fernsehens wurde durch die normative Mehrfachpositionierung gegen das Format ermöglicht, sie führte zusammen mit der diagnostizierten Eskalation der Formate – sowohl der realen im deutschen Privatfernsehen als auch der potenziellen über die Beobachtung internationaler TV-Märkte – zum Aufschaukeln der Kritik. In diesem Prozess gewann der Steigerungs-Topos, der (spätestens) über 20 Jahre zuvor mit der Ausstrahlung des MILLIONENSPIELs in der TV-Kritik etabliert worden war, immer mehr an Bedeutung. Für die diskursive Durchsetzung des Steigerungs-Topos war aber noch ein dritter Faktor wesentlich, der als konstitutiv für Moral Panics angesehen werden kann (vgl. Hunt 1997, 631). Das ist der Auftritt meinungsstarker gesellschaftlicher Akteure, die ihr soziales Kapital einsetzen, um Positionen auf der medialen Agenda nach vorne zu bringen, die den dramatischen Nieder-
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gang gesellschaftlicher Werte beklagen. Zu diesen Akteuren gehören einerseits einzeln auftretende wissenschaftliche Experten – wie die Medienprofessoren Jo Groebel oder Peter Winterhoff-Spurk: [1] Wenn Jo Groebel an die Diskussion über Gewalt im Fernsehen denkt, fühlt er sich irgendwie an den Umgang mit Chemieabfällen erinnert: »In den sechziger Jahren haben wir den Dreck in die Flüsse geleitet und waren froh, daß wir das Zeug aus den Augen hatten. Später mußten wir lernen, daß es woanders wieder hochkam. Mit der Gewalt im Fernsehen könnte es uns ähnlich gehen.« (ZEIT 12/1993) [2] Im Kampf um die besten Bilder beobachtet der Saarbrücker Medienwissenschaftler Peter Winterhoff-Spurk einen Trend der Sender, immer näher und bedenkenärmer mit der Kamera an die Unfallorte heranzugehen. »Die letzte Konsequenz ist, daß die Medien am Ende die Ereignisse selbst inszenieren.« (SPIEGEL 4/1993)
Gewichtiger war jedoch, dass sich vermehrt politische Akteure des Themas angenommen hatten. Dadurch kam es mit Beginn des Jahres 1993 zu einer zweiten Thematisierungswelle, die wiederum nicht primär durch das Programm ausgelöst wurde, sondern eine Folge der Themensetzung prominenter politischer Akteure war – im Artikelset ist das besonders der CDU-Politiker Hort Eylmann. Unter dem Gesichtspunkt des Agenda-Settings wurde die neue printmediale Aufmerksamkeit durch eine neue Perspektivsetzung des Themas ermöglicht, die mit dem Eintritt der Politik in die Auseinandersetzung zusammenhängt. Reality-TV wird als politikrelevantes Problem transkribiert: Bundeskanzler Kohl haben die „Grausamkeiten in den Medien die Sprache verschlagen“ (SPIEGEL 2/1993) und die Bundesministerin für Familie und Jugend, Angela Merkel, diagnostiziert mit Blick auf das Fernsehen: „die Spirale der Reizüberflutung dreht sich immer schneller“ (STERN 2/1993). Der – so erzeugte – neue Themenwert von Reality-TV lag darin, die Frage einer regulativen Intervention ins TV-Programm in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. Die intertextuelle Dramaturgie der Auseinandersetzung erfuhr durch die Einflussnahme politischer Akteure eine neue Dynamik, in der die öffentliche Resonanzzuschreibung durch die Politik zum auslösenden Moment weiterer Kritik wurde, die von der Politik wieder aufgenommen werden konnte, um die interventionistische Position zu legitimieren. Reality-TV wird so zu einem dramatischen gesellschaftlichen Problem, das nach massiven Eingriffen des Staates verlange: Da die freiwillige Selbstkontrolle versagt hat, müssen andere Instrumentarien zur Wiederherstellung des Anstands und der sittlichen Normen geschaffen werden. Das Gesetzgebungsmonopol liegt beim Staat. Er muß seine Autorität und Souveränität dokumentieren und dabei über den Verdacht, er könnte zu einer Art Zensurbehörde werden, erhaben sein. [...] Mittel und Wege gibt es. Die Verantwortlichen müssen handeln. Ein Staat, der alles zuläßt, gibt seine innere Ordnung preis. (TS 20.03. 1993)
Durch die damit einhergehende Verrechtlichung des Diskurses wurde die Kritik des Fernsehens einerseits an einen politischen Diskurs angelagert und in einen veränderten Funktionszusammenhang gestellt, der ihr potenziell eine
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gesteigerte Wirkungsmacht verlieh. Andererseits hatte diese Entwicklung zur Konsequenz, dass die Kritik eine andere rhetorische Plausibilität erreichen musste. Die ästhetisch-moralischen und soziologischen Argumentationsmuster hatten von nun an dem Kriterium des legitimen Zugriffs auf die Programmveranstalter durch rechtliche Interventionen zu genügen. Um ein vollständigeres Bild des Verlaufs der Auseinandersetzung um Reality-TV zu bekommen, muss die Herausbildung interventionistischer Positionen im Kontext einer weiteren Entwicklung gesehen werden. Bereits nach der ersten Thematisierungswelle im Juni/Juli 1992 finden sich vermehrt Artikel, die mit der dort losgetretenen Dramatisierung des neuen TV-Formats zu brechen versuchen. In diesen Artikeln werden Positionen vertreten, denen daran gelegen ist – mit Blick auf die bisher geführte Debatte – eine Kritik zu formulieren, die nicht in den Steigerungs-Topos mündet. Dazu wird den Reality-Formaten das Sensationelle und Neuartige abgesprochen, das sie für sich in Anspruch nehmen. Auffälligerweise werden solche Positionen häufig von einer wissenschaftlich geschulten Fachkritik bezogen, wie sie von den Medienwissenschaftlern Peter Hoff im NEUEN DEUTSCHLAND oder Dietrich Leder im FREITAG praktiziert wurde. Auch für die Publizistikwissenschaftler Achim Baum und Martin Muser „illustrieren die starren Glasaugen der Amateur-Camcorder in ›Augenzeugenvideo‹ eher die Hilflosigkeit und ohnmächtige Distanz aller Television“ (FR 19.11.1992). In den Mainstream der Debatte um Reality-TV schafften es solche Positionen zwar nur selten. Jedoch zeichnet sich an ihnen eine Entwicklung ab, die mit dem langsamen Verebben der zweiten Thematisierungswelle deutlicher zum Vorschein kommt. Durch die massive Frontstellung gegen RealityTV ging bei genauerer Betrachtung ein breiter Riss, der gesellschaftspolitisch motivierte, interventionistisch ausgerichtete Positionen, die eine Zuspitzung der Debatte versuchen, von solchen trennt, die stärker einer klassischen (medien-)ästhetisch, feuilletonistisch geprägten Fernsehkritik verpflichtet sind. Letztere sind es auch, die das Steigerungsspiel der Moral Panic-Debatte der zweiten Welle zu unterlaufen versuchen, indem sie die Auseinandersetzung von einer Kritik des Fernsehens zu einer Kritik der Kritik verlagern. So werden zum einen die empirischen Medienforscher zum Objekt der Beurteilung. Sie werden mit „der grundsätzlichen Frage“ konfrontiert, „ob man ›Wirkungen‹ im moralischen Bereich überhaupt ›abfragen‹ kann“ (TAZ 19.08.1993) und geraten in den Geruch, „Auftragsstudien“ (SPIEGEL 5/1994) zu verfertigen. Zum anderen führt der Versuch der Wendung der Debatte zu einer Konfrontation mit den maßgeblichen Skandalisierern, den Politikern, die „durch Einführung und Tolerierung des privaten Fernsehens erst die Bedingungen für die unendliche Vermehrung [jener] Sendungen schufen“, die sie selbst so hart kritisieren: So wird unter ›Reality-TV‹ all das zusammengefaßt, was einen immer schon gestört und was man deshalb öffentlich nur mit spitzen Fingern angefaßt hat: Sex and crime, die Trivialitäten und Boulevardstoffe, öffentliche Ärgernisse und Exaltationen vor der und für die Kamera, Beichten coram publico und eben nicht vor Gott, sensationelle Zeugnisse und Dokumente. Es handelt sich um eine Liste, die seit Jahrhunderten regelmäßig aufgestellt wird, wenn es gilt, den gesellschaftlichen Zustand zu be-
298 | EIN MEDIENDISKURS klagen und einem Medium (und beispielsweise nicht der eigenen katastrophalen Politik) in die Schuhe zu schieben, ob es sich nun um das Buch, die Zeitung und die Zeitschrift, das Kino, den Comic oder das Fernsehen handelt. (Freitag 11/1993)
An diesem Zitat lässt sich ablesen, dass die Gegenposition zum SteigerungsTopos ein Vergleichs-Topos war, mit dem die unterstellte Dramatik der Veränderung des Fernsehprogramms in Relation zur allgemeinen Mediengeschichte gesetzt wird. Ein besonders instruktives Beispiel für die breite Anwendungsmöglichkeit des Vergleichs-Topos bietet ein Streitgespräch zwischen Jugendministerin Merkel und RTL-Chef Thoma (STERN 2/1993), in dem letzterer jeden Einwand gegen das RTL-Programm mit einem mediengeschichtlichen Vergleich zu relativieren versteht. Im medialen Skandalisierungsspiel bietet der Vergleichstops die Möglichkeit der Zurückschreibung semantisch aus den Fugen geratener Zustände in den Bereich des Normalen. Dabei erweist er sich in vielen Kritiken als Ersatz für den Topos der doppelten Zurückweisung, mit dem gleichfalls eine Gegenposition zu der Behauptung bezogen wird, dass ein Ereignis eine normsensitive Relevanz besitze. In der Reality-TV-Debatte findet sich der Vergleichs-Topos, verschieden variiert, besonders häufig nach der zweiten Welle zu Beginn des Jahres 1993 (ZEIT 10/1993; FREITAG 11/1993; STERN-TV 14/1993; SPIEGEL 34/1993). Allerdings liefert das Analysekorpus keine Begründung für eine Durchsetzung dieser Position, da in diese Phase auch die schärfsten Zuspitzungen des Steigerungs-Topos fallen (STZ 24.02.1993; TS 20.03.1993; ZEIT 12/1993). Die Auseinandersetzungen um den Praunheim-Auftritt in DER HEISSE STUHL und das Aufkommen von Reality-TV verdeutlichen, dass sich die Diskursivierung von Normkonflikten im Fernsehen in Abhängigkeit von drei Elementen vollzog, durch die die Thematisierung des Mediums Fernsehen strukturiert wurde. Erstens weisen die beiden Fälle unterschiedliche Ereignisverknüpfungen auf. Bei DER HEISSE STUHL handelt es sich um ein singuläres Ereignis, das auf ein Vorkommnis innerhalb einer Sendung begrenzt ist, während die Reality-TV-Debatte auf ein Set von Sendungsreihen bezogen ist und davon ausgehend an weitere (gesellschaftliche oder mediale) Ereignisse angebunden wird. Zweitens ergibt sich daraus ein anderer Verlauf bzw. eine andere intertextuelle Dramaturgie der Thematisierung, die von der skandaltypischen Fokussierung auf Personen bis zu der „signification spiral“ (Hall/Jefferson 1976, 77) als symbolischer Eskalation von Wertkonflikten im Modus der Moral Panic reicht. Drittens wirken sich diese beiden Aspekte auf die Laufzeit der Auseinandersetzung aus, die mit der Ausweitung der Ereignisbezüge eine größere Ausführlichkeit bekommt – sowohl quantitativ hinsichtlich der publizierten Artikel als auch qualitativ hinsichtlich der Variabilität auffindbarer Argumentationsmuster und Positionen. Die unterschiedlichen Thematisierungsmuster der Praunheim- und der Reality-TV-Debatte stehen für zwei polare Formen der Diskursivierung von Normen. Der Blick auf die übrigen Debatten, die sich zwischen einfachem, personalisiertem Skandal und Moral Panic bewegen, bringt ein weiteres intertextuelles Muster zum Vorschein, dass sich ab Mitte der 1980er Jahre immer mehr zu einer typischen Grundform der medialen Transkription von Normkonflikten im Fernsehen herauszukristallisieren begann. Der Unterschied zu
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den zeitlich davor liegenden Konfliktfällen liegt darin, dass sich der Zeitbezug zwischen Sendung und Kritik ausdehnte, was auf die Veränderung des Fernsehprogramms zurückgeführt werden kann, das sich durch eine neue Programmästhetik in Umfang, Gestalt und Inhalt gewandelt hatte (vgl. Hickethier 1998, 526f.). Für die Debatten der Kritik bedeutete das, an die Stelle von einzelner Sendung und darauf folgender Kritik tritt ein komplexeres Schema, das sich modellhaft in vier Phasen einteilen lässt. Es wird nachfolgend anhand der Debatte zu TUTTI FRUTTI erläutert. In einer ersten Phase treten eventuell Vorberichte zu einem neuen Format auf, die sich auf PR-Informationen beziehen und Produktionsdaten aneinanderfügen oder Moderatoren porträtieren. Das gewachsene printmediale Interesse für die Konflikthaftigkeit des Fernsehens hat zur Folge, dass bereits in dieser Phase Normkonflikte zumindest ansatzweise antizipiert werden. Das geschieht in der Regel über einen doppelten Verweis, mit dem einerseits auf die Harmlosigkeit der neu startenden Sendung abgehoben, gleichzeitig aber auch mit dem Neuen und (potenziell) Konflikthaften gespielt wird. Christoph Boy beginnt in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG einen Vorbericht zu TUTTI FRUTTI folgendermaßen: Was soll man da noch schreiben? Hugo Egon Balder [...] hat sich zu seiner neuen Sendung [...] die Kritiken selbst geschrieben. Morgen will er seinem Publikum den Spiegel hinhalten und ausgiebig zitieren. Der ›Spiegel‹ – so stellen es sich die Macher von ›Tutti Frutti‹ vor – wird schreiben: »Balder ferkelt sich durchs Programm der mammographischen Wohltaten«. Die ›Zeit‹ lasse sich von dem »Kölner SexElaborat« brüskieren, und ›Emma‹ werde »die saure Gurke an Chauvi Balder« verleihen. (SZ 20.01.1990)
Trotz Boys rhetorischer Frage „Was soll man da noch schreiben?“ setzt drei Tage später die zweite Phase ein, in der nach Beginn der Ausstrahlung die ersten Sendungskritiken erfolgen. Diese führen jedoch nicht zu einer Skandalisierung – die ersten drei Nachkritiken vom 23.01.1990 arbeiten alle mit dem Topos der doppelten Zurückweisung und lesen sich bereits wie das Ende der Debatte. Die Topisierung der Show im Modus des Skandals wird im Artikelset erst durch eine Meldung der FUNK-KORRESPONDENZ vom 26.01.1990 eingeleitet. Sie besagt, ein „Vertreter der katholischen Kirche in [dem Aufsichtsgremium] der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM)“ habe die Sendung als „die Würde des Menschen verletzend“ bezeichnet (FK 4/1990). Solche auslösenden Momente können wie im Fall von TUTTI FRUTTI sowohl durch die Berichterstattung über Reaktionen gesellschaftlicher Akteure hervorgerufen werden als auch durch die Fernsehkritik selbst. Auf diese Weise wird eine dritte Phase eingeleitet, in der die Skandalisierung von den Printmedien weitergeschrieben und bearbeitet wird. Das hier einsetzende Skandalisierungsspiel bedient sich immer weniger Methoden der klassischen Fernsehkritik, sondern transkribiert den Skandal primär unter Verwendung typisch journalistischer Formen: Berichte, Reportagen, Interviews. Der Wechsel der Form wirkt sich auch auf die Art der Kritik aus, die dem Fernsehen zuteil wird. Sie wird neu perspektiviert und in neue Kontexte eingewoben.
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Neben der Einbindung der Reaktionen gesellschaftlicher Akteure in Form zumeist kürzerer Meldungen (‚XY hat gesagt…‘) sind zwei Strategien auffällig, mit denen eine Fernsehkritik etabliert wird, die nicht auf die Ästhetik des Programms ausgerichtet ist, also keine Programm- oder Sendungskritik im engeren Sinne ist. Die erste Strategie verfährt als investigative Reportage, die auf die Produktion von Unterhaltungssendungen ausgerichtet ist. Dass diese Form des ‚Blicks hinter die Kulissen der Unterhaltung‘ nicht im Artikelset zu TUTTI FRUTTI auftaucht, mag damit zusammenhängen, dass die erste Staffel bereits vor dem Sendebeginn komplett fertiggestellt war und ohne Studiopublikum produziert wurde. Denn zur Anwendung kommt dieser Ansatz besonders bei den weicheren Formen des Realitätsfernsehens, die Zuschauer als Kandidaten in die Produktion einbeziehen – wie das bei den Bloßstellungs- (STERN 2/1988), Confrontainment- (ND 13.11.1993) oder Beziehungsshows (ZEIT 6/1993; HÖRZU 6/1993; STERN 18/1993) der Fall war. Mit Hilfe dieser Strategie wird versucht, die mediale Welt hinter dem anonymen Apparat für die Fernsehzuschauer bzw. Leser transparent werden zu lassen, indem das Unterhaltungsversprechen der Shows (Witz, Harmonie, Spannung) in sein Gegenteil (Peinlichkeit, Brutalität, Routine) verkehrt wird. Wird Kritik hier zur Kritik der Produktionsästhetik, so versucht die zweite häufig aufzufindende Strategie eine Kritik des Fernsehens über dessen Einbindung in kulturtheoretische oder soziologische Diskurse. Das Medium wird auf diese Weise zum Objekt eines kulturkritischen Räsonnements, mit dem seine gesellschaftliche Breitenwirkung thematisiert wird. Die konkrete Auseinandersetzung mit der einzelnen Sendung tritt dabei in den Hintergrund; das Fernsehen wird zum übergreifenden Phänomen, das durch das einfache Anführen von Sendungstiteln oder Teilelementen hinreichend beschrieben zu sein scheint. Im Fall von TUTTI FRUTTI ist es der Psychologiediskurs, über den die Sendung aktiviert wird (oder umgekehrt): Doch inzwischen sind die gesellschaftlichen Normen aufgeweicht, die Schamgrenzen verwischt: Deshalb kann das Tutti-Frutti-Ballett im Privatfernsehen nackte Busen und nackte Hintern schwenken, darf die amerikanische Entertainerin Annie Sprinkle öffentlich ihre Vagina präsentieren, können Damen-Kegelvereine durch Nachtklubs auf der Reeperbahn ziehen, ohne daß dies noch als beschämend gälte. (SPIEGEL 19/1992)
Diese Variante trägt durch ihre Pauschalität und Abstraktheit oftmals – wie auch im zitierten SPIEGEL-Artikel – zur Verklärung des Konflikts bei, kann aber auch zu seiner Verschärfung führen. Zur Anwendung kommt sie in der Regel in der Spät- oder Endphase einer Debatte und steht damit am Übergang zur vierten Phase der Skandalisierung. Signifikant ist für diese das Einsetzen einer Wendung in der Positionierung der Printöffentlichkeit, die sich darin ausdrückt, dass vermehrt Positionen transkribiert werden, die den Normkonflikt zurückweisen. Ersichtlich ist das an der Häufung von Artikeln, in denen die vermeintlich Schuldigen (Moderatoren und Programmverantwortliche) zu Wort kommen. Im Artikelset zu TUTTI FRUTTI sind das Interviews mit Moderator Balder (HÖRZU 23/1990) und RTL-Chef Thoma (SPIEGEL 42/1990), der durch TUTTI FRUTTI den Titel „Herr der Möpse“ (STERN 26/1990) be-
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kommen hatte. Es wäre allerdings ein Missverständnis der Funktionsweise von Öffentlichkeit, würde man diese letzte Phase als Beilegung des Konflikts betrachten. Positionen einer Debatte können auch nach ihrem Verschwinden bei nächster Gelegenheit fast identisch wieder auftauchen. So ist beispielsweise die feministische Kritik an den Erotikformaten und TUTTI FRUTTI identisch. Allerdings spricht der Vier-Phasen-Verlauf, der sich – mit Ausnahme der Confrontainment-Shows (deren Debatten nur aus der dritten Phase bestehen) und Reality-TV (in deren Debatte die dritte Phase zweimal einsetzt) – in allen Fällen wiederfinden lässt, dafür, dass hier ein spezifisches Muster wirksam wird, das mit der Normalisierungsleistung der Medien in Zusammenhang steht. Instruktiv ist dazu die Berichterstattung zu DAS WAHRE LEBEN. Die RealLife-Soap war schon vor Beginn ihrer Versendung so stark aufgeladen, dass der Normkonflikt bereits in diesem Stadium ausgetragen wurde. Dafür lassen sich zwei Faktoren ins Feld führen. Zum einen versuchte die Produktionsfirma Media Board die Real-Life-Soap ganz bewusst in einem Aufmerksamkeit stiftenden Raum zwischen neuer (Medien-)Normalität und Grenzverletzung zu positionieren. Deshalb distanziert sich Firmenchef Peichl anfangs von der Zuschreibung als ‚Reality-TV‘ (BZ 28.05.1994), mit der das Format zunächst etikettiert wird (SPIEGEL 15/1994), um die negativen Konnotationen, die mittlerweile daran geknüpft waren, nicht auf sein Produkt überspringen zu lassen. Erst kurz vor Sendestart, als die Produktion weitgehend abgeschlossen ist, versucht Peichl die Neugierde mit der Bemerkung „wir wollten keine Tabus“ anzuheizen, wenngleich er das im Nachsatz damit relativiert, dass DAS WAHRE LEBEN ohne Tabubrüche ausgekommen sei (STERN 37/1994). Auf der anderen Seite war die Printöffentlichkeit für eine ausführliche Thematisierung der Sendung sehr empfänglich. Ihr wird das Potenzial eingeräumt, der Diskussion um Reality-TV eine neue Richtung zu geben, da es sich um eine „neue Variante“ (SPIEGEL 15/1994) handle, wie der Realitätsfernsehens versuche, sich die Wirklichkeit einzuverleiben. Die Kritik realisierte sich infolgedessen als journalistische Beobachtung des Castings und der Dreharbeiten und hatte sich zum Sendebeginn erschöpfend mit der Frage der Normverletzung befasst – zumal alle Kandidaten die Produktionszeit heil überstanden hatten. Gleichzeitig schuf die umfangreiche journalistische Begleitung der Dreharbeiten den Produzenten die Möglichkeit, etwaiger Kritik am Schneidetisch zuvorzukommen. So wurde der als ‚entwürdigend‘ dargestellte Versuch der WG-Bewohner, einen der Spielteilnehmer aus dem Haus zu werfen (FAZ 09.09.1994), später nicht gezeigt.
Wert des Privaten — schleichende Adaption durch das Medium Mit Beginn der 1990er Jahre gewann ‚Privatheit‘ für die Kritik immer mehr an Bedeutung. Dieser Bedeutungsgewinn verlief parallel zur Veränderung des TV-Programms, das durch den steigenden Einfluss privat-kommerzieller Anbieter immer mehr als Ausdruck und Movens einer elementaren Verschiebung ehemals gültiger Grenzsetzungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen angesehen wurde. SPIEGEL-Autor Cordt Schnibben schreibt im August 1993 in einem Artikel über „die Zukunft des deutschen Fernsehens“:
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„Privatfernsehen bedeutet, das Private öffentlich zu machen“ (SPIEGEL 34/1993). In diesem Wortspiel drückt sich die Standortbestimmung eines Mediums aus, das innerhalb einiger weniger Jahre zum Synonym eines bedrohlichen Wertewandels avanciert war, der die Gesellschaft in seinen Sog gezogen habe. Ein integraler transkriptiver Bestandteil dieser Einschätzung ist die intensiver werdende Anlagerung einer Kritik des Fernsehens an Diskurse über die Trennlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Die im Textkorpus gesammelten Artikel zeugen davon, dass sich die Einbeziehung des Privatheits-Diskurses in die Kritik als ein sukzessiver Prozess gestaltete, in dem sich erst in der fortlaufenden Auseinandersetzung mit dem Unterhaltungsfernsehen allmählich die Bezugsweisen formierten, über die ‚Privatheit‘ als relevante Kategorie einer Kritik des Mediums neu erschlossen wurde. Diese Entwicklung lässt sich bis zur Ebene der Begriffsverwendung zurückverfolgen. Der Wortstamm |privat| taucht (insofern er nicht in Zusammenhang mit der Beschreibung des ‚Privatfernsehens‘ steht) vor 1992 nur in 7 Artikeln auf. Die STERN-Redakteure Matthias Matussek und Sven Michaelsen schreiben 1988 über 4 GEGEN WILLI, in der Sendung sei „nicht schrulliger Privatwahn wie in ›Wetten, daß...‹ […] gefragt, sondern der Kandidat als öffentliches Opfer“, um im Anschluss aus Mönningers FAZ-Essay zu zitieren. Wenngleich sich nicht zweifelsfrei erschließt, was die Autoren mit „schrulliger Privatwahn“ meinen, wird in dieser Textstelle, die (neben der Formulierung „private Vorliebe“) das einzige Vorkommen von |privat| in den Kritiken zu den Bloßstellungsshows dokumentiert, keine Verbindung zwischen der öffentlichen Vorführung der Kandidaten und einem Begriff von Privatheit vorgenommen. Dieser Befund gilt für den gesamten Ausschnitt der Debatte, in der der Topos vom Kandidaten als öffentliches Opfer auch keinen nennenswerten Anschluss an andere Begriffe des Privatheits-Diskurses wie ‚Intimität‘ (zwei Nennungen) oder ‚Scham‘ (eine Erwähnung) findet. Im Mittelpunkt der Kritik stand der Begriff der Öffentlichkeit, der mit einer negativen Konnotation versehen wurde, ohne ein Gegenüber zu haben. Wenn Mönninger in seinem Essay von der „Selbstaufgabe“ der Kandidaten schreibt, die sich „im kultischen Sinn“ einer Opferhandlung unterziehen (FAZ 25.02. 1987), so verbleibt in dieser Argumentation die Leerstelle, worin die Opferleistung der Kandidaten eigentlich bestanden haben soll – nämlich, so ließe sich ergänzen, in der (kurzzeitigen) Aufgabe ihres Status als Privatpersonen. Gleichzeitig manifestiert sich in der mit dieser Argumentation vollzogenen Abwertung der Kategorie des Öffentlichen eine Verschiebung zu den 1970er Jahren, die sich bereits in der ARENA-Debatte angedeutet hatte. Betrachtet man die Verwendungen von |privat| in der chronologischen Abfolge der Artikel zwischen 1986 und 1994, wie sie in Tabelle 4 dargestellt sind, fällt eine weitere Veränderung auf, die einen Indiz für eine Neuformierung des Diskurses abgibt und die mit der Semantik von Wortbildungen zusammenhängt.
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Tabelle 4: Verwendung des Wortstamms |privat| zwischen 1986 und 1994 (ohne Bedeutungsvarianten wie |privatfernsehen|) Wortstamm |privat| Privatwahn Privatangelegenheit private Vorliebe private Unterhose privat [leben] Privates Recht auf Privatheit Privatleben (2x) Privatleben private Angelegenheit private/s Freude (2x)/Leid/Vergnügen privatesten Probleme Privatleben private Schicksale (3x) privatem und öffentlichem Schrecken letzte Reservate des Privaten privatem und öffentlichem Schrecken privates, ›echtes‹ Sterben Privatleben Privatschatulle privatisieren Veröffentlichung von Privatem private Angelegenheit Privatsphäre das Privateste aus dem privaten Leben Privatleben (2x) Privatbereich Sphären des Privaten und Öffentlichen das Private öffentlich zu machen Formel ›mach das Private öffentlich‹ Privatsphäre Adaption des Privaten Devise, daß alles Private politisch sei privat […] sein privates und öffentliches Leben Privatsphäre privatesten Gefühle privatesten Verrichtungen Privatsphäre
Medium STERN 2/1988 STERN-TV 33/1988 STERN SH 1/1989 TSP 20.02.1990 HÖRZU 23/1990 TAZ 18.12.1991 STERN 52/1991 STERN 52/1991 SZ 08.02.1992 HÖRZU 7/1992 TSP 09.03.1992 TSP 09.03.1992 STERN 19/1992 TAZ 05.06.1992 NZZ 11.06.1992 NZZ 11.06.1992 DAS 27/1992 DAS 33/1992 SPIEGEL 48/1992 SPIEGEL 48/1992 SPIEGEL 2/1993 SPIEGEL 2/1993 NZZ 18.02.1993 FR 23.02.1993 STZ 24.02.1993 FR 27.02.1993 DAS 9/1993 ZEIT 12/1993 ZEIT 12/1993 SPIEGEL 34/1993 DAS 35/1993 SPIEGEL 38/1993 TAZ 22.04.1994 SPIEGEL 15/1994 SPIEGEL 15/1994 FAZ 09.09.1994 FAZ 09.09.1994 HAB 10.09.1994 MAZ 17.09.1994 MAZ 17.09.1994
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Zum einen finden sich ab 1992 zum ersten Mal Verwendungsweisen, die das Adjektiv ‚privat‘ in den Superlativ stellen: als privateste „Probleme“, „Gefühle“ oder „Verrichtungen“ – gleiches lässt sich auch für das Adjektiv ‚intim‘ nachweisen (MA 17.09.1994; FOCUS 35/1993). Zum anderen wird bis Ende 1992 der Begriff „Privatleben“ gebraucht und es findet sich die Bildung von Gegensätzen wie „privater Freude“ und „privatem Leid“ oder „privatem und öffentlichem Schrecken“. Ab 1993 hingegen ist nur noch in einem Artikel von „Privatleben“ die Rede, stattdessen steht nun an entsprechenden Stellen „Privatsphäre“ und als Gegensatzpaar tauchen die „Sphären des Privaten und Öffentlichen“ auf. Diese Veränderungen des semantischen Tableaus zeugen von einer rhetorische Dramatisierung des Privatheits-Diskurses. Die Steigerung des Adjektivs ‚privat‘ ist eine Reaktion auf die Diagnose ‚gesteigerter‘ medialer Formen, mit denen das Fernsehen das Privatleben ausschlachte. Dieser Entwicklung wurde mit dem Verweis auf die ‚Privatsphäre‘ zunehmend ein veränderter Begriff des Privaten entgegengesetzt, der juristisch konnotiert war und das ‚Private‘ als einen abgrenzbaren Bereich entwarf, das über ein klares Innen und Außen verfüge und insofern verletzbar wurde. In einem solchen Umgang mit Begriffen drückt sich eine eher basale Form diskursiver Praktiken aus. Sie korrespondiert mit der schrittweisen Einbindung der Kritik des Unterhaltungsfernsehens in breiter gelagerte, soziokulturelle Zusammenhänge, wie sie besonders von den weniger tagesaktuellen, wöchentlichen Publikationen hergestellt werden. Nachfolgend wird an zwei SPIEGEL-Artikeln aus den Jahren 1989 und 1993 beschrieben, wie auch auf dieser Diskursebene ‚Privatheit‘ immer mehr ein bestimmendes Moment der Fernsehkritik wurde. Unter der Gänsefüßchen-Überschrift „»Runter mit dem Keuschheitsgürtel«“ (Sendungstitel eines Erotikfilms auf RTL) widmet sich Peter Stolle, damals Kultur- und Medien-Redakteur beim SPIEGEL, der „neuen Sexwelle im deutschen Fernsehen“ (SPIEGEL 30/1989). Seine These lautet, im Fernsehen seien die „Schamgrenzen gefallen“, da dort „Intimes öffentlich gnadenlos ausgewalzt“ werde. Diese Diagnose kennzeichnet in Stolles Artikel nicht nur das Fernsehen, sondern wird durch die Übertragung auf Kino und Radio zu einem generellen Trend der Medienentwicklung. Die von Stolle bediente Raummetaphorik gefallener (Scham-)Grenzen mit der spiegelbildlichen Ausweitung der medialen Inszenierung intimer, sexuell konnotierter Bilder und Praktiken tauchte bereits in der Debatte über die ARENA-Sendung von 1982 auf. Dort markiert sie eine konservative Diskursposition. Stolle aktualisiert diese Position mit einem Rückgriff auf die TV-Geschichte (die PODIUM-Sendung von 1973): Das »deutsche Volk landet im Schweinestall«, wetterte so mancher Alte, der zwar selbst zuchtlos im Rentenkonkubinat lebte, aber machtvoll protestierte, als im WDRFrauenfunk eine Dame mit vergnügtem Unterleib, die Hamburger Hausfrau und Sex-Lyrikerin Helga Goetze, auftrat und für totale Anarchie im Triebwesen plädierte. (SPIEGEL 30/1989)
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Und führt anschließend mit Verweis auf die konservative WELT AM SONNTAG auch den Freud zugerechneten Satz „Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn“ an, mit dem schon die Goetze-Widersacherin Elisabeth Motschmann in der ARENA-Debatte ihre Argumentation gestützt hatte. Stolle hingegen spielt mit dieser Position, ohne sie sich klar anzueignen. Dazu durchkreuzt er sie – genau wie es der Mainstream der Fernsehkritik 1982 gemacht hatte – mit dem Gegenargument eines gewandelten soziokulturellen Koordinatensystems der Gesellschaft, in dem „der liberale Zeitgeist den greisen Moralkodex [des] Reinheitsgebots der Sittenwarte längst überrollt“ habe: „Die Jugend ist mit plakativem Illustrierten-Sex gereift, die Antiautoritären in den siebziger Jahren hatten ihre Kinder sexualtabufrei erzogen, in den Medien hat der Kommerz die Anstands- und Reizschwellen immer weiter gesenkt“ (SPIEGEL 30/1989). In diesem Zitat drückt sich jedoch auch die Ambivalenz aus, die Stolles Position von der Kritik zu Beginn der 1980er Jahre trennt. Weder will er sich in die Tradition der ‚Aktion saubere Leinwand‘ stellen, unter deren Slogan der katholische CDU-Politiker Adolf Süsterhenn Mitte der 1960er Jahre das Kino säubern wollte, und deren ideologisch überholtem Diskurs interventionistische Positionen zuzuordnen seien, weil sie gleichfalls moralisch gegen die ‚Sexualisierung‘ der Öffentlichkeit argumentieren. Noch sieht er in dem Boom erotischer TV-Sendungen eine unproblematische Entwicklung, mit der das Medium einen soziokulturellen Wandel nachvollziehe. Denn es sei mittlerweile das Fernsehen selbst, das diesen Wertewandel hervorbringe. Etwa dreieinhalb Jahre später erscheint der SPIEGEL (2/1993) unter dem Titel „Die schamlose Gesellschaft“. Die zugehörige Titelgeschichte – namentlich nicht gezeichnet, jedoch von Stil und Thematik sehr eindeutig Stolle zuzuschreiben (der auch das angehängte Interview mit Hans Peter Duerr geführt hat) – greift als Überschrift die im vorletzten, oben abgesetzten Zitat erwähnte drastische Metapher aus der Zuschauerpost der frühen 1970er Jahre wieder auf: „»Ein Volk im Schweinestall«“. Der gehobene Stellenwert, der der 30 Jahre zurückliegenden Reaktion „geifernder Senioren“ eingeräumt wird, drückt bereits die Tilgung zurückliegender Ambivalenzen aus. Der Artikel stellt eine Variation der Beschreibung der „Sexwelle im deutschen Fernsehen“ von 1989 dar, die breiter angelegt ist, indem die Indizienkette um mehr mediale Beispiele und – in Anlehnung an die Reality-TV-Debatte – den Aspekt der Gewalt erweitert ist. Im Schwung der einsetzenden Moral Panic kann der Artikel so die ‚Sexwelle‘ in eine ‚Flut von Sex und Gewalt‘ steigern, die einen „moralischen Notstand“ hervorgerufen habe. Auch Siegmund Freuds Aussage über den Verlust des Schamgefühls wird wieder angeführt, diesmal allerdings als „apokalyptischer Lehrsatz“, der mittlerweile „durch viele kulturkritische Köpfe geistert“. Die so entstehende Aufwertung einer Kritik der Entgrenzung medialer Inszenierungsformen weist jedoch einen wesentlichen Unterschied zu der dreieinhalb Jahre zurückliegenden Argumentation auf, der auch die Neu-Kontextualisierung des Freud-Zitates erklärt. Die Kritik der öffentlichen Inszenierung von Privatem wird nicht mehr auf eine konservative Diskursposition zurückgelegt, der ein moralischer Sittenkodex zugrunde liegt. Zu ihrer Stützung werden nun Diskurspositionen eingebracht, die eine allgemeingültige Geltungsbasis vermuten lassen. Ange-
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führt werden neben dem Psychoanalytiker Freud, der „moralische Restriktionen für unentbehrlich hielt“, der Soziologe Norbert Elias, für den „ohne »die Muster der zivilisatorischen Trieb- oder Lustbewältigung« […] keine Gesellschaft überleben“ könne, sowie der Ethnologe Hans Peter Duerr, der „in einer »enttabuisierten Gesellschaft« eine lebensfeindliche Katastrophenlandschaft sieht“. Dieses Verfahren kommt nicht nur im SPIEGEL-Artikel zur Anwendung, sondern bildet das entscheidende transkriptive Moment, mit dem sich die Bezugnahme auf ‚Privatheit‘ neu konstituieren konnte. Ermöglicht wurde diese Veränderung durch die Einbeziehung neuer Diskurse, die als veränderte Gesichtsweisen neue Ansätze der Kritik ermöglichten. Auf diese Weise lagerten sich Bestimmungen des Privatheitsbegriffs an den TV-Diskurs an, die ursprünglich im Kontext soziologischer (SPIEGEL 2/1993), psychologischer (SPIEGEL 19/1992; FOCUS 35/1993), theologischer (DAS 03.09.1993) oder juristischer Diskurse (FR 23.02.1993) beheimatet waren. Sie gestatten der Kritik einen multifunktionalen Gebrauch verschiedener Einzelaspekte von Privatheit, die teils auf einzelne Formate bezogen sind, aber auch addiert werden und auf das Medium Anwendung finden. Bei der Betrachtung der Funktionsweise dieses Verfahrens ist es wichtig zu sehen, dass diese Diskurse bruchstückhaft in die Kritik einfließen. So zieht beispielsweise die Titelgeschichte im SPIEGEL die – in der feuilletonistischen Printöffentlichkeit konträr gehandelten (vgl. Hinz 2002, 351ff.) – Positionen von Elias und Duerr wie selbstverständlich zur Stützung der These vom drohenden Kulturverfall zusammen. Insgesamt wurde so eine Art übergeordneter Moral Panic-Diskurs über den Umgang des Fernsehens mit dem ‚Wert des Privaten‘ errichtet, ohne dass damit zugleich ein eindeutig formierter Privatheits-Diskurs konstruiert wurde. Denn die Bedeutung von Privatheit entstand als ein Konglomerat kombinierbarer Versatzstücke, die sich assoziativ zusammenfügen lassen und die um die Topoi von der „Adaption des Privaten durch das Medium“ (TAZ 22.04.1994) und das „Verschwimmen“ der „Sphären des Privaten und Öffentlichen“ (ZEIT 12/1993) angeordnet sind. Damit hatte sich die normative Grundierung von Privatheit von der politischen Demarkationslinie der 1970er Jahre gelöst. Das Private war nicht mehr pauschal das Politische, davon zeugt die klare Ablehnung des Outings prominenter Homosexueller. Das Private war aber auch nicht mehr ein unhintergehbarer Eigenwert, der mit Bezug auf einen konservativen Wertekanon um den Begriff der Familie gruppiert ist, das zeigt sich an der weit verbreiteten Bereitschaft zur Akzeptation eines soziokulturellen Wertewandels, durch den Privatheit über den Bereich der Familie hinaus eine diskursive Geltung zugesprochen wird. Privatheit bekam auf diese Weise immer mehr einen relationalen Wert. Dieser kann – juristisch begründet – mit Verweis auf das Persönlichkeitsrecht im „Respekt vor der Privatsphäre“ (FR 23.02.1993) des Einzelnen bestehen oder mit Verweis auf den Jugendschutz in der „sittlichen“ (STERN-TV 12/1993) Entwicklung junger Menschen. Der Wert des Privaten kann aber auch in Verklammerung mit dem Schambegriff – soziologisch begründet – in dem Anrecht der Gesellschaft beruhen, vor den Exponierungen der Privatheit Einzelner geschützt zu werden (SPIEGEL 2/1993) oder – spie-
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gelbildlich dazu und psychoanalytisch begründet – eine repressive Kraft darstellen, die individuelle Pathologien nach sich zieht (SPIEGEL 19/1992).
