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German Pages 276 Year 2015
Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.) Ernste Spiele
Materialitäten | Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 6
2008-04-29 14-21-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033d177430715420|(S.
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Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.)
Ernste Spiele Zur politischen Soziologie des Fußballs
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Gabriele Klein, Michael Meuser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-977-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Fußball, Politik, Vergemeinschaftung. Zur Einführung GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER Die Gemeinschaft auf dem Platz und die Gemeinschaften ULRICH BIELEFELD Globalisierung, Lokalisierung, (Re-)Nationalisierung. Fußball als lokales Ereignis, globalisierte Ware und Bilderwelt GABRIELE KLEIN Imagined Diversities. Migrantenmilieus in der Fußballwelt DARIUŠ ZIFONUN
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Zinedine Zidane. Dribbelkunst sub- und transnationaler Zugehörigkeit gegen nationalstaatliche Einheitsverteidigung NIKOLA TIETZE
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Fußball als Figurationsgeschehen. Über performative Gemeinschaften in modernen Gesellschaften THOMAS ALKEMEYER
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It’s a Men’s World. Ernste Spiele männlicher Vergemeinschaftung MICHAEL MEUSER
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Fußball, Spiel und Kampf. Zur politischen Dimension des Hooliganismus MARTINA ALTHOFF/JAN NIJBOER Vom ‚Bolzplatz‘ zum ‚Fußballtempel‘. Was sagt die Architektur der neuen Fußballstadien über die Gesellschaft der Gegenwart aus? MARKUS SCHROER Hidden Games. Vergemeinschaftungs- und Fragmentierungsprozesse im Profifußball DORIS BLUTNER/UWE WILKESMANN Die gesellschaftliche Bedeutung von Fußballbegeisterung. Vergemeinschaftung und Sozialkapital-Bildung auf dem dem Prüfstand MIKE S. SCHÄFER/JOCHEN ROOSE
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„Wir sind mitreißend“. Von der Schwierigkeit, Vergemeinschaftung zu fixieren MORITZ BALLENSIEFEN/JÖRG-UWE NIELAND
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Bewegte Körper, berührte Seelen. Versuch über Transzendenz und Gemeinsinn im Fußball ANDREAS HÜTIG
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Autorinnen und Autoren
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Fußball, Politik, Vergemeinschaftung. Zur Einführung GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER
Großereignisse wie Weltmeisterschaften und kontinentale Meisterschaften wie Europameisterschaften oder der African Cup of Nations demonstrieren in verdichteter Form, dass in Europa, in Südamerika, in einigen afrikanischen Ländern und immer mehr auch in Asien kein anderer Sport in gleichem Maße wie der Fußball geeignet zu sein scheint, das Verhältnis des Sports zu anderen gesellschaftlichen Feldern wie Wirtschaft, Medien, Kultur und Politik zu analysieren. Fußball ist ein Mikroskop der komplexen Verflechtungen des Sozialen – und dies auf globaler, transnationaler Ebene ebenso wie im lokalen Vereins-, Freizeit- oder Schulsport. Fußball veranschaulicht das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Makro- und Mikrostrukturen, er ist System und Situation, Struktur und Handlung, Repräsentation und Performanz – und gilt aufgrund seines geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Facettenreichtums manchen als „Realitätsmodell“. 1 Aber nicht nur als Fixierbild des Realen sondern auch als Metapher ist der Fußball beliebt wie kein anderer Sport: Ob Politiker, Journalisten, Wirtschaftsbosse, Literaten oder Wissenschaftler, sie alle benutzen gern die Begriffe des Fußballs, um Handeln von und in Gruppen zu markieren und Gemeinschaftssinn zu evozieren. Zugleich ist der Wettkampf auf dem Fußballfeld ein Brennglas symbolischer (Macht-)Kämpfe vielfältiger Art: Als weltweit populärste Sportart ist Fußball für global agierende Wirtschaftsunternehmen als Marketinginstrument hochinteressant geworden; Künstler und Popstars sind Stammgäste auf Fußballplätzen, und Vertreter der politischen Klasse nutzen den Fußball im Kampf um die Gunst der Wähler und setzen medienwirksam ihre Verbundenheit mit dem Bangen und Hoffen der Fußballfans in Szene. Und so wollen die Auftritte in den großen Fußballarenen der Welt und auf den Fußballplätzen 1
Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004. 7
GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER
der Republik oder die Parteinahme für eine Mannschaft von den gesellschaftlichen Machteliten und den politischen Funktionsträgern strategisch gut überlegt sein. In diesen symbolischen Aufladungen wird Fußball zu einem ernsten Spiel, in dem stellvertretend zentrale gesellschaftliche Themen und Konflikte ihren Ausdruck finden. Fußball ist vielleicht weniger Realitätsmodell als Realität, weniger Darstellung als Aufführung, reales Spiel und spielerische Realität zugleich. Als solche ist Fußball auch ein geeignetes Medium und ein geeigneter Ort sozialer In- und Exklusion: Er gilt vielen als ein probates Mittel gesellschaftlicher Integration, aber Fußball ist auch Kristallisationspunkt sozialer Kämpfe, Austragungsort von Gewalt und Präsentationsraum für neofaschistische Gruppen. Während eines Fußballspiels können – zumindest temporär – soziale Statusunterschiede als unbedeutend erfahren werden, Fußball kann aber auch Rassismus, Nationalismus und Sexismus provozieren. Erfolgreich bestrittene Spiele eignen sich als Symbole des Aufbegehrens gegen politische Marginalisierung, wenn z.B. afrikanische Mannschaften europäische besiegen, aber auch als symbolische Bekräftigung von Überlegenheit oder sie bieten Gelegenheiten zur Inszenierung und (Re-)Aktualisierung sozialer und kultureller Differenzen, sei es im Vergleich von Nationen (Holland gegen Deutschland, England gegen Frankreich), sei es im Vergleich von Stadtteilen, wobei der eine Verein oft für das ‚Establishment‘, der andere für die ‚Underdogs‘ steht (in München Bayern vs. 1860, in Hamburg HSV vs. St. Pauli). Von gesellschaftlich benachteiligten und marginalisierten Gruppen kann Fußball als Mittel von ‚Empowerment‘ genutzt werden, z.B. von ethnischen Fußballvereinen oder wie der Frauenfußball in manchen geschlechterpädagogischen Konzepten. Wenn sich im Fußball einerseits deutliche Muster sozialer In- und Exklusion zeigen, so gilt er andererseits als das Medium von Gemeinschaftsbildung: Gemeinschaftsgefühle und Gemeinschaftssinn evoziert der Fußball wie kaum ein anderer Sport und so legen die Eindrücke, die gerade Großveranstaltungen des Fußballs in verdichteter Form vermitteln, es nahe, Fußball unter der Perspektive der Vergemeinschaftung zu betrachten. Diese Perspektive entwickeln die in diesem Band versammelten Texte. Im Fokus steht dabei weniger die Frage, was eine Gemeinschaft ist, sondern wie sie sich bildet, über welche rituellen, medialen und diskursiven Praktiken sie sich erhält und welche soziale Funktion sie ausfüllt – vom lokalen Fanclub eines Vereins über die im Kampf miteinander verbundenen Hooligans gegnerischer Vereine bis zu den imaginären Gemeinschaften der global zerstreuten und medial miteinander verbundenen Fußballfans. Diese „Fußball-Gemeinden“ sind aber nicht nur als Sportgemeinschaften anzusehen. Vielmehr wird in diesem Buch die These verfolgt, dass Sportgemeinschaften immer auch als politische Gemeinschaften verstanden werden 8
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können. Die politischen Implikationen meinen dabei mehr als die Bemächtigungen des Fußballs durch die gesellschaftlichen Machteliten und die politische Klasse anlässlich von Großereignissen. Ausgehend von einem Politikbegriff, der Politik nicht nur als das kennzeichnet, was diejenigen tun, die als Politiker bezeichnet werden, oder als das, was in staatlichen Institutionen und Organisationen geschieht, 2 beziehen sich die politischen Dimensionen von Sportgemeinschaften auf Lebensstilmuster und alltägliche Praktiken. In diesem Sinne diagnostizieren Helmuth Berking und Sighard Neckel eine „Politik der Lebensstile“, 3 insofern als Lebensstile Identitätsentwürfe und Werthaltungen implizieren, welche in Auseinandersetzung mit anderen Lebensstilen und gegen diese behauptet werden. In dieser Hinsicht sind sie ein genuin politisches Phänomen. So ist beispielsweise die Sinnwelt der Ultras, die – zumindest dem Anspruch nach – ihre gesamte Lebensführung nach Maßgabe der Regeln der Ultra-Fangemeinde organisieren und das Ultra-Sein als identitätspolitisches Statement verstehen, das gegen andere Fangruppen behauptet wird, 4 in Begriffen der politischen Soziologie zu betrachten und ihr Lebensstil, einen Begriff von Ulrich Beck aufnehmend, als „Subpolitik“ zu bezeichnen. 5 Auch die Lebensstilmuster, die die Medienstars der globalen Fußballwelt in Szene setzen und vermarkten, sind als politische Statements zu begreifen, indem an den Stars Charaktereigenschaften, Verhaltenskonventionen, soziale und politische Haltungen und Einstellungen vorgeführt und diskutiert werden. Vergemeinschaftung bezeichnet Max Weber zufolge eine soziale Beziehung, die „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“. 6 In Prozessen der Vergemeinschaftung entwickelt sich eine spezifische, emotional gebundene, als essentiell erlebte Solidarität und Kollektivität, die sich in traditionalen wie posttraditionalen, realen wie imaginären, lokalen wie globalen Formen von Vergemeinschaftung in verschiedenen Ausprägungen auch in der Welt des Fußballs zeigt. Der
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Vgl. Ronald Hitzler: „Der Goffmensch. Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie“, in: Soziale Welt 43 (1992), S. 449-461. Vgl. Helmuth Berking/Sighard Neckel: „Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk. Zu einigen Formen nachtraditionaler Vergemeinschaftung“, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Soziale Welt. Sonderband 7, Göttingen: Schwartz 1990, S. 481-500. Vgl. Gunter A. Pilz: „Fußball ist unser Leben!? – Zur Soziologie und Sozialgeschichte der Fußballfankultur“, in: Holger Brandes/Harald Christa/Ralf Evers (Hg.), Hauptsache Fußball. Sozialwissenschaftliche Entwürfe, Gießen: Psychosozial-Verlag 2006, S. 49-69. Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr. 5. Aufl. 1970, S. 21 (Herv. i. O.). 9
GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER
Fußball ist Katalysator sowohl von institutionell verfestigten (Vereinen, Verbände) als auch von flüchtigen, „flüssigen“, 7 bisweilen nur wenige Stunden andauernden Vergemeinschaftungsgebilden (public viewing). Er provoziert lokale Gemeinschaftsbildungen, die Präsenz im Stadion voraussetzen, und globale Fangemeinschaften, die vor den Bildschirmen in einer „space and time compression“8 von verschiedenen Orten der Welt dem Spiel folgen. Und das Spiel selbst bringt die Flüchtigkeit von Gemeinschaften hervor: Als cultural performance (Milton Singer) ist es ein Ereignis, dessen Aura gerade in der Einmaligkeit und Unwiederholbarbarkeit besteht. Das Erleben des Augenblicks ist von daher für die Akteure und Zuschauer gerade aufgrund der Flüchtigkeit von besonderer Bedeutung. 130 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage von Ferdinand Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ 9 ist die Soziologie erneut mit der Frage befasst, welche Bedeutung dem Gemeinschaftlichen als menschlicher Gesellungsform in der (spät-)modernen Gesellschaft zukommt. Tönnies hat mit der begrifflichen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bekanntlich die These verknüpft, dass in der modernen Gesellschaft das Gemeinschaftliche einen Bedeutungsverlust zugunsten des Gesellschaftlichen erfährt. Gemeinschaft bezeichnet Tönnies zufolge einen auf der Basis persönlicher Beziehungen zustande kommenden Verband, der durch eine Exklusivität der Bindungen der Mitglieder aneinander geprägt ist. Die Bindungen sind durch eine fraglose Verankerung in der Tradition verbürgt. Der natürlichen Gegebenheit der Gemeinschaft stellt Tönnies die artifizielle Konstruiertheit der Gesellschaft gegenüber. In Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Familie und Dorf sieht Tönnies das Prinzip der Gemeinschaft realisiert. An die tradierte Lebensformen idealisierende Darstellung Tönnies’ kann die rezente soziologische Diskussion über die Relevanz von Gemeinschaft in hoch individualisierten Gesellschaften nicht bruchlos anknüpfen, zumal der Gemeinschaftsbegriff auf eine problematische politische Geschichte zurückblickt. Gleichwohl hat die von Tönnies in die Soziologie eingeführte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in dem normativ aufgeladenen Konzept des Kommunitarismus eine Renaissance erfahren, 10 vor allem in der Forderung, lokale communities zu stärken. Der Kommunitarismus knüpft dabei an ein tradiertes Verständnis von Gemeinschaft an und versucht auszulo7 8
Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. David Harvey: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge, Oxford: Blackwell 1990. 9 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. 10 Vgl. Amitai Etzioni: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Frankfurt/Main: Fischer 1993; Ders.: Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Frankfurt/Main, New York: Campus 1997. 10
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ten, wie die kohäsive Kraft des Gemeinschaftlichen in einer sich an Marktrationalitäten orientierenden individualisierten Gesellschaft gestärkt und tradierte Formen von Bindung revitalisiert werden können. Mancher diskursiven Überhöhung des gesellschaftlichen Wertes und Nutzens von Fangemeinschaften scheint, wissentlich oder unwissentlich, die Kommunitarismus-These zu Grunde zu liegen. Während das Kommunitarismus-Konzept nach der Bedeutung von Gemeinschaft für die Kohäsion des Gemeinwesens fragt, liegt der Fokus des individualisierungstheoretisch geleiteten Konzepts der posttraditionalen Vergemeinschaftung auf dem Bedürfnis des freigesetzten Individuums nach Gemeinschaft. 11 Dieses Bedürfnis sei in Traditionsmilieus immer weniger zu befriedigen. Gemeinschaftsbildung werde hingegen zu einem intentionalen Akt. Gesucht werde eine Gemeinschaft, die eine relative Verhaltenssicherheit bietet, die aber gleichzeitig eine relative Unabhängigkeit von sittlich-moralischen Ansprüchen erlaubt. Basis posttraditionaler Gemeinschaften sei nicht mehr eine ähnliche Lebenslage, wie sie z.B. in einem Arbeitersportverein gegeben war, sondern die Ähnlichkeit von Lebenszielen und ästhetischen Ausdrucksformen. Posttraditionale Gemeinschaften sind Interessengemeinschaften, bei denen sich Ein- und Austritt deutlich flexibler gestalten als in traditionalen Gemeinschaften. Szenen, ob des Sports oder der Popkultur, und Events als einmalige, unwiederholbare Ereignisse gelten als typische Formen einer posttraditionalen Vergemeinschaftung. Public viewing wäre hierfür ein gutes Beispiel. In einer pluralisierten Gesellschaft gibt es eine Vielfalt von Fußballgemeinschaften. Wie sie sich integrieren, variiert in Abhängigkeit davon, ob die Vergemeinschaftung stärker über gemeinsame Werte oder gemeinsame Interessen vermittelt ist. Dies dürfte auch für die Stabilität des gemeinschaftlichen Gebildes von Bedeutung sein. Die langfristige Bindung eines Vereinsmitglieds an ‚seinen‘ Verein lässt sich als eine wertvermittelte, traditionale Vergemeinschaftung begreifen, die kurzlebige Gemeinschaft der anlässlich eines public viewing Versammelten bleibt ein fluides Gebilde, das zu existieren aufhört, wenn die Interessen sich anderweitig orientieren. Zwischen diesen Polen einer ausgeprägt traditionalen und einer extrem posttraditionalen Vergemeinschaftung liegen Fußballgemeinschaften, deren Vergemeinschaftungsmodus weniger klar zu bestimmen ist. So begreifen sich die Ultras durchaus als eine Wertegemeinschaft, die sich gegen die Kommerzialisierung des Fußballs engagiert, weisen aber eine Organisationsform auf, die sich deut-
11 Vgl. Ronald Hitzler: „Posttraditionale Vergemeinschaftung“, in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998), S. 81-89; Ders./Michaela Pfadenhauer: „Eine posttraditionale Gemeinschaft“, in: Frank Hillebrandt/Georg Kneer/Klaus Kraemer (Hg.), Verlust der Sicherheit, Opladen: Leske+Budrich 1998, S. 83-102. 11
GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER
lich von tradierten Vereinsstrukturen abgrenzt und Merkmale posttraditionaler Gemeinschaften trägt. 12 Während in dem Konzept der posttraditionalen Gemeinschaft der Blick auf eine individualisierte Gesellschaft gerichtet ist, fokussiert der französische Soziologe Michel Maffesoli die Formen der Vergemeinschaftung in den großen Städten, jenen Orten, in denen sich Prozesse der Individualisierung und der Entstrukturierung des Sozialen am deutlichsten zeigen. Nicht zufällig sind Fußballstadien gerade in den großen Städten die neuen agonalen Repräsentationsräume der Moderne geworden. Denn im Fußballstadion bilden sich flüchtige und unbeständige, mobile Gemeinschaften, die von dem Wunsch nach einem intensiven Erleben in Gemeinschaft getragen sind und sich an unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung ausrichten. Genau in diesen Gemeinschaften sieht Michel Maffesoli adäquate Antworten auf die soziale Vereinsamung und emotionale Isolation der Menschen in einer individualisierten Gesellschaft und auf deren Leistungs- und Zukunftsorientiertheit. Maffesoli bezeichnet diese neuen Formen von Sozialität innerhalb einer vermassten Gesellschaft als Stämme oder Tribes. 13 Seiner Meinung nach führen das Ausbleiben umfassender politischer Utopien und die zunehmende Brüchigkeit der Gesellschaft als einer identitätsstiftenden Einheit dazu, dass die Menschen oberflächliche, unbeständige Beziehungen leben. Sie antworten auf die soziale Dynamik, auf die bunte Vielfalt von zum Teil widersprüchlichen Identifikationsangeboten und auf die durch Medien hervorgebrachte Vielfalt der Erfahrungsmöglichkeiten in ihrem alltäglichen Leben mit einer flüchtigen Sozialität. Diese Tendenzen meint Maffesoli vor allem in den Megastädten zu finden, wo er die Herausbildung von sozialen Figurationen jenseits der Klassenschranken beobachtet. Tribes sind für ihn Ausdruck eines kreativen Potentials der Massen und zugleich die Antwort der Menschen auf medientechnologische Entwicklungen. Gerade die bunte Bilderwelt der Medien habe nicht, wie manche Massentheoretiker meinen, zu einer völligen Apathie der Massen geführt, sondern das Bedürfnis genährt, sich in beweglichen sozialen Konstellationen zusammenzufinden. Zugleich warnt Maffesoli davor, diesem Neotribalismus vergleichbare soziale Funktionen wie den Stämmen in oralen Kulturen zuzuschreiben: Tribes der Spätmoderne haben für die Mitglieder keine existentiellen Funktionen, sie bilden sich nur zu bestimmten Gelegenheiten, wie beispielsweise anlässlich eines Fußballspiels die Fans eine Anzahl von
12 Vgl. G. A. Pilz: Fußball ist unser Leben!? 13 Vgl. Michel Maffesoli: Le Temps des Tribus. Le déclin de l'individualisme dans les sociétés de masse, Paris: Méridiens-Klincksieck 1988; Ders.: Au creux des apparences. Pour une éthique de l'esthétique, Paris: Plon 1990; Ders.: La transfiguration du politique. La tribalisation du monde, Paris: Grasset 1992; Ders.: „The Ethic of Aesthetics“, in: Theory, Culture & Society 8 (1994), S. 10-20. 12
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gemeinschaftsstiftenden Ritualen pflegen, indem sie sich entsprechend kleiden, ihre Zugehörigkeit durch Symbole in Szene setzen, sich zuvor in der Stammkneipe treffen, gemeinsam zum Stadion gehen, nebeneinander stehen hüpfen, schimpfen, schreien, jubeln und singen. Derartige Gemeinschaften existieren im Hier und Jetzt. Sie kennen keine stabilen Ein- und Ausschlusspraktiken, sondern sind zugleich integrativ und distinktiv. Die Einzelnen leben nicht für den Erhalt der Gemeinschaft, sondern sind an der Befriedigung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse und an dem Erleben von Intimität in und mit der Gemeinschaft interessiert. Sind Tribes eher lokale Einheiten, so sind imaginäre Gemeinschaften räumlich ungebunden. Die weltweit zerstreuten Fans von Spitzenmannschaften oder die Fußballfans als Fernsehzuschauer, sie alle verbindet eine spezifische Form von Kollektivität und sie entwickeln eine Solidarität mit ihrer Mannschaft, die wenig durch die weltweit agierende Wirtschaftspolitik der Fußballfunktionäre getrübt wird. Vergemeinschaftungen im Fußball entfalten sich insofern sowohl auf der globalen wie auf der lokalen Ebene, regional und national, bei den Akteuren und den Zuschauern, in institutionellen und informellen Formen. Nicht dass im Fußball sich Vergemeinschaftungsprozesse vollziehen, sondern wie, wann, wo welche Arten von Gemeinschaften entstehen und wie diese traditionalen und posttraditionalen, realen und imaginären, lokalen und globalen Gemeinschaften zusammenwirken, sind von daher die leitenden Fragen einer politischen Soziologie des Sports. Allerdings ist es kein Spezifikum eines sozialwissenschaftlichen Blicks, den Fußball unter dem Aspekt der Vergemeinschaftung zu betrachten. Vielmehr ist der Topos der Vergemeinschaftung in den Mythen des Fußballs selbst angelegt. So wird mit der Aufforderung „elf Freunde sollt ihr sein“ die Mannschaft als Solidargemeinschaft beschworen, und mit der Behauptung, auf den Stadionrängen würden temporär die Grenzen von Stand und Klasse durchlässig, dem Fußball eine Vergemeinschaftungsfunktion zugeschrieben, die ihn zu einer politisch relevanten Größe werden lässt. Und schließlich, wenn Uli Hoeness verkündet: „Heute bin ich ein Schalker“, um seine Solidarität mit der in der Saison 2007/08 einzig verbliebenen deutschen Mannschaft im Viertelfinale der Champions League zu verkünden, zeigt sich die diffuse Solidarität, die auf die imagined community der Nation (Benedict Anderson) Bezug nimmt. Insofern erfordert gerade eine sozialwissenschaftliche Perspektive eine Dekonstruktion des virulenten populären und populärwissenschaftlichen Diskurses über die Mythen des Fußballs. Die Frage, welche Narrative der Fußball produziert, wie diese entstehen und welche politische Wirkmächtigkeit sie entfalten können, ist von daher ein zentrales Thema einer politischen Soziologie des Sports. Der Fußball ermöglicht Vergemeinschaftungsprozesse großer Menschenmengen in einer für das politische System in der Regel nicht gefährlichen 13
GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER
Weise. „Brot und Spiele“ ist eine alte politische Formel, die in modernen Gesellschaften nicht an Wirkmächtigkeit eingebüßt hat. Ganz im Gegenteil: Mit der zunehmenden Säkularisierung von Gesellschaften scheint dem populären Sport mehr noch als der Kirche eine vergemeinschaftende Wirkung zuzukommen: Fußball ist eine hoch ritualisierte Praxis; rund um den Fußball entstehen Sinn- und Wertegemeinschaften, so dass der umgangssprachliche Begriff der „Fußballgemeinde“ in den ritualisierten, symbolischen und damit ordnungs- und sinnsstiftenden, wertkonservativen Praktiken seine Berechtigung findet. Fußball und Kirche gehen mitunter auch eine enge Symbiose ein, wie in der Arena auf Schalke, wo eine ökumenische Kapelle „eine Rückzugsmöglichkeit bieten, Besinnung ermöglichen und Raum für den ‚inneren Zweikampf‘ lassen“ soll. 14 Dass sich die Kirche nicht nur der Fußballsprache, sondern auch der kulturellen Praktiken und Organisationsformen des Fußballs bedient, zeigt sich eindrücklich in der Übernahme der Inszenierungstechniken großer Sportereignisse, um vergleichbare Vergemeinschaftungseffekte erzielen zu können. Der Besuch von Papst Benedikt auf dem Katholischen Weltjugendtag in Köln im Jahr 2005 hat dies eindrucksvoll gezeigt. 15 Die in diesem Buch versammelten Texte thematisieren verschiedene Formen der Vergemeinschaftung. Sie untersuchen die gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion von Fußball auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene, im Profi- und im Freizeitfußball, anhand von Fußballidolen, tradierten Fankulturen und gewaltbereiten Fangruppen. Sie zeigen die Verflechtung des Fußballs mit gesellschaftlichen Strukturprinzipien am Beispiel von Geschlecht, Ethnizität und Nation, und sie präsentieren, ob in Fallstudien, zeitdiagnostischen Essays oder theoriegeleiteten Aufsätzen verschiedene soziologische Textsorten. Der Band will einen Beitrag zu einer Soziologie des Sports und zugleich zu einer politischen Soziologie leisten, indem er den Fußball als Feld einer das Politische implizierenden Vergemeinschaftung sichtbar macht. Der Band geht zurück auf eine internationale und interdisziplinäre Fachkonferenz zum Thema „Serious Games. Fußball, Medien und Politik“, die anlässlich der Fußballweltmeisterschaft im Juni 2006 an der Universität Hamburg stattfand und von den Sektionen „Soziologie des Körpers und des Sports“ und „Politische Soziologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gemeinsam organisiert wurde. Das Buch bündelt einen Großteil der soziologischen Beiträge der Konferenz, die Aspekte der Vergemeinschaftung 14 http://www.veltins-arena.de/portrait_arenakapelle.php vom 11. März 2008. 15 Zur Eventisierung des Religiösen vgl. Michael N. Ebertz: „Transzendenz im Augenblick. Über die „Eventisierung“ des Religiösen – dargestellt am Beispiel der Katholischen Weltjugendtage“, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen: Leske+Budrich 2000, S. 345-362. 14
FUSSBALL, POLITIK, VERGEMEINSCHAFTUNG
beleuchten. Die Konferenz wurde unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Wissenschaftsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und dem Fachbereich Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Ihnen sei an dieser Stelle nochmals herzlich für ihre Unterstützung gedankt ebenso wie denjenigen Hamburger Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die durch ihre Mithilfe wesentlich zu dem Gelingen der Fachkonferenz beigetragen haben: Bettina Bachmann, Jost Backhaus, Sandra Günter, Melanie Haller, Julia Heller, Sven Ismer, Sandra Noeth und Christina Rann. Danken möchten wir abschließend auch Sven Ismer, Maja Kempka, Diana Lengersdorf und Ole Waldmann für die sorgfältige redaktionelle Mitarbeit sowie Karin Werner und Christine Jüchter für die Beratung und Betreuung seitens des Verlags. Hamburg und Dortmund, im März 2008.
Literatur Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Berking, Helmuth/Neckel, Sighard: „Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk. Zu einigen Formen nachtraditionaler Vergemeinschaftung“, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Soziale Welt. Sonderband 7, Göttingen: Schwartz 1990, S. 481500. Ebertz, Michael N.: „Transzendenz im Augenblick. Über die ‚Eventisierung‘ des Religiösen – dargestellt am Beispiel der Katholischen Weltjugendtage“, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen: Leske+Budrich 2000, S. 345-362. Etzioni, Amitai: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Frankfurt/Main: Fischer 1993. Etzioni, Amitai: Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Frankfurt/Main, New York: Campus 1997. Harvey, David: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge, Oxford: Blackwell 1990. Hitzler, Ronald: „Der Goffmensch. Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie“, in: Soziale Welt 43 (1992), S. 449-461. Hitzler, Ronald: „Posttraditionale Vergemeinschaftung“, in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998), S. 81-89. 15
GABRIELE KLEIN/MICHAEL MEUSER
Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela: „Eine posttraditionale Gemeinschaft“, in: Frank Hillebrandt/Georg Kneer/Klaus Kraemer (Hg.), Verlust der Sicherheit, Opladen: Leske+Budrich 1998, S. 83-102. Maffesoli, Michel: Le Temps des Tribus. Le déclin de l'individualisme dans les sociétés de masse, Paris: Méridiens-Klincksieck 1988. Maffesoli, Michel: Au creux des apparences. Pour une éthique de l'esthétique, Paris: Plon 1990. Maffesoli, Michel: La transfiguration du politique. La tribalisation du monde, Paris: Grasset 1992. Maffesoli, Michel: „The Ethic of Aesthetics“, in: Theory, Culture & Society 8 (1994), S. 10-20. Pilz, Gunter A.: „Fußball ist unser Leben!? – Zur Soziologie und Sozialgeschichte der Fußballfankultur“, in: Holger Brandes/Harald Christa/Ralf Evers (Hg.), Hauptsache Fußball. Sozialwissenschaftliche Entwürfe, Gießen: Psychosozial-Verlag 2006, S. 49-69. Theweleit, Klaus: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr. 5. Aufl. 1970.
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Die Gemeinschaft auf dem Platz und die Gemeinschaften ULRICH BIELEFELD
Wie schreibt man über Fußball, wenn man kein Fachmann ist? Sollte man es nicht lieber lassen, um nicht Gefahr zu laufen, der medialen Repräsentation des Spiels nur eine weitere, nun akademisch-soziologische, dahingestellt ob belanglos oder auch interessant, hinzuzufügen? Und ist auch dies nicht schon oft genug geschehen? Aus welcher Perspektive schreibt man, schreibe ich über ein Thema, dass mich zwar immer wieder besonders interessiert, etwa wenn nach dem Wochenende eine kleine Fachsimpelei mit Kollegen, wir sind doch alle die besseren Trainer, stattfindet oder wenn ich, so lange ist es noch nicht her, das Vergnügen hatte, die beiden Söhne mit ihren Mannschaften zu den Spielen zu begleiten, so dass sich mir zwei große Städte der Bundesrepublik zumindest geographisch aus der Lage all ihrer kleinen und größeren Fußballplätze erschlossen? Die kleine französische Frage ‚Wer spricht?‘ stellt sich. Der Zeitungsleser, der Montagmorgens zuerst den Sportteil zur Hand nimmt, wenn ihn nicht schon ein anderer hat? Es scheint mir wenig zu versprechen, obwohl es als Hintergrund vorhanden ist. Der am Spielfeldrand stehende Vater, dessen Rufe wie die der anderen Eltern ungehört bleiben? Schon interessanter, da der Soziologe, der Gemeinplatz mag einmal verziehen werden, doch immer beobachten kann. Oder nicht doch der akademische Soziologe, der sich immer wieder mit Gruppenbildung, der Bedeutung von Gemeinschaften und deren Differenzierungen beschäftigt hat? Es ist die Mischung dieser beiden Perspektiven, der zufälligen, aber über Jahre stattfindenden Beobachtung und Teilnahme, die nicht zu einer teilnehmenden Beobachtung, also nicht zu einer doch kontrollierten Forschung wurde, und den theoretischen und empirischen Interessen an der Bedeutung unterschiedlicher Prozesse der Vergemeinschaftung, die in den folgenden Text einfließen.
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ULRICH BIELEFELD
Bevor man schreibt, gerade zu einem Thema und einer Sache, über das man ansonsten meist redet, liest man gerne ein wenig, um sich zu orientieren. Franklin Foer hat mir, die deutsche Übersetzung lag zeitgerecht zur Weltmeisterschaft vor, mit Fußball die Welt erklärt. 1 Dass sich nicht nur deutsche Städte, sondern auch ganz Europa mittels Fußball nicht nur geographisch erschließen kann, zeigt ein Handbuch für Fans. 2 Für mein Interesse an Prozessen der Entstehung des Gemeinsamkeitsglaubens und der Vergemeinschaftung erwiesen sich gleich mehrere Fußballbücher als weit über das hier verwertbare hinaus äußerst ergiebig, Bill Murrays Studien zu Celtic und Rangers Glasgow, 3 Simon Kupers Buch zu Ajax Amsterdam und auch sein besonders aus deutscher Perspektive lesenswertes „Football against the enemy“.4 Ein längerer Aufenthalt in Israel, der mit einer Taxifahrt in grün-weiß, den Farben von Maccabi Haifa, begann, die Lektüre vieler Zeitungsartikel zu Bnei Sachnin, dem Verein der palästinensischen Stadt Sachnin nicht weit von Haifa, der in der ersten israelischen Liga spielt und 2004 Pokalsieger wurde, zeigten mir zudem erneut die nicht selten politische Bedeutung der Vergemeinschaftungsprozesse, die sich gerade am Beispiel des Fußballs aufzeigen lassen und sich aufdrängen. 5 Im Folgenden werde ich also einige Anmerkungen aus der Perspektive eines Soziologen machen, der sich mit Ethnisierungsprozessen beschäftigt hat. Zu Beginn werde ich einen typisierten Fall aus dem Blick eines Beobachters darstellen, der mit anderen Eltern seine Wochenenden im Regen und in der Sonne auf zum Teil staubigen Plätzen verbrachte – und den ein Spiel trotz medialer Überversorgung immer noch begeistern kann. *** Lange Zeit hatte Fußball ein Unterschichtenimage, wenn auch manchmal zu unrecht. Als weltweites Unterhaltungsgeschäft hat er dieses Image verloren. Er wird nun weithin nicht mehr als Klassensport wahrgenommen, ist medial kaum mehr verbunden mit den Zechenkumpel und Ein- oder Zuwanderern. Dieses Bild aber täuscht, schaut man auf das Spiel an den vielen konkreten Orten, an denen trainiert und gespielt wird. Denn die ‚Besseren‘, von wem 1 2 3 4
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Franklin Foer: Wie man mit Fußball die Welt erklärt, München: Heyne 2006. Peterjon Cresswell/Simon Evans: The Rough Guide to European Football. A Fans’ Handbook, London: Rough Guides 1999. Bill Murray: The Old Firm in the New Age. Celtic and Rangers Glasgow Since the Souness Revolution, Edinburgh: Mainstream Publications 1998. Simon Kuper: Ajax, the Dutch, the War: Football in Europe During the Second World War, London: Orion 2003; Ders.: Football Against the Enemy, London: Orion 1994. Siehe dazu allerdings einseitig Roger Repplinger: Die Söhne Sachnins, München: Bombus 2005.
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immer sie dazu gemacht werden, spielen, regional variierend, oft weiterhin Hockey oder Tennis. Es gibt noch das, was vor der Entdeckung des Prekariats soziale Schranke genannt wurde, auch wenn Lockerungen häufiger werden, sich mal der Sohn eines Arztes oder Akademikers unter die Spieler mischt. Dennoch sind mit ihm weiterhin Aufstiegsgeschichten verbunden, wie es das Beispiel Zinedine Zidanes exemplarisch deutlich macht. 6 Beispiele aus Deutschland ließen sich leicht anfügen. Aus einer anderen Zeit etwa Lothar Emmerich, der Flankengott Stan Libuda (Niemand kommt an Gott vorbei, außer …), das neue Paar Lukas Podolski und ‚Schweini‘ Schweinsteiger. Aber Fußball findet nicht nur in den großen Stadien statt, sondern auf den vielen Plätzen der Dörfer und Städte, in den vielen Vereinen, bei unzähligen Trainingsstunden und -einheiten. Eltern fahren ihre Kinder Wochenende für Wochenende zu den Spielen, bilden Fahrgemeinschaften, stehen während des Spiels am Rand und rufen ihren Kindern vergeblich zu, wie sie laufen und wohin sie den Ball spielen sollen. Nicht wenige Väter trainieren Kinder- und Jugendmannschaften in ihrer Freizeit, die Mütter waschen die Trikots der Mannschaft. Zusätzlich zu den Kinder- und Jugendmannschaften bestreiten Kreis-, Bezirks-, Landes- und Verbandsligen ihre Spiele vor meist wenigen Zuschauern, die anlassbezogen doch einige Hundert werden können. Hier steigt dann manchmal noch der Staub der Grantplätze neben dem Stand für Bratwurst und Bier auf, hoffen einige Kinder und manche Eltern auf die große Karriere, gibt es Konkurrenz um die Stammplätze, werben Trainer Spieler ab, wird bei Turnieren darauf geachtet, ob ein DFB-Trainer vielleicht ein Auge auf einen Spieler geworfen hat, um ihn zum Leistungstraining einzuladen. Setzt sich das Publikum oft aus den lokalen Rentnern zusammen, so sind die Mannschaften meist gemischt, viele Jugendliche haben einen Migrationshintergrund. Nicht nur in den großen Städten spielen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedlicher Herkunftsländer in den Mannschaften. Fußball ist in der alltäglichen Praxis der vielen Trainingsstunden und Spiele ein Sport der unteren Schichten geblieben. Die Welt des ‚Kosmopolitismus der Wenigen‘,7 die sich gerade im öffentlichen Bild des Fußballs immer wieder aufdrängt, ist hier nur symbolisch vorhanden, durch den Namensaufdruck auf einem der beim Training getragenen Trikots großer Vereine, die kleine, aber bedeutungsvolle Wahl der richtigen Schuhe, die bestimmte Frisur, die vor dem Spiel als Auftritt noch schnell gerichtet wird. So ragt diese Welt zwar in den ‚Fußball des flachen Landes‘ hinein, sie wirkt sich
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Siehe Nikola Tietze in diesem Band. Craig Calhoun: „The Class Consciousness of Frequent Travellers: Towards a Critique of Actually Existing Cosmopolitanism“, in: Steven Vertovec/Robin Cohen (Hg.), Conceiving Cosmopolitanism: Theory, Context, and Practice, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 86-109. 19
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auch etwa darin aus, dass viele zum Training kommen und spielen wollen. Dennoch handelt es sich um getrennte Welten. Der ‚Kosmopolitismus der Vielen‘ kennt nur wenige Durchlässe zu dem der Wenigen, aber es gibt immer einige, die es schaffen. Dennoch stehen die getrennten Welten nicht nur in Verbindung, sondern sie sind voneinander abhängig. Auf dem Platz des Vororts, des Stadtteils oder des Dorfes aber spielen auch noch andere Welten zusammen, die ansonsten häufig getrennt sind. Hierzu eine kurze Fallgeschichte. Mehmed wurde in Hamburg geboren. Sein Vater baute einen Lebensmittel- und Gemüseladen in einem bürgerlichen Stadtteil auf, die Mutter arbeitet, um die Unsicherheiten des Geschäftes abzusichern. Er geht in einen städtischen Kindergarten, dessen Kinder eine heterogene Mischung der Herkunft und der Schichten aufweisen und wird in die lokale Grundschule eingeschult. Die Hälfte der Schüler ist deutscher Herkunft, auch aus Oberschichten, der andere Teil ist bunt zusammengesetzt, Deutsche russischer Herkunft, meist als Problemschüler bewertet, Kinder aus allen Ländern der klassischen Arbeitsmigration, Flüchtlingskinder aus den exjugoslawischen Ländern, aber auch wohlhabende Einwanderermittelschichten. Mehmed spricht gut deutsch, er ist ein mittelmäßiger Schüler. Die Gruppenbildungen in der Klasse sind unabhängig von den Herkunftsländern, wie die Einladungen z.B. zu Geburtstagsfesten zeigen. Ein Teil der Jungen spielt, ebenso herkunftsgemischt, im lokalen Fußballverein. Erste Entmischungen vollziehen sich nach traditionell deutschem Muster nach der vierten Klasse. Viele der Schüler deutscher Herkunft verteilen sich auf drei gut erreichbare Gymnasien, einer alten, eingeführten altsprachlichen Bildungsanstalt, die den Bildungs- und den Oberschichten (und einigen Ehrgeizigen) vorbehalten bleibt, einem reformiert-altsprachlichen Gymnasium, mittelschichtsorientiert, aber mit dem Blick nach oben, einem ‚modernen‘ Gymnasium mit Wirtschaftszweig und zum Teil englischer Unterrichtssprache, wenn man so will für die Pragmatiker der kosmopolitischen Postmoderne. Mehmed geht zunächst auf diese Schule, scheitert aber und kommt zurück in die Gesamtschule, zu der auch die Grundschule gehörte und besucht den Realschulzweig. Der Fußballverein erweist sich als weiterlaufender Ort der Integration. Hier ist die Grenze der Entmischung sehr viel später, sie geht bis in die Adoleszenz. Vor allem aber ist sie nicht fest institutionalisiert. Informell aber vollzieht sie sich dennoch. Einerseits werden nun die Spieler nach Leistungsstärke sortiert, andererseits bilden sich nun vermehrt Herkunftsgruppen vor allem, aber nicht nur vor und nach den Spielen. Auch wenn weiterhin gemeinsam gespielt wird, findet eine gemeinsame Freizeit immer weniger statt. Die ‚Türken‘, man kann aber auch sagen, die, die nicht mehr zur Schule gehen, bilden eine mehr und mehr eigene Gruppe. Ein, zwei Spieler bekommen eine Brückenfunktion zwischen den Gruppen. Modische religiöse Symbole werden 20
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benutzt (Bekreuzigung vor dem Spiel). Mehmed bekommt Schwierigkeiten, sitzt auf der Ersatzbank, die Schule läuft nicht, die Eltern reagieren mit kontraproduktiven Strafen (Spiel- und Trainingsverbot). Er findet keine Lehrstelle (‚weil ich Türke bin‘). Der Vater baut zusätzlich einen Getränkehandel auf, den Mehmed, murrend und widerständig, schließlich, auch eine Lehre wurde abgebrochen, verantwortlich führen muss. Abends trifft er sich mit seinen ‚türkischen‘ Freunden, kleine Geplänkel mit der Polizei, nichts weltbewegendes, aber ein wenig Ärger. Ab und an begegnen sich die nun getrennten Welten wieder, keine Feindschaft, aber auch keine Freundschaft mehr. Mehmed hat nun Arbeit im Familiengeschäft, er ist Deutscher, spricht seine Sprache fließend und schreibt wahrscheinlich, unterschichtstypisch, fehlerhaft. Er fühlt sich als ausgegrenzter Türke mit bescheidenen Chancen und vor allem: als jemand, der sich nicht im lokalen und großen Ganzen verorten kann. Entsprechend wichtig wird die Gruppe der ‚Freunde‘. Das an Erfahrungen und objektiven Strukturen anknüpfende Exklusionsempfinden erweist sich als eine zentrale Variable. Die Mannschaft spielt unabhängig von Herkunftskriterien zusammen. Auch die für Deutschland so typische frühe, über die Schule vermittelte Differenzierung findet neben und auf dem Platz später statt. Aber der enge soziale Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunft setzt sich auch hier schließlich durch. Man trifft sich noch auf dem Platz und obwohl einige sich seit frühester Schulzeit und den ersten Anfängen des Spiels kennen, bekommt das Spiel eine zweite Ebene, die sich verstärkt, wenn, je älter die Spieler werden und je höher man spielt, die Spieler der Mannschaften stetig wechseln, einige gehen und andere nach leistungsorientierter Wahl hinzukommen. Anerkennung auf dem Platz vollzieht sich dann nach Leistung, neben dem Platz aber mehr und mehr nach einer sozial konstruierten Herkunft, die die soziale Differenzierung schließlich immer genauer abzubilden scheint. Es ist vor allem die zu frühe und zu nachhaltige Schuldifferenzierung, die die Differenzen neben dem Platz, in der Freizeit bestimmt und die sich auf dem Platz auswirken kann. Dann beschwert sich zum Beispiel ein Teil darüber, dass der andere die Mannschaftsleistung dadurch gefährde, dass mit zu hoher körperlicher Bereitschaft auch in den Spielunterbrechungen agiert werde. Die Anlässe, Differenzen zu formulieren, mehren sich. Immer wieder aber bildet sich dennoch die Gemeinschaft auf dem Platz und überwindet die Störungen, die dann zumindest kurzfristig als äußere erscheinen und manchmal auch sind. Der Fußball erweist sich als eine spezifische Zugehörigkeitsagentur, die die Zugehörigkeiten betont und gleichzeitig aufheben und neu zusammensetzen kann.
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*** Der Gemeinschaftsmythos wird, geht es um Fußball, gern herbeizitiert, ohne dass die meisten Leute, zumindest für den professionellen Bereich, auf die Idee kämen, ihm einen großen Realitätswert beizumessen. Die Spieler sind austauschbar, sie verdienen sehr viel Geld und sie wechseln die Vereine mehrfach. Nicht die vorhandene Gemeinschaft ist der Ausgangspunkt, sondern die möglichst rasche Herstellung einer ‚funktionierenden‘ Gemeinschaft ist die Aufgabe. Gemeinschaft ist nicht nur theoretisch, sondern ‚vor Ort‘ von einem Begriff, der beschreiben soll, was ist, zu dem geworden, was er tatsächlich ist, zu einem Appellbegriff. Es gilt, sie zu realisieren und der Erfolg soll dann bestätigen, ob es gelungen ist – nur um nach jeder Saison erneut eine Mannschaft zusammenzustellen. Gelingt es nicht, wird Spielern gern ‚Söldnermentalität‘ und eine bloße Orientierung am schnellen Geld unterstellt. Die immer wieder neu zusammengestellte Mannschaft symbolisiert dennoch mit dem Verein, seinen Symbolen und Farben einen oft zumindest lokalen Kontext, aber lädt mittlerweile gerade im Falle der ‚großen‘ Mannschaften weit über den Ort und heute auch über das Land hinaus zur Identifikation ein. Das Lokale, das Nationale und das Globale gehen gerade im Fußball, selbst vielfach aktiver Akteur eines Globalisierungsprozesses, der immer wieder lokale und nationale Identifikationen braucht, eine besondere Mischung ein. Fußball verbindet so drei Ebenen miteinander, das Lokale, das Nationale und das Globale. Auch wenn es sie nicht gibt, repräsentiert die Gemeinschaft auf dem Platz dennoch etwas. Die Ruhrgebietsvereine der Bundesligen sind keine proletarischen Vereine mehr, aber sie müssen sich immer wieder auf ihre bestimmte Vergangenheit beziehen, sie etwa bei der Planung der Anzahl von Vip-Logen berücksichtigen, und sie müssen in ihrer Außendarstellung auf die Fans Rücksicht nehmen. 8 Fußball ist Spiel, Geschäft, Politik, Selbstdarstellung und Darstellung eines Kollektivs, er ist ein den Alltag unterbrechendes Fest und Medienereignis. Er ist begleitet vom beständigen Thema der Gemeinschaft und ihrer Herstellung und von dem, was die nicht aus sich selbst existierenden Gemeinschaften so stark prägt: von der Grenzziehung zwischen dem im Erfolgsfall gefeierten ‚Wir‘, zu dem man als Fan auch im Fall beständiger Niederlage dennoch hält, und den vielen anderen, die Freunde, aber auch Feinde sein können. Die Fans sind, anders als die Akteure, ‚treu‘, hängen am Verein und dessen Symbolen, tragen Freud und Leid, dauerhaft und ohne Wechsel. Sie sind meist verortet und die Vereine müssen, mit wenigen Ausnahmen, das Regionale in ihrer (Betriebs-)Strategie berücksichtigen. Die Vereine sind auch dann 8 22
Siehe Markus Schroer in diesem Band.
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noch lokal verankert, wenn sie, wie zumindest einige ‚große‘ unter ihnen, nicht nur national, sondern global, zumindest europäisch handeln. Fußball, zum Sport der Weltgesellschaft geworden, ist immer mehr als das nächste Spiel, das stattfinden muss. Er ist traditional gebunden und gleichzeitig ein Akteur der Globalisierung. Er bindet und erzeugt Gemeinschaftsgefühle, Gemeinsamkeitsglauben und kann geradezu hingebungsvolle Identifikationen erzeugen, die, da labil, immer wieder bestätigt werden müssen. Die Organisation der Ligen mit ihren manchmal mehr als wöchentlichen Spielen entspricht dieser Notwendigkeit exemplarisch. Sommer- oder Winterpausen können für den Fan zur Qual werden. So, durch beständige rituelle Wiederholung, überlebt der Gemeinsamkeitsglaube, im Grunde labil, noch die Veränderungen der Bedingungen, unter denen er entstanden ist, da er sich immer wieder realisieren kann. Er kann sich verselbstständigen, auch dann, wenn Trainer mit dem Wechsel von Erfolg und Misserfolg ausgetauscht werden, Spieler zum oder vom gegnerischen Verein wechseln. Wurden die ersten deutschen Spieler, die im Ausland spielten, in den 60er Jahren als Legionäre bezeichnet, wurde schließlich gerade der Auslandsaufenthalt zum Karrierehöhepunkt und wesentlich für die Beurteilung der Klasse eines Spielers. Nun gehört es zur Größe eines Spielers dazu, einige Jahre im anerkannten Ausland gespielt zu haben. Fußballvereine sind so etwas wie Zugehörigkeitsgeneratoren. Sie bieten die Möglichkeit, Zugehörigkeit auszudrücken und, zumindest heute, auch zu wählen. Deutlich wird dies an Beispielen, in denen zwei relativ große Vereine an einem Ort oder in einer Region in Konkurrenz stehen (Bayern und 1860 München; HSV und St. Pauli; Schalke und Borussia Dortmund; die Londoner Vereine). Neben die Lokalität treten dann weitere Faktoren. Klasse, Schicht, Lebensstil, aber auch ethnische und religiöse Zugehörigkeit und Zuschreibungen können dann eine Rolle bei der Zugehörigkeitsdefinition spielen. So sehr sich die Zugehörigkeiten multipliziert haben, die Bedeutung von Zugehörigkeit kann, gerade wenn sich ihre Eindimensionalität und Festgelegtheit verliert, sogar gesteigert werden. 9 Celtic und Rangers in Glasgow, mittlerweile auf der europäischen Ebene nicht mehr so erfolgreich, der Fan mag sich an die 60er Jahre erinnern, in denen Celtic den Europa-Cup (1967) gewann und nur eine Woche später Rangers knapp durch ein Tor in der 109. Minute durch Franz ‚Bulle‘ Roth gegen Bayern München im Pokal der Pokalsieger unterlag, eignen sich gut als Beispiel. 10 Rangers Glasgow ist ein protestantischer Club, der lange Zeit keine katholischen Spieler beschäftigte. Erst Graham Souness als Spieler/Manager stellte Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts diese Praxis gegen den 9
Siehe für den Fall Zinedine Zidanes den Aufsatz von Nikola Tietze in diesem Band. 10 Dies liegt auch an dem Buch von B. Murray: The Old Firm in the New Age. 23
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Widerstand der Traditionalisten um. Noch heute aber, wenn Tina Turners ‚Simply the best‘ gespielt wird, antworten die Fans mit einem kollektiven ‚Fuck the Pope‘. Celtic hingegen, als Verein der katholisch-irischen Minderheit gegründet, konnte seine moralische Überlegenheit durch eine schon früher begonnene Nichtdiskriminierung bei der Spielerauswahl ausdrücken, wobei man aber darauf achtete, dass die Leitung katholisch blieb.11 Aber trotz dieser sich ändernden Praxis, trotz der Modernisierung der Vereine und trotz der sozialstrukturellen Veränderungen, die die Bedeutung von Religionszugehörigkeit in der Gesellschaft wesentlich verändert haben, so dass diese etwa auf dem Arbeitsmarkt ihre dominierende Relevanz verloren hat, wird das Spiel der Zugehörigkeiten auf Seiten der Fans weiter nach dem alten Muster geführt. Auch wenn ‚katholisch‘ oder ‚protestantisch‘ längst zu säkularen Kategorien geworden sind, eignen sie sich immer noch, nicht nur Unterschiede, sondern auch unerbittliche Feindschaft zumindest für einen Tag, der sich aber immer wieder wiederholt, auszudrücken. Die Mannschaften der Profivereine setzen sich mit wenigen Ausnahmen (etwa Bilbao) längst nach Erfolgs-, nicht mehr nach Herkunftskriterien zusammen. Glasgow Rangers schloss nicht nur mit einem Katholiken einen Vertrag ab, sondern warb mit Maurice ‚Mo‘ Johnston einen früheren Spieler von Celtic ab. Es war zwar nicht der erste katholische Spieler in den Farben der Rangers (die anderen zwei waren eher zufällig unter Vertrag genommen worden und es gab einige Jugendspieler, darunter einer auf dem Sprung in die erste Mannschaft, John Spencer), die inszenierte Anwerbung aber stand für eine Veränderung der Politik. Nun wurde es nicht nur möglich, sondern fast alltäglich, dass Spieler unabhängig ihrer ethnischen, religiösen und nationalen Herkunft, sowie unabhängig von früheren Vereinsfarben, etwa von Borussia Dortmund zu Schalke – oder war es umgekehrt? – wechseln konnten. Der neue Spieler der Rangers, dem viele weitere folgen sollten, war dabei nicht katholisch, er wurde dazu gemacht, zum einen, da er von Celtic kam, zum anderen, da er, verheiratet mit einer Katholikin, seine Kinder katholisch erziehen ließ. Schließlich aber kam es nicht mehr auf die Herkunft der Spieler an. Exemplarisch wird deutlich, dass es um einen Prozess sozialer Kategorisierung geht. Dies lässt sich am Beispiel der Hautfarbe darstellen. Mit Beginn der 80er Jahre wurden in Europa, vor allem in England und Frankreich, immer mehr farbige Spieler eingesetzt, zunächst Kinder von Einwanderern, schließlich auch aus Südamerika oder Afrika angeworbene internationale Spieler. Noch bevor Rangers einen Katholiken spielen ließ, wurde 1987 mit 11 „By playing Protestants and employing Protestants in various capacities they were able to claim that they were not a Catholic club: what this means is ‚exclusively‘ Catholic, for the entire ethos of the club steeped in its origins“ (B. Murray: The Old Firm in the New Age, S. 55). 24
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Mark Walters ein farbiger Spieler unter Vertrag genommen. Fans, die sich rassistisch äußerten, erhielten sofort einen Platzverweis. Das inoffizielle Fanmagazin Follow, Follow veröffentlichte ein Bild auf der Titelseite mit dem Aufdruck: „Blue is the only colour that counts“. In gegnerischen Stadien mit Affenrufen und Bananen empfangen, war er im heimischen Stadion vor solchen rassistischen Äußerungen sicher. Es geht dabei um Einvernahme. Dazugehören ist nicht mehr nur von der Herkunft abhängig, wie immer sich diese ausdrückt und an welchen Merkmalen sie festgemacht wird, sondern nun von der Vereinsfarbe, der Farbe des Trikots über der Haut. Ein farbiger Spieler, der einen Heimspieler foult, kann dennoch beschimpft werden: „You’re no even a real black! You’re no even a real darkie! At least we’ve got a propper nigger! Mark Walters is black! You’re just coffee-coloured!“. 12 Der Zugehörigkeitsgenerator Fußball liefert eine Fülle weiterer Beispiele. Interessant ist der Fall Jürgen Klinsmanns, der zum ‚Yid‘ oder ޟYiddoe‘ wurde. Als Jürgen Klinsmann 1994 zu Tottenham kam, zollten die Fans ihm Anerkennung mit dem Song: Chim-chimenee, Chim-chimenee Chim-chim-churoo Jürgen was a German But now he’s a Jew. 13
Kein Wunder war geschehen, keine Konversion war erfolgt, sondern nur ein üblicher Vereinswechsel eines bekannten Spielers. Wenn die Rekonstruktion Foers zutrifft, ist es keine lange Tradition der Fans von Tottenham Hotspurs, sich selbst als ‚Yids‘ zu bezeichnen, sondern eine zu Beginn der 1980er Jahre erfolgte Reaktion auf Beleidigungsgesänge gegnerischer Fans. TottenhamFans wurden darin als Yids bezeichnet, da in der Nachbarschaft des Tottenham Vereinsgeländes ein chassidisch-jüdisches Viertel liegt. Einige Fans kommen aus diesem Viertel, schwarz gekleidet, traditionsbewusst – eine ideale Vorlage für die ‚Kreativität‘ gegnerischer Fangesänge. „Hitler’s gonna gas’em again/we can’t stop them/the Yids from Tottenham“. 14 Zu Beginn der 80er Jahre rief ein Lied, gesungen bei einem Auswärtsspiel gegen Manchester City, schließlich eine Reaktion hervor, die zur Übernahme der Beleidigung als Selbstbezeichnung und als selbstbewusste Selbstauszeichnung führte.
12 B. Murray: The Old Firm in the New Age, S. 43f. 13 F. Foer: Wie man mit Fußball die Welt erklärt, S. 90. 14 Ebd., S. 90f. 25
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We’ll be running around Tottenham with our pricks hanging out tonight […] Singing I’ve got a foreskin, I’ve got a foreskin, I’ve got a foreskin, and you ain’t We’ve got foreskins, we’ve got foreskins, you ain’t.
Die Antwort bestand diesmal nicht aus eigenen Beleidigungsgesängen, sondern Tottenhams jüdische Fans „ließen geschlossen die Hosen herunter und schwenkten trotzig ihre beschnittene Männlichkeit hin und her“.15 Zunächst übernahm der gewaltbereite Fankern die Bezeichnung und nannte sich ‚The Yid Armee‘. Die Hooligans oder Ultras aber wurden zu Trendsettern und so konnte schließlich Jürgen Klinsmann vom Deutschen zum Juden werden. Vor dem Spiel wurden nun T-Shirts mit der Aufschrift ‚Yid4ever‘ verkauft. Die Vergemeinschaftungsprozesse werden als soziale Kategorisierungsprozesse deutlich. Diese haben sich seit den späten 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wesentlich verändert. Die sozial hergestellten Eindeutigkeiten des ‚Seins‘ wurden aufgelöst. Das ist zumindest nicht nur eine positive Nachricht. Die nun ins Soziale selbst eingebaute Reflexivität kann den Gebrauch negativer Zugehörigkeitsstereotype sogar steigern und intensivieren. Denn wurde einerseits im Alltag und für die Akteure selbst deutlich, dass es sich um Zuschreibungen handelt, konnte das Spiel der Zuschreibungen nun auch offen betrieben werden. Sie werden zudem nicht weniger wirklich, weil sie gemacht sind. Ganz im Gegenteil kann man sagen, sie sind wirklich eben weil sie gemacht sind. Nur dies ist ihre Wirklichkeit, sie kennen keine andere Form. Konstruiert zu sein ist ihre Realität. Geradezu klassisch vollzieht sich daher das wirkliche Spiel dann, wenn Besonderheiten eines Spielers zu Etikettierungen, die im Massenspiel schnell zu Diffamierungen werden, benutzt werden. Graeme Le Saux, 36facher englischer Nationalspieler, der u.a. für Chelsea und Blackburn spielte, wurde so etwa zum zeitungslesenden ‚Schwulen‘ gemacht, da er von einem untypischen Urlaub mit einem Freund in Norwegen berichtete und er in seiner Tasche den Guardian bei sich hatte und nicht die Sun, also etwa die FAZ und nicht die Bild. 16 Nicht zufällig sind es vor allem Rasse, Sexualität und das Zugehörigkeitskonglomerat der Ethnizität, was immer darunter verstanden wird, seien es nationale, kulturelle, religiöse, sprachliche, regionale etc. Differenzmarker und Identitätsschnipsel, die immer wieder zu Etikettierungen benutzt werden. Man kann durchaus sagen, dass es sich hierbei um ein zweites Spiel ober- und unterhalb des Spiels handelt. Von oben betreiben die Vereine ihr Identitätsma15 Ebd., S. 91. 16 Graeme Le Saux: Left field. A Footballer Apart, London: HarperSport 2007, S. 3ff. 26
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nagement in Form von Merchandising und eigenen Zeitschriften. Sie können dabei auf ihre jeweilige Tradition zurückgreifen, ihre traditionale Anhängerschaft mobilisieren, ihre Struktur aber hat sich wesentlich verändert. Die Mannschaften sind internationalisiert, die Spieler sind praktische Kosmopoliten, die wechselnde Vereinsfarben tragen und die renovierten oder neuen Stadien müssen mit einem neuen Publikum gefüllt werden und wurden es auch. Von unten, von den Traditionalisten unter den Fans, kann dies schließlich auf zum Teil vehemente Kritik stoßen, obwohl sie selbst besonders aktiv am zweiten Spiel teilnehmen. Wie das erste Spiel aber begann auch dieses sich schließlich zu lösen: von den eindimensionalen Etikettierungen, von den einmal für immer getroffenen Zuschreibungen. Einige Profi-Spieler schlossen zu den Pop-Stars auf, wurden in bestimmten Fällen zu symbolischen Berühmtheiten, die sich Extravaganzen nicht nur leisten können, sondern müssen. Der grausame Karneval, der immer wieder in Gewalt umzuschlagen droht, kann dann bei institutioneller und medialer Unterstützung zu einem leichten Sommerfest werden, bei dem das Spiel ernst genommen wird, um das zweite Spiel als Fest gestalten zu können. Das zweite Spiel der Zuschreibungen aber kann dennoch ‚ernst‘ bleiben, gerade weil es bewusst betrieben wird. Zwar bietet es die Möglichkeit, nach dem Spiel als ‚Karneval‘ in den Alltag zurückzukehren, aber die Leidenschaften können auch anders benutzt, auf Dauer gestellt werden. Hierzu braucht es allerdings weitere Aktivitäten, die meist von außen kommen. Ivan Colovic hat dies am Beispiel der Rolle der ‚Ultras‘ von Roter Stern Belgrad in den jugoslawischen Auflösungskriegen beschrieben. Er hat die nur peripheren Veränderungen der Lieder untersucht, die die Fans in den Stadien sangen und die sie, als sie zum Teil als Wochenendkrieger, zum Teil aber auch als Mitglieder einer organisierten paramilitärischen Einheit (die berüchtigten ‚Tiger‘ um den Anführer Arkan) an die diffuse Front fuhren, begleiteten. 17 Es handelt sich nicht um eine Ausnahme, nicht um einen jugoslawischen Sonderfall. Michael Mann stellt in seiner systematischen Untersuchung zu ‚ethnischen Säuberungen‘ fest, dass immer wieder beobachtet werden kann, dass das Personal der Gewalt aus bestimmten Bereichen kommt, neben Polizisten, Soldaten und Kriminellen eben auch Leistungssportler. 18 Kollektive Leidenschaften lassen
17 Ivan ýoloviü: „Fußball, Hooligans und Krieg“, in: Thomas Bremer/Nebojsa Popov/Heinz-Gunter Stobbe (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg: kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, Berlin: Verlag Arno Spitz 1998, S. 261-276; differenzierend Natalija Basic: Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus der Perspektive ex-jugoslawischer Soldaten 19911995, Gießen: Psychosozial-Verlag 2004, S. 207f. 18 Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg: Hamburger Edition 2007, S. 20. 27
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sich in Machismokulturen anscheinend leicht übertragen und das Tabu körperlicher Gewalt ist geringer ausgebildet. Die Transformation in eine allgemeine und organisierte Gewalt aber entwickelt sich nicht selbständig, aus einer Eigenlogik, aus dem Spiel oder aus dem zweiten Spiel der Zuschreibungen heraus. Hierzu, zur Verstetigung, braucht es mehr, Organisatoren und Anführer etwa, die meist aus der Oberoder Mittelschicht kommen. Dies zeigen die Schwierigkeiten, auf die Versuche der politisch-extremen Mobilisierung stoßen können. Ihre Erfolge aber sind ebenso wenig zu übersehen, wie es in einigen Amateurligen in der Bundesrepublik besonders im Osten sichtbar wird. Jedoch gehört zu einer solchen Mobilisierung mehr als Fußball und dessen Kontext, eine weitergehende Normalisierung des Extremen vor Ort ist hierzu nötig. *** Die gesellschaftliche Stellung des Fußballs aber hat sich dennoch wesentlich verändert. Er ist Teil der Unterhaltungsindustrie geworden. Waren ungefähr bis Mitte der 80er Jahre Musik und Sport getrennte Felder, auch wenn einige Fußballer in Deutschland hier und da Schlager aufnahmen und damit ein bestimmtes kulturelles Feld besetzten, mischten sich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Bereiche. Bildete die frühe Stilikone Günther Netzer eine Ausnahme und, zusammen mit Franz Beckenbauer, einen Vorläufer der Öffnung des Fußballs in andere gesellschaftliche Bereiche, ist die Trennung zwischen Fußball und Unterhaltung als Kulturindustrie heute weitgehend aufgehoben. Der erfolgreiche Fußballprofi ist mit dem Popsänger, dem Rockstar oder Filmschauspieler auf gleicher Augenhöhe, eine Band kann sich nicht nur ‚Sportfreunde Stiller‘ nennen, in den 70er Jahren entweder eine Unmöglichkeit oder der Verweis auf ein spezifisches Feld kultureller Unterschicht, sondern trat während der Feiern der Weltmeisterschaft auf und lieferte das Lied zum Spiel. Keineswegs handelt es sich dabei um ein regional oder national beschränktes Phänomen. Einige Bands des Britpop sind eng mit dem Fußball verbunden und die Trennungen zwischen den kulturellen Lagern wurden aufgehoben. Das Entweder/oder zwischen Sport und Kultur ist weggefallen und was eine Ausnahme von Grenzgängern war, ist nun fast die Regel. Für Jugendliche heißt dies heute, dass sie gleichzeitig Fußball- und Musikfans sein können. Mit der neuen Ökonomie des Fußballs hat sich seine Kultur strukturell verändert – zumindest auf der Ebene des großen Spiels, des Geschäfts, des Fests, des öffentlichen Karnevals, aber auch auf der Ebene der Identifikationen. Geblieben ist die beständige Wiederholung der rituellen Vergemeinschaftung. Woche für Woche finden viele Spiele statt. Die drohende Veralltäglichung wird durch besondere Ereignisse durchbrochen, die zumindest für eini28
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ge Zeit den auch immer wieder so genannten ‚Ligaalltag‘ durchbrechen, traditionelle ‚Derbys‘ gehören hierzu, die europäische Meisterliga, vor allem aber die großen Turniere, Europa- und Weltmeisterschaften. Aber auch die Nationalmannschaften haben ihre Struktur verändert. Sie bieten ein länderspezifisch je unterschiedliches Spiegelbild der sozialstrukturellen Veränderungen. So konnte etwa die französische Front National trotz der Erfolge der Équipe Tricolore immer wieder darauf verweisen, dass es sich eigentlich gar nicht um eine ‚National‘-mannschaft handele, da kaum ‚Franzosen‘ auf dem Platz seien. Gemeint ist, dass viele französische Spieler aus der in den letzten Jahrzehnten eingewanderten Bevölkerung stammen. Die in den 60er Jahren beginnende Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland hingegen hat sich bisher kaum in der Zusammensetzung der Nationalmannschaft niedergeschlagen. Die Kinder der größten Einwanderergruppen sind nicht repräsentiert. Spieler aus der in die Bundesrepublik eingewanderten Bevölkerung finden sich zahlreich in den Profi- wie in den Amateurligen, sehr erfolgreiche Spieler aber wählen bzw. wählten häufig ihr Herkunftsland bzw. das ihrer Eltern für Einsätze in der Nationalmannschaft. Man findet hier eine fast zu genaue, erstaunliche Reproduktion unterschiedlicher Einwanderungsregime wieder, die so weit ging, dass in einigen Fällen geradezu nach deutschen Vorfahren gesucht wurde, um Spielberechtigung durch Übertragung der Staatsbürgerschaft aus Herkunftsgründen zu erlangen (so etwa bei Paolo Rink und Oliver Neuville). Allmählich ändert sich die Situation. Die jüngere Generation selbst trifft manchmal andere Wahlen und auch die politisch und gesellschaftlich veränderte Einbürgerungspolitik hat ihre Folgen. Neue Konflikte folgen daraus, wie sie am Fall des jungen Nationalspielers Ashkan Dejagah deutlich wurden.19 Er verweigerte ein Länderspiel in Israel. Die Begründung changierte zwischen Angst um seine Familie im Iran und der Befürchtung, nicht mehr in den Iran einreisen zu dürfen. Im Nachhinein bleibt offen, ob ein junger Spieler schlecht beraten war, ein Verband Fehler in der Öffentlichkeitsarbeit machte oder ob ein wenig mit dem Zugehörigkeitsgenerator Fußball gespielt wurde. Fußball ist zunächst das sich beständig wiederholende Spiel. Es findet Woche für Woche auf den vielen Plätzen statt. Kinder, Eltern, Trainer, Platzwarte, Vereinszuständige schaffen die alltägliche Grundlage für die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs. Diese kommt ihm nicht nur als Spiel, sondern als ein Zugehörigkeitsgenerator zu, der immer wieder rituell erzeugt, symbolisch abgesichert und medial inszeniert wird. Fußball als erstes und zweites Spiel kann in diesem Sinne immer wieder hergestellt werden, weil er vielen so viel bedeutet; er bedeutet so viel, weil er täglich auf beiden Ebenen,
19 Spiegel Online: Dejagah muss sich entscheiden, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,510410,00.html vom 9. Oktober 2007. 29
ULRICH BIELEFELD
der des ernsten Spiels um den Ball und des ernsten Spiels um die Zugehörigkeiten, wieder hergestellt wird. Der zu Beginn geschilderte Einzelfall wiederholt sich in vielen Variationen wöchentlich und tausendfach auf den Sportplätzen. Es gibt dabei immer die Möglichkeit, die eigene Mannschaft oder die Farbe des Vereins wichtiger zu nehmen, als soziale und andere Differenzen. Dennoch zeigt sich, wie bedeutend die Unterschiede sind und wie sie gleichzeitig an Relevanz verlieren, sich verändern und umgedeutet werden können. Es sind dabei die faktischen und die vorgestellten Zugehörigkeiten, die über tatsächliche Exklusionen und die sich bildenden und institutionalisierten Wir/Sie-Beziehungen mit entscheiden. Und schließlich wird wieder gespielt, kommt es darauf an, dass die Mannschaft aufläuft, der Ball läuft, der unerwartete Pass gespielt und mit Eleganz angenommen wird. Im kurzen Moment des jubelnden Knäuels und der feiernden und trauernden Zuschauer verlieren sich die Differenzen für einen Augenblick.
Literatur Basic, Natalija: Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus der Perspektive ex-jugoslawischer Soldaten 1991-1995, Gießen: Psychosozial-Verlag 2004. Calhoun, Craig: „The Class Consciousness of Frequent Travellers: Towards a Critique of Actually Existing Cosmopolitanism“, in: Steven Vertovec/ Robin Cohen (Hg.), Conceiving Cosmopolitanism: Theory, Context, and Practice, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 86-109. ýoloviü, Ivan: „Fußball, Hooligans und Krieg“, in: Thomas Bremer/Nebojsa Popov/Heinz-Gunter Stobbe (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg: kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, Berlin: Verlag Arno Spitz 1998, S. 261-276. Cresswell, Peterjon/Evans, Simon: The Rough Guide to European Football. A Fans' Handbook, London: Rough Guides 1999. Foer, Franklin: Wie man mit Fußball die Welt erklärt, München: Heyne 2006. Kuper, Simon: Football Against the Enemy, London: Orion 1994. Kuper, Simon: Ajax, the Dutch, the War: Football in Europe During the Second World War, London: Orion 2003. Le Saux, Graeme: Left field. A Footballer Apart, London: HarperSport 2007. Mann, Michael: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg: Hamburger Edition 2007. Murray, Bill: The Old Firm in the New Age. Celtic and Rangers Glasgow Since the Souness Revolution, Edinburgh: Mainstream Publications 1998. Repplinger, Roger: Die Söhne Sachnins, München: Bombus 2005.
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Globalisierung, Lokalisierung, (Re-)Nationalisierung. Fußball als lokales Ereignis, globalisierte Ware und Bilderwelt GABRIELE KLEIN
„To the slogan, ‚Think globally, act locally‘, we may thus add the slogan, ‚Think locally, act globally‘“ 1
Dieser viel zitierte Satz stammt vom US-amerikanischen Kultursoziologen Douglas Kellner; er könnte aber auch von Uli Hoeness sein, hat er doch in den letzten Jahrzehnten als Vereinsmanager einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sich Bayern München heute im Spannungsfeld von Globalem und Lokalem bewegt. Dazu musste die Politik eines mittlerweile weltweit als Marke agierenden Vereins mehrfach modifiziert werden: Der Verein, der lokal – und das heißt in diesem Fall stadtteilspezifisch – verankert war und einst für bürgerlich-etablierten Fußball in München stand, wandelte sich zu einem national erfolgreichen Unternehmen, das Lokalkolorit zur Marke formte, um dann ein in Politik und Ökonomie weltweit ausgerichteter global player zu werden, der sich, anders als andere weltweit agierende Wirtschaftsunternehmen, zugleich als identifikatorischer Platzhalter des Lokalen in Szene setzt. Dieser Text thematisiert Fußball als eine bewegungskulturelle Praxis, die sich im Spannungsfeld zwischen Globalisierung, Lokalisierung und (Re-) Nationalisierung entfaltet und auch hieraus ihre Dynamik bezieht. Die Eckpfeiler dieses Spannungsfeldes sollen in diesem Text diskutiert werden. Sie lassen sich eingangs folgendermaßen skizzieren: Fußball lässt sich als eine hybride Kulturpraxis beschreiben, die im Zuge von Globalisierung ohne Migration, d.h. ohne die globalen Wanderungsbe1
Douglas Kellner: „Globalization and the Postmodern Turn“, in: Roland Axtmann (Hg.), Globalization and Europe. Theoretical and Empirical Investigations, London, Washington: Pinter 1998, S. 37. 31
GABRIELE KLEIN
wegungen ihrer Akteure, den Fußballspielern und den Fans, nicht mehr vorstellbar ist. Die Globalisierung geht einher mit postkolonialen Strategien der Fußballpolitik. Fußball lässt sich zweitens als eine kommerzialisierte Kulturpraxis kennzeichnen: Fußball als Ereignis, als Performance auf der einen Seite und als Erlebnis des Zuschauens auf der anderen Seite kann nur in Zusammenhang mit und nicht gegen Kommerzialisierung, Globalisierung und Medialisierung gedacht werden. Anders gesprochen: Anders als Gunter Gebauer2 behauptet, ist aus dieser Perspektive das Spiel nicht ohne ökonomische, politische, soziale und symbolische Bedeutungszuschreibungen und Kontextualisierungen wahrnehmbar ebenso wie das Erleben des Zuschauers im Stadion sich nicht mehr jenseits medialer Übersetzungen vollzieht. Und genau diese Verschränkungen unterscheiden den Fußball sowohl von anderen kulturellen Feldern, ob Hochkultur, Massenkultur oder populäre Kultur, wie auch von anderen weniger populären sportlichen Praktiken, wie z.B. dem Bogenschießen. Drittens lässt sich Fußball als eine kulturelle Ware beschreiben, die dadurch wertschöpfend wird, dass sich hier populäre Kultur, ökonomische Interessen, mediale Präsenz und sportlicher Wettkampf auf eine besondere, einzigartige Weise verbinden. Viertens produziert Fußball eine global zirkulierende Bilderwelt, die wiederum Referenzrahmen des lokalen Ereignisses Fußball geworden ist. Fußball ist ein globalisiertes Medienereignis. Die Begeisterung für den Fußball heute speist sich auch daraus, dass er eine kulturelle Praxis ist, die nicht nur lokal in allen Ländern der Welt anzutreffen ist, sondern deren Großereignisse eine Anzahl von imaginären globalen Fangemeinschaften hervorbringen.
„Glokale“ Fankulturen Fußball ‚plecken‘ im Herzen des Ruhrpotts bei Etus Wanne, dribbeln am brasilianischen Strand, kicken in Kenia – Fußball ist weltweit gestreut und überall auf der Welt beheimatet. Der Fußball ist eine globalisierte Kultur, insofern er fast mühelos regionale und nationale Grenzen überspringen und wenig an spezifische Orte gebunden scheint, obwohl der Vereinsfußball freilich seinen Entstehungshintergrund in Städten und Stadtteilen hat und nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil der städtischen Kultur ist. Denn wie kein anderer Sport provoziert der globale Sport Fußball die Herausbildung differenter lokaler Kulturen, die sich wiederum in und mit spezifischen urbanen Räumen entwickeln. So ist z.B. nicht nur die Spielkultur der Bremer Mannschaft eine andere als die der Bayern, auch die jeweiligen Fankulturen tragen deutliche lokale und vereinsspezifische Züge, man denke nur an den Unterschied zwi-
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Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006.
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schen den Fans von St. Pauli und den HSV-Fans, des BVB und von Schalke 04. Die Globalisierung des Fußballs bewirkt also nicht die Loslösung vom Lokalen sondern eher die Produktion von lokaler Differenz und bestätigt damit eine These, die in der Globalisierungstheorie mittlerweile ein Allgemeinplatz ist. Die Medien- und Sportindustrien befördern die Zirkulation von lokalen Produkten (z.B. Fanartikel), Bildern und Symbolen und wirken damit an der Aktualisierung und Verfestigung lokaler Vereinsidentitäten mit, deren Mitglieder und Fans ja nicht unbedingt, wie die weltweiten Fangemeinden belegen, vor Ort leben müssen, um sich mit dem Verein zu identifizieren. Es ist dieses Spannungsverhältnis von Globalisierung und Lokalisierung, in dem sich Fußball so erfolgreich und beständig entfalten konnte. Die vielen lokalen Kulturen des Fußballs belegen auch, dass es eine eindimensionale Perspektive wäre, kulturelle Globalisierung hegemonietheoretisch aus der Perspektive der lokalen Loslösung kultureller Praktiken und ihrer Vereinnahmung durch eine global agierende Sportindustrie zu betrachten. Um die unabdingbaren Wechselwirkungen zwischen Globalem und Lokalem zu beschreiben, hat Ronald Robertson den Begriff „Glokalisierung“3 eingeführt. Die Kultur des Lokalen ist demnach abhängig vom Globalen, wie umgekehrt lokale Kulturpraxis einen Einfluss darauf hat, wie sich kulturelle Globalisierung inhaltlich gestaltet. 4 Dies ist aus ökonomischer Perspektive sehr einsichtig: Mannschaften müssen in internationalen Wettbewerben spielen, dort wartet das große Geschäft. Zugleich ist die Inszenierung von Lokalkolorit schon aus ökonomischen Gründen nötig, um die Marke (z.B. FC Bayern) entsprechend auf dem globalen Markt zu platzieren. Aber eine Verzahnung von Globalisierung und Lokalisierung ist auch aus kulturtheoretischer Perspektive entscheidend: Aus der Perspektive der ‚Glokalisierungsthese‘ sind lokale Orte zwar Bestandteile der globalen Logik der Produktion der Ware Fußball, die lokale Praxis des Fußballs geht aber nicht vollständig in der Logik der Ware auf, da sich die Aneignung und Rezeption des Fußballs, also das Ereignis Fußball, entsprechend der sinnweltlichen Rahmungen und der Lebenswelten der Fußballfans vollziehen. Aus dieser Perspektive wird auch erklärbar, dass der in Europa und Südamerika als ‚Männersport‘ wahrgenommene Fußball in den USA als ‚weiblicher‘ Sport gilt. Dort sind eher American Football, Baseball oder Basketball zur Bühne für die Inszenierung von Maskulinität geworden. Die Wirkungsweise der heutigen globalen Fußballindustrie widerlegt die auf Horkheimers und Adornos Kulturindustriethesen zurückgehende Annah3
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Vgl. Roland Robertson: „Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 192-220. Vgl. D. Kellner: Globalization and the Postmodern Turn, S. 23-42. 33
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me, derzufolge es das alleinige Kennzeichen der globalisierten Kulturindustrien sei, Homogenität zu produzieren, Standardisierung zu befördern und damit lokale kulturelle Traditionen des Fußballs zu verdrängen zugunsten einer am Profit ausgerichteten Warenkultur des Fußballs. Der Fußball veranschaulicht vielmehr jene These, die besagt, dass die kulturelle Praxis unter den Bedingungen von Globalisierung sich im ‚Dazwischen‘ von Globalem und Lokalem konstituiert: Fußball wurde an bestimmten Orten und in kulturellen Räumen entwickelt, von dort aus global verbreitet, in verschiedenen Gegenden der Welt angeeignet. An diesen Orten bilden sich wiederum lokale Stile (z.B. brasilianische Dribbelkunst oder Bremer Offensivfußball) heraus, die auf den globalen Fußball, auf seine Techniken, Taktiken und Trainingsformen zurückwirken. Lokale Fußballkulturen sind heute zugleich Voraussetzung, Instrument und Resultat der globalisierten Fußballindustrie. Als solche bleiben sie immer auch different zur globalisierten Warenproduktion und -zirkulation des Fußballs. In diesem Spannungsfeld von Vereinnahmung der lokalen Fußballkultur durch globale Politik und der Aufrechterhaltung der Differenz zwischen beiden liegt die Ambivalenz der ‚glokalisierten‘ Fußballindustrie. Ob Hamburg, Berlin, Stuttgart oder Schalke – lokale Fußballkultur besteht auch in Deutschland vor allem aus jenen Fans, die eine starke lokale Identität aufweisen. Die lokalen Fankulturen inszenieren sich als Gemeinschaft vor allem im theatralen Raum der Stadien. Fußball bietet die Möglichkeit einer Identifikation mit einer global verbreiteten Kultur, ohne zu gewachsenen lokalen Kulturpraktiken in Distanz treten zu müssen.
Fußball als hybride Kultur Die Globalisierung des Fußballs erfolgt, ganz nach dem Muster kultureller Globalisierung, im Wesentlichen über Medialisierung. Global agierende Mediennetzwerke sorgen dafür, dass die Protagonisten und Spielstile des Fußballs weltweite Verbreitung finden. Alte (Film und Fernsehen) und neue Medienindustrien (digitale Bildmedien) fungieren dabei als Agenten der global operierenden, vor allem in Europa, und hier vor allem in den ehemaligen Kolonialländern verankerten Fußballindustrien. Die Globalisierung des Fußballs lässt sich deshalb als Verwestlichung oder Europäisierung anderer Kulturen, als eine postkoloniale Strategie lesen, mit der westliche Werte und Normen, Körperbilder und Bewegungs- und Raumordnungen weltweit transportiert werden. Dass Fußball einen postkolonialen Charakter annimmt, zeigt sich nicht nur an der Politik der FIFA sondern in neuartiger Weise auch darin, dass Oligarchen, die global player weltweiter Konzerne, den internationalen Markt der Fußballvereine aufkaufen und zu kontrollieren beginnen.
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Aber entgegen den postkolonialen Strategien der Vereinnahmung des Weltfußballs durch Europa belegt gerade der Fußball in lateinamerikanischen Ländern, dass die Globalisierung des Fußballs immer auch mit kulturellen Hybridbildungen verbunden ist und gerade diese die Produktivität des Fußballs enorm gesteigert haben: So ist Fußball in Lateinamerika bereits auf kreolische Kulturen gestoßen, d.h. europäische Einflüsse hatten sich hier bereits mit der Ballspielpraxis schwarzer Kulturen vermischt. Dieses Verhältnis zwischen postkolonialer Vereinnahmung und Hybridbildung wird gerade dann wichtig, wenn kulturelle Differenz im Fußball, wie z.B. deutsche Spielart gegen brasilianische Spielart oder wenig diszipliniertes Verhalten am Beispiel nicht-europäischer Spieler wie Ailton oder Marcelinho thematisiert wird. Fußball-Kulturen sind in ihren vielen Facetten ein sehr anschauliches Beispiel für hybride Kulturen: Fußball zeigt, dass es keinen Sinn ergibt, von Sport oder Sportkultur als einem einheitlichen Gebilde und damit im Singular zu sprechen. Fußball ist, wie Sport- und Bewegungskulturen insgesamt, nicht singulär, sondern pluralistisch, nicht homogen, sondern different. Wie aber werden angesichts dieser hybriden Kulturen des Fußballs nationale Identitäten im Spannungsfeld von Globalisierung und Lokalisierung geschaffen?
Die Produktion nationaler Identität Es ist eine zentrale These der Globalisierungstheorie, dass Globalisierung von einer Wiederentdeckung und Neuerfindung lokaler, regionaler und nationaler Kulturen begleitet wird. 5 Diese Tendenz sei zurückzuführen auf eine befürchtete Zerstörung von Lokalität durch den globalen Weltmarkt, durch expandierende Massenmedien und Kulturindustrien. Zudem beruhe die Rekonstitution des Lokalen auch auf identitätsstiftenden Momenten. Im Lokalen kommen das Bedürfnis nach Heimat und der Wunsch nach einer Reduktion kultureller Komplexität ebenso zum Ausdruck, wie von hier fundamentalistische und modernitätskritische Bewegungen ihren Ausgang nehmen. Die Nation ist eine solche identitätsstiftende Figur des Lokalen. Als politische, soziale und ökonomische Einheit hat sie im Zuge des globalen Zusammenwachsens zwar an Bedeutung verloren, als Interpretationsrahmen und identitätsstiftende Kategorie aber ist sie wichtiger geworden. Autoren wie Benedict Anderson, Stuart Hall oder Mike Featherstone beschreiben die Nation 5
Vgl. Anthony D. Smith: „Towards a Global Culture?“, in: Mike Featherstone (Hg.), Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity, London, Newbury Park, New Delhi: Sage 1990, S. 171-191; Mike Featherstone: „Global and Local Cultures“, in: Ders. (Hg.), Undoing Culture. Globalization, Postmodernism and Identity, London, Thousand Oaks, New Dehli: Sage 1995, S. 86101. 35
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als eine „imagined community“. 6 Im Unterschied zur Vorstellung ethnischer Gemeinschaften ist der Begriff der Nation nicht nur territorial verankert, sondern auch als Bewusstseinsprozess medial produziert. Benedict Anderson verweist darauf, dass die Entstehung eines nationalen Bewusstseins ohne Medien nicht vorstellbar gewesen sei. Und auch für Fußball als populäre Kultur gilt: Seine Expansion, die sich vor allem in den Städten der Moderne vollzog, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht vorstellbar ohne Printmedien wie Zeitschriften, Journale, Plakate; eine Loslösung des Ereignisses Fußball vom Lokalen und damit die Bildung der von lokalen Orten losgelösten imaginären Gemeinschaften ermöglichten Radio und Fernsehen, während eine weltweite Vermarktung mit der Kommerzialisierung und Privatisierung des Fernsehens – in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre – einsetzt. Aus dieser Perspektive kann Fußball als ein probates Mittel angesehen werden, nicht nur um lokale Identitäten zu überschreiten sondern auch, um nationale Identitäten neu zu sichern. Und diese beide Perspektiven geraten nicht selten in Konflikt: Bei Bayern München spielen keine Bayern mehr, im Ruhrpott keine Ruhrgebietskinder, in der englischen Premier League keine Engländer, während die Nationalmannschaften der europäischen Länder unter mangelnden Fußballnachwuchs leiden, weil die nationalen Ligen lieber Spieler aus außereuropäischen Ländern kaufen, als nationale Nachwuchspolitik zu betreiben. Fußball hat, wie es sich hier zeigt, zugleich die Erosion regionaler Identitäten zu uneinheitlichen, hybriden Kulturen verstärkt und zu einer Revitalisierung des Nationalen beigetragen. Auch im Fußball stellt sich das Nationale als imaginäre Figur vor allem über Medien her. Stuart Hall benennt verschiedene mediale Inszenierungsformen zur Erzeugung des Nationalen. Dazu zählen die in Medien und im Alltag immer wieder vorgetragenen Nationalgeschichten, der Verweis auf den Ursprung, auf Kontinuität und Tradition, auf den Gründungsmythos und zugleich auf die Zeitlosigkeit. 7 Da das Nationale eine fiktive Figur von Ethnizität beschreibt, unter der verschiedene Ethnien vereinheitlicht werden, muss es als eine „spezifische Ideologie-Form“ 8 immer wieder hergestellt, verinnerlicht und geglaubt werden. Folgt man diesen Thesen Halls, so ließe sich sagen: Die Reaktualisierung von nationaler Ideologie betreibt der Diskurs um Fußball, indem er einerseits auf den Ursprungsmythos rekurriert (Das Wunder von
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Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main, New York: Campus 1996. Stuart Hall: „Kulturelle Identität und Globalisierung“, in: Karl H. Hörning /Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: 1999, S. 393-441, hier S. 419. Étienne Balibar: „Die Nation-Form. Geschichte und Ideologie“, in: Ders./Immanuel Wallerstein, Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg, Berlin: Argument 1992, S. 107-130.
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Bern), andererseits aber auch neue nationale Identitäten hervorbringt, so z.B. über die Konstruktion nationaler Spieler- und Trainertypen und Spielsysteme, und damit Differenz zum ‚Original‘ produziert. Es ist die Performanz der Medien, die sowohl bei der medialen Produktion von Fußball als nationalem ‚Gut‘ wie auch in dessen Rezeption durch Fans zum Tragen kommt. Vor allem Fußball-Berichterstattungen rufen die Imagination einer nationalen Fußballkultur hervor, die zudem noch als soziale Metapher dient und identitätsstiftend wirkt: „Wir sind Weltmeister“. Über diesen Satz wird der Bezug zum Imago einer Deutschen Nation hergestellt. Die Imagination eines nationalen Fußballs befördert eine im Zuge von Europäisierung auf der einen Seite und Multikulturalität auf der anderen Seite rückwärtsgewandt erscheinende Identitätspolitik, indem sie Wir-Bilder herstellt, die Einheitlichkeit und Eindimensionalität suggerieren, wo im Alltag Mehrdimensionalität und Hybridität vorherrschen. Kein Wunder, dass die Fußballspieler selbst sich unter ‚deutschem Fußball‘ so recht nichts vorstellen können, erleben sie doch vornehmlich die Differenzen, die zwischen den einzelnen individuellen Stilen, spezifischen Spielsystemen, Trainingsmethoden und Vereinenskulturen bestehen. Das Unternehmen einer nationalen Identitätsproduktion im und über Fußball liest sich wie ein Versuch, eine nationale Autonomie symbolisch zu (re-)etablieren. Zudem schafft die Rede vom deutschen Fußball Differenz und Distinktion – z.B. in Bezug auf Nationalspieler mit hybriden kulturellen Herkünften wie z.B. Gerald Asamoah. Aus dieser Perspektive scheint das Medienkonstrukt ‚Deutscher Fußball‘ ein kulturelles Beispiel für (Re-)Nationalisierung zu sein: Es erfüllt vor allem die Funktion, die Kategorie des Nationalen in Zeiten von Globalisierung zu re-etablieren.
Fußball als Bilderwelt Fußballweltmeisterschaften, aber auch Olympiaden, oder Kriege, Terroranschläge, Flugzeugabstürze und Flutkatastrophen sind Ereignisse, bei denen Globales und Lokales, Bildhaftes und Reales eine eigentümliche Beziehung miteinander eingehen. Reale Geschehnisse an einzelnen Orten sind zugleich globale Medienereignisse, die Bilder der Medien machen das reale Geschehen erst glaubwürdig. Der Glaube an die Authentizität der Bilder ist der Beleg für die Existenz des Realen. Als Bild ist alles lebbar: George Best als Fußball-Beatle, Mehmet Scholl als DJ, David Beckham als Popstar und selbst Kahn als Titan. Bildentwürfe beeinflussen die Lebenswelten von Fußballfans nahezu überall auf der Welt. Arjun Appadurai betont die verändernde Kraft von Bildern. Sie liegt in der Produktion von Lebensentwürfen: Das global zirkulierende Bild des Fußballstars, das Bild des Glamours, das heute Spitzenfußballer umgibt, haben VorBild-Charakter, zumal der Fußballstar längst zum Medienstar geworden ist 37
GABRIELE KLEIN
und in diesem Wechsel nicht nur – und auch nicht primär – sein Können verehrt sondern sein Lebensstil in Szene gesetzt und vermarktet wird. Für Fußballstars gilt, was Appadurai für Medien insgesamt unterstellt: „Die Medien spielen […] nicht so sehr die Rolle als direktes Reservoir neuer Bilder und Szenarien für die Lebensmöglichkeiten, sondern als machtvolle Instanz der Prägung sozialer Zeichensysteme, die sich auch auf jene durch andere Weise hergestellten sozialen Kontakte in der großstädtischen Welt auswirkt.“ 9
Das wichtigste Bildmedium des Fußballs ist das Fernsehen. Es ist die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Globalem und Lokalem. 10 Es wäre historisch verkürzt, die Bildhaftigkeit des Fußballs als eine neuartige Entwicklung herauszustellen. Als globale Kultur hat Fußball schon immer Bilder benötigt. Bereits die WM 1954, also in jener Zeit, als das Fernsehen zumindest in Deutschland gerade seinen Stammplatz zwischen Nierentischen, Clubsesseln und Gummipalmen in den Wohnzimmern eroberte, hat Fußball über Bilder weltweit verbreitet. Die bildhafte Vermittlung fußballkultureller Stile und die darin immanenten normativen Setzungen über das, was Fußball als Lebensstilmuster und Fußballstars als Idole ausmacht, nehmen hier ihren Anfang. Nicht zufällig entstehen mit der Verbildlichung des Fußballs auch die ersten prominenten Medienopfer des Fußballs: Mit der Weltmeisterelf von 1954 etabliert sich der Mythos Fußball als eine risikoreiche und grenzüberschreitende Lebensweise. Alkohol und Drogenkonsum prominenter Fußballer gelten fortan als überzeugender Beleg für die These, dass das durch Medien produzierte Startum auch im Fußball eine Verbildlichung des Lebens fordert und ein Leben jenseits und nach dem Fußball erschwert. Und auch in dieser Hinsicht reihen sich so manche Fußballstars in die Gruppe der Filmstars und Popstars ein. Bilder repräsentieren nicht die ‚reale‘ Lebenswelt des Fußballers, sondern stellen dessen Lebenswelt als Pose dar. Galt beispielsweise zu Zeiten der Weltmeisterelf 1954 der Film noch als Medium des Fiktiven und das Fernsehen als Medium des Realen, so ist der Fiktionalitätsgehalt des Fernsehens heute unbestritten. Fernsehbilder, so die gängige medientheoretische These, bilden nicht reale Ereignisse ab. Sie schaffen Realität, indem sie diese inszenieren, hervorbringen und beglaubigen. Auch in den Bildern des Fußballs werden nicht nur reale, lokale Ereignisse festgehalten und abgebildet, sondern auch das Lokale, Fußball als ‚Real-Life‘, als Bild produziert. Public Viewing 9
Arjun Appadurai: „Globale ethnische Räume“, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S.11-40, hier S. 21. 10 Vgl. Chris Barker: Global Television. An Introduction, Oxford, Malden: Blackwell 1997, S. 209; Ders.: Television, Globalization and Cultural Identities, Buckingham, Philadelphia: Open University Press 1999. 38
GLOBALISIERUNG, LOKALISIERUNG, (RE-)NATIONALISIERUNG
ist ein anschauliches Beispiel für jene medialen Performances, bei denen die diskursive Differenzierung von „medialer Wirklichkeit“ und „wirklicher Wirklichkeit“ 11 in das Bild selbst hineinwandert. Das, was als wirklich gilt, ist im Bild selbst auffindbar und nicht in Opposition zum Bild vorhanden: Dies zeigt sich beispielsweise bei Schiedsrichterentscheidungen, die von den Zuschauern im Stadion und vor den Fernsehern in der Wiederholung am Bildschirm überprüft werden, während das Spiel als Live-Performance, als ein Ereignis des Augenblicks keine Wiederholung kennt. Oder auch darin, dass Fußball auf Leinwände übertragen wird in einen Raum, der ein Stadion simuliert, wie es beim ‚Nachbau‘ des Olympiastadions vor dem Reichstag anlässlich der WM 2006 der Fall war. Jean Baudrillard hätte dies als Simulacrum bezeichnet und er hätte sich angesichts dieses Events und vor allem des Präsenzerlebens der Zuschauer bestätigt gefühlt, so z.B. wenn diese Gesänge, Schlachtrufe und La-O-La-Wellen aus dem Stadion in den simulierten Fußballtempel verlängerten. Die Bilder erscheinen als Beleg für die reale Existenz des Fußballereignisses, das sie abzubilden vorgeben. Aber: Mit der Medialisierung des Sozialen hat ein Prozess eingesetzt, der das Verhältnis zwischen Bild und Realität transformiert. Erst was in den Bildmedien auftaucht, gilt als existent und glaubwürdig. Bilder machen ‚Realität‘, sie sind performativ.
Imaginäre Gemeinschaften Die These der Performativität der Bildmedien vertreten bereits in den 1980er Jahren Daniel Dayan und Elihu Katz, wenn sie behaupten, dass das Fernsehen ‚reale‘ Ereignisse nicht repräsentiere oder abbilde, sondern über bestimmte Inszenierungspraktiken herstelle. Das Fernsehen berichte nicht über Ereignisse, sondern verhelfe ihnen erst zur Existenz.12 Dayan und Katz beschreiben das Fern-Sehen eines Festaktes, wie der kirchlichen Trauung eines Königspaares oder einer öffentlichen Trauerzeremonie, als „diasporische Zeremonie“. 13 Die Teilnahme an dem Ritual erfordert nicht mehr die körperliche Anwesenheit an einem zentralen Ort. Die Teilnehmenden des Rituals bilden eine imaginäre, über das Medium Fernsehen virtuell verbundene Gemein-
11 Vgl. Angela Keppler: Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung, Frankfurt/Main: Fischer 1994. 12 Vgl. Daniel Dayan/Elihu Katz: „Performing Media Events“, in: James Curran/Anthony Smith/Pauline Wingate (Hg.), Impacts and Influences. Essays on Media Power in the Twentieth Century, London, New York: Methuen 1987, S. 174-197. 13 Vgl. ebd., S. 194. 39
GABRIELE KLEIN
schaft. David Morley14 hat die These einer performativen Herstellung von Gemeinschaft bei außergewöhnlichen Medienereignissen auf den alltäglichen Fernsehkonsum übertragen. Seiner Ansicht nach provoziert die Fernsehrezeption neue Gemeinschaftsformen, die in Anlehnung an Benedict Anderson als imaginäre Gemeinschaften bezeichnet werden sollen.15 Imaginäre Gemeinschaften – wie globale Fangemeinschaften – sind über elektronische Kommunikation entstandene Sozialgebilde. Ihre Mitglieder stehen nicht zwangsläufig in einem direkten Kontakt zueinander, sie haben auch keinen gemeinsamen, materiellen Ort, an dem sie zusammenkommen. Ihre Gemeinsamkeit besteht weniger in der räumlichen Situation als in ihrem Zeitverhältnis, in der Gleichzeitigkeit ihres Tuns: samstags Sportschau, mittwochs Champions League. Imaginäre Gemeinschaften sind global gestreut, konturenlos, Effekte der Verzeitlichung, Enträumlichung und Verbildlichung der Welt. Mediale Bildproduktion und -zirkulation befördern den dynamischen Charakter der lokal ausdifferenzierten Fußball-Szenen, indem sie, folgt man den Thesen der Cultural Studies, unterschiedlich angeeignet und entsprechend different in die Lebenswelt integriert werden. Und: Medienbilder unterstützen die Bildung von imaginären Gemeinschaften – dies sowohl auf der Ebene des Globalen im virtuellen Raum als auch auf der Ebene des Lokalen, wo sich Gemeinschaften in Form von städtischen oder stadtteilorientierten Fanclubs formieren. Günther Anders sieht bereits in den 1950er Jahren in den Mitgliedern von telekommunikativen Gemeinschaften ‚individualisierte Masseneremiten‘. 16 Die globale Gemeinschaft des Fußballs widerspricht dieser für moderne Kulturkritik typischen Befürchtung. Bilder wirken hier eher gemeinschaftsfördernd, weil globale Bilderwelt und lokales Ereignis so eng miteinander verbunden sind. Die Relevanz von Bildern für die Vermarktung des Fußballs legt die Schlussfolgerung nahe, dass Bilder nicht lediglich das Fußballspiel zeigen, sondern vielmehr die kulturelle, sinnweltliche Kontextualisierung der Fußballs und seiner Akteure erst herstellen. In diese Richtung argumentiert Jody Berland 17 mit der These, dass Fernsehbilder gerade das darstellen, was sie
14 David Morley: „Wo das Globale auf das Lokale trifft. Zur Politik des Alltags“, in: Karl Heinz Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 465-466. 15 Vgl. Gabriele Klein: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 16 Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1956; Ders.: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: Beck 1980. 17 Jody Berland: „Sound, Image and Social Space. Music Video and Media Reconstruction“, in: Simon Frith/Andrew Goodwin/Lawrence Grossberg (Hg.), Sound 40
GLOBALISIERUNG, LOKALISIERUNG, (RE-)NATIONALISIERUNG
zum Verschwinden bringen: den Kontext des Fußballs, aus dem dieser hervorgegangen ist. Der BVB spielt nicht mehr nur in Dortmund, vielmehr ist dieser lokale Kontext zu einem Bild geronnen: Altindustrieregion, Ruhrpott. Im Fußball sind Bilder fester Bestandteil der Verwertungsketten einer global operierenden Sportindustrie. Sport und Bild sind miteinander fusioniert, Bilder von Fußballstars allgegenwärtig: in der Yellow-Press, in Lifestyle-Magazinen des sog. ‚People-Marktes’, in Bunte und Gala, in unendlich vielen Sportmagazinen, als Abziehbilder, auf Web-Seiten oder auf T-Shirts. Die Fußballkultur zeigt, dass in globalisierten Mediengesellschaften eine visual culture nicht mehr nur eine Ergänzung der lokalen Fußballkulturen, sondern deren wesentlicher Bestandteil ist. 18
Literatur Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1956. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: Beck 1980. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main, New York: Campus 1996. Appadurai, Arjun: „Globale ethnische Räume“, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 1140. Balibar, Étienne: „Die Nation-Form. Geschichte und Ideologie“, in: Ders./ Immanuel Wallerstein (Hg.), Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg, Berlin: Argument 1992 (1990), S. 107-130. Barker, Chris: Global Television. An Introduction, Oxford, Malden: Blackwell 1997. Barker, Chris: Television, Globalization and Cultural Identities, Buckingham, Philadelphia: Open University Press 1999. Berland, Jody: „Sound, Image and Social Space. Music Video and Media Reconstruction“, in: Simon Frith/Andrew Goodwin/Lawrence Grossberg (Hg.), Sound and Vision. The Music Video Reader, London, New York: Routledge 1993, S. 25-43. Dayan, Daniel/Katz, Elihu: „Performing Media Events“, in: James Curran/Anthony Smith/Pauline Wingate (Hg.), Impacts and Influences. Es-
and Vision. The Music Video Reader, London, New York: Routledge 1993, S. 27. 18 Vgl. Nicholas Mirzoeff: „What is Visual Culture?“, in: Ders. (Hg.), The Visual Culture Reader, London: Routledge 1998, S. 3-13, hier S. 3. 41
GABRIELE KLEIN
says on Media Power in the Twentieth Century, London, New York: Methuen 1987, S. 174-197. Featherstone, Mike: „Global and Local Cultures“, in: Ders. (Hg.), Undoing Culture. Globalization, Postmodernism and Identity, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage 1995, S. 86-101. Gebauer, Gunter: Poetik des Fußballs, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006. Hall, Stuart: „Kulturelle Identität und Globalisierung“, in: Karl H. Hörning/ Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 393-441. Kellner, Douglas: „Globalization and the Postmodern Turn“, in: Roland Axtmann (Hg.), Globalization and Europe. Theoretical and Empirical Investigations, London, Washington: Pinter 1998, S. 23-42. Keppler, Angela: Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung, Frankfurt/Main: Fischer 1994. Klein, Gabriele: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. Mirzoeff, Nicholas: „What is Visual Culture?“, in: Ders. (Hg.), The Visual Culture Reader, London: Routledge 1998, S. 3-13. Morley, David: „Wo das Globale auf das Lokale trifft. Zur Politik des Alltags“, in: Karl Heinz Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 465-466. Robertson, Roland: „Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 192-220. Smith, Anthony D.: „Towards a Global Culture?“, in: Mike Featherstone (Hg.), Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity, London, Newbury Park, New Delhi: Sage 1990, S. 171-191.
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Imagined Diversities. Migrantenmilieus in der Fußballwelt
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Imagination und Einbildung Der Titel meines Beitrags, Imagined Diversities, variiert den Titel der berühmten Studie Benedict Andersons über Origin and Spread of Nationalism. Anderson ist es mit dem Titel Imagined Communities gelungen, die beiden zentralen Thesen seiner Studie in einer Formel zusammenzuziehen: erstens die These, der zufolge die Entstehung des modernen Nationalstaats einen Akt der Imagination auf Seiten derjenigen beinhaltete, die an diesem Entstehungsprozess beteiligt waren. 2 Anderson betont damit die Selbstherstellung, den aktiven Part der Handelnden oder mit anderen Worten die subjektive Seite der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit.3 Zweitens impliziert der Titel, dass Vergemeinschaftung in modernen, differenzierten Gesellschaften keineswegs die unmittelbare alltagsweltliche Evidenz, Verbindlichkeit und Stabilität auf1
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Dieser Beitrag fasst Ergebnisse einer Studie zusammen, die im Rahmen des Forschungsverbundes „Desintegrationsprozesse Analysen zur Stärkung von Integrationspotenzialen einer modernen Gesellschaft“ vom BMBF gefördert wurde. Für detaillierte Ergebnisdarstellungen vgl. Hans-Georg Soeffner/Dariuš Zifonun: „Die soziale Welt des FC Hochstätt Türkspor“, in: Sociologia Internationalis 44 (2006), H. 1, S. 21-55; Dariuš Zifonun: „Stereotype der Interkulturalität: Geteiltes Wissen über ethnische Differenzen“, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 3137-3145; Dariuš Zifonun/øbrahim Cındark: „Segregation oder Integration? Die soziale Welt eines ‚türkischen‘ Fußballvereins in Mannheim“, in: Deutsche Sprache 32 (2004), S. 270-298. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York: Verso 1991. Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/Main: Fischer 1980. 43
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weist, wie dies für traditionale Gesellschaften gegolten haben mag. Insofern meint imagined auch ‚eingebildet‘ und verweist auf die besonderen Schwierigkeiten, denen die nationale Vergemeinschaftung unterliegt. 4 Wenn also von imagined diversities die Rede ist, verfolge ich dieselbe Doppelthese und beziehe sie auf die Frage der Vielfalt (diversity) innerhalb des Prozesses ‚ethnischer‘ Gemeinschaftsbildung (community) in Einwanderungsgesellschaften. Die folgenden Überlegungen entstanden im Rahmen eines Forschungsprojekts, das der Teilhabe von Migranten an der Fußballwelt galt. Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass es sinnvoll ist, im Bezug auf Migrantenmilieus von imagined diversities zu sprechen, d.h. von ‚vorgestellten Vielfältigkeiten‘. Ich verwende den Plural diversities statt des Singulars diversity, um darauf hinzuweisen, dass sich auf mehreren Ebenen verschiedene Formen der Vielfalt unterscheiden lassen. Ich werde im Folgenden zunächst auf die erste These, die der Konstruktion von Vielfalt eingehen, indem ich nacheinander drei Ebenen der imagined diversity diskutiere. Dabei werde ich kenntlich machen, dass und wie diese Vielfalt sozial geordnet und stabilisiert wird, d.h. wie sie institutionalisiert ist. Dies betrifft die gesellschaftliche Seite der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und damit den Umstand, dass auf allen drei Ebenen Vielfalt in Prozesse der symbolischen Konstruktion von Einheit eingewoben ist. Zunächst steht auf einer ersten Ebene die Pluralität kultureller Orientierungen und Aktivitäten innerhalb von Migrantengruppen und die Art und Weise, wie diese Vielfalt erhalten und stabilisiert wird, im Vordergrund. Der anschließende Abschnitt fokussiert auf einer zweiten Ebene die Konstruktion von Unterschieden zwischen Gruppen und die Bildung alltagsweltlicher Wir-Gruppen. Der folgende Abschnitt widmet sich der Vielfalt ‚innerhalb‘ von Individuen und deren ‚Integration‘. Abschließend werde ich – mit Blick auf die zweite Dimension des Begriffes – darauf hinweisen, dass diese symbolisch stabilisierte Vielfalt insofern ‚nur eingebildet‘ ist, als die vermeintliche ‚ethnische Differenz‘ sozialstrukturell wie kulturell nicht auf ethno-spezifischen, sondern auf ‚modernen‘ Grundlagen ruht. Diese Modernität ‚ethnischer‘ Vergesellschaftung, so mein Fazit, tritt deutlich hervor, wenn man sie statt im Rahmen einer speziellen Migrationssoziologie im Rahmen einer allgemeinen, differenzierungstheoretisch angelegten ‚Soziologie sozialer Welten‘ analysiert.
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Bereits Max Weber hat darauf hingewiesen, dass „‚ethnische‘ Gemeinsamkeit […] nur (geglaubte) ‚Gemeinsamkeit‘, nicht aber ‚Gemeinschaft‘ ist“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1972, S. 237).