Fernsehen und Öffentlichkeit — Verschwinden der Realität im Medium Auch die Diskursivierung des Mediums Fernsehen durchlief in den acht Jahren zwischen DONNERLIPPCHEN und DAS WAHRE LEBEN eine Entwicklung, die auf die Veränderungen der Fernsehlandschaft zurückzuführen ist. Dabei lassen sich innerhalb dieses Zeitrahmens zwei Bruchstellen feststellen, mit denen die Einbeziehung des Mediums in die Kritik jeweils einen neuen Schwerpunkt bekam. Die erste Bruchstelle liegt bei der Verlagerung der Kritik auf das privat-kommerzielle Fernsehen, die zweite bei der Etablierung des ‚Wirklichkeitsfernsehens‘ zu Beginn der 1990er Jahre. Die Debatte um die öffentlich-rechtlichen Bloßstellungsshows DONNERLIPPCHEN und 4 GEGEN WILLI verknüpfte den Fernsehdiskurs mit dem Begriff der Unterhaltung. So trägt nicht nur Mönningers einflussreicher Kurzessay vom „Kandidat als öffentliches Opfer“ den Untertitel „Zur Ästhetik einer neuen Fernsehunterhaltung“, auch lässt sich der Wortstamm |unterhaltung| in den 20 Kritiken 97 Mal auffinden (bei 264 Nennungen in allen 321 Artikeln). Der Grund für diese Häufung ist die verstärkte Einlagerung der beiden TVShows gegen Ende der Debatte in den Kontext einer breiter angelegten Beschäftigung mit dem Sinn und Zweck von Fernsehunterhaltung. Kritisiert wird die Gefahr des Übergreifens eines Unterhaltungsprinzips von einzelnen, klar abgesteckten Nischen auf das Gesamtprogramm (ZEIT 33/1987) oder die mangelnde Amüsementqualität von Unterhaltungssendungen (SPIEGEL 22/1987; STERN 2/1988), und es wird auf die Notwendigkeit für die Öffentlich-Rechtlichen hingewiesen, im bevorstehenden Quotenkampf das Feld der Unterhaltung nicht den kommerziellen Anbietern zu überlassen (SZ 30.09.1987). Der gemeinsame Nenner dieser Positionen liegt darin, dass dem Bereich der Unterhaltung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einerseits eine wichtige Rolle innerhalb des Gesamtprogramms zugesprochen wurde, die über das strategische Moment des einsetzenden Konkurrenzkampfs mit den Privaten hinausreichte, da die Kritik Unterhaltung als ein konstitutives Merkmal des Mediums begriff. Auf der anderen Seite bestand die Fernsehkritik gleichzeitig darauf, dass der Unterhaltungsbereich gegenüber der Gesellschaft als begründungspflichtig anzusehen ist. Unterhaltende Programmformen, wie sie Gameshows darstellen, sollten grundsätzlich einer Kritik zugänglich sein, die sich an allgemeinen Werten bemisst, die dem als gemeinnützig eingestuften Massenmedium Fernsehen in der Gesellschaft zufallen. Damit verbunden durchzieht die Kritiken – auch und gerade dort, wo mit dem Medium besonders hart ins Gericht gegangen wird – eine Art Grundvertrauen in die regulierenden Kräfte „innerhalb des Systems“ (ZEIT 33/1987). Diese können sowohl in dem „unterhaltungssüchtigen Publikum“ liegen, das „über dem Knabbern und Lutschen das Kauen doch nicht verlernt [hat] und immer wieder mal nach Brot verlangt“, als auch in den regulierenden Instanzen, die für „private wie für öffentlich-rechtliche TV-Anstalten gleichermaßen“ gelten, da das Fernsehen „eben keine Privatangelegenheit“ darstelle (STERN-TV 33/1988). Letzteres Zitat, es stammt aus der Debatte über die
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Erotikformate, deutet allerdings zugleich eine perspektivische Verschiebung in der Auseinandersetzung an, die von der Fernsehkritik, obgleich zunächst kaum für nötig gehalten, von vornherein auch auf das Feld medienrechtlicher Regulierung ausgedehnt wurde. Der Verweis auf das Recht, insbesondere den Jugendschutz, geschah zunächst noch eher beiläufig – wie die Andeutung einer noch nicht gezogenen Trumpfkarte. In ihm manifestiert sich jedoch schon die Vorahnung eines drohenden Einflussverlusts der Kritik auf das Programm. Dazu passend tritt mit dem Vormarsch der privat-kommerziellen Anbieter ein neuer Topos auf, der ebenfalls vom einsetzenden Verlust der Kontrolle über die Entwicklung des Mediums kündet: Sex auf dem Bildschirm ist ja weltweit auf dem Vormarsch. Überall webt und wirkt die Internationale der Schweinepriester. TV-Österreich streicht, in seiner ›Horizontal-Leiste‹, ein ›Nacktes Cello‹; in Italien haben ehrbare Hausfrauen gestrippt, in Nizza sendet ein Kabelkanal freizügig Soft-Pornos wie ›Entflammtes Fleisch‹. Sogar die prä-perestroianische DDR serviert – bevölkerungspolitisch weitsichtig – ›Erotisches zur Nacht‹, um »die Zuschauer mit angenehmen Gefühlen ins Bett zu schicken«. (SPIEGEL 33/1988)
Das dahinter stehende Analogieschema der Argumentation lässt sich als Globalisierungs-Topos bezeichnen, mit dem die ‚Verschärfung‘ des Programms zur logischen Konsequenz einer internationalen Entwicklung wird, mit Hilfe derer die bundesdeutsche „Abteilung Prüderie und Verklemmtheit“ (STERN 01/1989) zwangsläufig ins Hintertreffen gerate und den öffentlich-rechtlichen „Fernsehbürokraten“ langfristig gesehen „gutes Unterhaltungshandwerk“ entgegengestellt werde (STERN 20/1988). In dem Maße jedoch, wie sich für die Kritik die globale TV-Welt im bundesrepublikanischen Fernsehen als „Internationale der Schweinepriester“ (SPIEGEL 33/1988) etabliert, wird der Verlust der öffentlich-rechtlichen Monopolstellung immer mehr zu einem Kontrollverlust der Gesellschaft über das Programm umdeklariert. Der Globalisierungs-Topos verlor schnell die positive Konnotation, die ihm zunächst noch zugeschrieben wurde. Mit der Internationalisierung der Programmformate verschob sich im TV-Diskurs das Wertesystem des Mediums, für das beim Schwenk der Fernsehkritik auf die Angebote der privat-kommerziellen Anbieter die Einschaltquote zum letztgültigen Maßstab wurde. Das Fernsehen wird von nun an durch die darwinistische Metapher vom „Kampf um die Einschaltquote“ (BMP 04.11.1990) geprägt, denn „gegen das Motto ›die Nackten und die Quoten‹ gibt es im Kommerzbetrieb keine wirksamen Argumente“ (SPIEGEL 30/1989). Relativ kurz nach dem massenwirksamen Aufkommen der Privaten war damit klar, dass es in ihrem Einfußbereich keine Kompatibilität der Formen geben könne – Kritik und Gegenstand drifteten so zwangsläufig auseinander. Komplexere Gedankenspiele, die beispielsweise (auf die These der Kulturindustrie Bezug nehmend) danach fragen, ob Unterhaltung nicht selbst eine Form von Ideologie darstelle, mit der „nach Linientreue“ die „Wirklichkeit […] entstellt“ werde (ZEIT 14.08.1987), perlen an Positionen ab, die mit den quasi-natürlichen Zwängen des Mediums argumentieren, wie Wasser an einer imprägnierten Oberfläche. Im gleichen Maße wie die Fernsehkritik der neuen
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Quotenlogik nicht mehr gerecht werden kann, nimmt die Intensität zu, mit der das Fernsehen zum Problemfall deklariert wird. Die 1990er Jahre werden so schon bald mit dem Label versehen, das „Jahrzehnt des lustvollen Tabubruchs“ (STZ 24.02.1993) zu sein, in dem unter der Führung des Fernsehens „in der medialen Massenkultur die Tabuverletzung“ eine „begehrte Trophäe“ geworden sei: „Sie stiftet Sensationen, ködert ein Multimillionen-Publikum und befriedigt damit die schönsten Umsatzerwartungen“ (SPIEGEL 2/1993). Mit dem Einzug der verschiedenen Formate des Wirklichkeitsfernsehens – vom performativen Realitätsfernsehen bis zum Reality-TV – trat ein neuer, medientheoretischer Argumentationsstrang in den TV-Diskurs, der die zweite Bruchstelle in der Diskursivierung des Fernsehens durch die Kritik bildet. Er kreist um den Begriff der Realität und liest sich rückblickend wie der Versuch, den gegen jegliche Kritik abgeschotteten Diskurskosmos des Kommerzfernsehens spielerisch aufzunehmen und umzudeuten: Was so aussehen soll, als sei es pure Realität, ist eben nur eine besonders effektvolle Inszenierung. Nachdem ›Denver‹, ›Dallas‹ und ›Miami Vice‹ alle Spielarten menschlicher Niedertracht nur in der Fiktion präsentiert hatten, wird der ›Hunger nach Wirklichkeit‹ jetzt mit härteren Stoffen bedient. Wobei man die Stilmittel dem Thriller und den Horrorfilmen entlehnt. Paradoxes Ergebnis: Die ›Wirklichkeit‹ ist doch nur die Scheinwelt des Mediums – und unterscheidet sich nicht vom Unterhaltungsprogramm. (DAS 03.07.1992)
In seinem Kern besagt die Grundform des Topos vom Realitätsverlust, dass durch die zunehmende Inszenierung von Wirklichkeit mit den ästhetischen Mitteln der Fiktion die Unterscheidung zwischen dem, was auf Wirklichkeit verweist und dem, was auf reiner Fiktion basiert, immer schwieriger werde. Die Konklusion des Realitäts-Topos ist die These vom Verschwimmen der Welten des Wirklichen und des Fiktiven. In den Artikelsets zu Reality-TV, den Beziehungsshows und der Doku-Soap DAS WAHRE LEBEN (E13-E15) taucht dieser Topos etwa in jedem zweiten Artikel auf. Dabei erfährt er – als ein geradezu idealtypisches Beispiel für die kontextgebundene Variabilität argumentativer Topoi – verschiedene Variationen, wie sich an einigen Beispielen demonstrieren lässt: [1] Die Trennlinie zwischen den Sphären öffentlichen Interesses und schützenswerter Intimität werden systematisch verletzt; Information und Unterhaltung, Dokumentation und Spiel bilden eine undurchschaubare Mischung. (DAS 03.07.1992) [2] Was war Vor-, was Abbild? Die Antwort ist nicht wichtig. Elektronisch verbreitet, wird beides zur Scheinwirklichkeit. (DAS 14.08.1992) [3] Während [wichtige Ereignisse früher] noch als emblematische Zeitzeugnisse zu Fernsehikonen wurden, geht die Berichterstattung im alltäglichen TV-Betrieb mittlerweile regelmäßig eine unsichtbare Liaison mit dem Gang der Ereignisse ein und wird dabei nicht selten wirklichkeitswirksam. (FR 19.11.1992) [4] Hellsichtig erkannte Günter Anders diese Ambivalenz […] des Fernsehens: […] Die gesendeten Ereignisse seien »zugleich gegenwärtig und abwesend, zugleich wirklich und scheinbar, zugleich da und nicht da«. Kurz, sie seien Phantome. (NZZ 18.02.1993)
310 | EIN MEDIENDISKURS [5] Gefahr drohe vor allem Kindern, die kaum mehr in der Lage seien, zwischen Leben und Fernsehdarstellung zu differenzieren. (FR 27.02.1993) [6] Da […] die Wirklichkeit längst im Fernsehen und das Fernsehen in Wirklichkeit stattfindet, können wir […] davon ausgehen, daß das dreimonatige Leben im LoftStudio von vornherein kein Leben um des Lebens willen ist, sondern ein Leben für die Kamera. (TAZ 22.04.1994)
Diese Beispiele zeigen, dass der Topos vom Realitätsverlust, der in Auseinandersetzung mit den Formaten des Wirklichkeitsfernsehens ausgebildet wird, wiederum auf einen weiteren, allgemeiner gebräuchlichen Topos verweist, der die Kultur der Gegenwart generell anhand der Auflösung bzw. Verschiebung von Grenzziehungen charakterisiert (Topos vom Grenzverlust). Über diese rhetorische Schnittstelle gelingt es der Kritik, die Entwicklung des Fernsehprogramms an verschiedene Argumentationen anzuschließen, die verschiedene Rückschlüsse über den Zusammenhang von Medienentwicklung und Gesellschaft zulassen. So steht das erste der oben angeführten Beispiele für eine Parallelisierung von Medien- und Privatheitsdiskurs, mit der Argumentationen über die Auflösung der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit der Weg geebnet wird. Aber auch medientheoretische Erklärungsmuster, die Baudrillards (1978) Modell der Simulation [2], Sennetts (1986) These der Auflösung sozialer Rollen innerhalb des öffentlichen Raums [3] oder Günter Anders (1980) Kulturanthropologie [4] adaptieren, sowie medienpsychologische Rezeptions- [5] und Motivationstheorien [6] können auf diese Weise integriert werden. Die Fernsehkritik reagiert auf die Veränderung des Fernsehprogramms mit der versuchsweisen Anwendung verschiedener Diskursverknüpfungen. Ihnen ist gemeinsam, das Medium als Ganzes in den Ruch des Lasterhaften und Skandalösen zu versetzen, indem es auf verschiedene Weise – mal mehr, mal weniger stark ausformuliert – mit der Auflösung von Grenzen, also dem Verlust gesellschaftlicher Ordnung, in Zusammenhang gebracht wird. Der Bezug auf medientheoretische Positionen führt zu einer Erweiterung der Moral Panic-Rhetorik von einzelnen Formaten des Programms auf das gesamte Medium. Dem entsprechend versuchen vereinzelt auftretende Gegenpositionen den Topos vom Realitätsverlust als Ganzes in Zweifel zu ziehen. Sie sind fast immer aus der Defensive formuliert, indem sie indirekt als Kritik der Kritik ansetzen. Daran zeigt sich, wie schnell und wie stark der RealitätsTopos in den Diskurs vorgedrungen war. Deutlich wird das an der Art des Einstiegs, den die TV-Kritikerin Barbara Sichtermann in einen Artikel über Reality-TV wählt: Es ist die Wirklichkeit, unsere reality, die Gewalt hervortreibt, nicht das Fernsehen. Der Bildschirm ist zwar mehr als ein schlichter Spiegel, er wirkt auf die reality zurück. Wenn aber das Fernsehen als Sündenbock für Verrohungstendenzen in unserer Zivilisation herhalten muß, dann darf man zwischen Wirklichkeit und Abbild ruhig eine strikte Trennungslinie ziehen. (ZEIT 10/1993)
Sichtermann stimmt trotz ihrer gegensätzlichen Positionierung mit dem Mainstream der TV-Kritik darin überein, Reality-TV sei zu verurteilen,
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macht aber einen anderen Grund geltend. Nach ihrer Einschätzung stehen die entsprechenden Sendungen schlicht für „schlechtes Fernsehen“. Sichtermann argumentiert mit dem Topos der doppelten Zurückweisung, mit dem den Reality-TV-Formaten sowohl die (journalistische) Qualität als auch die Verantwortlichkeit für gesellschaftliche Entwicklungen abgesprochen wird. Und zwar aus einem generellen, mediensoziologischen Grund: Das „Fernsehen kommt immer erst danach“. Den eigentlichen Grund für die konstante Ausbreitung qualitativ minderwertiger TV-Ware sieht sie nicht bei den Medien oder dem Fernsehen, sondern bei dem Menschen, dessen „Gier […] nach einer Durchbrechung aller Tabu- und Schamschranken […] unendlich“ sei. Dieser anthropologische Gemeinplatz rekurriert auf eine Sichtweise auf den Zuschauer, die schon in den vorangehenden Jahrzehnten vorherrschend war. Dieses beständige Bild zeichnet den Zuschauers als einen letztlich unterhaltungsfixierten Akteur, der im Fall der Fälle die eigenen Bedürfnisse über die Moral oder zumindest den guten Anstand stellt, um begierig im Fernsehen zu sehen, was im außermedialen Alltag verstellt ist. Im TV-Diskurs fungiert das Publikum damit weiterhin als die fragile Variable im Spiel der Kräfte der Fernseh-Öffentlichkeiten, die es vor sich selbst zu schützen gelte. Mit dem schrittweisen Einzug der Quotenlogik in die Öffentlichkeit des Fernsehens, der das Programm immer mehr entsprach, spitzte sich diese Sichtweise noch einmal zu. Das zeigt sich, wenn man Sichtermanns Zitat einer Darstellung des Zuschauers gegenüberstellt, wie sie Mönninger 1987 in Auseinandersetzung mit den Bloßstellungsshows vornimmt. Dort ist des Zuschauers Sensationsgier noch nicht „unendlich“. Vielmehr verspüre er bei den Unterhaltungsshows „die Faszination eines Verkehrsunfalls“: „Er möchte nicht hinsehen und kann dennoch den Blick nicht abwenden“, da er zwischen „Schadenfreude“ und „Mitleid“ hin- und hergerissen sei (FAZ 25.02.1987). Die schleichende Abwertung des Zuschauers durch die Kritik wird auch daran ersichtlich, dass mit Beginn des privat-kommerziellen Fernsehens die Inbeziehungsetzung von ‚Zuschauen‘ und ‚Voyeurismus‘ signifikant wird. Im gesamten Artikelset taucht der Wortstamm |voyeur| vor 1988 nur einmal auf. Und zwar an einer Stelle, wo vom „Voyeurismus via Zeitungspapier“ (DAS 17.12.1972) die Rede ist. Auf das Fernsehen bezogen tritt seine Verwendung erst mit dem Aufkommen der Erotikformate auf den Plan, die – bis zum Ende des Absatzes wird in chronologischer Folge zitiert – „Sexualphantasien und Voyeursträume“ ins Nachtprogramm bringen (SPIEGEL 33/1988), mit denen „das einst so prüde Medium ein Schlaraffenland“ (SPIEGEL 30/ 1989) und „Freizeitvergnügen“ (STERN 31/1989) für Voyeure geworden sei. Während in diesen Beispielen Voyeurismus eine Möglichkeit darstellt, die sich aus den Angeboten ableitet, geraten mit TUTTI FRUTTI, der „häuslichen Voyeurstränke“ (SPIEGEL 52/1990), zunächst Zuschauer „mit voyeuristischer Neigung“ (TAZ 23.01.1990) in den Blickpunkt: „männliche Einsiedler […], die spätabends auf ihre voyeuristischen Kosten kommen wollen“ (STZ 16.02. 1990). Von dort ausgehend wird die naheliegende Verknüpfung von Voyeurismus und Sexualität auf das einsetzende Realitätsfernsehen übertragen: Zuhauf „bequem im Sessel sitzen“ und „der Lust am Voyeurismus“ (NZZ 18. 02.1993) freien Lauf lassen „wir, die Millionen Voyeure daheim“ (MA 17. 09.1994).
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Spiegelbildlich zum freien Fall des Zuschauers verläuft im TV-Diskurs der Niedergang der (nicht-prominenten) TV-Kandidaten. Die Spielteilnehmer der Bloßstellungsshows wurden noch als hilflose Opfer eines allmächtigen Mediums stilisiert, denen jede Möglichkeit zur Selbstbehauptung entzogen sei. Mit der Etablierung von immer mehr Formaten, die erfolgreich auf das Freiwilligenheer verfügungswilliger Kandidaten setzen konnten (wofür zu jeder Show die Tausenderzahlen angeblicher Bewerber gemeldet werden), verlor der Topos vom Kandidaten als öffentliches Opfer zunehmend an Plausibilität. Dazu wird die Argumentation wiederum mit einer Art anthropologischem Gemeinplatz unterlegt, der die Motivationsgrundlage für das Verhalten der Kandidaten darstellt: „Seit es das Fernsehen gibt, treibt viele Zuschauer die Frage um: Wie komme ich da rein?“ (STERN 26/1990). In den Debatten zu TUTTI FRUTTI, den Beziehungsshows und schließlich DAS WAHRE LEBEN verändert sich so ein Teil der Stoßrichtung der Kritik. Immer mehr ist es das Fernsehen selbst, das seinerseits zum Vehikel einer „massenhaften Selbsterfahrung gerät“ (DAS 36/1993). Im Medium wird ein Werkzeug gesehen, mit dem Fernsehzuschauer in die Rolle von Exhibitionisten schlüpfen und mit einer geradezu masochistischen Lust „ihr Intimleben rückhaltlos preisgeben“ können (FOCUS 35/1993). Auf diese Weise entsteht das Bild einer klammheimlichen Übereinkunft, in der das Medium zum Spielball der Gelüste seiner Konsumenten geworden ist. Bezeichnenderweise wird auch hier mit dem Topos der Grenzüberschreitung operiert: „Der schrankenlose Exhibitionismus der Akteure trifft sich so mit der lüsternen Neugier der Zuschauer“ (DAS 03.07.1992). Wie die harsche Verurteilung des Reality-TV-Formates gezeigt hat, ist diese Beziehung jedoch nicht absolut zu setzen. Vielmehr folgte die Kritik der 1990er Jahre dem gleichen Muster, das bereits 20 Jahre zuvor anzutreffen war. Demnach nimmt der zu beanspruchende Schutzraum bei einem Fernsehauftritt in dem Maße ab, in dem ihm ein bestimmtes Eigeninteresse unterlegt werden kann. Während dieses ‚unstatthafte‘ Interesse in den 1970er Jahren in finanziellen oder politischen Motiven bestand, handelte es sich mit Aufkommen des Wirklichkeitsfernsehens um das nicht klar definierte, aber als obszön empfundene psycho-erotische Bedürfnis, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Wenngleich dieses Muster der Abwertung nicht auf alle Artikel anzuwenden ist (auch der Opfer-Topos ist noch vereinzelt anzutreffen), liegt hier doch eine klare Verschiebung im diskursiven Koordinatensystem der Kritik vor. Erst vor diesem Hintergrund wird es der Fernsehkritik möglich, beispielsweise einen Kommentar zu verfassen, mit dem „manche ›Traumhochzeit‹-Kandidaten noch dümmer als Lore-Figuren [= kitschige Kinderfiguren der Designerin Lore Hummel]“ hingestellt werden können, da „schon Bewerber für die Sendung wegen zu bescheidenem Intelligenzquotienten abgelehnt worden“ seien (TAZ 27.04.1993). Die Tatsache, dass es sich hier um ein – wenn auch ironisch gemeintes – Zitat aus der links-alternativen TAGESZEITUNG handelt, verdeutlicht diese diskursive Verschiebung. Denn solche Formen der Schelte einer ‚unsachgemäßen‘ Instrumentalisierung von Privatheit war in den 1970er Jahren das Privileg konservativ ausgerichteter Kritiken, die eine kulturelle Unterminierung der gesellschaftlichen Wertestruktur fürch-
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teten. Im aufgeladenen TV-Diskurs der Jahre 1992 bis 1994 lässt sich jedoch kein so eindeutig gesellschaftspolitisch fixierter Blick auf das Medium finden. Charakteristisch ist hingegen, dass sich die Kritik bei der Beurteilung des performativen Realitätsfernsehens die durch die Kommerzsender betriebene Funktionalisierung der Kandidaten immer mehr zu eigen machte. Dazu begab sich die Fernsehkritik in die gleiche medienethische Position, die dem Realitätsfernsehen zuvor noch als leicht durchschaubarer Vorwand angelastet wurde. Sie nahm die Rolle des quasi gestalt- oder selbstlosen Kupplers zwischen den Bedürfnissen der Fernsehöffentlichkeit ein. Besonders deutlich wird diese Haltung an der Real-Life-Soap DAS WAHRE LEBEN. Deren Kritik ist – zunächst noch unter dem Vorwand der PrivatheitsProblematik – ganz auf die Kandidaten fixiert, deren Persönlichkeitsschutz das zentrale Bewertungskriterium der Sendung ist. Von dieser Position aus verlagert sich die Auseinandersetzung von einer Kritik der Instrumentalisierung der Privatheit der Kandidaten durch das Medium zur einer Kritik der Unterhaltungsqualität der Privatheit der Kandidaten. Etwas überpointiert formuliert wendet die Kritik den Topos vom Kandidaten als öffentliches Opfer zum Topos vom Kandidaten als privater Täter, der aus freien Stücken die Verfügungsgewalt über sich selbst dem Spiel einer multi-medialisierten Öffentlichkeit überantwortet habe. Mit der zunehmenden Skandalisierung des Mediums treten auch die Akteure des privat-kommerziellen Fernsehens verstärkt in den Vordergrund. In der Debatte über die Erotikformate bleiben sie zunächst noch relativ gesichtslos, da es – aufgrund der eingekauften Magazinformate und des unzureichenden Bekanntheitsgrades ihrer Protagonisten – kaum identifizierbare, medienwirksame Akteure gab. Das änderte sich nicht zuletzt durch die zunehmende Durchdringung der Fernsehkritik mit typisch journalistischen Mitteln, die in Form von Porträts, Interviews und Streitgesprächen die Debatten im Modus des Skandals zu personalisieren versuchen. So entstanden diskursive Plattformen, die einige der Protagonisten des Privatfernsehens, wie zum Beispiel Moderator Hugo Egon Balder oder RTL-Chef Helmut Thoma, äußerst geschickt zu nutzen wissen. Als Promoter der kommerziellen Interessen ihrer Geldgeber, konfrontieren sie die Kritik mit Positionen und Argumentationsweisen, die einem anderen Diskurskosmos zu entstammen scheinen. Sie agieren ausschließlich strategisch motiviert und verstehen es, die Öffentlichkeit zu Zwecken der Selbstpromotion zu nutzen. Für die Kritik sind sie ihrerseits von Interesse, weil sich mit ihnen die Möglichkeiten einer Thematisierung des Fernsehens ausbauen und die Debatten weiterspinnen lassen. Im TV-Diskurs hinterließen sie darüber hinaus ihre Spuren, indem sie einen neuen Topos einführten, mit dem die Bedeutung der Unterhaltung neu bestimmt wurde. Unterhaltende Programmformate waren danach gegenüber der Gesellschaft nicht mehr als begründungspflichtig anzusehen, sondern bilden einen exterritorialen Raum, in dem die moralischen Maßstäbe außer Kraft gesetzt sind. Moderator Balder zelebriert den Topos von der Unterhaltung als Sinnenklave der Gesellschaft in der HÖRZU (23/1990) geradezu perfekt, indem er mit dem Hinweis auf den Unterhaltungscharakter der Sendung jede Kritik an TUTTI FRUTTI von vornherein ins Leere laufen lässt, schließlich dürfe man eine solche Sendung „gar nicht ernst nehmen“.
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1996—2000: Von HANS MEISER zu BIG BROTHER Ereignisbezüge (E16) (Tägliche) Talkshows. Wie bei der Debatte um Reality-TV handelt es sich auch bei diesem Ereignis um ein Programmformat. Mit ‚täglichen Talkshows‘ oder ‚Daily-Talks‘ sind jene Programmformen gemeint, die ab 1992 eine etwa zehnjährige Boomperiode im privat-kommerziellen und öffentlichrechtlichen Fernsehen verzeichneten. Neben der Ähnlichkeit der Programmplätze (werktags, 60-minütig, im Tagesprogramm) weisen sie noch weitere Übereinstimmungen auf, die von der industrialisierten Herstellung, über die inszenatorische Anordnung (nicht-prominente Talkgäste, die von einem Talkhost moderiert auf einer Bühne vor einem Studiopublikum agieren) bis hin zur inhaltlichen Fokussierung auf Themen reichen, die dem Alltag entspringen. Die täglichen Talkshows sind idealtypische Ausformungen des mit den 1990er Jahren aufkommenden „Affektfernsehens“, das sich durch die Kriterien „Personalisierung“, „Authentizität“, „Intimisierung“ und „Emotionalisierung“ auszeichnet (Bente/Fromm 1997, 20). Innerhalb dieses Rahmens wichen die Shows durchaus voneinander ab, in dem sie z.B. die Gesprächsthemen, die Zusammensetzung der Gäste oder die Redesituationen variierten. Das entscheidende Kriterium dafür, die täglichen Talkshows als zusammenhängendes Diskursereignis zu betrachten, liegt analog zur Reality-TVDebatte in der Tatsache, dass die Fernsehkritik unter der Gesamtüberschrift „Talkshows“ die verschiedenen täglichen Formate als einen einheitlichen Gegenstand verhandelte. Daily-Talks wurden zwar mit dem Start des ersten Sendeformates, HANS MEISER (RTL), zu einem kontinuierlichen Thema der Fernsehkritik, sie rückten jedoch erst allmählich mit dem Anlaufen immer neuer Reihen auf die Skandal-Agenda. Diesem Umstand wurde bei der Zusammenstellung des Untersuchungskorpus dadurch Rechnung getragen, dass sich der berücksichtigte Zeitraum über fast drei Jahre erstreckt: von Anfang 1996, dem Einstieg von Sat.1 in das Talk-Format, bis Ende 1998, das Jahr, in dem die täglichen Talkshows durch das Eingreifen der Politik in die Debatte die größte Medienaufmerksamkeit bekamen. Zu sehen waren während dieses Zeitraums die folgenden Formate (vgl. Hoffmann/Obersteiner 2001, 17): HANS MEISER (ab 14.09.1992, RTL), ILONA CHRISTEN (ab 13.09.1993, RTL), FLIEGE (ab 28.02. 1994), ARABELLA (ab 06.06.1994, Pro7), BÄRBEL SCHÄFER (ab 04.09.1995, RTL), KERNER (08.01.1996–14.07.1998, Sat.1), VERA AM MITTAG (ab 22.01. 1996, Sat.1), SONJA (ab 13.01.1997, Sat.1), JÖRG PILAWA (19.01.1998, Sat.1) sowie ANDREAS TÜRCK (ab 25.02.1998, Pro7) und BIRTE KARALUS (ab 14. 09.1998, RTL). (E17) BIG BROTHER. Die erste Staffel von BIG BROTHER lief vom 01.03. bis zum 09.06.2000 täglich auf RTL2. Das Konzept stammte – wie TRAUMHOCHZEIT und VERZEIH MIR (E14) – aus der Firma des holländischen TVProduzenten John de Mol, die in den Niederlanden für den TV-Sender Veronica bereits eine komplette Staffel des Formats produziert hatte (19.09.–30. 12.1999). Vom dort rasch eintretenden Quotenerfolg bestärkt, sicherte sich
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RTL die Rechte für seinen Spartensender RTL2 und begann im Herbst 1999 mit den ersten Vorbereitungen, in deren Zuge u.a. am 15.12.1999 eine holländische Folge als Kandidatenwerbung auf RTL2 ausgestrahlt wurde (vgl. Mikos 2000, 16). Für das Format wurden fünf männliche und fünf weibliche Kandidaten gecastet, die mit Beginn der Sendung ein lückenlos mit Kameras und Mikrofonen gespicktes Haus mit einem kleinen Außenbereich (‚BIG BROTHER-Container‘) bezogen; es war von der Umwelt weitgehend abgeschottet. Das Spiel lief so ab, dass die Bewohner in bestimmten Intervallen zwei Kandidaten nominierten, von denen einer von den Zuschauern mittels einer Telefonabstimmung aus dem Haus gewählt wurde. Für den letzten Container-Bewohner waren 250.000 D-Mark Siegprämie ausgeschrieben. Der Alltag im Wohncontainer war mit gruppendynamischen Aufgabenstellungen, häuslichen Verrichtungen und dem Kampf gegen die Langeweile gefüllt, zusätzlich fanden in einem gesonderten Raum regelmäßig Befragungen der Kandidaten durch die Spielleitung statt. Die Sendung bezog in die Verwertung der beobachteten Container-WG eine Reihe bewährter Unterhaltungs- (Beziehungs- und Gameshows, DailyTalks, Soapoperas) und Informationsformen (Ratgebersendungen, Experteninterviews) ein (vgl. Bleicher 2002, 230ff.; Mikos 2000, 24ff.). Jeweils montags bis samstags präsentierte die von den Moderatoren Percy Hoven und Sophie Rosentreter moderierte Sendung zwischen 20:15 bis 21:05 Uhr einen Zusammenschnitt der letzten 24 Stunden, der auf dem Material der Überwachungstechnik beruhte; sonntags sowie zum Start und Ende der Reihe wurde die Real-Life-Soap in ein abendfüllendes Showformat eingebunden. Parallel dazu entstanden weitere Formate wie BIG BROTHER – DIE REPORTAGE oder ZLATKOS WELT, zusätzlich wurde das WG-Leben rund um die Uhr ins Internet übertragen. BIG BROTHER ist ein hybrides TV-Format, dessen (anfänglicher) Erfolg einen Boom von Sendungen auslöste, in denen die Kombination aus Überwachungssetting, Real-Life-Soap und Spielshow variiert wurde (vgl. Bleicher 2000). Unter kommerziellen Gesichtspunkten stellt das Format ein Paradebeispiel einer gelungenen globalen und cross-medialen Verwertung des zur Ware deklarierten Mediums Fernsehen dar (vgl. Böhme-Dürr/Sudholt 2001). Es verhalf RTL2 zu kurzfristigen Quotensprüngen.
Grenzsetzungen (E16) Die Kritik an den täglichen Talkshows bedient sich ähnlicher Argumentationsmuster wie die Reality-TV-Debatte – lediglich das Moment der Entgrenzung hat sich von ‚Gewalt‘ auf ‚Intimität‘ verlagert. Zentral wird in der Auseinandersetzung mit den Talkshows eine Frage, mit der das DEUTSCHE ALLGEMEINE SONNTAGSBLATT (8/1998) in ein Streitgespräch einführt: „Wieviel Intimität ist erlaubt?“ Und wie in der Reality-TV-Debatte lassen sich vier Argumentationsmuster unterscheiden, mit denen die Frage einer möglichen Grenzverletzung aus einer jeweils anderen Hinsicht beurteilt wird. Die gesamte Auseinandersetzung durchzieht eine ästhetisch-moralische Perspektive, die rhetorisch ähnlich gestrickt ist wie im Fall von Reality-TV. Orientiert ist diese Argumentation an den Themen, die in Daily-Talks verhandelt wurden (bei 163 Nennungen des Wortstamms |them| in 40 Artikeln gegenüber 292 in allen 321). Mit ‚Themen‘ sind hauptsächlich die Sendungs-
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titel gemeint, die das Gesprächsthema für die Zuschauer einordnen und anreizen sollten. Sie fungieren in vielen Artikeln als Platzhalter für die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Sendungen, weshalb ein beliebtes Stilmittel darin liegt, zur Benennung des Konfliktpotenzials einfach mit einer Aufzählung von Sendungstiteln einen Artikel zu beginnen: Die Themen deutscher Talkshows wirken nicht nur provokativ, sondern mitunter diskriminierend: „Was Altes kommt mir nicht ins Bett“, „Euch Knackis geht es viel zu gut“ oder „Du bist doch ein Flittchen!“ bergen sozialen Sprengstoff, der […] fast ständig die Grenzen des guten Geschmacks verletzt. (STZ 23.04.1998)
Die in diesem Zitat vorgenommene Verbindung von Themen mit der Kategorie des Geschmacklosen ist signifikant für die Talkshow-Debatte – der Wortstamm |geschmack| ist dort (mit 27 Nennungen in 40 Artikeln gegenüber 88 insgesamt) am häufigsten aufzufinden. Worin genau die Geschmacklosigkeit der Themenstellung liegt, wird hingegen selten ausdrücklich erwähnt. Der Bezug auf die von den Sendern reißerisch formulierten „Intim“- (ZEIT 10/1996) oder „Tabuthemen“ (STZ 20.02.1996) geht einher mit einer in den Kritiken oftmals gar nicht mehr angeführten, weil selbstverständlichen Bedingung, die für diese Argumentation grundlegend ist. Sie liegt darin, dass die ‚geschmacklosen‘ Themen mit Personen verbunden werden, die in ihrer Rolle als Alltags- oder Privatmenschen aus der ersten Person Singular Stellung beziehen. Die Grenzverletzung entsteht aus der ästhetisch-moralischen Perspektive durch das medial herbeigeführte, kalkulierte Aufeinandertreffen von Privatheit und Intimität in der Öffentlichkeit des Fernsehens, das unter bestimmten Bedingungen mit dem Stigma des Obszönen behaftet wird. Als ‚obszön‘ gilt nicht allein die Präsentation von Themen aus dem Bereich des Intimlebens – „ob Sodomie oder Adoptions-Trauma, ob Fußfetischismus oder Ödipus-Komplex“ (KSA 23.03.1996) –, erst im Zusammenspiel mit der vermeintlich ‚unverstellten‘ Form, mit der Menschen „ihr Innerstes nach außen kehren, […] bekennen und weinen, wüten und bitten“ (FR 16.05.1997), kommt diese Argumentation zu Geltung. Die medienpsychologische Perspektive konzentriert sich auf die Kandidaten der nachmittäglichen Talkshows und hebt auf deren Gefährdung ab: In den Sendungen werden sie dazu genötigt, ihre Intimitätsgrenzen fallen zu lassen und somit Einblicke in ihr Selbst zu gewähren, deren psychische Auswirkungen sie nicht abzuschätzen vermögen. Die Grenzüberschreitung des Fernsehens liegt in diesem Fall in der potenziellen Überwältigung der unbedarften Talkgäste durch eine morallose Unterhaltungsmaschinerie, die im Extrem mit einem körperlichen Übergriff zu vergleichen sei. Diese Perspektive kann im Artikelset größtenteils auf den Diplompsychologen Colin Goldner (1996) zurückgeführt werden, der u.a. in der BERLINER MORGENPOST (08.09.1996) und in einem Interview der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (20.08.1997) direkt zu Wort kommt. In letzterem spitzt er seine These dahingehend zu, dass ein Talkshow-Auftritt einer „Art psychischer Vergewaltigung“ gleichkommen könne. Die mediensoziologische Perspektive urteilt ebenfalls unter dem Wirkungsaspekt, verschiebt jedoch den Fokus der Argumentation von den Kandidaten auf die Gesellschaft. In Analogie zur Gewaltdebatte geht es um die
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gesellschaftlichen Effekte einer quantitativen Zunahme von bestimmten Medieninhalten: Die Ausbreitung der täglichen Talkformate – „wöchentlich 130 Stunden Talk, Talk, Talk“ (SPIEGEL 29/1997) –, in denen ehemals gültige Schamgrenzen der Inszenierung von Privatem gesprengt seien, leiste einer Verschiebung von Verhaltensnormen in der Gesellschaft Vorschub, die den „Erhalt der Sensibilität für den anderen“ gefährde, wie es der Psychoanalytiker und evangelische Theologe Wulf-Volker Lindner im DEUTSCHEN ALLGEMEINEN SONNTAGSBLATT (8/1998) ausdrückt. Kritisiert wird aus dieser Position nicht die einzelne Sendung oder was mit „den Teilnehmern passiert“, sondern der pauschale Umgang mit Normen der öffentlichen Inszenierung von Privatheit, der von den kritisierten Sendungen auf die Gesellschaft überzuspringen drohe. Schließlich hält durch die Intervention politischer Akteure auch in die Auseinandersetzung um Talkshows eine medienrechtliche Perspektive Einzug. Angeführt werden wiederum das Persönlichkeitsrecht und der Jugendschutz. Während letzterer auf die Thematisierung abseitiger Sexualpraktiken und den Auftritt minderjähriger Kandidaten bezogen wird, bleibt die Frage des Schutzes der Persönlichkeit an den pauschalen Vorwurf der Verletzung der Menschenwürde gebunden. Zusätzlich werden medienrechtliche Argumentationen immer durch einen Bezug auf „den guten Geschmack“ (KSA 25.04.1998) oder das „Niveau“ (die Bayrische Familienministerin Stamm in SZ 25.04.1998) gestützt, die in Gefahr geraten. An dieser Ausgestaltung der medienrechtlichen Perspektivierung, also der ergänzenden Orientierung am unterstellten ‚niederen Niveau‘ der Sendungen, das keine juristische Kategorie darstellt, kommt die Differenz zwischen der Talkshow- und der Reality-TV-Debatte zum Ausdruck. Denn wenngleich Talkshows im Untersuchungskorpus unter den beschriebenen vier Hinsichten beurteilt werden, legen nur wenige Artikel den Schluss nahe, dass dem Format aus einer der Perspektiven tatsächlich eine Grenzverletzung zugeschrieben werden könne. Der Mainstream der Debatte sieht die Sendungen zwar in einem ‚geschmacklichen‘ Grenzbereich angesiedelt, erkennt darin aber kein sinnvolles Kriterium einer skandalisierenden Kritik, da sich „über Geschmack streiten“ (TAZ 15.05.1998) oder eben auch „nicht streiten“ (ZEIT 6/1996) lasse. Die performative Zuschreibung von Grenzübertretungen ist in allen Artikeln an einzelne gesellschaftliche Akteure – wie Politiker oder Medienpsychologen – gebunden. Deren Argumentationen macht sich die Fernsehkritik jedoch nur selten zu eigen. Eine Mehrfachperspektivierung, durch die in der Reality-TV-Debatte eine massive argumentative Front erzeugt wurde, kommt so zu keinem Zeitpunkt der Debatte zustande. Letzteres kann auch darauf zurückgeführt werden, dass die Einbeziehung einer anderen Position von einigen Skandalisierern sogar explizit ausgeschlossen wird (so z.B. bei Goldner und Lindner). (E17) Der Grenzdiskurs zu BIG BROTHER schließt fast nahtlos an die Talkshow-Debatte an. Im Mittelpunkt steht wiederum die Frage nach den Grenzen der Inszenierung von Intimität und Privatheit. Im Unterschied zur Auseinandersetzung mit den Nachmittagstalkshows ist der intertextuelle Argumentationsverlauf durch das frühe Eingreifen politischer Akteure medienrechtlich ausgerichtet. Diese Bezugnahme auf BIG BROTHER, die bereits vor
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Sendungsbeginn einsetzt, zielt auf das generelle Setting der Überwachungsanordnung, in der die Kandidaten während des Spiels agierten. Gestützt ist diese Argumentation auf den Aspekt der Menschenwürde, gegen die nach Maßgabe des Rundfunkstaatsvertrages „unzulässig“ (HÖRZU 8/2000) verstoßen werde. Auf diese Weise werden ‚Menschenwürde‘ und ‚Privat-/Intimsphäre‘ zu den signifikanten Begriffen, mit denen die BIG BROTHER-Debatte eröffnet wird; die Nominalform |menschenwürde| tritt in den 40 Artikeln 31 Mal auf (bei 57 Erwähnungen insgesamt), die Seme |privatsphäre| und |intimsphäre| sind an 16 Stellen zu finden (bei 37 Erwähnungen insgesamt). Die medienrechtliche Argumentation rekurriert dabei wiederum verschiedentlich auf [1] ästhetisch-moralische, [2] psychologische- oder [2] soziologische Perspektiven, die – wie folgende Beispiele zeigen – aber auch weiterhin einzeln auftreten: [1] »Diese Entprivatisierung, diese exhibitionistische Enthemmung finde ich grauenhaft.« (Wolfgang Menge im Interview, SPIEGEL 3/2000) [2] »Möglicherweise sehen sie [die Kandidaten] jedoch nicht, dass damit [mit der bis zu 100 Tage langen Beobachtung] auch vielfältige Kränkungen, Verletzungen, Bloßstellungen und Blamagen einhergehen können.« (Medienpsychologe Peter Vorderer im Interview, TS 04.02.2000) [3] Anlässlich des ›Big-Brother‹-Disputes sinnierten die Direktoren der Landesmedienanstalten über den drohenden Verlust von Privatheit: »Welche Folgen hat es für eine Gesellschaft, wenn man die Grenzen zwischen öffentlichen Räumen und Räumen der Diskretion, die bisher in jeder Kultur von Bedeutung waren, aufhebt?« (BZ 28.02.2000)
Es ist kein Zufall, dass diese drei Zitate explizit gesellschaftlichen Akteuren zugewiesen sind. Denn die gesamte Auseinandersetzung um mögliche Grenzverletzungen durch das Format zeichnet zwei Eigenschaften aus: Sie wird erstens personell fast ausschließlich von gesellschaftlichen und politischen Akteuren geführt und findet zweitens vor dem Start der Real-LifeShow statt. Akteure des Journalismus oder der Fernsehkritik im engeren Sinne halten sich mit Bewertungen in dieser Frage im Allgemeinen bis zum Ausstrahlungsbeginn zurück und verwerfen dann zuvor geäußerte Bedenken – zunächst in der Regel mit Bezug auf den Topos der doppelten Zurückweisung. Zugleich ist diese Haltung durch eine gewisse Ambivalenz geprägt, die sich insbesondere in der durchgängig praktizierten semantischen Abwertung der Sendung ausdrückt, die zu „Menschen-“ (BMP 02.03.2000) oder „Telezoo“ und „Sozialporno“ (STERN 16/2000), „Spannerspektakel“ (SPIEGEL 11/ 2000) oder „TV-Knast“ (BMP 28.04.2000) herabgewürdigt wird (für weitere Beispiele: Mikos 2000, 185). Die mit diesen Umschreibungen konnotierte Abwertung findet zumeist jedoch keine Entsprechung auf der argumentativen Ebene, sondern funktioniert in der Regel als Oberflächenspiel mit dem Reiz des Transgressiven, das einige Wochen nach Ausstrahlungsbeginn von der Hinwendung zu einer unterhaltungs-ästhetischen Sichtweise begleitet wird. Erst im späteren Verlauf der Debatte finden sich zwei argumentative Zugänge, mit denen Neuausrichtungen in psychologischer und soziologischer Hinsicht vorgenommen werden.
ANALYSE | 319
Die Neujustierung der medienpsychologischen Perspektive vollzieht sich zusammen mit einer veränderten Auseinandersetzung mit dem Format, das in der Öffentlichkeit der Kritik weitgehend als eine mögliche Form einer Spielshow Anerkennung gefunden hat. Erst vor diesem Hintergrund wird eine neue Argumentation möglich, die um den Vorwurf der Manipulation gebaut ist. Den Verantwortlichen der Show wird vorgeworfen, durch eine unfaire Auswahl bestimmter Szenen für den täglichen Zusammenschnitt nach außen hin bewusst ein Bild der Kandidaten zu konstruieren, das ihrem Verhalten im Container eigentlich nicht gerecht werde, sodass in der Öffentlichkeit „mittlerweile nur noch über die Manipulationen der Sendeleitung selbst gerätselt wird“ (BZ 06.06.2000). Mit dieser Variation der psychologischen Perspektive wurde eine Grenzverschiebung vollzogen, da nicht mehr grundsätzlich das Setting der Überwachungssituation im Haus am Pranger stand, sondern lediglich die Art und Weise der Weiterbearbeitung des dadurch gewonnenen Materials durch die TV-Produktion. Die Neujustierung der soziologischen Perspektive sieht einen bedrohlichen gesellschaftlichen Einfluss von BIG BROTHER nicht im Verlust zivilisatorischer oder allgemein menschlicher Verhaltensnormen durch die öffentliche Inszenierung von Privatheit. Entgegengesetzt zur Rhetorik des Werteverfalls, wird nun die Topografie des Überwachungssettings, in das sich die Kandidaten freiwillig begeben haben, zur eigentlichen Grenzüberschreitung: Zu beobachten sind also die schleichende Nivellierung der Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, ein nicht einmal mehr mit Murren hingenommener Verlust besonderer Schutzzonen des Privaten und eine Bagatellisierung von Überwachung und Kontrolle durch die normative Kraft des Faktischen. […] Verwunderlich ist die Ruhe im Land, mit der auf die Aufrüstung des Überwachungsarsenals in nahezu allen Lebensbereichen reagiert wird. (SZ 13.06.2000)
Die (vorgebliche) Ironie des Titels der TV-Show wird in dieser Argumentation zurückgewiesen. Entgegen ihrer augenzwinkernden Selbstbeschreibung symbolisiere und promote die Sendung eine zunehmend raumgreifende Tendenz, mit der in der Gesellschaft die schleichende Einebnung privater Rückzugsräume voranschreite. Die Problematik in der Entwicklung von Privatheit und Öffentlichkeit wird damit nicht mehr im Verlust, sondern in der übergebührlichen Verdichtung von normsetzenden Zwangsmechanismen gesehen.
Diskursivierung der Kritik — Inszenierung von Konflikten Für den vorangehenden Debattenzeitraum ließ sich an dieser Stelle eine Typologie der intertextuellen Verlaufsformen erstellen. Bezieht man diese auf die Debatten zu den Nachmittagstalkshows und BIG BROTHER, stellt man fest, dass dort zwar einige der Muster wieder auftreten, sich die Form der Auseinandersetzungen insgesamt jedoch weitergedreht hat. Diese Veränderungen lassen sich mit der Verschiedenartigkeit der Umstände erklären, resultieren aber auch aus dem selbstreflexiven Charakter der Kritik.
320 | EIN MEDIENDISKURS
1 2 1 4 2 3 3 1 3
1
19
Birte Karalus
3 6 1
4
Andreas Türck
1 7 1
3 3
Jörg Pilawa
3
Sonja
1
Vera a. Mittag
3 3
Kerner
Arabella
1 1 3
Bärbel Schäfer
Fliege
Quellen (chronologisch) SPIEGEL 5/1996 STZ 20.02.1996 ZEIT 9/1996 WOCHE 9/1996 TAZ 02.03.1996 KSA 23.03.1996 SPIEGEL 13/1996 SZ 19.06.1996 FAZ 20.08.1996 BMP 08.09.1996 ZEIT 41/1996 BMP 16.02.1997 TS 08.05.1997 FR 16.05.1997 NZZ 20.06.1997 SPIEGEL 29/1997 SPIEGEL 29/1997 SZ 20.08.1997 TS 19.09.1997 DAS 39/1997 DAS 26.09.1997 DAS 20.02.1998 STZ 23.04.1998 SZ 25.04.1998 KSA 25.04.1998 SPIEGEL 18/1998 STZ 29.04.1998 NZZ 08.05.1998 SZ 09.05.1998 WOCHE 15.05.1998 TAZ 15.05.1998 TS 01.07.1998 FAZ 02.07.1998 STERN 32/1998 SZ06.08.1998 SZ 14.09.1998 SZ 10.10.1998 STZ 31.10.1998 STERN 47/1998 STERN EXTRA 1998 Summe
Ilona Christen
Sendungstitel (chronologisch)
Hans Meiser
Tabelle 5: Nennung von Titeln in der Talkshow-Debatte (Sendungstitel oder Person – nicht gezählt wurden Sprecherwechsel in Interviews)
1 1
1
1
1 2 2 4 2 2 9 3 7 2
1 2 3 1 1 5 1
1 1 5 2 1 2 3
1 1 3
1
2
3
1 1
1
2 2
2 9 1
1 2
69
40
1
3 5 1
53
3 2
2
1
5 3 1 1 1 1
1
1
4
1 1
2 1
5
4
1 1
1
2 2 2 3 3
6 2
4
1
1 1
1 1 2 2 4 1 5 2
2 1 1 3 1 2 2 2 2 3 1 1 4 2 1 2 2 1
2 1 3
2 2
1
1
1
1
1
8 1 1 1
2 2 1 3 2
2 62
1 40
2
16
1 5 1 2 2 1 1 2
73
1 1 3
2
1
19
3
2
4
7
1 7 13 3 8 1 34
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Auffällig sind an den beiden Debatten zunächst zwei Gemeinsamkeiten. Erstens bezieht die journalistische Kritik nur sehr zurückhaltend Positionen gegenüber den inkriminierten Formaten, zweitens weisen beide Auseinandersetzungen – besonders die BIG BROTHER-Debatte – einen sehr großen Umfang auf. Zusammengenommen wirkt das auf den ersten Blick widersprüchlich. Jedoch: Die rhetorische Abrüstung des inneren Bereichs der Fernsehkritik bei gleichzeitiger Ausdehnung der Auseinandersetzungen ist ein Indiz für einen Wandel der Debattenkultur, der bei einer isolierten Betrachtung der beiden Fälle deutlich wird. Die nachmittäglichen Talkshows wurden mit ihrem ersten Auftauchen im Programm 1992 hinsichtlich ihres Umgangs mit Privatheit als wenig konflikthaltig wahrgenommen. Das zeigte sich sowohl bei der Recherche zum Untersuchungskorpus als auch an der seltenen Thematisierung von Talkshows im Kontext der zu dieser Zeit identifizierten Konfliktfälle (in den 94 Artikeln zwischen 1992 und 1995 sind die Bezeichnungen |talkshow| und |talk-show| gerade 15 Mal zu finden). Das Format begann erst in dem Maße heller auf dem Radar der Fernsehkritik zu leuchten, wie sich pro Jahr ein bis zwei neue Reihen zusätzlich in das Nachmittagsprogramm einnisteten. Das gestiegene Unbehagen gegenüber den Nachmittagstalkshows kann also wesentlich auf die wachsende Anzahl an Sendungen und Stunden zurückgeführt werden, während der Steigerungs-Topos – als Signal einer schrittweisen, qualitativen ‚Verschärfung‘ der Formen – nur selten zur Anwendung kommt. Aus diesem Grund bleiben die Titel der Talkshows, die im Programm zu sehen waren, in den Kritiken durchgängig präsent (Tabelle 5). Dieser Umstand lässt sich so interpretieren, dass dem Format ein Skandalpotenzial innewohnte, das erst in Verbindung mit einem quantitativen Multiplikator an Relevanz gewinnen konnte, während die einzelnen Sendungen als isolierte Phänomene der Inszenierung von Privatheit unterhalb einer skandalsensitiven Grenze verblieben. Diese Einstufung wird bei einer Betrachtung der Artikel deutlich, die den Anfang der hier zusammengestellten Debatte markieren. So ist ein Interview mit Hans Meiser „über journalistische Sorgfalt und Schamgrenzen in Talkshows“ (Vorspann) mit dem Zitat „»Es wird langsam knapp«“ überschrieben (SPIEGEL 5/1996). Beim Lesen des Interviews stellt sich jedoch heraus, dass in Verbindung mit dem Format weder „journalistische Sorgfalt“ noch „Schamgrenzen“ knapp zu werden drohen, sondern der Nachschub an unverbrauchten Talkgästen. Ähnlich gelagert ist ein Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG, der sich unter der Überschrift „Die Scham ist wohl vorbei“ dem Trend zum weiblichen Talkhost widmet. Nach einer programm- und personenbezogenen Beschreibung des Phänomens endet die Autorin: Ist der Fortschritt – mehr Frauen im deutschen Fernsehen – also in Wirklichkeit ein Rückschritt – nämlich der Rückfall ins weibliche Klischee der naseweisen Krankenschwester und Seelentrösterin? Oder wird da etwa eine alte Forderung der Frauenbewegung – die Scham ist vorbei – furchtbare Wirklichkeit? Daß dies bedeuten könne, daß alles Private einmal öffentlich und gesellschaftliche Tabuthemen zum Nervenkitzel werden könnten, hat vor knapp dreißig Jahren allerdings sicher niemand geträumt. (STZ 20.02.1996)
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Interessant ist diese Schlusspassage, weil der Aspekt ‚Privatheit‘ in den vorangehenden Absätzen nicht thematisiert wird, sondern der Erfolg der TalkFrauen. Der abschließende Rekurs auf den Topos vom Grenzverlust aus dem Privatheits-Diskurs funktioniert als rhetorischer Gemeinplatz, mit dem unter dem Mantel des vermeintlich Skandalösen („furchtbare Wirklichkeit“) ein zusätzlicher Nachrichtenwert zu generieren versucht wird. In diesem laxen Umgang mit dem Thema ‚Privatheit‘ manifestiert sich letzten Endes ein unterschwellig bestehendes Desinteresse für das, was vorgeblich – in Frageform und Konjunktiv – als Kritik am Fernsehen problematisiert wird. Diese zwei Beispiele zeugen davon, dass sich Talkshows aus Sicht der Kritik in die Nähe einer Skandal- oder Moral Panic-Debatte bewegen ließen, ohne jedoch allen Kriterien gerecht zu werden. Die Nachmittagstalkshows waren in den Jahren 1996 und 1997 einer schwelenden Debatte ausgesetzt, die vereinzelt – und eigentlich nur – von gesellschaftlichen Akteuren befeuert wurde, um von der Mehrheit der publizistischen Akteure wieder abgelöscht zu werden. Die Thematisierungsschübe gehen im Untersuchungskorpus nur selten direkt auf das Programm zurück. Eine größere Bedeutung besaß z.B. Anfang 1997 die Publikation der von der Landesmedienanstalt NRW in Auftrag gegebene Studie des Medienpsychologen Gary Bente über das AFFEKTFERNSEHEN (Bente/Fromm 1997), aus der fünf Artikel ihre Wertigkeit ziehen. Die Bente-Studie ist nicht auf Talkshows begrenzt, sondern setzt sich allgemein mit den Formaten des performativen Realitätsfernsehens auseinander, welche sie im Großen und Ganzen vom Vorwurf schädlicher Wirkungen auf Kandidaten und Publikum entlastet. Ihre Rezeption verstärkte einerseits die Entskandalisierung des Formats, wenngleich es den Anschein hat, dass die parallel dazu publizierten Wortmeldungen der Psychologen Goldner und Lindner eine indirekte Reaktion darauf sind (DAS 39/1997, 8/1998; HM 08. 09.1996; SZ 20.08.1997). Andererseits zeigt sich in der Rezeption der BenteStudie, die in den Kritiken fast ausschließlich auf Talkshows bezogen wird, die latente Brisanz, die dem Format zu diesem Zeitpunkt bereits zugeschrieben wurde. Die täglichen Talkshows gerieten jedoch erst Anfang 1998 verstärkt in die Kritik. Auslöser war indirekt eine ARABELLA-Sendung mit dem Titel „Sexy Hausfrauen“ im März des Jahres, durch die sich eine Zuschauerin dazu veranlasst sah, bei der Staatsanwaltschaft München Anzeige wegen des Verdachts der Verbreitung von Pornografie zu erstatten (weil sich im Studiopublikum offensichtlich Kinder befanden). Dieser Sachverhalt weckte seinerseits das Interesse verschiedener gesellschaftspolitischer Akteure. Die Landesmedienanstalten suchten nach Wegen, die Talkshows zu entschärfen (STZ 23.04. 1998), und Politiker – wie die bayerische Sozialministerin Barbara Stamm – versuchten eine Moral Panic in die Fernsehkritik zu tragen, die über eine Verbotsforderung öffentlichkeitswirksam wurde (SPIEGEL 18/1998). In der Folge wurde die Glut der Debatte zwischen April und Juli 1998 zum Entfachen gebracht. Wie im Fall von Reality-TV veränderten sich so auch in der Debatte die Formen der Auseinadersetzung: Die Argumentationsweisen mussten einem politischen Interventionsdiskurs genügen und die Informationsformen wechselten verstärkt in Bericht erstattende und konfrontative Muster wie Meldungen und Interviews über. Anders als bei der Reality-TV-Debatte ge-
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lang es der Politik jedoch nicht ansatzweise, seitens der Kritik eine Mehrheit für ihr Anliegen zu gewinnen. Alle erkennbaren Positionierungen zur Verbotsfrage, die sich in den 12 Artikeln zwischen dem 23.04. und 30.07.1998 publizistischen Akteuren zurechnen lassen, beziehen dagegen Stellung. Die Auseinandersetzung wurde dadurch sehr schnell in andere Richtungen gelenkt. Während zwischen den Institutionen und Akteuren der Medienpolitik ein Verhaltenskodex („Code of Conduct“) ausgehandelt wurde, der ab Anfang Juli in Kraft trat (vgl. Wunden 2002), mündeten die Versuche der Politik, eine Moral Panic-Debatte zu stimulieren, in eine Debatte über Medienpolitik. Die Kritik attestiert dem Verhalten der politischen Akteure zum einen Vergeblichkeit – mit Verweis auf das Scheitern der Selbstverpflichtung in der fünf Jahre zurückliegenden Reality-TV-Debatte (FAZ 20.07.1998). Zum anderen werden ihnen nicht ethische, sondern eigennützige Motive unterstellt: Sei es, dass sie mit den Talkshows ein billiges Wahlkampfthema aufgetan haben (STZ 29.04.1998) oder nur daran interessiert seien, mit vorgeblicher Empörung aus einer „belanglosen eine kostbare Sendung“ zu machen, um den regionalen Medienstandort zu sichern (WOCHE 10/1998). Damit verbunden, fällt die Debatte partiell auch auf sich selbst zurück, indem nach der Verantwortung der Kritik gefragt wird, in deren scheinheiligem Spiel mit dem Skandalösen der Publizist Roger Willemsen die Voraussetzung für die eingeschlagene Entwicklung sieht: Wenn man also sieht, wie auch Medienkritiker viel lieber Schund besprechen als Themenabende, dann erkennt man ihre so tiefe wie bigotte Liebe zu dem, was sie zu bekämpfen vorgeben, dem Banalen. Seine soziale Bedeutung wird so unterschätzt wie die des Sex, der als solcher kaum, als Geschmacksverstärker dafür um so häufiger eingesetzt wird. (WOCHE 10/1998)
Allerdings ist dieser Kommentar selbst nicht frei von Bigotterie, denn die darin diagnostizierte Frontstellung der Fernsehkritik gegen das Seichte war 1998 längst nicht mehr so ausgeprägt, wie Willemsen behaupten muss, um seinerseits eine Frontstellung zu konstruieren. Zugleich drückt sich in seinem Schwenk zu einer Kritik der Kritik die Einbeziehung einer Argumentationsweise aus, die sich immer mehr an die Transkription des Fernsehens anlagerte. Die Fernsehkritik wurde in den 1990er Jahren mit dem Voranschreiten provokatorischer Formate und daran aufgehängter Diskussionen immer durchlässiger für Argumente, die mit den Auswirkungen dieser Diskussionen hantieren. Der Schlussteil des Artikelsets demonstriert, dass die Einbeziehung einer solchen Herangehensweise nicht ohne Wirkung bleibt. Das dritte Ereignis, das im Korpus eine größere Beachtung erfährt, ist der Start der RTL-Talkshow KARALUS im September 1998. KARALUS werden zwei Weiterentwicklungen des Talk-Formats zugeschrieben: „daß die Moderatorin selbst Partei ergreift“ (SZ 10.10.1998) und „statt inhaltlicher Kontroversen persönliche Streitereien vor der Kamera auszutragen“ (STZ 31.10.1998). Damit steht die Talkshow für einen neuen „Trend“, der von der Kritik als ‚Verschlimmerung‘ des Formats angesehen wird, an der deutlich werde, „wie man ein niedriges Niveau noch unterschreiten kann“ (STERN 471998). Dennoch behandeln die
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Kritiken die Sendung mit einer ausdrücklichen Vorsicht, weil das noch nicht lang zurückliegende „öffentliche Geschrei“ den Shows „noch höhere Quoten“ beschert habe, wie Michael Bitala bereits zum Start von KARALUS in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (14.091998) anmerkt. Diese Selbstreflexivität prägt die Auseinandersetzung mit BIG BROTHER von Beginn an. Bereits fünf Monate vor dem deutschen Start wird die RealLife-Soap mit der Information zum Thema, RTL habe die Rechte an der de Mol-Show erworben (SPIEGEL 44/1999). Die Eröffnung der BIG BROTHERDebatte gestaltet sich somit als Berichterstattung über Erfahrungen, die zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden mit dem Format gemacht wurden – das betrifft die Reaktionen der Öffentlichkeit, das Schicksal der Kandidaten, das Auf und Ab der Quote etc. Dieser frühen Thematisierung war auch der provokante Titel zuträglich, der im Kontext der Spielanordnung den berühmten Orwell-Roman ad absurdum zu führen schien. Das Format startete in die Debatte mit dem Ruf, „das Fernsehen an die Geschmacksgrenze“ zu treiben, wie dem SPIEGEL-Artikel im Vorspann voraus gesetzt ist. Im Gegensatz zum zuvor an TUTTI FRUTTI exemplifizierten Vier-Phasen-Verlauf entstand auf diese Weise eine Art Prolog, auf den (also die Erfahrungen mit BIG BROTHER in den Niederlanden) in der weiteren Debatte allerdings kaum zurückgegriffen wird. Aber das große öffentliche Interesse, das die Sendung in den Niederlanden zu einem medialen Ereignis erhoben hatte, behaftete BIG BROTHER vorab mit einem hohen Nachrichtenwert. Deshalb nahm die Fernsehkritik das Spiel mit dem Tabuisierten, das schon der Sendungstitel versprach, rasch auf und wendete es in ein Spiel mit der Empörung, das sich auch deshalb spielen ließ, weil das Format an – und nicht jenseits – der Geschmacksgrenze eingestuft wurde. Und über die ließ sich bekanntermaßen, das hatte sich zuvor an den Talkshows gezeigt, trefflich streiten. Ein gutes Beispiel für die gezielte Produktion diskursiver Ambivalenz ist der STERN-Artikel „Ab in den Container“ (3/2000), der die Kandidaten-Suche zum Inhalt hat: Einerseits wird die Sendung als „Menschenexperiment“ beschrieben, in dem „nach 2400 Stunden im TV-Knast [ein Kandidat] von den Zuschauern zum beliebtesten Häftling gewählt wird“, andererseits „streiten sich 20.000 Bewerber (Internetadresse: www.big-brother-kandidaten.de) um die zehn Betten in den zwei gut 19 Quadratmeter großen Schlafzimmern“. Spätestens der Abdruck der Internetadresse, über die auch noch die STERN-Leser ihre Lastminute-Bewerbung einreichen konnten, stellt klar, dass es um das „Menschenexperiment“ so schlimm nicht bestellt sein wird. Dieser Vorbericht fällt in die erste Phase der Skandalisierung. Seinen journalistischen Mehrwert bezieht er aus der Weitergabe der Drohung des de Mol-Produzenten, Rainer Laux, dass die „Bedingungen im deutschen Container-Labor deutlich härter als in Holland“ sein werden. Mit der Verwendung semantischer Reizformeln wie „steigern“, „härter“ oder „verschärfen“ konnte eine kalkulierte Eskalation provoziert werden, mit deren Hilfe der nächste Schritt der Debatte vorbereitet wurde: die Konstruktion von Gegenpositionen, die das Format zu einem gravierenden Problem erklären. Diese Funktion übernehmen zum einen ausgewählte Experten wie der TV-Autor Wolfgang Menge (SPIEGEL 3/2000) oder der Medienpsychologe Peter Vorderer (TS 04.02.2000), die das Format mit Attributen wie „ver-
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antwortungslos“ (Menge) und „nicht unproblematisch“ (Vorderer) versehen. Entscheidend war wiederum, dass dieser Ball von institutionellen und politischen Akteuren aufgenommen wurde und Verbotsforderungen publik wurden. Als Auslöser dienten Äußerungen, die der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck Ende Januar 2000 gegenüber BILD AM SONNTAG gemacht hatte und die – direkt oder indirekt – reihenweise ähnlich gelagerte Statements nach sich zogen. In der Printöffentlichkeit wurde so der Eindruck einer breiten gesellschaftlichen Front gegen die Sendung erweckt, mit der juristisch ausgerichtete Argumentationen an Bedeutung gewannen (HÖRZU 8/2000). Auf diese Weise kletterte BIG BROTHER auf einen der vorderen Plätze der massenmedialen Agenden. Eine tiefgreifende Prägung der ‚öffentlichen Meinung‘ gegen das Format kam dennoch nicht zustande (anders: Mikos 2000, 184). Denn der Mainstream der publizistischen Fernsehkritik machte sich die Perspektive der Medienwächter nicht zu eigen. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass die journalistischen Akteure den Skandalisierern wiederum weder die Authentizität ihrer Empörung (FAZ 28.01.2000) noch großartige Erfolgsaussichten auf ihre vollmundigen Drohungen gegenüber RTL2 zugestehen (HÖRZU 8/2000). Diese erste Hochphase der Debatte hatte zur Folge, dass zum Start von BIG BROTHER am 1. März ein Maximum an öffentlicher Grundaufmerksamkeit bestand. An diesem Punkt begann zugleich ein neuer Abschnitt der Kritik, der dadurch gekennzeichnet ist, dass erst jetzt die direkte Auseinandersetzung mit dem Format beginnt, in der die publizistischen Akteure selbst Farbe bekennen. Dabei sprechen die acht Artikel im Korpus, die kurz vor und nach der ersten Folge veröffentlicht wurden, eine relativ gemeinsame Sprache. Zum einen wird eine Art Privatheits-Blues angestimmt, der latent die in der Sendung zum Vorschein kommende Veränderung des Umgangs mit Privatheit als eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung beklagt (STZ 01. 03.2000; BMP 02.03.2000; TS 03.03.2000), gleichzeitig wird das Format – nach Sichtung der ersten Sendungen – aus der Kritik genommen: „Hören wir auf, uns über Sendungen wie ›Big Brother‹ zu entrüsten. Sie sind so leer wie die Wirklichkeit“, untertitelt beispielsweise die WELTWOCHE (10/2000) einen Artikel nach sieben Tagen BIG BROTHER, der unter der Überschrift „Fernsehen heute – eine Heimat des Stupiden“ repräsentativ für die Debatte, den Topos der doppelten Zurückweisung zur Anwendung bringt. So wurde die empörte, skandalträchtige Aufregung um BIG BROTHER während der ersten drei Wochen nach Ausstrahlungsbeginn zu Grabe getragen. Die Printmedien schlüpften in die Rolle von „Normalisierungsagenturen“ (Hickethier 2002b, 43) – zumal auch an der juristischen Front mit dem Kompromiss einer (später wieder eingestellten) ‚überwachungsfreien Stunde‘ Beruhigung eintrat. Kurzzeitig kommt so eine gewisse Sentimentalität auf: Die Phase der großen Aufregung um die ›Reality Soap‹ ist jedenfalls vorbei, vergessen und verweht sind längst die schönen Worte der Experten, wobei man sich immer wieder gern an die sächsische Psychiaterin erinnert, die in der FR beklagte, »dass man zwar um jede Million Wiedergutmachung für NS-Zwangsarbeiter feilschte, aber für Big Brother Millionen in den Werbeetats bereitstehen« und – irgendwie
326 | EIN MEDIENDISKURS sehr quengelig – darauf beharrte, dass »Voyeurismus« bis heute als »Perversion« zu gelten habe. (TAZ 23.03.2000)
Im Vergleich zu den vorausgehenden Fällen ist das eigentlich Besondere an BIG BROTHER die Weiterführung der Debatte über diesen Punkt hinaus. Debattentechnisch wurde das möglich, weil diese Weiterführung wie ein Neustart gestaltet wurde. Er resultierte aus der überwiegenden Anerkennung der Sendung: Sie war zu einem legitimen Format des Unterhaltungsfernsehens normalisiert worden. Erst auf dieser Grundlage konnte die Sendung sodann auch zu einem Phänomen stilisiert werden. Obgleich die eigentliche Show als „langweilig“ gilt, hält zu Beginn dieser Phase beispielsweise ein SPIEGELArtikel (11/2000) das Interesse mit der Begründung wach, „die wirklich spannenden Dramen laufen außerhalb der Container-Kaserne ab“. Seine Überschrift ist ein Zitat: „»Richtig ausquetschen«“ – ein interner Slogan, mit dem die Mitarbeiterin einer PR-Agentur nach Interviewpartnern für eine ausgeschiedene Kandidatin suchte. ‚Richtig ausquetschen‘ war von nun an aber auch das Motto der BIG BROTHER-Kritik, die neue Wertigkeiten produzierte, mit denen dem Format weiterhin eine herausragende Bedeutung beigemessen werden konnte. Interessant war BIG BROTHER nun aber nicht mehr als Fernsehsendung, sondern als Kulturprogramm. Fernsehkritik wurde zu Kulturkritik und das Programmereignis wanderte für einige Wochen auf die ersten Seiten des Feuilletons und die Titel der Illustrierten. Das entscheidende Moment, das es der Kritik ermöglichte, die Themenkarriere der Sendungsreihe fortzuschreiben, hängt mit der weiterhin vorgenommenen ambivalenten Funktionalisierung der Show zusammen. Rein formal betrachtet weist die Debatte in vielerlei Hinsicht Parallelen zu einer Moral Panic auf: Sie hat einen expliziten Gesellschafts- und Wertebezug, verknüpft verschiedene gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen und produziert ein Bündel argumentativer Positionen. Dass sie dennoch keine Moral Panic-Debatte wurde, liegt daran, dass die Kritik keine Veranlassung sah, die Diskussion konsequent in diese Richtung zu treiben. Trotz der Beanstandung einzelner Aspekte von BIG BROTHER (wie der ‚unfairen‘ Inszenierung einzelner Kandidaten durch die Produktion) kam es zu keiner argumentativen Multipositionierung gegen das Format, sondern zu einer Ausweitung beziehbarer Positionen. Die öffentliche Meinung formierte sich nicht, sondern zerstreute sich in ein Diskurs-Spiel, das immer ein Auge auf sich selbst gerichtet hatte. An die Stelle des Spiels mit der (moralischen) Kritik des Fernsehens tritt eine Kritik des Spiels mit der (moralischen) Kritik des Fernsehens (BMP 28.04.2000), die gegen Ende in eine Kritik der Kritik des Spiels mit der (moralischen) Kritik des Fernsehens überwechselt, mit der jede eindeutige Positionierung vollends unmöglich wird: Wir können nur beobachten, wie das Medium Authentisches ständig in die marktgerechte Pose umwandelt und – wie in einem Spiegelkabinett – Realität und Fiktion ineinander schiebt. ›Big Brother‹ ist ein Lehrstück über Narzissmus und mediale Subjektwerdung in einer wahrhaft ›reflexiv‹ gewordenen Moderne. (TAZ 09.06. 2000)
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Mit dem Beziehen dieser Beobachter-Position beschließt der Psychoanalytiker Martin Altmeyer sein Resümee der „100 Tage Aufmerksamkeit“ (Böhme-Dürr/Sudholt 2001). Sie markiert den Endpunkt einer Debattenkultur, der, nachdem sie das Fernsehen als Reservoir einer leidenschaftlichen Inszenierung normativer Konflikte entdeckt hatte, schließlich die Lust an sich selbst vergangen war.