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Die Pluralität kultureller Orientierungen und Aktivitäten innerhalb von Migrantengruppen und die Art und Weise, wie diese erhalten und stabilisiert werden Die Pluralität kultureller Orientierungen und Aktivitäten innerhalb von Migrantengruppen lässt sich gut anhand des Beispiels eines ‚türkischen‘ Stadtteilvereins in Mannheim illustrieren. Der FC Hochstätt Türkspor besitzt ein Clubhaus, in dem er, was nicht unüblich ist, ein Lokal betreibt. Diese Gaststätte hat den Charakter eines türkischen Männercafés. Hier treffen sich ‚türkische‘ Männer vor allem aus dem Stadtteil zum Kartenspielen und Tee- bzw. Alkoholtrinken. Unmittelbar neben dem Café befindet sich ein Gebetsraum, in dem während des Jahres ein Vorbeter aus Mannheim ehrenamtlich tätig ist. In der Fastenzeit organisiert und finanziert der Verein den Aufenthalt eines Vorbeters aus der Türkei. Wir haben es hier mit zwei Teilwelten dieser lokalen Sozialwelt zu tun, die ganz unterschiedliche Wertorientierungen und Relevanzen implizieren und sich um Aktivitäten geformt haben, die aus der Sicht der Handelnden in der Regel unvereinbar sind und die üblicherweise streng getrennt werden. Es drängt sich nun unmittelbar die Frage auf, wie es dem Verein gelingt, die Pluralität und Widersprüchlichkeit, die hier nur angedeutet werden kann, zu stabilisieren und zu erhalten. Die Antwort lautet: durch einen geteilten kollektiven Mythos besonderen Typs, den die Akteure selbst als ‚Hochstätt-Philosophie‘ bezeichnen. Die Schlüsselelemente dieser Weltanschauung, die vereinsintern in den unterschiedlichsten Kontexten wirksam wird, sind Offenheit, Ehrlichkeit, Friedfertigkeit und gegenseitige Achtung. All dies sind, wie unmittelbar erkennbar ist, keine kulturspezifischen oder handlungskontextuellen Werte. Im Gegenteil: Die ‚Hochstätt-Philosophie‘ rekurriert auf Orientierungen, die sehr, sehr weit und unspezifisch sind und die im Allgemeinen als universell verstanden werden. Es handelt sich mit anderen Worten um einen Ordnungsrahmen, der so weit gespannt ist, dass darunter prinzipiell jeder und alles Platz findet, unabhängig von den jeweiligen Aktivitäten und Wertorientierungen. In diesem Sinne ist diese Moral integrativ und offen für Vielfalt. Es handelt sich bei der ‚Hochstätt-Türkspor-Moral‘ mithin um eine weite – weil universalistische und inklusive – und dabei flache – weil von ideologischen Überhöhungen weitgehend freie – Allerweltsphilosophie. Wenn man es nun bei einer Diskursanalyse dieser höchsten symbolischen Sinnschicht beließe, käme man zu dem – falschen – Ergebnis, in diesem Milieu existierten keine sozialen Ausschlüsse. Die gesellschaftliche Relevanz solcher Idealisierungen entschlüsselt sich erst in ihrem Verwendungszusammenhang. Die Analyse der sozialen Handlungspraxis des Vereins zeigt, dass 45
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die ‚Hochstätt-Philosophie‘ immer nur dann aktiviert wird, wenn es um die Erfahrungen einer historisch ganz spezifischen Gruppe geht: der männlichen türkischen Migranten der Fußballwelt ‚auf der Hochstätt‘. Nur für diese Gruppe besitzt sie Gültigkeit, nur innerhalb dieser Gruppe und für ihre Handlungszusammenhänge wirkt sie integrativ. Die ‚Hochstätt-Philosophie‘ zielt darauf, möglichst jedem Angehörigen der lokalen Gemeinde die Teilhabe zu ermöglichen, und lässt entsprechend Raum für die unterschiedlichsten Orientierungen und Präferenzen, solange diese keinen Anspruch auf alleinige Gültigkeit reklamieren. Des Weiteren kann festhalten werden, dass der Verein – überwölbt von dieser integrativen Alltagsphilosophie – weniger community als vielmehr Marktakteur ist: Statt also die Mitglieder eng zu koppeln, ihnen starre Rollenmuster vorzugeben und innerhalb eines engen Wertekorsetts hohe soziale Kontrolle auszuüben, agiert der FC Hochstätt Türkspor wie ein Marktakteur: er offeriert eine Reihe unterschiedlicher Aktivitäten und Orientierungen, die für türkische Migranten attraktiv sind und konkurriert über diese Angebote mit anderen türkischen und nicht-ethnischen Anbietern um Mitglieder und Anhänger.
Die Konstruktion von Unterschieden zwischen Gruppen und die Bildung von (alltagsweltlichen) Wir-Gruppen Die zweite Ebene der Vielfalt ist die der Konstruktion von Unterschieden zwischen Gruppen und der Bildung von Wir-Gruppen. In den Sozialwelten deutscher Großstädte – und nicht nur dort – sind Gruppenunterschiede keineswegs eindeutig gegeben und klar erkennbar. Vielmehr bedürfen sie der ständigen Erneuerung und Darstellung. Grenzen müssen gezogen und festgeschrieben werden, das Bild von den anderen bedarf der kontinuierlichen Anpassung an sich ändernde soziale Kontexte und Interaktionsbedingungen. Im Folgenden sollen zwei Aspekte dieser Differenzherstellung diskutiert werden, die für das Fußballmilieu von besonderer Bedeutung sind. Der erste Aspekt ist die Stereotypisierung. Im Falle der ethnischen Selbstund Fremdwahrnehmung von Angehörigen südeuropäischer Vereine (gemeint sind Türken, Spanier, Griechen, Portugiesen) spielt das Stereotyp vom ‚heißblütigeren‘ Südeuropäer eine zentrale Rolle, genauer: wenn es bei einem Spiel zu mehreren roten Karten gegen Spieler einer griechischen Mannschaft kommt, wenn das Spiel zwischen zwei türkischen Mannschaften wegen einer Prügelei vom Schiedsrichter abgebrochen wird und in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle ist die Erklärung, die sowohl von deutscher Seite, als auch von Seiten der ‚ethnischen‘ Vereine selbst dafür vorgebracht wird, Südeuropäer seien ‚heißblütiger‘ (im Komparativ). 46
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Diese Stereotypisierung besitzt nun einige Eigentümlichkeiten, von denen nur die wichtigsten genannt sein sollen: Zum einen wird die hier aufgemachte Differenz als eine graduelle (heißblütigere hier, weniger heißblütige da) und nicht als eine kategoriale klassifiziert wird (heiße im Gegensatz zu kalten). Damit wird eine Ungleichheit der Interaktionspartner, jedoch keine Ungleichwertigkeit nahe gelegt. 5 Des Weiteren fallen Auto- und Heterostereotyp hier zusammen. Das Stereotyp wird von der stereotypisierten Seite angenommen und selbst formuliert. Es herrscht ein geteiltes Wissen über ethnische Differenzen. Eng damit hängt zusammen, dass das Stereotyp in Kontaktsituationen kommuniziert wird und nicht allein unter Abwesenheit von Mitgliedern der stereotypisierten Gruppe. Wie lässt sich erklären, dass es zu dieser eigentümlichen Form der Stereotypisierung kommt? Aufschluss gibt der soziale Kontext, innerhalb dessen das Stereotyp kommuniziert wird und der sich wie folgt darstellt: Das Milieu ist geprägt durch einen ständig wiederkehrenden Kontakt zwischen den beteiligten Gruppen. Darüber hinaus ist die Fußballwelt gekennzeichnet durch wechselnde Mit-gliedschaften. Ein südeuropäischer Spieler, der heute noch beim Gegner spielt, kann morgen Teil der eigenen Mannschaft sein. Charakteristisch sind auch überschneidende Mitgliedschaften in den Subwelten des Milieus: sind Mitglieder südeuropäischer Vereine zugleich als Schiedsrichter Mitglied der Schiedsrichtervereinigung. Vor allem besteht eine wechselseitige Abhängigkeit zur erfolgreichen Durchführung der Kernaktivität der sozialen Welt. Man ist darauf angewiesen, dass die ‚ethnische‘ bzw. ‚deutsche‘ Mannschaft auch tatsächlich am nächsten Sonntag antritt, wenn das Spiel angesetzt ist. Aber auch intern sind die ‚deutschen‘ Vereine abhängig von Migranten: viele Vereine könnten keine Mannschaften stellen ohne ausländische Spieler. Schließlich erlaubt die relative Ressourcenstärke, ihre über die Jahre gewachsene Position im Milieu und die Kenntnis der formellen und informellen Regeln des Milieus Migranten in Krisensituationen die Gegenwehr. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass das geteilte Stereotyp in einer Situation potentieller und aktueller wechselseitiger Relevanz und relativer Interaktionsdichte und Machtsymmetrie auftritt, bei gleichzeitig aufrechterhaltener ethnisch-kultureller Selbstorganisation und -zuschreibung von Differenz. Der zweite Aspekt der Differenzkonstruktion, auf den ich eingehen möchte, ist die Stilisierung. Im Kontext sportlichen Handelns stellt Stil ein Auswahlprinzip dar, eine Wahlentscheidung, so und nicht anders zu spielen. Für 5
Vgl. Sighard Neckel: „Kampf um Zugehörigkeit. Die Macht der Klassifikation“, in: Leviathan 31 (2003), S. 159-167; Ders./Ferdinand Sutterlüty: „Negative Klassifikationen. Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit“, in: Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch (Hg.), Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 409-428. 47
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den Fußballsport lässt sich der Stil einer Mannschaft charakterisieren als die Auslegung eines generellen Spielsystems durch eine Mannschaft. 6 Stil ist insofern als eine reflexiv entworfene und der Reflexion zugängliche Leistung zu verstehen. 7 Die Handelnden können sich einerseits der Stilisierung nicht entziehen, jedoch macht erst die performative und diskursive Inszenierung des Stils diesen zu meinem oder unserem Stil und damit zum Identitätskennzeichen. Erst in der reflexiven Zuwendung entsteht aus dem diffusen Konglomerat von Handlungs- und Deutungsmustern ein gebündelter, klar umrissener Stil und dies nicht zuletzt, indem man ihn von anderen abgrenzt. Die Bedeutung der Stilisierung als Modus der Selbstdarstellung und Differenzherstellung wird erkennbar, wenn man erneut das Beispiel des FC Hochstätt heran zieht. In der sequenzanalytischen Interpretation einer Vielzahl von Videoaufzeichnungen von Spielen der Mannschaft wurde erkennbar, dass die Mannschaft, aufs Ganze gesehen, nicht einen Stil spielte, sondern ganz unterschiedliche Spielweisen praktizierte. Wenn man jedoch die Reaktionen der Zuschauer und Spieler, die auf den Aufnahmen auch zu erkennen waren, mitberücksichtigt und zusätzlich die Kommentare und Bemerkungen der Spieler und Zuschauer heranzieht, die im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung und in Interviews gewonnen wurden, wird deutlich, dass eine Spielweise, ein Stil von den Akteuren besonders geschätzt und als der ‚eigentliche Stil‘ der Mannschaft bezeichnet wurde, auch wenn er rein statistisch nicht dominant war. Es handelt sich dabei um einen stark angriffsorientierten Stil, der durch ein schnelles Kurzpassspiel, d.h. ein Kombinationsspiel auf engstem Raum geprägt ist. Die Spieler sind in ständiger Bewegung und wechseln ihre Positionen. Ich möchte hier diesen Stil nicht weiter interpretieren, ich habe das an anderer Stelle getan, sondern betonen, dass dieser Stil von den Beteiligten diskursiv dadurch beschrieben wurde, dass man ihn vom Stil anderer abgrenzte, mit denen er nicht vereinbar sei. Das ist zum einen der Stil der „Bauern“, der als technisch anspruchslos, defensiv ausgerichteter Stil mit starren Spielpositionen verhöhnt wird. Das geschieht in Abgrenzung zu „typischen Deutschen“. Es gibt auch einen personalen Typus, der als „typisch türkisch“ gilt und von dem man sich ebenfalls abgrenzt: Es handelt sich dabei um den kabadayı. 8 Wörtlich übersetzt bedeutet das „harter Onkel“, paraphrasiert etwa „furchtloser, rauflustiger Angeber“. Eine der kategoriendefinierenden Eigen6 7
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Vgl. Christoph Biermann/Ulrich Fuchs: Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 39ff. Vgl. hierzu allgemein: Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 1983; Ronald Hitzler: „Der Goffmensch. Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie“, in: Soziale Welt 43 (1992), S. 449-461; Hans-Georg Soeffner: „Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags“, in: Ders., Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 76-101. Vgl. D. Zifonun/I. Cındark: Segregation oder Integration?
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schaften dieser explizit maskulinen Kategorie ist u.a.‚ seinem Kontrahenten gegenüber furchtlos auftreten‘. Dieser Stil gilt den Spielern als „dumm“, da er den Zwängen und Möglichkeiten des organisierten Fußballs widerspricht. Des Weiteren wenden sich die Spieler gegen ein Stilelement, das sie als „Kümmelgetümmel“ bezeichnen und damit auf ironische Weise als ‚typisch türkisch‘ identifizieren. Gemeint ist damit eine auf den Ball fixierte Spielweise, bei der eine Vielzahl von Spielern gleichzeitig an den Ball drängt. Diese wird kritisiert, da sie kein Zusammenspiel erlaubt. Zusammengenommen entwerfen die Spieler mit dieser Stilisierung eine kollektive Selbstbeschreibung, die sie sowohl von Deutschen als auch von Türken abgrenzt und sie über beide erhebt. In dieser Stilisierung verleihen die Akteure ihrer sozialer Position als Migranten expressiv Ausdruck und versehen ihre lokale Gemeinde im Akt der Abgrenzung mit einer alltagsweltlich basierten, weit weniger abstrakten Kollektividentität, als dies mit Hilfe der ‚Hochstätt-Philosophie‘ der Fall ist.
Die Vielfalt ‚innerhalb‘ von Individuen und deren ‚Integration‘ Auf der dritten Ebene der Vielfalt ‚innerhalb‘ von Individuen stellt sich die Frage, wie diese ‚innere‘ Vielfalt integriert wird. Genannt sei hier ein Beispiel aus einem biographischen Interview mit einem ‚türkischen‘ Trainer des FC Hochstätt: Im selben Interview identifiziert sich der Sprecher als ‚Türke‘, also mittels einer ‚ethnischen‘ Kategorie, als Besitzer der deutschen Staatsangehörigkeit, also in staatsbürgerlichen Begriffen und als etablierter Angehöriger der deutschen Gesellschaft als jemand, der das soziale Sicherungssystem stützt (von dem er als „unser System“ spricht). Darüber hinaus identifiziert er sich als Mitglied des Sportvereins und als Bewohner des Stadtteils. Die unterschiedlichen Kategorien, Rollen und Selbstzuschreibungen sozialer Identität, die er in unser Gespräch einbrachte, entwerfen teils implizit, teils explizit, eine Vielfalt unterschiedlicher Selbstbilder. 9 Allerdings schlägt sich diese Vielfalt weder in diesem Interview noch in den Gesprächen mit anderen Fußballern, in einer Identitätsambivalenz, in Desorientierung oder in psychischer Labilität nieder. Im Widerspruch zum wohlbekannten Klischee, demzufolge Migranten ‚zwischen den Kulturen‘ verloren seien, vermitteln die Sportler durchaus den Eindruck, als hätten sie sich gefunden. Sie bedienen sich bei dieser Selbstfindung, oder besser: Selbsterfindung eines in der soziologischen Literatur durchaus bekannten Mittels: Sie integrieren die vielfältigen, teils widersprüchlichen Aspekte ihres Lebens, in-
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Vgl. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. 49
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dem sie eine Biographie konstruieren, die, trotz scheinbar gesplitteter, partizipativer Identität, eine imaginierte personale Einheit hervortreten lässt. 10 Dies kann anhand eines anderen Beispiels aus dem Verein illustriert werden: der Spieler Y der ersten Mannschaft des FC Hochstätt präsentiert in einem narrativen Interview ein Vierstufenmodell seines Lebens, indem er sich selbst in einem Stadium der Reife wähnt, nachdem er zuvor Phasen des Ausprobierens, des Spielens und des Suchens durchlaufen habe. Er konstruiert mit großer Virtuosität eine narrative Identität, indem er die Kontinuitätslinien seines bisherigen Lebens und die Lehren nachzeichnete, die er aus Krisen gezogen habe. Das Beispiel zeigt, dass es erst die Brüche im Lebenslauf sind, die die Konstruktion einer individuellen Biographie notwendig machen. Die ‚Lösung‘ zu der der Spieler gelangt, liefert ihm das Konzept ‚individueller Authentizität‘. Auf die Idee, er sei ein einzigartiges Individuum, das erfolgreich die Antworten auf die Fragen seines Lebens finden kann, ist der Spieler allerdings nicht von allein gekommen. Sie ist auch nicht traditionelles Element seiner ‚ethnischen Kultur‘, sondern vielmehr zentrales, konstitutives Element von Modernität. 11 Ein anderes Lösungsmuster lässt sich anhand des Falls des Spielers H beschreiben. Dieser klagt darüber, dass er und die anderen Spieler vom Vereinsvorstand als Repräsentanten der Türkei bzw. des Türkisch-Seins verstanden werden. Der Trainer will, dass sie stolz und geschlossen, selbstbewusst als Türken auftreten, weist immer wieder darauf hin, dass sie eine Verantwortung dafür haben, wie Türken in Deutschland wahrgenommen werden. Demgegenüber sei er selbst vor allem an sportlichem Erfolg interessiert. Auch der ethnisierenden Zuschreibungen von deutscher Seite ist er sich bewusst: Sie werden als ‚die Türken‘ wahrgenommen, nicht als Sportler. Anders als im von Merton diskutierten Fall des Lehrers ist der Position ‚ethnischer Fußballer‘ Ambivalenz strukturell inhärent. 12 Sie ergibt sich nicht erst aus den unterschiedlichen Verhaltenserwartungen im Rollensatz der Position. Vielmehr ist die Position selbst doppelwertig: In ihr überschneiden sich der Status ‚Türke‘ der ethnischen Sozialordnung mit dem des ‚Spielers‘ aus der sportlichen Erfolgsordnung. Indem Spieler H die ethnische Rollenerwartung dem Trainer und den deutschen Zuschauern zuschreibt, sich selbst aber die sportliche, schafft er eine Differenzierung, die es ihm erlaubt, Ambivalenz subjektiv zu bearbeiten. In der öffentlichen Rollenperformanz sind derartige Segmentierungen jedoch ungeeignet, da die zu erbringende Leistung ‚ethnischer Spieler‘ gerade 10 Vgl. Peter L. Berger: Invitation to Sociology: A Humanistic Perspective, New York: Doubleday 1963, S. 54ff. 11 Vgl. Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity, London: Oxford University Press 1974. 12 Vgl. Robert K. Merton: „The Role-Set: Problems in Sociological Theory“, in: The British Journal of Sociology 8 (1957), S. 106-120. 50
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darin liegt, die widersprüchliche Einheit expressiv zum Ausdruck zu bringen. So berichtet Spieler H nach einem Spiel, bei dem ein Mitspieler den Linienrichter niedergeschlagen hatte: Seine erste Reaktion war, sich auf das Spielfeld zu legen und in den Himmel zu starren. Dabei dachte er: „Oh nein, jetzt geht das wieder los, warum macht der nur so einen Scheiß, ich will damit nichts mehr zu tun haben, jetzt heißt es wieder ‚die Türken‘“. Nach dem Spiel dann ging er zu Bekannten, die Anhänger der gegnerischen Mannschaft waren und das Spiel am Spielfeldrand verfolgt hatten, und entschuldigte sich für den Zwischenfall, worauf diese antworteten, das müsse er nicht, denn es sei ja die Tat eines Einzelnen gewesen, die er nicht zu verantworten habe. H tritt in dieser Szene als Individuum in Erscheinung, das in der Antizipation der ethnisierten Wahrnehmung der Handlung seines Mitspielers durch das Publikum zunächst dessen Erwartungen unterläuft, indem er sich aus der Situation heraus nimmt und weder mit seinen Mitspielern spricht noch den Schiedsrichter bedrängt, also gerade nicht ‚typisch türkisch‘ reagiert. Mit seiner Entschuldigung allerdings präsentiert es sich dann als Repräsentant des türkischen Spielers und des türkischen Vereins, von denen er sich zuvor distanziert hatte. In dieser Stellvertreterrolle vertritt er nicht nur ‚die Türken‘, sondern auch die verletzte moralische Ordnung des Fußballsports, die er durch die Entschuldigung wieder herzustellen trachtet. Es handelt sich bei derartigen Darstellungen von Ambivalenz in Form eines ‚expressiven Individualismus‘ um prekäre inszenatorische Balanceakte, die in die eine (‚ich will einfach nur Fußball spielen‘) oder (häufiger) die andere (‚die Türken‘) Richtung kippen können. In gelungenen Fällen allerdings erlangen Spieler, die die Spannung zwischen beiden Ordnungen in sich aufzunehmen und auszudrücken in der Lage sind, die Anerkennung der Fußballwelt. Hs Strategie ist auf die situative Bewältigung einer Interaktionskrise gerichtet, während in der Biographie, wie im Fall des Spielers Y, die Bewältigung der Kreuzung auf Dauer gestellt ist und sowohl dem Einzelnen zur Identitätsbearbeitung dient als auch im öffentlichen Austausch zum Einsatz kommt.
Imagined Diversities und das Forschungsprogramm einer ‚Soziologie sozialer Welten‘ Der Beitrag zeichnet einige Aspekte dessen nach, was ich als die eine Seite der imagined diversities in migrantischen Fußballwelten bezeichnet habe: als die Konstruktion von Vielfalt und deren symbolische Absicherung. Allerdings zeigt sich, mit Blick auf die andere Seite der imagined diversities, dass die strukturellen Elemente dieser „vorgestellten Vielfältigkeiten“ nicht gerade spezifisch sind für Migranten oder ‚interethnische Beziehungen‘: Die ‚innere‘ Vielfalt und deren Integration mittels der Konstruktion einer Biographie, ex51
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pressiver Individualismus, Stereotypisierung, Stilisierung, das marktförmige Angebot von Orientierungen und Aktivitäten, der universalistische und offene Charakter von Alltagsphilosophien, all das ist aus differenzierungstheoretischer Perspektive als kennzeichnend für moderne Gesellschaften beschrieben worden. Unterscheidet man typologisch zwischen nicht-modernen und modernen Gesellschaften, so lässt sich mit Uwe Schimank der Unterschied zwischen beiden Gesellschaftstypen an zwei Formen der Differenzierung festmachen, die für letztere kennzeichnend, ersteren dagegen fremd sind: zum einen die „Rollendifferenzierung“, die Durkheim und Simmel klassisch als „Arbeitsteilung“ bzw. „Kreuzung sozialer Kreise“ diskutieren. 13 Mit Simmel und Durkheim lassen sich die behandelten Individualitätsphänomene wiederum als moderne Integrationsmechanismen interpretieren, die auf die desintegrativen Implikationen der Differenzierung reagieren.14 Zum anderen benennt Schimank die „teilsystemische Ausdifferenzierung“ als zweite Differenzierungsform, 15 für die Webers Differenzierung in „Wertsphären“die klassische Formulierung bildet. 16 Wenn Entkoppelung von Teilsystemen und Wertekonkurrenz einerseits gesellschaftliche Integration bedrohen, stehen dem andererseits organisationale Integration und die für den demokratischen Verfassungsstaat charakteristischen Gleichheitspostulate, wie sie sich in der diskutierten vereinsförmigen Organisation und ihrer symbolischen Legitimierung ausdrücken, entschärfend gegenüber. 17 Die dargestellten kulturellen Formen und sozialen Modi sind damit als ‚typisch moderne‘ Differenzierungsphänomene bzw. sich komplementär zur Differenzierung verhaltende Integrationsmechanismen zu interpretieren. Sie werden von Migranten und autochthoner Bevölkerung geteilt. Sie konstituieren ein geteiltes Strukturmuster, jenseits aller Unterschiede in Werten, Normen oder kulturellem ‚Inhalt‘, die moderne Gesellschaften durchziehen. In diesem Sinne also sind die diversities ein ‚Oberflächenphänomen‘ und ‚nur vorgestellt‘. Diese modernitätstheoretischen Überlegungen werden durch die ebenfalls differenzierungstheoretisch informierte Beobachtung bestärkt, dass Ethnizität erst im Modernisierungsprozess ‚erfunden‘ und als Inklusions- bzw. Exklusionsmechanismus institutionalisiert wurde. 18 In dieser doppelten Erkenntnis –
13 Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 11. 14 Vgl. ebd., S. 31ff.; S. 42ff. 15 Vgl. ebd., S. 12. 16 Vgl. ebd., S. 49ff. 17 Vgl. ebd., S. 58ff. 18 Vgl. Marion Müller: „Ethnizität“, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz: UVK 2007, S. 512-520. 52
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dass Ethnizität ein Produkt der Moderne und typisch modern ist – liegt der Schlüssel zum Verständnis ethnischer Differenzierung. Die vorgestellte modernitätstheoretische Interpretation ‚ethnischer‘ Vergesellschaftung ruht auf einigen methodologischen und theoretischen Annahmen, die abschließend expliziert werden sollen: In grundlagentheoretischer Perspektive basiert die Analyse auf einer interaktionistischen Handlungstheorie. Die Institutionalisierungen und Legitimationen, die ich nachgezeichnet habe, sind nicht als Merkmale eigendynamischer sozialer Systeme zu verstehen, sondern als Resultate sozialen Handeln, die auf dieses Handeln zurückwirken. 19 Mit Blick auf die Methodologie wurden entsprechend Handlungs- und Deutungsmuster in den Mittelpunkt gestellt und nach deren „Kulturbedeutung“ gefragt. 20 Mit anderen Worten: die Analysen zielten auf die Rekonstruktion von Konstruktionen ‚erster Ordnung‘. 21 Zu diesem Zweck wurde in dem Projekt, aus dem die präsentierten Daten stammen, typenbildend vorgegangen. Die präsentierten Strukturmuster sind dem Typus des ‚Migrantenmilieus‘ zuzuordnen, das deutlich mit anderen Milieus (Segregationsmilieu – Assimilationsmilieu – Marginalisierungsmilieu – Interkulturelles Milieu) kontrastiert. 22 Die empirische Beobachtung, dass es die Teilmilieus der Fußballwelt sind, die ganz wesentlich Antwort geben auf die Frage nach den ‚interkulturellen‘ Vergemeinschaftsmustern im Fußballsport, lässt sich auch hinsichtlich ihrer gesellschaftstheoretischen Konsequenzen für eine ‚Soziologie sozialer Welten‘ weiter verfolgen: Eine solche differenzierungstheoretisch angelegte Soziologie betont in der Nachfolge von Anselm Strauss die Bedeutung mehrfacher und wechselnder Mitgliedschaften und Teilzeitzugehörigkeiten in unterschiedlichen ‚sozialen Welten‘. Sie stellt heraus, dass diese Welten sich kreuzen und intern segmentieren sowie ihre Grenzen in Legitimationsprozessen stabilisieren und betont, dass soziale Welten ‚Arenen‘ der
19 Vgl. P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 20 Vgl. Max Weber: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr 1988, S. 146-214. 21 Vgl. Martin Endreß: Alfred Schütz. Konstanz: UVK 2006, S. 55ff.; Alfred Schütz: „Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze Band I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag: Nijhoff 1971, S. 3-54; Hans-Georg Soeffner/Ronald Hitzler: „Qualitatives Vorgehen – ‚Interpretation‘“, in: Theo Herrmann/Werner H. Tack (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie, Bd 1. Methodologische Grundlagen der Psychologie, Göttingen: Hogrefe 1993, S. 98-136. 22 Vgl. Hans-Georg Soeffner/Dariuš Zifonun: „Integration und soziale Welten“, erscheint in: Sighard Neckel/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 53
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Konfliktaustragung ausprägen, die von besonderer Bedeutung sind in Gegenwartsgesellschaften. 23 William I. Thomas und Florian Znaniecki haben in „The Polish Peasant in Europe and America“ bereits sehr früh die Bedeutung der ‚Gruppe‘ im Migrationsprozess betont und die ‚ethnische‘ Gemeindebildung als Generator der Transformation im Prozess der Migration beschrieben.24 Am Beispiel der polnischen Gemeindestrukturbildung in den USA haben sie gezeigt, dass diese Gruppenbildung gerade nicht rückwärtsgewandt und integrationshemmend ist, sondern dem Wandel von Handlungsmustern und Weltbildern einen sozialen Rahmen gibt. Ihr Ansatz ist in der neueren Migrationsforschung oftmals als simplistisch, normativ und empirisch nicht abgesichert bezeichnet worden. Ich meine allerdings für den von mir beschriebenen Typus von sozialen Welten eine ähnliche These verfolgen zu können: Migrantenmilieus vollziehen eine Anpassung an allgemeine Strukturformen moderner Gesellschaften. Ich spezifiziere diese Aussage allerdings im Vergleich zu Thomas und Znaniecki insofern, als ich ihre Geltung auf einen Typus von sozialen Welten beschränke, während andere (die genannten Assimilations-, Marginalisierungs- und Segmentationsmilieus) eigene Merkmale sozialer Organisation aufweisen. Zudem erscheint mir der Begriff der Gruppe zu stark zu sein. Der Einzelne ist eben nicht fest eingefügt in eine Gruppe, die ihm in seiner ganzen Existenz Halt und Orientierung gibt. Vielmehr befindet er sich – wie oben argumentiert – in einer Situation wechselnder, sich überschneidender Teilzeitzugehörigkeiten. Er macht zwar möglicherweise eine soziale Welt zur Kernwelt, die für die Lebensführung von besonderer Bedeutung ist. Allerdings schränkt die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Welten die Verbindlichkeit kollektiver Deutungs- und Handlungsangebote stark ein, so dass von Gruppe im Sinne von community eben nicht ohne weiteres gesprochen werden kann. Dies gilt, so meine ich, auch für die Frage der ‚ethnischen‘ Selbstbeschreibung als Angehöriger einer Gruppe: Alejandro Portes and Rubén G. Rumbaut haben eine groß angelegte Studie über die zweite Einwanderergeneration in den USA vorgelegt. Auf die Frage How do you identify, that is, what do you call yourself, antworteten 34,6% der Befragten mit der Nennung ihrer nationalen Herkunft, bezeichneten sich also als Jamaikaner, Nicaraguaner, Kambodschaner etc. 26,5% nannten eine „panethnische“ Identität (Hispanic, Latino, Black), 30,6% führten eine amerikanische Bindestrichidentität an (kubanischamerikanisch, vietnamesisch-amerikanisch etc.) und 3,5% bezeichneten sich 23 Vgl. Anselm Strauss: „A Social World Perspective“, in: Norman Denzin (Hg.), Studies in Symbolic Interaction, Bd. 1, Greenwich: Jai Press 1978, S. 119-128; Ders.: „Social Worlds and Legitimation Processes“, in: Norman Denzin (Hg.), Studies in Symbolic Interaction, Bd. 4, Greenwich: Jai Press 1982, S. 171-190. 24 Vgl. William I. Thomas/Florian Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America, Boston: Gorham Press 1918-1920. 54
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schlicht als Amerikaner. 25 Die Untersuchung suggeriert, dass Selbstbilder etwas Eindeutiges und klar Umgrenztes sind. Bei einer standardisierten Fragebogenuntersuchung mit Migranten in Deutschland wäre mutmaßlich mit vergleichbaren Antworten zu rechnen. In der alltäglichen Lebenswelt allerdings fielen die Antworten in beiden Ländern wohl weniger eindeutig aus. Selbstbilder verändern sich wenn sich Menschen von einer sozialen Welt in eine andere bewegen und hängen ab von den Situationen und Problemen, die sie bewältigen.
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25 Vgl. Alejandro Portes/Rumbaut Rubén G.: Legacies. The Story of the Immigrant Second Generation, Berkeley, Los Angeles, London, New York: University of California Press 2001, S. 155. 55
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Zinedine Zidane. Dribbelkunst sub- und transnationaler Zugehörigkeit gegen nationalstaatliche Einheitsverteidigung * NIKOLA TIETZE
„Rätselhafter gefallener Held der Fußball-Schwärmer, Robin Hood für die Verlierer-Kids der Elendsquartiere, Nestbeschmutzer des Milliardengeschäfts. Ein schlechter Verlierer. Ein guter Franzose…“ Die Reihung dieser Bilder, die Peter Hartmanns „Versuch einer erklärenden Biografie“ Zinedine Zidanes in der Neuen Zürcher Zeitung einleiten, deutet den schillernden Charakter des französischen Ex-Fußballers an. 1 Kaum ein anderer Profifußballer der gegenwärtigen internationalen Fußballszene hat Journalisten, Politiker, Literaten, Werbefachleute oder Künstler so inspiriert wie der ehemalige Mittelfeldspieler bei Real Madrid und die in den Ruhestand getretene Nummer Zehn der französischen Nationalelf – unter anderem mit dem Ergebnis, dass vielgestaltige und schillernde Darstellungen von dem Star existieren und Zinedine Zidane zu einer bevorzugten Projektionsfläche für Gemeinschaftsimaginationen geworden ist. Die vielfältige vergemeinschaftende Wirkungsmacht der Figur Zinedine Zidane wird im Folgenden zum Ausgangspunkt genommen, um mögliche Rechtfertigungsprinzipien sub- und transnationaler Zugehörigkeitskonstruktionen in der westeuropäischen Einwanderungsgesellschaft zu veranschaulichen und die in sie eingeschlossenen gesellschaftskritischen Sinnzusammenhänge zu charakterisieren. Im Hinblick darauf arbeite ich in einem ersten Schritt aus journalistischen und essayistischen Veröffentlichungen zu dem Fußballstar verschiedene Narrative heraus, die die publizierten ZidaneErzählungen durchziehen: das Narrativ vom Genius, von den Wurzeln, der
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Ich danke Max Bielefeld für die Übersetzungshilfen des fußballtechnischen Französisch und Torsten Meinicke für die fachliterarische Beratung. Peter Hartmann: „Hamlet unter dem Kirschbaum“, in: NZZ vom 21. Juli 2006. 59
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Solidarität, der Leistung, vom Respekt und von der Physis. 2 Gemeinschaftserzählungen, die Nachkommen von Immigranten in Deutschland und Frankreich komponieren, rekurrieren ebenfalls auf diese sechs Narrative. Dies versuche ich in einem zweiten Schritt anhand von Aussagen zu verdeutlichen, die Muslime, Kabylen und Palästinenser in Hamburg, Paris, Lyon und Berlin in von mir durchgeführten, narrativen Interviews über Zidane gemacht haben.3 2
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Narrative bezeichnen in meinen Überlegungen die Basisprinzipien einer Erzählung, die die Darstellungsperspektive von Ereignissen, Personen, Begebenheiten, Orten etc. lenken und die Verknüpfung der Erzählelemente strukturieren. Hintergrund dieser Aussagen ist eine empirische Untersuchung, in denen die Befragten aufgefordert waren, ihre Vorstellungen von der Gemeinschaft zu erzählen, der sie sich zugehörig fühlen. Die interviewten Muslime habe ich in der islamischen Hochschulgemeinde der Universität Hamburg, im Norddeutschen Bund Muslimischer Frauen und in den Zusammenhängen verschiedener muslimischer Initiativen in Paris oder Lyon getroffen. Sie sind alle Kinder von Eltern, die im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer aus der Türkei, Marokko, Algerien oder Tunesien nach Deutschland oder Frankreich eingewandert sind. (Vgl. zu Muslimen der so genannten zweiten Generation z.B. Farhad Khosrokhavar: L’islam des jeunes, Paris: Fayard 1997; Sigrid Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld: transcript 2002.) Die Kabylen, die zitiert werden, studierten zum Zeitpunkt des jeweiligen Interviews an der universitätsähnlichen Pariser Einrichtung Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO) oder an der Universität St. Denis beziehungsweise besuchten oder arbeiteten in Stadtteil- und Kulturverein in Paris und Lyon. Wie die befragten Muslime sind sie Nachkommen von immigrierten ausländischen Arbeitnehmern, in diesem Fall jedoch ausschließlich aus der ehemaligen französischen Kolonie Algerien. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie an Gemeinsamkeiten glauben, die sie aus der (von ihnen meist nur mangelhaft beherrschten) Berbersprache Kabylisch ableiten. Die Kabylei ist die Region Algeriens, aus der der Vater Zinedines stammt. Die Kabylen sind den deutschen Sozialwissenschaftlern vornehmlich durch die Lektüre der ethnologischen Arbeiten Pierre Bourdieus bekannt. (vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.) Sie stellen in Frankreich einen großen Teil der Zuwanderer aus Algerien dar. (vgl. Paul A. Silverstein: Algeria in France. Transpolitics, Race, and Nation, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 2004.) Die befragten Palästinenser habe ich in verschiedenen palästinensischen oder arabischen Kulturvereinen in Berlin getroffen. Sie sind Kinder von Eltern, die in den 1970er und 1980er Jahren aus palästinensischen Lagern im Libanon in die bundesdeutsche Hauptstadt geflüchtet sind. Für genauere Beschreibungen über die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Situation dieser Flüchtlingsgruppe und ihrer Nachkommen vgl. Ralph Gadbhan: Die Libanon Flüchtlinge. Zur Integration ethnischer Minderheiten, Berlin: Das Arabisch Buch 2000; Dima Abdulrahim: „Islamic Law, Gender and the Politics of Exile. The Palestinians in West Berlin: a Case Study“, in: Mallat Chibli/Jane Connors (Hg.), Islamic Family Law, London et al.: Graham and Trotman 1990, S. 181-201; Nikola Tietze: „Gemeinschaftsnarrationen in der Einwanderungsgesellschaft. Eine Fallstudie über Palästinenser in Berlin“, in: Fritz-Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank
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In diesem Zusammenhang führen die oben genannten Narrative die Perspektiven vor Augen, aus denen heraus die Befragten ihre jeweils imaginierten Gemeinsamkeiten zur Darstellung bringen und in Bezug auf die (in ihren Erfahrungen konkret werdenden) gesellschaftlichen Verhältnisse begründen. Insofern fasse ich die Narrative hier als unterschiedliche Rechtfertigungsprinzipien in der Konstruktion von sub- und transnationaler Zugehörigkeit, die aufgrund der Begründungsnotwendigkeit imaginierter Gemeinsamkeiten in der Einwanderungsgesellschaft zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit etablierten sozioökonomischen und staatlichen Ordnungsmustern, kulturellen Werthierarchien und politischen Autoritätsstrukturen einschließt. Die Zugehörigkeitskonstruktionen stehen meinen Überlegungen zufolge in einem kritischen Konnex zum Nationalstaat, dessen politische Vertreter – wie ich in einem dritten Schritt ausführe – wiederum den ehemaligen französischen Nationalspieler für ihre Zielvorstellungen im Hinblick auf In- und Exklusion in den Dienst nehmen. Meine abschließenden Bemerkungen gelten dem nervösen und unberechenbaren Spiel, das zwischen sub- und transnationalen Zugehörigkeitskonstruktionen auf der einen und der Verteidigung nationalstaatlicher Integrationskonzepte auf der anderen Seite ausgetragen wird. Allen Partikularitätsansprüchen von Gemeinschaftsimaginationen und ihnen entgegengehaltenen Abgrenzungsvorwürfen zum Trotz bringt die Figur Zinedine Zidane also generelle Dimensionen gesellschaftspolitischer Konflikte im Hinblick auf sub- und transnationale Zugehörigkeitskonstruktionen zur Anschauung; denn dieselben Narrative, die die für die Allgemeinheit komponierten, journalistischen und essayistischen Erzählungen über den Fußballer strukturieren, finden sich als Rechtfertigungsprinzipien in den Zugehörigkeitskonstruktionen und begründen neben den imaginierten Gemeinsamkeiten in impliziter Weise Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, der die Nationalstaaten mit Integrations- und Exklusionspolitik begegnen.
1. „Magique!“ 4 Die vielen Presseartikel, Essays und Biographien zu Zinedine Zidane haben trotz ihrer Verschiedenartigkeit und Uneinheitlichkeit eins gemeinsam: Sie komponieren Narrationen aus Daten, Fakten, Orten, physischen Merkmalen und zeitgeschichtlichen Ereignissen, die die Person und das Leben des Fußballstars markieren. Paul Ricœur hat die Narration eine „mimetische Aktivität“ genannt, die in der Zusammenstellung und Ausgestaltung eines Plots he-
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(Hg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Jahrbuch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/Main: Campus 2006, S. 80-102. „Magique“, in: L’Equipe vom 2. Juli 2006. 61
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terogene Elemente miteinander verknüpft.5 Im Zuge dieser Aktivität entstehen „neue logische Formen“. weil die Erzählung ihrem Aussageziel gerecht werdende Dinge miteinander verbindet – und zwar auch dann, wenn diese Dinge losgelöst von dem Aussageziel der Assimilation widerstehen.6 Die einleitend angedeutete vergemeinschaftende Wirkungskraft Zidanes, die die Darstellungen des Stars enthalten, geht aus einer solchen Erzählstruktur hervor. Diese erlaubt, Einzelheiten aus seinem Leben und Eigenschaften seiner Person zu Topoi für die Herstellung von Gemeinsamkeiten werden zu lassen. Dabei kommen unterschiedliche Narrative zum tragen. Je nach dem, welche Darstellungsperspektive die Erzählung ausrichtet, bietet die Figur Zinedine Zidane andere Gemeinschaftsbilder an.
Genius Michel Platini, französischer Fußballstar der 1980er Jahre und seit 2007 UEFA-Präsident, war nach dem Europameistertitel der französischen Nationalelf 2000 stolz darauf, mit Zidane verglichen zu werden, und erklärte: „Man muss solche Spieler schützen. Das sind Künstler, die vom Aussterben bedroht sind – solche die es immer schaffen, den letzten Pass zu spielen, die schöne Geste.“ 7 Solche Aussagen betonen den Genius, der den Fußballer in seiner Partikularität heraushebt. Das Bild vom Genie verdrängt die Roten und Gelben Karten, die Fehlpässe, die Fouls und die Patzer im Umgang mit der Presse. Zinedine Zidane wird zum „überragende[n] Mann seiner Zeit […] [w]eil er in schöpferischer Opposition zur zentralen Tendenz dieser Epoche agierte, Fußballer zu Spezialisten für klar abgegrenzte Aufgaben abzurichten – gewissermaßen zu kickenden Fachidioten.“ 8 Die Erzählung vom Fußballkünstler, der „nie in überkommene Maßstäbe passte,“9 formen Zidanes Pässe, Übersteiger, Dribbling, Körpereinsatz, Spielentscheidungen etc. zu Topoi für ein ‚Wir‘ der Auserwählten und Inspirierten – einem ‚Wir‘, das jenseits von Abstammung, nationaler Zugehörigkeit und ohne Rücksicht auf die Meinung anderer der Eingebung schöpferischer Kraft folgt.
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Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Die Erzählte Zeit, Bd. 3, München: Fink 1991, S. 394. Ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II. Paris: Seuil, S. 25. Paul Miquel: „Michel Platini. Le football est devenu une tragédie permanente“, in: L’Express vom 29. März 2001. Harald Irnberger: Die Mannschaft ohne Eigenschaften. Fußball im Netz der Globalisierung, Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag 2005, S. 291. Dirk Knipphals: „Mensch Zidane“, in: taz vom 11. Juli 2006.
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Wurzeln Dem Genius Zidane steht das Bild von Zinedine, dem Sohn aus einer Einwandererfamilie und Familienvater mit Herz, Ehefrau und vier Kindern, gegenüber. Immer wieder wird dem erfolgsverwöhnten Ex-Fußballer eine besondere Sorge für seine Kinder und ihre Erziehung attestiert. Die deutsche Zeitschrift Brigitte erwähnt: „Jeden Morgen bringt der Familienmensch Zidane seinen Nachwuchs in die Schule.“ 10 Selbst eine mutmaßliche Liaison mit der Sängerin Nadiya konnte dieses Bild in der öffentlichen Meinung nicht erschüttern. 11 Die Erzählung vom besorgten Familienvater findet ihre Verlängerung in der Narration über den für das Wohlergehen der Kinder im Allgemeinen bewegten Mann, der daher an diversen Wohltätigkeitsveranstaltungen teilnimmt und gern den Nachwuchs bei Real Madrid trainieren würde. 12 Aus dem „Familienmenschen“ Zinedine geht ein zweites Narrativ hervor, das erlaubt, Gemeinsamkeiten herzustellen und Bindungen zu konstruieren: das Narrativ der Wurzeln. „Die öffentliche Meinung sieht […] in ihm den großen Sieger, der es verstanden hat, bescheiden und zugänglich zu bleiben, den Mann, der seine Wurzeln nicht vergessen hat.“ 13 In dieser Darstellungsperspektive steht dem Fußballer die Figur seines Vaters, Smaïl Zidane, an der Seite. Vater Zidane wohnte – so weiß die Chronik zu berichten – als Arbeiter aus dem unter Kolonialmacht stehenden französischen Département Algerien zunächst in St. Denis in einem Barackenlager, unweit des heutigen Stade de France, in dem sein Sohn 1998 Frankreich mit zwei Toren zum Weltmeistertitel verhalf. Später führte Smaïl die Arbeitssuche nach Marseille, wo er schließlich Schichtarbeiter in der Supermarktkette Casino wurde und mit seiner aus Algerien nachgezogenen Frau Malika und seinen fünf Kindern in eine der eigens für die Zuwanderer gebauten Hochhaussiedlungen zog. „Der Sohn bringt dem, der Misere und zehrenden Hunger erfuhr, eine grenzenlose Bewunderung entgegen,“ heißt es in einer Reportage des Magazins FreeSport über die Algerienreise Zidanes im Dezember 2006: „Dies erkennt man in dem
10 Stephan Bartels: „Zinedine Zidane … ein seltsames Spiel“, in: Brigitte 13 (2004), S. 69. 11 Vgl. Jean-Yves Guerin: „Un an après la finale du Mondial, entre sponsors et voyages, la star n’a pas le temps de s’ennuyer“, in: Le Figaro vom 9. Juli 2007. 12 Vgl. „Sept matches, je peux le faire“, in: L’Equipe vom 28. April 2006. Zidane ist Pate des Vereins zur Hilfe für Kinder mit der Blutkrankheit Leukodystrophie (ELA). In dieser Funktion hat er insbesondere seit seinem Rückzug aus dem professionellen Fußballspiel an verschiedenen Benefizveranstaltungen teilgenommen. Für den Getränke- und Lebensmittelkonzern Danone ist er bis 2015 „Botschafter des Kinderprogramms in der Welt,“ was ihn zu Sportveranstaltung in verschiedene Staaten führt. Darüber hinaus ist Zidane als UN-Botschafter des Guten Willens im Kampf gegen Armut in der Welt unterwegs. 13 J.-Y. Guerin: Un an après la finale du Mondial. 63
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Blick und den Gesten, die er (Zinedine, NT) ihm (Smaïl, NT) zukommen lässt. Deswegen war es ihm wichtig, diese Pilgerreise nach Algerien zu machen. Es ist die ‘Würdigung seiner Eltern’.“ 14 In diesem von den Medien gepflegten Bild von Vater und Sohn findet sich der Ausgangspunkt für das Wurzelnarrativ, das Zinedine zum „Kabyle[n] […] aus den Marseiller Slums“, „Sohn muslimischer Einwanderer aus Algerien“ und „Mann, der […] die Rassisten die Araber hat lieben lassen“, essentialisiert. 15 Die – drei verschiedene Herkunftsakzentuierungen (kabylische Sprachkultur, islamische Religion und gesellschaftspolitisches Arabersein) zelebrierende – Wurzelperspektive auf den Ex-Profifußballer legt gleichzeitig den Grundstein für Gemeinschaftskonstruktionen, die die familiäre Ordnung und ihre Hierarchien anerkennen und ehren. 16
Solidarität Man beschreibt Zinedine jedoch nicht nur als guten Sohn und Vater, sondern auch als treuen Freund und solidarisches Mannschaftsmitglied. Für sein Engagement bei Juventus Turin zog der Fußballer nicht nur mit Frau und Kind um, sondern lud auch seinen Jugendfreund Malek aus La Castellane ein, mit ihm in Turin zu wohnen. Es wird berichtet, dass Zidane seine professionellen Reisen innerhalb Frankreichs genutzt hat, um Freundschaften zu pflegen, wie etwa die zu einem gewissen Mustapha Mazouz. „Er ist aus der Heimat“ schreibt sein Chronist Dan Franck. „Wenn sein Kumpel (Zidane, NT) aus Turin zurückkommt, begleitet er ihn. Er leistet ihm Gesellschaft.“ 17 Es ist nicht deutlich, welche Heimat hier eigentlich gemeint ist, Frankreich, Marseille,
14 „Zidane, l’enfant de coeur“, in: myfreesport vom 14. Dezember 2006, vgl. http://www.myfreesport.fr/sports/football/0/zidane-enfant-coeur-9437p.html vom 23. Januar 2007 15 In der zitierten Reihenfolge Samo Kobenter: Abseitsfalle, Essays zu Fußball, Literatur und Politik, Wien: Löcker 2005, S. 26; „Leute. Zinedine Zidane“, in: SZ vom 12. Januar 2004; Henri Haget: „Zidane. Nous l’avons tant aimé“, in: L’Express vom 16. August 2004. 16 Die drei Herkunftsakzentuierungen, die die Zidane-Erzählungen durchziehen, gehen nicht harmonisch ineinander auf. Die politische Berberbewegung bzw. Bewegung der Kabylen wendet ihre Gemeinschaftskonstruktionen explizit gegen die Arabität, insbesondere dann, wenn sie die Arabisierungspolitik des algerischen Staats und seine Diskriminierung der Kabylei-Bewohner thematisiert oder gegenüber dem französischen Staat die Anerkennung der kabylischen Sprache im Schulunterricht einklagt. Darüber hinaus gehören säkulare Entscheidungsstrukturen im traditionellen kabylischen Dorf und religiöser Pluralismus der kabylischen Bevölkerung zu den Gründungsmythen kabylischer Partikularität. 17 Dan Franck: Zidane. Le roman d’une victoire, Paris: Robert Laffont-Plon 1999, S. 178. 64
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Algerien oder die Kabylei. Für das Narrativ vom treuen und solidarischen Zidane wäre die definitive Antwort auf diese Frage allerdings unerheblich: Entscheidend ist lediglich das Bild vom Kumpel Yazid, der Seinesgleichen nicht vergisst. Yazid, der erfolgreiche Fußballer und Millionär, stattet das Jugendzentrum in La Castellane, einem der nördlichen verrufenen Vororte Marseilles, wo der Star 1972 geboren wurde und seine Kindheit verbrachte, mit Computern aus. Er spendet 2003 für die Erdbebenopfer in Algerien und tröstet nach dem Elfmeterschießen im Viertelfinale der WM 1998 lieber seinen weinenden Freund von Juventus Turin und Spieler der gegnerischen italienischen Nationalmannschaft, Christian Vierie, als dass er an den Jubelfeiern der Franzosen teilnimmt. 18 In solchen und anderen anrührenden Erzählungen verkörpert Zinedine Zidane – hier häufig Yazid genannt – das Prinzip der Solidarität und Treue, das Bindungen begründet und garantiert.
Leistung Die Solidarität, die mit dem Kickerstar verbunden wird, erscheint besonders prägnant, wenn sie der sozialen und ökonomischen Erfolgsgeschichte Zidanes gegenübergestellt wird – einem vierten Narrativ in den Erzählungen von der Zidane-Gemeinschaft. Viele Journalisten stellen die Finanzkraft des sich alles leisten könnenden Fußballstar mit einem Jahreseinkommen von ungefähr 15 Millionen Euro dem eingeschränkten Konsumvermögen seines Elternhauses gegenüber. Man berichtet über die mühselige Schiffsreise, die die Familie Zidane auf sich nehmen musste, weil die Flugtickets für den Heimaturlaub der Einwandererfamilie zu teuer waren. 19 Glaubt man den gegenwärtigen Pressestimmen wie in Le Figaro, nimmt der Ex-Profifußballer heute das Flugzeug, nur um mit seinen Brüdern und Jugendfreunden in La Castellane eine Freizeitpartie zu bestreiten. 20 „… Geld ist nie sein Antrieb gewesen, deshalb blieb er auch frei von der Vulgarität eines David Beckham.“21 Die Beschreibungen des Reichtums des Ex-Kickers sind im Allgemeinen weder in einem missgünstigen Ton gehalten noch besitzen sie die in gewisser Weise sozialrevolutionäre Kolorierung, die in Erzählungen über den Immigrantensohn durchscheint. Denn dieser Reichtum wird als das Ergebnis harter Arbeit erzählt – „täglicher Schmerzen und Trainingsprogramme“, die Zidane, wie Luca Caioli für dessen Engagement bei Juventus Turin beschreibt, „häufig sich übergebend beendet.“ 22 Er habe allein, selbst nachts trainiert, um seine Leistungen 18 19 20 21 22
Ebd., S. 159. Ebd., S. 176. J.-Y. Guerin: Un an après la finale du Mondial. Gerd Kröncke: „Der König geht“, in: SZ vom 27. April 2006. Luca Caioli: Zidane. Cent dix minutes pour partir, Paris: Prolongations 2007, S. 95. 65
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zu steigern. 23 Dem Grundsatz folgend, dass nur persönlicher Einsatz eine Bezahlung wert ist, soll der Millionen verdienende Fußballer seine Geschwister gezwungen haben, eine Ausbildung zu machen, bevor diese in der Firma Zidane Diffusion für die Vermarktung der Bilder ihres Bruders sorgen konnten. „Sie sollten nicht einfach wie Lottogewinner zu viel Geld kommen, sondern ehrliche Arbeit leisten.“ 24 Die Gegenüberstellung von Zidanes Reichtum und der wirtschaftlichen Situation der eingewanderten Unterschicht in den französischen Vorstädten entfaltet die Geschichte eines Schwindel erregenden Aufstiegs, der in erbrachten Leistungen seine Rechtfertigung findet.
Respekt Die Erfolge des Fußballstars flößen nicht nur Respekt ein, sondern die Person Zidane ist auch immer wieder zum Inbegriff des Respekts stilisiert worden. „[N]ie hat er […] selber als Erster eine Tätigkeit begangen. Er hat immer nur reagiert.“ 25 Reagiert auf Beleidigungen, die – glaubt man den Pressestimmen – ihn in seiner Selbstachtung verletzt haben. Der Respekt, um den es bei diesem Narrativ geht, ist der Respekt vor der Integrität einer Person und ihrer Freiheit, das Leben nach den eigenen Vorstellungen zu führen. Es ist die Achtung vor der Entscheidung des Fußballers, sich aus der französischen Nationalelf zurückzuziehen, was einige – wie etwa der Ex-Trainer von Auxerre, Guy Roux, und der ehemalige Nationaltrainer Aimé Jacquet – als eine unverschämte beziehungsweise undankbare Anmaßung eines sich überschätzenden Auswahlspielers gewertet haben sollen. 26 Es ist die zu respektierende Freiheit Zidanes, die französische Nationalhymne nicht mitzusingen und stattdessen vor dem Spielbeginn bewegungslos in die Leere zu schauen. „Der Mann ist gegenüber niemandem verantwortlich, nur vor sich selbst. Seine Freiheit hat diesen Preis.“ 27 Es geht hier um einen Respekt, der die Integrität der Person an die individuelle Freiheit bindet, und so zur Projektionsfläche für ein Wir wird.
Physis Zinedine Zidane ist Sportler. Die Narrative im Hinblick auf seine Person beruhen somit alle mehr oder weniger auf Bildern von den Leistungen seines
23 Vgl. ebd., S. 100, und Jean Phillipe: Zidane. Le roi modest, Paris: L’Archipel 2005. 24 G. Kröncke: Der König geht. 25 Peter Hartmann: „Hamlet unter dem Kirschbaum. Zinedine Zidanes hirnrissiger Tabubruch im WM-Finale“, in: NZZ vom 21. Juli 2006. 26 Vgl. Henri Haget: „L’art du contre-pied“, in: L’Express vom 8. August 2005. 27 D. Franck: Zidane, S. 62. 66
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Körpers. „Was bei ihm verblüfft, ist diese perfekte Mischung aus technischer Begabung und robuster Physis.“ 28 In dem Film und Kunstwerk der Bildhauer Parreno und Gordon „Zidane. Ein Porträt des 21. Jahrhunderts“ geht es um „den Körper eines Athleten.“ Dieser Körper ist für die Veranstalter der 37. Ausgabe der Art Basel im Jahr 2005 „eine unvergleichliche und atemberaubende Erfahrung.“ 29 Im Unterschied zur Darstellungsperspektive des Genius, die die herausragenden und außergewöhnlichen Leistungen des Dribblings und der Pässe Zidanes schöpferischer Inspiration unterstellt, herrscht in der Physis-Erzählung der Körper des Fußballers über seine Person und seinen Geist. In diesem Zusammenhang ist Zidane „ein Macher […] der ein Spiel grimmig an der Gurgel packt...“ 30 oder ein „schönes Tier“ auf einer „grünen Savanne“, vor dem das Publikum im Stadion erschauert. 31 Dieses Tier besitzt jedoch eine „dunkle Seite“ – den Jähzorn: „Dann wird die weiße Katze zum unbeherrschten Tier.“ 32
2 . „ U n e i c ô n e p o u r t o u s “ 33 Die öffentliche, in den Medien konstruierte Figur Zinedine Zidane bietet also sechs verschiedene Perspektiven an, einen Plot über Gemeinsamkeiten aus Daten, Fakten, Orten, Merkmalen und Ereignissen in Bezug auf das Leben des Fußballers zu konfigurieren: Genius, Wurzeln, Solidarität, Leistung, Respekt und Physis. In den journalistischen und essayistischen Darstellungen von dem Star führen diese Narrative Identifikationsangebote und Botschaften vor Augen, die der allgemeinen Leserschaft in Deutschland und Frankreich zugänglich sind. Insofern spiegeln sie in genereller Weise Möglichkeiten wider, Nähe zu Zinedine Zidane und Verbundenheit mit den jeweiligen Aussagen der publizistischen Erzählungen zu imaginieren. Darüber hinaus gestalten diese Narrative, wie im Folgenden ausgeführt wird, auch Erzählungen, in denen Nachkommen von Einwanderern ihre partikularen Gemeinsamkeiten und Bindungen rechtfertigen. In diesem Fall lenken sie nicht nur die „mimetische Aktivität“, das heißt das zielgerichtete Zusammenfügen einzelner, heteroge28 Uwe Marx: „Das blaue Wunder“, in: FAZ vom 26. Mai 2002. 29 Art 37 Basel, Filmpremiere: Zidane a 21st Century Portrait. Vgl. http://www. baselunited.ch/images/zidane.pdf vom14. Juli 2007. Der Film zeigt Zidane während des Spiels Real Madrid – Villarreal am 23. April 2005. Siebzehn Kameras verfolgen ausschließlich seine Person, die nach 90 Minuten wegen einer Roten Karte vom Platz gewiesen wird – was den Film beendet. 30 Christian Eichler: „Der das Spiel an der Gurgel packt“, in: FAZ vom 7. Juli 2006. 31 Valérie Duponchelle: „Beau comme un safari“, in: figaroscope vom 24. Mai 2006. 32 Ingo Durstewitz: „Der Unsterbliche“, in: FR vom 27. Juni 2006. 33 „Une icône pour tous“, in : L’Equipe vom 13. August 2004. 67
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ner Erzählbausteine wie in den journalistischen und essayistischen Texten, sondern strukturieren gleichzeitig die Begründungen für die Herstellung von Zugehörigkeit. 34 Insofern werden sie im Zusammenhang des nachstehenden zweiten Abschnitts als Rechtfertigungsprinzipien in den Zugehörigkeitskonstruktionen gefasst. Jedes Narrativ begründet die imaginierten Gemeinsamkeiten anders und gestaltet einen anderen Zinedine Zidane aus, was an Interviewaussagen von befragten Muslimen, Kabylen und Palästinenser in Deutschland und Frankreich vor Augen geführt werden soll.
Genius „… Ich weiß nicht, ob er (Zidane, NT) Kabylisch spricht“ sagt ein Student der Erziehungswissenschaft an der Universität St. Denis und erklärt: „Aber er ist einfach eine internationale Person. Er muss über jedem ethnischen Etikett stehen. Er engagiert sich für universale Dinge, für Kinder und so etwas. […] ich bin stolz, dass er zu meiner Sippe gehört. Allerdings kann ich auch verstehen, wenn ein arabischer Algerier auf ihn stolz ist.“ In den Augen dieses in einem kabylischen Studentenverein engagierten Mannes steht Zidane als Genie über allem – und so auch über den ethnischen Differenzen und damit verbundenen politischen Konflikten. Die kabylische Herkunft – die Zugehörigkeit zur vom zitierten Studenten geteilten „Sippe“ – tritt hinter der Außergewöhnlichkeit des Kickers zurück. Deshalb darf auch der politische Gegner – im Zusammenhang des Zitats der arabische Algerier – stolz auf den kabylischen Zidane sein. In der vom Prinzip des Genies gerechtfertigten Perspektive werden Muslime, Kabylen oder Palästinenser zu außerordentlichen Weltbürgern, denen die Bundesrepublik und Frankreich, ja selbst Europa zu klein sind. Dabei treten beispielhafte Individuen in den Vordergrund – Individuen, die dank ihrer schöpferischen Kraft das Genie der partikularen Gemeinschaft vermitteln. Viele der befragten Muslime, wie zum Beispiel ein Soziologiestudent der Hamburger muslimischen Studentengemeinde, bedauern daher, dass der Fußballstar „seine religiöse Identität [nicht] anders zur Schau [stellt].“ Denn, so dieser Muslim weiter, „dann gibt es ein Gefühl davon, wer wir in der Welt [sind]!“ Zugehörigkeitskonstruktionen, die im Genie einzelner Personen ihre Rechtfertigung finden, ziehen aus der Spannung, die sich zwischen der Welt der Gnade und Grazie der Begabung auf der einen und der erfahrenen, profanen Welt des Unvollkommenen auf der anderen Seite auftut, Gegenentwürfe zur Gesellschaft und ihrer Ordnung. Die außergewöhnlichen Fähigkeiten Zinedine Zidanes stellen der gesellschaftlichen Realität gewissermaßen eine utopische Vollkommenheit entgegen, die den befragten Muslimen, Kabylen
34 P. Ricœur: Zeit und Erzählung, S. 394. 68
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und Palästinensern ermöglicht, soziale Zwänge auf der Ebene der Imagination zu durchbrechen.
Wurzeln Das Bild von der islamischen, kabylischen oder palästinensischen Gemeinschaft ändert sich, wenn die Befragten aus der Wurzel-Perspektive heraus eine – wie auch immer akzentuierte – ethnische Herkunft des Fußballers und den Familienmensch Zidane thematisieren. „Er ist großzügig und bescheiden,“ erklärt ein Student der kabylischen Sprache an der INALCO in Paris. „[Das sind die Qualitäten der Kabylen.] Ich weiß nicht, selbst wenn er ein bisschen schüchtern ist, also gut… er ist einfach eine Quelle des Stolzes für die Kabylen.“ Die Gemeinschaft, die diese Interviewpassage andeutet, weist nicht – wie die Genie-Gemeinschaft – über sich hinaus. Die mithilfe der Figur Zidanes identifizierten Qualitäten weisen vielmehr in die partikulare Gruppe hinein, indem sie als Differenzierungsmittel nach außen eingesetzt werden. In diesem Sinne führt ein Hamburger Muslim aus: „Besonders jetzt in den Jugendlichenkreisen, die sich natürlich auch für Fußball sehr interessieren, ist das schon ein Held, das war teilweise mit Mike Thyson, ein schlechtes Beispiel, aber Zinedine Zidane ist bodenständig, hat eine Familie und ist sehr angesehen aufgrund seiner Leistung und seiner Herkunft und seiner Religion. Das […] hilft schon auch, bestimmte Werte zu vermitteln.“ Solche Versuche, Bindungen herzustellen, kennen keine kosmopolitischen Individualisten. Die mit Wurzeln begründete Gemeinschaft besteht aus Personen, die Autoritätsstrukturen rechtfertigen und Ordnungen aus Herkunftskonstruktionen ableiten. Sie zielt darauf, etablierte Regeln zu erhalten und mithilfe von Erziehung zu übermitteln, und wendet sich gegen Veränderungen wie die Entdifferenzierung der Geschlechterrollen oder die Transformation der Familie. Ein französischer Geschichtslehrer, der nebenberuflich die Aufgabe des Pressesprechers eines Vereins gegen Islamophobie ausübt, hebt in dieser Logik Zidanes Kopfstoss im Endspiel der WM 2006 hervor: „… die Europäer und die Vertreter des Okzidents im Allgemeinen verstehen den Geist und Charakter der Leute nicht, die […] aus dem Maghreb oder Orient kommen. […] Sie verstehen zum Beispiel Zidane nicht, seinen Kopfstoss gestern, den er ausgeführt hat. Man kann nicht verstehen, wie ein ruhiger Mensch, so etwas machen kann. Weil er einen Charakter hat, nicht dass ich seine Geste gut heiße, aber es gibt Dinge, an denen kann man bei uns nicht rühren. Das nennt sich das Heilige, aber etwas Heiliges existiert in Europa nicht mehr.“ Als Beispiel für etwas, was den Muslimen heilig ist, nennt der Pariser Muslim die Frauen in der Familie: „Sie können seine Mutter (Zidanes, NT) nicht beleidigen. Sie können seine Frau nicht beleidigen, selbst wenn er seine Frau nicht liebt.“
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Solidarität Zinedine [zinddin] ist Arabisch und heißt auf Deutsch so viel wie die Schönheit der Religion, was für viele befragte Muslime in der einen oder anderen Weise auf den Islam verweist. „… also das ist ein muslimischer Name“, betont das Mitglied einer islamischen Studentenvereinigung Hamburgs. „Aber wenn Sie jemand sein wollen, der der Umma (der Gemeinschaft der Muslime, NT) etwas geben will, dann reicht es nicht, dass Sie Zinedine Zidane heißen; sondern Sie müssen mit Ihren Handlungen und Haltungen etwas aussagen können. Wenn er (Zidane, NT) zum Beispiel bei religiösen Festen in großen Moscheen wäre, und den Leuten das Gefühl gegeben hätte: ‘Das ist unser Bruder, das ist ein weltbekannter Fußballer, aber er kommt zu uns.’ Dann ist das eine andere Message.“ In den Augen des hier zitierten Mannes gehört der Fußballstar zur Gemeinschaft der Muslime, wenn er sich als Bruder beweist. Das heißt, wenn er seine individuelle Partikularität ablegt und in der Masse der am Festtagsgebet in einer Moschee teilnehmenden Gläubigen untergeht. Das dritte Begründungsprinzip in Zugehörigkeitskonstruktionen – die Solidarität – lässt die Individualität verschwinden. Hier steht in der Imagination von Gemeinsamkeiten die Praxis eines Kollektivsubjektes im Vordergrund und nicht ein einzelner Akteur, der nach Maßgabe eigener schöpferischer Kraft oder Absichten handelt. Ein Jurastudent, ebenfalls aus der Hamburger Hochschulgemeinde, setzt die entsprechende Betonung: „Es geht ja drum, dass er als Muslim nichts Gutes tut für die islamische Gemeinschaft. […] Ich meine, was unterscheidet Beckham von Zidane, nur der Name. Mehmet Scholl heißt auch Mehmet und ist nicht besser.“ Ganz anders hingegen ein Palästinenser aus Berlin, der steif und fest behauptet, die Eltern von Zidane seien aus Algerien nach Palästina ausgewandert und erst nach der Gründung Israels Richtung Marseille aufgebrochen. Er berichtet, dass Zidane (wohlgemerkt, ohne es öffentlich bekannt zu geben) seinen ersten Weltfußballertitel den Palästinensern gegeben habe, weil er sich mit ihnen solidarisch verbunden fühle: „… na ja, er hat seinen Pokal gespendet, den Palästinensern das Geld und den Titel gegeben.“ Die Erzählungen von der Solidaritätsgemeinschaft gehen mit einer Kritik an Individualismus und Einzelkämpfertum einher. Sie richten sich – so zumindest die Verfechter eines solchen Gemeinschaftsprojekts – gegen den Kapitalismus und mit ihm verbundene Machtstrukturen, die staatliche und internationale Institutionen legitimieren.
Leistung Im Gegensatz zur Solidaritätsgemeinschaft muss die Gemeinschaftsimagination, die sich mit den Leistungen der Dazugerechneten rechtfertigt, individuelle Erfolge herausstellen – und sei es mit Hilfe der Erfindung, wie folgende 70
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Worte des Vorsitzenden eines palästinensischen Kultur- und Stadtteilvereins in Berlin deutlich machen.35 „Besonders für die Palästinenser macht Sieg viel aus. Wenn ein Araber irgendwo einen Sieg macht oder stark ist, dann ist er ein Palästinenser. Deswegen ist auch Zidane ein Palästinenser. Viele haben gesagt, als Gaddafi in Libyen seine Revolution gemacht hat: ‚Oh, seine Mutter ist Palästinenserin!‘ Oder Mohammed Ali, oder […] Michael Jackson, viele sagen, er ist Palästinenser.“ Im Unterschied zur Gemeinschaft, die der Genius begründet, sind die Repräsentanten der Leistungs- bzw. Erfolgsgemeinschaft keine außergewöhnlichen Individuen. Ihre Vertreter sind vielmehr Personen, die sich durch Arbeit und Fleiß in der sozialen Konkurrenz durchgesetzt haben. Zinedine Zidane „hat viel gearbeitet, er hat sich in das, was er macht, investiert und ist jetzt eine bekannte Persönlichkeit“, hebt eine Muslimin, Sozialarbeiterin in Paris, hervor: „Deshalb gibt das […] ein wenig Hoffnung für einige, die sich sagen: ‚Ja, letzten Endes hat er es zu etwas gebracht, ich könnte vielleicht auch etwas machen.‘“ Die Muslime, Kabylen und Palästinenser einer Leistungsgemeinschaft sind keine Weltbürger, sondern Staatsbürger, die Ergebnisse von Arbeit und Anstrengung im Hinblick auf soziale Aufstiegschancen berechnen. In diesem Zusammenhang repräsentiert Zidane den Einwanderersohn, der zum französischen Staatsbürger geworden ist und aufgrund eines mühsam erworbenen Könnens die Stufen der sozialen Leiter erklommen hat. Auf die Frage „An was denken Sie, wenn Sie den Namen Zinedine Zidane hören?“ antwortet eine Kabylin, Studentin in Paris: „Ich denke Integration und Erfolg. Ja, Zidane ist ein Integrierter. Er spricht kein Kabylisch. Er ist Franzose und hat es geschafft. […] er zeigt, dass man es mit seinen eigenen Mitteln schaffen kann, wenn man sich anstrengt.“ Die erfolgreiche Karriere des Fußballers, den man zum Stellvertreter der eigenen Gemeinschaftsvorstellung erklärt, erlaubt es, sich selbst und weitere Mitglieder der eigenen Gemeinschaft als legitime Konkurrenten von anderen sozialen Gruppen zu sehen. Gleichzeitig steht der von Zidane ehrlich und mühsam erarbeitete Aufstieg für die Kritik an einer Verteilung gesellschaftlicher Güter, die sich an Privilegien und Traditionen orientiert – und eben nicht an geleisteter Arbeit.
Respekt Während in der Leistungsgemeinschaft Zidane, der Immigrantensohn aus dem stigmatisierten Vorort Marseilles im Mittelpunkt steht, feiert die Gemein35 Dieser Mann stellt eine Ausnahme in dem Untersuchungskorpus dar, weil er nicht – wie die bisher zitierten und im folgenden noch zu Wort kommenden Personen – Nachkomme eingewanderter Eltern ist, sondern als Erwachsener nach seiner Ausbildung in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon nach Berlin geflüchtet ist. 71
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schaft des Respekts die Differenz Zidanes in Bezug auf bestimmte nationale und soziale Normen. „Na klar macht er mich stolz,“ beteuert der Pariser Journalist einer muslimischen Internetzeitung. „Er macht mich stolz, weil er den Franzosen eine Lektion erteilt: Hier einer, den ihr zehn Jahre lang angehimmelt habt, und er ist ein Muslim, einer von denen, die Ihr nicht sehen wollt.“ Eine andere Muslimin, ebenfalls Journalistin der Online-Zeitung, erzürnt sich darüber, dass der Fußballstar in den französischen Medien Zizou genannt wird: „Damit wollen die doch nur vergessen machen, dass er einen muslimischen Namen hat; dass er noch etwas anderes ist als ein französischer Nationalheld. Man kann nämlich sehr wohl Tore für Frankreich schießen und Zinedine oder meinetwegen Yazid heißen. Aber nein, die müssen immer das Maghrebinische verschwinden lassen.“ Die Gemeinschaft, die in Zidane den Respekt vor der Partikularität fordert (sei es nun die muslimische, kabylische oder palästinensische), braucht den öffentlichen Raum – eine nationale oder internationale Sphäre, in der sich die Freiheit zur Partikularität bestätigen und bewähren kann. Nur solche Öffentlichkeiten vermögen den Respekt zu vermitteln, den die Gemeinschaft zur Begründung ihrer eigenen Existenz und Freiheit braucht. Die Sprache dieser Respekt- und Freiheitsgemeinschaft ist die des Rechts. Es geht darum, Rechte zu haben, zu geben oder zu erhalten, nicht aber – wie im Fall der Leistungsgemeinschaft – um das Siegen, Bessersein oder die Ungerechtigkeit der Güterverteilung.
Physis Ganz anders stellt sich die Sachlage für die an der Physis orientierten Gemeinschaft dar: „Wenn ich Zidane höre, dann kommt die […] Hymne in meinen Kopf, dass er ein Araber [ist]. Und dann wird mir [der] nationale Verein, [der] französische, so vollkommen sympathisch, ob die gut spielen oder schlecht, Zidane ist da, dann kommt er …“ Der hier zitierte Palästinenser, der in einem Berliner Stadtteilverein Jugendlichen Arabischunterricht anbietet, empfindet eine Art Blutsverwandtschaft mit dem Fußballstar. In seiner Vorstellung verbindet ihn und den Fußballstar das Arabisch-Sein, das weder miteinander geteilte Arabischkenntnisse noch eine gemeinsame Staatsangehörigkeit benötigt. Die Abstammung und Natur avancieren zu tragenden Zugehörigkeitsprinzipien. Sie entlasten vom Zwang zur Begründung einer Gemeinschaftsimagination. So erzählt ein befragter Palästinenser aus Berlin: „Zwar ist mein Pass libanesisch, aber man geht ja nach den Eltern, was deren Blut ist. Deswegen bin ich Palästinenser.“ Blutsbande brauchen keine Bilder oder Diskurse über Recht, Kultur, Geschichte oder kompetitiv erbrachte Leistungen. Palästinenser sind dann einfach die, „die mit ihrem Körper […] spielen.“ Die Physis, die weder das Genie von Zinedine Zidane noch seine Herkunft, seine Solidarität, seinen Erfolg oder den Stolz über seine Differenz braucht, 72
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entbindet von reflexiver Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. „Nee, du bist Palästinenser, Libanese oder sonst was“, betont der oben zitierte Berliner, „aber Deutscher bist du nicht, obwohl du genauso lange lebst wie die Deutschen eigentlich, die blonde Haare haben. Du lebst genauso wie die, du passt dich genauso wie die an, aber Deine Haar- und Hautfarbe stimmt nicht.“ Diskriminierung und Ungerechtigkeit sind nach dieser Lesart Ausdruck für die Natur der Dinge – für Haar- und Hautfarbe. Die Physisgemeinschaft kann sich mit anderen Worten nur als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse beschreiben und spiegelt letztlich die Ohnmacht derjenigen wider, die diese Physisgemeinschaft erzählend beschwören. Die sechs verschiedenen Rechtfertigungsprinzipien in der Herstellung von Zugehörigkeit, die die Aussagen der befragten Muslime, Kabylen und Palästinenser abbilden, geben den imaginierten Gemeinsamkeiten unterschiedliche Bedeutungen und begründen in differenter Weise die gemeinschaftlichen Bindungen beziehungsweise Abgrenzungen von der Gesellschaft und ihrer staatlichen Ordnung. Hinter ihnen stehen jeweils andere Konfigurationen von auf Gemeinsamkeiten bezogenen Glaubenseinstellungen. Letztere lassen sich mit den glaubensanthropologischen Überlegungen Michel de Certeaus als eine Doppelbewegung erfassen: 36 als ein Bedürfnis nach Plausibilität der Welt auf der einen und ein Verlangen nach Distanzierung von der Welt auf der anderen Seite. Als Plausibilitätsbedürfnis streben die Zugehörigkeitskonstruktionen nach Orientierung in der Gesellschaft, während sie als Verlangen nach Distanzierung vom Sozialen darauf zielen, gesellschaftliche Zwänge zu durchbrechen. In dieser Doppelbewegung erhalten die imaginierten Gemeinschaften ein kritisches Potential in Bezug auf nationalstaatliche Organisation, kulturelle Werthierarchien, sozio-ökonomische Ordnungsgefüge und politische Autoritätsstrukturen. Der Fußballer wird in diesem Zusammenhang einerseits zu einer Rechtfertigungsgröße für eine bestimmte Sicht auf die Gesellschaft und bestimmte Vorstellungen von ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Ordnung und andererseits zu einem Bezugspunkt, der Distanz zu den erfahrenen gesellschaftlichen Verhältnissen markiert und so einen Möglichkeitshorizont eröffnet. Unter diesem Blickwinkel die oben ausgeführten Orientierungen in der Herstellung sub- und transnationaler Zugehörigkeit zusammenfassend, ergibt sich nunmehr folgendes Bild von dem Match der Zugehörigkeitskonstruktionen und seinem Mittelfeldspieler Zinedine Zidane: Ist das Genie der Kern, auf dem die auf Gemeinsamkeiten bezogenen Glaubenseinstellungen beruhen, dann sind Einzigartigkeit und Perfektion in ihrer Distanz zum Alltäglichen die Kategorien, über die gesellschaftliche Kri-
36 Vgl. Michel de Certeau: „Le Croyable. Préliminaires à une anthropologie des croyances“, in: Herman Parret/Hans-Georg Ruprecht (Hg.), Exigences et perspectives de la sémiotique, Amsterdam: Benjamins 1985, S. 689-707. 73
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tik transportiert wird und Gegenentwürfe zu etablierten Ordnungen entwickelt werden. In Genie-Gemeinschaften spielt im Dienst der ganzen Welt Zidane, der außergewöhnliche Künstler, dessen Fußballspiel über den französischen Rahmen hinausgewachsen ist. Demgegenüber werden unwandelbare Traditionen und Kontinuität zu Trägern gesellschaftlicher Kritik, wenn das Narrativ der Wurzeln die imaginierten Gemeinsamkeiten rechtfertigt. Autorität und über Herkunft legitimierte Hierarchien sind zentrale Elemente in solchen wertkonservativen Gemeinschaftsprojekten, die mit Hilfe der Familienordnung die Gesellschaft zu erfassen suchen. Zidane spielt hier als Kabyle oder als Familienmensch: als treuer Ehemann, der sich um die Erziehung seiner Kinder sorgt, und in seinem Vater den Besitzer der Wahrheit erkennt.37 Glaubenseinstellungen, die sich am Solidaritätsideal orientieren, stellen wiederum die Gemeinschaftsimagination dem Individualismus und Pluralismus oder dem marktwirtschaftlichen, auf den Einzelnen ausgerichteten Leistungsideal entgegen. Zidane schießt seine Tore oder spendet sein Geld ausschließlich für das Kollektiv: im Interesse der Palästinenser, im Interesse der Kabylen oder im Interesse der Muslime. Stehen hingegen Leistungen im Zentrum der Begründung einer Gemeinschaft, dann werden die Anstrengungen und Mühen der Dazugehörigen aufgezählt. In den Erzählungen zitierte Statistiken und Berichte über sozialen Aufstieg sind demzufolge als Ausdruck für eine Kritik an der etablierten Verteilung gesellschaftlicher Güter zu verstehen. Zidane spielt hier als französischer Staatsbürger, der es dank harter Arbeit und Fleiß geschafft hat aufzusteigen. Dagegen verschiebt die Kritik ihren Fokus auf die politische und kulturelle Hegemonie der Mehrheit, wenn das mit der individuellen Freiheit der Person verwobene Respektprinzip Zugehörigkeit begründet. Es geht nunmehr um Anerkennung der kulturellen Praxis minoritärer Gruppen, nicht um ihre Leistungen. Die Gemeinschaftserzählungen führen daher Personen vor Augen, die Differenz und Distanz dokumentieren und in der Öffentlichkeit Freiheits- und Gleichheitsrechte einklagen. Es handelt sich also um das Spiel Zinedines oder Yazids gegen Zizou. Wird die Physis zur zentralen Begründung der Gemeinsamkeiten, dann konstruiert sich die Gemeinschaft als stigmatisierte, als Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die körperlichen Merkmale der Individuen bestimmen die Zugehörigkeit zur Gruppe. Hier schießt der „dunkelhäutige Athlet“ – der „Kopf eines Arabers“ – Tore für Frankreich. 38 37 D. Franck: Zidane, S. 90. 38 Der Ausdruck „dunkelhäutiger Athlet“ geht auf einen Artikel zurück, den Jürg Altwegg in der FAZ benutzt hat, um die französischen Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen in Helsinki 2005 zu beschreiben. Vgl. Jürg Altwegg: „Mit Zidane ist der Mythos in Blau wieder da“, in: FAZ vom 17. August 2005. Der Ausdruck „Kopf eines Arabers“ (tête d’Arabe) ist einem Interview mit einer muslimischen Sozialarbeiterin in Paris entnommen. Es handelt sich um ein um74
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3 . „ M e r c i Z i z o u ! “ 39 Die Handlung, an Gemeinsamkeiten zu glauben, die in den beschriebenen Zugehörigkeitskonstruktionen sowohl Plausibilität in der Welt herzustellen als auch soziale Zwänge zu durchbrechen versucht, entwickelt ihre Alterität setzende Wirkungskraft und damit ihr kritisches Potential vor allem in Bezug auf den Nationalstaat. Zidane würde nicht als Muslim, Kabyle oder Palästinenser spielen, wäre er nicht in der französischen Nationalelf gewesen.40 Er könnte auch nicht der Fußballer sein, der Respekt, sozialen Aufstieg, Wurzeln, Solidarität und aufwertende Gefühle angesichts gesellschaftlicher Disqualifikation erspielt, hätte er nicht den Welt- und Europameistertitel für Frankreich geholt. Selbst als „Artist,“ der „in keinem Konzept vorgesehen“ war, braucht die Figur Zidane die Verpflichtung auf die Nation – und zwar, um über den nationalen Rahmen und seine Enge hinauszuweisen.41 Der Nationalstaat spielt also im Match der Zugehörigkeiten mit – und zwar nicht passiv und gegen seinen Willen, sondern aktiv und in der Absicht, die nächste Spielrunde zu erlangen. Er bringt institutionelle Vorgaben ins Rennen und nicht zuletzt eine eigene Definition dessen, was als nationale Gemeinschaft zu gelten hat. Zinedine Zidane ist ohne Zweifel Franzose. Er hat einen Militärdienst in der französischen Armee absolviert, ist auf französischem Boden geboren, spricht die französische Sprache und besitzt die französische Staatsbürgerschaft. „… Zidane gehört den Franzosen, und das ist sehr gut so,“ kommentiert Didier Deschamps den 2004 verkündeten (und ein Jahr später wieder zurückgenommenen) Rücktritt des Fußballstars als nationaler Auswahlspieler. 42 Die vom ehemaligen Kapitän der französischen Nationalmannschaft mit Bestimmtheit formulierte nationale Zuordnung kontrastiert die Auseinandersetzungen um Zizous Nationalität. Der Populist Jean-Marie Le Pen aus dem rechten Parteinspektrum Frankreichs hatte Zidane 1996 einen „Gefälligkeitsnaturalisierten“, einen in Frankreich geborenen Algerier genannt, aus dem sei-
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gangssprachliches Schimpfwort, das die Befragte ironisierend aufgreift, um das gesellschaftliche Bild von Zidane zu hinterfragen. „Merci Zizou!“, in: Le Parisien vom 13.Oktober 2005. Zidanes Spiel für die Palästinenser ist keine pure Erfindung der in Berlin befragten Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon, sondern beruht u. a., wie ein Kommentar in Le Figaro zu einer Reise des damaligen UMPPräsidenten, Nicolas Sarkozy, im Jahr 2004 nach Israel belegt, auf zeitdiagnostischen Konstruktionen in der internationalen Politik: „Denn die Palestinenser (in Israel und den Autonomiegebieten, NT) kultivieren zwei französische Idole: Jacques Chirac und Zinedine Zidane.“ (Patrick Saint-Paul: „C’est en ‘ami d’Israël’ que Nicolas Sarkozy s’est présenté hier soir devant la communauté des résidents français de l’Etat hébreu“, in: Le Figaro vom 15. Dezember 2004). P. Hartmann: Hamlet unter dem Kirschbaum. „Une icône pour tous“, in: L’Equipe vom 13. August 2004. 75
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ne Partei, die Front National, in den Feiern des französischen Weltmeistertitels 1998 ein „Kind des französischen Algeriens“ machte, und den ein algerischer Journalist in La Tribune im Januar 2007 „den Marseillais mit algerischem Blut“ nannte. 43 Aber der Fußballer repräsentiert nicht nur eine Gestalt, die zu revanchistischen, rassistischen und nationalistischen Trugbildern anregt. Er stellt gleichermaßen eine Figur nationaler Versöhnung dar. Der EUParlamentsabgeordnete Daniel Cohn-Bendit hat ihn vor dem Endspiel der WM 2006 einen „Idealfranzose“ genannt, der Frankreich daran erinnert, „dass die Realität eine multikulturelle Realität ist. Und die Jugendlichen, die revoltieren, können sagen, selbst in ihrer Revolte: Wir gehören dazu.“ 44 Seit der WM 1998 nahmen in der Bundesrepublik wiederholt die Befürworter eines Umdenkens in der Integrationspolitik die fußballerischen Erfolge des Einwanderersohns und seine nationale Verehrung in Frankreich zum Anlass, die politischen Versäumnisse in Bezug auf die soziale Integration der Nachkommen ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland herauszustellen.45 Der algerische Staatspräsident, Abdelaziz Bouteflika, der, glaubt man einigen Pressestimmen, noch im Juni 2006 die eine französisch-algerische Doppelstaatsbürgerschaft besitzenden Kinder der algerischen Arbeiter in Frankreich „die fünfte Kolonne des Neokolonialismus“ genannt hatte, machte sich den nationale Gefühle generierenden Zidane im Dezember 2006 zu eigen. Er transformierte den Heimaturlaub des gerade in den Ruhestand getretenen Profifußballers in den Empfang eines algerischen Nationalhelden, organisierte ihm zu Ehren ein Essen im Volkspalast Algiers und verlieh ihm die nationale Ehrenmedaille AlAthir, die Auszeichnung der Helden des algerischen Unterabhängigkeitskampfes gegen Frankreich. Und schließlich hat die spanische Regierung 2005 im Rahmen ihrer Kampagne für den EU-Verfassungsvertrag einen TV-Clip von dem Fußballstar gezeigt, der einen Artikel aus dem Vereinigungswerk liest. Vielleicht hat die Spanier diese Lektüre der Nummer 5 bei Real Madrid – anders als die Franzosen, denen ein solches Bild nicht geboten wurde – zur Annahme der EU-Verfassung bewogen? Wir wissen es nicht, doch belegen die zitierten Beispiele, dass sich in der Figur Zinedine Zidane Konfliktlinien nationaler und europäischer Selbstverständnisdebatten und politische Herausforderungen pluralistischer Gesellschaftsstrukturen kristallisieren können. Die multiplen Etiketten, die den Fußballer zum bevorzugten Mittelfeldspieler subund transnationaler Zugehörigkeiten machen, lassen ihn ebenfalls zu einem
43 Vgl. „Le FN fait de Zidane un ‘enfant de l’Algérie française’“, in: Le Monde vom 15. Juli 1998; vgl. Younes Hamidouche: „Algérie: Zidane exprime ses ‘sentiments de solidarité et d’amour’ à l’égard de l’Algérie“, in: La Tribune vom 7. Januar 2007. 44 Daniel Cohn-Bendit: „Zidane ist der Idealfranzose“, in: taz vom 7. Juli 2006. 45 Vgl. z.B. „Black-blanc-beur“, in: SZ vom 11. Juli 1998. 76
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privilegierten Verteidiger nationalstaatlicher und unionspolitischer Einheitsthematisierungen werden. Im französisch-algerischen Kontext verpflichten die Einheitsthematisierer Zidane auf ein besonders subtiles Verteidigungsspiel, das nicht nur inklusions- oder exklusionstheoretisch, sondern auch geschichts- und erinnerungspolitisch das Tor des Nationalstaats vor gegnerischen Angriffen zu schützen sucht. Libération veröffentlichte auf der Doppelseite seines Nachrufs auf den 2004 zurückgetretenen Zidane eine Reihe von Fotos, darunter die Aufnahme von dem Rücken eines Kindes auf den Schultern eines Erwachsenen. Das Kind trägt das blaue Trikot der französischen Nationalelf mit der Nummer 10 und Aufschrift ‚Zidane’, der Erwachsene hat eine algerische Flagge über den Rücken geworfen. Die Bildunterschrift lautet: „2001: ‘Frankreich gegen Algerien’. Der 6. Oktober, ein symbolisches Spiel für den Kabylen, unterbrochen, als die Fans den Platz stürmen.“ 46 Bild und Text fassen die politische Brisanz des Kickers zusammen, die einen von Nervosität und Konflikten gezeichneten Bogen zwischen dem nationalen Helden der ehemaligen Kolonialmacht und der die Unabhängigkeit erkämpft habenden Herkunftsnation seiner Eltern aufzieht. In dieser Spannung machen öffentliche Stimmen in Frankreich Zidane gern zum Kabylen, der in dieser sprachkulturellen, ethnischen Identitätskonstruktion – zumindest die Franzosen – von erinnerungspolitischen Problemen entlastet. 47 Umgekehrt stellt die Benennung der Kabylität des Profifußballers in inneralgerischen Auseinandersetzungen geradezu eine Provokation für das nationale Selbstverständnis dar, weil sie den Protest gegen die staatliche Arabisierungspolitik und die sozio-ökonomische Marginalisierung der kabylischen Regionen aufruft. Die religiöse Empfindsamkeit Zinedine Zidanes findet in Presse und Politik weder auf der nördlichen noch der südlichen Seite des Mittelmeers eine deutliche Erwähnung. In Frankreich verbieten die inklusionsideologischen Dimensionen der Laizität und die republikanische Kultur von Politikern und Journalisten die öffentliche Thematisierung der Religionszugehörigkeit des Nationalhelden. In Algerien wiederum
46 Foto von Rondeau, Presse Sports, Bildunterschrift: „France-Algérie. Le 6 octobre, un match symbole pour le Kabyle, interrompu quand les supporters envahissent la pelouse“, in: Libération vom 13. August 2004. 47 Die sprachkulturelle (kabylische) Zuschreibung entschärft das Konfliktpotential, das Zidanes Verbundenheit mit Algerien für das französische Selbstverständnis nolens volens darstellt. Denn sie unterläuft nationalstaatliche Zuordnungen und lenkt die Perspektive von der französisch-algerischen Geschichte auf eine in Algerien unterdrückte Gruppe und in Frankreich positiv besetzte Einwanderungsgruppe. Die Kabylen gelten in der Tat als besonders integrationsfähig. Dieses Bild knüpft nicht zuletzt an den Mythos an, den wissenschaftliche und militärische Interessen der französischen Kolonialherren im 19. Jahrhundert in Bezug auf die Verwandtschaft der Berber mit dem Okzident hervorgebracht haben. (vgl. P. A. Silverstein: Algeria in France, S. 56ff.) 77
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unterbinden Islamismus und im Namen des Islam verübter Terror eine politische Indienstnahme seiner persönlichen Religiosität – zumindest dann, wenn Zidanes Instrumentalisierung der nationalen Versöhnung dienen soll. Der leichtfertige Umgang mit der Qualifizierung Zidanes als Muslim oder Fußballer „muslimischer Herkunft“ scheint eher deutschen Presse- und Politikerstimmen vorbehalten zu sein, die nicht müde werden, dem Fußballer eine Zugehörigkeit zum Islam zu attestieren. In nur wenigen Kommentaren hat Zinedine Zidane im Kampf der Nationen Stellung bezogen. Ein erstes Mal in dem kurz nach der WM 1998 erschienen Buch Zidane, Dugarry. Mes copains d’abord: Hier unterstrich der Weltmeistertitelträger, dass sein Sieg auch „der [seines] Vaters, aller Algerier ist, die stolz auf ihre Fahne sind, die sich für ihre Familie geopfert, aber nie ihre eigene Kultur aufgegeben haben.“ 48 Diese Worte sind aus der zweiten Auflage des Buchs gestrichen worden. 49 Ein weiteres Mal 2002, im Kontext der anstehenden Stichwahl zwischen dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen, um vor den Konsequenzen des Wahlsiegs einer Partei zu warnen, die – so Zidanes in der Presse wiedergegebenen Worte – „nicht im geringsten den Werten Frankreichs entspricht.“ In diesem Kontext hat er auch das vom Generalbeauftragten der Front National, Bruno Gollnisch, in die Welt gesetzte Gerücht für nichtig erklärt, sein 1953 aus den Bergen der Kabylei in die koloniale Metropole gewanderter Vater, Smaïl Zidane, sei ein Kollaborateur (ein Harki) im algerischen Unabhängigkeitskampf von 1954 bis 1962 gewesen.50 Eine weitere Aussage findet sich in einem Interview von 2004 mit Andrew Hussey für The Observer. Hier stellt Zinedine Zidane fest: „Und für mich ist das Wichtigste, dass ich immer noch weiß, wer ich bin. Jeden Tag denke ich daran, wo ich herkomme, und ich bin bis heute stolz darauf, zu sein, was ich bin: erstens ein Kabyle aus La Castellane, dann ein Algerier aus Marseille, und schließlich ein Franzose.“51 Von seiner Religiosität hat er nur Gesten, wie zum Beispiel die Handhaltung des muslimischen Bittgebets (du’a) auf einem von der christlichen Wochenzeitung La vie veröffentlichten Foto, oder unverfängliche Sätze preisgegeben, wie den anlässlich seiner Erklärungen zum
48 Zitiert nach Mogniss H. Abdallah : „’L’effet Zidane’ ou le rêve éveillé de l’intégration par le sport“, in: Hommes & Migrations 1226 (2000), S. 5-14, hier S. 8. Vgl. auch Pierre-Louis Basse: Zidane, Dugarry. Mes copains d’abord, Paris: Mango 1998. 49 Vgl. M. H. Abdallah: „‘L’effet Zidane’. Ou le rêve éveillé de l’intégration par le sport“, in: Hommes & Migrations 1226 (2000), S. 5-14; und Andrew Hussey: „ZZ top“, in: The Observer vom 4. April 2004. 50 „L’homme du jour Zinedine Zidane“, in: l’Humanité vom 30. April 2002. 51 A. Hussey: ZZ top. 78
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Kopfstoß gegen Materazzi: „Da oben hat man das so entschieden.“52 Mit Ausnahme solcher knappen, unaufgeregten Aussagen, die im Grunde immer nur das explizit werden lassen, was gegenüber einem bestimmten Gesprächspartner und in einem bestimmten zeitlichen Kontext öffentlich sag- und hörbar ist, hat Zinedine Zidane zu den diversen Instrumentalisierungen seiner Person weitgehend geschwiegen. Es bleibt im Bereich der Spekulation, nach den Gründen für die identitätspolitische Einsilbigkeit des Fußballers zu fragen. Möglicher Weise kommen darin Hilflosigkeit gegenüber der Monstrosität der nationalen Einheitsthematisierungen oder, wie Nacira Guenif betont, eine verinnerlichte Scham zum Ausdruck, die der verachtende Blick der Nation auf den algerischen Immigrantensohn verursacht hat. 53 Vielleicht ist es auch eine Form von Selbstschutz vor der politischen Sprengkraft, die die gesellschafts- und geschichtspolitischen Zusammenhänge seiner Familienbiographie markieren. Was auch immer die Erklärung ist, die Wortkargheit hat Zinedine Zidane zu einem bevorzugten Objekt nationaler Einheitsthematisierung werden lassen und letztlich auch seine Rolle als offensiven Mittelfeldspieler im Match der Zugehörigkeiten gestärkt. Andreas Rüttenauer von der taz resümiert daher mit Recht „Sein Schweigen hat ihn berühmt gemacht“ – oder besser: inklusions- und exklusionspolitisch wertvoll gemacht. 54 In der Figur Zinedine Zidane laufen also konkurrierende und widerstreitende Dynamiken von Zugehörigkeitskonstruktionen zusammen – sub- und transnationale auf der einen und nationalstaatliche Zugehörigkeitskonstruktionen auf der anderen Seite. Diese Dynamiken definieren und potenzieren sich gerade in ihrem widersprüchlichen Aufeinandertreffen, was zum Teil erstaunliche Konfigurationen hervorbringt: „Der Bursche (Zidane, NT) hat weder Stand- noch Spielbein, sondern eine beidbeinig unendlich fein entwickelte Balance, die ihm jede Drehung, jeden Haken, jede Pirouette, jede Körpertäuschung ansatzlos aus der Ruhestellung wie aus der Bewegung gestattet.“ 55 Solche Balancen, die Drehungen und Wendungen, Täuschungen und unvermutete Pirouetten ermöglichen, bringen den Wesenszug der sub- und transnationalen Zugehörigkeitskonstruktionen in der deutschen und französischen Einwanderungsgesellschaft zum Ausdruck und markieren die Differenz ge52 Zinédine Zidane: „Des mots tellement durs …“, in: L’Equipe vom 13. Juli 2006, für das zitierte Foto vgl. „Les dieux du foot sont-ils inspirés?“, in: La vie 3170 vom 1. Juni 2006. 53 Nacira Guenif-Souilamas: „’ZIDANE and its political avatars’. Frenchness and the African diaspora“, in: Charles Tshimanga/Didier Gondola/Peter Bloom (Hg.), Postcolonial strategies of containment, Bloomington: Indiana University Press 2008 (i. E.). Zum Problem der Scham und des Selbsthass unter den Nachkommen der maghrebinischen Einwanderer in Frankreich im Allgemeinen vgl. ders.: Des beurettes, Paris: Grasset 2000. 54 Andreas Rüttenauer, „He did it his way“, in: taz vom 11. Juli 2006. 55 S. Kobenter: Abseitsfalle, S. 24. 79
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genüber den Nationalstaaten. „Kein anderer (als Zidane, NT) dreht sich in vollem Lauf mit dem Ball am Fuß um die eigene Achse und streichelt die Kugel mit der Sohle, während zwei Rivalen von Weltklasse die Orientierung verlieren.“ 56 Die nationalstaatlichen Rivalen laufen tatsächlich Gefahr, im Spiel der Zugehörigkeiten, das die Nachkommen der Einwanderer mit ihren Gemeinschaftsimaginationen eröffnet haben, die Orientierung zu verlieren. Angestammte Ordnungs- und Rechtfertigungsmuster, mit denen nationale Gemeinschaften ihre Hierarchien und Strukturen legitimieren, sind angesichts „der Dribbelkunst, der Ballkontrolle und -führung, des schwankenden Stils, der flüssigen Doppeldrehungen und der choreographischen Übersteiger“ faktisch ins Wanken geraten. 57 Das in die Zugehörigkeitskonstruktionen eingebaute kritische Potential besitzt nämlich (mit Ausnahme der PhysisGemeinschaft) gegenüber den Nationalstaaten ein entscheidendes Privileg, das gewissermaßen eine Folge der Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Stigmatisierung darstellt: Die Begründungen der Gemeinsamkeiten und die Ausrichtung der hergestellten Bindungen können jederzeit wechseln, was den im Spiel eingesetzten Zugehörigkeitskategorien wohlgemerkt nichts von ihrer Ernsthaftigkeit nimmt. 58 Gemeinschaftsimagination in der Einwanderungsgesellschaft agiert wie Zinedine Zidane (wenn auch meist eloquenter) als offensiver Mittelfeldspieler, die ihre Ballkünste stets als den Ausdruck ihres wahren Selbst verstehen und als eine existentielle Notwendigkeit begreifen. Ein womöglich offenes Tor müssen sie nicht verteidigen. Daraus erwächst eine Freiheit, die sich die nationalstaatlichen Verteidiger von Traditionen, Normen, Institutionen und Geschichte nicht leisten können. Die Zugehörigkeitskonstruktionen spielen ihre Bälle mit schwer zu berechnenden Flugbahnen, sie konzentrieren sich ganz auf die situative Gelegenheit, die gegnerische Verteidigung zu durchbrechen. Solche Strategien befördern die Kreativität, begründen Drehungen und Schwankungen und spornen nicht zuletzt zu mitunter sogar kapriziösen und gefährlichen Stilisierungen an – etwa zu einem Panenka-Heber im Endspiel der WM 2006. Die Mobilität und Schwankungen der sub- und transnationalen Zugehörigkeitskonstruktionen bleiben den auf historische und machtpolitische Stabilisierung fixierten Nationalstaaten versagt. Sie sind in dieser Hinsicht so unbeweglich wie ihre Territorien: Ihr Spiel strukturiert sich über die einfache Variation von Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Die Palette ihrer Spielzüge ist beschränkt, was sie zu Eindeutigkeiten verurteilt. Sie können die Pluralisierung der gesellschaftlichen Beziehungen durchaus inklusiv beant56 Peter Burghardt: „Das Lächeln der Verlierer“, in: SZ vom 8. Mai 2003. 57 Serge Kaganski: „Zidane au crible“, in: Les Inrockuptibles 545 vom 9.-15. Mai 2006. 58 Zur Subjektivität, die Jugendliche in sozialer Prekarität entwickeln vgl. François Dubet: La galère, Paris: Fayard 1987. 80
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worten, auch wenn exkludierende nationale Selbstverständnisdebatten diesen Prozess begleiten. Wie solche Inklusionen operieren, zeigte nicht zuletzt die prompte Reaktion des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac auf die Rote Karte, die Zidane für seinen Kopfstoss gegen den italienischen Verteidiger Materazzi im Endspiel der WM 2006 zu Gesicht bekam. Noch bevor klärende Informationen über das Foul bekannt geworden waren, erklärte Jacques Chirac anlässlich der Rückkehr der Nationalmannschaft aus Berlin am 10. Juli 2006: „Lieber Zinedine Zidane, ich möchte Ihnen im intensivsten, vielleicht im härtesten Moment Ihrer Karriere die Bewunderung und Zuneigung der ganzen Nation zum Ausdruck bringen, auch ihren Respekt, aber vor allem ihre Zuneigung und Bewunderung. Sie sind ein Virtuose, ein Genie des Weltfußballs. Sie sind ein Mensch mit Herz, mit Engagement und Überzeugung. Deswegen bewundert und liebt Sie Frankreich.“ 59
4 . „ M e n s c h Z i d a n e “ 60 Nolens volens hat Zinedine Zidane ausgerechnet bei seinem letzten internationalen Auftritt den inkludierenden Spielzug der französischen Republik außer Kraft gesetzt und gleichzeitig die Konturen der Projektionsfläche der multiplen Wir-Konstruktionen verwischt: „ein Moment perfekter Mehrdeutigkeit unter dem Himmel von Berlin, einige wenige Sekunden schwindelerregender Ambivalenz.“ 61 Der Kopfstoss Zidanes illustriert in der Tat eine Schwachstelle im Spiel der sub- und transnationalen Gemeinschaftsvorstellungen – eine Schwachstelle, die Chirac geradezu meisterhaft in den Dienst der französischen Republik zu stellen wusste, indem er den Ausbruch des Helden aus dem Epos der Nation wieder in die Kollektiverzählung Frankreichs integriert hat. Dribbelkunst, kapriziöse Stilisierungen und Körpertäuschungen, die die Ordnungsmuster der Nationalstaaten so erfolgreich ins Wanken zu bringen wissen, sind Ausdrucksformen von Einzelpersonen und ihrem individualisierten Spiel mit Zugehörigkeitsoptionen in der pluralistischen Gesellschaft. Die changierenden Orientierungen und Akzentuierungen der Glaubenseinstellungen beruhen auf individuellen Erfahrungen mit Gesellschaft und auf einem permanenten Auswählen zwischen unterschiedlichen Legitimationsangeboten für das gesellschaftliche Zusammenleben. Dies hat zur Folge, dass Zugehörigkeitskonstruktionen in der Einwanderungsgesellschaft nicht auf einem kohärenten, in ein Kollektivsubjekt eingeschlossenen Erleben von Gesellschaft 59 „Discours de M. Jacques Chirac, Président de la République à l’occasion du déjeuner avec l’équipe de France de football“, vgl. http://www.elysee.fr/elysee/ root/bank/print/55069.htm vom 13. Juli 06. 60 taz vom 11. Juli 2006. 61 Jean-Philippe Toussaint: Zidanes Melancholie, Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2007. 81
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beruhen, sondern aus individualisierten sozialen Erfahrungen hervorgehen.62 Die Narrative, die die jeweils imaginierten Gemeinsamkeiten rechtfertigen, bringen die normative Tätigkeit von Individuen zum Ausdruck – und bilden keine fest gefügten und stabilen Gemeinschaftsordnungen ab. Diese Individuen treibt, ähnlich im Übrigen wie die im ersten Schritt dieses Texts zitierten Journalisten und Essayisten, die Frage um, wie sie verschiedene, sich anbietende Handlungslogiken miteinander kombinieren und im Hinblick auf welches Allgemeinwohl hierarchisieren können. Insofern werden Traditionen, Werthierarchien und Autoritätsstrukturen zu Optionen für das Handeln, das nunmehr je nach Wahl und subjektiver Auslegung der Gemeinsamkeiten changieren kann – und dies in unerwarteten Wendungen für das Spiel. Die Person Zinedine Zidane hat dies mit ihrem Foul im Endspiel der WM 06 vorgeführt. Zehn Minuten vor dem Ende seiner glänzenden Berufskarriere, ist er aus den Kollektiverzählungen der ihm zugeschriebenen, sowohl nationalen als auch sub- und transnationalen Gemeinschaften ausgestiegen, um auf die ihn persönlich beleidigende Provokation eines Gegenspielers zu reagieren. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Bezogenheit der Geste auf das Individuum Zinedine Zidane, auf das individuelle, situative Erleben einer Beleidigung. Dieses Erleben steht weder in einem Verhältnis zum Kollektiv der französischen Mannschaft oder der französischen Nation noch in einem Verhältnis zu irgendeiner Gemeinschaft von Muslimen, Kabylen oder Palästinensern. Der Ex-Fußballer hat seine individualistische – brutale und ambivalente – Geste in zwei im französischen Fernsehen übertragenen Interviews mithilfe einer Entschuldigung in die Regeln gesellschaftlichen Lebens eingeordnet. „Ich habe reagiert, und natürlich ist das keine Geste, die man machen sollte. Mir ist das wichtig, dies laut und deutlich zu sagen. Milliarden von Fernsehzuschauern haben es gesehen, Millionen von Kindern. Ihnen gegenüber möchte ich mich dafür entschuldigen, und auch gegenüber den Erziehern.“63 Nach diesen Sätzen konnte das Match der Zugehörigkeiten und das Verteidigungsspiel der Nation wieder aufgenommen werden. Es treibt so dynamisch wie vor dem Kopfstoss gegen den italienischen Verteidiger voran: In einem Kommuniqué hat der Rektor der Pariser Moschee und Vorsitzende des offiziellen französischen Islamrats (Conseil Français du Culte Musulman) noch im Juli 2006 Zinedine Zidane, „dem würdigen Sohn der muslimischen Gemeinschaft und der gesamten französischen Nation“, die „brüderliche Unterstützung“ und „bewundernde Zuneigung“ der Moscheegemeinde ausgesprochen: „Sein Leiden und der Schaden an seiner Würde werden von der gesam-
62 Vgl. François Dubet: Sociologie de l’expérience, Paris: Seuil 1994. 63 Z. Zidane: „Des mots tellement durs …“. 82
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ten Gemeinschaft geteilt.“64 Artikel auf Webseiten der kabylischen Bewegung feiern den Widerstandsgeist, den Zidane, ein „Jugurtha“, in seinem Kopfstoss gegen einen „Römer“ zu Geltung gebracht habe. „Zidane erinnert mich an den Kampf der Frauen und Männer, die gegen die Provokation und Erniedrigung durch Diktaturen, Rassisten und Angreifer ihr Leben eingesetzt haben. […] Zidane hat nicht nur die Ehre seiner Familie verteidigt, sondern die Werte des Berbers, des Afrikaners und der Leute des Südens.“ 65 Die Franzosen haben ihren Zizou nach dem verlorenen Endspiel wieder zum beliebtesten Vertreter der Nation gewählt. Der italienische Designer, Alessandro Ferrari, hat eine T-Shirt- und Polarkleidungskollektion mit dem Namen Xqua (Warum) auf den Markt gebracht, die eine abstrakte Abbildung des berühmten Kopfstoss zum Logo hat – um, so der Modeschöpfer, den Jugendlichen ein In-Produkt hoher Qualität mit sozialer Message anzubieten. In Genf konstatierte die Polizei unlängst eine Zunahme von Diebstahldelikten, in denen ein Kopfstoss „à la Zizou“ zum Einsatz kam. Und Wim Wenders hat im April 2007 mit den beiden UN-Botschaftern des Guten Willens, Ronaldo und Zidane, einen Werbespot gegen die Armut der Welt gedreht. In der Freude und im Ärger am Spiel sollte man jedoch nicht Zidanes Sätze vergessen, die unmittelbar auf seine Entschuldigung für den Kopfstoss gefolgt sind: „Ich habe Kinder, ich weiß, was das heißt, ich werde ihnen immer sagen, sich niemals auf die Füße treten zu lassen.“66 Das hier angedeutete Erziehungsprinzip stellt dem Sozialverband warnend das Individuum entgegen – und zwar ein Individuum, das sich selbst heilig ist. Dass dieses Individuum unantastbar sei, ist die Grundüberzeugung, die hinter den Narrativen der Gemeinschaftserzählungen und damit hinter den Rechtfertigungsprinzipien der beschriebenen Zugehörigkeitskonstruktionen steht. Wer sich ihr verschreibt, will nicht ausschließen, dass Kopfstösse ausgeteilt werden, sobald das Gefühl vorherrscht, auf die Füße getreten worden zu sein.