Wert des Privaten — Adaption durch Medium und Kritik In den Debatten zu Daily-Talks und BIG BROTHER wurde der PrivatheitsDiskurs weitergeführt, der sich mit dem Ausbau der privat-kommerziellen Unterhaltungsformate zu Beginn der 1990er Jahre konstituiert hatte. Das gilt sowohl für die verwendeten Begriffe als auch für die relationale Verknüpfung mit anderen – kulturellen oder akademischen – Diskursbereichen. Auf der Begriffsebene entpuppt sich ‚Privatheit‘ als eine Kategorie, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre immer mehr an Bedeutung zulegte. Die Debatten zu den nachmittäglichen Talkshows und BIG BROTHER weisen die mit Abstand größte Häufigkeit an Begriffen auf, die direkt mit dem Privatheits-Diskurs verbunden sind: 341 der insgesamt 513 Erwähnungen der Wortstämme |privat|, |intim| und |scham| verteilen sich allein auf die 80 Artikel dieser beiden Debatten. Die semantische Dramatisierung des Diskurses, die sich 1993/94 in der zugespitzten Verwendung des Wortstamms |privat| angedeutet hatte, wird in ihnen jedoch nicht linear fortgeschrieben. Vielmehr findet sich in beiden Debatten ein angewachsenes Repertoire an Formulierungen, das neben dem Superlativ ‚privatest‘ auch eine Abschwächung wie „privatistisch“ (SPIEGEL 13/1996) enthält und das das Private genauso mit dem eher uneindeutigen ‚Leben‘ (13 Mal |privatleben|) wie der abgegrenzten ‚Sphäre‘ (6 Mal |privatsphäre|) verbindet. Parallel dazu steigt das Sem |privatheit|, das im übrigen Korpus nur einmal – als die juristische Formel „Recht auf Privatheit“ (STERN 52/1991) – vertreten ist, zu einer übergeordneten Kategorie auf, die im Artikelset zu den Talkshows in drei Artikeln jeweils einmal und in dem zu BIG BROTHER in acht Artikeln insgesamt 20 Mal vorkommt. Diese numerische Reichhaltigkeit findet ihre Entsprechung auf der inhaltlichen Ebene, die den Diskurs immer stärker als Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Privatheit und Fernsehen modellierte. Ersichtlich wird das nicht zuletzt an häufig wiederkehrenden, tautologischen Kombinationen, die das Thema ‚Privatheit‘ mit einer künstlichen Relevanz besetzen. Das zeigt sich an Begriffen und Formulierungen wie „Privatmensch“ (KSA 23.03.1996; TS 29.02.2000), das „private Innere“ (STERN EXTRA ´98), das „Zur-Schau-Stellen privater Gefühle“ (TS 08.05.1998) oder der „private Blick des Zuschauers“ (SZ 13.06.2000). Die semantische Dopplung solcher und ähnlich lautender Wendungen, die häufig auch mit dem Wortstamm ‚intim‘ gebildet werden, wird deutlich, wenn man ‚privat‘ durch ‚öffentlich‘ zu ersetzen versucht. Diese Gebrauchsformeln stellen allerdings keine ‚Denkfehler‘ der Autoren dar, sondern funktionieren als semantische Signalgeber und rhetorische Weichen, die es ermöglichten, verschiedene Erscheinungsweisen des TV-Programms immer wieder neu an den Privatheits-Diskurs anzuschließen. Die inhaltliche Ausrichtung des Diskurses änderte sich auf diese
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Weise mit den Programmformen. Diese Verschiebung lässt sich anhand der Verteilung zentraler Begriffe in Tabelle 6 verdeutlichen. Der Diskurs setzte in den Debatten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Für die Kritik der täglichen Talkshows haben die Seme |moral|, |tabu| und |scham| eine größere Bedeutung, während mit BIG BROTHER |privatheit|, |privatsphäre| und |überwach| in den Vordergrund treten. Diese Verteilungshäufigkeiten bilden erste Indizien, mit denen sich die Weiterführung des Privatheits-Diskurses aufschlüsseln lässt. Tabelle 6: Häufigkeit von Wortstämmen (durchschnittlich pro Artikel) Wortstamm intim moral privat*
privat-/ scham tabu überwach intimsphär
Debatte E01–E15 0,14 0,34 0,19 0,06 0,33 0,17 E16 (Daily-Talks) 1,54 0,73 1 0,11 1,38 0,76 E17 (Big Brother) 1,5 0,39 2,36 0,34 0,76 0,15 * Bedeutungsvarianten wie |privatfernsehen| wurden nicht gezählt.
0,04 0,02 0,34
Betrachtet man die Verteilung hinsichtlich der einzelnen Artikel, so fällt auf, dass eine explizite Verknüpfung von |moral| oder |tabu| mit |scham| nur selten zu finden ist (ist das doch der Fall, handelt es sich zumeist um Streitgespräche oder umfangreiche Artikel). Der Grund für die konträre Verteilung der Seme lässt sich auf ihre jeweilige Bindung an bestimmte Diskurspositionen zurückführen. Der Gebrauch von |moral| oder |tabu| steht in der Regel in Verbindung mit Positionen, die eine harsche Verurteilung der diskutierten Formate für ungerechtfertigt halten, indem sie die Gültigkeit von |moral| oder |tabu| als Kriterien der Fernsehkritik ablehnen. Am deutlichsten wird das an solchen Textstellen, in denen sich die Kritiker der Nachmittagstalkshows – bereits in Reaktion auf diese diskursive Fügung – ihrerseits explizit dagegen wenden, mit diesen Kategorien in Zusammenhang gebracht zu werden. So beharrt die CSU-Politikerin Barbara Stamm in einem Streitgespräch mit Arabella Kiesbauer darauf, sie meine ihre Kritik an den Talkshows „nicht moralisch, verstehen Sie mich nicht falsch“ (SZ 25.04.1998). Und der Psychoanalytiker Wulf-Volker Lindner bekräftigt gegenüber Barbara Sichtermann, es gehe „nicht darum, Themen zu tabuisieren“ (DAS 8/1998). Lindner und Stamm versuchen in diesen Zitaten nicht nur, dem in der Debatte verfestigten Vorwurf zuvorzukommen, eine Verurteilung der DailyTalks sei an die überholten, weil nicht mehr zeitgemäßen Kategorien ‚Tabu‘ und ‚Moral‘ gebunden. Gleichzeitig offenbart die defensive Haltung dieses argumentativen Vorgriffs, dass es sich bei der von ihnen vertretenen Position um eine innerhalb der Diskursordnung mittlerweile nicht unproblematische, weil randständig gewordene Meinung handelt. Deren Vertreter versuchen die Verwendung der Kategorien ‚Tabu‘ und ‚Moral‘ zu umgehen, indem sie den Bezug auf den Begriff der Scham in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen. Kritisiert wird an den Talkshows, dass sie der voranschreitenden Veränderung oder Aufweichung der Grenzziehung zwischen dem Privaten und
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dem Öffentlichen Vorschub leisten. Diese Position konnte jedoch – selbst im theologischen und politisch-konservativen Mainstream – auf keine selbstverständlichen, allgemeingültigen Voraussetzungen mehr hoffen, wie noch 15 Jahre zuvor in der ARENA-Debatte, wo ein Bezug auf den Wert der Scham allgemein akzeptiert war. Weil ein selbstverständlicher Rückgriff auf die ehemals selbstredende Kategorie ‚Scham‘ nicht mehr möglich ist, müssen Lindner („Hier wird Intimität […] öffentlich, und auf lange Sicht kann das die positive Wirkung der Scham verändern.“) und Stamm („Die Sendung ›Nackte Tatsachen: Ich habe keine Scham‹. Da drehts mir den Magen rum.“) auf soziologische oder subjektiv-populistische Begründungen zurückgreifen. Die Zugkraft dieser Argumentationsweisen gerät im Gegensatz zur RealityTV-Debatte jedoch immer mehr ins Hintertreffen. Sehr gut veranschaulichen lässt sich diese Diskursverschiebung, erneut an einer Titelgeschichte aus dem SPIEGEL, die demonstriert, wie der Diskurs über Privatheit in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ein weiteres Mal seine Richtung zu ändern begann. Acht Jahre nach dem Artikel über die „Sexwelle im deutschen Fernsehen“ (SPIEGEL 30/1989) und viereinhalb Jahre nach „Die schamlose Gesellschaft: »Ein Volk im Schweinestall«“ (SPIEGEL 2/1993) erscheint das Hamburger Nachrichtenmagazin mit dem Aufmacher „Nackt bis auf die Seele: Die Exhibitionistische Gesellschaft“ (SPIEGEL 29/1997). Die zugehörige Titelgeschichte „»Der Tanz ums goldene Selbst«“ (ein Zitat des Soziologen Ulrich Beck) knüpft im Vorspann noch nahtlos an die ‚schamlose Gesellschaft‘ an: „Ein Lebensstil, gemixt aus Eigenliebe und Exhibitionismus, setzt sich in Deutschland durch. Die Schamschwellen sinken, die vulgäre TV-Talkshow regiert.“ Exemplifiziert wird diese Beschreibung an drastischen Zitaten aus den Mündern namenloser Talkshowkandidaten: »Bist du schwanzgesteuert?« fragen Arabella Kiesbauers Talkshowgäste einander schon zur Mittagszeit. »Ja klar,« heißt die freimütige Antwort, »ich bin sexsüchtig.« Daraus folgt als Hobby das »Durchficken«. (SPIEGEL 29/1997)
Die Auswahl dieses Textbeispiels, in dem das Fernsehen lediglich als Mittler immer weiter verwahrlosender Umgangs- und Verhaltensformen erscheint, verdeutlicht jedoch einen ersten Unterschied zu „Die schamlose Gesellschaft“, in der das Fernsehen noch als Triebfeder der Aufweichung von Normen dargestellt wurde. Dem entsprechend liegt der Neuigkeitswert der Medienentwicklung für den Privatheits-Diskurs des Jahres 1997 nicht in der ‚Schamlosigkeit‘ des Mediums, sondern in der „Bereitschaft des TV-Volks, vor der Kamera das Intimleben auszubreiten“. Ausgehend vom grassierenden Phänomen der „immerwährenden Volkstalkshows“ – denen doch nicht, wie eineinhalb Jahre zuvor an gleicher Stelle prognostiziert worden war (SPIEGEL 5/1996), die Kandidaten ausgegangen waren – entwirft der Artikel das Panorama eines soziokulturellen Gesellschaftswandels, der sich genauso im Fernsehen beobachten lasse wie bei der „Love Parade“, „an südlichen Gestaden“ oder „in Deutschlands Bildungsstätten“ (SPIEGEL 29/1997). In seinem Kern stehe dieser Wandel für einen immer weiter um sich greifenden „Hang zur Selbstverliebtheit, zum Narzissmus“, als dessen verbale Unterform auch der „Seelenstriptease vor kleinem oder großem Publikum“ angesehen werden
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könne. Vor diesem argumentativen Hintergrund führt die namentlich nicht gekennzeichnete Titelstory eine Reihe „Kulturkritiker jeglicher Couleur“ an, die diese Entwicklung dramatisieren. Zu ihnen zählt wiederum der Ethnologe Hans-Peter Duerr: Völlig »beispiellos in der Kulturgeschichte« seien die »drastische Enttabuisierung« und »Brutalisierung«, die »Auflösung des Schamgefühls« und der »Zerfall von Familienstrukturen« in unserer modernen Zeit, sagt Hans Peter Duerr, 54, langhaariger Professor für Völkerkunde an der Universität Bremen. »Es hat sicher noch keine Gemeinschaft gegeben, in der die Tendenz zur Veröffentlichung von Privatem und Intimem so stark war wie in der heutigen.« (SPIEGEL 29/1997)
Die Zitate entstammen, was verschwiegen wird, dem Duerr-Interview von 1993, der in „Die schamlose Gesellschaft“ noch den zentralen Stichwortgeber zur Kritik der medialen Verwertung von Privatheit darstellte. 1997 jedoch – die Argumentation ad hominem („langhaariger Professor“) deutet es bereits an – steht Duerrs Position für eine überholte, schwarzmalerische Kulturkritik, die den sich allgemein vollziehenden Wertewandel falsch einschätze. Um dies zu belegen, führt der Artikel zahlreiche kulturelle Formen der Selbstentblößung an, die keine Anzeichen eines Werteverfalls signalisieren, sondern als Ausdruck einer neuen gesellschaftlichen Normalität gedeutet werden, die unter dem Oberbegriff der Individualisierung zusammengefasst wird. Durch den zunehmenden Individualismus verändern sich zwar die „herkömmlichen Solidarbeziehungen, er schafft sie aber nicht ab“, sondern zeige, „an die Stelle des Zwangs tritt Freiwilligkeit“: Wenn der einzelne selbständig über sein Gefühlsleben disponiert, ohne sich, wie der großzügige (Ost-)Berliner Philosoph Wolfgang Engler sagt, sein »Verhalten bis in die Einzelheiten durch eine strenge Moral, überfeinerte Manieren und eine Fülle scharf ausgearbeiteter Tabus vorschreiben zu lassen«, dann übernimmt er doch in »höherem Maße die Verantwortung für sein Tun und Lassen« – ist das nicht gut so? (SPIEGEL 29/1997)
An dieser positiven Umdeutung der medialen Funktionalisierung von Privatheit fällt auf, dass sie unter Umgehung der Kategorie ‚Scham‘ geschieht, die sich durchaus für die eingeschlagene Argumentationsrichtung hätte nutzen lassen, wenn sie als individuelle oder soziale Pathologie moderner Gesellschaften interpretiert worden wäre, die zu überwinden für den Einzelnen einen Gewinn darstellt (vgl. Lewis 1992; Neckel 1991). Eine solche Auslegung des Schambegriffs, die dem SPIEGEL (19/1992) fünf Jahre zuvor einen Artikel wert war, war aus dem Privatheits-Diskurs der Fernsehkritik herausgefallen. Stattdessen war es selbst Positionen, die in den veränderten Umgangsweisen mit Privatheit im Fernsehen einen nicht zu verurteilenden Wertewandel sahen, möglich geworden, mit einem ähnlichen Verständnis von Scham zu argumentieren, wie es von Duerr vertreten wurde, ohne dessen Position gegenüber der Entwicklung des Fernsehprogramms einnehmen zu müssen. So stellt die Fernsehkritikerin Barbara Sichtermann in einem ZEITArtikel (41/1996) unter der rhetorischen Frage „Ist die Talk-Show nicht doch
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besser als ihr Ruf?“ die These auf, die „Schamschranken“ seien in der Gesellschaft „ja nicht absolut, sondern nur kontextspezifisch gefallen“, was daran festgemacht werden könne, dass ein „anerkannte[s] ›Recht auf eine Maske‹, auf Verstellung und Spiel“ zu beobachten sei, in dem man „einen neuen Respekt vor dem Innenleben der Menschen erblicken“ könne. Diese Beispiele aus dem SPIEGEL und der ZEIT zeigen, wie und warum der Bezug auf Begriffe wie ‚Tabu‘, ‚Moral‘ und ‚Scham‘ innerhalb des Privatheits-Diskurses seinen Reiz einzubüßen begann. Zum einen ergab es immer weniger Sinn, von den Tabubrüchen eines Mediums zu sprechen, wenn der Gesellschaft, in der es stattfand, infolge eines diagnostizierten soziokulturellen Wandels selbst kaum noch Tabubereiche unterstellt werden können. Zum anderen hatten sich fundamentale Pauschalkritiken erschöpft, die im Verfall traditioneller Verhaltenskonventionen in medialen Inszenierungen den Verfall der gesamten Gesellschaft sahen. So traf schlussendlich auch auf die Kritik selbst zu, was der Verfassungsrichter Winfried Hassemer in einem Kommentar zum Start von BIG BROTHER über das Fernsehen sagt: dass nämlich „die Kategorie Scham ihren Witz verloren“ habe (SZ 28.02.2000). Ihren Witz verloren hatten – genauer gesagt – argumentative Topoi, die die neuen Formen der televisionären Inszenierung von Privatheit als entgrenztes Steigerungsspiel beschrieben, das die Gesellschaft immer weiter an den Rand des Zivilisatorischen treibe. Im Artikelset zu BIG BROTHER existiert diese Position explizit nur noch in einem Interview mit dem Ethnologen Duerr (auf das 11 der 29 Nennungen von |scham| in der BIG BROTHER-Debatte entfallen), der seine Argumentation, der Steigerungslogik folgend, nochmals zuspitzt: „Im Prinzip“ seien danach heutzutage „immer mehr Leute“ (wie die Zuschauer von BIG BROTHER) mit jenem „Vergewaltiger“ zu vergleichen, der „unlängst“ eine Prostituierte überfallen habe und sie „zusammenschlug“, als sie ihm damit zu beruhigen versuchte, „sie lasse ihn ja für umsonst“. Diese rhetorische Aufrüstung Duerrs, die ein drastisches Bild einer Gesellschaft im Zustand des fortgeschrittenen Niedergangs entwirft, erzeugte im Privatheits-Diskurs des Jahres 2000 kaum noch Resonanz, weil sie ihre Plausibilität als Diagnose der Medien- und Gesellschaftsentwicklung eingebüßt hatte. Der Grund dafür liegt nicht allein in einer gewissen Abnutzung gesellschaftlicher Katastrophenszenarien im Verlauf der zurückliegenden Auseinandersetzungen. An Plausibilität gewannen vielmehr solche Argumentationsweisen, die das Bild einer Gesellschaft zeichneten, die von einem fundamentalen soziokulturellen Wandel ergriffen worden war, dessen Einschätzung nicht möglich sei, da dieser Vorgang eine qualitative Verschiebung der altbekannten Koordinaten der gesellschaftlichen Funktionsweisen von Privatheit nach sich ziehe. Am pointiertesten formuliert diese neue Erfahrung der Gegenwart der Literaturkritiker Ulrich Greiner in der ZEIT: Wenn diese Beobachtung zutrifft, [dass sich Gesellschaft und Individuum wechselseitig durchdringen,] dann muss auch die immer härter spürbare Tatsache der Globalisierung Folgen für die Konstitution des Individuums haben. Wir sehen sie ja schon. Der wahrhaft zeitgemäße Mensch ist multiethnisch und multiethisch, multikulturell und multifunktional. Er besteht aus Fragmenten. Er hat keine Intimität mehr, son-
332 | EIN MEDIENDISKURS dern frei fluktuierende Intimitäten, deren Grenzen sich von Fall zu Fall ergeben. Seine Scham ist nicht mehr existenziell, sondern akzidenziell. (ZEIT 18/2000)
Vor diesem Hintergrund wird auch plausibel, warum in der BIG BROTHERDebatte das Vorkomm von |scham| und |tabu| rückläufig war, obwohl Fragen des Privaten immer weiter ins Zentrum der Auseinandersetzung gerieten. Die Bewertung der medialen Inszenierung von Privatheit war nicht mehr länger an einen Diskurs über Werte und deren Veränderung gebunden. Der Bezug auf einen Wertewandel wurde durch einen Bezug auf einen Gesellschaftswandel ersetzt, in dem eine veränderte Form der medialen Repräsentation von Privatheit keinen rein symbolischen Charakter mehr besaß, der mit Blick auf die Gesellschaft zu fördern oder zu verurteilen war. Vielmehr war die inszenierte Privatheit zum naturalisierten Ausdruck des Ist-Zustands gesellschaftlicher Umgangsweisen mit dem Privaten geworden. Mit der im vorhergehenden Abschnitt als ‚Neustart‘ beschriebenen Phase der Debatte (gegen Ende März 2000) wurden der Auseinandersetzung über Privatheit auf diese Weise zwei neue Bereiche geöffnet. Zum einen kam ein Diskursstrang auf, der sich unter dem Oberbegriff ‚Überwachung‘ subsummieren lässt. In den Anfängen der BIG BROTHERDebatte ist die Verknüpfung mit |überwach| auf den Sendungstitel begrenzt, mit dem „George Orwells düstere Utopie vom totalen Überwachungsstaat […] zur Fernsehunterhaltung für die ganze Familie“ entwertet worden sei (WELT 29.02.2000). Erst im zweiten Teil der Debatte, in der die TV-Show immer mehr als Metapher einer allgemeinen kulturellen Entwicklung betrachtet wird, die über das Medium Fernsehen hinausrage, finden sich Kritiken, die BIG BROTHER mit einem ‚Post-Orwell-Diskurs‘ über neue Formen gesellschaftlicher Überwachung in Zusammenhang bringen (ZEIT 11/2000; SZ 13.06.2000). Unter dem zugehörigen Topos der Überwachungs- oder Kontrollgesellschaft lag eine letzte Nische, die weiterhin eine kritisches Räsonnement der Sendung ermöglichte. Artikel, die sich auf diesen Topos berufen, fallen jedoch aus dem Gros der Auseinandersetzung mit BIG BROTHER heraus, da sie das TV-Ereignis weiterhin über den Bruchpunkt der Dichotomie privat/öffentlich in ein schlechtes Licht stellen. Zugleich fügen sie sich aber auch in den veränderten Privatheits-Diskurs zu Beginn des neuen Jahrtausends ein, da auch in dieser Argumentation das Private nicht mehr länger auf die Formen der (Selbst-)Inszenierung Einzelner im Rahmen einer medialen Öffentlichkeit bezogen ist. Der Mainstream der Fernsehkritik mochte aus dieser Perspektive heraus die Erscheinungen des Programms nicht mehr angreifen. Stattdessen wurde ein Privatheits-Diskurs weitergeführt, wie er sich zuvor bereits kurzzeitig nach dem Start der Real-Life-Show DAS WAHRE LEBEN angedeutet hatte: Die Inszenierung des Privaten wurde zum Qualitätskriterium des Programms erhoben. Privatheit konnte so von der Fernsehkritik bei der Ausweitung der Berichterstattung über die BIG BROTHER-Kandidaten in der zweiten Hauptphase der Debatte als ein Qualität verbürgender Erlebniswert zur Unterhaltung des Publikums herangezogen werden. Sie wurde zum Garanten des Konsumentenrechts auf Authentizität in einer fragmentierten Medienwelt, mit dessen Nutzwert die Kandidaten in Beschlag genommen werden konnten.