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64 Dalil Boubakeur : „Soutien à Zinédine Zidane Communiqué“, vgl. http://saphirnews.com vom 17. Juli 2006. 65 Djamila Addar: „Zidane, légende kabyle et rebelle“, in: Kabylie News vom 14. Juli 2006, http://www.kabylienews.com/imprimer.php3?id_article=2471 vom 14. September 2006.) 66 Z. Zidane: „Des mots tellement durs …“. 83
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(Hg.), Islamic Family Law, London et al.: Graham & Trotman 1990, S. 181-201. Basse, Pierre-Louis: Zidane, Dugarry. Mes copains d’abord, Paris: Mango 1998. Best, Otto F.: Handbuch literarischer Fachbegriffe, Definitionen und Beispiele, Frankfurt/Main: Fischer 1994. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. Caioli, Luca: Zidane. Cent dix minutes pour partir, Paris: Prolongations 2007. De Certeau, Michel: „Le croyable. Préliminaires à une anthropologie des croyances“, in: Herman Parret/Hans-Georg Ruprecht (Hg.), Exigences et perspectives de la sémiotique, Amsterdam: Benjamins 1985, S. 689-707. Dubet, François: La galère, Paris: Fayard 1987. Dubet, François: Sociologie de l’expérience, Paris: Seuil 1994. Franck, Dan: Zidane. Le roman d’une victoire, Paris: Robert Laffont-Plon 2004. Ghadban, Ralph: Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration ethnischer Minderheiten, Berlin: Das Arabische Buch 2000. Guenif-Souilamas, Nacira: „‚ZIDANE and its political avatars‘. Frenchness and the African diaspora“, in: Charles Tshimanga/Didier Gondola/Peter Bloom (Hg.), Postcolonial strategies of containment, Bloomington: Indiana University Press 2008. Guenif-Souilamas, Nacira: Des beurettes, Paris: Grasset 2000. Irnberger, Harald: Die Mannschaft ohne Eigenschaften. Fußball im Netz der Globalisierung, Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag 2005. Khoroskhavar, Farhad: L’islam des jeunes, Paris: Flammarion 1997. Kobenter, Samo: Arbeitsfalle. Essays zu Fußball, Literatur und Politik, Wien: Löcker 2005. Nökel, Sigrid: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld: transcript 2002. Philippe, Jean: Zidane. Le roi modeste, Paris: L’Archipel 2002. Ricœur, Paul: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Seuil 1986. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Die Erzählte Zeit, Bd. 3, München: Fink 1991. Silverstein, Paul A.: Algeria in France. Transpolitics, Race, and Nation, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 2004. Tietze, Nikola: „Gemeinschaftsnarrationen in der Einwanderungsgesellschaft. Eine Fallstudie über Palästinenser in Berlin“, in: Fritz-Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antise84
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mitismus. Jahrbuch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/Main: Campus 2006, S. 80-102. Toussaint, Jean-Philippe: Zidanes Melancholie, Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2007.
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Fußball als Figurationsgeschehen. Über performative Gemeinschaften in modernen Gesellschaften THOMAS ALKEMEYER UNTER MITARBEIT VON ROMAN EICHLER UND JENS WONKE-STEHLE
1. Einleitung Fußballverliebte Feuilletonisten, Philosophen und Kulturwissenschaftler begreifen den Fußball gern als Metapher. Günter Netzers öffnende Pässe sind dann Analogien zur Politik des einsamen Visionärs Willy Brandt, in Berti Vogts’ Bürokratenfußball zeigt sich die Weltsicht eines Helmut Kohl, oder Fußball wird gleich zum Spiegel der gesamten Kultur erklärt. Diese Sicht ist nicht unwidersprochen geblieben: Sport habe, so das Gegenargument, mit symbolischer Darstellung nicht das Geringste tun, sondern erzeuge eine hermeneutisch nicht zu deutende Präsenz verkörperter Formen. 1 Gemeinsam mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Sports hat diese Sichtweise den durchaus erfreulichen Nebeneffekt, das sportliche Geschehen selbst in den Vordergrund zu rücken, statt es als bloße Projektionsfläche zu betrachten – um den Preis freilich, es von gesellschaftlichen, kulturellen, politischen oder ökonomischen Bezügen abzukoppeln und damit in letzter Instanz das klassische Selbstverständnis des Sports als einer „selbstzweckhaft formalisierten Körperpraxis“ 2 zu reproduzieren. Im Folgenden wird das Fußballspiel als ein Figurationsgeschehen sui generis betrachtet, an dem von den Stadionbauten über die Spieler, den Ball und 1
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Zu diesen Auseinandersetzungen vgl. Thomas Alkemeyer: „Verkörperte Weltbilder. Sport als aufgeführte Mythologie“, in: Erika Fischer-Lichte/Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Theater der Zeit, Recherchen 18 (2004), S. 210-225. Robert Schmidt: Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen, Konstanz: UVK 2002, S. 71. 87
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die Zuschauer bis hin zur Technologie der Massenmedien disparate Akteure beteiligt sind. Der Beitrag fokussiert die Ereignisse in den Stadien, ohne diese jedoch zu dekontextualisieren. Es soll plausibel gemacht werden, dass das Spiel in der Interaktion seiner verschiedenartigen Ko-Akteure eine Affektivität freizusetzen vermag, die Vorgänge sinnlicher Vergemeinschaftung initiiert und damit etablierte soziale Unterschiede und Gegensätze zeitweilig vergessen machen kann. Mit dem Begriff der performativen Gemeinschaft wird die Frage danach, was eine Gemeinschaft ist, durch die Frage ersetzt, wie sie sich bildet, erneuert oder bestätigt. Statt vorgängiger Einheiten wie z.B. kollektiv verbindlicher Sinn- und Wertesysteme rücken in der Perspektive dieses Konzepts die raum-zeitlich gerahmten, körperlichen und sprachlichen Praktiken, Interaktionen, Inszenierungen und Stile in den Blick, mittels derer sich eine Menge von Menschen als Gemeinschaft konstituiert. Gemeinschaft erscheint dann nicht allein als ein homogener, stabiler und strikt integrativer Nahraum, sondern auch als ein von Spannungen durchzogenes, prekäres und vergängliches Erfahrungsfeld. 3 Offensichtlich gehört zum atmosphärischen Gesamtbild vieler ‚großer‘ Fußballereignisse ein kollektiver, in (National-)Fahnen, johlender Ausgelassenheit und durchaus auch Aggressivität sich artikulierender Taumel, der mit Begriffen wie Nationalismus oder Chauvinismus nur unzureichend begriffen wird. Im Hintergrund scheint vielmehr eine Suche nach leiblich spürbarer Teilhabe zu stehen, die in Abhängigkeit von gesellschaftlich geprägten Geschmacksvorlieben auch durch andere Ereignisse, z.B. Popkonzerte, „Lange Nächte der Museen“ oder Karnevalsumzüge, befriedigt werden kann. In all diesen Fällen geht es immer auch um ein Zusammensein als solches, oft in möglichst großer Zahl auf einer begrenzten Fläche, so dass eine überdurchschnittliche körperliche Dichte, eine außergewöhnliche Intensität sinnlicher Eindrücke entsteht, die selbst wildfremde Menschen ‚auf Tuchfühlung‘ gehen lassen kann. Im Ausnahmezustand der Fußball-WM von 2006 in Deutschland traten in den Stadien, auf Fanmeilen und beim Public Viewing sogar Eigenschaften zutage, die gemeinhin nicht mit ‚den Deutschen‘ in Verbindung gebracht werden: man zeigte sich in Partylaune betont weltoffen, es wurde ausgelassen gefeiert, Ordnung geriet in Bewegung. Mitunter prägen sich einzelne Fußballspiele und deren Bilder sogar derart tief in ein generationenübergreifendes kollektives Gedächtnis ein, dass sie – zumindest in bestimmten Bevölkerungsgruppen – weit über das unmittelbare Ereignis hinaus als kultureller Kitt wirksam bleiben. So sehen einige Politolo3
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Vgl. Christoph Wulf/Jörg Zirfas: „Die performative Bildung von Gemeinschaften. Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen“, in: Paragrana. Zeitschrift für Historischen Anthropologie 10 (2001) H. 1, S. 93-116; Christoph Wulf u.a.: Bildung im Ritual. Schule, Familie, Jugend, Medien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 66f.
FUSSBALL ALS FIGURATIONSGESCHEHEN
gen und Soziologen die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland im Wankdorf-Stadion zu Bern am 4. Juli 1954 – fünf Jahre nach der offiziellen Gründung der Bundesrepublik. Die deutsche Mannschaft hatte die ungarische Elf damals im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft überraschend mit 3:2 besiegt, nachdem sie dieser in einem Vorrundenspiel noch mit 8:3 unterlegen war. Mit den binnenstrukturellen Eigenschaften des Spiels allein kann die affektive Wucht und verbindende Kraft 4 des Fußballs selbstverständlich nicht erklärt werden. Aber ohne die Gegenwart des Spiels gäbe es sie eben auch nicht. Um ihren Mechanismen auf die Spur zu kommen, werden wir im Folgenden unterschiedliche Dimensionen des Fußballs in den Blick nehmen und uns ihrem Zusammenwirken annähern: Zunächst wird das Fußballspiel als ein durch Stadionbauten eingefasstes, prinzipiell vom Scheitern bedrohtes, körperlich-gestisches Geschehen dargestellt, das in seinen gelingenden Momenten als Resonanzen beschreibbare Verbindungen zwischen den Spielern, aber auch zwischen dem Spielgeschehen und dem Publikum auf den Stadionrängen hervorruft. Dabei werden der Modus der Zuschauerbeteiligung am Geschehen auf dem Rasen ebenso ins Auge gefasst wie die Grenzen dieser Partizipation (2). Anschließend wird die Rolle der Massenmedien beleuchtet, die dem Geschehen Anschlussfähigkeit weit über die raum-zeitliche Situierung des Spielgeschehens hinaus verleiht (3). Ein Fazit, das die Suche nach körperlich-sinnlicher Beglaubigung von Zugehörigkeit aus Strukturbedingungen moderner, differenzierter Gesellschaften heraus zu erklären versucht, rundet den Beitrag ab (4).
2. Fußball als körperlich-gestische Figuration In einer beharrlich zitierten Formulierung hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp den Fußball einmal als „soziale Plastik in ekstatischer Variante“ 5 bezeichnet. Für die wenigen, wirklich gelingenden Momente eines Fußballspiels, in denen sich die einzelnen Aktionen nahtlos ineinander fügen und die Mannschaften ‚in einen Rausch spielen‘, mag dies durchaus zutreffen. In einer etwas nüchterneren Terminologie lässt sich das Fußballspiel zunächst als 4
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Zum Zusammenhang von Affektivität und Konnektivität als Merkmalen populärer Kultur vgl. Urs Stäheli: „Das Populäre als Unterscheidung – Eine theoretische Skizze“, in: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln: DuMont 2005, S. 146-167; Thomas Alkemeyer: „Das Populäre und das Nicht-Populäre. Über den Geist des Sports und die Körperlichkeit der Hochkultur“, in: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt/Main, New York: Campus (im Druck). Horst Bredekamp: „Fußball als letztes Gesamtkunstwerk“, in: Konkret-SportExtra, Hamburg 1982, S. 42-46 hier S. 46. 89
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ein raum-zeitlich gerahmter und damit überschaubarer Verflechtungszusammenhang gegenseitig sich konditionierender, physischer und damit von außen beobachtbarer Aktionen einer festgelegten Anzahl von Akteuren beschreiben, dessen Verlauf unvorhersehbar ist. 6 Im Rahmen eines fixierten Regelwerks, einer überschaubaren Ordnung von Raum und Zeit und einer klaren Wettkampfstruktur erlaubt das Spiel so viele Variationen, dass auf dem Spielfeld immer wieder neue, unerwartete Formgebilde entstehen und sich das Spiel letztlich nie erschöpft. Die Weitläufigkeit des Spielfeldes, die neunzigminütige Dauer und die in der Praxis prinzipiell auslegungsbedürftigen Regeln fordern geradezu dazu auf, nach überraschenden Interpretationen zu suchen.7 Im Spiel der miteinander verflochtenen Aktionen wird Ordnung nicht nur (re-) produziert, sondern auch transzendiert. Routinen und eingeübte Spielmuster sind stets vom überraschenden Einbruch des Kontingenten bedroht. Eben daher rührt die Faszination des Spiels. Aller zunehmend wissenschaftlich fundierten Bemühungen um Trainingsplanung und Wettkampfkontrolle zum Trotz enthält das Fußballgeschehen nach wie vor Elemente eines Festes. Zu einem gelingenden Fest gehört, sich totaler Planung und ‚Durchinszenierung‘ zumindest ein Stück weit zu entziehen und Räume für Überraschungen offen zu lassen. Das Fest ist – frei nach einem Wort Sigmund Freuds – eine gesellschaftlich organisierte Veranstaltung zur „lizensierten Freigabe“ des Ungeplanten.
Die Bauten Jedes Fest, jedes Spiel benötigt einen Rahmen, der es aus dem alltäglichen Fluss der Ereignisse heraushebt. Dauerhafte Rahmenelemente sind vor allem Bauwerke. Die Entstehungsgeschichte des gesamten modernen Sports seit dem 18. Jahrhundert ist mit der Entstehungsgeschichte seiner Bauten unmittelbar verwoben. Sie lässt sich insofern räumlich beschreiben, als sich allmählich ein relativ autonomer sozialer Raum des Sports innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtraumes herausgebildet und gegenüber seiner innergesellschaftlichen Umwelt durch eigene operative Kommunikationsformen abgeschlossen hat. 8 Während die volkstümlichen Vorformen des Sports noch in 6
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Elias bezeichnet solche dynamischen Verflechtungszusammenhänge als Figurationen. Vgl. z.B. Norbert Elias: „Figuration“, in: Bernhard Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen: Leske+Budrich 1995, S. 75-78; Ders.: Was ist Soziologie?, 8. Auflage, München: Juventa 1996. Vgl. auch Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, Frankfurt/Main: Campus 2006, S. 145ff. Zur Ausdifferenzierung modernen Sports vgl. Uwe Schimank: „Die Autonomie des Sports in der modernen Gesellschaft: Eine differenzierungstheoretische Problemskizze“, in: Joachim Winkler/Kurt Weis (Hg.), Soziologie des Sports, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 59-71; Pierre Bourdieu: „Historische
FUSSBALL ALS FIGURATIONSGESCHEHEN
die Alltagsräume integriert blieben, hat der institutionalisierte Wettkampfsport seine eigenen, aus Alltagskontexten herausgelösten Sonderräume ausgebildet. Neben dieser Ausdifferenzierung eines eigenen Sportraumes lassen sich innerhalb dieses Raumes weitere Verräumlichungsprozesse beobachten: Jede Sportart erhielt ihre eigenen Funktionsräume; nach und nach wurden die Orte der sportlichen Aktionen von denen der Zuschauern getrennt. Wie Norbert Elias und Eric Dunning am Beispiel der Geschichte des Fußballs deutlich gemacht haben, handelt es sich bei diesen räumlichen Differenzierungsprozessen um Entwicklungen der Einschließung, Verregelung, Institutionalisierung und Kodifizierung des Sports und seiner allmählich entstehenden Sportarten. 9 In Deutschland beispielsweise fand das erste Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft im Jahre 1900 noch auf einem militärischen Exerzierplatz in Altona bei Hamburg vor circa 1200 Zuschauern statt. Es gab damals noch keine für den Fußballsport reservierten Plätze. Gespielt wurde auf Anlagen von Turnvereinen, Militärgeländen oder schlicht auf umzäunten, brachliegenden Wiesen. Stadien für bis zu 100.000 Menschen wurden erst in den 1920er Jahren errichtet. 10 Stadionarchitekturen sind mehr als nur Sportfunktionsbauten, sondern auch Orte einer „Regie und Selbsterfahrung der Massen“. 11 Sie führen Menschen, die außerhalb dieses Raumes unabhängig voneinander ihr eigenes Leben führen, zu einem großen kollektiven Körper zusammen. Im Stadion wenden sie gemeinsam der Außenwelt den Rücken zu. Sie konzentrieren ihre Blicke, ihre Aufmerksamkeit und ihre Anspannung nach innen und erzeugen so einen „konjunktiven Erfahrungsraum“. 12 Um den Austausch der Blicke und der Emotionen zwischen den Zuschauern, aber auch zwischen ihnen und dem
und soziale Voraussetzungen modernen Sports“, in: Ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 165-186; Klaus Cachay/Ansgar Thiel: Soziologie des Sports. Zur Ausdifferenzierung und Entwicklungsdynamik des Sports der modernen Gesellschaft, Weinheim/München: Juventa 2000; Christiane Eisenberg: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939, Paderborn: Schöningh 1999. Zur Differenzierung von Sporträumen vgl. auch Gunter Gebauer u.a.: Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2004, S. 27ff. 9 Vgl. Norbert Elias: „Der Fußballsport im Prozess der Zivilisation“, in: Rolf Lindner (Hg.), Der Satz „Der Ball ist rund“ hat eine gewisse philosophische Tiefe, Berlin: Transit 1983, S. 12-21; Norbert Elias/Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. 10 Vgl. Michael Prosser: „‚Fußballverzückung‘ beim Stadionbesuch. Zum rituellfestiven Charakter von Fußballveranstaltungen in Deutschland“, in: Markwart Herzog/Ulrich von Berg (Hg.), Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kult – Kommerz, Stuttgart: Kohlhammer 2002, S. 269-292; hier S. 272ff. 11 Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Neuzeit. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen: Anabas 1976. 12 Karl Mannheim: Strukturen des Denkens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980. 91
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räumlich separierten Spielgeschehen zu intensivieren und die Gesamtatmosphäre sinnlich zu verdichten, haben Stadionarchitekten seit den 1920er Jahren zahlreiche neue technische Möglichkeiten realisiert. In Deutschland sind vor allem in den vergangenen beiden Jahrzehnten neue Fußballstadien konstruiert worden, die sich durch eine vollständige Umbauung mit rundum laufender Überdachung nahezu hermetisch von der Außenwelt abschotten. Kein Blick kann mehr nach draußen dringen; der Schall des Torjubels geht nicht ins Leere, sondern hallt mit großer Wucht im Innern wieder. „Hysterienschüsseln“, nennt der Architekt Volkwin Markt diese Stadien, in denen die Jubelund Anfeuerungsrufe der Zuschauer in besonderen Situationen zum „berauschenden Orkan“ anschwellen und zu einem „emotionalen Ausnahmezustand“ führen. 13 Auch in optischer Hinsicht hat sich der soziale Austausch im Stadion erheblich gewandelt. Ein wichtiger Markstein war die Einführung des Flutlichts. Unter der Überschrift „Rauschgift nach dem Abendessen“ hieß es in einem Zeitungsartikel vom 25.5.1957 (erschienen in Die Rheinpfalz): Der „Zauber des Flutlichts“ zieht „die Zuschauer in seinen Bann, auf die Spieler wirkt er vielfach wie ein Rauschgift. Aus schwitzenden Ballarbeitern werden im Strahl der Kilowatts wahre Rastellis, die das helle Leder aus der Luft zaubern und verschwinden lassen können. Das Licht verschluckt alle Eckigkeiten und gibt dem Spiel optische Eleganz“. 14 Bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dienten kunstvolle Illuminationen in Varieté, Revuetheater und Revuefilm dazu, die Körper der Artisten und Tänzerinnen auf der Bühne zu ebenso schönen wie künstlichen Gebilden zu transformieren. Nun drang die Lichtregie der Theater- und Filmpaläste auch in die Welt des Fußballs ein und bescherte dem neuen Leit-Medium Fernsehen attraktive Bilder.
Das Spiel Im ringförmig geschlossenen Stadionraum lassen sich drei Akteursgruppen unterscheiden, die alle auf ihre Weise an der kollektiven Produktion des Ereignisses beteiligt sind: die ‚normalen‘ Zuschauer auf den Tribünen, die Fans in den Kurven und die zu Mannschaften formierten Spieler auf dem Rasen. Der Gesamtanlass ‚Fußballspiel‘ bezieht seine Attraktivität maßgeblich aus den Interferenzen zwischen diesen Gruppen. 13 Vgl. M. Prosser: ‚Fußballverzückung‘ beim Stadionbesuch, S. 275, und Markwart Herzog: „Von der ‚Fußlümmelei‘ zur ‚Kunst am Ball‘. Über die kulturgeschichtliche Karriere des Fußballsports“, in: Ders. (Hg.): Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kult – Kommerz, Stuttgart: Kohlhammer 2002, S. 11-43, hier S. 36. 14 Zit. nach M. Herzog: Von der ‚Fußlümmelei‘ zur ‚Kunst am Ball‘, S. 36, Fn. 101. 92
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Kern und Brennpunkt des Ereignisses ist das Geschehen auf dem Spielfeld, das im Folgenden in zwei nur analytisch voneinander zu trennenden, empirisch jedoch zusammengehörigen Dimensionen beleuchtet werden soll: zum einen bezüglich der Verhaltenskoordination der Spieler, zum anderen hinsichtlich der Interaktionen zwischen den Spielern und dem Ball. In beiden Dimensionen sind spezifische Leistungen praktischer Abstimmung diesseits bewusster Planung erforderlich. Ständig müssen die Spieler ihre Beziehungen in Raum und Zeit verändern. 15 Bei hochklassigen, eingespielten Mannschaften kann der kompetente Beobachter aus der Vogelperspektive des Stadionranges die auf dem Spielfeld miteinander konkurrierenden strategischen Konzepte und Spielsysteme nachvollziehen: In unterschiedlichen Spielsystemen übernehmen die Spieler Spezialaufgaben und folgen ihrem je eigenen Rhythmus. Dennoch verbinden sich individuelle Aktion und Mannschaftsinteresse in glückenden Momenten so, als würden die Einzelaktionen durch eine stumme Musik koordiniert werden. In praktischer Synthese taucht eine Gesamtbewegung auf, in der sie sich wie von unsichtbarer Hand geführt zusammen fügen.16 Harun Farockis Videoinstallation „Deep Play“ auf der Kasseler Documenta von 2007 hat die in den Evidenzen des Spielverlaufs verborgene Struktur der unterschiedlichen Spielsysteme an die Oberfläche geholt, indem Farocki das WM-Endspiel von 2006 zwischen Italien und Frankreich auf zwölf Monitoren analytisch so aufbereitete, dass – von Trikotfarben, Werbebanden und Reporterkommentaren bereinigt – nur noch sich über den Bildschirm bewegende Punkte, Vektoren und Diagramme übrig blieben. Erst in dieser abstrakten Darstellung werden die geheime Choreographie und die Prinzipien der Ballzirkulation auch für ungeübte Betrachter sichtbar. So wird z.B. die italienische Viererkette als „ein Mobile (erkennbar, T.A.), das sich permanent verschiebt und auf diese Weise Räume schließt und öffnet“. 17 Die Video-Analyse lässt transparent werden, wie sich die Einzelaktionen zu Mustern verzahnen, nach welchen Mustern sich ein Spiel entwickelt, wann diese Muster ausfransen, wie aus der Unterbindung der gegnerischen Ballstaffetten das eigene Spiel entwickelt wird und wie Abwehr- und Angriffsverhalten ineinander greifen. Eine solche situativ emergierende Choreographie ohne planenden Choreographen ist auf ‚blindes Verständnis‘ und scheinbar intuitives Feingefühl 15 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Thomas Alkemeyer: „Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel“, in: Robert Gugutzer (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript 2006, S. 265-296. 16 Vgl. auch Gunter Gebauer: „Sport – die dargestellte Gesellschaft“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7 (1998) H. 1, S. 223-240, hier S. 226. 17 Peter Körte: „Wenn der Ball spricht“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.12.2007, S. 31. 93
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angewiesen. Spielfluss entwickelt sich, wenn ein Pass nicht nur angenommen wird, sondern sich sein Adressat bereits vor und während der Annahme so positioniert, dass er eine passende Anschlussaktion vollziehen kann. Gerade im durch enorme Zeit- und Raumknappheit gekennzeichneten Profi-Fußball der Gegenwart, wie ihn Arsenal London oder der FC Barcelona mustergültig zelebrieren, müssen Ballannahme und Ballweitergabe zu einer Bewegung verschmelzen. Im Spiel bleibt nur, wer in einer gegebenen Spielstellung die kommende, in ihr bereits enthaltene, antizipieren kann, wer in der Lage ist, sich motorisch und gedanklich in die Bewegungslinien des Balles auf dem Feld einzuschalten und vorwegzunehmen, wo sich dieser demnächst befinden wird. 18 In gelingenden Aktionen fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. 19 Die Spieler zeigen dann nicht nur das in zahllosen Übungseinheiten und Wettkämpfen antrainierte Vermögen zu einem praktischen Verstehen in actu, das die Bewegungen der Körper im Raum wie instinktiv erfasst und zu ‚Gestalten‘ synthetisiert, sondern auch die Fähigkeit, im Training erworbene Körpertechniken kreativ den permanent sich verändernden Anforderungen des Spiels anzupassen. Im Unterschied zu den Plansequenzen eines Kinofilms, dem Geschehen auf den Bühnen des klassischen Theaters oder den Choreografien des Balletts ist das komplexe Wettkampfgeschehen eines Fußballspiels permanent und prinzipiell von Unsicherheiten und Scheitern bedroht. Unter zumeist großem Zeitdruck werden labile Differenzbeziehungen erzeugt, in denen sich die Aktionen gegenseitig konditionieren und stören: Die wirklich erregenden Sportarten führen in riskanten Bewegungen Grenzsituationen der Körperbeherrschung vor, an denen im Grenzfall zugleich das in den modernen Mythen der Beherrschbarkeit verdrängte „Problem des Umschlags von Beherrschung in Nichtbeherrschung sichtbar wird“. 20 Schon die geringste Konzentrationsstö-
18 In einem Interview hat der französische Stürmer Thierry Henry entsprechend ausgeführt, neben ihren technischen Fähigkeiten müssten die Spieler vor allem ihr Spielverständnis so perfektionieren, dass sie zu keinem Zeitpunkt vom kollektiven Netz der Spielmuster isoliert werden: „Wenn wir auf der rechten Seite angegriffen werden und ich stehe auf der linken, dann werde ich allein sein, isoliert, wenn wir den Ball gewonnen haben. Also verlagere ich mich, sorge dafür, dass ich gut stehe für den Gegenangriff. Wenn der Ball dann kommt, sehe ich das ganze Spiel schon vor mir. Ich sehe die Laufwege, die Passwege, die Ballannahme, den möglichen Abschluß, alles. Im modernen Spiel geht alles so schnell, zu schnell. Also musst du dem Spiel im Kopf voraus sein. Du musst Zeit gewinnen, dann gewinnst Du das Spiel“ („Wenn du den Ball hast, muß der andere die Panik haben“, in FAZ vom 13. Juni 2004). 19 Vgl. auch Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 151ff. 20 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 110. 94
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rung und der kleinste Geschwindigkeitsverlust können einstudierte Spielzüge scheitern lassen. Im Fußball stellt der technische Umgang mit dem Ball – und damit sind wir bei der zweiten Dimension der Abstimmungsproblematik – eine ganz besondere Herausforderung dar. Aus dem Zusammenspiel von Ball und Fuß resultiert ein „Handeln in permanenten Krisensituationen“.21 Ist der Ball aufgrund seiner Form und Beschaffenheit ein Ding, dessen Verhalten nie bis ins letzte berechnet und kontrolliert werden kann, so ist der Fuß in aller Regel ein im Vergleich zur Hand ungebildetes Organ. Anders als die kontrollierten und differenzierten Bewegungen der Hände erscheinen die Bewegungen der Füße formlos, ungestüm und roh. Bereits das Annehmen und Stoppen eines Fußballes ist außerordentlich voraussetzungsreich: Dem Ball muss mit dem Fuß seine Wucht und Geschwindigkeit genommen werden; er darf nur so weit abprallen, dass er nicht aus dem Aktionsradius des Spielers gerät usw. Diese prekäre Beziehung von Ball und Fuß öffnet das Fußballspiel mehr als andere Sportspiele – Handball oder Basketball – zum Improvisatorischen und Zufälligen. 22 Fußballspieler sind deshalb auf besondere Weise gefordert, einen praktischen Sinn nicht nur für die ständig wechselnden Konstellationen des Spiels, sondern auch für die Interaktion mit dem Ball zu entwickeln. Nur wenn sie ein intensives Feingefühl für dieses Ding entwickeln und ihren Fuß – am Besten sogar beide Füße – zu einem ebenso sensiblen wie beweglichen Tast- und Spielorgan ‚erziehen‘, können die Möglichkeiten, die Fuß und Ball unabhängig voneinander besitzen, nicht nur entfaltet, sondern auch überschritten werden. Dem Spieler ist es dann möglich, die Bewegung des Balles in seinen eigenen Bewegungen zu verlängern, also nicht den Ball, sondern mit dem Ball zu spielen: ihn elastisch abzufedern und wie ein Magnet am Fuß kleben zu lassen, ihn jedoch auch kraftvoll zu treten und punktgenau ‚abzufeuern‘, ihn kontrolliert zu schieben oder mit der Fußsohle sanft zu streicheln. 23 Wie der Ball von den Spielern rekrutiert wird, so rekrutiert er seinerseits die Spieler. Er ist Mit- wie Gegenspieler, der „auf jeden Druck oder Stoß mit einem Gegendruck oder Gegenstoß“ antwortet; „in dieser Gegenwirkung“ fordert er „die Aktivität des Spielers“ immer aufs Neue heraus. 24 Wenn ‚alles 21 Bernd Görlich: „Ohne Hand und ohne Worte – wie der Fußball mit der Seele spielt“, in: Hans A. Hartmann/Rolf Haubl (Hg.), Freizeit in der Erlebnisgesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 125-146, hier S. 139; zum Folgenden auch Rainer Paris: „Fußball als Interaktionsgeschehen“, in: Rolf Lindner (Hg.), Der Satz „Der Ball ist rund“ hat eine gewisse philosophische Tiefe, Berlin: Transit 1983, S. 152ff. 22 Vgl. Rainer Paris: „Ein Ball“, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, H. 668, 2004, S. 1020-1025; G. Gebauer: Poetik des Fußballs, S. 17ff. 23 Vgl. auch H. Bredekamp: Fußball als letztes Gesamtkunstwerk, S. 46. 24 Frederik J.J. Buytendijk: Das Fußballspiel. Eine psychologische Studie, Würzburg: Werkbund 1953, S. 18. 95
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stimmt‘, werden in der Verbindung von Ball und Spieler aus der Spielsituation heraus Aktionen kreiert, die jedes ursprüngliche Handlungsprogramm hinter sich lassen. Die überraschende Aktion ist dann die Schöpfung einer temporären Verbindung von Spieler und Objekt, das beide Elemente modifiziert: Sie bleiben im Grunde weder Subjekt noch Objekt, sondern werden zu Propositionen, die sich jählings zu einem neuen ‚hybriden‘ Akteur 25 verbinden, dessen Handlungen das Produkt einer wechselseitigen Assimilation sind. Allerdings verliert der Ball seinen ‚Eigensinn‘ nie völlig: „Der Ball muss als Gegenüber ernstgenommen werden, damit sich im Spiel der gewünschte Effekt wie aus einem Zwiegespräch ergibt.“ 26 So vereinigt das Fußballspiel die Prinzipien des Wettkampfes und der persönlich zurechenbaren Leistung mit den nie vollständig auszuschaltenden, oft sogar spielentscheidenden Momenten des Zufalls, des Glück und des Schicksals. 27 Kunstfertigkeit und Planung verbinden sich mit dem Unplanbaren und Unvollkommenen, die Einzelleistung mit dem Mannschaftsgedanken, Konkurrenz mit Kooperation. Gerade die Omnipräsenz möglichen Misslingens steigert die affektive Wucht und mitreißende, auf die Zuschauer überspringende Energie des Fußballs.
Die Zuschauer Im Publikum leisten die Fans mit ihren Sprechchören und Gesängen, ihren Trikots und Schals, ihren Fahnen, Kollektivbewegungen und Gesten den auffälligsten Beitrag zum Gesamtgeschehen. Einige ihrer vielfältig differenzierten Subkulturen stellen ostentativ eine in der sozialen Realität längst überlebte, männliche Unterschichtsgestik zur Schau.28 Mit kollektiven Drohgebärden und lauten Gesänge meist vulgären Inhalts, in denen mitunter recht kreativ mit Materialien aus der populären, aber auch aus der Hochkultur gespielt wird, 29 demonstrativem Alkoholgenuss, symbolischer und physischer Gewalt soll das bürgerliche Publikum provoziert werden. Zwar erkennt die Soziologie in der Gewalt zumeist nur ein destruktives Potential, in den Subkulturen von Fußball-Fans ist sie jedoch in doppelter Hinsicht funktional: Indem ihre pro-
25 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 213ff. 26 H. Bredekamp: Fußball als letztes Gesamtkunstwerk, S. 46. 27 Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1982, S. 22 und S. 25. 28 Gunter Gebauer: Sport – Eros – Tod, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 265f. 29 Vgl. Reinhard Kopiez/Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. 96
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vokativen Inszenierungen zur Abgrenzung von der legitimen Kultur beitragen, befördern sie nach innen zugleich das Entstehen eines Wir-Gefühls. 30 Der Lärm und die optischen Präsentationsformen der Fans mögen eine symbolische Weise des Protests gegen die Tribünenbesucher sein, vor allem aber sind sie ‚Feste für die Augen‘, deren Gesamtbild allein aus der Entfernung oder von Fernsehkameras einzufangen ist. Gerade eine neue, im Multimedia-Zeitalter aufgewachsene Generation von Fußballfans, die so genannten Ultras, beherrscht ein die Atmosphäre sinnlich verdichtendes Aufmerksamkeitsmanagement durch ausgeklügelte Choreographien, Tanzeinlagen, Schwenkfahnen, Transparente und die Verwendung von Megaphonen und Lautsprecheranlagen mustergültig. Diese Fans begreifen das Stadion „als Bühne, auf der zugleich zwei Stücke aufgeführt werden: Das Fußballspiel der Mannschaften auf dem Spielfeld und ihre Supporter-Show in den Fankurven“. 31 Adressaten ihrer Show sind konkurrierende Fangruppen ebenso wie das Tribünenpublikum und die Fernsehzuschauer ‚draußen‘ an den Bildschirmen. Die im Stadion zu einer ringförmig geschlossenen Masse zusammengefügten Zuschauergruppen werden sich selber zur Schau.32 Während im bürgerlichen Theater Schau und Spiel miteinander konfrontiert werden, verschränken sich die Gruppen im Stadionoval in einem totalen Austausch der Blicke und der Emotionen: Sich gegenübersitzend, staunt das Publikum stets auch über sich selbst; das Gemeinschaftserleben wird reflexiv. 33
30 Vergleichbare Mechanismen der Vergemeinschaftung qua inszenierter Gewalt lassen sich auch in der Hardcore-Szene beobachten (vgl. dazu Katharina Inhetveen: „Gesellige Gewalt. Ritual, Spiel und Vergemeinschaftung bei Hardcorekonzerten“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1997), S. 235-262, hier S. 253). Zur Rolle physischer Gewalt für die Konstitution von Fußballfankulturen vgl. auch Eric Dunning/Patrick Murphy/John Williams: „Zuschauerausschreitungen bei Fußballspielen – Versuch einer soziologischen Erklärung“, in: Norbert Elias/Eric Dunning, Sport und Spannung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 433-472. 31 Jürgen Schwier: „Die Welt der Ultras. Eine neue Generation von Fußballfans“, in: Sport und Gesellschaft – Sport and Society 2 (2005) H. 1, S. 21-38, hier S. 29. 32 Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/Main: Fischer 1980, S. 25f. 33 Uwe Schimank/Karl-Heinrich Bette: „Zuschauerinteressen am Spitzensport – Teilsystemische Modernisierung des gesamtgesellschaftlich Verdrängten“, in: Jochen Hinsching/Frederik Borkenhagen (Hg.), Modernisierung und Sport, Sankt Augustin: Academia 1995, S. 181-192, hier S. 186f. 97
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Kinästhetische Sympathie 34 Alle Gruppen haben jedoch gemeinsam Teil an einem kommunikativen Haushalt, dessen Motor das Spiel ist. Große Spiele sind ähnlich mitreißend wie Musik bei einem geglückten Konzert. Sie setzen eine Interaktionsspirale in Gang, in die alle beteiligten Gruppen hineingezogen werden wie in einen musikalischen Rhythmus. Es lässt sich recht genau verfolgen, wie sich die Muster des Spielverlaufs und die Muster des Gefühlsablaufs im Publikum entsprechen, wie sich auf beiden Seiten Phasen der Anspannung und Erregung mit solchen der Entspannung und des Ermattens ablösen. 35 In einer derartigen szenischen Konstellation scheinen Subjekt- und Objektpol in der Aktion zur Deckung gebracht. 36 Alle Akteursgruppen haben dann an etwas Gemeinsamem teil. Die Teilhabe daran erfolgt weniger über den Verstand als – im Modus des Ästhetischen – über die Sinne. In den Akteuren ist das Ästhetische, wie Pierre Bourdieu gezeigt hat, als Geschmack verankert. Geschmackspräferenzen unterscheiden sich von Milieu zu Milieu und bei Männern und Frauen recht deutlich. Einen bestimmten Geschmack zu haben, bedeutet, zu einer Gesellschaft oder Gruppe zu gehören. Von einem Fußballspiel mitgerissen zu werden setzt mithin voraus, dass das sichtbare Geschehen im subjektiven, zugleich jedoch auch über das Subjekt auf überpersönliche Dispositionen hinweisenden Geschmack einen Resonanzboden findet. Wirklich ‚mitgehen‘ kann nur, wer eine Empfänglichkeit für das Spiel auf dem Rasen entwickelt hat – eine Fähigkeit zum Antwortenkönnen, die unterhalb der Schwelle von Bewusstsein und Sprache in den motorischen und affektiven Tiefenschichten der Person verankert ist: Die Identifikation mit dem Spiel hat ihre Grundlage im sozialen Geschmack, der – so Bourdieu – als „praktische(r) Operator“ einer selektiven Umwandlung der sichtbaren „physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen“ wirkt. 37 Inneres Mitgehen und Identifikation entstehen, wenn das physische Geschehen auf dem Rasen von den Zuschauern im Modus „kinästhetischer Sympathie“ mit vollzogen werden kann. Mit diesem Begriff bezeichnet der Ethnologe Clifford Geertz das von ihm bei Balinesischen Hahnenkämpfen beobachtete Phänomen, dass die Köpfe der männlichen Zuschauer den Bewegungen ‚ihrer‘ Hähne folgen, weil sich die
34 Zum Folgenden vgl. ausführlicher T. Alkemeyer: Rhythmen, Resonanzen und Missklänge, S. 277ff. 35 Vgl. N. Elias: Der Fußballsport im Prozeß der Zivilisation, S. 21. 36 Vgl. B. Görlich: Ohne Hand und ohne Worte – wie der Fußball mit der Seele spielt, S. 142. 37 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 6. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 284. 98
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Männer tief greifend mit ihren Stellvertretern im Ring identifizieren.38 Ein vergleichbares Verhalten kann man bei Kinobesuchern beobachten, die sich bei einer Autoverfolgungsjagd auf der Leinwand mit in die Kurve legen. Im Fußballstadion greifen die Bewegungen, Gesänge und Rufe der Zuschauer den Rhythmus und das Tempo des Spiels auf und wirken eventuell ihrerseits als Resonanzverstärker auf die Mannschaften zurück.39 Die Zuschauer versuchen beispielsweise, einen Spieler durch Zurufe, Bewegungen und Gesten zum von ihnen als ideal vorgestellten Spielzug zu bewegen: Sie machen die Aktionen der Spieler nicht nur nach, sondern ahmen die von ihnen erhoffte Aktion auch vor oder vollziehen sie zumindest mit – und sind dabei selbst ständig in Bewegung: Beine zucken, als würden sie selbst den Schuss ausführen wollen, Körper schnellen zum Kopfball hoch und lassen sich dann – viel zu oft – enttäuscht und erschöpft auf den Tribünensitz zurückfallen, Gesichter verziehen sich zu erbarmungswürdigen Grimassen der Verzweiflung. 40 Die Teilhabe am Spiel ist mithin ein wesentlich somatischer Vorgang. Vergleichbare Phänomene des Gepackt- und In-eine-Szene-HineingezogenWerdens sind aus phänomenologischer Perspektive sowohl am Beispiel des Mitvollziehens der Bewegungen anderer Personen im Alltag als auch bezüglich des Wahrnehmens von Musik thematisiert worden.41 Allerdings bleibt in phänomenologischer Sicht unberücksichtigt, dass uns Bewegungen und Töne nicht unmittelbar berühren und die Fähigkeit zum Berührt-Werden nicht allein auf eine natürliche Veranlagung 42 zurückzuführen ist. Vielmehr ist jede 38 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 209ff. 39 Vgl. Wolfgang Berger: „Team und Fans – auf einer Wellenlänge zum Erfolg“, in FAZ vom 4.7.2006. 40 Karl-Michael Brunner: „Körperspiel. Zum Phänomen der Fußballbegeisterung“, in Jeff Bernard (Hg.), Semiotica Austriaca, Wien: Österreichische Gesellschaft für Semiotik 1987, S. 452ff. 41 „Denn wir hören einen Rhythmus nicht nur besser, als wir ihn zu sehen vermögen, die rhythmische Tonfolge drängt uns […] zu Bewegungen“ (Erwin Straus: „Die Formen des Räumlichen. Ihre Bedeutung für die Motorik und die Wahrnehmung“, in: Der Nervenarzt 11 (1930), S. 633-656, hier S. 639, zit. nach Wilfried Ennenbach: Bild und Mitbewegung, Köln: bps 1989, S. 214). „Während der Anblick einer Truppe, die ohne Musikbegleitung auf der Filmleinwand vorübermarschiert, bei uns keine Mitbewegungen hervorruft, werden wir von der Marschmusik sofort gepackt und motorisch induziert“ (E. Straus, „Die Formen des Räumlichen“, S. 645, zit. nach ebd.). 42 „Motorisch und visuell besonders veranlagte Naturen werden durch gutes rhythmisches Vorturnen so stark in ein innerlich erlebendes Mitbewegen hineingezogen, dass sie bereits den Bewegungsablauf der gesehenen Übung in seinen Impulsen und Phasen unmittelbar erfassen, ohne schon selbst die Übung am Gerät versucht zu haben.“ (Otto Hanebuth: Grundschulung zur sportlichen Leistung. Frankfurt/Main: 1964, S. 99; zit. nach W. Ennenbach: Bild und Mitbewegung, S. 218). 99
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‚Berührung‘ auch gesellschaftlich vermittelt: einerseits sind in der wahrgenommenen physischen Realität Geschichte, Kultur und Gesellschaft ‚objektiviert‘, andererseits vermag der Wahrnehmende diese Objektivationen nur aufgrund seiner in Sozialisations- und Lernprozessen erworbenen, d.h. ebenfalls gesellschaftlich geprägten Empfindungs- und Wahrnehmungsmuster zu differenzieren und damit zu erkennen. ‚Ansteckung‘ und ‚motorische Induktion‘ setzen eine Relationierung der objektivierten und der subjektiv verkörperten Geschichte voraus. 43 Der ‚schweigsame Logos‘ der beobachtbaren Praktiken kann mithin nur von einem Subjekt erfasst und verstanden werden, in dessen Habitus diese Praktiken einen Resonanzboden finden. Man kann diesen Vorgang als „Resonanzphänomen“ 44 begreifen, als ein praktisches Wiedererkennen der eigenen körperlich-mentalen Dispositionen im Spielgeschehen. Es geht nur ‚ins Blut‘, wenn eine Empfänglichkeit vorhanden ist, d.h. wenn das Spiel Erinnerungen, Gefühle und Gedanken wachzurufen vermag, die im eigenen, trainierbaren Körpergedächtnis aufbewahrt werden. 45 Aktive und Zuschauer haben dann gemeinsam an einer körperlich-sinnlichen Sozialität Teil. Die Simultanität und Gleichgerichtetheit der Bewegungen und der mit ihnen verknüpften Gedanken und Gefühle schafft eine vorübergehende Vereinheitlichung der individuellen Perspektiven: eine soziale Einheit in Raum und Zeit.
Spielstile Jede Fußballmannschaft spricht, wenn man so will, ihre eigene ‚Sprache‘ – und diese ‚Sprachen‘ wandeln sich im Wechselspiel mit Trainingskonzepten
43 In der ökologischen Wahrnehmungspsychologie werden solche Relationierungen als „Affordanzen“ bezeichnet (vgl. James Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston: Houghton Mifflin 1979). 44 Der Begriff der „Resonanz“ ist u. E. für die Bezeichnung solcher Phänomene geeigneter als der dafür ebenfalls benutzte Begriff der „Ansteckung“ (vgl. Mirjam Schaub/Nicola Suthor (Hg.): Ansteckung: zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München: Fink 2005), insofern er die ‚Zweibahnigkeit‘ des Prozesses akzentuiert. „Ansteckung“ hingegen suggeriert das einseitige Einwirken eines aktiven Parts auf einen passiven. Arnold Gehlen verwendet den Resonanzbegriff wie folgt: „So faszinieren ihn (den Menschen, T.A.) die analogen Vorgänge der Außenwelt kraft einer ‚Resonanz‘, die sozusagen eine Art des inneren Sinnes für das Eigenkonstitutionelle im Menschen darstellt, der auf das anspricht, was dieser Eigenkonstitution in der Außenwelt ähnelt.“ (Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1963, S. 16f.). Allerdings vernachlässigt auch Gehlen die Historizität und Gesellschaftlichkeit des „Eigenkonstitutionellen“ des Menschen wie der äußeren Strukturen. 45 Zum Körper als „Speicher für bereitgehaltene Gedanken“ vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 127f. 100
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und gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontextbedingungen wie insbesondere jenen Globalisierungsprozessen, in deren Verlauf weltweit nicht nur Spieler und Trainer, sondern auch Körpertechniken und taktische Konzepte zirkulieren.46 Der ‚katalanische Kreisel‘ des FC Barcelona oder der ‚OneTouch-Football‘ von Arsenal London sind nicht nur sportliche Erfolgskonzepte, sondern auch ästhetische Phänomene: 47 ein über rein motorische, technische und taktische Erfordernisse hinausreichender Stil, der dazu führt, dass Erfahrung und Können auf je besondere Weise in die flüchtige Gegenwartkörperlicher Figurationen umgesetzt werden. Jeder Stil begeistert ein anderes Publikum oder berührt ein und dasselbe Publikum auf unterschiedliche Weise. Es gibt einerseits Anzeichen dafür, dass nationale und regionale Besonderheiten im Zuge des Entstehens transnationaler Sporträume 48 an Bedeutung verlieren. Vereine wie Bayer Leverkusen, die früher einen eher langweiligen, technokratischen Angestelltenfußball darboten, haben beispielsweise durch die Integration südamerikanischer Spieler eine Spielkultur erreicht, die auch in Italien, Spanien oder England anerkannt wird. Andererseits sind der Homogenisierung der Stile Grenzen gesetzt. Exzellente Trainer, die in der Lage sind, den international zusammengestellten Topmannschaften einen eigenen Stil aufzuprägen, sind selten und teuer. Nach wie vor scheinen die Veränderungen des Spielstils durch Spielerkäufe und Trainerverpflichtungen überdies dadurch eingeschränkt zu werden, dass die Vereinsmanager auf gewachsene Traditionen Rücksicht nehmen müssen, um die Identifikation der Fans mit ihren Vereinen nicht aufs Spiel zu setzen. Denn die Zuschauer identifizieren sich nicht nur mit dem Namen ihres Vereins, sondern auch mit seiner Spielweise. Während einige Mannschaften aufgrund ihrer traditionellen klassenkulturellen Verankerung den körperlichen Einsatz betonen und auf entsprechende Spielertypen angewiesen sind, legen andere mehr Wert auf technisches und taktisches Geschick. Die Zukunft wird zeigen, ob die Unterschiede verblassen oder sich neue Unterschiede herausbilden.
Inklusion und Exklusion Zwar wird dem Fußball gern die Fähigkeit zugesprochen, alle sprachlichen, kulturellen und sozialen Grenzen zu überwinden, unterschiedliche Verständnisse und Stile des Spielen führen jedoch auch immer wieder zu unterschied46 Vgl. Bernd Bröskamp: „Global Player. Sport im Zeitalter der Globalisierung“, in: Blätter des Informationszentrums 3. Welt, Heft Mai/Juni (1998), S. 21-24. 47 Vgl. P. Körte: Wenn der Ball spricht. 48 Zum Konzept des transnationalen Raumes vgl. Ludger Pries: „Transnationale soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexiko – USA“, in: Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 456-472. 101
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lichen Interpretationen, Missverständnissen, mitunter auch zu handfesten Konflikten – und zwar insbesondere auf lokaler Ebene. 49 Aus den ‚Fußballgemeinden‘ im Stadion, beim Public Viewing oder vor den Fernsehbildschirmen in den Wohnzimmern bleiben insgesamt diejenigen ausgeschlossen, in denen das Spiel – aus welchen Gründen auch immer – nicht auf einen Resonanzboden trifft. Die Teilhabe am Spiel ist Teilhabe an einer Lebensform. Nur wer mit dieser Lebensform vertraut ist oder sich darin mit seinen Vorlieben, Neigungen und Wertvorstellungen wiederentdeckt, kann voll und ganz in das Spiel eintreten. Der Inklusion korrespondiert die Exklusion, der Resonanz die Dissonanz: Die Interkorporalität des Spiels hat ihre sozialen Grenzen.50 Global Player der Verständigung ist das Fußballspiel nur für diejenigen, deren sozialisierte Körper von seinen Tempi, Rhythmen und Figurationen berührt und zum Mitschwingen angeregt werden. 51 Aller Veränderungen zum Trotz sind dies nach wie vor überwiegend Männer. Zwar wurde Fußball in den verschiedenen europäischen Nationen in der Phase seiner Entstehung und Ausbreitung von den Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen gespielt, in jedem Fall aber war seine Kultur von den Normen und einer Mythologie der Männlichkeit geprägt, deren Dimensionen wir hier nur andeuten können.52 Es fällt zunächst auf, dass dem Spiel die komplementären Leitideen des Eindringens in ein fremdes Territorium und der Verteidigung des eigenen Territoriums zugrunde liegen: Es gilt, den eigenen Torraum vor dem Eindringen des Balles zu verteidigen und ihn im Gegenzug im gegnerischen Torraum unterzubringen: 53 Das Spiel dramatisiert die Auseinandersetzung um das Angreifen und das Verteidigen eines Raumes, der – wie Haus und Heim – gehütet werden muss. Die Aktionen auf dem Rasen finden dabei ihre Verdoppelung in den Handlungen der Fans auf den Stehplätzen oder auf den Straßen und Plätzen im Umkreis des Spiels: Stets geht es darum, einen Raum zu besetzen, in das gegnerische Territorium einzudringen, 49 Vgl. Bernd Bröskamp: Körperliche Fremdheit. Zum Problem der interkulturellen Begegnung im Sport, St. Augustin: Academia 1994. 50 Zu den kulturellen und sozialen Grenzen körperlicher Vergemeinschaftung vgl. auch Michael Meuser: „Körper und Sozialität. Zur handlungstheoretischen Fundierung einer Soziologie des Körpers“, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper, Konstanz: UVK 2002, S. 19-44, hier S. 42. 51 Dies schließt nicht aus, dass es auch innerhalb der ‚Fußballgemeinschaft‘ zu unterschiedlichen Interpretationen des Spiels und seiner Regeln kommt. 52 Vgl. auch Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.): Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt, New York: Campus 2006. Siehe auch Beate Krais: „Male Passions: Soccer as Performance of Masculinity“, in: Organizing Comittee of the Symposium of Sendai College (Hg.), Proceedings of the International Symposium on Soccer and Society, May 24th and 25th 2002, Sendai 2003, S. 74. 53 Vgl. G. Gebauer: Poetik des Fußballs, S. 94ff. 102
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es zumindest symbolisch zu schänden, mit den Füßen zu betreten, zu beschmutzen, zu bespucken oder gar darauf zu urinieren. Zwar wird oft behauptet, im Fußballspiel sähen insbesondere Männer aus den sozialen Unterschichten den adäquaten Ausdruck ihrer Männlichkeitsnormen, 54 aufgrund seiner spezifischen Legierung von individueller Leistung und kollektiver Aktion, von körperlicher Gewalt und zivilisierender Form, von Kraft und technischer Kunstfertigkeit, eignet er sich jedoch durchaus als Projektionsfläche für die Selbstbilder von Männern aus verschiedenen sozialen Milieus. Ihnen allen ermöglicht er nicht zuletzt den temporären Ausbruch aus der Kontrolliertheit des Alltags. Was man im Fußballstadion selbst, deutlicher aber noch in den Großaufnahmen der Fernsehbilder sehen kann, das sind Männer, die in aller Öffentlichkeit ihre Freude ebenso zelebrieren wie ihre Trauer und ihr Leid Männer, die sich in den Armen liegen, herumhüpfen wie kleine Jungs und mitunter sogar Tränen vergießen. Gerade in einer so stark von der Norm der Heterosexualität geprägten Kultur wie der des Fußballs bedürfen solche Gefühlsäußerungen und körperlichen Annäherungen unter Gleichgeschlechtlichen einer besonderen Legitimation, die durch den Rahmen und die ritualisierten Gesten des Spiels garantiert wird.