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Fernsehen und Öffentlichkeit — Verschwinden des Mediums in der Realität Grundlegend für die voranschreitende Akzeptation von Privatheit als Unterhaltungsressource war eine Neubestimmung der gesellschaftlichen Rolle des Mediums Fernsehen. Auf der Diskursoberfläche wird diese Veränderung daran ersichtlich, dass ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre immer häufiger Kritiken zu finden sind, die sich gegen die zum Reflex gewordene Ablehnung trivialer, spektakelhafter Unterhaltungsformate wenden. Der Clou dieser veränderten diskursiven Praxis eines wachsenden Teils der Fernsehkritik liegt darin, dass auf diese Weise die schleichende Anerkennung des Affektfernsehens nicht aus der direkten Auseinandersetzung mit den Inhalten des Programms resultierte, sondern in erster Linie in Abgrenzung zu ihrer Kritik. Die eigentliche Konfliktlinie der Talkshow-Debatte verlief entlang der Frage, worin die gesellschaftliche Aufgabe des Fernsehens liegen soll. Die konkreten Sendungen waren – das erklärt die kaum vorhandene Differenzierung zwischen den einzelnen Formaten (s.o. Tabelle 5) – eher zweitrangig. Während Talkshows ästhetisch so gut wie keine Fürsprecher hatten, schieden sich an der Frage ihrer Existenzberechtigung die Geister. Auf der einen Seite befand sich die alte Position, die der Öffentlichkeit des Fernsehens eine exponierte Rolle zuschreibt, an die bestimmte moralische oder auch Gebrauchswerte gebunden sind. So klagt die bayerische Ministerin Stamm in dem Streitgespräch mit Arabella Kiesbauer, das Fernsehen dürfe kein „Bauchladen der Beliebigkeit“ werden, sondern müsse (den Jugendlichen) „Orientierung“ vermitteln (SZ 25.04.1998). Ähnlich argumentiert der Psychoanalytiker Colin Goldner: Der Aufklärungs- und Bildungseffekt, den die Talkshows für sich reklamieren, ist relativ gering. Die simple Aneinanderreihung von Anekdoten hinterläßt beim Zuseher bestenfalls den Eindruck: »Was es nicht alles gibt…« Tieferes Verständnis oder zumindest Toleranz für Menschen, deren Story nicht mit der eigenen Grundhaltung übereinstimmt, werden nicht geweckt. Im Gegenteil: Aus der Ansammlung einander widersprechender Ansichten kann jeder Zuseher diejenigen als ›richtig‹ heraussuchen, die seinem Werte- und Normengefüge am nächsten kommen, die anderen werden als ›falsch‹ oder ›verrückt‹ oder ›pervers‹ abgetan. (BMP 08.09.1996)
Obgleich Goldners abwertende Charakterisierung der Nachmittagstalkshows als „simple Aneinanderreihung von Anekdoten“ vergleichsweise harmlos daherkommt, findet die damit formulierte Kritik kaum Zustimmung. Goldners Erwartungshaltung, das Medium solle „tieferes Verständnis oder zumindest Toleranz“ produzieren, hatte immer weniger Fürsprecher, da sie zunehmend anachronistisch erschien. An ihre Stelle trat eine Sichtweise, die sich nicht als Folge einer explizit Öffentlichkeits-ideologischen Umdeutung der gesellschaftlichen Funktion des Mediums gestaltet – also kein ausdrückliches Modell einer alternativen Fernsehöffentlichkeit vertrat. Vielmehr erfolgt die Zurückweisung von Positionen, die von Unterhaltungssendungen besondere Maßstäbe einfordern, mit dem Verweis auf die Anerkennung der programm-
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lichen Realität des Mediums selbst – schließlich dürfe man vom „Fernsehen nicht mehr verlangen, als es leisten kann“ (NZZ 20.06.1997). Gegenüber der alten, qualitativ ausgerichteten Position, in der auch die Unterhaltungsöffentlichkeit des Fernsehens begründungspflichtig ist, setzte sich eine neue Sichtweise durch, die auf einen Normalitäts-Topos bezogen ist, der um die Tautologie des ‚So ist nun mal das Leben‘ herum arrangiert ist. Durch diesen bekommt das Fernsehen einen legitimen Abbildcharakter zugeschrieben, in dem sich ruhig das Leben in all seinen Facetten wiederfinden könne: [1] Die Medien liefern den Stoff, der die kollektive Sucht nach unverstellter Güte befriedigt und fördert. Sie sind nicht die Produzenten, sondern nur die Vermittler der unersättlichen Integrationsgier, die die Öffentlichkeit auf der Suche nach der wahren Menschlichkeit entwickelt. (TS 19.09.1997) [2] Aus dem Fernsehen blitzt uns statt der Sensation die Normalität entgegen – ungeschminkt, banal und überraschend vielgestaltig. (ZEIT 42/1996) [3] Natürlich kann die Lebenshilfe-Talkshow keine Therapie anbieten. Probleme werden nur angesprochen, eine Analyse entfällt. Oft herrscht pures Geschwätz. […] Ist es denn ›im Leben‹ soviel anders? (NZZ 08.05.1998)
Die Anerkennung der nachmittäglichen Talkshows als legitimer Ausdruck einer vielgestaltigen TV-Öffentlichkeit, die sich mit der Einführung der privat-kommerziellen Anbieter nun mal ausgebildet habe, ist von dem Bestreben motiviert, die allgemein als abseitig und geschmacklos empfundenen TalkFormate aus der Kritik zu nehmen. Dabei bleibt dieser Blick auf das Fernsehen – selbst dort, wo sich die Kritik ihrem Gegenstand gegenüber sehr verständig zeigt, wie in Barbara Sichtermanns „Lob der Talkshow“ (ZEIT 42/ 1996) – die Betrachtung einer unbekannten, exotischen Welt. So wird es zum Beispiel möglich, eine Kritik als Abenteuerreise zu arrangieren, in der ein Kritiker das Wagnis auf sich nimmt, einen Nachmittag vor dem Fernsehapparat zu verbringen (DAS 39/1997). Wenngleich sich der Kritiker in diesem Fall nach sechs Stunden vor dem Schirm zumindest „in Gefahr“ wähnt, setzt sich insgesamt die Meinung durch, hier bilde sich eine „Lebenswirklichkeit“ (SZ 09.05.1998) ab, die es zumindest zu tolerieren gelte, so fremdartig sie auch erscheinen mag. In der BIG BROTHER-Debatte wurde zunächst an diese Sichtweise angeschlossen. In dieser diskursiven Konstellation liegt die Erklärung für die regelmäßig anzutreffende semantische Abwertung der Sendung bei gleichzeitigem Verzicht auf eine wirkliche Skandalisierung durch die Fernsehkritik. Der „größten Grenzüberschreitung, seit es Fernsehen gibt“ (FAZ 10.05.2000), steht die Ansicht entgegen, dass darin dennoch bloß eine neue Normalität ihren Ausdruck finde: „Menschen wollen, da mögen noch so viele den Kopf schütteln, ›Big Brother‹ spielen“ (TS 29.02.2000). Und das könne nicht kritisierte werden, denn: Andere laufen über glühende Kohlen, wieder andere riskieren ihr Leben beim Rafting, Manager unterziehen sich einem Survival-Training. Sich ausprobieren, sich
ANALYSE | 335 selbst erfahren – das bisschen Abenteuer muss in der Rundum-Sorglos-Gesellschaft drin sein. (TS 29.02.2000)
Dieses Zitat, es arbeitet mit dem Relativierungs-Topos, beinhaltet ein zentrales Element, das im sich neu formierenden TV-Diskurs parallel zum Normalitäts-Topos an Bedeutung zulegte – es ist der Verweis auf Gesellschaft. Bereits mit dem Aufkommen des Kommerzfernsehens begann die Fernsehkritik die Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand immer mehr an Aspekte des ‚Gesellschaftlichen‘ anzubinden. Das wird deutlich, wenn man das Vorkommen des Wortstamms |gesellschaft| betrachtet. Von seinen insgesamt 235 Erwähnungen in allen 321 Artikeln entfallen 186 auf die 210 Kritiken, die ab 1988 zu den Formaten des Privatfernsehens erschienen sind, davon verteilen sich 93 relativ gleichmäßig auf die 80 Artikel, die ab 1996 publiziert wurden (von den 49 Erwähnungen bis 1988 gehören allein 21 zur Debatte über den mit ‚Gesellschaft‘ betitelten Praunheim-Film). Die gestiegene Relevanz von |gesellschaft| zu Beginn der 1990er Jahre ist auf eine veränderte Wahrnehmung des Fernsehens zurückzuführen, das verstärkt auf seine gesellschaftliche Wirkung hin betrachtet wird. Die Verlagerung der Kritik in den Bereich einer Moral Panic in den Jahren 1992 bis 94, in dem das Fernsehen zu dem entscheidenden Faktor des soziokulturellen Transformationsprozesses aufgestiegen war, verstärkte diese Tendenz noch einmal. Damit hatte sich die Frage nach dem Einfluss, den das Fernsehprogramm auf die Gesellschaft nimmt, im TV-Diskurs etabliert. Durch diese implizite Soziologisierung der Kritik wurde das Fernsehen immer selbstverständlicher auch unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftlichen Wirkung thematisiert. In dieser gewandelten Diskurspraxis drückt sich die allgemein geteilte Notwendigkeit aus, Fernsehkritik in einen breiten gesellschaftlichen Diskursrahmen einzubetten. Anfang der 1990er Jahre führte das zu einer Grundskepsis gegenüber dem Medium, die im Topos vom Realitätsverlust ihren Niederschlag fand. Gleichzeitig wurde damit die Frage der Medienwirkung zu einem Gemeinplatz der Kritik, der das Medium dem grundsätzlichen Verdacht ausstellte, über schädliche Nebenwirkungen zu verfügen. Mit der Talkshow-Debatte kam diese Konstellation in Bewegung. Die voranschreitende Anerkennung der Unterhaltungsformate des Quotenfernsehens führte zu einer Neugestaltung des Verhältnisses von Fernsehen und Gesellschaft. Betrachtet man die Gebrauchsweisen von |gesellschaft|, wird deutlich, dass diese Neugestaltung an eine Neudefinition des Gesellschaftlichen gebunden ist, die sich im Korpus in einer Ausdifferenzierung von Komposita mit dem Stamm |gesellschaft| niederschlägt. Wie die umseitig abgedruckte Tabelle 7 verdeutlicht, finden sich im gesamten Korpus 25 Artikel mit 15 verschiedenen Komposita des Sems |gesellschaft|. Von diesen entfallen allein 16 Artikel mit 13 Varianten auf die BIG BROTHER-Debatte. Während in den Kritiken der 1970er Jahre nur die Ausdrücke „Fernseh-“ und „Wohlstandsgesellschaft“ enthalten sind, wird der Privatheits-Diskurs im Jahre 2000 an Begriffe wie „Ego-“, „Erlebnis-“, „Informations-“, „Konsum-“, „Leistungs-“, „Medien-“, „Single-“ oder „Spaßgesellschaft“ geknüpft. Diese ausgeprägte Bezugnahme zeigt, dass die Entwicklung des Fernsehprogramms, die BIG BROTHER symbolisiert, nicht mehr (nur)
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als mediale, sondern als eine gesellschaftliche Veränderung begriffen wurde. Die Ausbreitung des Realitätsfernsehens mit Beginn der 1990er Jahre war noch von einer testweisen Anlagerung an medienzentrierte Erklärungsmuster begleitet, die das Verhältnis von Medium und Gesellschaft aus der Perspektive der Medienentwicklung zu erklären versuchen. Der Realitäts-Topos drückt die Vorstellung aus, die Medien fragmentieren die gesellschaftliche Realität, indem sie gewachsene Ordnungsstrukturen attackieren und unter das Diktat der kommerziellen Verwertbarkeit stellen. Zum Ende der 1990er Jahre wendete sich diese Sichtweise. Nun war es ihrerseits die fragmentierte, medialisierte Gesellschaft, die auf die massenmediale Öffentlichkeit des Fernsehens zurückwirkte. Tabelle 7: Komposita mit dem Wortstamm |gesellschaft| (chronologisch, ohne Bedeutungsvarianten wie |produktionsgesellschaft|) Komposita mit |gesellschaft| Wohlstandsgesellschaft Fernsehgesellschaft Fernsehgesellschaften Zwei-Klassen-Fernsehgesellschaft Leistungsgesellschaft Industriegesellschaft Fernsehgesellschaft Verwertungsgesellschaft Medien Mediengesellschaft Single-Gesellschaft Zivilgesellschaft Informationsgesellschaft Rundum-Sorglos-Gesellschaft Leistungsgesellschaft Mediengesellschaft Fernsehgesellschaft Informationsgesellschaft Therapiegesellschaft Informationsgesellschaft Bürgergesellschaft Spaßgesellschaft (7x) Erlebnisgesellschaft Ego-Gesellschaft Konsumgesellschaft Spaßgesellschaft
Medium FAZ 20.10.1970 ZEIT 42/1970, KSA 17.01.1974 STERN 31/1989 SPIEGEL 19/1992 TAZ 06.02.1992 DAS 9/1993 SPIEGEL 29/1997 TS 19.09.1997 BZ 28.02.2000 SZ 28.02.2000 SZ 28.02.2000 TS 29.02.2000 TS 29.02.2000 WELT 29.02.2000 TS 03.03.2000 WW 11/2000 WELT 14.03.2000 WELT 16.03.2000 ZEIT 18/2000 SPIEGEL 23/2000 SPIEGEL 23/2000 SPIEGEL 23/2000 SPIEGEL 23/2000 STERN 28/2000
Diese neue Konstellation ist in Grundzügen bereits in der Talkshow-Debatte anzutreffen. In der Auseinandersetzung mit BIG BROTHER verschob sie sich jedoch noch einmal, indem die Normalisierung von ehemals als Ausnahmezustand beschriebenen Unterhaltungsformen weiter vorangetrieben wurde. Zunächst wird die Show – parallel zu den Talkshows – als eine weitere ex-
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treme Spielart einer zu akzeptierenden Unterform der gewandelten TVÖffentlichkeit betrachtet, mit der „die im Dunkeln in ihr eigenes Licht“ (WELT 14.03.2000) gesetzt werden. „Die im Dunkeln“ sind für die Kulturkritikerin Miriam Lau „die Proleten“, denen RTL2 mit BIG BROTHER das Medium bereitgestellt habe, „sich [ungeschminkt] zu artikulieren“. Und daran sei nichts auszusetzen, denn heutzutage gelte das Motto: „Proleten brauchen keine Mittler mehr“. Diese Argumentation verdeutlicht noch einmal, die latente Selbstbezüglichkeit der Fernsehkritik, an die Lau am Ende ihres Fernsehessays die drei Worte richtet: „Das ist alles“. Damit traf sie insoweit den damaligen Standpunkt der Debatte, wie damit die verlorene Sinnfälligkeit jeder weiteren Skandalisierung der Sendung gemeint war. Dennoch erwies sich ihre Einschätzung als falsch. Kurz nach Erscheinen ihres Artikels setzte der Schwenk von der Fernseh- zur Kulturkritik ein, der eine neuerliche Thematisierung von BIG BROTHER hervorrief. Dieser zweite Thematisierungsschub war deshalb möglich geworden, weil sich an genau dem von Lau markierten Punkt die Perspektive auf die Show verschob. Es sind nun nicht mehr länger ‚die da‘ – die „Proleten“, deren Kultur die Show repräsentiere und denen sie eine Suböffentlichkeit zur Verfügung stelle: Wir erkennen uns in Jürgen, Kerstin, Alex und den anderen wieder – aber nicht, weil sie sich wie wir alle durchsetzen müssen, und zwar vor allem mit ihrer emotionalen Intelligenz, mit ihrer kommunikativen Kompetenz, kurz: mit ihrer ganzen ›Persönlichkeit‹. Slavoj Žižek hat in einem bedenkenswerten Aufsatz behauptet, ›Big Brother‹ erinnere uns an die Rollenhaftigkeit unserer eigenen Existenz: »Was ist, wenn wir nicht sind, was wir sind, sondern uns selbst nur spielen?« (FAZ 11.04.2000)
BIG BROTHER wird so zum Ausdruck einer übersteigerten Realität, die nicht als inszenierte Medienwelt begriffen, sondern zum Inbegriff einer tieferen Wirklichkeit umgeschrieben wird. Auf diese Weise kommt es zu einer kulturellen Umwertung des Formats, die dekonstruktivistisch motiviert ist. Aus dem zuvor als problematisch oder trivial eingestuftem Format wird Kunst – eine symbolisch manifestierte, bedeutsame Verdichtung des Lebens. Dieser Akt der Neuinterpretation war die konstitutive Bedingung für die Aufnahme von BIG BROTHER in die feuilletonistische Debattenkultur, mit ihm erfuhr der Realitäts-Topos eine Wende. Somit lief nicht mehr die gesellschaftliche Wahrnehmung der Realität Gefahr, durch die Ästhetik des Realitätsfernsehens deformiert zu werden. Vielmehr erweise sich die Inszenierung des Privaten als irritierende Repräsentation des Realen: „›Big Brother‹ präsentiert die Widersprüche der Realität in einer erstaunlichen Offenheit“ (Freitag 31. 03.2000). Das Medium wird damit jedoch nicht zu einem Spiegelbild der Gesellschaft erklärt, sondern bekommt einen neuen Status zugesprochen, da durch die Übertragung des kameraüberwachten WG-Geschehens „die Realität“, so der postmoderne Philosoph Slavoj Žižek in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (28. 03.2000), „selbst noch einmal erschaffen wird“. Auf diese Weise wird dem alten Topos vom Realitätsverlust eine neue ‚Realität des Medialen‘ entgegengestellt. Mit ihr konnte der symbolische Pfeil der Beeinflussung und Verantwortung, den der Realitäts-Topos von den Medien zu der Gesellschaft
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gezogen hatte, wieder zurückgedreht und der ‚schwarze Peter‘ vom Fernsehen an die Gesellschaft übergeben werden. Die so entstehende Entlastung des Fernsehens war aber nur ein indirekter, unterschwelliger Effekt. Der eigentliche Appeal, der von einer Argumentation ausging, wie sie von Žižek vorgenommen wurde, lag in der Verlagerung der Perspektive, aus der das Programmgeschehen nun betrachtet werden konnte. Žižeks Sichtweise wird zwar nur in zwei Artikeln direkt angeführt, die von ihm praktizierte Grundhaltung einer psychologisierenden Kulturbeobachtung wurde jedoch zum Kennzeichen der Debatte. Denn auf diese Weise ließ sich der Fokus vom Fernsehen auf die Kandidaten verlagern, die zum zentralen Merkmal der öffentlichen Meinungsbildung über die Sendung wurden. Das Kaprizieren der Kritik auf die Kandidaten ist das zentrale Bindeglied, mit dem das Interesse an der Show wachgehalten werden konnte. Die Hausbewohner gerieten zur Projektionsfläche von Diskursspielen, die sich als kulturkritisches Räsonnement geben oder in den unterhaltungsästhetischen Diskurs der Boulevardpresse einstimmen konnten. Dabei kommt es zu einer Neubestimmung der Position, die Spiel-Kandidaten im öffentlichen Raum des Mediums Fernsehen zugeteilt wird: Sie werden zu einem Teil der neu entdeckten Realität des Mediums verklärt, ihre Existenz („Zlatko hat es vorher nicht gegeben“, TAZ 09.06.2000) ist an diesen Raum gebunden. Aus den einstmals „Namenlosen“ (FAZ 28.01.2000) werden mediale Kunstfiguren, deren Bestimmung vollends im Plot der Inszenierung aufgeht. Von diesem Punkt aus ist es nicht mehr weit bis zum letzten Schritt, mit dem der Rückgang des öffentlichen Interesses an Show und Kandidaten kommentiert wird: Die Bewohner haben in ihrem Leben zu viel ferngesehen. So kommt es, dass sie ihr Reden und Handeln den Akteuren von Seifenopern und Talkshows abschauen und sich dabei noch für authentisch halten. Das führt dann häufig zu hemmungslosem Geschimpfe im Stil der täglichen Quasselrunden. Oder zu jenen Endlos-Diskussionen darüber, wer wen gerade irgendwie echt mag oder nicht, wie es bei ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹ üblich ist. (SPIEGEL 39/2000)
Kaum dass sie zu medialen Figuren geworden waren, wird dem ehemaligen Automechaniker, Kneipenwirt, Arbeitslosen vorgeworfen, dem erweckten Realitäts-Schein des Mediums nicht gerecht zu werden, da ihre eigene Persönlichkeit hinter einer Maskerade verschwinde, die gegen die Spielregeln jeder guten Unterhaltung verstoße. Denn auf diese Weise werde die gesamte Spielanordnung ad absurdum geführt, die auf der Beobachtung und Bewertung des Verhaltens von authentischen Menschen beruhe. Interessant wird es, wenn man sich nun Artikel anschaut, die sich weiterhin gegen die ‚normal‘ gewordene Verwertung der Kandidaten im Unterhaltungsdiskurs stellen. Dazu zählen zwei Artikel, die diese Entwicklung zu reflektieren versuchen, indem sie mit der voranschreitenden Anerkennung des Unterhaltungsprinzips der Show die Durchsetzung eines „neuen Exhibitionismus“ bzw. eines „modernen Voyeurismus“ erblicken: [1] Haben wir es bei dem neuen kleinbürgerlichen Exhibitionismus mit abgesunkenem Luxus zu tun? Wie einst das Bürgertum den Stil des Adels imitierte und wie
ANALYSE | 339 seit einiger Zeit die Rolex oder der Mercedes oder die exotische Reise, die vordem Privileg der Reichen waren, zur Massenware geworden sind, so scheint die Dolce Vita der früheren Hautevolée zum Freizeitvergnügen einer Angestelltenwelt geworden, die außerhalb ihrer Freizeit wenig zu lachen hat. (ZEIT 18/2000) [2] Der klassische Voyeur zeigte ein manifest abweichendes Verhalten, er erlitt die Bilder und die Lust daran. Der moderne dagegen wird von den Blicken der Bilder zum Voyeur und zur Lust am Bild verurteilt; verurteilt, jener Durchschnittstyp zu werden, an dem es nichts Verdecktes gibt und der sich dem Bilderangebot gegenüber allenfalls spezialisieren kann. Wo Individuen mit eigenwilliger Triebstruktur waren, erwarten ihn die Komplizen seiner Zielgruppe, wo sich Charaktere bildeten, prägen sich Massenschicksale aus. (SZ 27.04.2000)
Ulrich Greiner [1] und Roger Willemsen [2] artikulieren hier in inhaltlicher und zeitlicher Koinzidenz (ihre Artikel erschienen am selben Tag) Versatzstücke, die zusammengenommen eine Modifizierung des Modells der televisionären Unterhaltungskommunikation ergeben, wie es zuvor als Zusammenspiel vom Exhibitionismus der Akteure mit dem Voyeurismus der Zuschauer beschrieben wurde. Die Übereinstimmung ihrer Diagnosen liegt im Gewöhnlichwerden des Abseitigen. Denn die beiden Seiten der Affektkommunikation, zwischen denen das Fernsehen vermittle, seien (indessen) mit einem „kleinbürgerlichen“ „Durchschnittstyp“ besetzt. Damit hatte sich auch der Geruch des Abseitigen und Obszönen nahezu vollständig verflüchtigt und jedes Wehklagen seitens der Kritik seinen Sinn eingebüßt. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, warum die Kategorie Scham ihren Witz verloren hatte: Das Schamlose galt nun als das Durchschnittliche. Im TV-Diskurs hat sich mit BIG BROTHER die televisionäre Verwertung von Privatheit normalisiert. Dem zugrunde liegt die Vorstellung vom ‚Sosein‘ der Kandidaten und Zuschauer – und damit allgemein des Menschen im Zeitalter der medialisierten Gesellschaft, in der die Identität des Individuums nicht länger in der abgegrenzten Sphäre des Privaten ihre Heimstatt findet, sondern – dazu entgegengesetzt – erst im Raum des Öffentlichen zu sich selbst komme: [1] »Ich werde gesehen, also bin ich.« (TS 03.03.2000) [2] Ich existiere nur insofern, als ich dauernd beobachtet werde. (SZ 28.03.2000) [3] Ich werde gesehen, also bin ich. (ZEIT 27.04.2000)
Auf diese Weise verschob sich die Akzeptanz der skandalisierten Programme. An die Stelle vom Topos der doppelten Zurückweisung trat ein anthropologischer Gemeinplatz, mit dem das Medium zum Gratifikationslieferanten der Neigungen seiner ihren Nutzen maximierenden Konsumenten auf und vor dem Bildschirm wurde. Mit dieser neuen Normalität des Mediums wird gleichzeitig die Logik des „Karnevalsprinzips“ anerkannt, nach der „die durchorganisierte und selbst kontrollierte Bürgergesellschaft von Zeit zu Zeit die Sau rauslässt“ (ZEIT 18/2000). Durch diesen Akt der Anerkennung des vormals Abseitigen konnte das Fernsehen innerhalb des Privatheits-Diskurses schlussendlich wieder in die gesellschaftliche Realität integriert werden.
PRIVATHEIT
IM
DISKURS
DER
FERNSEHKRITIK
Wenn man die vorangehende Analyse zu bilanzieren versucht, so muss dabei beachtet werden, dass sich die vorgestellten 17 Debatten, denen die Funktion zugesprochen wird, einen Diskurs über Privatheit im Fernsehen zu repräsentieren, in einem breiten zeitgeschichtlichen Rahmen bewegen. Dieser historische Kontext bildet nicht nur eine Reihe formativer Impulse aus, die sich in den Diskursweisen niedergeschlagen haben, sondern ist selbst auch als ein Resultat ebendieser Praktiken zu verstehen. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die einzelnen Debattenzeiträume abschließend zumindest ansatzweise in diesen Zusammenhängen zu betrachten. Die drei wichtigsten Folien, vor denen sich die Verschiebungen der in diskursiven Tektonik der Transkription des Privaten vollzogen haben, lassen sich erstens in einem allgemeinen soziokulturellen Gesellschaftswandel sehen, der sich aus einem Bündel verschiedener Entwicklungen speist, zweitens in Verschiebungen der bundesrepublikanischen Medienöffentlichkeit, zu der sowohl die Printmedien als (analysierter) Diskursgeber gehören wie auch das Fernsehen als (gesetzter) Ereignisraum, und drittens in der generellen Diskursivierung von Privatheit in den gesellschaftlichen Öffentlichkeiten. In diesem Kapitel wird die vorgenommene Diskursanalyse vor diesem Hintergrund zusammenfassend rekapituliert. Der Umstand, dass am Anfang dieses Diskurses über die Inszenierung von Privatheit im Fernsehen mit DIE SENDUNG DER LYSISTRATA ein Fernsehspiel steht, und die Tatsache, dass die zugehörige Debatte allein den Diskurs der ersten knapp 20 Jahre des bundesrepublikanischen Fernsehens abdecken muss, werfen bereits ein erstes Licht auf das soziokulturelle Zusammenspiel von Fernsehen und Privatheit. Denn das Fernsehen bot lange Zeit kaum Angriffsflächen, die sich für eine Skandalisierung im Umgang mit Normen des Privaten geeignet hätten. In dieses Bild passt auch, dass sich der LYSISTRATA-Skandal für diese Arbeit als eine Art Unfall darstellt, da in diesem Fall nicht der Umgang mit Inszenierungsnormen des Privaten umstritten war, sondern die Bandbreite politischer Positionierungen innerhalb des Mediums. Aus der weitgehenden Abwesenheit der Thematisierung des Verhältnisses zwischen Privatheit und Fernsehen sollte jedoch weder abgeleitet werden, hier wäre eine Art Nullpunkt des Diskurses vorzufinden, an dem ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit geherrscht hätte, noch ist damit gesagt, während dieses Zeitraums hätten keine Veränderungen in ihrem Verhältnis stattgefunden – sie wurde nur in Bezug auf das Programm kaum als Normkonflikt thematisiert. Außerdem ist zu beachten, dass hier keine Skandalgeschichte des Fernsehens nachgezeichnet wird, die einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. DIE SENDUNG DER LYSISTRATA stellt vielmehr eine erste Momentaufnahme dar, die einen Einstieg in den
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Diskurs bereitstellt und einen ersten Vergleichswert für dessen weitere Entwicklung bietet. Das Fernsehspiel fällt in die erste große Aus- und Umbauphase des bundesrepublikanischen Fernsehens, in der sich das Eigene des Programms erst sukzessive aus den bestehenden Angeboten der kulturellen Öffentlichkeit herauszuschälen begann (vgl. Hickethier 1998, 142). Diese Entwicklung fand unter der besonderen kulturellen und politischen Begutachtung einer Gesellschaft statt, in der sich das Fernsehen seinen Platz gegenüber den etablierten Massenmedien erst noch erarbeiten musste. Es galt nicht nur Zuschauer zu gewinnen und an das junge, aufstrebende Medium anzubinden, die Fernsehmacher hatten auch lange Zeit den besonderen kulturellen Wert des Mediums zu beweisen. Die Kulturzeitschrift MAGNUM veröffentlichte im Februar 1961, dem Monat nach der Erstsendung der LYSISTRATA, ein Themenheft mit dem Titel „Faktum Fernsehen“. In dem darin enthaltenen Essay FERNSEHEN – CHANCE FÜR DIE KUNST? kommt der Fernsehspielregisseur Oliver Storz (1961, 49) zu der Einschätzung, der allgemein vorherrschenden Meinung nach seien „Fernsehen und Kultur […] Antinomien“. Denn die „langsam monoton werdenden Äußerungen der professionell Kulturbewußten“ legen nahe, dass, „wer mit einem gewissen Tonfall“ ‚Fernsehen‘ sage, damit „Massenkurzweil, optisches Schwemmgut, industrialisierte Laterna magica, kurz, ›kulturelles Unglück‹“ meine, wie es unlängst „ein besorgter Redner unter dem donnernden Applaus eines gebildeten Publikums“ kundgetan habe. Im Fototeil des MAGNUM-Hefts kontrastieren die Herausgeber die Differenz zwischen „Utopie und Wirklichkeit“ des Fernsehens anhand der Gegenüberstellung einer Zeichnung des französischen Medienvisionärs Albert Robida aus dem 19. Jahrhundert, auf der ein Mann auf dem heimischen Sofa die Projektion einer leicht bekleideten Tänzerin betrachtet, mit dem Standbild einer viel ‚züchtigeren‘ Musikproduktion des zeitgenössischen Fernsehens. Der Begleittext kommentiert die Abbildungen dahingehend, dass aus dem Medium eine „domestizierte Utopie“ geworden sei, die das „fast Verruchte“ Robidas in eine „sittsame und harmlose Fernsehtruhe“ gesperrt habe (MAGNUM 1961, 23). Eine solche Einordnung des real existierenden Fernsehens zeigt, hinter der harmlosen Normalität des Mediums lag ein implizites Drohpotenzial verborgen, das als ein Teil seines potenziellen medialen Dispositivs begriffen wurde. Gleichwohl zeugt die weitgehende Gelassenheit der Kritiker bei der Auseinandersetzung um die LYSISTRATA von der beträchtlichen Entfernung, die das Medium der allgemeinen Einschätzung nach von jedem Verdacht des ‚Verruchten‘ trennte. Aus dem in den Kritiken zutage tretenden Umgang mit dem Fernsehen spricht die geringe gesellschaftliche Bedeutung, die dem ‚überschaubaren Medium‘ eingeräumt wurde. Dieses schlechte Renommee war die Folge eines weit verbreiteten Öffentlichkeitsverständnisses, das von einem hierarchischen Medienanthropologismus geprägt war, in dem das Fernsehen auf unterer Stufe rangierte. Deshalb hatten die Kritiker eher „die Interessen der Kultur gegenüber dem Fernsehen und nicht unbedingt die Interessen des Fernsehens innerhalb der Kultur zu vertreten“ (Hickethier 1998, 179). Rückblickend ist dem Mediendiskurs der Jahre 1960/61 dadurch die eigentliche Ironie der Debatte entgangen. „Im Skandal“, so kommentieren die Medien-
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wissenschaftler Helmut Schanze und Bernhard Zimmermann (1994, 35) den Fall, „kehrt die Kunstwirklichkeit zurück in die Aktualität“, wodurch „indirekt […] die besondere Wirkung des Fernsehens anerkannt“ werde. Der Skandal der LYSISTRATA zeugt sowohl von dem niederen Rang, der dem Fernsehen eingeräumt wurde, als auch von einer unterschiedlichen Wahrnehmung, die auf Seiten der Politik (zu der sich die Intendanten zählen lassen) eine andere – nämlich bedeutungsvollere – war, als seitens der Autoritäten der kritisierenden Öffentlichkeit. Das überschaubare war auch das unterschätzte Medium, das im Mediendiskurs noch kaum Konturen angenommen hatte. Gesellschaftsgeschichtlich fällt der LYSISTRATA-Skandal in eine Zeit der beginnenden Liberalisierung des soziokulturellen Normgefüges der Bundesrepublik im Übergang der 1950er zu den 1960er Jahren. Der Zeithistoriker Ulrich Herbert (2003, 28) sieht in dieser Phase eine Bruchstelle, mit der die tradierte Normierung der privaten Lebensführung durch „rigide Sollkataloge […] auf breiter Front […] ins Wanken geraten“ sei, indem „die veränderte Lebenswirklichkeit in der modernen Industriegesellschaft [immer mehr] bejaht [wurde] und die damit in Widerspruch stehenden tradierten Normen“ allmählichen Verwerfungen ausgesetzt waren. Von dieser Entwicklung deuten sich – hinter dem breiten moralischen Konsens hinsichtlich normativer Fragen – in den Kritiken erste Vorboten an, wie sie in eingestreuten Forderungen nach mehr Unterhaltsamkeit und einer stärkeren Berücksichtigung der Bedürfnisse der Fernsehzuschauer zum Ausdruck kommen. Allerdings spricht die Ausformung des Diskurses dafür, dass dem Fernsehen im bundesrepublikanischen „Lernprozess“ (Herbert) der Liberalisierung eine spezifische Rolle zugesprochen werden kann. Denn die großen, d.h. in der Öffentlichkeit als solche wahrgenommenen, gesellschaftlichen Innovations- und Veränderungsschübe fanden im Fernsehprogramm auf anderen Gebieten statt, zu denen beispielsweise die politischen Magazine zählten, die in den 1960er Jahren den Aufbruch zu einer neuen „kritischen Öffentlichkeit“ dokumentieren (vgl. Hodenberg 2003). Dem Fernsehen wurde im soziokulturellen Diskurs eine untergeordnete Position zugeschrieben, da es, das lässt sich rückblickend sagen, im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung eine eher diskrete Rolle einnahm, die sich innerhalb einer allgemein akzeptierten Normalitätszone abspielte. Auch aus diesem Grund finden die „dynamischen“ 1960er Jahre, in denen die Zeitgeschichtsforschung (Schildt 2000) einen wesentlichen soziokulturellen Strukturwandel ausmacht, im transkonstruierten Privatheits-Diskurs nicht weiter statt. Das bedeutet nicht, es habe keine entsprechenden Konflikte gegeben (vgl. Müllender/Nöllenheidt 1998) – nur ließen sich dazu keine lohnenswerten Debatten auffinden. Der Übergang von der LYSISTRATA in die erhitzten und streitlustigen Kontroversen der frühen 1970er Jahre erscheint so fast wie der Sprung in eine andere Welt. Ersichtlich wird das schon an der Reihung der einschlägigen Programmereignisse, von denen die allermeisten zehn Jahre zuvor im Programm mehr oder weniger undenkbar gewesen wären. Ebenso hatte sich auch der Rahmen einer möglichen Diskursivierung des Fernsehens geändert. Denn das Medium hatte – durch die Expansion von Reichweite und Sehdauer (vgl. Hickethier 1995, 277ff.) – nicht nur selbst