3. Fußballspiel und Medienspiel Die Berichterstattung der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, dehnt das Geschehen über die Stadiongrenzen hinaus aus. Anlässlich großer Spiele formieren sich vor den Bildschirmen grenzüberschreitende virtuelle Gemeinschaften. Zusätzlich liefern die Fernsehbilder einen Erzählstoff, der sich bestens für Tratsch und Klatsch (unter Männern) eignet. Das Fußballgeschehen verzweigt sich in zahllose Kneipengespräche, erhitzte Familiendiskussionen und Pausengespräche am Arbeitsplatz. Massenmedial inszenierter Fußball ist eine Form der Unterhaltung, die als ein „Spiel anderer Art“ 55 wahrgenommen werden kann. Dieses Spiel konstituiert eine eigene, sich von der ‚realen Realität‘ unterscheidende ‚fiktionale Realität‘. Inwieweit sich der Zuschauer in diese Realität hineinbegibt und was er von ihr versteht, hängt von seiner Aufnahmebereitschaft, seinem Hintergrundwissen und seinen Dispositionen ab. Zur Erhöhung seiner Affektivität und Anschlussfähigkeit wird der Sport im Fernsehen spektakulär inszeniert und in narrative Kontexte eingebettet, die das Geschehen als eine gerichtete Abfolge von Handlungen oder Entscheidungen verantwortlicher Handlungsträger erscheinen lassen und durch Verweise auf die ‚reale Realität‘ beglaubigen. Dem Zuschauer wird so ein an bekannte Deutungsmuster, Handlungs54 So R. Paris: Fußball als Interaktionsgeschehen, S. 154. 55 N. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 98. 103
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und Subjektmodelle anschließender und dadurch orientierender Definitionsund Deutungsrahmen angeboten. Dieser Rahmen suggeriert Realitätsnähe und macht den ergebnisoffenen Ablauf der oft rasch aneinander geschnittenen Einzelbilder mitvollziehbar. Die Spannung produzierende Offenheit des Ausgangs ist ein allgemeines Prinzip der Fernsehunterhaltung. Insofern findet diese im Sport einen idealen Partner. Dessen Spannung kann durch dramatisierende Schnitte, Kameraeinstellungen und Kommentare noch zusätzlich gesteigert werden, bis die Ungewissheit schließlich am Ende – wie bei einem Kriminalfilm – aufgelöst wird. Jede Fiktion muss an Bekanntes ankoppeln, um verstanden und mit- bzw. nachvollzogen werden zu können. Fernsehunterhaltung nimmt Bezug auf das überwiegend implizite Alltagswissen der Zuschauer. Zwar ist mitunter argumentiert worden, die umfassende Spektakularisierung des Sports durch das Fernsehen seit den 1970er Jahren habe eine eigene „Hyperrealität“ des ShowSports 56 entstehen lassen, die jeden Bezug zur Alltagswirklichkeit verloren habe und demzufolge auch nicht mehr in der Lage sei, das Publikum wirklich zu berühren. Jedoch spricht auch Einiges dafür, dass die Wirklichkeitseffekte des Sportgeschehens durch medientechnisch erzeugte Bilder noch gesteigert werden können. Im Grunde erscheinen die Sportler erst in den Intimperspektiven der modernen Personality-Kameras wirklich als – mit einem Ausdruck Georg Simmels 57 – „lebenswarme Gestalt(en)“, in die sich die sportvertrauten Zuschauer vor ihren Bildschirmen ‚einfühlen‘ können. Die Kameraobjektive zoomen dicht an packende Spielszenen heran und tasten die Körperoberflächen und Gesichter der Athleten nachgerade ab. So wird im Grunde erst am Fernsehschirm detailliert und gestochen scharf sichtbar, was von den Stadionrängen aus unsichtbar bleibt: Muskel- und Mienenspiel, Schweiß, Tränen, mitunter sogar Blut. Produziert werden Bilder mit einer immensen „affektiven Energie“ und einer großen „Intensität des Realen“. 58 Gerade bei Darstellungen extremer Körperleistungen ist die direkte Einbeziehung des Zuschauerkörpers möglich, ja wahrscheinlich. Leitthema des Fernsehsports ist die prinzipiell beschränkte Kontrollierbarkeit dieser Leistungen. Spannung, Faszination und Mitfiebern resultieren stets auch aus dem Vergleich: Die eigenen Möglichkeiten der Körperkontrolle sind das implizite Zuschauerwissen, von dem sich das Dargestellte klar abhebt; wir staunen über die Spieler, weil ihre Darbietungen unsere Möglichkeiten weit übersteigen. 56 Gunter Gebauer: „Olympia als Utopie“, in: Ders. (Hg.): Olympische Spiele die andere Utopie der Moderne. Olympia zwischen Kult und Droge, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 9-23. 57 Georg Simmel: „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: Ders., Das individuelle Gesetz: philosophische Exkurse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 75-95. 58 Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 262f. 104
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Im Fernsehen können diese Darbietungen noch drastischer, schneller und spektakulärer inszeniert werden als sie in der ‚realen Realität‘ ohnehin schon sind. Die fiktiven Realitäten des Sports bleiben nicht ohne Einfluss auf seine reale Realität. Sie führen zu Regeländerungen, die das Spiel schneller machen und damit den Seh-Wünschen eines fernsehsozialisierten Publikums anpassen, 59 ebenso wie zur Entwicklung immer neuer Gesten und exakt durchgeplanter Choreografien auf Spielfeld und Rängen.60 Zum einen kommen durch den Einfluss der visuellen Massenmedien stärker als zuvor inszenatorische Momente ins Spiel; 61 zum anderen führt die Medialisierung des Sports zu neuen Formen der Vergemeinschaftung beim Public Viewing auf Straßen, Plätzen und in Kneipen.
4. Fazit Offenbar rücken die Menschen gerade in den urbanen Zentren moderner Gesellschaften von Zeit zu Zeit gern einmal nahe aneinander. Dichtes Gedränge in Stadien, auf Straßen und öffentlichen Plätzen? Umso besser! Eindringlich lassen derartige Ereignisse einen großen Bedarf nach Zugehörigkeitsbekundungen und der Versicherung „partizipativer Identität“ 62 erkennen. Historisch einflussreiche partizipative Identitäten sind z.B. ‚Nation‘ und ‚Religion‘; sie können aber auch durch die Identifikation mit Führern, Helden und Idolen organisiert werden. Als „Gegenpole“ von denen aus „gegen die Erosion gemeinschaftlicher Formen von Sozialität Front gemacht wird“, 63 antworten sie letztlich auf die durch fortschreitende Ausdifferenzierung verursachten Problemlagen der modernen Gesellschaft. ‚Theorietechnisch‘ könnte man sagen, dass die dominante soziologische Selbstbeschreibung dieser Gesellschaft als funktionale Differenzierung insofern nicht ausreicht, als sie auf segmentäre Differenzierungen angewiesen bleibt. Beide Differenzierungsformen nehmen
59 Beispiele dafür sind die Veränderung der Rückpassregel, die es dem Torhüter seit etlichen Jahren verbietet, einen mit dem Fuß von einem Spieler der eigenen Mannschaft zurückgespielten Ball mit der Hand aufzunehmen, oder auch die Ausstattung der Spiele im Profi-Betrieb mit zahlreichen Bällen, um die Unterbrechungen bei Einwürfen oder Eckbällen zu verkürzen. 60 Vgl. ausführlicher M. Prosser: „Fußballverzückung“ beim Stadionbesuch. 61 Vgl. auch Thomas Alkemeyer: „Spektakel-Gesellschaft und Spektakel-Sport – Ökonomie des Geldes und Ökonomie der Blicke“, in: Georg Friedrich (Hg.), Zeichen und Anzeichen. Analysen und Prognosen des Sports, Hamburg: Czwalina 2001, S. 61-72; Gunter Gebauer: Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin: Academia 2002. 62 Alois Hahn: „Partizipative Identitäten“, in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin: Akademie 1997, S. 115-158. 63 Ebd., S. 127. 105
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offenbar koevolutive Funktionen füreinander ein: 64 Holistische Konstrukte federn die Dramatik der Verselbständigung der Lebenssphären seit dem 18. Jahrhundert gleichsam ab, indem sie eine Einheit der gegeneinander sich verselbständigen Funktionsbereiche postulieren.65 Auf eine knappe Formel gebracht: Das auseinanderdriftende Gemeinwesen stabilisiert sich durch seine repräsentative Wiedereinsetzung, die Unterschiede und Differenzen imaginär überspringt. Dies funktioniert allerdings nur, wenn Zugehörigkeit kein hohles Versprechen bleibt, sondern in der Erfahrungswirklichkeit der Menschen verankert und konkret spürbar wird: im Sound einer gemeinsamen Sprache, in Institutionen und Symbolen, aber auch in den raumbezogenen Interaktionen körperlicher Praktiken. Die Ko-Präsenz mit Gleichgesinnten fungiert dann als Wirklichkeitsgarant; das körperliche Erlebnis übernimmt Beglaubigungsfunktion; ein gemeinsames Imaginäres erlangt Physis, affektive Wucht und performative Evidenz; die postulierte Gemeinschaft wird vorübergehend real; ihre sinnliche Erfahrbarkeit ist das Siegel auf ihre Wahrheit. 66 Fußballstadien gehören zu den wenigen Orte in modernen Gesellschaften, wo sich die ‚Masse‘ noch in Aktion erlebt und zu „Gefühlsgemeinschaften“ zusammenfügt. 67 Es handelt sich um Inseln einer Kultur der Oralität inmitten literaler Kulturen, sofern man unter Oralität mehr versteht als bloße Mündlichkeit, sondern alles, was sich in uns dem anderen zuwendet, „sei es eine stumme Geste oder ein Blick“. 68 Zwar sind auch bei politischen Demonstrationen, Karnevalsumzügen oder Rock-Konzerten große Menschenansammlungen zu beobachten, kaum irgendwo sonst aber präsentieren sich Menschen derart als ein geschlossener Kollektiv-Körper wie in einem gut gefüllten Sportstadion; leer allerdings verliert es seine Atmosphäre. Insbesondere die durch vorprogrammiertes Scheitern bedingte Spannung verleiht dem Geschehen eine Wucht und Energie, welche die Vergemeinschaftungsprozesse vorantreibt und steigert. Die (visuellen) Massenmedien haben die Reichweite der Vergemeinschaftung nicht nur weit über die Stadiongrenzen ausgedehnt, sondern auch das Interaktionsgeschehen im Stadion selbst beeinflusst und zu neuen Formen der Gemeinschaftsbildung etwa beim Public Viewing geführt. 64 Wobei unklar bleiben muss, ob diese jenen vorgängig sind, oder ob sie sich gleichzeitig entwickeln (vgl. ebd., S. 126.). 65 Vgl. ebd., S. 127. 66 Vgl. Bernhard Boschert: „Körpergewissheit und performative Wende“, in: Thomas Alkemeyer u.a. (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz: UVK 2003, S. 281-294, hier S. 292. 67 Vgl. Michael Gamper: „Niedriger Instinkt oder hohe Kreativität“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30./31. Oktober 1990, S. 41. 68 Paul Zumthor: Einführung in die mündliche Dichtung, Berlin: Akademie 1990, S. 173. 106
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Performative Gemeinschaften freilich sind flüchtig. Es handelt sich um ‚Wolken‘ von Gemeinschaften, die ihren eigenen Vollzug nicht überdauern können. Auch eine durch noch so wundervolle Erlebnisse beglaubigte Kollektivität ist kaum von langer Dauer. Eine gewisse Nachhaltigkeit mag sich dann ergeben, wenn auf ein „Sommermärchen“ sogleich ein „Wintermärchen“ folgt.
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It’s a Men’s World. Ernste Spiele männlicher Vergemeinschaftung MICHAEL MEUSER
Fußball ist erheblich mehr als die Bewegungen, die zumeist 22 Spieler auf dem Fußballplatz oder sonstigem halbwegs ebenen Gelände im Kampf um den Ball und in dem Bemühen vollziehen, diesen in das gegnerische Tor zu spielen. Viele schreiben dem Fußball zu, Metapher für Gesellschaft zu sein – „Fußball als Realitätsmodell“. 1 Dies mag eine unzulässige Überhöhung sein. Dass zwischen der Ordnung des Fußballs und der Ordnung der Gesellschaft eine nicht zufällige Verbindung besteht, darf jedoch angenommen werden. In einem Aufsatz zur Soziologie des Sports weist Bourdieu dem Sport (wie auch dem Tanz) einen prominenten Platz in der soziologischen Analyse zu. 2 Sport ist zwar Spiel, aber immer auch mehr; er ist ein ernstes Spiel, dessen Ernst – abgesehen von dem Ernst, der ins Spiel kommt, wenn mit dem Sport (viel) Geld zu verdienen ist – darin besteht, nach Regeln zu funktionieren, die zum Teil auch außerhalb der Sportspiels Gültigkeit haben. Um diesen nicht ökonomischen Ernst geht es in dem vorliegenden Beitrag. Eine zentrale gesellschaftliche Strukturkategorie ist Geschlecht. Geschlecht ordnet Gesellschaft; Geschlecht hat eine soziale Platzanweiserfunktion. Wie diese für den Fußball aussieht, darüber herrscht in der einschlägigen Literatur eine Einmütigkeit, die man in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung und Theorie ansonsten selten findet. „Fußball dient, zumindest in den westlichen Kulturen, der Produktion und Inszenierung von Männlichkeit.“ 3 Fußball ist „Arena der Männlichkeit“, 4 „männliche Weltsicht“, 5
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Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004. Pierre Bourdieu: „Programm für eine Soziologie des Sports“, in: Ders.: Rede und Antwort, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 193-207. Gertrud Pfister u.a.: „Frauensport im internationalen Vergleich. Erfahrungen und erste Ergebnisse aus einem empirischen Forschungsprojekt“, in: Klaus Hei113
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„Männlichkeitspraxis“, 6 „Männlichkeitsritual“, 7 „Inbegriff des Männlichen“,8 „Bastion der Männlichkeit“ und „Gelegenheit zur Einübung in Männlichkeit“. 9 Um die enge Konnotation von Fußball und Männlichkeit wissen die Fußballer selbst. Auf die Kritik von Journalisten an seinem mangelnden Torerfolg bei der Fußball-Europameisterschaft 2004 antwortete Christian Vieri: „Ich bin männlicher als ihr alle zusammen.“ 10 In nur wenigen sozialen Felder lässt sich das generative Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit derart augenfällig beobachten wie im Fußball. Ein nicht analytisches Wissen darum gibt es schon länger; es findet sich z.B. in den (wissenschaftlichen) Begründungen, mit denen in den 1950er Jahren der Ausschluss der Frauen aus dem Fußball betrieben wurde. Der niederländische Psychologe Buytendijk betonte 1952: „Im Fußballspiel zeigt sich in spielender Form das Grundschema der männlichen Neigungen und der Werte der männlichen Welt.“ 11 Dies ist keine geschlechtersoziologisch informierte Diagnose, sondern vor dem Hintergrund der philosophischen Anthropologie essentialistisch gemeint. Gleichwohl ist sie insofern zutreffend, als der Fußball in den Ländern, in denen er die beliebteste Sportart ist, 12 tatsächlich ein nemann/Manfred Schubert (Hg.), Sport und Gesellschaften, Schorndorf: Verlag Karl Hofmann 2001, S. 229-256, hier S. 240. 4 Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.): Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006. 5 Eva Kreisky: „Fußball als männliche Weltsicht – Thesen aus Sicht der Geschlechterforschung“, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.), Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 21-40. 6 Lothar Böhnisch/Holger Brandes: „‚Titan‘ und ‚Queen von Madrid‘ – Fußball zwischen Männlichkeitspraxis und Kommerz“, in: Holger Brandes/Harald Christa/Ralf Evers (Hg.), Hauptsache Fußball. Sozialwissenschaftliche Entwürfe, Gießen: Psychosozial-Verlag 2006, S. 133-145, hier S. 133. 7 Eric Dunning/Patrick Murphy/John Williams: „Zuschauerausschreitungen bei Fußballspielen – Versuch einer soziologischen Erklärung“, in: Norbert Elias/Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 433-472, hier S. 470. 8 Fabian Brändle/Christian Koller: Goooal!!! Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fussballs, Zürich: orell füssli 2002, S. 207. 9 Gunter Gebauer: Poetik des Fussballs, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 85. 10 Klaus Walter: „The Making of Männlichkeit in der Kabine“, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.), Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 99-112, hier S. 99. 11 Zitiert nach Marion Müller: „Das Geschlecht des Fußballs – Zur ‚Polarisierung der Geschlechtscharaktere‘ im Fußball“, in: Sport und Gesellschaft 4 (2007), S. 113-141, hier S. 130. 12 Es dürfte hinlänglich bekannt sein, dass die Männlichkeit des Fußballs keine Eigenschaft ist, die diesem Sport essentiell innewohnt. In den USA ist der Fußball weiblich konnotiert, im Unterschied zu Football, Baseball und Basketball, die 114
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Männlichkeitsspiel par excellence ist. Warum dies so ist, wie Fußball und Männlichkeit nicht nur in dem Sinne eine enge Verbindung miteinander eingegangen sind, dass er überwiegend von Männern gespielt und von Männern geguckt wird, 13 lässt sich mit Rekurs auf eine These Bourdieus zur sozialen Konstruktion von Männlichkeit verstehen. Sie macht deutlich, in welcher Hinsicht der Fußball, das Spiel auf dem Rasen und das Geschehen auf den Rängen, ein ernstes Spiel ist, in dem Männlichkeit her- und dargestellt und ein Grundmuster männlicher Vergemeinschaftung eingeübt wird.
Die ‚spielerische‘ Grundlage von Männlichkeit In einem Aufsatz zur männlichen Herrschaft notiert Bourdieu: „Konstruiert und vollendet wird der männliche Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen.“ 14 Männlichkeit ist eine kompetitive und homosoziale Praxis. Frauen sind von diesen Spielen ausgeschlossen. „Sie sind, wenn man so sagen darf, a priori im Namen des (stillschweigenden) Prinzips gleicher Ehre ausgeschlossen. Dieses Prinzip will, daß die Herausforderung, weil sie Ehre macht, nur zählt, wenn sie sich an einen Mann (im Gegensatz zu einer Frau) richtet, und zwar an einen Ehrenmann, der imstande ist, eine Erwiderung zu geben, die, insofern sie auch eine Form von Anerkennung einschließt, Ehre macht.“ 15
Der Wettbewerb hat eine reziproke Struktur, es gibt ihn nur zwischen Gleichen; insofern schließt er eine wechselseitige Anerkennung ein. Der Wettbewerb impliziert Distinktion und Konjunktion. Die Distinktion gegenüber den Ausgeschlossenen, den Frauen, verbindet die ‚Eingeschlossenen‘, die Männer, mögen sie ansonsten auch zahlreiche (soziale) Unterschiede aufweisen. 16
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dort als ‚männliche‘ Sportarten wahrgenommen werden (vgl. Andrei S. Markovits/Steven L. Hellerman: „Die ‚Olympianisierung‘ des Fußballs in den USA: Von der Marginalisierung in der amerikanischen Mainstream-Kultur zur Anerkennung als ein alle vier Jahre stattfindendes Ereignis“, in: Sport und Gesellschaft 1 (2004), S. 7-29). Dies trifft trotz des Anstiegs des Anteils weiblicher Fans immer noch zu. Pierre Bourdieu: „Männliche Herrschaft“, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 153-217, hier S. 203 (Herv. i. O.). Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 90 (Herv. i. O.). Zumindest in diesem Sinne trifft die häufig geäußerte These zu, beim Fußball fielen temporär die sozialen Klassenschranken. Kreisky sieht in der „scheinbare(n) Auflösung sozialer Gegensätze zwischen Männern“ ein „merkwürdiges 115
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Aber auch intern geht der Wettbewerb einher mit Distinktion. Die Beteiligten stehen sich als „Partner-Gegner“ gegenüber, „und zwar auf der Basis prinzipiell gleicher Ehre, die noch die Bedingung für einen Tausch darstellt, der zu ungleicher Ehre, d.h. zur Herrschaft, führen kann.“ 17 Distinktion erfolgt in zwei Richtungen: in der heterosozialen Dimension als Ausschluss der Frauen von den ernsten Spielen des Wettbewerbs, in der homosozialen Dimension als über den Wettbewerb hergestellte Hierarchie von Männlichkeiten. Nicht trotz, sondern gerade wegen der kompetitiven Struktur, wird die homosoziale Männergemeinschaft von Männern als der Ort erfahren, an dem eine ‚echte‘, ‚authentische‘ Männlichkeit gelebt werden kann. Der Wettbewerb entzweit die Männer nicht, er vergemeinschaftet sie. Distinktion und Konjunktion sind die zwei Seiten einer Münze. Elias hat dies am Beispiel der Trinkgelage von Verbindungsstudenten prägnant beschrieben: „Man trank mit- und gegeneinander um die Wette“.18 Selbst der gewaltförmig ausgetragene Wettbewerb hat ein vergemeinschaftendes Potential.19 All dies lässt sich am Fußball so gut wie selten sonst beobachten. In diesem Sinne ist Fußball paradigmatische Männlichkeitspraxis. Wir finden die skizzierte Struktur im Spiel auf dem Stadionrasen wie in den Fights der Hooligans, in den Schmähgesängen der Fans wie im Gekicke auf Schul- und Hinterhöfen. Mit Rekurs auf Bourdieus Ausführungen zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs lässt sich die These von der Männlichkeit des Fußballs präzisieren. Diese These wird formuliert mit Blick auf die verschiedenen Facetten, in denen wir den Fußball erfahren: als professionellen Spielbetrieb, als alltägliches Kicken, als Fangemeinschaften, als mediale Präsentation, als die Narrative des Fußballs. Es lässt sich zeigen, was dem Fußball in diesen Dimensionen als gemeinsames Prinzip zugrunde liegt.
Charakteristikum des Männerbündischen“ (E. Kreisky: Fußball als männliche Weltsicht, S. 33). 17 P. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 83. 18 Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 132. 19 Dieser Aspekt wird unten näher erläutert. Vgl. Michael Meuser: „‚Doing Masculinity‘. Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns“, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer (Hg.), Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, Frankfurt/Main, New York: Campus 2002, S. 53-78; Ders.: „Gewalt, Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit. Überlegungen zur gewaltförmigen Konstruktion von Männlichkeit“, in: Kriminologisches Journal 35 (2003), S. 175-188. – Simmel fragt in seiner „Soziologie“ im Kapitel über den Streit, „ob nicht der Kampf selbst schon, ohne Rücksicht auf seine Folge- und Begleiterscheinungen, eine Vergesellschaftungsform ist.“ (Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 284). Im Kampfspiel, das keinen „außerhalb des Spieles selbst gelegenen Siegespreises“ hat, vereinigten sich die Kontrahenten, um zu kämpfen (ebd., S. 304). 116
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Fußballsozialisation Die herausragende Bedeutung, die dem Fußball als einem ernsten Spiel des Wettbewerbs für die Ausbildung des männlichen Habitus zukommt, erschließt sich, wenn man den Blick zunächst weg von den Profiligen und Fernsehinszenierungen wendet und ihn auf den alltäglichen Fußball richtet, den vornehmlich die Jungen in Schule und Freizeit spielen. In einer ethnographischen Studie in zwei englischen Primary Schools mit unterschiedlichen sozialen Milieuhintergründen der SchülerInnen zeigt Renold,20 dass die Jungen bereits früh die Sinnstruktur des Fußballs einüben und dass der Fußball so etwas wie ein Exerzierfeld des border work 21 ist. Die Schüler und Schülerinnen nutzen vielfältige Gelegenheiten, um die Geschlechterunterscheidung bedeutsam zu machen und sie als oppositionale Dichotomie herzustellen. Der Fußball ist für die Jungen eine bereitwillig ergriffene Gelegenheit, aktiv Grenzziehungen gegenüber den Mädchen vorzunehmen, wohingegen diese sich zumeist vergeblich darum bemühen, zu den (Fußball-)Spielen der Jungen zugelassen zu werden. Die Jungen (re-)produzieren den Fußball als männliches Territorium und verteidigen dieses gegen die Partizipationsbestrebungen der Mädchen. Zugleich bestätigen die Mädchen mit ihren Wünschen mitzuspielen den Jungen, dass sie ‚im Besitz‘ eines wertvollen Guts sind. Das border work ist durchdrungen von der kulturellen Hierarchie der Geschlechter. 22 Der Fußball ist in dieser Hinsicht eine Strukturübung, mit der im Prozess der Selbstsozialisation der Jungen zentrale Elemente der Strukturlogik von Männlichkeit eingeübt werden. 23 Ein Kennzeichen solcher Strukturübungen 20 Emma Renold: „All they’ve got on their brains is football: Sport, masculinity and the gendered practices of playground relations“, in: Sport, Education, and Society 2 (1997), S. 5-23. 21 Barrie Thorne: Gender Play: Boys and Girls in School, New Brunswick: Rutgers University Press 1993. 22 Diese zeigt sich auch darin, dass die von den Mädchen am meisten begehrten Jungen diejenigen sind, die im Fußball hervorragende Leistungen bringen (vgl. E. Renold: All they’ve got on their brains is football, S.16). Nicht nur im Wettbewerb der Jungen untereinander, auch in der Dimension heterosozialer Anerkennung fungiert die fußballerische Leistung als Männlichkeitsbeweis. Bourdieu hat die Rolle, die die Frauen im Rahmen der ernsten Spielen des Wettbewerbs der Männer haben, mit einem Begriff von Virgina Woolfe als die „schmeichelnder Spiegel“ beschrieben, die den Männern ein vergrößertes Bild ihrer selbst zurückwerfen. Der Fußball in der Schule ist offensichtlich ein Feld, in dem diese Rolle frühzeitig eingeübt wird (vgl. P. Bourdieu: Männliche Herrschaft, S. 203). 23 Bourdieu unterscheidet diese Form der Sozialisation sowohl von der des „Lernens durch schlichte Gewöhnung“ als auch von der der expliziten Unterweisung. Jede Gesellschaft sieht „Strukturübungen vor, mit denen diese oder jene Form praktischer Meisterschaft übertragen werden dürfte“. Mit Bezug auf seine ethnologischen Forschungen in der Kabylei nennt Bourdieu „alle Spiele, die häufig nach der Logik von Wette, Herausforderung oder Kampf strukturiert sind 117
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ist es, dass vieles weitaus drastischer praktiziert wird als in späteren Lebensphasen.24 Dies kennzeichnet vor allem die Art, in der Frauen sowie alles, was als weiblich konnotiert wahrgenommen wird, abgewertet werden. So begründen die Jungen ihre Weigerung, die Mädchen mitspielen zu lassen, mit der pauschalen Feststellung, Mädchen seien Abfall („girls are rubbish“). 25 Sie wiederholen dies mehrfach, und sie inkludieren die Interviewerin gewissermaßen in diese Kategorie, indem sie ihre Bewertung laut und direkt in das Mikrophon sprechen. Die Abwertung des Weiblichen ist ein Grundmotiv hegemonialer Männlichkeit, erfolgt allerdings im Erwachsenenalter eher selten in einer derart gesteigerten Form. In der Steigerung dokumentiert sich der Übungscharakter. Nicht nur in der heterosozialen Dimension des border work ist das Fußballspiel der Jungen eine Strukturübung, auch in der homosozialen eignen sie sich die Strukturlogik von Männlichkeit an. Sie lernen die Einheit von Wettbewerb und Solidarität, und sie erwerben einen Spielsinn, der weit über den unmittelbaren, durch die Ordnung des Fußballspiels gestifteten Spielsinn hinausweist. Sie lernen, den Wettbewerb als solchen zu lieben, es zu mögen, sich im Wettbewerb zu beweisen. Die – distinktive wie konjunktive – Wettbewerbsstruktur wird als Kernelement des männlichen Habitus inkorporiert. Dieser generalisierte Spielsinn ist von Nutzen, wenn es darum geht, in den ernsten Spielen des Wettbewerbs zu reüssieren, in denen später über Lebenschancen und Karrieren entschieden wird. Außerhalb des Fußballs stehen den Jungen nur wenige von den peers anerkannte Männlichkeitspraxen offen; „the ‚football‘ and the ‚sporting competent‘ narrative were the major routes through which boys defined their masculinity and signified this masculinity to others“. 26 In welchem Maße dem Fußball diese Vorrangstellung zukommt, unterliegt kultureller Variation. Die Bedeutung des Fußballs als ‚Männlichkeitsgenerator‘ mag in England größer sein als hierzulande. Doch auch in Deutschland hat der Fußball eine herausragende Bedeutung für die sozialisatorische Konstruktion von Männlichkeit. In einer Studie über Freundschaften zwischen Jungen zeigt Jösting, dass der Fußball als „kulturelles Symbol für Männlichkeit“ nicht nur in England einen
(Zweikampf oder Gruppenkampf, Scheibenschießen usw.) und bei denen von den Knaben verlangt wird, die Erzeugungsschemata der Ehrenstrategien auf der Ebene des ‚So-tun-als-ob‘ anzuwenden“ (Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 138). 24 Vgl. Michael Meuser: „Riskante Praktiken. Zur Aneignung von Männlichkeit in den ernsten Spielen des Wettbewerbs“, in: Helga Bilden/Bettina Dausien (Hg.), Sozialisation und Geschlecht. Theoretische und methodologische Aspekte, Opladen: Verlag Barbara Budrich 2006, S. 163-178. 25 E. Renold: All they’ve got on their brains is football, S. 13. 26 Ebd., S. 14f. 118
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exklusiven Stellenwert hat. 27 Dies dokumentiert sich nicht zuletzt darin, dass auch solche männlichen Jugendlichen auf den Fußball in dieser symbolischen Bedeutung rekurrieren, die diesen Sport selbst nicht praktizieren. Der Sport steht, so Jösting weiter, „in der Gunst heranwachsender Jungen an erster Stelle. Er ist sozusagen das sicherste, das eindeutigste und gesellschaftlich anerkannteste und verbreitetste Spielfeld zur Darstellung und Herstellung von Männlichkeit.“ 28 Den Mädchen stehen, so Renold, mehr Positionen offen, die sie einnehmen können, ohne Gefahr zu laufen, von ihren Geschlechtsgenossinnen abgewertet und ausgegrenzt zu werden. 29 Die Begrenztheit der den Jungen verfügbaren Positionen ließe sich mit Bourdieu als Dokument dafür verstehen, dass „auch die Männer Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung [sind], die gleichwohl so perfekt ihren Interessen entspricht.“ 30 In diesem Sinne ist der Fußball der Jungen eine Strukturübung, welche den Männern verdeutlicht, dass es zu ihrer privilegierten Position gehört, bestimmte Wahlmöglichkeiten nicht zu haben. Die Strukturübung besteht auch darin, Kontingenzen zu vernichten, in Richtung der Strukturlogik hegemonialer Männlichkeit. 31 Dies impliziert, die den Mädchen zur Verfügung stehenden Positionen nicht zu begehren.
Fußball und hegemoniale Männlichkeit Viele der eingangs zitierten Diagnosen zur Männlichkeit des Fußballs rekurrieren auf das von Connell in die Geschlechterforschung eingeführte Konzept 27 Vgl. Sabine Jösting: Jungenfreundschaften. Zur Konstruktion von Männlichkeit in der Adoleszenz, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Die Studie basiert auf Gruppendiskussionen mit männlichen Schülern, die mehrheitlich älter sind als die SchülerInnen in der Studie von Renold. 28 Ebd., S. 257. 29 Vgl. E. Renold: All they’ve got on their brains is football, S. 14f. Dieses Mehr an Möglichkeiten ist freilich nicht mit Machtpositionen verbunden. 30 P. Bourdieu: Männliche Herrschaft, S. 187. 31 In einer Gruppendiskussion mit beruflich und sozial arrivierten Männern erläutert einer der Teilnehmer seinen Status als Mann, indem er ausführt, er sei dazu „verdonnert“, Geld verdienen zu müssen (Vgl. Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 211). In dem einen wie dem anderen Fall kann das, wozu man verdonnert ist, eine gehörige Menge Spaß machen, zumindest dann, wenn man gut ist in dem jeweiligen Spiel. (Zum Spaß, den Führungskräfte mit dem haben, zu dem sie sich „verdonnert“ sehen, vgl. Cornelia Behnke/Renate Liebold: „Beruflich erfolgreiche Männer: Belastet von der Arbeit – belästigt von der Familie“, in: Peter Döge/Michael Meuser (Hg.), Männlichkeit und soziale Ordnung, Opladen: Leske+Budrich 2001, S. 141-157.) 119
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der „hegemonialen Männlichkeit“. 32 Dieses Konzept ist zur Leitkategorie der sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Männlichkeitsforschung geworden. 33 Fußball wird als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit begriffen. Ähnlich wie Bourdieu sieht Connell Männlichkeit in einem doppelten Distinktions- und Dominanzverhältnis begründet: gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern. In der homosozialen Dimension unterscheidet Connell neben der hegemonialen Männlichkeit eine untergeordnete, eine komplizenhafte und eine marginalisierte Männlichkeit. Zur männlich-vergemeinschaftenden Funktion des Fußballs gehört die Konstruktion marginalisierter Männlichkeiten, deren Vertretern eine Position als legitime Mitspieler verwehrt wird. Eine Männlichkeit, die im Fußball strikt marginalisiert ist, ist die schwule Männlichkeit. Sie ist es im Fußball weitaus stärker als in anderen sozialen Feldern. Unsere Gesellschaft vermag mittlerweile schwule Spitzenpolitiker zu akzeptieren, aber keine schwulen Fußballer. Dass es – im Betrieb der professionellen und der im DFB organisierten Amateurligen – möglichweise schwule Fußballspieler gibt, die ihre Homosexualität nicht zu erkennen geben, ändert nichts daran, dass eine schwule Männlichkeit im Fußball von den ersten Spielen des Wettbewerbs ausgeschlossen ist – und damit von den Möglichkeiten, über die erfolgreiche Beteiligungen an diesen Spielen einen Statusgewinn zu erzielen. Modernisiert sich der Fußball in anderen Dimensionen in durchaus zügiger Weise (insbesondere in der Orientierung an einer globalen Logik des Marktes), so bleibt er hinsichtlich einer Pluralität sexueller Orientierungen hochgradig starr. Der Modernisierungsrückstand, in den er damit partiell gerät, scheint ihm jedoch nicht zu schaden. Es ist wohl auch dieser Modernisierungsrückstand, der vielen den Fußball als einen der wenigen verbliebenen Orte ‚echter‘ Männlichkeit erfahren lässt, als eines der letzten ‚Refugien‘, in dem die ansonsten sich verbreitende Dekonstruktion tradierter Gewissheiten noch nicht Platz gegriffen hat. Dem steht nicht entgegen, dass es ‚bunte Ligen‘ gibt, in denen schwule Fußballspieler und schwule Teams keine Diskriminierung erfahren. Hierbei handelt es sich in der Regel um großstädtische Nischen einer alternativen (Sport-)Kultur, die weder die Geschlechterordnung des in DFL und DFB organisierten Fußballs tangiert noch in die massenmediale Präsentation und die Narrative des Fußballs Eingang findet. In diskurstheoretischer Perspektive
32 R. W. Connell: Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, Cambridge: Allen & Unwin 1987; Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Männlichkeitskonstruktionen und Krise der Männlichkeit, Opladen: Leske+ Budrich 2000. 33 Vgl. Michael Meuser: „Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen zur Leitkategorie der men’s studies“, in: Brigitte Aulenbacher u.a. (Hg.): FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art, Münster: Westfälisches Dampfboot 2006, S. 160-174. 120
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markieren die bunten Ligen und ihr (begrenzt) enttraditionalisiertes Verständnis von Geschlechterbeziehungen und geschlechtlichen Identitäten einen Gegendiskurs, der vom hegemonialen Fußballdiskurs souverän ignoriert wird. 34 Diesseits der bunten Ligen ist eine heterosexuelle Orientierung nach wie vor eine zentrale Bedingung für die Inklusion in die Männergemeinschaft des Fußballs. Im Rahmen dieser Orientierung zeichnet sich der moderne Fußball allerdings durch eine Erweiterung der legitimen männlichen Subjektpositionen aus. Zwischen Oliver Kahn und David Beckham ist einiges möglich.35 So wie es keine uniforme Männlichkeit außerhalb des Fußballs mehr gibt, gibt es auch keine uniforme Fußballermännlichkeit mehr. Insofern repräsentiert Fußball den „Zeitgeist von Männlichkeit“.36 Der moderne Fußballspieler kann verschiedene Männlichkeiten verkörpern, solange er eines ist: heterosexuell. Es ist kein Zufall, dass gerade die mediale Selbst- und Fremdinszenierung David Beckhams, der als Ikone des metrosexuellen Mannes gehandelt wird, den Ehegatten und Familienvater Beckham ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung rückt. Damit sind gewissermaßen alle potentiellen Zweifel an seiner heterosexuellen Orientierung still gelegt. Böhnisch und Brandes bezeichnen es als „eines der Rituale des Fußballer-Interviews, dass […] die Familie heilig ist. Ohne sie wäre man nichts.“ 37 Die Schweizer Zeitschrift Goal, eine anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 2008 erscheinende Beilage der Schweizer Illustrierten, inszeniert in ihrer Ausgabe vom 4.2.2008 an verschiedenen Stellen des Heftes im Stil von Lifestyle-Magazinen den heterosexuell erfolgreichen Fußballstar, dem eine attraktive Frau zur Seite steht. Dazu ist es nicht notwendig, den Fußballspieler selbst zu porträtieren; es geht auch, indem z.B. Ilaria Blasi, 34 Die hier praktizierte Enttraditionalisierung ist darin begrenzt, dass auch in dieser alternativen Fußballkultur Hierarchien von Männlichkeiten produziert werden, die zwar nicht an der sexuellen Orientierung von Mitspielern festgemacht werden, wohl aber an deren Bereitschaft zu einer homosozialen Vergemeinschaftung. Wer sich dem nach dem Spiel stattfindenden Kneipenbesuch mit dem Hinweis auf familiale Verpflichtungen entzieht, kann auch in dieser alternativen Sinnwelt des Fußballs in eine randständige Position geraten. In einer Gruppendiskussion berichtet ein Mitglied einer alternativen Freizeitfußballmannschaft: „Wenn ich mit meinem Fußballverein da zusammen bin, […] dann sagen sie, wenn ich dann nicht trinke zum Beispiel, nicht mitsaufe, ja was is denn los ey, oder nach Hause gehe ne, dann wartet Angelika schon wieder auf dich oder so was, mit den beiden Kindern.“ Dieser Mann sieht sich von den anderen als jemand dargestellt, „den die Frau in der Knute hat“, mithin in seiner Männlichkeit herausgefordert. Vgl. M. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 241. 35 Vgl. L. Böhnisch/H. Brandes: „Titan“ und „Queen von Madrid“. 36 Holger Brandes: „Männlich is’ auf’m Platz“, in: Psychologie heute (Juni 2006), S. 40-45, hier S. 40. 37 L. Böhnisch/H. Brandes: „Titan“ und „Queen von Madrid“, S. 135. – Es ist vermutlich kein Zufall, dass viele Profifußballer bereits in jungen Jahren Ehemann und Familienvater sind. 121
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ehemaliges Model und Ehefrau von Franceso Totti (AS Rom), auf einer Doppelseite in erotischer Pose abgebildet wird. In dem kurzen Text zum Bild bleibt nicht unerwähnt, dass die beiden zwei Kinder haben. 38 In anderen Porträts wird die (hetero-)sexuelle Potenz des Mannes in den Vordergrund gerückt. So wird die Frau des Chelsea-Spielers Ashley Cole mit dem Satz zitiert: „Sex mit Ashley ist mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen.“39 Eine ausführliche Personality-Story über Goran Obradovic, Spieler beim FC Sion, zeigt den Spieler als ‚Familienmensch‘, der sich intensiv mit seinen Kindern beschäftigt und ihnen bei den Hausaufgaben hilft. 40 Die Inszenierung des heterosexuellen und heterosexuell-erfolgreichen Spielers kann verschiedene Formen annehmen: vom potenten Latin Lover bis zum fürsorglichen Familienvater. 41 Ein zentraler Aspekt sowohl in Bourdieus Ausführungen zur männlichen Herrschaft als auch in Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit besteht darin, Männlichkeit nicht nur in der heterosozialen Dimension der Beziehungen zu Frauen, sondern auch in der homosozialen Binnendimension in Kategorien von Macht und Herrschaft zu konzipieren. Die Exklusion homosexueller Männlichkeit im Fußball ist Ausdruck dessen. Aber auch unter den männlichen Subjektpositionen, die in den Fußball inkludiert sind, gibt es ein hierarchisches Gefälle. Obschon der Fußball ein Ort der Reproduktion hegemonialer Männlichkeit ist, verkörpert nicht jeder Fußballspieler hegemoniale Männlichkeit; nicht die Freizeitkicker und auch nicht die in unteren Ligen spielenden Profis und vermutlich auch nicht jeder Erstliga-Spieler. Auf dem Fußballplatz gibt es bekanntermaßen Über- und Unterordnungsverhältnisse, geniale Spielmacher und gewöhnliche ‚Wasserträger‘ bzw. ‚Adjutanten‘. Das in der deutschen Fußballhistorie prominenteste Beispiel dürfte das Paar Beckenbauer-Schwarzenbeck sein. Gebauer greift die Figur des „Seigneurs“ auf, um außergewöhnliche Spieler wie Pelé, Zidane, Beckenbauer oder Netzer zu bezeichnen. Über den „Seigneur“ schreibt er: „Seine Macht übt der Seigneur ohne brachiale Gewalt aus, als eine Verwirklichung seines Gestaltungswillens.“ 42 Es ist der „Seigneur“, der hegemoniale Männlichkeit auf dem Fußballplatz verkörpert. Der Begriff der Hegemonie, den Connell von Gramsci übernommen hat, betont das (implizite) Einverständnis des Untergeordneten mit seiner untergeordneten Position. Erst auf dieser Basis kann sich der Ge38 39 40 41
Goal Nr. 6 vom 4.2.2008, S. 12f. Ebd., S. 18 Ebd., S. 42-46. Brändle und Koller weisen darauf hin, dass auch früher „verschiedene Männlichkeitskonzepte – der emotionslose ‚upper class‘ Gentleman, der raue Bergarbeiter oder der hyperpotente rebellische Jungstar – mit dem Fußball kompatibel [waren], während die Konzepte der Weiblichkeit stets außen vor blieben.“ (F. Brändle/C. Koller: Goooal!!!, S. 231.) 42 G. Gebauer: Die Poetik des Fußballs, S. 57. 122
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staltungswille des Übergeordneten entfalten; ohne dieses Einverständnis liefe er ins Leere. Der Untergeordnete, der selbst die hegemoniale Männlichkeit nicht zu verkörpern vermag, hat freilich Teil an den Erfolgen und der Macht des Übergeordneten. Connell nennt dies Partizipation an der „patriarchalen Dividende“. 43 Homosoziale Hierarchien von hegemonialer und untergeordneter Männlichkeit sind ein Grundprinzip männlicher Vergemeinschaftung; in Konstellationen wie der von Beckenbauer und Schwarzenbeck oder – weniger im kollektiven Fußballgedächtnis präsent – Netzer und Wimmer repräsentiert der Fußball dieses Prinzip. 44
Die ernsten Spiele der Fans Die Spiele des Wettbewerbs auf dem Platz sind begleitet von ebenfalls ernsten Wettbewerbsspielen auf den Rängen und außerhalb der Stadien. Auch hier wird um männliche Subjektpositionen gespielt. Die Spieleinsätze sind verbaler und körperlicher Art. In den verbal ausgetragenen Wettstreiten der Fanblöcke rekurrieren die Fans auf die Symbolik des Ausgeschlossen. Der verbale Wettbewerb ist hochgradig sexualisiert und zielt darauf, den Gegner symbolisch zu marginalisieren. Die zahlreichen und mit großer Inbrunst vorgetragenen Schmähungen der gegnerischen Mannschaft und deren Fans sind darauf gerichtet, dem Gegner seinen Status als Mann abzusprechen, indem er unter Homosexualitätsverdacht gestellt wird. Mit Beschimpfungen wie „Schwuchtel“, „Arschgefickter“ oder „Schwanzlutscher“ wird dem Gegner die Männlichkeit aberkannt. 45 Die ihm zugeschriebene Unmännlichkeit gipfelt darin, dass er in der passiven Rolle des Penetrierten dargestellt wird, während der in einer solchen Konstellation nach landläufigem Verständnis ebenfalls homosexuell agierende Beleidiger nicht als schwul wahrgenommen wird, sondern seine Männlichkeit durch den behaupteten aktiven Part unterstreicht. Solche symbolischen Entmännlichungen sind aus vielen männlichen jugendlichen peer-group-Kulturen bekannt. Es handelt sich um ritualisierte Wettbewerbe des Beleidigens, für die es keines besonderen Anlasses bedarf. Es ist 43 R. W. Connell: Der gemachte Mann, S. 100. 44 In der Literatur zum Verhältnis von Fußball und Männlichkeit wird oft der Fußball pauschal mit hegemonialer Männlichkeit in Verbindung gebracht. Dies muss differenzierter betrachtet werden, wiederholt aber auch nur die inflationäre Begriffsverwendung, die generell dieses Konzept erfahren hat. Vgl. M. Meuser: Hegemoniale Männlichkeit. 45 Christian Bromberger: „Ein ethnologischer Blick auf Sport, Fußball und männliche Identität“, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.), Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 41-52, hier S. 49f.; F. Brändle/C. Koller: Goooal!!!, S. 212; E. Dunning/P. Murphy/J. Williams: Zuschauerausschreitungen bei Fußballspielen, S. 440. 123
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diese Entkopplung von persönlichen Motiven, welche die Beleidigungen zu einem wiederkehrenden Mittel der Her- und Darstellung einer kompetitiv strukturierten Männlichkeit macht. 46 Eine andere Form, den Gegner symbolisch denen zuzuordnen, die von den ernsten Spielen des Fußballs ausgeschlossen sind, besteht darin, ihn unter Effeminisierungsverdacht zu stellen, zu behaupten, er verhalte sich wie eine Frau oder ein Mädchen. Eine weitere, ebenfalls die Männlichkeit des Gegners in Zweifel ziehende Variante ist, ihn mit der Unterstellung zu provozieren, er könne nicht die der Fangruppe angehörenden Frauen vor sexuellen Übergriffen beschützen. 47 Damit wird in Abrede gestellt, dass der Gegner die prosoziale Dimension hegemonialer Männlichkeit zu repräsentieren fähig ist. Allerdings ist zu beachten, dass derartige Versuche einer symbolischen Marginalisierung der Anderen eine reziproke Struktur haben. Anders als die Frauen und die homosexuellen Männer sind die gegnerischen Fangemeinden zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs zugelassen; ohne jene gäbe es diese nicht. Die Männlichkeit des Gegners wird damit nicht zu einer marginalisierten, sofern er dem Wettbewerb standhält und sich an den Beleidigungsritualen beteiligt – idealerweise dergestalt, dass er auf jede Beleidigung eine Antwort findet, die diese in gesteigerter Form zurückgibt. Die marginalisierten Männlichkeiten sind das symbolische Material, mit dem der verbale Wettstreit ausgetragen wird.
Gewaltspiele Nicht selten erfolgt ein nahtloser Übergang von verbalen Attacken in physische Gewalt. Wie es dazu kommt, ist Gegenstand gruppendynamischer Erklärungen. Die kollektive Erregung, die ein Fußballspiel begleitet und die zu einem großen Teil die ‚Atmosphäre‘ im Stadion ausmacht, scheint Gewaltausbrüche zu begünstigen. Hier soll die Gewalt unter einer anderen Perspektive betrachtet werden: mit Blick auf den männlich-vergemeinschaftenden Effekt auch dieser Form des Wettbewerbs. 48
46 Vgl. Michael Meuser: „Serious Games. Competition and the Homosocial Construction of Masculinity“, in: NORMA – Nordic Journal for Masculinity Studies 2 (2007), S. 38-51. 47 Vgl. C. Bromberger: Ein ethnologischer Blick auf Sport, Fußball und männliche Identität, S. 49; Franciska Wölki: „‚Kleine Maus, zieh dich aus!‘. Als ‚Pink Lady‘ in der Machowelt des Fußballs“, in: Antje Hagel/Nicole Selmer/Almut Sülzle (Hg.), gender kicks. Texte zu Fußball und Geschlecht, Frankfurt/Main: Deutsche Sportjugend 2005, S. 69-76, hier S. 72. 48 Teile der nachfolgenden Ausführungen basieren auf einem bereits publizierten Aufsatz. Vgl. M. Meuser: Gewalt, Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit. 124
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Gewalt ist im Fußball wie in anderen sozialen Feldern weitgehend ein ‚Privileg‘ von Männern. Jahr für Jahr wird dies durch die Polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt. Die ‚Männlichkeit‘ der Gewalt besteht in zweifacher Hinsicht: Sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern sind die Männer in der deutlichen Überzahl. Bei schwerer und gefährlicher Körperverletzung im öffentlichen Raum sind über 80 Prozent der Täter wie der Opfer männlichen Geschlechts. 49 Als besonders gewaltintensiv erweisen sich, wiederum in beiderlei Hinsicht, die Lebensphasen der Jugend und der Postadoleszenz. (Männliche) Gewalt ist eine Praxis, die den Fußball mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert begleitet. 50 Fußball ist ein legitimer Ort „für den sozial akzeptierten, ritualisierten und mehr oder weniger kontrollierten Ausdruck physischer Gewalt“. 51 Dunning hat bei dieser Einschätzung das Geschehen auf dem Platz im Blick. Die anlässlich eines Spiels auf den Rängen sowie vor und nach dem Spiel sich ereignende Gewalt kann allerdings ebenfalls als legitim wahrgenommen werden, nämlich dann, wenn man nach dem sozialen Sinn, dem Geschlechtssinn, dieser Gewalt fragt. Hierzu bedarf es einer Präzisierung, um welchen Typus von Gewalt es sich handelt. Gewaltrelationen können einseitig oder reziprok strukturiert sein, je nachdem, ob eine klare Verteilung des Täter- und des Opferstatus vorliegt oder ob jeder Akteur (potentiell) Täter und Opfer ist. 52 Ein großer Teil mann-männlicher Gewalt ist durch eine reziproke Struktur gekennzeichnet. Die hier in Betracht stehende Gewalt der Zuschauer zählt zu diesem Typus. Beide Seiten der Gewaltrelation sind aktiv gewalttätig, mithin können die Täter- und die Opferseite bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verschmelzen. In der jeweiligen Gewaltinteraktion mag die eine Seite, situativ bedingt, stärker in der Position der Täter, die andere Seite in derjenigen der Opfer sein, doch diese Relation ist prinzipiell reversibel; beim nächsten Aufeinandertreffen oder auch schon im Ver49 Vgl. Bundeskriminalamt (Hg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 2006. Wiesbaden: BKA 2007. 50 Vgl. E. Dunning/P. Murphy/J. Williams: Zuschauerausschreitungen bei Fußballspielen, S. 460. Gewalt war wohl auch schon bei den Vorläufern des modernen Fußballs weit verbreitet, allerdings nicht wie heute auf die männlichen Akteure begrenzt. Mit der Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft scheint den Frauen neben anderem auch die Handlungsressource Gewalt entzogen worden zu sein. Vgl. M. Müller: Das Geschlecht des Fußballs. 51 Eric Dunning: „Sport als Männerdomäne. Anmerkungen zu den sozialen Quellen männlicher Identität und deren Transformation“, in: Norbert Elias/Eric Dunning, Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 473-502, hier S. 480. 52 Diese für die geschlechtersoziologische Betrachtung von Gewalt wichtige Unterscheidung ist in Dunnings „Typologie menschlicher Gewalt“ nicht enthalten. Vgl. Eric Dunning: „Soziale Bindung und Gewalt im Sport“, in: Norbert Elias/Eric Dunning, Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 398-432, hier S. 401ff. 125
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laufe eines Kampfes könnten sich die Positionen umkehren. Da Täter- und Opferstatus nicht strukturell, d.h. vorab der konkreten Gewaltinteraktion, bestimmt sind, sondern sich erst situativ ausdifferenzieren, handelt es sich bei dieser Gewaltrelation um ein Verhältnis, in dem verletzungsmächtige Akteure anderen verletzungsmächtigen Akteuren gegenüber stehen. Die relative Gleichverteilung von Verletzungsmächtigkeit macht die gewaltsame Auseinandersetzung zu einem der ernsten Spiel des Wettbewerbs, in denen unter Männern Männlichkeit hergestellt und dargestellt wird. „Wirkliche Ehre“ kann, so Bourdieu, nur die Anerkennung eintragen, die von einem Mann gezollt wird, „der als ein Rivale im Kampf um die Ehre akzeptiert werden kann.“ 53 Entscheidend ist weniger, dass beide Seiten gleich stark sind, sondern dass es sich sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdeinschätzung um eine Auseinandersetzung zwischen Verletzungsmächtigen handelt. Hooligans suchen nach ‚würdigen‘ Gegnern; Anerkennung durch (männliche und weibliche) Mitglieder der eigenen Subkultur erfahren sie dann, wenn es sich bei dem Gegner „um eine in Hooligankreisen angesehene, starke Gruppe handelt“. 54 Dunning, Murphy und Williams kommen der Bedeutung bzw. der Sinnstruktur, die der Gewalt als Ritual der Männlichkeit zukommt, recht nahe, wenn sie feststellen, dass der von Männern aus der „Arbeiterklasse mit rauhen Umgangsformen“ praktizierten gewaltförmigen Männlichkeit „recht ähnliche Formen der Männlichkeit […] zum Beispiel bei der Polizei und in der Armee und möglicherweise auch in anderen beruflichen Milieus offenkundig“ vorkommen. 55 Die Autoren führen nicht weiter aus, in welcher Hinsicht die Formen der Männlichkeit einander ähnlich sind. Der Geschlechtssinn der Gewalt wird allerdings deutlich, wenn man sie, genauer: die Konstellation, in der sie auftritt (als reziproke männliche Gewalt), als eine Ausprägung der ernsten Spiele des Wettbewerbs begreift, als eine feldspezifische Form des Wettbewerbs, der in anderen Feldern mit anderen Mitteln ausgetragen wird. Charakteristisch für die meisten Formen reziproker Gewalt ist die Kollektivität des Gewalthandelns. Es findet als kollektiver Aktionismus im Gruppenkontext statt. Dies impliziert, dass neben den aktiv Gewalttätigen zumeist auch Zuschauer anwesend sind, die allerdings jederzeit selbst gewalttätig werden können. In diesem kollektiven Kontext fungieren die gewaltsam ausgetragenen Wettbewerbsspiele als Mittel der wechselseitigen Anerkennung. Im kollektiven Aktionismus entstehen Kameradschaft und Solidarität, wie
53 P. Bourdieu: Männliche Herrschaft, S. 204. 54 Beate Matthesius: Antisozialfront. Vom Fußballfan zum Hooligan, Opladen: Leske+Budrich 1992, S. 200. 55 E. Dunning/P. Murphy/J. Williams: Zuschauerausschreitungen bei Fußballspielen, S. 471. 126
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dies ebenfalls in gesellschaftlich geförderten Institutionen der Männlichkeit geschieht. Über die Gewalt der Hooligans heißt es bei Bohnsack u.a.; „Aus der nicht antizipierbaren Entwicklung der Situation des Kampfes, die sich verlaufskurvenförmig entwickelt, resultiert ein situatives Aufeinanderangewiesensein, das man in ähnlicher Weise im Sport findet oder in der erzwungenen Schicksalsgemeinschaft von Soldaten.“ 56
Gewalt hat in diesem Sinne nicht nur destruktive Potenziale, sondern ist insofern eine Form sozialer Ordnung, als sie in ein- und derselben Bewegung auch ein Modus männlicher Vergemeinschaftung ist. Indem sie gegen andere gerichtet ist, stärkt sie die interne Kohäsion. Die vergemeinschaftende Funktion kann allerdings auch grenzüberschreitend wirksam sein. Nicht selten vergemeinschaftet Gewalt diejenigen, die zunächst gegeneinander gekämpft haben; so sind z.B. „Schlägereien ein Selektionsmechanismus für Freundschaftsbeziehungen“. 57 Dieses Zueinanderfinden über Körperverletzungen, das sich auch bei legalen Ritualen männlichen Gewalthandelns wie etwa dem Mensurschlagen in studentischen Verbindungen beobachten lässt, ist möglich, weil die Beteiligten in einem Verhältnis wechselseitiger Verletzungsmächtigkeit, mithin von Gleichwertigkeit, zueinander stehen. Ein entscheidender Unterschied zwischen solchen legalen Ritualen des Gewalthandelns und den illegalen Aktivitäten der Hooligans besteht allerdings darin, dass, obwohl mit beiden Männlichkeit hergestellt wird, nur die ersteren eine reputierliche Männlichkeit garantieren, die letzteren hingegen eine Männlichkeit konstituieren, der mit einer Mischung aus Anerkennung und Abwertung begegnet wird. In der Connellschen Terminologie ausgedrückt, handelt es sich hier um ein Verhältnis von hegemonialer und untergeordneter Männlichkeit. Die Gewalt auf den Rängen ist nicht legal, sie ist aber in einem spezifischen Sinne legitim. Sie verstößt gegen die Rechtsordnung, bewegt sich jedoch innerhalb der Geschlechterordnung, die den Männern, nicht aber den Frauen Gewalt als eine kulturell legitime Handlungsressource zur Verfügung stellt. 58 Die im Kampf davon getragene Verletzung kann als Männlichkeitsbeweis präsentiert werden, 59 die Verstrickung einer Frau in die gewaltsamen 56 Ralf Bohnsack u.a.: Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen, Opladen: Leske+Budrich 1995, S. 87. 57 Eduard Matt: „Jugend, Männlichkeit und Delinquenz. Junge Männer zwischen Männlichkeitsritualen und Autonomiebestrebungen“, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 19 (1999), S. 259-276, hier S. 265. 58 Vgl. hierzu allgemein M. Meuser: ‚Doing Masculinity‘. 59 Sie kann des weiteren durchaus positiv erfahren werden. In den Worten eines Hooligans: „Vor mir Braunschweiger, hinter mir die Bullen. Ich dazwischen, ganz alleine. Ich hab’ die Prügel meines Lebens bekommen: ein Wahnsinnser127
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Auseinandersetzungen der Fangruppen wird eher Zweifel an ihrer Weiblichkeit evozieren. Folglich bleiben die Frauen nicht nur von diesen ernsten Spielen ausgeschlossen, sie zögern auch selbst, sich daran zu beteiligen, selbst wenn die Gewalt sie fasziniert. Ein von Sülzle interviewter weiblicher Fan drückt dies folgendermaßen aus: „[D]a sind sie bei uns da unten alle auf die Zäune hoch und haben dann den Zaun fast umgerissen, und da hätte es echt fast noch richtig Stress gegeben, und irgendwie ist es zwar asozial, ich würde es auch selber nie machen, aber … wenn die anderen das machen, das finde ich, das überläuft mich dann immer, ich weiß auch nicht (Lachen).“ 60
Die nach jedem Ausbruch von Gewalt zu vernehmende beschwörende Feststellung von Verbandsfunktionären und anderen Offiziellen des organisierten Fußballs, die Gewalttäter seien keine wirklichen Fans und die Gewalt sei dem Fußball nicht inhärent, ist in einer Gesellschaft, die Gewalt im allgemeinen negativ sanktioniert, eine nachvollziehbare, aber durchaus keine zutreffende Aussage. 61 Für den Fußball gilt, was Popitz generell über die Potentialität von Gewalt geschrieben hat: „Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig – in allen Situationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust, ohne Lust, schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle Zwecke – jedermann.“ 62
Eine gängige Strategie, die Gewalt als dem Fußball äußerlich zu erklären, besteht darin, sie auf eine bestimmte Population einzugrenzen, sie als Verhaltenstil sozial deklassierter und frustrierter Männer zu begreifen. Nun ist es nicht
lebnis!“ (zit. in: Gunter A. Pilz: „Fußball ist unser Leben!? – Zur Soziologie und Sozialgeschichte der Fußballfankultur“, in: Holger Brandes/Harald Christa/Ralf Evers (Hg.), Hauptsache Fußball. Sozialwissenschaftliche Entwürfe, Gießen: Psychosozial-Verlag 2006, S. 49-69, hier S. 57). 60 Almut Sülzle: „Männerbund Fußball – Spielraum für Geschlechter im Stadion. Ethnographische Anmerkungen in sieben Thesen“, in: Martin Dinges (Hg.), Männer Macht Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/Main, New York: Campus, S. 173-191, hier S. 184. – Auch hier nimmt die Frau die oben erwähnte Funktion des „schmeichelnden Spiegels“ ein, der die Männer in ihren Aktionen und ihrer Männlichkeit bestärkt (s. Fn. 22). 61 Vgl. hierzu auch G. Gebauer: Die Poetik des Fußballs, S. 151ff. 62 Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 50. 128
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falsch, dass ein „violent masculine style“ 63 typisch für deviante Aktivitäten männlicher Angehöriger unterer sozialer Schichten ist. Er entspricht dem „distinktiven Körperhabitus der ‚unteren‘ Klassen“, 64 wie er auch in nicht kriminalisierten Handlungsfeldern zu beobachten ist. Dass in sozialen Milieus, in deren Tradition körperliche Arbeit einen hohen Stellenwert hat, Männlichkeit stärker als in anderen Milieus über körperliche Attribute definiert wird, erscheint plausibel; gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Faszination von reziproker Gewalt nicht an Milieugrenzen Halt macht. Das zeigen mit großer Eindringlichkeit die Berichte und Studien über Hooligans, die entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht typischerweise in sozial deprivierten Verhältnissen leben. 65 Insofern greifen alle Versuche zu kurz, die Gewalt dadurch als Ausnahme zu erklären, dass sie an marginalisierte soziale Milieus gebunden wird.