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weite Teile der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für sich in Beschlag genommen, es wurde auch immer selbstverständlicher zu einem Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung. Das trifft sowohl auf seine direkte Thematisierung zu, wie sie an der fortschreitenden Institutionalisierung der Fernsehkritik in den Printmedien deutlich wird, als auch auf eine stärkere Einbindung des Fernsehens in kulturelle Diskurse, wie sie zum Beispiel in der Einrichtung der ab 1968 jährlich abgehaltenen „Mainzer Tage der Fernsehkritik“ ihren Ausdruck fand. Der Relevanzgewinn des immer publikumsfixierter ausgerichteten Mainstreammediums Fernsehen, das sich zwischen den Programmbereichen „Lebenshilfe, Bildung und Unterhaltung“ (Hickethier 1998, 227) einzurichten begann, zog fast zwangsläufig im Diskurs die Entdeckung des Zuschauers als konstitutivem Fixpunkt der Skandalisierung mit sich. Das Konstrukt des Zuschauers wurde zu einem wesentlichen Kriterium für die normative Auspegelung des Diskurses. Diese zentrale Stellung bedeutet jedoch nicht, die medialen Bedürfnisse der Zuschauer wären damit zur Norm erhoben worden, vielmehr zeugen erst die Debatten der 1970er Jahre davon, dass die Rezipienten zu einer relevanten Bezugsgröße einer Kritik des Fernsehens geworden waren. Das veränderte Bild des Zuschauers kann darauf zurückgeführt werden, dass das Fernsehen mittlerweile zu dem Massenmedium schlechthin geworden war, das alle Teile der Gesellschaft an sich gebunden hatte. Während sich bis in die 1960er Jahre hinein „Diskurse über das Zuschauen“ um die Sorge nach der richtigen Dosierung des Programms drehten, trat mit den 1970ern die Frage nach der richtigen Funktionalisierung in den Vordergrund, so die Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider (2003). Erst durch diesen veränderten Blickwinkel konnte eine Konfliktlinie entfacht werden, an der sich auch die Geister der Fernsehkritik schieden. Der allgemeine Bezugspunkt dieser Demarkation bestand in der Zurechnung des Fernsehens zu einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, für die es als ein „eminenter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung“ – wie es das Bundesverfassungsgericht (12, 205) bereits 1961 in seinem ‚ersten Fernsehurteil‘ ausgedrückt hatte – Verantwortung zu übernehmen hatte. Das Fernsehen wurde allenthalben daran gemessen, ob es dazu in der Lage war, etwas zur Aufklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen. Damit stand es, wie es das ‚zweite Fernsehurteil‘ des Bundesverfassungsgerichts (31, 314) 1971 ausdrückte, „in öffentlicher Verantwortung“ und sollte eine „integrierende Funktion für das Staatsganze“ ausüben. Wie diese Funktion in Bezug auf das Publikum zustande kommen sollte, war in der täglichen Praxis der Kritik jedoch umstritten. Mit Irmela Schneider (2003) lässt sich (auch) dort eine Leitdifferenz ausmachen, nach der zwischen ‚Erziehung‘ und ‚Pädagogik‘ getrennt wurde. Der Erziehungsansatz war auf die Frage ausgerichtet, „wie sich der Zuschauer so disziplinieren lasse, dass das Fernsehen als Bildung kommuniziert werde“ (85) – das Öffentliche war im Erziehungs-Ansatz noch immer eine Instanz zur Disziplinierung des Privaten. Dagegen konzipierte die pädagogische Position den Zuschauer als einen Aktivposten der Fernseh-Öffentlichkeit, der aus einer kritischen Distanz zu den (Massen-)Medien mit Kompetenzen ausgestattet werden sollte, die es ihm erlauben, sich „mit den Medien gegen die Medien“ (93) zu positionieren – das Öf-
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fentliche war im Pädagogik-Ansatz zu einer Instanz der Entfaltung des Privaten geworden. Diese Beschreibung schließt an die – in der Analyse aufgezeigte – tiefgreifende Konfliktlinie an, die gesellschaftspolitisch mit der Differenz zwischen Progressiven und Konservativen und soziokulturell mit der Differenz zwischen Materialisten und Postmaterialisten (vgl. Inglehart 1989) korreliert werden kann. Wenn man diese Leitdifferenz auf den Diskurs der Fernsehkritik bezieht, stellt man jedoch fest, dass sich diese Frontstellung dort so eindeutig nicht wiederfinden lässt. Vielmehr sind damit zwei Extrempole bezeichnet, in deren Bewusstsein die Auseinandersetzung verlief. Besonders die normativen Konflikte, die sich zu Beginn der 1970er Jahre zugetragen haben, zeugen von einer Gesellschaft, die sich im geflissentlichen Zustand einer Veränderung befand und nicht immer über klare Grenzziehung und Beurteilungskriterien verfügte. Die Fernsehkritik probierte während dieser Zeit – vielleicht stellvertretend für große Teile ihrer Leserschaft – durch den Gebrauch von Argumenten und die Einnahme von Gesichtspunkten Positionsbestimmungen zum Programm aus, mit denen die in Bewegung geratenen Bewertungsmaßstäbe neu austariert wurden. Die im Großen und Ganzen recht positiven Reaktionen auf die zumeist von den Boulevardmedien skandalisierten Programmereignisse zeigen, dass die Flexibilisierung von Grenzsetzungen bei der Inszenierung von Privatheit innerhalb des Mediums Fernsehen auf einen fruchtbaren Boden fiel, der zuvor durch andere Foren der Öffentlichkeit bestellt worden war. Das betraf in erster Linie die vorsichtige Enttabuisierung der Inszenierung des Körpers und die behutsame Öffnung einer Thematisierung des Beziehungs- und Sexuallebens. Dieser Prozess war in ein Verständnis der Dichotomie öffentlich/privat eingebettet, das nicht mehr von einer klaren Abscheidung, sondern von einem – wenn auch leichten – Vorrang des Öffentlichen vor dem Privaten dominiert wurde. Damit war die Vorstellung verbunden, die Dosierung des Privaten in der Öffentlichkeit müsse an der Frage ausgerichtet sein, ob sie einem allgemeinen, nämlich öffentlichen Interesse Vorschub leisten kann oder nicht. Wobei sich im Verlauf der 1970er Jahre zeigte, dass das, was gesagt bzw. gesendet werden durfte, einer stärkeren Form bedurfte, je weiter es sich den Grenzen der Normalitätszone näherte. Deshalb gingen die Auseinandersetzungen über das Programm häufig weniger um die Auslegung des Normbereichs als vielmehr um die Art und Weise, auf die das im Fernsehen geschah. Die abnehmende Häufigkeit der recherchierten Normkonflikte zur Mitte des Jahrzehnts deutet dann auf ein Ende dieses Prozesses, in dem das Fernsehen und seine Öffentlichkeit eine Art ‚neue Mitte‘ gefunden hatten. Dazu zählt auch die Positionierung der Kritik gegenüber dem Fernsehen. Deren Rolle lag innerhalb dieser Entwicklung darin, als ein wirksames Korrektiv zu firmieren, das im Fall der Fälle durch „heftige Kritikerproteste“ Sendungen „zu Grabe tragen“ konnte, die den „Seelenmüll“ (aka das Private) über Gebühr im Programm zu verteilen trachteten, wie der SPIEGEL 1978 zum Ende einer Talk-Reihe feststellte (Ruchatz 2004). Das Fernsehen wurde auf diese Weise immer mehr zu einem komplexen Gegenstand der Kritiköffentlichkeit. Dabei spielten sich ästhetische Kriterien ein, die zu Wegmarken und Vergleichsgrößen wurden, die sich gewisserma-
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ßen als dos and don’ts an die Transkription zukünftiger Ereignisse anlagerten. Diese Konstellation hatte im Wesentlichen auch unmittelbar nach dem ‚medienpolitischen Urknall‘ Bestand, den die Zulassung privat-kommerzieller Anbieter 1984 ausgelöst hatte. Fernsehgeschichtlich war diese Epoche von zahlreichen „Übergängen“ geprägt, die von der Medienpolitik über die institutionelle Ebene bis ins Programm reichten – auf allen Gebieten wurden Vorbereitungen für das duale System getroffen und die ersten Gleise gelegt (Hickethier 1998, 414ff.). Im Gegensatz dazu deutet sich innerhalb der Fernsehkritik eine Zäsur erst gegen Ende der 1980er Jahre an, als die privatkommerziellen Anbieter begannen, die Unterhaltungssegmente des Mediums nahezu gänzlich für sich in Beschlag zu nehmen. Aus diesem Grund bleiben die 1980er Jahre, die der Kulturwissenschaftler Christian W. Thomsen (1991, 10) in einer Rückschau als das Dezennium beschreibt, in dem der „stete Fluss von Neu- und Umdefinitionen von Grenzen erheblich beschleunigt“ worden sei, ähnlich wie schon die soziokulturell prägenden 1960er in diesem Diskurs relativ blass. In den Debatten um die öffentlich-rechtlichen Bloßstellungsshows und das Aufkommen der Erotikformate, die in diese Zeit fallen, deuten sich jedoch erste Risse im eingespielten System von Medium und Kritik an, die sich im Nachhinein als Vorboten der Verwerfungen der kommenden Jahre interpretieren lassen. Der erste Riss hängt mit dem Bild des Publikums zusammen, das sich von der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie gelöst hatte, ohne damit neue Konturen gefunden zu haben. So kam es, dass der Fernsehzuschauer und sein Alter Ego, der TV-Kandidat, Mitte/Ende der 1980er nur verschwommene Schemen abgaben, deren Motive und Verhaltensweisen nicht fassbar waren. Im Diskurs manifestiert sich dies in dem Unverständnis, mit dem große Teile der Kritik auf die anarchischen Publikumsrenner 4 GEGEN WILLI und DONNERLIPPCHEN reagierten, in denen sich ein neues Unterhaltungsverständnis seine Bahn brach, das sich im Zuge einer postmodern gewendeten Populärkultur von den Kritikern scheinbar unbemerkt in der Republik ausgebreitet hatte. Der zweite Riss zwischen Kritik und Mediensystem hat mit dem vorherrschenden Bild der zukünftigen Medienentwicklung zu tun. Er tritt in der Debatte um die Erotikformate zutage, die von einer – im Vergleich zu den Bloßstellungsshows – lange Zeit geradezu lethargischen Gelassenheit geprägt war, die sich aus einem Vertrauen ins eingespielte System speiste. Denn obwohl sich keine Kritiken finden, die den ‚erotischen‘ Darbietungen einen wie auch immer gelagerten Wert zuschreiben, wurden diese Sendungen für die Kritik ganz pauschal dadurch aufgewertet, dass sie als Zeichen einer neuen, privat-kommerziellen Fernsehkultur eingestuft werden konnten, die zumindest von der Sache her einen begrüßenswerten Schub für das Programm leiste. Die Leerstelle, die das ‚TV-Volk‘ auf den beiden Seiten des Bildschirms darstellte, und das enttäuschte Gottvertrauen in die Kräfte der Selbstregulierung des zweigleisigen Rundfunksystems wurden so zu den entscheidenden Variablen, die den Privatheits-Diskurs mit Beginn der 1990er Jahre allmählich zum Kochen brachten. In Anbetracht der voranschreitenden Entwicklung des Kommerzfernsehens, das die Formate des Wirklichkeitsfernsehens für sich entdeckt hatte, führten diese Voreinstellungen zu einer veränderten Posi-
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tion der Fernsehkritik, die sich immer mehr ihrer traditionellen Funktion enthoben sah. Das kommerzielle Fernsehen und sein Publikum wurden zu einer verschworenen Gemeinschaft, aus der die Kritik ausgeschlossen war. Diese Gemeinschaft war durch ein (un)heimliches Band verbunden, das die Kritik mit den althergebrachten Methoden nicht mehr zu fassen bekam. Deshalb wurde mit dem Ende der 1980er Jahre die Rolle der Fernsehkritik, als Mittler zwischen Publikum und Medium zu fungieren, zusehends vakant (vgl. Saur/ Steinmetz 1988). In Anbetracht dieser Situation lassen sich drei Veränderungen registrieren, mit denen die Fernsehkritik versuchte, an den TV-Diskurs der neuen Kommunikationsbedingungen Anschluss zu finden. Erstens treten nicht von ungefähr etwa zu dieser Zeit neue Formen der Kritik in Erscheinung. Dazu zählen veränderte Rollenzuschreibungen und daran gebundene ästhetische Konzepte, die von einzelnen Kritikern in den mittlerweile etablierten Foren der printmedialen Programmkritik eingenommen wurden und die größtenteils durch eine distanzierte, ironisch gebrochene Haltung gegenüber dem Fernsehen geprägt waren (vgl. Hickethier 1994a, 249ff.). Zweitens – und spiegelverkehrt dazu – etablierte sich ein Kritikverständnis, wie es besonders in den zu Beginn der 1990er Jahre aufkommenden, neuen Programmzeitschriften (TV SPIELFILM etc.) zum Ausdruck kam und mit dem die Kritik auf die Funktion eines Servicedienstleisters diskursiv herabgestuft wurde. Drittens offenbart der Blick auf die intertextuelle Struktur der Debatten noch eine weitere Veränderung, die es der Kritik ermöglichte, an die neuen Kommunikationsbedingungen Anschluss zu finden: Sie trat immer häufiger in journalistischen Formen in Erscheinung. So konnte das Fernsehen, auf vielfältigere Arten betrachtet, zum Gegenstand komplexer Debatten werden, während der Spielraum der Kritik immer mehr in das journalistische Korsett des Berichtens und Dokumentierens gezwungen wurde. An diesen drei Veränderungen wird die paradoxale Position der Kritik deutlich. Denn einerseits wurden neue, flexiblere transkriptive Praktiken etabliert, in denen die gestiegene Notwendigkeit und Möglichkeit offenbar wird, das Fernsehen einer öffentlichen Erörterung auszusetzen. Andererseits waren diese Praktiken mit einem performativen Geltungsverlust verbunden, da sie eine Entfernung vom traditionellen Konzept der (be)wertenden Kunstkritik bedeuteten. Den Ausweg aus diesem Dilemma bildete die immer häufiger und selbstverständlicher verwendete Praxis des Skandals, die spätestens ab 1992 eine zentrale Form der Medienkritik geworden war. Im Modus des Skandals erlangte die Fernsehkritik eine neue öffentliche Aufmerksamkeit, die es ihr zumindest vorläufig gestattete, ihren diskursiven Geltungsverlust zu kompensieren. Denn die Skandalisierung hatte nicht nur den intrinsischen Wert der Produktion medialer Aufmerksamkeit, zugleich wurde so eine breitere Anbindung an gesellschaftliche Diskurse und Akteure möglich, die das Medium ins Zentrum des öffentlichen Interesses katapultierte. Diese Entwicklung hatte verschiedene Effekte auf die Transkription des Fernsehens und den Privatheits-Diskurs. Einerseits gerieten immer weniger einzelne Sendungen oder Ereignisse in den Fokus der Kritik, sondern komplexere Einheiten des Programms. In den Artikeln schlägt sich diese Entwicklung darin nieder, dass kaum noch vermittelt oder diskutiert wird, was eigent-
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lich auf dem Bildschirm überhaupt vor sich geht. Besonders augenfällig wird dieser Umstand, wenn man versucht, aus den Artikeln einfache Informationen zu filtern, die einen Einblick in die kritisierten Formate bieten – das erweist sich als wenig ergiebig. So geriet die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Medium ins Hintertreffen. Der ästhetische Diskurs, in dem Formwissen über das Fernsehen transkribiert wird, profitierte somit nicht von der gewachsenen Popularität des Gegenstandes. Thematisch relevant wurde solches Formwissen nur mit Bezug auf einen anderen Gegenstand, nämlich die Kritik selbst. Der Hang zur reflexiven Selbstthematisierung, mit der Fragen nach den Möglichkeiten und Bedingtheiten des eigenen Handelns virulent werden, durchdrang die Kritik im Verlauf der 1990er Jahre. Darin kommt einerseits ein kultureller Diskurs zum Vorschein, der ausgehend von der Popularität des postmodernen Denkens in den 1980er Jahren in breite Teile der gesellschaftlichen Kommunikation eingegangen war (vgl. Fornäs 1995, 210–221). Andererseits lässt sich mit Blick auf den televisionären Privatheits-Diskurs die These aufstellen, dass die gesteigerte Reflexivität zugleich das Ergebnis einer veränderten medialen Praxis ist, die auf die Medienkritik zurückgefallen war. Anders formuliert stellt sich die Problematisierung der eigenen Rolle auch als die Konsequenz einer überschwänglichen Positionierung dar, die sich im Diskurs nicht durchhalten ließ. Um diese These zu erläutern, muss man sich noch einmal die Funktionsweise von Skandalen ins Gedächtnis zurückrufen. Skandale wurden zuvor als ‚unterschwellige Moraldiskurse‘ charakterisiert, mit denen ein intertextuelles Diskursspiel angeschoben wird, dass direkt darauf ausgerichtet ist, eine Norm zu exekutieren. Die immer breitbandiger werdende Skandalisierung des Fernsehens, die nicht mehr nur einzelne Normüberschreitungen zu sanktionieren versuchte, sondern das Medium per se zum Skandal erklärte, mündete in die Moral Panic des Jahres 1993. Im Gegensatz zu einem Skandal kennzeichnet eine Moral Panic ein eskalationsartiger Verlauf, in dem der normative Status Quo einer Gesellschaft einen immer bedrohlicheren Anstrich bekommt – als ein Problem, das sich nicht personalisieren lässt, sondern letztlich nach massiven (staatlichen) Interventionen verlangt. Damit ist ein hoher Anspruch an die Geltungskraft medialer Diskurse verbunden, der im Falle des Ausbleibens der gewünschten Folgen auf die Medien zurückfallen kann. Das betrifft besonders reflexiv modernisierte Gesellschaften, die „immer mehr mit der Bewältigung selbst geschaffener Probleme beschäftigt“ (Beck/Holzer 2004, 165) sind. So stellt der englische Soziologe Arnold Hunt (1997, 644) mit Blick auf die frühen 1990er Jahre fest, “the media has become more selfconscious about participating in moral panics, and it could be argued that recent moral panics have been more self referential, even theatrical in character, as well as being more open to criticism from within the media”. Die gestiegene Reflexivität der Debatten stand somit in einem direktem Zusammenhang mit der veränderten Rolle, die die mediale Öffentlichkeit ihrem Selbstverständnis nach einzunehmen gedachte. Der Grund für diesen Rückkopplungseffekt liegt darin, dass Reflexivität einen möglichen Weg zur Entdramatisierung der (diskursiv dramatisierten) Verhältnisse eröffnet, mit dem die mediale Zustandsbeschreibung selbst infrage gestellt wird, um die Geltungsmacht der medialen Öffentlichkeit wieder
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herzustellen. Deshalb wuchs die Kritik an der Fernsehkritik in der Endphase der Reality-TV-Debatte parallel zur Moral Panic. Die Kritik wie auch die Kritik der Kritik blieben dabei in einen übergeordneten gesellschaftlichen Mechanismus eingebunden, der in der normalisierenden Funktion von Skandalen liegt, also in der Austarierung gesellschaftlicher Normen. In diesem Punkt liegt die, wenn man so will, Ironie der Skandalisierung des Mediums. Denn die wachsende Einsicht in die Vergeblichkeit des eigenen Handelns ließ der Fernsehkritik eigentlich nur die Möglichkeit, die neuen Kommunikationsverhältnisse, die durch das kommerzielle Fernsehen etabliert worden waren, weitgehend anzuerkennen – frei nach dem Motto: ‚Wenn sich die Umwelt nicht an unsere Vorstellungen anpasst, dann passen wir halt unsere Vorstellungen an die Umwelt an‘. Somit verhalf die massive Kritik im Modus des Skandals letztlich neue Formen der Inszenierung und Thematisierung des Privaten durch das Fernsehen in die Tiefen des öffentlichen Diskurses einzuschreiben. Der Umschlagpunkt, an dem das geschah, lässt sich recht eindeutig auf die Jahre 1992 bis 1994 festlegen. Nicht zufällig fallen in diesen Zeitraum die allermeisten Debatten. Ihr großes Konfliktpotenzial deutet darauf hin, dass die mediale Funktionalisierung von Privatheit, die das kommerzielle Fernsehen während dieser Zeit konventionalisierte, gesellschaftsgeschichtlich einen exponierten Stellenwert besaß. Im Gegensatz zu den frühen 1970er Jahren, in denen der zweite Debattenschwerpunkt zu verorten ist, hatte sich das Fernsehen damit im öffentlichen Bewusstsein an die Spitze der Modernisierung des soziokulturellen Umgangs mit Privatheit gesetzt. Doch worin lag das veränderte Verständnis des Privaten, das auf diese Weise in den Diskurs implementiert wurde? Auffällig ist zunächst, dass bestimmte Konflikte im Untersuchungskorpus nur schwach ausgeprägt sind. So wurde die Bestimmung des Menschen (bzw. in erster Linie der Frau), als sexuelles Objekt der medialen Anschauung zu fungieren, die durch das Aufkommen der Erotikformate ins Fernsehen Einzug gehalten hatte, zunächst sogar mit Verweis auf die vorangeschrittene sexuelle Liberalisierung der Gesellschaft begrüßt (vgl. Pundt 2005). Das geschah im Bewusstsein eines starken medienrechtlichen Regulierungskontextes, der als eine verbindliche normative Instanz angesehen wurde, durch die Normüberschreitungen qua System ausgeschlossen wurden. Der eigentliche Kern der Auseinandersetzung lag – neben der Frage der Inszenierung von Gewalt – bei den eher unscheinbareren Formaten, die das mehr oder weniger aufregende Privatleben der mehr oder weniger normalen Leute auszuschlachten versuchten. Durch die skandalisierte Form wurde die Auseinandersetzung mit dem Privaten einerseits dramatisiert, und es wurde versucht, auf rhetorischem Weg einen eindeutigen Bereich zu demarkieren, der dem Wesen einer Privatheit verpflichtet ist. Andererseits verflüssigte sich jedoch durch die kontinuierliche Vergeblichkeit, mit der das geschah, immer mehr die diskursive Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Die Erzeugung eines Zustands der permanenten Grenzüberschreitung, in dem mit jedem neuen Format die vermeintlich allerletzte Barriere durchbrochen wurde, entwertete letzten Endes die Grenz-Metaphorik selbst. Die Fernsehkritik produzierte durch dieses Vorgehen und die unscharfe, fast beliebige Entsachlichung der Auseinandersetzung durch die Anbindung an ein Bündel
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sozial- und kulturtheoretischer Diskurse ein immer beliebiger werdendes Bild des Privaten. Die akademischen Diskurse über das Private sowie die ‚Expertisen‘ und philosophischen oder politischen Bestimmungsversuche des heraufziehenden medialen Zeitalters hatten keine klärende, ordnende Wirkung auf den medienöffentlichen Diskurs. Im Gegenteil. Die Fragmente dieser Positionen, die sich in die Kritik einsprenkelten, transformierten den vermeintlichen Sog des Transgressiven, in den die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Realität und Fiktion durch das TVProgramm geraten waren, in den Diskurs selbst. Erst das so entstandene Neben-, Mit- und Durcheinander von Theorie und Praxis ermöglichte die schrittweise Gewöhnung an ein plurales Bündel von Wertigkeiten des Privaten, das zu einer diskursiven Flexibilisierung gesellschaftlicher Normen führte. Damit zusammen hatte sich ein weiteres Mal das Verhältnis zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen verschoben. Ausgehend von den frühen 1980er Jahren wurde es immer mehr von einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit der Massenmedien bestimmt. Ausschlaggebend für dieses negative Bild war die Überlagerung der Funktionsbestimmung der elektronischen Öffentlichkeit durch die einseitige Hervorhebung ihrer negativen oder vermeintlich negativen Effekte (vgl. Pally 2001). Die Thematisierung des Fernsehens war wie selbstverständlich an einen gesellschaftlichen Risikodiskurs gebunden, der sich quasi nach Belieben an jedes neue Programmereignis anbinden ließ. Das Private hingegen hat damit – und gewissermaßen proportional zu seiner Etablierung als mediale Ressource – eine unklare Aufwertung erfahren. Denn im Diskurs wurde der Wert des Privaten in erster Linie rhetorisch besetzt, als signalhafter Stichwortgeber zur Relevanzproduktion, der über keine klar bestimmbaren Inhalte verfügte. Erst vor diesem Hintergrund wurde es möglich, dass die Inszenierung und Thematisierung von Privatem im Verlauf der 1990er Jahre normalisiert werden konnte und trotzdem einen normsensitiven Nachrichtenwert behielt. Diese gegenläufigen Tendenzen haben mehrere Gründe. Der weiter vorhandene, wenn nicht sogar gestiegene Nachrichtenwert der Inszenierung des Privaten hat zum einen mit der Entwicklung des Kommerzfernsehens zu tun. Die Programmmacher hatten aus dem learning by doing der ersten zehn Jahre die Erfahrung gezogen, dass sich Tabubrüche bzw. angedeutete Tabubrüche als kalkulierte Elemente des Programms einsetzen lassen, die zumindest kurzfristige Quotenerfolge versprechen. Der Topos vom „Tabubruch als Programm“ (Herrmann 2001) war zu einem Teilelement der Ästhetik des kommerziellen Quotenfernsehens geworden, das sich nicht über Inhalte, sondern über Marketingstrategien der Öffentlichkeit vermittelt. Die anhaltende Bedeutung, die dem Privaten zuteil wurde, muss somit vor dem realen Hintergrund der programmlichen Entwicklung des Fernsehens gesehen werden. Außerdem hatte sich der Journalismus zum Ende der 1990er Jahre verändert. Insbesondere das Feuilleton war durch die Werbegelder des Internetbooms kurzzeitig aufgebläht worden und suchte nach neuen Aufgabenbereichen (vgl. Steinfeld 2004). Dies führte u.a. zu einer Erweiterung des feuilletonistischen Themenkreises auf das offene Feld der Kultur und zur Ausbreitung des Debattenjournalismus, mit dem eine ökonomisch begründete Kom-
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munikationsstrategie in die Praxis der räsonierenden Transkription des Kulturellen einzubrechen begann. Die gegenläufige Normalisierung der Inszenierung des Privaten im Diskurs resultierte aus dem zuvor beschriebenen Mechanismus der Skandalisierung. So erwies sich die Welt des Sozialen beständiger als das schubweise Kommen und Gehen televisionärer Unterhaltungsformate. Zumal letztere bezüglich des Realitäts-Topos in Anbetracht der Tatsache, dass das Leben weiterhin im Leben und das Fernsehen weiterhin im Fernsehen stattfand, ihr Bedrohungspotenzial gewissermaßen in Serie eingebüßt hatten. Hinzu kommt ein weiteres, zentrales Moment. Es basiert auf der Annahme, eine jede gewandelte soziokulturelle Realität bildet irgendwann auch ihre eigene normative Normalität aus. Auf den Diskurs bezogen meint das, die anzunehmenden Impulse, wie sie von der Medialisierung des Privaten auf die Konstitution einer Gesellschaft ausgehen, schlagen sich irgendwann als ein vollzogener Bewusstseinswandel im Diskurs nieder. Dieser Effekt hat zwei Dimensionen. Die erste ist nur unscharf zu bestimmen und betrifft die direkte Veränderung soziokultureller Praktiken, diesbezüglich sich selbst die Soziologie noch weitgehend im Unklaren ist, in welche „Richtung“ sich der Wertewandel in den letzten Jahren bewegt hat (vgl. Klein/Ohr 2004). Die zweite, davon zu unterscheidende Dimension betrifft die indirekte Veränderung soziokultureller Praktiken, wie sie in der symbolischen Repräsentation medialer Inszenierungsweisen zum Ausdruck kommt. Auf dieser Ebene zeigt die Diskursanalyse eine unter der Hand der Skandalisierung laufende, gewachsene Vertrautheit der journalistischen Akteure mit den gewandelten medialen Darstellungskonventionen, die sich wohl auch generationsspezifisch auf eine stärkere Mediensozialisation zurückführen lässt (vgl. Brunst 2001). Diese paradoxalen Ausgangsbedingungen führten zu der Eigentümlichkeit der ausladenden Debatten über die täglichen Talkshows und BIG BROTHER, in denen die Akteure des Journalismus dem jeweiligen Skandalon relativ unberührt gegenüberstanden. Als vornehmlicher Katalysator des Diskurses entpuppt sich in beiden Debatten die Politik, die – wahrscheinlich von den zumindest medienöffentlichen Mobilisierungserfolgen der Reality-TVDebatte euphorisiert – die Popularität der Medienschelte für sich entdeckt hatte. Das eigentlich Interessante ist jedoch die Veränderung, die der Diskurs parallel dazu genommen hat. Denn unter der Oberfläche der Skandalisierungsspiele löste die Kritik ihren eigenen argumentativen Bezugsrahmen immer weiter von normativen Erwägungen ab. An ihre Stelle trat eine soziologisierende Betrachtungsweise, durch die die Fernsehkritik Schritt für Schritt die Position eines scheinbar neutralen Beobachters der Gesellschaft erklomm. Aus der Perspektive dieses Beobachterpostens, in der sich das gewachsene Misstrauen gegenüber „dem apodiktischen Urteil“ ausdrückt, verlor sich Kritik zunehmend in der „Vielfalt der möglichen Lesarten und Perspektiven“ (Hickethier 2005, 83). In letzter Konsequenz bleiben am Ende dieser Entwicklung nur noch eine Positionen übrig, nämlich die der Ambivalenz – als Unfähigkeit, die Welt in eine strukturierte (diskursive) Ordnung zu überführen (Bauman 2005, 12). Für den britischen Soziologen Barry Smart (1999, 159) liegt „at the heart of of the current debate about morality […] a distinction between the private
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and the public“. Und an diese Trennlinie haben sich zwei gesellschaftspolitische Positionen angelagert, mit denen die Normen für den Umgang mit dem Privaten und dem Öffentlichen antagonistisch ausgerichtet werden: „On the one hand, preserving economic freedom and enforcing moral regulation and, on the other enforcing economic regulation while upholding moral freedom“ (167). Im printmedialen Diskurs verloren diese distinkten Positionen im Verlauf der 1990er Jahre jedoch immer mehr an Kontur. Die gestiegene Ambivalenz gegenüber einer ästhetisch-moralischen Bewertung des Fernsehprogramms ging so einher mit einer gesellschaftspolitischen Entkopplung der Medienkritik. Am Ende dieses Weges, der in diesem Diskurs mit dem Ende der ersten Staffel von BIG BROTHER zusammenfällt, steht die Affirmation der televisionären Inszenierung des Privaten. Sie vollzieht sich mit Bezug auf eine mediale Aufmerksamkeitsökonomie, die in der Entwicklung des Fernsehens den Siegeszug eines anthropologisierten, „mentalen Kapitalismus“ (Franck 2005) erblickt. Der Fernsehkritik des neuen Millenniums diente sie als moralische Legitimation zur Verlagerung der Auseinandersetzung vom Medium auf die Kandidaten, um die Funktionalisierung von Privatheit als Nutzwert der karnevalistischen Unterhaltung im Diskurs verankern zu können. Der so gewonnen Anschluss an den – vom Medium etablierten – unterhaltungsästhetischen Diskurs war jedoch nur dadurch möglich geworden, dass sich die Kritik die tautologischen Erkenntnispraktiken einverleibte, die der Unterhaltungsdiskurs vorgegeben hatte. Deshalb wundert es nicht, dass sich mit der Etablierung der Container-Show im Feuilleton der Diskurs über Privatheit im Fernsehen mehr oder weniger selbst erledigt hatte. Die Titelgeschichte, durch die DER SPIEGEL (23/2000) die auslaufende erste BIG BROTHER-Staffel zu kategorisieren versucht, widmet sich folgerichtig nicht mehr der PrivatheitsProblematik, sondern der ‚Spaßgesellschaft‘, die in den nächsten Monaten zum kurzzeitigen Inbegriff einer neuen Insignie der Medien- und Gesellschaftskritik wurde (Maaß 2003). Als sich die vom ZDF veranstalteten 34. Mainzer Tage der Fernsehkritik im Mai des folgenden Jahres den neuesten Tendenzen der Fernsehunterhaltung widmeten, geschah das unter dem sinnfälligen Titel FERNSEHEN FÜR DIE SPASSGESELLSCHAFT. WETTBEWERBSZIEL AUFMERKSAMKEIT (Hall 2002). Der Diskurs über die Inszenierung von Privatheit im Fernsehen hatte zu diesem Zeitpunkt einen weiteren – vorläufigen – Höhepunkt überschritten. Begraben ist er damit keineswegs. Vielmehr ruht er in den papiernen, digitalen und humanen Archiven der Kritik, von wo er jederzeit und bei einem entsprechenden Anlass in die Debatten der Öffentlichkeit zurückgeholt werden kann.
RESÜMEE: MEDIEN
UND
DISKURS
Diskurse bezeichnen gesellschaftliche Wissensordnungen, die sich im praktischen Vollzug der Komunikation konstituieren, fortschreiben und verändern. Sie setzen sich allgemein aus der Summe des Wissens zusammen, das in einer Gesellschaft prozessiert wird – sei es gesprochen, geschrieben, gedruckt oder gesendet. Die Festlegung eines Diskurses als einer Ordnung beruht auf der Vorstellung, der Vollzug der Kommunikation, mit dem gesellschaftliches Wissen ausgebildet wird, ist kein chaotischer, zufälliger Vorgang, sondern unterliegt einer Art von Regelhaftigkeit. Diese Regelhaftigkeit ist mit einem komplexen Prozess verbunden, durch den das Wissen in unterscheidbare Anordnungen gebracht wird, die eine je spezifische Gestalt, Form oder – wie es bei Foucault heißt – Formation kennzeichnet. Die Formation eines Diskurses lässt sich als eine dynamische Ordnung begreifen. Ihre Dynamik liegt darin begründet, dass ein Diskurs durch spezifische kommunikative Praktiken konstituiert wird, die sich mit dem Diskurs zusammen ausbilden. Erst im Vollzug dieser Praktiken wird festgelegt, was aus dem Raum theoretisch möglicher Kombinationen der Kommunikation tatsächlich kommuniziert werden kann. Diskurse können in diesem Sinne als Sprachspiele verstanden werden, da sie gleichfalls die ihnen unterlegte Regelhaftigkeit über Konventionen reproduzieren. In einem Diskurs drückt sich das praktizierte und somit allgemein für sinnvoll erachtete Wissen einer Gesellschaft aus, das nicht das theoretisch Wissbare ist, sondern das praktisch Sag-, Schreib-, Druck- oder Sendbare. Ein Blick auf die empirische Verfasstheit einer Gesellschaft zeigt, dass das Reservoir, in dem Wissen als sinnvolle Kommunikation niedergelegt ist, verschiedentlich segmentiert ist. Foucaults Diskursarchäologie behandelt wesentlich die historische Segmentierung von Diskursen, da ihm daran gelegen ist, gegen teleologische Weltentwürfe zu argumentieren. Deshalb handelt sein Buch über DIE ORDNUNG DER DINGE von der Kontingenz des Wissens, das als Abfolge in sich geschlossener Episteme beschrieben wird, die von der vormodernen zur modernen Wissenschaft reichen. Damit ist die Absicht und zugleich auch die Notwendigkeit verbunden, nicht nur einzelne Meinungen zu dechiffrieren und zuzuordnen, sondern weitergehend danach zu fragen, wie Meinungen überhaupt entstehen und möglich werden können, wie also die Hervorbringung des Wissens in einer Gesellschaft grundsätzlich funktioniert. Wenn sich Foucault mit dem Wissenschaftssystem auseinandersetz, so geschieht das mit dem Hintergedanken, dass dessen Geschichte mit der Herausbildung eines bestimmten Menschenbildes in Zusammenhang steht, aus dem sich ein spezifisch moderner Subjektbegriff ableitet, der eine anhaltende praktische gesellschaftliche Relevanz besitzt. Erst diese Relevanz legitimiert, wenn man so will, die Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Wissen,
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dessen Bedeutung Foucault hinsichtlich seines übergreifendes Forschungsprojektes, das die Frage der Subjektwerdung des Menschen betrifft, in späterer Jahren allerdings in gewissem Sinne relativiert hat. Mit der Bezeichnung des Wissenschaftssystems ist eine weitere diskursive Segmentierung genannt, die von Foucault zwar aufgegriffen, aber nicht sehr ausgreifend reflektiert wird. Sie meint die sektorale Gliederung von zeitgleich statthabenden Diskursen in verschiedene Kommunikations- oder Wissensbereiche. Darin drückt sich die Vorstellung aus, dass es in einer (modernen) Gesellschaft unterscheidbare Diskursbereiche gibt, denen jeweils eine eigene, komplexe Wissensordnung zugeschrieben werden kann, mit der jeweils eigene kommunikative Praktiken verkettet sind. Soziologisch wird durch diese Beschreibung die Gesellschaft als ein funktional stratifizierter Bereich gezeichnet, den die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Wissensräumen und -niveaus kennzeichnet. Diskursanalytisch gewendet meint das, es existieren verschiedene Wissensordnungen nebeneinander, die jeweils eigene Sagbarkeitstypen mit sich führen und also überhaupt erst bestimmte Wissensformen möglich machen. Deshalb ist dieses Buch zum Beispiel auf bestimmte Art und Weise aufgebaut und geschrieben worden. Zwar hätte das, um dem Anspruch einer wissenschaftlichen Publikation zu entsprechen, auch anders geschehen können – und das sogar auf erdenklich viele Arten. Diese möglichen Variationen würden jedoch untereinander bestimmte Gleichartigkeiten aufweisen und ließen sich von den Artefakten anderer Diskursbereiche unterscheiden. Diese Unterschiede beträfen, um beim Beispiel zu bleiben, sowohl die Gestalt des Textes, die weder als Roman noch als Vorlage für ein Hörspiel durchgehen würde, als auch die damit ermöglichten und verbürgten Wissens- oder Erkenntnisformen. Eine dritte Segmentierung von Diskursen lässt sich schließlich in der Aufgliederung in verschiedene Gegenstandsbereiche sehen. Demnach macht es diskursiv nicht nur einen Unterschied, wann ein Wissen historisch ausgebildet wird und in welchem funktionalen Rahmen das innerhalb einer Gesellschaft geschieht, sondern auch, was das Thema oder der Streitpunkt ist, über das oder den Wissen und Gewissheiten produziert werden. In dieser Zuordnung findet eine kommunikationstheoretische Grundüberlegung ihren Ausdruck, nach der es eines Sinnhorizontes bedarf, durch den Wissen überhaupt erst kommunikativ relevant, d.h. gesellschaftlich anschluss- und prozessfähig werden kann. Diskursanalyse ist also mit der Absicht verbunden, mit dem Diskurs sinnhafte kommunikative Handlungsbereiche zu erschließen, zu interpretieren und durch die Interpretation verstehbar werden zu lassen. Die Absicht dieses Buches bestand nun darin, den diskursiven Spielraum des Wissens, wie er hier einleitend noch einmal konturiert wurde, für das Segment der Massenmedien zu entwerfen und am Beispiel eines ausgewählten Diskurses über die Inszenierung von Privatheit im Fernsehen in seinen historischen Ausformungen darzustellen. Auf diese Weise wurde einerseits eine übergeordnete Problemstellung aufgegriffen, die nach der Bedeutung der Medien im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung fragt, um dem Wandel soziokultureller Normen habhaft zu werden. Andererseits beinhaltete dieses Vorhaben eine unterschwellige Verlinkung mit der Idee der Diskursanalyse, die dabei aus medienwissenschaftlicher Perspektive erschlossen wer-
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den sollte. Darum wurde ein besonderes Augenmerk auf die medialen Konstitutionsbedingungen gelegt und nach einem methodischen Weg gesucht, wie diese in die Analyse mit einfließen können. Das schließt implizit die These ein, dass den Massenmedien bei der Konstitution gesellschaftlichen Wissens eine eigene, sehr autonome Rolle zufällt, die mit der des Wissenschaftssystems vergleichbar ist. Diese Vergleichbarkeit betrifft – um eventuellen Einwänden zuvor zu kommen – weder die Frage nach der Bedeutung, die den Medien im gesellschaftlichen Spiel der Kräfte eingeräumt werden soll, noch die nach der Funktionsweise, die damit verbunden ist. Es geht zunächst einmal darum, die Eigenwilligkeit oder Spezifik hervorzuheben, mit der Massenmedien Wissen in der Gesellschaft hervorbringen und prozessieren. Ein erster Zusammenhang zwischen Medien und Diskursen besteht also in der bereichsspezifischen Eigenständigkeit, mit der Medien gesellschaftliche Wissensordnungen ausbilden. Diese Eigenständigkeit betrifft sowohl die Art und Weise, wie sie das tun, als auch die Formen von Wissen, die damit möglich werden. Unter diskursanalytischer Betrachtung haben Massenmedien in ihrer Geschichte eigenen Bezugsweisen ausgebildet, über die sie Wissensformen in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft definieren – also so etwas wie eigene Sagbarkeitstypen entwerfen. Das Grundproblem bei der Durchführung einer jeden, nicht nur einer medienwissenschaftlich ausgerichteten Diskursanalyse ist die Frage nach der Ordnung. Auf die Analyse medialer Kommunikationsprozesse bezogen meint das: Wie lassen sich im Bereich der Medien Diskurse identifizieren, auffinden und weitergehend beschreiben bzw. strukturieren? Foucaults Diskursarchäologie bietet dazu den Vorschlag an, dass sich Diskurse nur in der empirischen Analyse und nur anhand bestimmter Aussagen bestimmen lassen. Diese Aussagen bilden innerhalb eines Diskurses ein Set ähnlicher Aussagen, die sich mit einem spezifischen Kontext, der diskursiven Formation, im Vollzug der Kommunikation zusammen bestärken oder verändern können. Diese Konzeption wurde dahingehend modifiziert, dass die Kategorie der Aussagen unter dem Stichwort des Topos gefasst wurde, während der diskursive Kontext als ein Rahmen verstanden wurde, der sich für die Analyse als ein überlagerter Ereignis- und Themenbezug darstellt, der an dem diskursiven Möglichkeitsraum der Massenmedien orientiert ist. Die medienwissenschaftliche Herausforderung, die sich aus der Idee der Diskursanalyse ergibt, ist die Frage der Konzeption des diskursiven Möglichkeitsraums der Massenmedien. Um den Weg besser nachvollziehen zu können, der dazu gewählt wurde, ist es wichtig zu sehen, dass der konstitutive Zusammenhang zwischen den Aussagen eines Diskurses und ihrem Formationsrahmen ein analytisches Konstrukt darstellt. Die medialen Sagbarkeitsformen lassen sich erst im Akt der Analyse bestimmen, da sie auf flexiblen und veränderbaren Strukturen beruhen. Aus diesem Grund kann der diskursive Möglichkeitsraum der Massenmedien nicht als ein kohärenter Mediendiskurs begriffen werden, sondern als eine Vielzahl von Mediendiskursen, die unter mehr oder weniger gleichen Bedingungen stattfinden. Die genauere Beschreibung des medialen Kommunikationsrahmens lässt sich sinnvoll nur in Abhängigkeit von zwei zusammenhängenden Variablen durchführen: das inhärente Analyseinteresse und der avisierte Analysebereich. Dazu wurden vier
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Formationsrahmen entworfen, die auf verschiedenen Ebenen und mehr oder weniger speziell den zu analysierenden Diskurs einfassen. Sie beziehen sich auf institutionelle, prozessuale, soziale und ereignisspezifische Dimensionen. Die Funktion dieses – dem ersten Anschein nach vielleicht etwas abgehobenen anmutenden – Verfahrens bestand schlicht und einfach darin, ein der Analyse vorgeschaltetes Verständnis dafür zu bekommen, wie Massenmedien auf den Prozess der Ausbildung gesellschaftlichen Wissens einwirken. Wenngleich dies, wie gesagt, in Abhängigkeit eines bestimmten Analyseinteresses geschah, so ist damit dennoch die Absicht verbunden, eine Richtschnur anbieten zu können, wie sich Diskursanalyse der Problematik der medialen Konstitution ihrer diskursiven Praktiken annähern kann. Die Stimmigkeit dieser Vorgehensweise lässt sich erst in der Durchführung einer konkreten Analyse aufzeigen, deren Ziel die (historische) Erschließung eines empirischen Wissensbereichs ist. Der Ermittlung der medialen Konstitutionsbedingungen fällt dabei eine zweifache Funktion zu. Sie soll erstens das analytische Verständnis transparent werden lassen, das den Diskursweisen der Medien unterlegt wird und auf das jede Interpretation immer wieder zurückgreifen muss. Dazu zählt auch, dass Erfahrungen der empirischen Auseinandersetzung auf diesen Verständnisrahmen zurück übertragen werden. Zweitens lässt sich das so gewonnene Verständnis von Diskursen in die Strukturierung der Analyse einbeziehen, wie das am Beispiel von Skandal-Diskursen aus der Geschichte der Fernsehkritik gezeigt wurde. Diese Vorgehensweise wurde als ‚Transkonstruktion‘ bezeichnet, um das konstruktivistische Element herauszustellen, das mit der Rückbindung der Analyse an ein theoretisches (Vor-)Verständnis verbunden ist, und um den daraus erwachsenden Status zu kennzeichnen, der der Analyse zugeschrieben werden kann. Letzterer ist zwischen den Polen einer rekonstruktiven und einer dekonstruktiven Ausrichtung angesiedelt. Anders ausgedrückt, bildet eine Diskursanalyse, wie sie hier konzipiert wurde, weder eine äußere Realität ab noch ist sie eine (wie auch immer motivierte) Entlarvungs- oder Kritikgeste, die sich als ein weiteres Diskursspiel an vorgängige Diskursspiele hängt. Aber was ist sie dann? Vielleicht lässt sie sich am besten als eine reflexive Analysepraxis charakterisieren, die ihre Aussagen immer vor dem Hintergrund der eigenen Konstruktionsweisen betrachten muss. Man mag hier einwenden, das gelte für jede wissenschaftliche Praxis. Bei der Diskursanalyse ist es jedoch sinnvoll, diesen Aspekt besonders herauszukehren, da er mehr ist als eine lästige Einschränkung der wissenschaftlichen Phantasie – nämlich eine Einladung zur weitergehenden wissenschaftlichen Reflexion, über die man (in diesem Fall) auch wieder zu der in der Einleitung zu diesem Buch aufgeworfene Frage gelangt, wie die Medien auf den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung einwirken. Am Anfang wird dazu die Frage aufgegriffen, welcher Status der Analyse konkret eingeräumt werden kann. Grundlegend für die Auswahl der analysierten Diskursereignisse war ihre Zuordnung als Skandale. Skandale tangieren in ihrem Kern jene normativen Diskurse, in und mit denen sich eine soziokulturellen Werteordnung ausdrückt. Mit Bezug auf die zugrunde gelegte Frage nach der im Fernsehen zu beobachtenden Veränderung von Inszenierungs- und Thematisierungsweisen des Privaten, konnte so sichergestellt werden, dass die ausgewählten Debat-
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ten zu Fernsehskandalen einen intensiven, historischen Einblick in den sich vollziehenden Privatheits-Diskurs ermöglichen. Zu beobachten ist dabei, wie durch das Prozessieren normativer Konflikte Wissen über Formen und Möglichkeiten der Inszenierung und Thematisierung von Privatheit im Fernsehen ausgebildet und zu Topoi verdichtet wird. Bei einer reflexiven Betrachtung der Analyse lassen sich die damit zum Ausdruck gebrachten Standpunkte und Werturteile als das positive Wissensfeld des transkonstruierten Diskurses betrachten. Mit diesem Wissensfeld wird ein normatives Regulierungswissen ausgebildet, durch das ein symbolisches policing – d.h. ein „Regulieren von [normativen] Grenzen“ (Stäheli 2000, 62) – entsteht. Die Analyse hat gezeigt, dass sich die übergeordnete Struktur dieser Grenzziehung von 1960 bis ins Jahr 2000 verschoben hat. So konnte in der Auseinandersetzung um Kortners LYSISTRATA das Private nicht zum Konflikt werden, da der Normbereich in konsensueller Übereinstimmung in sehr engen Bahnen verlief. Im Vergleich dazu haben sich die Möglichkeiten zur Diskursivierung des Privaten zum Ende des Jahrtausends geradezu vervielfacht, was ironischerweise letztlich ebenfalls zum Verebben des Privatheits-Diskurses geführt hat. Insgesamt kann damit konstatiert werden, dass sich das policing des Diskurses, also die Ausweisung von Grenzverläufen, im Lauf der Jahre flexibilisiert hat, wie das auch schon Jürgen Link (1999) für andere Modernisierungs-Diskurse gezeigt hat. Wenn sich innerhalb des Privatheits-Diskurses zum Ende des 20. Jahrhunderts ein gesteigertes Maß an Ambivalenz gegenüber den vormaligen Werten des Privaten ausmachen lässt und das Private immer mehr als ein Erlebniswert bestimmter Formen von Fernsehunterhaltung, wie sie Real-LifeShows darstellen, Anerkennung findet, so muss dieser Befund jedoch genau taxiert werden. Denn die vorkommenden Positionierungen oder auch NichtPositionierungen können nicht automatisch auf die diversen Publika übertragen werden, sondern beziehen sich auf die medienöffentliche bzw. journalistische Kritik von Fernsehsendungen, genau genommen auf 321 Artikel, die sich auf einen Zeitraum von 40 Jahren verteilen. Allerdings verbürgt die Orientierung der Analyse an verschiedenen medienspezifischen Variablen, die von der Zusammenstellung des Untersuchungskorpus bis zur Skandalförmigkeit der Debatten reichen, dass dem transkonstruierten Diskurs eine herausgehobene Bedeutung beigemessen werden kann. Er steht für mehr als die Summe der ausgewerteten Artikel, kann aber auch keine einfach geartete Form von Repräsentativität für sich verbuchen, sondern nur im Kontext anderer historischer Beschreibungen betrachtet und eingeordnet werden, wie das im Abschluss-Kapitel des Analyseteils geschah. Die Tatsache, dass das sehr gut möglich war, zeugt von einem gewissen Vertrauen, das der diskursanalytischen Methode bei entsprechender Handhabung entgegengebracht werden kann. Das ist kein herausragendes Ergebnis dieser Diskursanalyse, sondern demonstriert neben dem Nutzwert des methodischen Instrumentariums die Existenz historisch kontingenter ‚Sprechordnungen‘, die in der Regel immer augenfälliger werden, je weiter sie in der Vergangenheit liegen. An diese recht simple Feststellung schließt nun die Frage an, wo innerhalb der diskursiven Sprechordnungen das Potenzial zu einer weitergehenden wissenschaftlichen Aneignung gesehen werden kann. Wenn zuvor gesagt
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wurde, dass der analysierte Diskurs auf die Massenmedien beschränkt sei und nicht von vornherein verallgemeinert werden dürfe, indem beispielsweise mit der weitgehenden Anerkennung von BIG BROTHER im Unterhaltungsfernsehen das Ende jeglicher Privatheit beschrien würde, so bedeutet das natürlich nicht, damit sei alles über seine Bedeutung gesagt. Denn die Verortung eines normativen Diskurses im Bereich der Massenmedien räumt dem dort prozessierten Regulierungswissen und damit natürlich auch der konkret durchgeführten Diskursanalyse einen besonderen Platz ein. Dieser Platz ließe sich soziologisch aus der generellen Funktion ableiten, die Massenmedien als Institutionen der Weltvermittlung in der Gesellschaft einnehmen. Im Folgenden wird er jedoch, wenngleich das zunächst vielleicht etwas komplizierter erscheinen mag, aus einem medientheoretischen Zugang zum Diskurs erschlossen, wie er zuvor in Teil 2 ausgeführt wurde. Damit wird die dort vorgenommene Beschreibung aufgegriffen, nach der es sich bei Mediendiskursen um distinkte Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung handelt. Öffentliche Meinung kann als ein Wissenstyp klassifiziert werden, der sich diskursanalytisch dadurch auszeichnet, zwischen den Bezugspunkten von allgemeiner, absoluter und beliebiger Meinung angesiedelt zu sein. Mit dieser Positionierung wird herausgestellt, dass öffentliche Kommunikationsprozesse sowohl mit einer herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung behaftet sind, zugleich aber auch etwas Vages haben: Ihre Geltungsansprüche erwachsen aus dem konstitutiven Bezug zur Produktion eines Wissens, das sowohl den Anspruch auf Allgemeinheit und Absolutheit für sich verbuchen kann als auch durch eine immanente Beliebigkeit eingeschränkt oder zumindest bedroht ist. Diese – dem ersten Anschein nach paradoxe – Positionierung ist ein konstitutiver Teil der diskursiven Praxis der Massenmedien. Für das Verständnis medialer Diskurse bedeutet sie, dass massenmedial (re-)produziertes Wissen gleichsam a priori einen indifferenten, unklaren Status hat, der sich auch theoretisch nicht auflösen lässt bzw. – so sollte man viellicht besser schreiben – den theoretisch aufzulösen dem Verständnis medialer Diskurse abträglich wäre. Dennoch können einem medienöffentlichen Diskurs zwei Interpretationskomplexe zugeordnet werden, die eine weitergehende wissenschaftliche Funktionalisierung der Analyse ermöglichen. Die erste Möglichkeit greift die Frage auf, über welche Formen der Realisierung ein öffentlicher Diskurs den Status einer öffentlichen Meinung überhaupt erreicht; sie betrifft Aussagen zu der regulativen Gestalt von Diskursen. Die zweite Möglichkeit schließt an die bereits aufgeworfene Frage an, wofür ein Diskurs steht; sie betrifft Aussagen zum repräsentativen Charakter von Diskursen. Die regulative Gestalt öffentlicher Diskurse bezieht sich auf den performativen Gehalt von Prozessen der öffentlichen Meinungsbildung. Dieser kann grundsätzlich mit verschiedenen Geltungsansprüchen verbunden sein; sie reichen von dem Versprechen einer ‚wahren‘ oder adäquaten Weltabbildung durch das mediale Informativ bis hin zur Orientierung an einer konsensuellen Mainstreammoral, die auf einem Common Sense beruht. Die Medien realisieren diese Geltungsansprüche in einem feingliedrigen, teils normativ begründeten, teils aber auch historisch gewachsenen Netz diskursiver Praktiken, zu dem in der Summe die gesamte Bandbreite existierender Darstellungs- und Vermittlungsformen gerechnet werden kann. Ihren Ausdruck fin-
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den die regulativen Kommunikationspraktiken in all jenen Verfahren, die zu einer Formung, Verdichtung und Verbindung von Wissen führen – also in der geordneten Produktion öffentlicher Meinungen, die in der Ausbildung signifikanter Topoi ihren Niederschlag finden. Betrachtet man die Analyse in diesem Licht, erhält man Einblicke in die Funktionsweisen publizistischer Argumentationsverläufe. Diese bestätigen die in der Wissenschaft bestehende Wahrnehmung, nach der sich die argumentativen Formen durch eine (fälschlicherweise als ‚laienhaft‘ bezeichnete) Oberflächlichkeit charakterisieren lassen, die sich topostheoretisch besonders an der rudimentären Gestalt der meisten Argumentationen festmachen lässt und an der Verwendung metaphorischer Sprechweisen. Hinzu kommt, was nicht eigens analysiert wurde, aber in den Artikeln durchgängig anzutreffen ist, dass auf der rhetorischen Makroebene in der Regel nur mit Analogieschlüssen gearbeitet wird, die beispielsweise durch die Aneinanderreihung von Beispielen oder von unvermittelten Diskurspositionen gekennzeichnet sind. Diese abwertend klinge Beschreibung des argumentativen Potenzials publizistischer Praktiken wäre für sich genommen jedoch irreführend. Denn ein weiteres, durchgängig anzutreffendes Merkmal besteht in der starken intertextuellen Verflochtenheit der Einzeltexte, durch die ein Wissenshorizont entsteht, ohne den sie nicht gelesen werden können. Diese Verflechtungen lassen sich auf verschiedenen Ebenen ausmachen; sie reichen vom Auftreten einzelner Begriffe bis zur Verwendung komplexer topischer Muster, wie das in der Analyse wiederholt deutlich wurde. Hinsichtlich der Verlaufsform erweist sich der Diskurs darüber hinaus als sehr fragil, da er stark von externen Ereignissen abhängig ist, die sich in die Berichterstattung einbinden lassen müssen. Die spannende Frage bei der Betrachtung der regulativen Ebene hat jedoch weniger in diesen mikrostrukturellen Komponenten zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie aus ihnen heraus das Fernsehen in den Printmedien diskursiviert wird. Diese Diskursivierung, das policing des televisionären Privatheits-Diskurses, vollzieht sich als ein historischen Prozess, der sich aus einem schubweisen Wechselspiel von Programm und Kritik zusammensetzt, in dem zwei Strukturelemente medialer Diskurse ihren Ausdruck finden. Das sind der kaskadenartige Verlauf der Thematisierungsschübe und, daran gekoppelt, die ereignisbezogene Aktivierung des Diskurses. In der Analyse zeigt sich, wie diese Elemente miteinander verknüpft werden. Zum einen sind die Regulierungsweisen unmittelbar an die Praktiken gebunden, die sich mit einem Diskurs herausbilden. Das ist deshalb von Bedeutung, weil mit einer bestimmten Art und Weise der Diskursivierung eines Themas der regulative Möglichkeitsraum vorgeprägt wird. Deutlich wird das insbesondere an der Verlagerung der Kritik auf journalistische Formen zu Beginn der 1990er Jahre, womit sich auch die intertextuelle Struktur der Debatten verändert und neue Topoi auftauchen. Zum anderen sind die normativen Grenzsetzungen wie auch die daran gekoppelten Privatheits- und Öffentlichkeits-Diskurse an die jeweiligen Sendungs- oder Programmereignisse gekoppelt, durch die sie ja auch erst aktiviert werden. Man könnte diese Variablen in ein zirkuläres Modell der Medienkritik überführen, das aus einer Abfolge verschiedener Züge besteht: Von einem me-
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dialen Ereignis oder Artefakt ausgehend, bildet sich eine bestimmte intertextuelle Debattenform heraus, mit der verschiedene Muster und damit auch verschiedene Modi von Öffentlichkeit aktiviert werden. Sie lassen sich idealtypisch skalieren. Die Debatten können sich aus einer Ansammlung verstreuter Einzelkritiken zusammensetzen, die im Ton der klassischen, räsonierenden Kulturkritik verfasst sind und in erster Linie auf ästhetische Gestaltungsformen abzielen. Oder sie gestalten sich in der komplexeren Form eines Skandals, wodurch der ästhetische Diskurs in einen normativen Grenzdiskurs überführt wird, der direkt und mit einer gewissen Aggressivität an (vermeintliche) Normübertreter adressiert ist, die dann selbst in die Debatte eingreifen können etc. Schließlich kann Kritik zu einer Moral Panic gesteigert werden, durch die der Vorwurf eines Normverstoßes an größere gesellschaftliche Gruppen oder pauschal die ganze Gesellschaft gerichtet wird. Sie zieht die Notwendigkeit zur Einbeziehung eines Sets von Topoi nach sich, muss eine Reihe gesellschaftlicher Ereignisse in sich einschließen und ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure mobilisieren, um eine Multipositionierung zu erzeugen. In einem zweiten Zug erfolgt die Herausbildung, Bekräftigung oder Veränderung ästhetischer Normen, die von der Öffentlichkeit der Kritik in einen übergeordneten gesellschaftlichen Diskurs eingeschrieben werden. Von dort können diese Normen schließlich in einem dritten Zug auf die produktions- und rezeptionsästhetischen Diskurse überspringen, um als zukünftige diskursive und nicht-diskursive Praktiken der Produktion und Rezeption wirksam zu werden. So weit das Modell, das sich so oder so ähnlich wahrscheinlich auch im diskursiven Selbstverständnis großer Teile der Medienkritik wiederfinden lässt. Wenn man es auf die analysierten Fernsehskandale bezieht, erhält man jedoch ein zwiespältiges Ergebnis. Einerseits finden sich Beispiele, wo dieser Mechanismus offensichtlich gegriffen zu haben scheint, so bei den öffentlichrechtlichen Bloßstellungsshows, den Skandalen um die ConfrontainmentShows und zumindest partiell auch beim Reality-TV. Auch sprechen die Fälle, in denen die Skandalisierung keinen sichtbaren Erfolg brachte, nicht unbedingt gegen das Modell, da hier der jeweilige Streitpunkt ganz einfach nicht ausgeprägt genug gewesen sein kann. Löst man jedoch den Blick von den einzelnen Debatten und betrachtet die parallele Entwicklung des Programms bzw. der Ereignisse und der Diskurse um Privatheit und Öffentlichkeit, entsteht ein anderer Eindruck. Während man aus einer umfassenden historischen Perspektive einen gemeinsamen Zeitgeist atmen sieht, so verändert sich dieser Eindruck, wenn man sie ein wenig verfeinert. Betrachtet man beispielsweise die Debatten der 1990er Jahre, bekommt das beschriebene Modell der Medienkritik Risse. Der Diskurs der Kritik war in diesem Zeitabschnitt keine regulierende Instanz des Fernsehens, die mal mehr und mal weniger erfolgreich ist, sondern durchläuft vielmehr einen – wenn auch mit Widerständen behafteten – permanenten Prozess der Anpassung an den sich wandelnden Status Quo des Programms. Die These einer Wächterfunktion der Kritik verkehrt sich damit ins Gegenteil; die Wächterin erweist sich hier als ein diskursiver Agent ihres Gegenstandes, dessen normativen Grenzverschiebungen peu à peu in die ästhetischen Beurteilungsweisen der Kritik Einzug gehalten haben.
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Der zweite Interpretationskomplex betrifft den repräsentativen Charakter der Analyse. Er liegt nicht in der direkten Ausbildung und Verteilung öffentlicher Meinungen innerhalb des Untersuchungsfeldes, um ihnen etwa eine Stellvertreterfunktion zuzuweisen. Ein Diskurs repräsentiert Öffentlichkeit damit nicht in einem Sinne, wie das in der angloamerikanischen Tradition mit dem Begriff public nahegelegt wird, also als eine auch inhaltlich kondensierte Form der Meinungen der Vielen, der Bevölkerung. Ein medienöffentlicher Diskurs erschließt vielmehr einen Möglichkeitsraum, mit dem Ereignisse aufgegriffen und auf bestimmte Art und Weise transkribiert werden, indem sie als gesellschaftlich relevante Ereignisse aufgegriffen und innerhalb einer geregelten Struktur transkribiert werden. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Öffentlichkeit nicht nur, wie Theorien zum Agenda Setting nahelegen, Themen selektiert, sondern diese Selektion in ein komplexes kommunikatives Verfahren einschließt. Unter dem Aspekt der Repräsentation ist es wichtig zu verstehen, dass diese Verfahren bezüglich der Ausbildung öffentlicher Meinungen als ein einziger kommunikativer Akt begriffen werden müssen, da die Produktion eines Sets von Positionierungen nicht von der Selektion bestimmter Ereignisse getrennt werden kann. Die Diskurse der Medien erzeugen diskursanalytisch weder einfach nur Themen noch Einstellungen, sondern komplexe kommunikative Prozeduren, mit denen äußere Ereignisse in kommunikative Praktiken überführt werden. Auf diese Weise organisieren und repräsentieren sie Ordnungen zur gesellschaftlichen Wahrnehmung der Welt, die eine eigene, – man könnte sagen – emergente gesellschaftliche Realität darstellen. Das repräsentative Element der Diskursanalyse bezieht sich auf diese komplexen Prozesse, die sich als Abbilder gesellschaftlicher Relevanzkonstruktionen lesen lassen, in denen die evidenten Normalisierungsprozesse der Massenmedien ihren Ausdruck finden. Die Medienskandale stehen für einen vielschichtigen Vorgang, in dem gesellschaftliches Wissen über die mediale Realität neu verhandelt wird, da diese Realität mit ihrer Selbstbeschreibung, d.h. dem Wissen, das sie über sich selbst hat, in Konflikt geraten ist. Sie repräsentieren also das konfliktäre Selbstbild, das die Gesellschaft von sich selbst als Mediengesellschaft hat. Von dieser Modellierung ausgehend lässt sich der Privatheits-Diskurs in unterschiedliche Reichweiten zerlegen. So wie sich die Debatten in kleinere Einheiten unterteilen lassen, die sowohl auf weitere (Unter-)Ereignisse zurückgeführt werden können als auch auf die immanente Dynamik transkriptiver Verfahren, lassen sie sich auch zu übergreifenden Diskursphasen zusammenfassen, wie sie sich im Privatheits-Diskurs besonders signifikant jeweils mit Beginn der 1970er und 1990er Jahre herausschälen. Diese strukturellen Diskurs-Verdichtungen lassen sich dahingehend interpretieren, dass während dieser Zeitabschnitte das Verhältnis von Fernsehen und Gesellschaft hinsichtlich des Privatheitsdiskurses als vakant bezeichnet werden kann. Diese Zeiträumen stellen Phasen dar, während derer das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit einem besonderen Wandel ausgesetzt war, da normative Grenzsetzungen ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hatten. Das wird auch daran ersichtlich, dass innerhalb dieser Zeiträume die strukturellen Diskursverdichtungen (das gehäufte Auftreten von Skandalen) mit der inhaltlichen Ebene (dem Auftreten besonders ausführlicher Normkonflikte) korrespon-
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diert. Zieht man diese beiden Beschreibungsebenen zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Die erste Phase, die mit den 1970er Jahren einsetzt, lässt sich als eine nachholende Modernisierung verstehen, in der das Fernsehen an eine soziokulturelle Entwicklung anschloss, die bereits an anderen Orten der Gesellschaft begonnen hatte. Im Gegensatz dazu erweist sich das Verhältnis von Fernsehen und Gesellschaft zu Beginn der 1990er Jahre als verändert. Hier setzte sich das Medium an die Spitze eines soziokulturellen Wandels, mit dem eine allmähliche Veränderung der Grenzziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen vorangetrieben wurde. Sie hatte sich zur Mitte des Jahrzehnts weitgehend normalisiert, da im Mainstream der publizistischen TV-Kritik bereits zu diesem Zeitpunkt die Versöhnung mit den Formaten des neuen Realitätsfernsehens einzutreten beginnt. In dieser Beschreibung liegt die mediengeschichtliche Kernaussage des untersuchten Diskurses, wie er zum Abschluss von Teil 3 zusammengefasst wurde. Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun unter Einbeziehung eines regulativen und eines repräsentativen Interpretationskomplexes aus der Analyse hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Medien und soziokulturellem Wandel ziehen? Verfolgt man den Diskurs in seinem historischen Verlauf, dann zeigt sich, dass die veränderten Thematisierung- und Inszenierungsweisen des Privaten, wie sie sich im Fernsehen beobachten lassen, auch im Diskurs wieder auftreten. Dieses Auftreten bezieht sich auf die intermediale Kopplung von Diskurs und Diskursgegenstand, die dazu führt, dass eine Parallelität zwischen den verschiedenen Medien entsteht: Die gewandelte Funktionalisierung von Privatheit innerhalb der Fernsehunterhaltung findet ihre Entsprechung in der Thematisierung der gewandelten Funktionalisierung von Privatheit innerhalb der Fernsehunterhaltung durch die Fernsehkritik. Doch damit nicht genug. Wie bereits festgestellt wurde, beschränkt sich diese Parallelität nicht nur auf die thematische Koinzidenz der unterschiedlichen Mediendiskurse – also den Diskurs der Fernsehunterhaltung, wie er im Fernsehen abläuft, und den Diskurs der Fernsehkritik, der in den Printmedien stattfindet –, sondern betrifft auch die inhaltliche Auseinandersetzung. Auch hier entwickeln sich die Kritik und das Fernsehprogramm in Abhängigkeit voneinander. Deshalb finden sich keine längeren Zeiträume, in denen eine völlige Inkompatibilität auszumachen ist, wie das vielleicht der Fall wäre, wenn sich die Fernsehkritik von 1960 TUTTI FRUTTI & Co. hätte zu Gemüte führen müssen. Die Fernsehkritik der 1990er Jahre war aber nicht mehr mit der von 1960 zu vergleichen, weil sie eine ähnliche soziokulturelle Entwicklung durchlaufen hatte, wie das Programm. Dieser Punkt ist nicht so trivial, wie er sich anhört. Er deutet vielmehr auf eine intensive Verschränkung verschiedener (Mainstram-)Medien bei der Herstellung gesellschaftlich verbindlicher Realitätskonstruktionen. Daran anknüpfend bietet die Analyse Anlass zu der Vermutung, dass diese Verschränkung einem intermedialen Zusammenspiel unterliegt, das historisch veränderlich ist: So scheint die printmediale Kritik Anfang 1960 im soziokulturellen Diskurs einen größeren Einfluss gehabt zu haben als das Fernsehen, das als ein kontrolliertes und zu kontrollierendes Medium betrachtet wurde, während die Kritik in den 1990er Jahren bereit war oder sein musste, sich der Normativität des Programmlichen hinzugeben.
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Führt man diese Beobachtung mit der medien- und diskurstheoretischen These von der Normalisierungsleistung der Massenmedien zusammen, lässt sich daraus eine kleines Modell zum Konnex von Medien- und Gesellschaftsentwicklung erstellen. Mit Bezug auf den analysierten Diskurs lässt sich die sehr plausible Vermutung aussprechen, dass Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung, zu denen auch die Veränderung des soziokulturellen Normgefüges zählt, von den Medien bevorzugt aufgegriffen werden, da ihnen als Abweichung des Bekannten ein gesteigerter Neuigkeitswert innewohnt. Sie erlangen dadurch eine thematische Evidenz. Aber Medien spiegeln nicht nur einfach äußere Prozesse, sondern überführen sie in Kommunikation, d.h. sie schließen sie in ihre diskursiven Praktiken ein und machen sie so zu einem Teil ihrer eigenen, gesellschaftlich emergenten, medialen Realität. Die Medien müssen also, um ein Ereignis zu diskursivieren, es sich in bestimmtem Maße aneignen. Diese Aneignung führt natürlich nicht dazu, dass Ereignisse mit ihrer Medialisierung automatisch anerkannt würden und sich die medialen Diskurse ihnen anpassten, indem schon die beständige Berichterstattung über Normverstöße automatisch das Beziehen der kritisierten Positionen nach sich zöge. Der Zusammenhang ist etwas komplexer. Die diskursive Aneignung eines Ereignisses führt zu einer Vertrautheit, die sich in bestimmten Topisierungen und Positionierungen niederschlägt. Damit aus der Aneignung eine Anerkennung werden kann, muss ein Zweites hinzukommen. Aus der Wahrnehmung der medialen Realitätskonstruktion muss das Ereignis seine Außergewöhnlichkeit verlieren, die darin liegt, einen medialen Wert zu haben. Verliert ein Modernisierungsereignis diese Zuschreibung, indem es aus dem Raster der medialen Selektionsmechanismen herausfällt, so wird es auch als gesellschaftlich ‚normal‘ betrachtet und befindet sich auf dem Weg der diskursiven Sozialisation. Daraus lässt sich die These formulieren, dass es den Medien nicht möglich zu sein scheint, in diskursiver Nicht-Übereinstimmung mit ihrer Umwelt zu existieren. Deshalb musste die Dauerpräsenz einer veränderten Inszenierung des Privaten irgendwann mehr oder weniger zwangsläufig in eine neue Normalität umgeschrieben werden. Auf diese Weise erfolgt im medialen Diskurs eine permanente Anpassung des eigenen – in diesem Fall – normativen Status Quo an die veränderte und sich auch weiterhin verändernde ‚Normalität‘ der Gesellschaft. Hinter diesem Vorgang lässt sich ein diskursiver Grundmechanismus der Massenmedien vermuten, der mit ihrem Mainstreambezug in Zusammenhang steht. Denn wenn das Fernsehprogramm, als der quasi natürliche Ort des medialen Mainstreams, in einer breiten Ausprägung als eine transgressive Dauerveranstaltung präsentiert werden würde, dann gerieten diejenigen (Medien), die das tun, irgendwann selbst in die Gefahr nicht mehr länger für jenen Mainstream zu sprechen, auf zu dessen Wahrheit auch der eigene Diskurs gebaut ist. Der Ausweg aus dieser Situation kann folgerichtig nur darin liegen, einen neuen Common Sense aufzubauen, durch den die Welt, über die berichtet wird, wieder mit dem eigenen Diskurs in Einklang gerät. Das Fernsehen konnte so Gegenstand der alltäglichen Kritik bleiben. Dieser skizzierte Mechanismus sollte nicht als ein Funktionsdefizit verstanden werden, das die Kritikfähigkeit schmälert. Vielmehr ermöglicht die
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Flexibilität, mit der Massenmedien ihre Diskurse ausrichten und mit der sie Positionen beziehen können, eine konstante In-Beziehung-Setzung von Themen, Ereignissen und Akteuren, durch die ein Kommunikationsprozess etabliert wird, der dazu in der Lage ist, eine Zeit-, eine Sach- und eine Sozialdimension miteinander zu verknüpfen – zu diesem Ergebnis kommt aus kommunikationstheoretischer Perspektive auch Weßler (1999, 221ff.). Diskursanalytisch betrachtet ermöglichen Massenmedien die Verbindung von innerdiskursiven Wissensbeständen (Themen), die für eine zeitliche und sachliche Kontinuität sorgen, mit außerdiskursiven Einflussgrößen (Ereignissen), durch die diskursive Wissensbestände irritiert oder stabilisiert werden können, und binden diese durch konkrete soziale Zuschreibungen und Adressierungen (Akteure) an die gegenwärtige Anatomie einer Gesellschaft an. An diese Beschreibung anknüpfend lässt sich mit Bezug auf die Analyse des Privatheits-Diskurses noch eine weitere Beobachtung herausstellen. Die Anpassungs- oder Normalisierungsleistung der Medien weist, historisch betrachtet, zwei unterscheidbare Verlaufsformen auf. Einerseits vollzieht sich die Veränderung gesellschaftlicher Normen als ein kontinuierlicher, schleichender Prozess, der sich in einem permanenten Austarieren unterschiedlicher Diskurse vollzieht. Diese medial forcierte Modernisierung der Gesellschaft befindet sich dabei in einer variablen Abhängigkeit zu der Entwicklung einzelner Massenmedien, denen in diesem Prozess veränderte Rollen zufallen können. Andererseits kann in bestimmten Situationen und unter bestimmten Bedingungen ein Massenmedium aus dieser Konstellation ausbrechen und kurzzeitig den exponierten Platz eines herausragenden ‚Agenten‘ der Modernisierung einnehmen, um nach einer bestimmten Zeitspanne wieder hinter eine – durch das Medium selbst veränderte – Normalität zurücktreten zu können. Diese thesenhaften Beobachtungen, mit denen die Analyse zu einem Funktions- oder Strukturmodell kondensiert wird, bleiben jedoch mit einem gewissen Vorbehalt verbunden. Er liegt – neben der Frage, wie plausibel sie aus der Analyse abgeleitet werden können – hauptsächlich darin begründet, dass eine funktions- oder strukturdeterminierte Fortschreibung in einem gewissen Widerspruch zu einem Diskursverständnis steht, mit dem die Prozesshaftigkeit und Kontextgebundenheit gesellschaftlicher Wissenskonstruktionen in den Vordergrund gerückt wurde. Sie dienen also nicht dazu, durch die Hintertür historische oder systemisch Konstanten in die Diskursanalyse einzuschmuggeln. Ihr Wert kann eher darin gesehen werden, dass sie Verständnisrahmen bilden, von denen sich zukünftige Diskursanalysen im besten Falle in ihrer forschungsstrategischen Ausrichtung inspirieren lassen können. In die gleiche Richtung zielen auch die letzten Bemerkungen dieses Resümees, in denen ergänzende Forschungsperspektiven aufgeführt werden, die exemplarisch an die Analyse des Privatheits-Diskurses anschließen. Die naheliegendste Möglichkeit würde darin bestehen, auf ähnliche Art nach weiteren Diskursen der Kritik zu fahnden, in denen die medialen Inszenierungs- und Thematisierungspraktiken des Privaten in anderen Medien – wie zum Beispiel der Literatur, dem Kino oder dem Internet – behandelt werden. Auf diese Art könnte sukzessive das Modell eines medial bedingten übergreifenden soziokulturellen Wandels erstellt werden, in dem jeweils ver-
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schiedene Medien zu verschiedenen Zeiten je spezifische Modernisierungsimpulse in die Gesellschaft hineingeben; sie ließen sich daran erkennen, dass sie in öffentlichen Diskursen der gesellschaftlichen Selbstverständigung als konfliktär wahrgenommen werden. Eine analoge Forschungsperspektive könnte sich direkt mit den Formen der Diskursivierung des Privaten auseinanderzusetzen, wie sie von einem Medium wie dem Fernsehen ausgehen. In dieser Herangehensweise ginge es nicht darum, den Diskurs über die Bande der Kritik zu verfolgen, sondern nach den Grenzsetzungen und -veränderungen zu fragen, wie sie mehr oder weniger unterschwellig durch ein Medium vorgenommen werden. Eine solche Herangehensweise müsste zu klären versuchen, welche Diskursformen beispielsweise das Fernsehen in Bezug auf das Private überhaupt in Stellung bringt. Diesbezüglich wären einige Grundfragen zu erörtern. Die erste und womöglich wichtigste Aufgabe, die dabei gelöst werden müsste, bestünde darin, die mögliche Form der Aussagen zu finden, die einen audivisuellen Diskurs konstituieren. Erst auf dieser Grundlage könnten die formativen Elemente ermittelt werden, die einen fernsehmedialen Diskurs einrahmen. Der Ansatzpunkt zu ihrer Ermittlung könnte darin liegen, diese formativen Elemente gleichsam aus einem Zusammenspiel medialer Institutionalisierung, transkriptiver Funktionsweisen und praktizierter Formen von Öffentlichkeit zusammenzustellen und in einem spezifischen Kontext zu betrachten. Eine eher ergänzende Forschungsperspektive, die stärker in linguistische und sozialwissenschaftliche Disziplinen hineinragte, würde darin liegen, akteurszentrierte Analysen durchzuführen, die sich mit dem policing des Privaten in sozialen Gruppen (Rezipienten, Produzenten, Kandidaten etc.) auseinandersetzen. Die analytische Pointe solcher unterschiedlich ausgerichteter Forschungsansätze würde dann darin liegen, dass durch den übergreifenden Bezug zur Theorie des Diskurses eine Vergleichbarkeit distinkter Kommunikationsprozesse hergestellt werden könnte, die darüber Auskunft gibt, wie sich Normen in einer Gesellschaft in Abhängigkeit zu verschiedenen – sprachlichen, medialen, politischen, sozialen etc. – Ebenen ausbilden und verändern. Aus der Perspektive einer toposzentrierten Diskursanalyse wäre es allerdings instruktiv, diesen Prozess auch aus der Binnensicht hinsichtlich der regulativen Verfahrensweisen noch weiter zu erforschen. Dazu ließe sich fragen, ob es übergreifende Verfahrensmechanismen gibt, die mediale Diskurse kennzeichnen. Die Forschungsproblematik würde darin bestehen, wie es den Medien gelingt, in Anbetracht ihrer scheinbaren erkenntnistheoretischen Defizite homogene Diskursräume auszubilden. Denn der Erfolg der Massenmedien zeigt, dass sie sinnvolle Kommunikationsordnungen über die Welt etablieren, indem sie stereotype, oberflächliche Argumentationsformen ausbilden, die einen homogenen topischen Kontext aufbauen. Diskursanalytisch könnte in diesem Zusammenhang danach gefragt werden, ob und inwieweit sich hierbei übergreifende topische Muster etabliert haben, die sich in verschiedenen Kontexten verwenden lassen. So wird der Topos der doppelten Zurückweisung von Roland Barthes (1964, 64) als „Weder-Noch-Kritik“ beschrieben, der sich der „Mechanik des doppelten Ausschließens“ bedient. Dazu wäre es denkbar, verschieden typisierte Diskurse zu betrachten, die in einem ähnlichen zeitlichen Rahmen in den Massenmedien aufzufinden sind, oder zu
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erörtern, ob bzw. welche Verbindungen sich aus den Massenmedien zu anderen Diskursbereichen finden lassen. Für Diskurse über das Fernsehen stellt sich die Frage, ob man hier von medien- oder auch epochenübergreifenden, kontextspezifischen Argumentationsfiguren sprechen kann, die vielleicht sogar bis zu einer alttestamentarischen Medienapokalyptik zurückreichen (vgl. Vogl 2002), oder ob es sich um medien- oder zeittypische Topoi handelt, hinter denen eine Differenz, wie die zwischen „Apokalyptikern und Integrierten“ (Eco 1986), verborgen ist. In einem weiteren Untersuchungsrahmen ließen sich solche Fragestellungen wiederum auf andere Diskursbereiche (z.B. Wissenschaft, Buch-Publizistik) übertragen und nach Gemeinsamkeiten befragen. Eine stärker rhetorisch ausgerichtete Forschungsoption bestünde darin, das strategische Wechselspiel topischer Muster zu betrachten. So wäre es beispielsweise interessant, die Entwicklung verschiedener Diskurspositionen im Mainstream medialer Diskurse genauer zu analysieren; wie grenzen sie sich voneinander ab oder versuchen sich gegenseitig anzueignen und zu kolonisieren, um Deutungsmacht zu erlangen. Theoretisch etwas anspruchsvoller könnte schließlich danach gefragt werden, ob und welche strukturellen Effekte die Medien auf das Prozessieren gesellschaftlichen Wissens haben. Damit könnte die Frage aufgegriffen werden, inwieweit Medien durch ihre industrialisierte Zeitstruktur eine Art Grundrhythmus der Weltwahrnehmung produzieren, der durch den ereignishaften Takt konstanter Veränderung und Erneuerung geprägt ist. Eine solche Herangehensweise demonstriert, dass ein medienwissenschaftlich fruchtbarer Zugang zum Diskurs, den doppelten Weg eines ‚straken‘ Diskursbegriffes gehen sollte, der für die Kopplung von Theorie und Empirie steht und durch den der Analyse die Synchronität von begrifflicher und methodologischer Erkenntnis eingeschrieben wird. Denn das Potenzial dieses Ansatzes wäre verschenkt, wenn er lediglich als ein statisches Analyseverfahren begriffen würde. Seine wissenschaftliche Funktion sollte darin gesehen werden, einen möglichen Anfangspunkt zur Theoretisierung empirischen Wissens bereitzustellen, mit dem die scheinbare Offensichtlichkeit medialer Oberflächenphänomene an (medien-)theoretisch anspruchsvolle Fragen zurückgebunden werden kann.