Das Spiel der ‚Anderen‘ Gegen die Skizze des Fußballs als in der beschriebenen Weise zu verstehende „Arena der Männlichkeit“ mag eingewendet werden, sie berücksichtige nicht die wachsende Zahl sowohl von Fußball spielenden Frauen als auch von Zuschauerinnen in den Stadien und vor den Fernsehapparaten. Damit ist jedoch der Fußball als Männlichkeitsspiel und Ort männlicher Vergemeinschaftung nicht zwangsläufig in Frage gestellt. Allein die Semantik, die den ‚Fußball‘ und den ‚Frauenfußball‘ kennt, nicht aber den ‚Männerfußball‘, weist darauf hin, dass sich hier ein Allgemeines und ein Besonderes in einem hierarchischen Verhältnis gegenüberstehen.66 Nur der von Frauen gespielte Fußball ist geschlechtlich markiert. Ein zentrales Merkmal einer hegemonialen Position ist es, nicht markiert zu sein. Simmel hat als ein wesentliches Merkmal der 63 John Williams/Eric Dunning/Patrick Murphy: Hooligangs Abroad. The Behavior and Control of English Fans in Continental Europe, London: Routledge 1984, S. 15. 64 Frederick Groeger: „Zur sozialen Logik von Kampfsport, Migration und Unterprivilegierung bei Berliner Amateurboxern“, in: Berliner Debatte INITIAL 12 (2001) H. 1, S. 45-57; hier S. 51. 65 Vgl. R. Bohnsack u.a.: Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe; Bill Buford: Geil auf Gewalt. Unter Hooligans, München: Hanser 1992; Hans-Volkmar Findeisen/Joachim Kersten: Der Kick und die Ehre. Vom Sinn jugendlicher Gewalt, München: Kunstmann 1999; G. A. Pilz: Fußball ist unser Leben!?. 66 Vgl. Rosa Diketmüller: „Frauenfußball – ein Paradigmenwechsel?“, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.), Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht. Frankfurt/Main, New York: Campus, S. 347-365; Gabriele Sobiech: „Zur Irritation des geschlechtstypischen Habitus in der Sportspielpraxis: Frauen spielen Fußball“, in: Ilse Hartmann-Tews/Britt Dahmen (Hg.), Sportwissenschaftliche Geschlechterforschung im Spannungsfeld von Theorie, Politik und Praxis, Hamburg: Czwalina 2007, S. 25-36. 129
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Herrschaft der Männer über die Frauen beschrieben, dass ihr eine Hypostasierung des Männlichen zum Allgemein-Menschlichen zugrunde liegt – in welcher sie sich als Herrschaft unkenntlich macht und einer Wahrnehmung als geschlechtlich markiert entzieht. 67 In der Wahrnehmung des von Männern gespielten Fußballs als das Allgemeine und damit den Sport insgesamt Normierende bleibt der Fußball ein ernstes Spiel des unter Männern ausgetragenen Wettbewerbs. Der Verbindung von Fußball und Weiblichkeit fehlt es an der Fraglosigkeit, mit der Fußball und Männlichkeit als eine Einheit gesehen werden. Noch in den Fragen, die in der wissenschaftlichen Reflexion über diese Zusammenhänge gestellt werden, dokumentiert sich die Selbstverständlichkeit der Männlichkeit des Fußballs. So fragen Pfister und Fasting, „wie die Fußballspielerinnen heute die Konstruktion und Inszenierung von Weiblichkeit und Fußball spielen vereinen.“ 68 Daran ist bemerkenswert, dass die geschlechtliche Konnotation der fußballerischen Praxis nur mit Bezug auf Frauen als mögliches Problem formuliert wird. Der von Frauen gespielte Fußball erscheint immer noch, obwohl Funktionäre wie DFB-Präsident Zwanziger oder FIFA-Präsident Blatter sich öffentlich für ihn stark machen, 69 als eine illegitime Variante des Fußballs, als „eine unvollkommene Form des Männerfussballs“. 70 „In der öffentlichen Wahrnehmung hat dies zur Folge, dass mit dem Fußball spielen von Frauen der legitime Gebrauch des ‚weiblichen‘ Körpers konterkariert und unterlaufen wird“. 71 Frauenfußball muss gleichsam den Spagat leisten, sich als Fußball und zugleich als das Andere des ‚eigentlichen‘, des von Männern gespielten Fußballs zu konstituieren. 72 Folgt man Müller, so gelingt dies dadurch, dass die Frauen seit den 1970er Jahren nicht in den Fußball inkludiert wurden, sondern vielmehr „eine Sportart für sich ganz allein [erhielten]: den Frauenfußball“. 73 Fußball und Frauenfußball „gelten seitdem als inkommensurabel.
67 Vgl. Georg Simmel: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 200ff. 68 Gertrud Pfister/Kari Fasting: „Geschlechterkonstruktionen auf dem Fußballplatz. Aussagen von Fußballspielerinnen zu Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepten“, in: Dieter Jütting (Hg.), Die lokal-globale Fußballkultur wissenschaftlich beobachtet, Münster: Waxmann, S. 137-152, hier S. 138. 69 „Die Zukunft des Fußballs ist weiblich“ stellte FIFA-Präsident Blatter bereits im Jahr 1995 anlässlich der Eröffnung der zweiten Frauenfußball-Weltmeisterschaft in Schweden fest. 70 F. Brändle/C. Koller: Goooal!!!, S. 234. 71 G. Sobiech: Zur Irritation des geschlechtstypischen Habitus in der Sportspielpraxis, S. 32. 72 Vgl. auch Matthias Marschik: Frauenfußball und Maskulinität. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven, Münster: Lit 2003, S. 402. 73 M. Müller: Das Geschlecht des Fußballs, S. 136. 130
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Oder anders formuliert: Die Frauen spielen nicht schlechter Fußball als die Männer, sondern sie spielen ein vollkommen anderes Spiel.“ 74 Anders als in sonstigen sozialen Feldern, insbesondere in beruflichen, werden die Frauen nicht zu Mitspielerinnen in einem Wettbewerb, der zuvor den Männern vorbehalten war. Der Fußball bleibt ein exklusiver Ort männlicher Vergemeinschaftung, vermittelt über die ernsten Spiele des Wettbewerbs, wie sie in den unterschiedlichen Dimensionen des sozialen Felds Fußball ausgetragen werden – auf dem Rasen und den Rängen, in professionellen und Amateurligen, auf Bolzplätzen und Schulhöfen. Fußball ist nicht der einzige Ort und nicht die einzige Praxis männlicher Vergemeinschaftung. Für die Her- und Darstellung von Männlichkeit ist er jedoch eine zentrale, eminent wichtige Praxis. Fußball übt in geradezu paradigmatischer Weise in die kompetitive Logik von Männlichkeit ein, in die Logik von Wettbewerb und Solidarität, die sich als homologe Struktur in zahlreichen anderen Feldern männlicher Vergemeinschaftung geltend macht. Die herausragende geschlechtliche Bedeutung des Fußballs erweist sich nicht zuletzt daran, dass er eines der wenigen verbliebenen Felder ist, in denen eine Problematisierung von Männlichkeit nicht stattfindet.
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Fußball, Spiel und Kampf. Zur politischen Dimension des Hooliganismus MARTINA ALTHOFF/JAN NIJBOER
Der vorliegende Beitrag untersucht die Bedeutung der im Kontext von Fußballwettkämpfen praktizierten Gewalt hinsichtlich seiner politischen Dimension. Dabei soll eine neue Perspektive angewendet werden, die Hooliganismus als Form der Vergemeinschaftung begreift, bei der Gewalt eine Handlungsoption im Sinne von voice darstellt. Zunächst wird kurz die politische Dimension von Hooligangewalt mit Bezug auf Extremismus, Nationalismus und Rassismus diskutiert. Dies führt zu der Frage, ob Hooligangewalt auch als Ausdruck öffentlichen Protests gegenüber den Autoritäten interpretiert werden kann. In der sich anschließenden Analyse werden unter Rückgriff auf Hirschmans theoretisches Konzept von exit, voice and loyality zwei mögliche Interpretationen vorgestellt: Der Einsatz physischer Gewalt im Kontext der Herstellung von Männlichkeit und Gewalthandeln als eine Form der Ausübung sozialer Kontrolle und Selbstjustiz.
Gewalthandeln von Hooligans: eine politische Dimension? Bei Gewalt von Fußballfans müssen zwei eng miteinander verbundene Gewaltphänomene voneinander unterschieden werden: mehr oder weniger spontane Gewalthandlungen von Fußballfans im Kontext der Fußballwettkämpfe und (meist) geplante und bewusst eingesetzte Gewalthandlungen von Hooligans, so genannter Hooliganismus – Gewaltphänomene, die nicht deckungsgleich sind, wenngleich sie häufig miteinander korrespondieren. In dem vorliegenden Beitrag beschränken wir uns auf das Phänomen Hooliganismus. Hooligans gelten als diejenigen, die zum so genannten harten Kern der gewalttätigen Fußballfans zählen, wenngleich der Begriff harte Kern Hooli135
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gan nicht unumstritten ist. Gemeint sind Fußballfans, die an den meisten Gewaltaktivitäten beteiligt sind, alles für ihren Club tun würden und dadurch bereit sind, mehr oder weniger systematisch normüberschreitendes Verhalten auszuüben. Gewalt von Hooligans wird in der Regel individualisiert und pathologisiert oder mehr soziologisch als Ausdruck einer sozial deprivierten Situation erklärt. Wird dem Gewalthandeln von Hooligans überhaupt eine politische Deutung zugewiesen, dann geschieht dies meist mit Verweis auf Rechtsextremismus, Nationalismus oder Rassismus, sporadisch auch mit Verweis auf Linksextremismus. Beispiele für eine linksextreme Verortung finden wir in Italien 1 oder Spanien. In Spanien ist aus historisch gewachsenen politisch regionalen Gegensätzen diese Zuweisung entstanden: der linke katalanische FC Barcelona als Kontrahent des rechten, zentralistischen Espanyol. Die Rivalität zwischen FC Barcelona und Espanyol verstärkte sich während des spanischen Bürgerkrieges und den sich anschliessenden Jahren. FC Barcelona wurde Symbol für das unterdrückte Katalonien, während Espanyol als Vertreter des zentralistischen spanischen Regimes unter Franco galt. 2 In dem vorliegenden Beitrag richten wir uns auf Hooliganismus in den Niederlanden. Linksextreme Orientierungen und Äußerungen haben hier keine Bedeutung für den Fußball. Auch rechtsextremistische Gruppierungen haben kaum Einfluss auf die niederländischen Fußballfans, wenngleich historisch sehr wohl Fangruppen einiger Vereine dafür empfänglich waren.3 Das schließt nicht aus, dass Hooligans über Ideen und Denkweisen verfügen, die mit rechtsextremem Gedankengut verwandt sind; das ist wiederum nicht einzigartig für die Hooligans. Hinsichtlich Rassismus nehmen viele Hooligans eine ambivalente Position ein. Auf der einen Seite werden sehr wohl rassistische Auffassungen gepflegt, auf der anderen Seite sind sie Mitglied ethnisch gemischter Vereine, haben sie farbige Freunde und sind unter den Hooligans selbst die verschiedensten ethnischen Gruppen vertreten. Häufig sind sich die betroffenen Hooligans sehr wohl dieser Doppeldeutigkeit bewusst. Als Beispiele für verbale Gewalt gelten offiziell durch den KNVB (Koninklijke Nederlandse Voetbal Bond, das Pendant zum DFB) als solche cha1
2
3
Vgl. Antonio Roversi/Carlo Balestri: „Italian Ultras Today: Change Or Decline“, in: European Journal on Criminal Policy and Research 8 (2000), S. 183199. Vgl. Ramón F. J. Spaaij: Understanding Football Hooliganism. A comparison of Six Western European Football Clubs, Amsterdam: Amsterdam University Press 2006, S. 251-252. Vgl. Jaap van Donselaar/Peter Rodrigues: Monitor Racisme & Extreem Rechts. Zesde rapportage, Leiden: Anne Frank Stichting/Universiteit Leiden 2004, S. 68ff.
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ZUR POLITISCHEN DIMENSION DES HOOLIGANISMUS
rakterisierte Sprechchöre mit verletzenden, beleidigenden, bedrohenden, rassistischen oder diskriminierenden Texten, die von den Zuschauern während eines Spiels gerufen werden. Die Texte der Sprechchöre richten sich meist nicht auf individuelle Personen, sondern mehr auf die gegnerische Gruppe. Ausnahmen hiervon werden gemacht, wenn in den Augen der Fans ein Spieler sich provozierend verhält oder z.B. ein Schiedsrichter eine falsche Entscheidung fällt. Die Sprechchöre dienen vor allem der Ermutigung des eigenen Clubs, aber auch der Erniedrigung und Verspottung des Gegners. Rassistische und rechtsextremistische Texte dienen mehr der Provokation und sind weniger Ausdruck der politischen Gesinnung der jeweiligen Fangruppen. 4 So wird die historische Tatsache, dass Ajax früher einer der einflussreichen jüdischen Gemeinden in Amsterdam angehörte und vor allem viele ihrer Anhänger und Besucher aus der jüdischen Mittelklasse stammten, seit einiger Zeit von den gegnerischen Fans benutzt und als Provokation verwendet. Um Ajax als Gegner zu treffen, werden antisemitische Äußerungen kundgetan in Form des Hitlergrusses oder durch Rufe wie „wir gehen auf Judenjagd“ bzw. „Hamas, Hamas, Juden in das Gas“. Als Reaktion darauf präsentieren sich Ajax-Anhänger als ein Club von Juden und demonstrieren öffentlich ihre positive Identifizierung mit den Juden. Die Fans qualifizieren sich in Sprechchören selbst als die „Super-Juden“ („Ajax-Juden, Super-Juden, olee, olee“), selbst marokkanische Fans bezeichnen sich als solche, und sie gebrauchen Symbole wie den Davidstern und die israelische Flagge, um dies sichtbar zu machen. 5 Nationalismus spielt unter niederländischen Hooligans keine besondere Rolle. Im Rahmen von internationalen Wettkämpfen entstehen nur sehr selten Probleme mit niederländischen Hooligans. Für die meisten Hooligans gilt, dass ihre Identität eher regional als national bestimmt wird.
Voice, eine politische Aktion par excellence Die politische Deutung von Hooliganismus wird in der Regel aus der Perspektive der Politik vorgenommen und unterstellt eine damit verbundene Infragestellung oder Störung der inneren Sicherheit und Ordnung. Im Kontext von Fußballgewalt gelten Hooligans als ein Ordnungsproblem, im Kontext von Rechtsextremismus und Rassismus als Problem der inneren Sicherheit. Im ersten Fall wird die Ausübung von Gewalt meist mit der Lust auf Gewalt begründet, nur im zweiten Fall werden den Hooligans auch politische Motive zugeschrieben. 4
5
Vgl. Jan Nijboer/Martina Althoff: „Fußballgewalt und Hooliganismus in den Niederlanden“, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 3 (2006), S. 246-262. Vgl. J. van Donselaar/P. Rodrigues: Monitor Racisme & Extreem Rechts. 137
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Eine Frage, die bisher in der Forschung nur selten gestellt wird und noch unbeantwortet bleibt, ist, inwieweit aus Perspektive der Hooligans selbst (Gewalt)Handeln politische Dimensionen umfasst. In diesem Beitrag wollen wir versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. Wir wollen vorhandenes empirisches Material re-analysieren mit Hilfe des von Albert O. Hirschmans entwickelten Konzeptes von exit, voice and loyalty. Der Ökonom und Philosoph Albert O. Hirschman will die Prozesse erklären, wie es jeder Gesellschaft, und zwar nicht nur im ökonomischen Zusammenhang, gelingt, mit einer Reihe von dis-funktionalen Elementen zu leben.6 Dis-funktional kann das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder für die Gesellschaft sein, so dass es schließlich zu deren Verfall führt. Aus Perspektive der Gesellschaftsmitglieder kann dis-funktionales Verhalten dazu dienen, Unzufriedenheit auszudrücken. Anders formuliert stellt sich für Hirschman die Frage, wie Bürger ihr soziales Leben aktiv selbst gestalten und mitbestimmen können: Wie können Bürger die Kontrolle über ihr Leben (er)halten, wenn sie sich zugleich in einer Situation innerhalb der Gesellschaft befinden, in der sie dafür kaum Möglichkeiten haben bzw. kaum über die dafür notwendigen sozialen Ressourcen verfügen? Hirschman unterscheidet hier zwei Möglichkeiten: Exit, d.h. weglaufen und sich der Situation bzw. der Gesellschaft entziehen, oder voice, d.h. die Stimme erheben, protestieren, öffentlich eine (andere) Meinung vertreten und verkünden. Voice ist dabei die Form, um Unzufriedenheit gegenüber den Autoritäten auszudrücken durch generellen Protest, gerichtet an jeden, der zum Zuhören verpflichtet ist. 7 Dabei ist voice mehr als das Gegenteil von exit. Es ist ein allumfassendes Konzept, weil es sehr unterschiedliche Formen einnehmen kann: von ohnmächtigem Gemeuter hin zu gewalttätigem Protest. Es impliziert eine öffentliche Artikulation kritischer Meinung und nicht privaten und in der Anonymität formulierten Protest. In diesem Sinne versteht Hirschman voice als eine politische Aktion par excellence. 8 Voice ist der Versuch, einen Zustand zu verändern, indem durch individuelles oder kollektives Gesuch, durch Appell an eine höhere Autorität oder durch verschiedene Aktions- und Protestformen, inklusive solcher, die darauf zielen, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, intendiert wird, eine Veränderung zu erzwingen. 9 In diesem Sinne stellt sie eher eine Basisfunktion eines jeden politischen Systems dar als ein dis-funktionales Element der Gesellschaft. 6
7 8 9
Vgl. Albert O. Hirschman: Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, London: Harvard University Press 1970. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 30.
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Voice ist eine Handlungsoption, die für den jeweiligen Bürger Zeit und Anstrengung fordert und ihn in eine verletzbare Position bringt. In diesem Sinne ist voice nicht lediglich Ersatz für exit, sondern ein Mittel, um den als schlecht angesehenen Zustand aktiv zu verändern. Diejenigen, die Loyalität mit der Gemeinschaft empfinden, mit deren Zustand sie unzufrieden sind, wollen aktiv teilhaben an Aktionen, um die Gemeinschaft, ihre Politik und ihre Praktiken zu verändern. Voice ist ein Verhalten, das gerichtet ist auf Verbesserung und Veränderung. Die Wahl für die jeweilige Handlungsoption, exit oder voice, ist in starkem Maße abhängig von der Art der Motive: ökonomisch oder politisch. Ökonomische Motive erleichtern die exit-Option. Besteht Loyalität, dann wird im Falle von Unzufriedenheit die voice-Option gewählt. Wenn keine oder kaum Loyalität besteht, dann ist exit die Option, um Missfallen und Unzufriedenheit kund zu tun. Man könnte die exit und voice Optionen auch als Alternativen zwischen Flüchten und Kämpfen interpretieren, wobei das Vorhandensein von Loyalität einerseits exit weniger wahrscheinlich macht, andererseits der Handlungsoption voice mehr Bedeutung zuweist. 10 Hirschmans Konzept verweist darauf, dass das Vorhandensein einer dritten Variante, der Loyalität, einerseits die Möglichkeit zu voice verstärkt, andererseits die Gesellschaft stärkt und vorantreibt. Ein Mindestmaß an Loyalität führt dazu, dass Menschen sich nicht außerhalb der Gesellschaft stellen und diese sozusagen symbolisch verlassen, sondern ungeachtet ihrer Unzufriedenheit Vertrauen haben und Bindung besteht. Dabei darf jedoch nicht vernachlässigt werden, dass das Verfügen über bestimmte soziale Ressourcen und Mittel die Voraussetzung bildet, um voice als Handlungsoption überhaupt zu gebrauchen oder dies auf eine gesellschaftlich akzeptierte Weise zu tun. In diesem Sinne birgt das Konzept teilweise die Gefahr der Chancenungleichheit. Wenngleich auch diejenigen, die auf eine von den gesellschaftlichen Vorstellungen abweichende Art und Weise ihre Unzufriedenheit ausdrücken, z.B. durch gewaltsamen Protest, gehört werden. Eine Regel des vorgestellten Konzeptes ist folglich, dass Loyalität exit zurückhält bzw. den Wunsch danach mehr oder weniger neutralisiert und die Mitglieder länger Teil der Gemeinschaft bleiben.11 Dabei ist ein Paradox, dass Loyalität am funktionalsten ist, wenn sie am irrationalsten erscheint. Zum Beispiel dadurch, dass Loyalität eine starke Bindung an eine Organisation impliziert, die gerade diese Loyalität selbst nicht garantieren kann oder will.
10 Vgl. ebd., S. 77. 11 Vgl. ebd., S. 9. 139
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Solche scheinbar irrationalen Loyalitäten treten nach Hirschman 12 häufig auf in der Beziehung zu Clubs, Fußballmannschaften und politischen Parteien. Die Frage, der wir nun nachgehen wollen, ist, inwiefern man das Gewalthandeln der Hooligans auch als eine Form von Protesthandeln im Sinne von voice erklären kann. Ist Gewalthandeln der Hooligans politisches Handeln? Welche Funktion hat dabei die Fußballgewalt und was sind ihre politischen Dimensionen? Ist Hooliganismus eine Option im Sinne von voice und damit eine politische Handlung par excellence? Diese Fragen werden im folgenden bearbeitet. Wir wollen dabei zwei Niveaus unterscheiden, auf denen die politische Dimension der Hooligangewalt sichtbar wird. Beiden Dimensionen unterliegt der Spaß am Kämpfen bzw. die Lust auf Gewalt als eine Art Voraussetzung für die Gewaltbereitschaft. Zunächst aber erläutern wir, auf welchem empirischen Material unsere Analysen beruhen.
Empirisches Material Das empirische Material, das wir einer Re-Analyse unterzogen haben, besteht aus Feldnotizen teilnehmender Beobachtungen, qualitativen Interviews mit Hooligans und offiziellen Beschreibungen und Dokumentationen bedeutender Vorfälle und Ausschreitungen aus der jüngsten Geschichte der Gewalt von Hooligans in den Niederlanden. Dabei muss angemerkt werden, dass das hier zugrundeliegende empirische Material in einem anderen Forschungskontext und vor dem Hintergrund anderer Forschungsfragen gesammelt wurde. Das birgt Nach- aber auch zugleich Vorteile. So wurden einige der hier angeführten Interviewthemen von den Interviewern nicht explizit angesprochen, sondern von den Hooligans selbst thematisiert. Eine weitere Einschränkung ist, dass das empirische Material sich zum größten Teil auf einen niederländischen Fußballclub des bezahlten Fußballs, den FC Groningen, bezieht. Die teilnehmenden Beobachtungen werden seit dem Jahr 1999 vor allem während der Heim- und Auswärtsspiele des Vereins durchgeführt. Die qualitativen Interviews wurden mit männlichen Jugendlichen und jungen Männern geführt, die an Ausschreitungen innerhalb des Wohnviertels, in dem das Fußballstadion bis 2006 lokalisiert war, beteiligt waren oder für eine längere Zeit ein Stadionverbot auferlegt bekommen hatten und an einem Präventionsprojekt teilnahmen. Die meisten der Interviewten waren (junge) Männer im Alter zwischen 15 und 35.
12 Vgl. ebd., S. 81. 140
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Das empirische Material, das offizielle Beschreibungen und Dokumentationen bedeutender Vorfälle und Ausschreitungen aus der jüngsten Geschichte der Gewalt von Hooligans in den Niederlanden umfasst, ist den Ergebnissen der Untersuchungen des Audit-team voetbalvandalisme entnommen. Im Auftrag des Innenministeriums wurden hier Fälle extremer Fußballgewalt untersucht. 13
Gewalthandeln von Hooligans: Die Herstellung von Geltung innerhalb der Gemeinschaft Theoretisch nehmen wir an, dass Hooligangewalt die Möglichkeit bietet, um Geltung innerhalb eines sozialen Verbandes, innerhalb einer Gemeinschaft zu erhalten und um einem gewalttätigen maskulinen Stil Ausdruck zu verleihen, wobei Status, Reputation und Territorium entscheidende Elemente darstellen. Gewalthandeln von Hooligans, so betrachtet, kann als eine Form von voice interpretiert werden. Die Idee an sich, dass Gewalt der Herstellung von Männlichkeit dient, ist dabei nicht neu. In der Gewalt- und Genderforschung finden wir in diesem Kontext unterschiedliche Erklärungen von Gewalt. Marginalisierte junge Männer versuchen mit physischer Gewalt etwas einzulösen, das die Gesellschaft ihnen verwehrt. Gewalt wird eingesetzt, um Männlichkeit zu bewerkstelligen, um Männlichkeit zu verteidigen oder Männlichkeitsideale zu rekonstruieren, vor allem dann, wenn diesen Männern andere Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Gewalt stellt in dieser Interpretation eine funktionale Ressource marginalisierter Männer dar, um mangels anderer Machtmittel Männlichkeit auszudrücken. Nicht unproblematisch an dieser Erklärung ist, dass gewalttätiges Verhalten so ausschließlich durch die sozialstrukturelle Position bestimmt bzw. als eine Antwort darauf interpretiert wird. 14 Bei der Frage, wie sich dann die Anwendung von physischer Gewalt nicht marginalisierter Männer erklären lasse, wird konstatiert, dass Gewalt ganz allgemein die Möglichkeit bietet, Männlichkeit auszudrücken in Momenten, in denen an der allgemein unterstellten essentiellen Art von Männlichkeit gerüttelt bzw. diese in Frage gestellt wird (d.h. hier unabhängig von den jeweili-
13 Vgl. http://www.minbzk.nl/veiligheid/politie/voetbalvandalisme/publicaties/ein drapportage vom 19. April 2006. 14 Vgl. Jody Miller: „The strengths and limits of ‚doing gender‘ for understanding street crime“, in: Theoretical Criminology 6 (2002), S. 433-460, hier S. 439/S. 455. 141
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gen Ressourcen). Wenn besonderer Einsatz gefragt wird, um Männlichkeit zu demonstrieren, kann Gewalt einen Ausweg bieten bzw. das Resultat sein. 15 Entsprechend dieser Perspektive ist die Anwendung physischer Gewalt eine extreme Form der Ausübung von Männlichkeit, die in einem Kontext besonderer Erniedrigung stattfindet. Mangelnder Respekt, Beleidigungen der Person und Infragestellungen der Persönlichkeit können nur durch die Anwendung physischer Gewalt zurückgewiesen werden. Im ersten Fall wird Männlichkeit als Ursache von Gewalt beschrieben und stellt eine bewusst gewählte und verfügbare Männlichkeitsressource dar, im zweiten Fall dient Gewalt der Wiederherstellung einer erniedrigten Männlichkeit und der Herstellung einer männlichen Identität. In beiden Fällen wird Männlichkeit als Erklärung von Gewalt herangezogen. Gewalt dient der Herstellung hegemonialer Männlichkeit, was im ersten Fall unterstellt, Geschlecht sei die Ursache von Gewalt. 16 Im zweiten Falle wird Gewalt als potentielles Mittel und Ressource zur Herstellung von Männlichkeit betrachtet. Beide Perspektiven interpretieren Gewalt als Demonstration von Männlichkeit innerhalb eines spezifischen Kontextes. Dies bedeutet nicht, dass jegliches Handeln eines Mannes fast automatisch als doing masculinity zu begreifen ist. 17 Wenn alles, was Männer tun, männlich ist, jede Kriminalität von ihnen männlich ist, löst sich das Konzept Gender auf in Sex. Dies bedeutet viel mehr, dass gewalttätiges Handeln mit einem doing masculinity verbunden ist, was gleichermaßen für Männer wie Frauen gelten kann. 18 Wir wollen diesen Erklärungen eine dritte Dimension hinzufügen und argumentieren, dass im Gewalthandeln der Hooligans bzw. in der Gewalt im 15 Vgl. Willem de Haan: „Motieven van geweldplegers“, in: Kees Schuyt/Gabriël van den Brink (Hg.), Publiek Geweld, Amsterdam: Amsterdam University Press 2003, S. 48. 16 Vgl. Joachim Kersten: „Risiken und Nebenwirkungen. Gewaltorientierung und die Bewerkstelligung von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ bei Jugendlichen der underclass“, in: Susanne Krasmann/Sebastian Scheerer (Hg.), Die Gewalt in der Kriminologie, 6. Beiheft des Kriminologischen Journals, Weinheim: Juventa 1997, S. 103-114. James W. Messerschmidt: „From Patriarchy to Gender: Feminist Theory. Criminology and the Challenge of Diversity“, in: Nicole Hahn Rafter/Frances Heidensohn (Hg.), International Feminist Perspectives in Criminology. Engendering as Discipline, Buckingham: Open University Press, S. 167188. James W. Messerschmidt: Crime as Structured Action. Gender, Race, Class, and Crime in the Making, Thousand Oaks: Sage 1997. 17 Vgl. Michael Meuser: „Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ‚doing masculinity‘“, in: Gabi Löschper/Gerlinda Smaus (Hg.), Das Patriarchat und die Kriminologie, 7. Beiheft des Kriminologischen Journals, Weinheim: Juventa 1999, S. 49-65, hier S. 63. 18 Vgl. ausführlicher dazu Martina Althoff: „‚Bad woman‘ oder ‚one of the guys‘: Junge Frauen und Gewalt“, in: Christine Künzel/Gaby Temme (Hg.), Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen, Hamburg: Lit 2007, S. 232-247, hier S. 242-245. 142
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Fußballkontext sich (auch) ein Kampf um und der Ruf nach Anerkennung hegemonialer Männlichkeit und damit verbundener Werte ausdrückt, für die innerhalb der Gesellschaft kein Raum mehr ist, keine Achtung mehr besteht. Der Soziologe van Stokkom verweist darauf, dass traditionelle Möglichkeiten, um Männlichkeit zum Ausdruck zu bringen, gesellschaftlich begrenzt sind. 19 Nicht nur in den Veränderungen der Arbeitsformen, auch im familiären, privaten Bereich zeigen sich veränderte Verhaltens- und Erwartungsmuster: Von Männern wird erwartet, ein einfühlsamer Vater zu sein, feminines Verhalten zu zeigen, aufmerksam zu sein; sich verletzbar zeigen gilt mehr und mehr selbstverständlich auch für Männer. In einer solcherart femininen Umgebung wird es für Männer zunehmend schwieriger, männliche Autonomie zu erwerben bzw. Männlichkeit auszudrücken. Männlichkeit ist kaum noch mit patriarchalischen Erwartungen verbunden. Der patriarchalische Mann wird als alt, väterlich, schwach und korrupt dargestellt. Zugleich wird die männliche Identität zunehmend fragmentarisch. (Junge) Männer müssen verschiedene zum Teil gegensätzliche Erwartungen erfüllen. Die Dar- und Herstellung hegemonialer Männlichkeit wird in den Freizeitbereich verlegt, wozu vor allem der Sport, die Kneipe/Diskothek und Konzertevents zählen. Bereiche, in denen demonstrativ Männlichkeit zumindest für Momente dar- und hergestellt werden kann. Damit entsteht ein Männlichkeitsbild vom individuell operierenden Krieger, der sich im Sport-, Sexund Kneipenleben beweisen muss. 20 Dieser Supermann kehrt sich gegen die Hüter der gesellschaftlichen Ordnung und gegen die hohe Kultur,21 nicht als Selbstzweck, sondern um diese spezifische Genderidentität herzustellen und damit verbundene Werte zu verteidigen. Das Bild des Kriegers, wenngleich nicht als individualisierter Krieger, können wir in den Erzählungen der Hooligans wiederfinden. Nehmen wir das folgende Beispiel des Hooligans Alfons; er verweist auf die beinah unabdingbare und zwingende Verbindung von Fußball und Gewalt, hebt die positive Bedeutung, aber auch die Normalität der Gewalt hervor, und unterstreicht zugleich ihre Notwendigkeit und ihren legitimen Charakter. R: Es gibt schon einen Kick ja, Fußballgewalt, ich finde das gehört dazu, ja, es ist für mich normal geworden, weißt du … I: Du sagtest gerade, dass du damit aufgewachsen bist, meinst Du mit Freunden um dich herum, oder … R: Nein, eh mehr die 19 Bas van Stokkom: „Het mannelijke ego. Over onzekerheid, hoge eigendunk en agressie“, in: Justitiële Verkenningen 1 (2000), S. 48-60. 20 Vgl. ebd., S. 54. 21 Heinz Steinert: „Schwache Patriarchen – gewalttätige Krieger. Über Männlichkeit und ihre Probleme zwischen Warenförmigkeit, Disziplin, Patriarchat und Brüderhorde“, in: Joachim Kersten/Heinz Steinert (Hg.), Starke Typen. Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie, Baden Baden: Nomos 1996, S. 121157. 143
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Umgebung, du siehst es vor der Tür passieren, ich wohne hundert Meter vom Stadion, die Busse kommen an deiner Tür vorbei, die Pferde bedrängen dich, weißt du, du siehst es schon jahrelang und ich habe davon einen Tick behalten, es ist ein Punkt der wohl nicht ganz stimmt bei mir, aber eh es ist nicht normal, wie wir über Fußball denken, ja Fußball ist schon mein Leben, … aber es gehört einfach dazu. Ich könnte mir Fußball nicht vorstellen ohne Fußballgewalt und die Scherereien rund um das Stadion. Es gehört dafür zu lange dazu und es wird auch nie verschwinden.
Hooligans sehen sich selbst in erster Linie als fanatische Fußballfans, mit einer hohen Identifizierung mit dem Verein und der Bereitschaft, für diesen zu kämpfen. Die physische Konfrontation mit Fan-Gruppen der gegnerischen Vereine hat dabei eine große Anziehungskraft auf die Teilnehmer. Dabei geht es vor allem um territorialen Kampf. Kern des Territoriums ist das Fußballstadion, was zugleich auch das Zentrum des territorialen Kampfes bildet (zum Beispiel durch Versuche der Brandstiftung durch gegnerische Fußballfans). Jenseits des Fußballstadions wird das Zentrum der eigenen Stadt als Territorium betrachtet und der Zutritt rivalisierender Hooligans als Invasion interpretiert. Hooligans profilieren sich gerne als gute Kämpfer, die für ihren Verein und für ihre Stadt kämpfen, in dem Sinne, dass sie diese als ihr Territorium betrachten und im Zweifel verteidigen. Ist auch Erregung. Ist’n Kick. Bin nie ängstlich. Wenn du mit zehn Mann fünfzig gegenüberstehst, weißt du, dass du verlierst, aber da läufst du doch nicht weg. Dann lieber zusammenschlagen lassen. Bin nicht so zimperlich. Weiß für mich, dass ich eine Chance habe, auch wenn ich es mit zehn Mann aufnehmen muss.
Das Ziel der Konfrontationen zwischen den Hooligans ist nicht das Beschädigen oder das Zerstören des Gegners, sondern die Zurschaustellung von Macht, Status und Prestige. Status erhält man durch Kämpfen, Macht und Prestige durch Verjagen des Gegners. In vielen der Interviews finden wir immer wieder Hinweise auf die Bedeutung des territorialen Aspekts, der mit der Gewalt verbundenen Möglichkeit der Herstellung von Status und Legitimierungsversuche für die Gewaltaktivitäten. Wenn Niederlande im Krieg ist mit Irak, dann kämpfst du für dein eigenes Land. Wenn jemand in meine Stadt kommt. So sehe ich das. Ich sagte noch, fuck-off, ich flüchte nicht aus meiner eigenen Stadt, weißt du, das machst de einfach nicht, das ist ne Ehre. Das ist dein Stückchen Grund, was du verteidigen musst, und dann, dann haben wir losgelegt.
Die Beispiele verdeutlichen, dass die Akteure sich selbst eine große Legitimierung zuweisen: als diejenigen, die letztendlich autorisiert sind, diesen 144
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Kampf zu führen. Dazu passen das Bild des Soldaten und eine militärische Sprache (z.B. Invasion der feindlichen Clubs in der eigenen (Innen-)Stadt). Wir finden in den Interviews auch nostalgische Hinweise auf frühere Zeiten, in denen noch gekämpft werden konnte und in denen echte Krawalle noch möglich waren. Die gegenwärtig eingeschränkten Möglichkeiten der Ausübung von Gewalt durch erhöhte soziale Kontrolle des Fußballgeschehens und eine zunehmende Dramatisierung von Fußballgewalt werden beklagt. Sie bedeuten für die Betroffenen eine Einschränkung möglicher Gelegenheiten, diese Werte überhaupt noch leben zu können. Es gibt einfach zu viel Polizei im Moment. Im Prinzip ist gar nicht mehr viel möglich, vor zehn Jahren passierte viel mehr, früher war da nicht so viel Polizei – früher gab es noch echte Krawalle. Vor 15 Jahren gab es jede Woche eine Schlägerei und Messerstecherei. Ich wollte, ich wäre zehn Jahre früher geboren. Das gab’s viel mehr zu erleben.
In diesem Kontext fanden wir in den Interviews auch Äußerungen von Missgunst gegenüber der Polizei, die berufsmäßig sehr wohl legitimiert ist, physische Gewalt zu gebrauchen: Das wird wieder Schläge geben, sagen sie. Sie fangen einfach an zu lachen und so. Du siehst einfach, dass sie Spaß daran haben. Ja. Ich merk einfach, dass sie, ich mein die Polizei hat Spaß dran um … ja ’türlich, ’türlich. Sie dürfen so losschlagen ja. Is’dem Jungen seine Schuld. Sie dürfen, sie dürfen schlagen. Sie kriegen keine Anzeige. Aber wenn sie anfangen zu schlagen und du wirst gepackt. Ja dann bist du der Trottel. Also, sie dürfen Spaß daran haben. Dazu werden sie trainiert. Das ist ihre Arbeit und man hat doch Spaß bei der Arbeit, oder?
Gewalt von Hooligans ist nicht allein eine Inszenierung von Männlichkeit, sondern auch ein Ruf nach Anerkennung und Akzeptanz von als ur-männlich betrachteten und interpretierten Werten. Die kulturellen focal concerns einer hegemonialen Männlichkeit werden in einer zunehmend feminisierten Gesellschaft vermehrt in Frage gestellt. Positiv bewertet werden Körperlichkeit und physische Stärke nur noch als disziplinierte und ästhetisierte Körperlichkeit. Gewalt wird durch den Staat mehr und mehr monopolisiert und zugleich als Bestandteil von Männlichkeit zunehmend kriminalisiert. Das Gewalthandeln der Hooligans muss hier als Ruf nach Anerkennung hegemonialer Männlichkeit und damit verbundener Werte interpretiert werden. Das Gewalthandeln dient der Möglichkeit, Geltung innerhalb des sozialen Verbandes der Hooligans, aber auch innerhalb der Gesellschaft zu erhalten. Anders formuliert, der Ruf nach Anerkennung drückt sich im Gewalthandeln der Hooligans aus. Hooliganismus bietet zugleich aber einen der weni145
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gen sozialen Orte in der Gesellschaft, in der Gewalt als legitim und selbstverständlich betrachtet wird.
Gewalthandeln von Hooligans: soziale Kontrolle und Selbstjustiz Hooligangewalt kann des Weiteren als eine Form von Selbsthilfe interpretiert werden, die darauf zielt Situationen, die im Kontext von Fußball als ungerechtfertigt erfahren werden, zu berichtigen. Selbstjustiz gilt hier als Möglichkeit, um der Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen bzw. als Möglichkeit (regulierend) einzugreifen. Hooligans reklamieren für sich das Recht, ihrer Unzufriedenheit mit bestimmten Ereignissen oder Entwicklungen deutlich und wenn nötig mit Gewalt Ausdruck zu verleihen. Die Unzufriedenheit richtet sich gegen einzelne Parteien wie den Verein oder gegen die Medien, die z.B. feindliche Clubs unterstützen, gegen einzelne Spieler und ihr Versagen auf dem Spielfeld, gegen Fehler des Managements und zu weit gehende Beschränkungen des Clubs, gegen die Ausbreitung der internen Kontrolle durch Sicherheitsbeauftragte des eigenen Vereins oder gegen Hooliganrivalen, die das Territorium betreten. 22 Loyalität ist dabei – entsprechend Hirschmans Konzept der entscheidende Faktor, ob sie sich von dem Club abwenden oder aber Protest äußern. Diesen Protest in Form von Gewalthandlungen zu äußern, scheint in den Augen der Akteure legitim, was sich mit Black 23 folgendermaßen erklären lässt: A great deal of the conduct labeled and processed as crime in modern societies resembles the modes of conflict management … that are found in traditional societies that have little or no law (in the sense of governmental social control) … Much of the conduct is a punishment or other expression of disapproval, whether applied reflexively or impulsively, with coolness or in the heat of passion. Some is an effort to achieve compensation, or restitution, for a harm that has been done.
Der Rechtssoziologe Black verwendet das Konzept Selbstjustiz breiter als im juridischen Diskurs vorgegeben. Im Sinne Blacks stellt Selbstjustiz eine Form der sozialen Kontrolle dar, mit der Bürger nicht nur auf als deviant angesehenes Verhalten reagieren, sondern auch ungerecht empfundene Situationen zurechtrücken. Bürger nehmen das Recht in die eigene Hand, da kein Vertrauen mehr in eine adäquate Konfliktregelung seitens der Obrigkeit/des Rechtsstaa22 Vgl. Edward J. van der Torre/Ramón F.J. Spaaij: ‚Rotterdamse‘ hooligans. Aanwas, gelegenheidsstructuren en preventie, Alphen aan den Rijn: Kluwer 2003. 23 Donald Black: The Social Structure of Right and Wrong, revised edition, San Diego: Academic Press 1998, S. 31. 146
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tes besteht. Konflikthandhabung, Bestrafung oder Ausdruck von Missbilligung durch Mittel einseitiger Aggression stellen Formen von Selbstjustiz im Blackschen Sinne dar. Selbstjustiz ist demzufolge eine Form der informellen sozialen Kontrolle, die vor allem auftritt, wenn die offizielle Rechtshandhabung abwesend ist. Dies passiert vor allem dann, wenn politisch signalisiert wird, dass bestimmten Gruppen in der Gesellschaft kein Rechtsschutz gewährleistet wird. Der Übergang zu Formen von Selbstjustiz ist dann auch mit einem Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit, den Willen oder in die Unparteilichkeit der offiziellen Rechtshandhabung zu erklären. Vor allem das letzte finden wir in den Interviews mit den Hooligans wieder. So rechtfertigen die Groninger Hooligans ihre Gewalt mit Verweis auf die Parteilichkeit der Groninger Polizei. Die Groninger Polizei ist meistens gegen die Heimmannschaft. Wenn wir irgendwo hinfahren und das darf nicht auf eigene Anreise, werden wir zurückgeschickt. Wenn das bei einem anderen Club hier passiert, fängt die Polizei sie auf und bringt sie ins Stadion und schlägt unsere Jungs zurück.
Selbstjustiz kann jedoch nicht einfach als Form von voice aufgefasst werden. Selbstjustiz als voice interpretieren bedeutet, dass die folgenden Bedingungen erfüllt sein müssen: (1) Unrechtserfahrungen und der Appell an die Autoritäten (2) Loyalität (3) Öffentlichkeit und die Anwesenheit der Medien (4) Möglichkeiten der Veränderung
Unrechtserfahrungen und der Appell an die Autoritäten Ist das Gewalthandeln der Hooligans eine Form von Selbstjustiz, die durch voice als politische Aktion interpretiert werden kann, dann muss zunächst ein Gefühl der Unzufriedenheit über einen bestehenden Zustand oder über das Erfahren von Unrecht bestehen. Voice muss sich (direkt oder indirekt) an die Autoritäten und an die Macht richten, was im Übrigen nicht notwendigerweise verbal geschehen muss. Was erfahren Hooligans folglich als ungerechtfertigt, und welche Autoritäten sprechen sie darauf an? Als Legitimierungen für ihre Gewalt berufen sich Hooligans auf (ungeschriebene) Regeln und Gesetze. Provokationen sind ganz allgemein offene, bewusste Überschreitungen der bestehenden Regeln. Kennzeichen einer Provokation ist, dass jemand direkt und deutlich merken soll, dass sich nicht an die Regeln gehalten wurde. So provozieren Auswärtsspieler manchmal das heimische Publikum, mit dem Ziel, eine verwerfliche Reaktion herauszufordern. Auf diese Weise sind auch Spieler an einer provozierenden Regelüber147
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tretung beteiligt. Ein anderes Beispiel ist, dass das massenhafte Auftreten von Hooligans in einer anderen Stadt als eine Invasion wahrgenommen und als Provokation interpretiert wird, auf welche reagiert werden muss. Die Gegenpartei, die sich sichtbar und bewusst nicht an die Regeln hält, greift die Souveränität des Gastgebers an, und provoziert so eine öffentlich korrigierende Reaktion. Für jeden Club gibt es ungeschriebene Gesetze, …Wenn es um die normalen SchalJungens von PSV geht, dann wird wahrscheinlich auch niemand was sagen, die lässt man laufen, so ist es… aber wenn hier … auf der Terrasse 40-50 gut aussehende Jungs sitzen, voll mit Tätowierungen, voll mit allerlei anderen Dingen, auf so eine Terrasse sich setzten … Es läuft hier eine Gruppe von 50-100 Mann rum, die klar sind, um die Konfrontation anzugehen, die schluckt es nicht wenn hier Menschen von einem andern Club so rumlaufen, die verteidigt die Stadt und den Club.
Der Protest gegen ungerechtfertigtes Handeln oder einer ungerechtfertigten Zustand kann sich aber auch gegen andere im Kontext von Fußballwettkämpfen Beteiligte als die gegnerischen Clubs oder Hooligans richten. So richtet sich die Gewalt der Hooligans regelmäßig gegen die Art und Weise, wie z.B. die Transportgesellschaften (Bus oder Bahn) oder damit verbunden die (Bahn)Polizei mit ihnen umgehen. Verschiedene Vorfälle, wie z.B. im Kontext des Spiels zwischen Twente – Groningen (19. Januar 1992), Heerenveen – Vitesse (24. Januar 2004) und Feyenoord – Ajax (17. April 2005), bei denen Züge zerstört und in einem Fall (Twente – Groningen) sogar vollständig demoliert wurden, machen dies deutlich. Die Gewalthandlungen waren eine Reaktion darauf, dass die Züge – aufgrund eines Missverständnisses – vor dem Ende des Fußballwettkampfes wieder nach Hause geschickt wurden. Die Fans konnten dadurch dem Spiel nicht folgen und protestierten auf ihre Weise. Den Fanzug zurückschicken nach Groningen. Das war eine Provokation der Polizei. Wenn du zum Fußball willst und du wirst zurückgeschickt.
Wie oben schon ausgeführt, werfen Hooligans der Polizei nicht nur vor, Spaß an der Gewalt zu haben, sondern auch Richter zu spielen, parteiisch zu sein und selbst zu provozieren. Polizei misst mit zweierlei Mass. Auswärtsfans können hier alles. Gibt wieder Schläge sagen sie.
Durch das als unrechtmäßig erfahrene und beurteilte Auftreten der Polizei findet eine starke Form der Vergemeinschaftung statt. Die Reihen schließen sich sozusagen und ein Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird 148
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in Gang gesetzt. Dies kann zu einer Reaktion führen, die seitens der Hooligans als Selbstverteidigung gegen aggressives Polizeiauftreten betrachtet wird. 24 In einigen Fällen ist Hooligangewalt auch ein Protest gegen die Vereinspolitik. Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen Vorstandsmitglieder des Vereins unter Druck gesetzt werden, um Trainer zu entlassen oder gerade einzufordern, diese zu halten, so wie dies 2006 bei Ajax geschah. Bei der Huldigung von Ajax auf dem Leidscheplein in Amsterdam nach dem unerwarteten Erreichen der Vorrunde der Championsleague forderten die Fans das Auftreten und die Verantwortung des Ajax-Vorsitzenden Jaake, der es gewagt hatte, den beim harten Kern sehr beliebten Trainer Danny Blind zu entlassen. Jaake zeigte sich während der Huldigung nicht. Im Anschluss daran entstanden gewalttätige Ausschreitungen. Diese waren vielleicht nicht alleine ein Protest gegen den AjaxVorstand, aber die Entlassung des Ajax Trainers war der entscheidende Anlass, um öffentlich der Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.
Aber der Protest der Hooligans kann sich auch direkt gegen einzelne Spieler richten, wenn sie mit deren Spielverhalten, dem Einsatz oder der Qualität nicht zufrieden sind. Dies äußert sich nicht nur in verbalem Unmut während des Spiels, sondern kann auch zu Gewalttätigkeiten in Form von Vandalismus führen. So z.B. zerschnitten Hooligans die Reifen des Spielerbusses von FC Groningen im September 2002, bevor diese zum Spiel gegen Excelsior Rotterdam aufbrachen.