A NHANG
SIGLEN SFB – Sender Freies Berlin ARD – Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland BAZ – Badische Zeitung BAS – Bild am Sonntag BMP – Berliner Morgenpost BUF – Bild und Funk BZ – Berliner Zeitung CDA – Critical Discourse Analysis DAS – Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt EPD – epd-medien FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ-MAG – FAZ-Magazin FK – Funk-Korrespondenz FR – Frankfurter Rundschau FUR – Funk-Report HAB – Hamburger Abendblatt HAZ – Hannoversche Allgemeine Zeitung HMP – Hamburger Morgenpost HR – Hessischer Rundfunk KN – Katholische Nachrichten KSA – Kölner Stadtanzeiger LN – Lübecker Nachrichten MAZ – Münchner Abendzeitung MM – Münchner Merkur N.N. – Nomen nudum (unbekannter Titel)
ND – Neues Deutschland NRZ – Neue Ruhr-Zeitung NZZ – Neue Züricher Zeitung ORF – Österreichischer Rundfunk RM – Rheinischer Merkur SDR – Süddeutscher Rundfunk SPIEGEL – Der Spiegel SR – Saarländischer Rundfunk STN – Stuttgarter Nachrichten STERN-SH – Stern Sonderheft STERN-E – Stern Extra: Das war ’98 STZ – Stuttgarter Zeitung SWF – Südwestfunk SZ – Süddeutsche Zeitung TAZ – die tageszeitung TS – Der Tagesspiegel TVH – TV Hören & Sehen WAS – Welt am Sonntag WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung WDR – Westdeutscher Rundfunk WELT – Die Welt WR – Westfälische Rundschau WOCHE – Die Woche WP – Wochenpost WW – Die Weltwoche WR – Westfälische Rundschau ZEIT – Die Zeit ZDF – Zweites Deutsches Fernsehen
ABBILDUNGEN
UND
TABELLEN
Abbildung 1 – Die drei Dimensionen eines kommunikativen Ereignisses (nach Fairclough 1995). S. 56. Abbildung 2 – Der zeitliche Verlauf von Diskursen (nach Siegfried Jäger 1999). S. 87. Abbildung 3 – Einfaches Argumentationsschema (nach Toulmin 1975). S. 105. Abbildung 4 – Vermittelte Kommunikation (nach Shannon/Weaver 1976). S. 136. Abbildung 5 – Feldschema der Massenkommunikation (nach Maletzke 1963). S. 138. Abbildung 6 – Vorgang der Transkription (nach Ludwig Jäger 2002b). S. 156. Abbildung 7 – Infra- und intermedialer Selektionsprozess (eigene Abbildung). S. 158. Abbildung 8 – Modell gesellschaftlicher Themenstrukturierungsprozesse (nach Eichhorn 1996). S. 187. Abbildung 9 – Matrix der diskursiven Themengenerierung (eigene Abbildung). S. 190. Abbildung 10 – Bezugsfeld des Geltungsanspruchs öffentlicher Meinung (eigene Abbildung). S. 196. Abbildung 11 – Struktur normativer Argumente (nach Bayer 1999). S. 216. Abbildung 12 – Dreidimensionales Modell eines Diskurses der Fernsehkritik (eigene Abbildung). S. 248. Tabelle 1 – Diskursereignisse. S. 242. Tabelle 2 – Untersuchungskorpus. S. 243. Tabelle 3 – Verwendung des Wortstamms |moral| zwischen 1960 und 1982. S. 273. Tabelle 4 – Verwendung des Wortstamms |privat| zwischen 1986 und 1994. S. 303. Tabelle 5 – Nennung von Titeln in der Talkshow-Debatte. S. 320. Tabelle 6 – Häufigkeit von Wortstämmen. S. 328. Tabelle 7 – Komposita mit dem Wortstamm |gesellschaft|. S. 336. Tabelle 8 – Vorkommenshäufigkeit wichtiger Wortstämme. S. 405.
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SENDUNGEN
UND
ARTIKEL
E1 DIE SENDUNG DER LYSISTRATA WELT SPIEGEL SPIEGEL STERN STERN
12.12.1960 51/1960 51/1960 52/1960 1/1961
Um die Sendung der Sendung Ehestreik gegen Atomtod Verpulvert Die Liebe ist kein Fernsehspiel Jugendliche Naive
DIE SENDUNG DER LYSISTRATA (ARD), 17. 01.1961 WELT
18.01.1961
FAZ SPIEGEL SPIEGEL ZEIT HÖRZU
19.01.1961 5/1961 5/1961 5/1961 6/1961
Der vieldiskutierte Fernsehfilm Kortners jagt keinen auf die Barrikaden Lysistrata Na sowas Münster aus Stein Wessen Schamgefühl wird verletzt? Das Wort hat: Der Kritiker
E2 DAS MILLIONENSPIEL DAS MILLIONENSPIEL (ARD), 18.10.1970 HMP BILD FAZ ZEIT BILD TS HÖRZU SPIEGEL HÖRZU STERN
19.10.1970 20.10.1970 20.10.1970 42/1970 29.10.1970 29.10.1970 42/1970 44/1970 45/1970 45/1970
Der Tod mit Kümmel und Korn »Ich stelle mich den Killern« Spiel mit der Brutalität Einer wird gejagt Die harte Show wird kommen Vor dem Fernsehschirm Jagt ihn – er ist ein Mensch Vor der Flinte »Ich wär ein guter Killer« »Toi, toi, toi, den Killern«
E3 WÜNSCH DIR WAS WÜNSCH DIR WAS (ZDF), 07.11.1970 BAZ KSA STN SZ HAB LN WELT
09.11.1970 09.11.1970 09.11.1970 09.11.1970 10.11.1970 10.11.1970 10.11.1970
›Wünsch Dir Was‹ ›Wünsch Dir Was‹ Kritik: ›Wünsch Dir Was‹ Show-Vergnügen für Kritische ›Wünsch Dir Was‹ ›Wünsch Dir Was‹ Oben fast ohne – Für und Wider um ›Wünsch Dir was‹
396 | ANHANG WR MM NRZ
12.11.1970 13.11.1970 13.11.1970 14.11.1970 50/1970
TZ
STERN
Wirbel um Familienshow geht weiter Proteste gegen Dietmar Schönherr Lichttest über Schönherr Familienprogramm »Ihr seid alle Porno-Säue« WÜNSCH DIR WAS (ZDF), 27.03.1971
BILD SZ MAZ BM KSA HAB FUNKUHR HÖRZU SPIEGEL DAS
29.03.1971 29.03.1971 30.03.1971 30.03.1971 30.03.1971 02.04.1971 17.04.1971 17.04.1971 22/1972 17.12.1972
Das war grausam, Herr Schönherr! Ungewohnte Unterhaltung »Es konnte nichts schiefgehen« »Unverantwortliches Spiel mit dem Tod« Mit der Schau ging viel Sympathie baden »Uns kann nicht alles gelingen« Haben Sie kein Herz, Herr Schönherr? Wer rettet Dietmar Schönherr? »Wünsch dir was anderes« Mit Schock, aber ohne Rudolf Schock
E4 DIE LETZTE STATION SZ
02.10.1971
Ist es richtig, den Tod zu filmen? DIE LETZTE STATION (ARD), 03.10.1971
HAB MAZ FR STZ SZ RM SPIEGEL FUNKUHR
04.10.1971 05.10.1971 05.10.1971 05.10.1971 05.10.1971 42/1971 44/1971 42/1972
Am Wochenende gesehen: ›Die letzte Station‹ TV-Kritik: ›Die letzte Station‹ Mißglückt Kritisch gesehen: ›Die letzte Station‹ Das Streiflicht Funk-Echo Tun tun wir es Warnung
E5 NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE GESELLSCHAFT IN DER ER LEBT SPIEGEL
5/1972
Ohne Maske und Tarnkappe
NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN... (WDR), 31.01.1972 SPIEGEL
2/1973
Bayerns Abfall
NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN... (ARD), 15.01.1973 BILD HMP KN MAZ SZ WELT FAZ HÖRZU
17.01.1973 17.01.1973 17.01.1973 17.01.1973 17.01.1973 17.01.1973 18.01.1973 5/1973
TV-Zuschauer: »Warum machen Sie sich für die Homos stark?« »Die Homos sollen in der Ecke bleiben und nicht herauskommen« Skandal im ersten Kanal Sittenwächter im Amt Die Verkrüppelung einer Minderheit Der Toleranz nicht gedient Toleranz Enthüllung eines Tabus
SENDUNGEN UND ARTIKEL | 397
E6 DAS PODIUM: »HAUSFRAU, VERHEIRATET, 7 KINDER, SUCHT BEGEGNUNGEN IN KÖRPER, GEIST UND SEELE« STERN N.N. SZ
33/1973 16.08.1973 16.08.1973
Liebe mit geballten Fäusten Seitensprünge einer deutschen Hausfrau Der Ausbruch einer Hausfrau
DAS PODIUM: »HAUSFRAU, VERHEIRATET, 7 KINDER…« (ARD), 16.08.1973 BILD
17.08.1973
HMP
17.08.1973 17.08.1973 18.08.1973 18.08.1973 34/1973 36/1973
TZ
N.N. STZ SPIEGEL HÖRZU
Das Telefon klingelte Sturm bei der Frau mit den vielen Liebhabern »Die fördern ja den Seitensprung« Goetze Zitat Bisher kein Proteststurm Kritisch gesehen: ›Das Podium‹ Sieh mein Kätzchen Ein Fehltritt des WDR
E7 SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN SPIEGEL HÖRZU HÖRZU STERN
41/1974 41/1974 42/1974 42/1974
Ganze Menge Tabus Ich such mir einen Mann – per Fernsehen Kandidatin verlor den Mut Nach der Show ins Ehebett
SPÄTERE HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN (WDR), monatlich ab 13.10.1974 KSA SPIEGEL HÖRZU
17.10.1974 43/1974 44/1974
Vor allem im Ausland Echo für Partner Die telegene Brautschau Jetzt haben Sie die Qual der Wahl
E8 ARENA: DIE NEUEN NACKTEN – EINE NEUE ERKENNTNIS? ARENA: DIE NEUEN NACKTEN – EINE NEUE ERKENNTNIS? (ARD), 07.09.1982 BMP FAZ SZ WELT EPD
BAS WAS SPIEGEL HÖRZU MM BUF
09.09.1982 09.09.1982 09.09.1982 09.09.1982 11.09.1982 12.09.1982 12.09.1982 37/1982 38/1982 16.09.1982 08.10.1982
Fernseh-Skandal in Berlin erregt viele Zuschauer Entblößt Die nackte Wahrheit Enthüllungen statt Erkenntnisse Keine Ratgeber-Sendung Skandal um Nackte im TV Eine junge Frau sprach aus, was die schweigende Mehrheit denkt Knorriger Baum Wie man sich Schnupfen holt »Widerwärtige« Nackte Eine Frau liest dem Fernsehen die Leviten
398 | ANHANG
E9 Bloßstellungsshows: DONNERLIPPCHEN / 4 GEGEN WILLI TVH
5/1986
Donnerlippchen
DONNERLIPPCHEN (ARD), zweimonatlich ab 04.02.1986 HÖRZU SPIEGEL DAS
8/1986 13/1986 15.05.1986
Jux geht dem Jürgen leicht von der Lippe Kesser Lippe ›Donnerlippchen‹: Abschalten
4 GEGEN WILLI (ARD), sechswöchentlich ab 11.10.1986 DAS QUICK FAZ TSP HÖRZU HÖRZU TVH SPIEGEL BMP ZEIT SZ ZEIT STERN ZEIT FAZ STERN-SH
14.12.1986 52/1986 25.02.1987 07.03.1987 14/1987 15/1987 18.04.1987 22/1987 09.08.1987 33/1987 30.09.1987 42/1987 2/1988 18/1988 24.10.1988 1/1989
Die Brüder Lustig Am Rand des guten Geschmacks Der Kandidat als öffentliches Opfer ARD-Programmrat kritisiert Show ›4 gegen Willi‹ Haben Sie ausgesorgt, Herr Elstner? Show – auf Kosten der Kandidaten? Geht Mike Krüger bei seinen Späßen zu weit? Inferno der guten Laune Das dreiste Dreier-Pack Vorwärts in die Showdiktatur Rettung in der Not oder wir wünschen gute Unterhaltung Liebe Nachbarn, ganz enthemmt Schirm ohne Charme Das Prinzip Langeweile Alle Zähne gezogen Schirmherren
E10 Erotikformate STZ
12.02.1987
Nackte Tatsachen
EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE (RTL), etwa monatlich ab 24.02.1987 STERN-TV 11/1987
Frankreich peept SEXY FOLLIES (RTL), 3 Folgen, Juli/August 1987 SÉRIE ROSÈ (RTL), ab 05.01.1988
BMP
04.02.1988
Sind die Nackten im TV noch aufzuhalten?
MÄNNERMAGAZIN M (RTL), wöchentlich ab 09.04.1988 SEXY FOLLIES (RTL), zweiwöchentlich (für SÉRIE ROSÈ) ab 24.05.1988 ‚Sexy Night’ (Tele5), 14.07. und 18.08.1988 SPIEGEL STERN-TV STERN SZ SPIEGEL STERN STERN-TV SPIEGEL STZ BMP
33/1988 33/1988 35/1988 22.02.1989 30/1989 31/1989 42/1989 51/1989 16.02.1990 04.11.1990
Hochbetrieb im Lottertal Öffentlich-Rechtliche Schamgrenze In der Glotze nachts um halb eins Entwürdigende Darstellung Runter mit dem Keuschheitsgürtel Sex im Fernsehen Make-up fürs Männermagazin Professor Unrats letztes Gefecht Hausbackene Frivolitäten Sex im Fernsehen: Frust statt Lust?
SENDUNGEN UND ARTIKEL | 399
E11 TUTTI FRUTTI SZ BMP
20.01.1990 21.01.1990
Brust raus, Nabel frei TV-Show zum Mitstrippen
TUTTI FRUTTI (RTL), wöchentlich ab 21.01.1990
HÖRZU
23.01.1990 23.01.1990 23.01.1990 4/1990 16.02.1990 20.02.1990 7-8/1990 8/1990 9/1990 9/1990 06.03.1990 23.03.1990 23/1990
STERN SPIEGEL SPIEGEL SPIEGEL
26/1990 42/1990 52/1990 19/1992
TAZ
WELT SZ FK WAZ TSP RUNDY QUICK FUNKUHR FUR BILD TAZ
Enttäuschend für Voyeure Knallbunt und doch steril Null Punkte Diskussion um RTLplus-Show ›Tutti Frutti‹ ›Tutti Frutti‹ ist unzumutbar Die private Unterhose ›Tutti Frutti‹ oder Busen statt Bußtag »Da fallen einem die Augen aus dem Kopf« Ist ›Tutti Frutti‹ eine Peep-Show? Wer kontrolliert ›Tutti Frutti‹? RTL-Mädchen gut, aber begreifen Sie Balder? Kampf dem »Tittensender« »Mit einigen Mädels würde ich mich freiwillig nicht an einen Tisch setzen« Der Herr der Möpse »Der Wurm muß schmecken« Aus der Po-Ebene Verbrechen ohne Opfer
E 12 Confrontainment Shows: EXPLOSIV – DER HEISSE STUHL / ULRICH MEYER: EINSPRUCH! EXPLOSIV – DER HEISSE STUHL (RTL), 10.12.1991 TAZ TAZ TAZ
SPIEGEL STERN TAZ
STERN STERN SPIEGEL
14.12.1991 14.12.1991 18.12.1991 51/1991 52/1991 18.02.1992 11/1992 19/1992 48/1992
Outing als Verzweiflungsschrei Hape Kerkeling und sein Priester Outen ja, aber nicht hier und heute Edle Absicht Auf Teufel komm raus Out wegen Outing Out und vorbei Stil ohne Styling »Bis es euch gefällt«
ULRICH MEYER: EINSPRUCH! (Sat.1), 14.09.1993 HMP TAZ
SPIEGEL SZ WOCHE WP FR HÖRZU ND ZEIT
16.09.1993 18.09.1993 38/1993 21.09.1993 39/1993 39/1993 27.09.1993 42/1993 13.11.1993 43/1994
TV-Schlamm gegen GAL-Mann Doppelter Missbrauch Infotainment brutal Meyer und die gute Tradition Der Augenzeuge Quote kostet Kopf »Hinrichtungsjournalismus der modernen Art« Der Fall Ulrich Meier …und der Moderator sorgt für die Gleichheit der Waffen Sat.1 und Tango auf dem Strich
400 | ANHANG
E13 Reality-TV POLIZEIREPORT DEUTSCHLAND (Tele5), wöchentlich ab 12.01.1992 STERN-TV 3/1992
Mords-Geschichten NOTRUF (RTL), wöchentlich ab 06.02.1992
TSP
04.05.1992
Zuschauer fesseln und bewegen
AUF LEBEN UND TOD (RTL), 4 Folgen, wöchentlich ab 06.05.1992 05.06.1992 09.06.1992 11.06.1992 20.06.1992 20.06.1992 26/1992 27/1992 27/1992 10.08.1992 33/1992 15.09.1992
TAZ
SZ NZZ STZ WELT SPIEGEL DAS STERN ND DAS TSP
Wahres Leben frisch aus der Kiste Wenn Nachrichten zu langweilig werden Neuer Journalismus? Sterben – ›live‹ vor der Fernsehkamera? Im Schutze der Mattscheibe Luschen im Einsatz Live aus der Blutlache Mords-Gaudi Kaltschnäuziges Geschäft mit dem Entsetzen Der letzte Moment als Medienkitzel »Garantiert echt«
AUGENZEUGEN-VIDEO (RTL), 2 Folgen, 15. und 22.09.1992 FREITAG ND
41/1992 06.10.1992 23.10.1992
TAZ
Echte Bilder Reality-TV: Hart am Leben vorbei »Ich sehe mich als Journalisten« RETTER (Sat.1), Pilotsendung, 27.10.1992
FR
19.11.1992
Reality-TV oder die Realität als Lüge
K-VERBRECHEN IM FADENKREUZ (Sat.1), zweiwöchentlich ab 30.11.1992 RETTER (Sat.1), zweiwöchentlich ab 21.12.1992 STERN STERN-TV STERN-TV SPIEGEL
2/1993 2/1993 3/1993 4/1993
Macht Fernsehen die Jugend brutal? Es ist so einfach Unglücks-Raben Letzte Konsequenz SK 15 (RTL), wöchentlich ab 16.02.1992
NZZ FR FR STZ FR SPIEGEL WELT ZEIT DAS FREITAG ZEIT TSP STERN-TV
18.02.1993 23.02.1993 23.02.1993 24.02.1993 27.02.1993 9/1993 02.03.1993 10/1993 11/1993 11/1993 12/1993 20.03.1993 14/1993
Grund zur Empörung? Neue Rechtsprobleme durch Reality-TV Politiker und Verbände fordern Abschaffung von Reality-TV Dabeisein ist alles Umstrittenes Reality-TV weiterhin im Visier der Politiker »Sterben auf dem Bildschirm« Privatsender und Politiker streiten um Reality-TV Gewalt ist längst da Reality-TV verbieten? Heuchelei um Katastrophen-Bilder Fernsehen auf Leben und Tod Die Grenzen der Fernsehwirklichkeit Gaffer-TV
SENDUNGEN UND ARTIKEL | 401 FAZ-MAG 29.04.1993 SZ TAZ
SPIEGEL SPIEGEL STERN
12.06.1993 19.08.1993 34/1993 5/1994 11/1994
Warum wollen Sie die Bürger vor Reality-TV schützen, Herr Eylmann? Leid ausbeuten Retter in der Fernsehnot Oma springt vom Dach Nachts, wenn Ninja kommt Öffentlicher Striptease
E14 Beziehungsshows: TRAUMHOCHZEIT / VERZEIH MIR TRAUMHOCHZEIT (RTL), wöchentlich ab 19.01.1992 TAZ
SZ HÖRZU SPIEGEL TSP STERN
06.02.1992 08.02.1992 7/1992 9/1992 19.03.1992 18/1992
TV-Voyerismus Schatz-Suche an der TV-Börse Darf man so mit der Liebe umgehen? Hormonelles Irresein Die Freud am Leid Die Liebe ist das Leben
VERZEIH MIR (RTL), wöchentlich ab 15.12.1992 SZ FAZ SPIEGEL SPIEGEL Hörzu ZEIT STZ DAS TAZ
STERN DAS FOCUS DAS SPIEGEL
17.12.1992 17.12.1992 2/1993 2/1993 6/1993 6/1993 06.02.1993 9/1993 27.04.1993 18/1993 35/1993 35/1993 36/1993 15/1994
Reinkommen und heulen Eine Orchidee namens Inge Die schamlose Gesellschaft: »Ein Volk im Schweinestall« Die schamlose Gesellschaft: »Das Gewissen hat versagt« Und wenn Ihnen die Tränen kommen… Zwei plus Linda gleich lebenslang Der Lohn der Tränen Komm zur Beichte, Luise Spitzenumsatz mit RTL-Rüschen Der Mann hinter Linda Ein Streifzug: Intim Im Rausch des Bekennens Softpornos für die Seele Fernsehreligion
402 | ANHANG
E15 DAS WAHRE LEBEN SPIEGEL HAZ TAZ
BZ STERN TSP TSP TSP FAZ HAB RTV
MAZ SZ TAZ
15/1994 20.04.1994 22.04.1994 28.05.1994 37/1994 08.09.1994 08.09.1994 08.09.1994 09.09.1994 10.09.1994 37/1994 17.09.1994 17.09.1994 17.09.1994
Ware Leben Drei Monate im Schaufenster wohnen Der Kreislauf der Telenauten Niemand muß lila Haare haben oder Tattoos ›Das wahre Leben‹ Alles passiert, und alles ist echt Einer mit Drang in die Öffentlichkeit Beim Seelenstriptease an die Karriere denken Pfirsich aus der Dose Die erste Reality-WG Spannend. Und ziemlich indiskret So echt kann nur das Leben sein Sieben Exoten gegen den Rest der Welt Echte Menschen, echte Emotionen
DAS WAHRE LEBEN (Premiere), wöchentlich ab 17.09.1994 BMP TAZ EPD
NZZ SZ ZEIT
19.09.1994 19.09.1994 15.10.1994 03.11.1994 07.11.1994 49/1994
Leben als Videoclip Yuppie-TV Ferrari am Taxistand »Es wird Krach mit Ralph geben« Zappenduster Schwindel
E16 Tägliche Talkshows HANS MEISER (RTL), werktags ab 14.09.1992 ILONA CHRISTEN (RTL), werktags ab 13.09.1993 FLIEGE (ARD), werktags ab 28.02.1994 ARABELLA (Pro7), werktags ab 06.06.1994 BÄRBEL SCHÄFER (RTL), werktags ab 04.09.1995 KERNER (Sat.1), werktags ab 08.01.1996 (bis 14.07.1998) VERA AM MITTAG (Sat.1), werktags ab 22.01.1996 SPIEGEL STZ ZEIT WOCHE TAZ
KSA SPIEGEL SZ FAZ BMP ZEIT
5/1996 20.02.1996 10/1996 10/1996 02.03.1996 23. 03.1996 25.03.1996 19.06.1996 20.08.1996 08.09.1996 42/1996
»Es wird langsam knapp« Die Scham ist wohl vorbei Pinkel-Stile Lob der Talkshow »…weil das doch menschlich ist« Die Seelenstripper Talk und Teufel »Da machen nicht nur Exhibitionisten mit« In der Endlosschleife Das Ende jeder Peinlichkeit Die Barfrau hetzt die Mutti auf SONJA (Sat.1), werktags ab 13.01.1997
BMP TSP FR NZZ SPIEGEL SPIEGEL SZ
16.02.1997 08.05.1997 16.05.1997 20.06.1997 29/1997 29/1997 20.08.1997
Seelen-Strip auf allen Kanälen Trost und Bestätigung Toleranzgrenzen werden immer wieder überschritten Christen, Fliege, Meiser & Co. Tyrannei der schwatzenden Intimität »Der Tanz ums goldene Selbst« »Eine Art psychischer Vergewaltigung«
SENDUNGEN UND ARTIKEL | 403 TSP DAS DAS DAS
19.09.1997 39/1997 39/1997 8/1998
Gutmenschen in Talkshowgewittern »Ihr macht mich krank« »Bin ich nicht toll?« Schau mir in die Augen, Dicke!
JÖRG PILAWA (Sat.1), werktags ab 19.01.1998 ANDREAS TÜRCK (Pro7), werktags ab 25.02.1998 STZ KSA SZ SPIEGEL STZ NZZ SZ WOCHE TAZ
TSP FAZ STERN SZ SZ
23.04.1998 25.04.1998 25.04.1998 18/1998 29.04.1998 08.05.1998 09.05.1998 10/1998 15.05.1998 01.07.1998 02.07.1998 32/1998 06.08.1998 14.09.1998
Die Welt in ihrer trivialsten Form Privat-TV hält Kritik am Talk für berechtigt »Wir reden gerne offen« Oben ohne Sittenverfall am Nachmittag? Der tägliche Seelen-Striptease Moral am Mittag Arabelladonner No sex, please! »FKK find ich widerlich« Du sollst nicht »Ich will nicht Messias sein« Das kurze Glück des Einsamen Alle motzen, außer Mama
BIRTE KARALUS (RTL), werktags ab 14.09.1998 SZ STZ STERN STERN-E
10.10.1998 31.10.1998 47/1998 07.12.1998
Birte muß eine Zicke sein Die Fans sind eigentlich konservativ Geht’s noch schlimmer? Ausziehen, Ausziehen!
404 | ANHANG
E17 BIG BROTHER (1. Staffel) SPIEGEL STERN STERN SPIEGEL FAZ TSP HÖRZU BZ SZ WELT TSP WELT STZ
44/1999 46/1999 3/2000 3/2000 28.01.2000 04.02.2000 8/2000 28.02.2000 28.02.2000 29.02.2000 29.02.2000 01.03.2000 01.03.2000
Big Brothers kleiner Bruder Holland in Not Ab in den Container »Das ist verantwortungslos« Ablass ›Big Brother‹ kommt Alles unter Kontrolle? Die Neugier am Nichts Die Wonnen des Dabeiseins Macht der Schamlosigkeit Mit dem TV-Experiment wird das Fernsehen noch voyeuristischer Willkommen, großer Bruder Was ist noch privat
BIG BROTHER (RTL2), 1. Staffel, täglich 01.03. bis 09.06.2000 BMP TSP WW WELT WELT TAZ
WELT ZEIT SPIEGEL SPIEGEL TAZ
SZ FREITAG FAZ STERN SZ ZEIT BMP
02.03.2000 03.03.2000 10/2000 13.03.2000 14.03.2000 16.03.2000 16.03.2000 11/2000 11/2000 11/2000 23.03.2000 28.03.2000 31.03.2000 11.04.2000 13.04.2000 27.04.2000 18/2000 28.04.2000
Menschenzoo Der Alltag ist die Sensation Fernsehen heute – eine Heimat des Stupiden Wer wird gewinnen Proleten brauchen keine Mittler Drei Skinheads Entzauberung der Welt Die Eingeschlossenen »Richtig ausquetschen« »Methoden der Gehirnwäsche« Zu viel Menschenwürde Die Kamera liebt dich You are watching ›Big Brother‹ Kerstin und die Kulturkritik ›Big Brother‹ Du bist nicht allein Versuch über die Intimität Wie ›Big Brother‹ zum Selbstgänger wurde
ZLATKOS WELT (RTL2), wöchentlich 29.04. bis 3.06.2000 FAZ SPIEGEL SPIEGEL BZ BMP TAZ
FAZ SZ SPIEGEL
10.05.2000 23/2000 23/2000 06.06.2000 09.06.2000 09.06.2000 10.06.2000 13.06.2000 39/2000
Du bist nicht allein Der totale Spaß »Voyeurismus wie im alten Rom« Die Psychogladiatoren Das Leben, eine Show Die Tyrannei der Intimität Für Jürgen und John Du bist nicht allein Big Schotter
WORTSTÄMME
4 1
5 1
1 3
1 1 1
9
2 1 1
2 4
1 20 3 1 2 10 11 33 4 1 4 11 18 6
2 1 2 8 1 1 14 1 14 3 6 2 39 5 3 38 72 16 20 28
9 4
1 3 4 3 1 2 2
|voyeur|
1
|tabu|
|sitt|
2
|privatheit|
|pivat|
|öffentlich|
|moral|
|intim|
|gesellschaft|
1 18 2 7 1 4 3 6 1 5 8 3 1 1 1 19 6 3 4 3 3 7 2 2 3 4 2 6 2 3 1 1 1 2 2 10 1 7 3 4 6 1 8 11 4 1 2 6 3 5 33 3 3 24 3 28 32 4 9 42 17 9 29 5 2 6 7 2 5 34 6 52 63 27 66 16 16 41 56 18 53
|scham|
Ereignis E1 / 11 Artikel E2 / 10 Artikel E3 / 22 Artikel E4 / 9 Artikel E5 / 10 Artikel E6 / 10 Artikel E7 / 7 Artikel E8 / 11 Artikel E9 / 20 Artikel E10 / 13 Artikel E11 / 19 Artikel E12 / 19 Artikel E13 / 40 Artikel E14 / 20 Artikel E15 / 20 Artikel E16 / 40 Artikel E17 / 40 Artikel E1–E17 / 321 Artikel
|geheim|
|exhibition|
Wortstamm
|privat-|/|intimsphär|
Tabelle 8: Vorkommenshäufigkeit wichtiger Wortstämme
1
5 6 2 5 5 2 7 36 8 9 3 5 29 12 5 47
73 44 235 163 138 269 169 37 24 158 66 80 123
Die Tabelle zeigt eine Kurzübersicht, in der das Vorkommen der für die Analyse wichtigsten Begriffe pro Artikel-Set eines Ereignisses dokumentiert ist. Dabei wurden Seme wie |öffentlich|, |privat| oder |gesellschaft| um Bedeutungsvarianten bereinigt, die bspw. für einen TV-Sender oder eine juristische Gesellschaft stehen.
ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)
Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-873-5
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Transpositionen des Televisiven Fernsehen in Literatur und Film Dezember 2008, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-938-1
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts
Alma-Elisa Kittner Visuelle Autobiographien Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager
Dezember 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-420-1
Dezember 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-872-8
Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild
Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.) 9/11 als kulturelle Zäsur Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien
Dezember 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-888-9
Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls
Dezember 2008, ca. 294 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-8376-1016-1
Dezember 2008, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9
Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur
Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts
Dezember 2008, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-987-9
Dezember 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-803-2
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Ulrike Haß, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution
York Kautt Image Zur Genealogie eines Kommunikationscodes der Massenmedien
Dezember 2008, ca. 160 Seiten, kart., ca. 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-907-7
November 2008, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-826-1
Christian Pundt Medien und Diskurs Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens
Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hg.) Kulturtechnik Entwerfen Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science
November 2008, 408 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-994-7
Bettina Lockemann Das Fremde sehen Der europäische Blick auf Japan in der künstlerischen Dokumentarfotografie November 2008, 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-8376-1040-6
Annette Bitsch Diskrete Gespenster Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit
November 2008, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-901-5
Susanne von Falkenhausen KugelbauVisionen Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter Oktober 2008, 214 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-945-9
Ines Kappert Der Mann in der Krise oder: Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur
November 2008, 552 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN: 978-3-89942-958-9
Oktober 2008, 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-897-1
Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hg.) Stimm-Welten Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven
Ramón Reichert Amateure im Netz Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0
November 2008, 232 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-904-6
Oktober 2008, 246 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-861-2
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Dorothee Kimmich, Wolfgang Matzat (Hg.) Der gepflegte Umgang Interkulturelle Aspekte der Höflichkeit in Literatur und Sprache Oktober 2008, 226 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-820-9
Uwe Seifert, Jin Hyun Kim, Anthony Moore (eds.) Paradoxes of Interactivity Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations Oktober 2008, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-842-1
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) StreitKulturen Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart September 2008, 236 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-919-0
Henri Schoenmakers, Stefan Bläske, Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Theater und Medien/ Theatre and the Media Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme September 2008, 584 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN: 978-3-8376-1064-2
Michael Schetsche, Martin Engelbrecht (Hg.) Von Menschen und Außerirdischen Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft August 2008, 286 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-855-1
Geert Lovink Zero Comments Elemente einer kritischen Internetkultur August 2008, 332 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9
Christa Sommerer, Laurent Mignonneau, Dorothée King (eds.) Interface Cultures Artistic Aspects of Interaction August 2008, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-884-1
Simone Loleit Wahrheit, Lüge, Fiktion: Das Bad in der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts Juli 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-666-3
Antonia Wunderlich Der Philosoph im Museum Die Ausstellung »Les Immatériaux« von Jean François Lyotard Juli 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-937-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.
2
) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240