Loyalität Hirschmanns Konzept zufolge bestehen verschiedene Optionen, um Unzufriedenheit über einen bestehenden Zustand auszudrücken. Entscheidend für die voice-Option ist das Maß an Loyalität und Verbundenheit mit der Organisation oder dem sozialen Verband. Die Wahl der voice-Option setzt ein Minimum an Loyalität voraus, ohne diese würden Menschen die exit-Option wählen, d.h. den sozialen Verband verlassen. Gerade bei Vereinigungen, Fußballclubs, oder aber politischen Parteien finden wir, so Hirschmann, scheinbar irrationale Loyalitäten. Die Loyalität der Hooligans mit dem Club kann so wie sich zeigen wird zu Ambivalenzen führen. Hooligans entwickeln Loyalitäten in verschiedenen Zusammenhängen. Zum einen Loyalität mit den eigenen Fans, der eigenen Gruppe, die unter keinen Umständen im Stich gelassen werden darf. Des weiteren ist die 24 Vgl. Clifford Stott/Steve Reicher: „How Conflict Escalates: The Inter-Group Dynamics of Collective Football Crowd ‚Violence‘“, in: Sociology 32 (1998), S. 353-377. 149
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Loyalität groß mit dem eigenen Club und der eigenen Stadt oder Region. Loyalität kann dabei manchmal extreme Formen annehmen. Groningen ist alles. Es geht um meinen Club. Is meine Stadt […] Menschen kommen nicht für die Krawalle, aber ihr Herz liegt so dicht bei dem Club. Meine Emotionen sind ebenso hoch wie die anderer Fans, aber wir haben mehr Aggression. Wollen dafür kämpfen.
Die extrem hohe Loyalität des harten Kerns der Hooligans mit dem eigenen Verein führt häufig zu einem gespannten und ambivalenten Verhältnis mit der Clubleitung. Einerseits ist der Club abhängig von diesen Fans. Andererseits sind die Fans sich sehr wohl bewusst, dass sie durch ihr Verhalten den Club auch in Schwierigkeiten bringen. Die Loyalität, wie irrational sie auch manchmal scheint, erlaubt dem harten Kern in keiner Weise, den Verein im Stich zu lassen. Die exit-Option steht ihnen in diesem Sinne nicht zur Verfügung. Wir sind viel zu emotionell. Wenn Groningen verliert. Das hat mit Emotionen zu tun. Dann kann ich den ganzen Tag drüber sauer sein. Du lebst die ganze Woche danach. Macht natürlich auch was aus, wie sie verlieren. Wenn sie nichts tun, ist es noch schlimmer. Wenn sie von Ajax verlieren, aber gut spielen, ist es nicht so schlimm.
Öffentlichkeit und Anwesenheit der Medien Die Frage nach dem öffentlichen Charakter ist schwieriger zu beantworten. Zum Teil spielt sich die Gewalt der Hooligans gerade im Verborgenen ab, dadurch, dass versucht wird, diese möglichst vor den Augen der Polizei zu verbergen. Gewalthandeln der Hooligans als voice zu beschreiben, impliziert jedoch, dass es hier um öffentlichen und nicht heimlichen Protest geht. Die Medien übernehmen dabei eine wichtige Funktion, wobei die Beziehung der Hooligans zu den Medien ambivalent ist. Einerseits besteht kein gegenseitiges Vertrauen und Einvernehmen. Manchmal werden sogar Kamerateams oder Fotografen angegriffen, auch aus Angst, dass deren Bilder für eine strafrechtliche Verfolgung hilfreich sein können. Den Medien wird vor allem vorgeworfen, dass sie eine einseitige Berichterstattung haben und unbedeutende Vorfälle überzeichnen und unnötig dramatisieren. Andererseits sind Hooligans im Zusammenhang mit erfolgreich durchgeführten Gewaltaktionen besonders interessiert an der Aufmerksamkeit der Medien. Hooligans wissen, dass sie die Medien nötig haben, um überhaupt
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beachtet und gehört zu werden. Öffentlichkeit ist in diesem Sinne ein entscheidender Faktor, der den Gewalthandlungen besondere Bedeutung verleiht. Schau, das sind einfach Lügen gewesen. Mein Anwalt hat das zeigen können, aber sie haben da nichts mit gemacht. Der Junge hatte einen Kratzer hinterm Ohr von einem Zentimeter. Das kann durch einen Gürtel passiert sein, durch einen Ring, einen Nagel, was weiß ich. Alles kann passiert sein, also es gab hier keinen schwer verwundeten Fall. Aber ich bin stolz auf die Krawalle. Ich fühle mich gut, ich rede da auch ausführlich drüber, ja wie ich darüber rede ja ich bin einfach stolz drauf … Ganz Niederland hat das sehen können. In den Nachrichten überall war es drin.
Möglichkeiten der Veränderung Bestehen andere Ressourcen und Möglichkeiten für Hooligans, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken? Und welches Ausmaß an Vertrauen besteht seitens der Hooligans darauf, dass sie etwas verändern können? Hooligans sind sich sehr wohl der eigenen Macht bewusst bzw. der Macht der Gruppe. Sie wissen, dass sie allein gehört werden, wenn sie die Medien mobilisieren können, und dass dies im Normalfall den Einsatz von Gewalt bedeutet. Manchmal wird sogar bewusst auf Gewalt verzichtet, wenn sie meinen, so für den Club Schaden zu vermeiden. In diesem Sinne sind Hooligans davon überzeugt, dass sie durch voice Veränderungsprozesse einleiten können, die Zustände betreffen, mit denen sie nicht einverstanden sind. Der normale Fußballfan hat kaum Möglichkeiten, durch den Club oder deren Vorstand gehört zu werden. Die vielen Beispiele haben gezeigt, das Hooligans durch ihre Aktionen sehr wohl Einfluss nehmen können, zumindest indirekt durch den darüber artikulieren Protest. Sie sind sich ihrer Macht, die nicht nur an die Androhung von Gewalt gekoppelt ist, sehr wohl bewusst. Sie wissen, dass sie den Verein oder die Autoritäten unter Druck setzten, Dinge beeinflussen können. Gewalt ist in ihren Augen dabei manchmal das einzig effektive Mittel, um Dinge zurecht zu rücken oder zu verändern. Das Gefühl von das regeln wir doch mal eben zusammen. Macht. Als Gruppe. Du denkst auch, dass es so viele sind, dass du selbst nicht erwischt wirst.
Schluss Die politische Dimension des Hooliganismus lässt sich als Form der Vergemeinschaftung verstehen, bei der Gewalt eine Handlungsoption im Sinne von voice darstellt. In diesem Kontext erhält Gewalt zweierlei Bedeutung. Gewalt ist zum einen ein Mittel, um Solidarität untereinander und damit verbunden Geltung innerhalb der Gemeinschaft zu erhalten. Dies drückt sich aus im Ruf nach Anerkennung hegemonialer Männlichkeit und damit verbundener Werte. 151
MARTINA ALTHOFF/JAN NIJBOER
Gewalt ist hier ein Mittel, um sich selbst dar- und herzustellen, als Krieger und Kämpfer, aber auch um deren Anerkennung zu kämpfen. Insofern kann gewalttätiges Handeln der Hooligans als eine Form des Protests gegen die Gesellschaft verstanden werden, die diese Werte und damit verbundene Männlichkeitsvorstellungen nicht zulässt bzw. diesen keinen sozialen Raum in der Gesellschaft zuweist. Gewalt ist zum anderen ein Mittel, um Protest im Fußballkontext zu äußern. Hooligans reklamieren für sich das Recht und fühlen sich dazu berufen, etwas verändern zu wollen oder zumindest Unzufriedenheit mit bestimmten Ereignissen oder Entwicklungen ihres Clubs Ausdruck zu verleihen. Das Gewalthandeln stellt in diesem Sinne soziale Kontrolle in Form von Selbstjustiz dar. Gewalt kann dann eine funktionale Bedeutung erhalten. Der mit dem Gewalthandeln verbundene Protest ist abhängig von Öffentlichkeit, und es bestehen kaum andere Mittel, um diesem Protest Ausdruck zu verleihen. Gewalt findet so in einem sich selbst verstärkenden Prozess statt, den eine ausgeprägte Loyalität mit der Gemeinschaft nährt bzw. der ohne diese nicht möglich wäre. Die vorliegenden Ausführungen geben dem Gewalthandeln von Hooligans – das üblicherweise als verwerflich und negativ gezeichnet wird – eine andere Bedeutung. Die Gewaltaktivitäten als politisches Handeln im Sinne von voice zu begreifen bedeutet, dass diese nicht (nur) disfunktional für die Gemeinschaft sind. Gewalttätiger Protest bedeutet nicht nur Anstrengung und Risiko für den Handelnden. Voice beruht auch oder gerade auf Loyalität mit der Gemeinschaft und zeigt ein Potential an Handlungswillen, um auf die Gemeinschaft und ihre Praktiken aktiv Einfluss zu nehmen. Das Gewalthandeln der Hooligans lässt sich so als Bestandteil von Vergemeinschaftungsprozessen interpretieren, da es auch die Möglichkeit der Veränderung vorsieht.
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Vom ‚Bolzplatz‘ zum ‚Fußballtempel‘. Was sagt die Architektur der neuen Fußballstadien über die Gesellschaft der Gegenwart aus? MARKUS SCHROER
Fußball ist nicht nur ein sportliches, sondern immer auch ein räumliches Ereignis. Zum einen deshalb, weil durch die Aktivitäten der Spieler, den Spielaufbau und das Spielsystem ein Raum geschaffen wird, der sich aus den jeweiligen Abständen der Spieler zueinander, ihren Positionen, ergibt, die sich im Laufe des Spiels verändern, indem Räume „eng“ oder „weit“ gemacht werden – denn wie in jedem anderen Sport wird auch hier um Raum gekämpft. Zum anderen deshalb, weil der Fußball an einem bestimmten Ort stattfindet. Das kann eine beliebige Rasenfläche, ein Schotterplatz, ein geteerter Hinterhof oder auch ein Stück Brachland sein. Das kann aber vor allem auch – zumal im Profifußball – ein Stadion sein. Im Gegensatz zum Hinterhof, der nur so lange ein Fußballfeld ist, wie ein paar Kinder oder Jugendliche mit einem Ball auf zwei provisorisch errichtete Tore schießen, steht das Stadion als architektonisches Monument auch dann unübersehbar im Raum, wenn gerade kein Fußball gespielt wird. Zwar muss schon aus ökonomischen Gründen für eine möglichst effiziente Auslastung gesorgt werden, doch gegenüber seiner funktionalen Nutzung erlangt es als architektonisches Artefakt auch ein nicht zu unterschätzendes Maß an Selbstständig- und Unabhängigkeit. Gerade in den letzten Jahren – vor allem auch im Kontext der Vorbereitung und Durchführung der Weltmeisterschaft in Deutschland – haben die Stadien eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im Mittelpunkt der Inszenierungen des Sports stehen offensichtlich nicht mehr länger nur das Spiel, die Spieler, der Trainer und die Fans, sondern zunehmend auch der Ort des Geschehens: die Stadien.1 Während in der Vergangenheit 1
Vgl. Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen: Anabas 1976; John Bale: Sport, 155
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bestimmte Orte durch herausragende fußballerische Ereignisse ihre Bedeutung erst in der Rückschau erlangten und zum Teil zum Mythos wurden, stehen die heutigen Stadien gleich zu Beginn im Zentrum des Geschehens, gleichsam in Erwartung kommender Großereignisse. Einstmals als bloße Kulisse eines sportlichen Ereignisses verstanden, gerät damit mehr und mehr der Austragungsort der (Fußball-)Spiele in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der gewissermaßen selbst zum Akteur stilisiert wird. Der klassische Fußballplatz ist so wenig eine neutrale Bühne für das Spiel wie die moderne Fußballarena. Die räumlichen Gegebenheiten haben Auswirkungen auf das Spiel und die Spieler, die von diesen nicht kontrolliert werden können. Der Auffassung, dass das Stadion ein Raum ist, in dem sich etwas abspielt, tritt damit die Vorstellung hinzu, dass der Raum selbst zur Gestaltung und zum Ablauf des Spiels beiträgt. Diese aktive Rolle des Stadions gestalterisch und technisch zu ermöglichen, ist längst Teil der Erwartungen an eine gelungene Stadionarchitektur. Nicht nur die Art des Spielaufbaus, die Spielerfiguren, die Fans, die Trainergestalten und ihre Spielauffassung sagen insofern etwas über Gesellschaft insgesamt aus, sondern auch die jeweiligen Räume, in denen Fußball zelebriert wird. Während sich die internationale Fußballliteratur den ersten Aspekten immer wieder gewidmet hat, wurde die Thematisierung der Räumlichkeiten des Sports lange Zeit über eher vernachlässigt 2 – parallel zur Vernachlässigung des Raums in den Sozialwissenschaften insgesamt. 3 Die folgenden Überlegungen über die Bedeutung des postmodernen Stadions für die gegenwärtige Gesellschaft verstehen sich als Beitrag dazu, den Faktor Raum stärker in sportsoziologische Betrachtungen mit einzubeziehen als dies bisher der Fall war. Dabei gilt die Aufmerksamkeit insbesondere dem Aufstieg des Stadions zu einem architektonischen Vorzeigeobjekt der Länder und Kommunen, an dem – so die These des folgenden Beitrags – einige charakteristische Merkmale unserer Gesellschaft sichtbar werden.
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Space and the City, London, New York: Routledge 1993; Michelle Provoost (Hg.): The Stadium. The Architecture of Mass Sports, Rotterdam: Nederlands Architectuurinstituut 2000; Matthias Marschik u.a. (Hg.): Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien: Turia & Kant 2005. Vgl. Bernhard Boschert: „Der Sport und der Raum – der Raum des Sports“, in: SportZeit 2 (2002), S. 19-37. Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.
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1. Sport und Raum: Von Arenen, Bahnen und Stadien Der Sport wird in der Soziologie unter den verschiedensten Gesichtspunkten behandelt: Bei Norbert Elias 4 erfährt man etwas über den Zusammenhang von Zivilisation und Sport, bei Pierre Bourdieu 5 über den Zusammenhang zwischen der Wahl einer Sportart und der entsprechenden Klassenzugehörigkeit; es gibt Studien über die Strukturen und den Wandel der Vereine, Untersuchungen zu neuen Entwicklungen wie dem Erlebnis- und dem Risikosport 6 und vieles mehr. Eher selten jedoch wird über die Beziehung des Sports zum Raum nachgedacht. Dabei handelt es sich beim Sport um eine durchaus raumgreifende und raumkonstituierende Praxis, die von Anfang an auch die Architektur auf den Plan gerufen hat. Für sportliche Aktivitäten werden Hallen, Bahnen, Arenen, Schanzen und Stadien gebaut. Es gibt kaum eine Sportart, die sich nicht mit der Vorstellung eines spezifischen Raums verbinden würde. Ja, mehr noch: Erst durch entsprechende organisatorische und räumliche Arrangements wird ein bestimmtes Tun als sportliche Handlung anerkannt. Im Wald vor der Haustür ist es Joggen, in der Arena Laufen; im alltäglichen Verkehr gilt das Auto fahren nicht als Sport, bei einem offiziellen Autorennen schon. Der Beispiele wären viele. Entscheidend ist: Die für die Herausbildung der Moderne so elementare funktionale Differenzierung ist bisher noch viel zu wenig als zunehmende Separierung von Räumen gedacht worden, die gerade auch an der Entwicklung des Sports aufgezeigt werden könnte. In unserer aktuellen Gegenwart können wir beobachten, dass neue Stadienbauten zu Prestigeobjekten der Städte werden, mit denen sie sich international in Szene zu setzen versuchen, was mit enormen Kosten verbunden ist: Die Baukosten für die neuen Stadien belaufen sich für das Berliner Olympiastadion auf 242 Mio. Euro, für das Dortmunder Westfalenstadion auf 32 Mio., für das Frankfurter Waldstadion auf 126 Mio., für die Gelsenkirchener Arena Auf Schalke auf 186 Mio., für das Hamburger Stadion auf 97 Mio., für Hannovers Niedersachsenstadion auf 67 Mio., für Kaiserslauterns Fritz-WalterStadion auf 53 Mio., für das Kölner Stadion auf 119,5 Mio., für das Leipziger Zentralstadion auf 116 Mio., für das Münchener Stadion auf 340 Mio., für das
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Norbert Elias/Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Pierre Bourdieu: „Programm für eine Soziologie des Sports“, in: Ders., Reden und Schweigen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 193-207; Pierre Bourdieu: „Historische und soziale Voraussetzungen des modernen Sports“, in: Ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 165-186. Karl-Heinz Bette: „Risikokörper und Abenteuersport“, in: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 295-322. 157
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Nürnberger Stadion auf 56,2 Mio. und für das Stuttgarter Gottlieb-DaimlerStadion auf 51,3 Mio. Euro. 7 Bei der Vorbereitung auf die WM 2006 sind wir Zeuge eines regelrechten „Wettrüstens“ zwischen den beteiligten Städten geworden – zumal es Investitionen einzelner Städte gegeben hat, deren Stadien aber am Ende von der FIFA nicht als Austragungsort der Weltmeisterschaft 2006 ausgewählt wurden. Nun haben – schon aufgrund der langen Geschichte der politischen Instrumentalisierung des Sports – auch in der Vergangenheit Sportanlagen zu den Prestigebauten zahlreicher politischer Regime gehört. Doch dass der Sportbau mehr und mehr von der ersten Garde der internationalen Architekturszene dominiert wird, scheint eher ein neues Phänomen zu sein. Die Liste reicht von Arata Isozakis Eisstadion für die Winterspiele 2006 in Turin bis zu den Plänen für das National Stadium in Peking von Herzog & de Meuron für die Olympischen Spiele 2008, von Norman Fosters Neubau des Wembley Stadiums bis zu Zaha Hadids Entwurf eines Aquatic Centre für die Austragung der Spiele 2012 in London.8 Dass Stararchitekten mit dem Bau der Sportanlagen betraut werden, verschafft den Städten, die oft gemeinsam mit Vereinen und Unternehmen als Finanziers auftreten, die dringend benötigte öffentliche Aufmerksamkeit, um sich als attraktiver Standort für lukrative Unternehmen und als lohnendes Reiseziel für zahlungskräftige Touristen zu empfehlen. Zwar bricht der Sport auch aus seinen institutionalisierten Räu-
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Vgl. Stefan Diener/Ingo Partecka: Faszination Stadion 2006. Die WM-Stadien. Geschichte – Porträts – Ausblick, Brühl: Stadionwelt 2005. Die unterschiedlichen Summen kommen nicht zuletzt dadurch zustande, dass es sich in einigen Fällen um Umbauten (z.B. Dortmund) und in anderen um komplette Neubauten (z.B. München) handelt. Im Zuge des Um- oder Neubaus haben sich auch die Namen der Stadien verändert. Sie tragen nunmehr zumeist den Namen des Hauptsponsors, so dass etwa das Frankfurter Waldstadion nunmehr „Frankfurter Volksbank Stadion“, das Dortmunder Westfalenstadion „Signal Iduna Park“, das Schalker Stadion „Veltins-Arena“ und das Münchner Stadion „AllianzArena“ heißen. Vgl. Regina Prinz/Hilde Strobl: „Sportkultur – Kultarchitektur“, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur+Sport. Vom antiken Stadion zur modernen Arena, Wolfratshausen: Architekturmuseum der TU München 2006, S. 119. Vgl. dazu auch folgende Beobachtung: „Die Architekturgeschichte des modernen Stadions ist kurz und wenig beeindruckend. Wenn die Anzeichen nicht trügen, dann ist es damit vorbei. Dann ist das Stadion im Begriff, die Kultarchitektur des jungen 21. Jahrhunderts zu werden. Rechtzeitig zum Jahrtausendwechsel 2000 hat der Stadionbau den Museumsbau als den bevorzugten Prestigebau des 20. Jahrhunderts eindeutig abgelöst – genauso, wie die Opern, Theater und Bahnhöfe, die architektonisch das 19. Jahrhundert prägten und als die Tempel der einbrechenden modernen Zeiten galten, von Kunstmuseen verdrängt worden waren.“ (Jan Tabor: „Olé. Architektur der Erwartung. Traktakt über das Stadion als Sondertypus politischer Gestaltungsbauten (Fragment)“, in: M. Marschik u.a. (Hg.), Stadion, S. 49-88, hier S. 49)
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men aus und sucht sich Aktivitätsräume, die nicht eigens für ihn geschaffen, sondern durch alternative Nutzungen charakterisiert sind.9 Doch bei der gegenwärtigen Überbetonung dieser Entwicklung wird der für unsere unmittelbare Gegenwart ebenso charakteristische Aufbau von aufwendigen Spielstätten vernachlässigt, die eigens für sportliche Aktivitäten geschaffen werden. Dabei ist erstens an die enorme Bautätigkeit zu denken, die dem Aufbau neuer Golfplätze gewidmet wird. Komplette Landschaften werden umgekrempelt, um sie in gepflegte Rasenanlagen umzuwandeln. Dabei ist zweitens an die neuen Formel 1-Rennbahnen zu denken, die in den letzten Jahren zu den traditionellen Strecken hinzugetreten sind (Türkei, Bahrain, China) und anders als ihre Vorgänger auch unter architektonischen Gesichtspunkten wahrgenommen werden. Erst seit kurzem ist der Bau einer Formel 1-Rennstrecke zum prestigeträchtigen Auftrag für Architekten geworden. Der Name Hermann Thielecke, dessen Aachener Architekturbüro für die meisten der neuen Formel 1-Strecken verantwortlich ist, ist bei Motorsportfans inzwischen durchaus geläufig. Die Präsentation der neuen Strecken gehört längst zum festen Bestandteil der zu jeder Formel 1-Saison erhältlichen Sonderhefte diverser Sportzeitschriften. Und drittens schließlich ist vor allem an die Stadionbauten für den Fußball zu denken. Weltweit genießt der Neubau von Fußballstadien eine große öffentliche Aufmerksamkeit, die in früheren Dekaden noch undenkbar gewesen wäre. Es geht längst nicht mehr nur um den Sport an sich, der vor beliebiger Kulisse stattfindet. Vielmehr wird den Spielstätten des Wettkampfes, den Arenen und Stadien, eine Aufmerksamkeit geschenkt, die den Ort des Geschehens nicht zu einem bloßen Austragungsort degradiert, sondern gewissermaßen als eigenen Akteur ins Blickfeld rückt. Berichte über Bauvorhaben, langjährige Planungen und Änderungen, etwaige Pannen, das entsprechende architektonische Ergebnis und die Atmosphäre bei Inbetriebnahme füllen unsere Feuilletons. Auch die jeweiligen Kommentatoren der Spiele lassen sich immer wieder über die Atmosphäre in den neuen Stadien und deren Architektur aus. Und so wenig wie der Bericht über eine Plenarsitzung des Deutschen Bundestages mehr ohne den Kameraschwenk auf das Kuppeldach auskommt, so wenig mehr kann man sich die TV-Übertragung eines Fußballspiels ohne eine Luftaufnahme des entsprechenden Stadiums vorstellen, das in seinen Dimensionen umkreist wird, ehe die Kamera durch das Dach hineintaucht, um schließlich auf dem Grün zu landen, auf dem der Zuschauer von einem Moderator in Empfang genommen wird, wobei hinter ihm die voll besetzten Zuschauerränge zu sehen sind, die die Atmosphäre im Stadion für den Fernsehzuschauer an den Bildschirmen zumindest erahnen lassen sollen – unterstützt durch die entsprechende Akustik.
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Vgl. Karl-Heinz Bette: Systemtheorie und Sport, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 192ff. 159
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2. Vom Einzug der Grenzen: Von der „Kampfbahn“ zum Stadion Bevor wir uns der Frage zuwenden können, was der moderne Stadionbau über die gegenwärtige Gesellschaft aussagt, müssen wir zunächst die prinzipielle Frage stellen, was man sich unter einem Stadion überhaupt vorzustellen hat? Bei dem Wort Stadion handelt es sich zunächst um die griechische Bezeichnung für die 192,27 Meter lange „Kampfstrecke“ zwischen Start und Ziel. Diese Strecke hat sich nach und nach in eine ovalförmige Bahn verwandelt, die von Tribünen umgeben ist, denen in jüngster Zeit eine Dachkonstruktion hinzugefügt wurde, so dass wir insgesamt von einer Entwicklung von der offenen zur geschlossenen Form sprechen können: „Könnte man die Geschichte des modernen Stadionbaus als Video im Schnelldurchlauf betrachten, würde eine langwierige und kontinuierliche Einschließung der Masse sichtbar. Diese Bewegung – wie eine Auster, die sich langsam schließt – wird symbolisch durch jene Schiebedächer wiederholt, mit denen die neuesten Stadien seit den 1990er Jahren ausgestattet sind.“ 10 Wenngleich es sich bei dieser zunehmenden Verkapselung der Stadien um einen allgemeinen, global zu beobachtenden Trend handelt, so ist die moderne Stadienarchitektur dennoch alles andere als homogen. Sieht man sich den gegenwärtigen Stand der Entwicklung von Fußballstadien an, so haben wir es auf der einen Seite mit einer ganzen Reihe wiederkehrender Elemente zu tun, auf der anderen Seite aber auch mit deutlichen Differenzen. So verfügen z.B. einerseits zwar alle 12 für die WM 2006 in Deutschland gebauten bzw. umgebauten Stadien über teure Dachkonstruktionen, gewaltige Tribünen, überdimensionale Screens, verglaste VIPLounges und zahlreiche Kamerastandpunkte. Andererseits aber verfügt etwa das Münchner Stadion über 106 VIP-Logen, das Dortmunder Stadion dagegen nur über 11. In Dortmund gibt es dagegen noch rund 27.000 Stehplätze, während das Münchner Stadion – einem globalen Trend folgend – ausschließlich Sitzplätze aufweist. Insofern sind zwischen den Stadien auch regionale Unterschiede erkennbar, die bereits bestehende Differenzen zwischen einzelnen Städten weiter verfestigen, etwa im Sinne des Image-Unterschieds zwischen der „Arbeiterstadt Dortmund“ und der „Schicki-Micki-Stadt München“. Was alte und neue Stadien aber grundsätzlich miteinander verbindet, ist, dass jedes Stadion grundsätzlich drei Räume miteinander konfrontiert: a) einen Innenraum, in dem das jeweilige – meist sportliche – Ereignis stattfinden soll, b) einen Zuschauerraum, der als Tribüne den Innenraum umschließt und c) einen bis an das Stadion angrenzenden Umgebungsraum. Wir haben es also sowohl mit einer Grenze nach außen als auch mit einer Grenze im Inneren des
10 Camiel van Winkel: „Tanz. Disziplin, Dichte und Tod. Die Masse im Stadion“, in: M. Marschik u.a. (Hg.), Stadion, S. 229-257, hier S. 251. 160
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Stadions zu tun. Der Charakter eines jeden Stadions ergibt sich nicht zuletzt aus der Betonung oder der Abschwächung dieser Grenzen.11 Wenn man sich nun den Wandel dieser Grenzen genauer ansieht, so muss man zum Schluss kommen, dass sie sich in den letzten 100 Jahren stark verändert haben. Die für die Anfänge des Stadionbaus in Deutschland typischen ‚Erdstadien‘ betonen noch nicht den Unterschied zwischen Zuschauerraum und Umgebungsraum, die eher fließend ineinander übergehen. Sie sind in die Erde eingelassen, haben keine steil aufragende Außenfassade, die letzten Reihen der Tribünen befanden sich vielmehr auf Bodenhöhe. Gleichzeitig ziehen sie die Grenze zwischen Innenraum und Zuschauerraum weit auseinander, indem multifunktionale Stadien gebaut werden, die Turnplätze, Schwimmbahn, Lauf- und Radrennbahn im Innenraum versammeln und dadurch eine große Distanz zwischen Innen- und Zuschauerraum schaffen. Was die fließenden Grenzen angeht, so unterscheiden sich die ersten Stadien noch kaum vom auch heute noch vorzufindenden einfachen Fußballplatz, der weder unüberwindliche Barrieren zwischen Spielern und Zuschauern aufbaut noch eine starke Abgrenzung zum Umgebungsraum aufweist. Parallel zur neuen Gigantomanie im modernen Stadionbau erfreut sich auch der schlichte Fußballplatz eines gesteigerten Interesses, das sich unter anderem in entsprechenden Fotobänden niederschlägt. 12 Die dort zu sehenden Fotos von Fußballplätzen erinnern zum einen in durchaus nostalgischer Weise an eine im Verschwinden begriffene Welt und machen zum anderen auf die Schlichtheit und Einfachheit des Spiels aufmerksam, das beinahe voraussetzungslos gewissermaßen überall gespielt werden kann und tatsächlich ja auch gespielt wird. Im krassen Gegensatz zur Schlichtheit der oftmals nur provisorischen Plätze und im Gegensatz zu den kaum vorhandenen Grenzen zwischen Umgebungsraum und Zuschauerraum und den nur schwach eingezogenen Grenzen zwischen Zuschauerraum und Fußballfeld, geht der Trend bei den neuen Stadien genau umgekehrt dahin, die Grenze zum Umgebungsraum ebenso stark zu betonen wie die zwischen Innenraum und Zuschauerraum, die gewissermaßen unmittelbar aneinander anschließen. Die Möglichkeit, vom nächsten Baum aus oder vom Balkon nahe gelegener Häuser das Spiel zu verfolgen, wie man dies bei Abbildungen früherer Stadionbauten sehen kann, besteht bei den modernen Stadien nicht mehr. Ihre Abschottung gegenüber dem Umgebungsraum ist dafür zu radikal. Der betonte Abschluss nach außen erfolgt dabei vor allem durch die vertikal steil ansteigenden Tribünen, die das Stadion von außen wie ein wehrhaftes Bollwerk erscheinen lassen, in das Einlass zu erhalten nicht ohne weiteres 11 Vgl. Per Leo: „Das Stadion“, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, New York: Campus 2005, S. 151-160, hier S. 152. 12 Rainer Sülflows: Fußballplätze in Deutschland. Football Pitches in Germany, Burgwedel: M&S Communication 2005. 161
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möglich erscheint. Und in der Tat bildet der Kontroll- und Überwachungsaspekt ein zentrales Merkmal der neuen Stadien, wie ein Vergleich zwischen den Stadien des frühen 20. Jahrhunderts und den heutigen Sitzplatzstadien verdeutlichen kann: „Im ersteren werden wir ZuschauerInnen sehen, wie sie sich frei und ohne trennende Angrenzungen rund um die Spielfläche gruppieren und wie sich die verschiedenen Gruppen durchmischen. Im modernen Stadion dagegen sehen wir individualisierte BesucherInnen auf ihren nummerierten Sitzplätzen, wobei jede/r Einzelne sowohl durch die computerisierten Tickets als auch durch das Wissen identifizierbar ist, das wir über jene umfassenden Überwachungsmethoden erhalten, wie sie für moderne Sportstätten üblich sind.“ 13 Die Betonung der Grenzen, sowohl zwischen Innenraum und Zuschauerraum als auch zwischen Stadion und Umgebungsraum, gehört zu den herausragenden Merkmalen der neuen Stadienarchitektur. Zwar richtet sich das Bestreben der Architekten von reinen Fußballstadien vor allem darauf, das Publikum so nah wie möglich an das Geschehen auf dem Platz heranzurücken, um damit eine möglichst große räumliche Nähe zwischen Spielern und Publikum zu ermöglichen.14 Doch zum einen wird gerade durch diese Nähe zu den Spielern die Grenze nur umso stärker betont und zum anderen handelt es sich bei der damit hergestellten Nähe um eine rein visuelle Nähe. Eine durch die räumliche Nähe möglich gewordene Berührung zwischen Spielern und Zuschauern ist strikt untersagt. Das Besteigen der Zäune durch den Zuschauer ebenso wie das Hineinlaufen des Spielers in den Fanblock wird mit allen Mitteln zu unterbinden versucht und bei Zuwiderhandlung hart bestraft. Wir haben es also mit einer Distanz überwindenden visuellen Verdichtung bei gleichzeitiger körperlicher Disziplinierung zu tun, die sich sowohl auf die Spieler als auch auf die Zuschauer bezieht. Mit der Betonung klarer Grenzen sowohl nach Außen wie auch im Innern des Stadions folgt die Geschichte des Stadions offenbar der allgemeine Entwicklung der Räume, denn nach Georg Simmel schlossen auch Herrschaftsbereiche früher nicht unmittelbar aneinander an wie dies später der Fall war, sondern sorgten für ein Niemandsland zwischen zwei Territorien, das als
13 John Bale: „Stadien als Grenzen und Überwachungsräume“, in: M. Marschik u.a. (Hg.), Stadion, S. 31-48, hier S. 39. 14 So erklären etwa Jacques Herzog und Pierre de Meuron in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Die englischen Stadien sind ganz klar unser Vorbild. Außerdem orientieren wir uns am Shakespeare’schen Theater, auch da waren die Leute nah am Geschehen dran. Es geht um die unmittelbare Beziehung von Publikum und Spielfeld. Nähe ist das zentrale Anliegen.“ (Hubert Filser: „Der Fall ist rund. Ein Objekt der Begierde: Jacques Herzog und Pierre de Meuron über ihr Münchner Fußballstadion“, Interview in: Süddeutsche Zeitung vom 21. Februar 2002) 162
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neutraler Boden für widerstreitende Parteien genutzt werden konnte. 15 Von diesen Zwischenräumen ist heute nichts mehr übrig geblieben – weder auf der Ebene der Staaten, die unmittelbar aneinander anschließen noch auf der Ebene der Stadien, die alle Schwellen in hart gezogene Grenzlinien verwandelt haben. Die Grenzen unterscheiden strikt zwischen Innen oder Außen, Zuschauer oder Akteur, VIP-Besucher oder normalem Fan. Es werden räumlich fassbare Trennungen installiert, die keine Ununterscheidbarkeiten oder Zwischenbereiche mehr zulassen. Der bei großen Turnieren regelmäßig zu beobachtende einzelne Fan, der während des Spiels auf den Rasen rennen zu müssen meint, wird nicht allein deshalb als Ärgernis angesehen, weil er für eine störende Spielunterbrechung sorgt, sondern auch deshalb, weil er die fest gezogenen Grenzen überschreitet und in einen Raum eindringt, dessen Betreten ihm strikt untersagt ist. Wer sich ungefragt und ungebeten an einen anderen Ort begibt, als den, der ihm qua Ticket zugewiesen wurde, macht sich nicht nur verdächtig. Er wird entweder gehindert, seinen Platz zu verlassen oder er wird dahin zurückgeschickt, woher er gekommen war. Ein zielloses Umherschweifen jedenfalls, ist innerhalb des Stadions so wenig erwünscht wie außerhalb des Stadions – es sei denn, man ist nicht einfach ein ganz normaler Fan, sondern ein VIP. Im Unterschied zu den festen Platzierungen der normalen Steh- und Sitzplatzfans, sind die Logen so eingerichtet, dass sie eine freie Bewegung der Besucher erlauben. Auch hier ist damit der Zusammenhang von Kapitalbesitz und physischer Mobilität beobachtbar, auf den Pierre Bourdieu hingewiesen hat: „Der Mangel an Kapital verstärkt die Erfahrung der Begrenztheit: er kettet an einen Ort“. 16 Der Unterschied zwischen Fan-Publikum und VIP-Publikum führt uns – neben der Betonung strikter Grenzen zwischen Innenraum und Zuschauerraum einerseits und zwischen Stadionbau und Umgebungsraum andererseits – zu einer weiteren Grenze, die in den modernen Stadienbauten eine zentrale Rolle spielt: „Im modernen Sport sind es nicht nur die Aktiven, die vom Publikum getrennt wurden. Vielmehr sind die massivsten und am meisten sichtbaren Barrieren in vielen modernen Sportlandschaften jene, die verschiedene Gruppen von Fans von einander trennen.“ 17 Auffälliges Merkmal der neuen Stadien ist insofern die Segregation des Publikums, wovon im Folgenden noch die Rede sein wird. Die weiteren Charakteristika, die die modernen Stadionbauten auszeichnen und die ich im folgenden vorstellen und erläutern möchte, lauten: a) Pri15 Georg Simmel: „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. 11., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 784. 16 Pierre Bourdieu: „Ortseffekte“, in: Ders. et. al., Das Elend der Welt. Zeugnisse aus dem beschädigten Leben, Konstanz: UVK 1997, S. 159-167, hier S. 164. 17 J. Bale: Stadien als Grenzen und Überwachungsräume, S. 37. 163
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vatisierung und Kommerzialisierung, b) Inklusion/Exklusion, Integration und Segregation, c.) Medialisierung und (Selbst-)Inszenierung, d) Flexibilisierung und Mobilisierung.
3.
Merkmale moderner Stadien
3.1 Privatisierung und Kommerzialisierung: Vom Mehrzweckstadion zur Multifunktionsarena Die Entwicklung der Stadien führt von Mehrzweckstadien, in denen es zu einer Integration verschiedenster Sportarten kommt, die an einem Ort versammelt sind, hin zu reinen Fußballstadien, aus der alle anderen Sportarten verbannt sind. Galt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Leitspruch: „Kein Sportplatz ohne Schwimmbecken“, so wird heute selbst die Leichtathletik zunehmend aus dem Stadion entfernt. Wir haben es also auf der einen Seite mit einer hochgradig funktionalen Differenzierung zu tun, die nach dem Motto verfährt, jeder Sportart einen eigenen Raum zuzuweisen und auf der anderen Seite mit einer Entdifferenzierung insofern die neuen Stadien andere als sportliche Aktivitäten innerhalb ihrer Räumlichkeiten erlauben, die das Fußballspiel – so zumindest eine weit verbreitete Klage – zum Teil wie ein Nebenereignis erscheinen lassen. Das Mehrzweckstadion ist zu einem Multifunktionsstadion geworden. Das Ausmaß der so genannten „Mantelnutzung“, also die Hereinnahme von Restaurants, Bars, Einkaufszentren, Fanartikel-Shops und vielem mehr in das Innere des Stadions, ist längst zu einer der Haupteinnahmequellen für die Vereine und die Besitzer der Stadien geworden, was längst nicht mehr dasselbe ist. Waren noch vor wenigen Jahren die Stadien in der Hand ihrer Vereine, so befinden sie sich nun in den Händen großer Unternehmen, die auch als Namensgeber fungieren (AOL-Arena, Veltins-Arena und Allianz-Arena) – Namen, die keineswegs auf die ungeteilte Liebe der Fans stoßen. Mit dieser zunehmenden Privatisierung der Stadien geht ihre steigende Exklusivität einher, die sich in Zugangsbeschränkungen und einer stärkeren Segregation des Publikums niederschlägt. Dazu gehört etwa die weitgehende Abschaffung oder doch zumindest starke Eingrenzung der Stehplätze und komplette Überdachung der Stadien, die die Preise für die Eintrittskarten deutlich verteuert haben. Das Verhältnis von Stehplätzen und Sitzplätzen hat sich geradezu umgedreht, ja mehr noch: In manchen Stadien werden gar keine Stehplätze mehr geplant. Im neuen Wembley-Stadion sind z.B. 90.000 Sitzplätze, aber keine Stehplätze mehr vorgesehen. Die deutschen Stadien folgen diesem Beispiel weitgehend. Nur auf den Druck einiger Fanclubs hin sind in einigen Stadien Stehplätze erhalten geblieben.
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3.2 Inklusion/Exklusion, Integration und Segregation: Zur Organisation des Nebeneinander Was die Stadien zugleich komfortabler und sicherer machen soll, macht sie zudem zu einem exklusiven Ort, dessen Besuch für einen Teil des Publikums, nämlich für die eigentlichen Fans, erschwert worden ist. In der Erweiterung der Sitzplatzreihen allerdings nur eine Verdrängung einkommensschwacher durch einkommensstarke Bevölkerungsschichten zu sehen übersieht, dass im Gegenzug einkommensstarke Bevölkerungsgruppen zu gewinnen versucht werden. Der partiellen Exklusion der klassischen Fangemeinde steht eine Inklusion einkommensstarker Bevölkerungsgruppen gegenüber, die bisher nicht zum klassischen Fußballpublikum gehörten.18 Die Ausweitung der Sitzplätze lässt sich darüber hinaus als Komfortsteigerung interpretieren, denn der „gemeine Fan“ muss ebenso wenig mehr frieren und nass werden wie der gut situierte. Früher dagegen befanden sich allein auf den Sitzplätzen der VIPS Decken gegen die Kälte. Von dieser allgemeinen Überdachung und Sitzmöblierung zu unterscheiden ist allerdings der eigens für einkommensstarke Stadionbesucher vorbehaltene Bereich der Logen bzw. Lounges. Dieses Angebot wird zumeist von Unternehmen wahrgenommen, die für die Mietung der entsprechenden Räumlichkeiten zwischen 50.000 und 75.000 € pro Saison ausgeben. Enthalten darin sind Büffet, Service, Parkplatz direkt vor dem Stadion, oftmals in einer Tiefgarage unterhalb des Stadions usw. Mit diesem Angebot versuchen die Vereine neue Schichten zu erschließen und finanzkräftiges Publikum anzulocken. Obwohl dieser Vorgang auf Seiten der organisierten Fangemeinde mit großer Skepsis verfolgt wird, müssen auch diese einräumen, dass das so erwirtschaftete Geld bitter nötig ist für die Finanzierung des neuen Stadions und die Bezahlung der teuer eingekauften Spieler. Auf beide wollen sie so wenig verzichten wie der Verein auf seine Fans. Entgegen der Vorstellung, dass die Fans aus den neuen Stadien zunehmend vertrieben werden sollen, stand beim Bau der neuen Stadien offenbar eher die Frage im Mittelpunkt, wie man die Begegnung des klassischen mit dem neuen Publikum vermeiden kann. Beiden Seiten soll offensichtlich nicht zugemutet werden, einander aus der Nähe wahrnehmen zu müssen. Bei den baulichen Vorhaben ist denn auch streng darauf geachtet worden, dass sich die beiden Gruppen möglichst gar nicht erst über den Weg laufen. In diesem Bestreben scheinen die Betreiber der Stadien einer Einsicht zu folgen, die Pierre Bourdieu wie folgt formuliert hat. „Nichts ist unerträglicher als die als Promiskuität emp18 Vgl. Günther A. Pilz: „‚Sitzen ist für’n Arsch‘. Von der Kampfbahn zur postmodernen Arena – Folgerungen für die Fankultur“, in: L. Pfeiffer/G. A. Pilz (Hg.), Weltspiel Station Hannover. Fußball? Rugby? Athletik? Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung während der FIFA-Fußball-WM 2006 im Rathaus Hannover, Hannover: Nordmedia 2006, S. 30-37. 165
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fundene Nähe sozial fern stehender Personen.“ 19 Die Stadienbetreiber haben alles daran gesetzt, das Risiko einer Begegnung zwischen sozial fern stehenden Personen so gering wie möglich zu halten. In recht unverblümter Weise hat die Leitung des Kölner Vereins die Verhinderung einer solchen Promiskuität zumindest als Teilziel ihrer verkehrsplanerischen Überlegungen ausgegeben: „Damit sich die VIPs nicht mit den normalen Fans um die Parkplätze streiten müssen, wird es 600 Promi-Parkplätze geben.“ 20 Wir neigen nun allerdings dazu, die Zumutung der Begegnung zwischen sozial fern stehenden Personen immer nur auf Seiten der Privilegierten zu suchen, und wir vergessen dabei, dass es auch auf der anderen Seite als eine Zumutung angesehen werden könnte. Durch die räumliche Separierung wird ja nicht nur der gut betuchte Teil des Publikums vor einer unfreiwilligen Bierdusche oder einem Senfspritzer auf der edlen Jacke bewahrt, auch dem einfachen Fan wird der Zigarrenrauch des Vordermanns ebenso erspart wie der Blick auf die überdimensionierte Pelzmütze, die die Sicht auf das Spielfeld versperrt. Auch lässt sich der Einzug eines neuen Publikumsegments nicht nur als feindliche Übernahme des Stadions durch die VIPs verstehen, sondern auch als zunehmende Integration bürgerlicher Schichten in das Stadion lesen, denen ein eigenes Areal zugewiesen wird, damit die verschiedenen sozialen Gruppen unter sich bleiben können. Ein Vorgang, den wir aus der Stadtsoziologie nur allzu gut kennen. Das Stadion wiederholt in gewisser Weise, was die Stadt immer ausgemacht hat: Die Konzentration des Heterogensten an einem Ort, die durch die Separierung in verschiedene Quartiere für die einzelnen Gruppen erträglich und lebbar gemacht werden soll. Und in der Tat scheint das Stadion ja durch die Integration zahlreicher anderer Angebote und Funktionen mehr und mehr zu einer Stadt innerhalb der Stadt zu werden – durchaus ähnlich wie Shopping Malls, Bahnhöfe und Flughäfen, die gemeinsam auszeichnet, jenseits ihrer Primärfunktion weitere Funktionen auf ihrem Gelände zu integrieren, die die Besucher so lange wie möglich festhalten sollen. Das Neue an ihnen ist insofern, dass sie auf Dauernutzung angelegt sind.
3.3 Medialisierung und (Selbst-)Inszenierung: Vom Buhlen um Aufmerksamkeit Ein Fußballspiel in einem Stadion ist längst nicht mehr ein Ereignis, das sich allein unter Anwesenden abspielt. Vielmehr haben die Medien einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Konzeption der Stadien und den Verlauf
19 P. Bourdieu: Ortseffekte, S. 165. 20 Werner Skrentny: Das große Buch der Fußballstadien, Göttingen: Die Werkstatt 2001, S. 361. 166
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des Spiels. Die Anzahl der Zuschauer „zuhause vor den Bildschirmen“ ist um eine Vielfaches größer als die Anzahl der Zuschauer im Stadion. Dennoch ist die Bedeutung der Anwesenheit bei einem Live-Act nicht zu unterschätzen. Womöglich gerade aufgrund der durch die Medien gestiegenen Möglichkeiten, an Ereignissen auch aus der Ferne teilhaben zu können, steigt auch der Wunsch nach dem „Dabeisein“ vor Ort. Anders als in kulturkritischen Kommentaren zu vernehmen ist, wird die Inszenierung des Ereignisses vor Ort keineswegs überflüssig oder auch nur randständig. Das Fernsehereignis Fußball braucht noch immer ein räumliches Äquivalent. Ohne die anwesenden Spieler und jubelnden Fans, ohne deren von der Kamera eingefangenen Aktionen, wäre eine Übertragung schlicht unattraktiv. Ebenso wie das Stadion hat auch das Publikum keineswegs mehr einen nur passiven Status inne. Vielmehr inszeniert es sich durch entsprechende Chöre und Rufe selbst und beobachtet auf den riesigen Screens nicht nur das Spielgeschehen, sondern auch die eigenen Aktionen. Der Zuschauer wird somit zunehmend selbst zum Akteur: „In einem Stadion gibt es im Grunde genommen nur zwei Dinge: Die Menschen feiern sich selbst und den Sport. Deshalb ist es gleichzeitig eine Bühne für den Sport, aber auch für die Zuschauer. Sie wollen sich selbst feiern, während sie zusehen.“21 Die Zuschauer können das Spielgeschehen unterstützend begleiten, es ignorieren, ihr Missfallen ebenso wie ihre Begeisterung bekunden und damit zu einem erheblichen Teil zur Atmosphäre in einem Stadion beitragen. Damit unterscheiden sie sich grundsätzlich vom VIP-Publikum, das sich sowohl in den Innenraum der Loge zurückziehen als auch hinaustreten kann, um für eine Weile das Spiel zu verfolgen und die Atmosphäre des Stadions auf sich wirken zu lassen. Die VIPs nehmen gewissermaßen nur partiell und passiv am Spiel teil. Dabei werden sie sowohl zu Beobachtern des Spiels und der anderen Zuschauer als auch zu Empfängern der Stimmung, die der Rest des Stadions, ganz ohne ihre Mithilfe, erzeugt. Sie kommen gleichsam in den Genuss akustischer Transferleistungen: „Wenn mal auf dem Rasen nichts los ist, dann hat man wenigstens seinen Spaß an den Fans oder man kann beides erleben und damit doppelt profitieren: von der ‚action‘ auf dem Rasen und der ‚ac-
21 Jacques Herzog in J. Christoph Bürkle: „‚Funktion muss radikal unsichtbar sein.‘ Ein Gespräch mit Jacques Herzog über Stadien und Stararchitekten“, in: du. Zeitschrift für Kultur, H. 748: Neue Arenen. Bauen für den Sport (2004), S. 32-35, hier S. 34; auch Norbert Elias betont diesen Aspekt: „In seinem gewöhnlichen Leben hat man keine Macht und erregt wenig Aufmerksamkeit. Als Teil einer Menge hat man Macht. An der Eisenbahnhaltestelle, auf dem Weg zum Spiel und sogar noch mehr im Fußballstadion selbst kann man die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“ (N. Elias/E. Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, S. 110) 167
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tion‘ im Fanblock.“ 22 Es ist genau diese rein konsumistische und touristische Haltung der VIPs, 23 die das Missfallen der Fans auf sich zieht, was sich etwa in Schlachtrufen wie „Ihr seid ja nur zum Fressen hier!“ artikuliert. So zu hören bei der Einweihungsfeier des neuen Münchner Stadions.24 Um gar nicht erst in den Verdacht zu kommen, etwas mit dieser Art Publikum gemeinsam zu haben, die mit kritischer Distanz, aber ohne Anteilnahme, das Spiel verfolgen, will man lieber stehen als sitzen. Das ist es, was in ihren Augen den wirklichen Fan ausmacht und das ist es auch, was ihren eigentlichen Vorbehalt gegen das reine Sitzstadion ausmacht. Eine bauliche Maßnahme, die auch als Versuch der negativen Individualisierung 25 und Disziplinierung des Publikums durch die Domestizierung von Bewegung verstanden werden kann. Dies wird schon dann deutlich, wenn man Elias Canettis Überlegungen über das Stehen in „Masse und Macht“ hinzuzieht: „Es gibt keine elementarere Form von Macht als die, die der Körper selber ausübt. Er kann sich durch Größe 22 Günther A. Pilz: „‚Öffentliche Bedürfnisanstalt‘ – Das Fußballstadion als besonderer Ort in der verregelten Gesellschaft“, in: Klaus Hansen (Hg.), Verkaufte Faszination. 30 Jahre Fußball-Bundesliga, Essen: Klartext 1993, S. 130-141, hier S. 138. 23 Schon in Nick Hornby’s Fußballkultroman „Fever Pitch“ heißt es dazu: „Ein Teil des Vergnügens, das man in großen Fußballstadien haben kann, ist eine Mischung aus Stellvertreter- und Schmarotzertum, weil man sich – wenn man nicht gerade auf der Nordtribüne, dem Kop oder dem Stretfort End steht – darauf verlässt, dass andere für die Atmosphäre sorgen, und Atmosphäre ist eine der entscheidenden Zutaten zum Erlebnis Fußball. Die brodelnden Fanblöcke sind für die Clubs genauso lebenswichtig wie die Spieler, nicht nur, weil sie ihr Team stimmgewaltig unterstützen oder dem Verein Summen Geld einbringen [...], sondern weil ohne sie die meisten anderen Zuschauer keine Lust hätten, ins Stadion zu kommen.“ Wenn die Fans wirklich vertrieben werden würden, dann hieße dies nichts anderes, als dass die Clubs „den neuen Zuschauern praktisch Karten für eine Show verkauft [haben], in der die Hauptattraktion entfernt wurde, um Platz für eben diese neuen Zuschauer zu schaffen.“ (Nick Hornby: Fever Pitch. Ballfieber – die Geschichte eines Fans, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997, S. 104.) Später im Roman allerdings wird die Hauptfigur, als Tribut an sein Alter, eine Dauerkarte für einen Sitzplatz erwerben. Ein Aspekt, der in den Debatten um die Sitzplätze sonst meist nicht erwähnt wird. Die stets gesuchte Vergemeinschaftung mit den anderen Fans scheint aber auch hier zu funktionieren: „Eigentlich machst Du nichts anderes, als deine Zugehörigkeit auf eine andere Stufe zu befördern, wenn du eine Dauerkarte für einen Sitzplatz kaufst. [...] Jetzt habe ich wirklich mein eigenes Heim im Stadion, komplett mit Mitbewohnern und Nachbarn, zu denen ich ein freundschaftliches Verhältnis habe und mit denen ich mich über Themen unterhalte, die uns interessieren, nämlich wie dringend wir einen neuen Mittelfeldspieler/Stürmer/ein neues Spielsystem benötigen.“ (Ebd., S. 316) 24 Vgl. Dirk Kubjuweit: „Die Clowns der Business-Class“, in: DER SPIEGEL Nr. 23 (2005), S. 75. 25 Vgl. Markus Schroer: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 10f. 168
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hervortun, und dazu muss er stehen. Er kann durch Schwere wirken, und dazu muss er einen sichtbaren Ausdruck ausüben. Durch das Erheben von einem Sitz wird eins zum anderen addiert“.26 Gerade die Bewegung des Aufspringens vom Sitz jedoch ist in den neuen Stadien nicht mehr länger erlaubt. Wer aufsteht und stehen bleibt, wird bald von Ordnungskräften aufgefordert, sich wieder hinzusetzen. Wer dem nicht Folge leistet, kann des Stadions verwiesen werden. Der „gemeine Fan“ wird also an der Demonstration seiner Größe gehindert.
3.4 Flexibilisierung und Mobilisierung: Beweglichkeit als oberstes Gebot Die modernen Stadien zeichnen sich nicht zuletzt durch die Verwendung leichter, transparenter und wandelbarer Baumaterialien aus. Sie scheinen insofern nicht mehr für die Ewigkeit gebaut, sondern stehen für Veränderlichkeit, die ihnen am Ende aber wieder zur Dauerhaftigkeit verhelfen könnte. Denn anders als ihre Vorgänger sind die Stadien so gebaut, dass sie auf veränderte Bedürfnisse flexibel reagieren können. Schon jetzt sind die Stadien so angelegt, dass an einem Abend ein Fußballsspiel stattfindet, wo anderntags ein großes Opernevent aufgeführt wird. Rasen können – wie etwa in der neuen „Veltins-Arena“ auf Schalke – komplett nach draußen geschoben werden, Dächer geschlossen und Tribünen aufgestockt werden. Damit sind die neuen Stadien so flexibel wie die neue Generation von Spielern, die sich nicht mehr auf eine Position festlegen können, sondern möglichst vielseitig einsetzbar sein müssen. Gewissermaßen auf die Spitze getrieben wird dieser Trend in der von Herzog/de Meuron gebauten Allianz Arena in München-Fröttmanning, die – im Volksmund als „Tupperdose“ oder „Kaiserklo“ verspottet – vielleicht am weitesten entfernt ist von der Betonarchitektur der früheren Jahre. Das Münchner Stadion, das Ähnlichkeit mit einem Luftkissenboot hat, sieht tatsächlich ein wenig so aus, als wollte es nicht unbedingt für immer dort bleiben, wo es sich jetzt befindet. Es scheint nicht derart fest am Boden zu kleben, wie dies bei anderen Stadien der Fall ist. Insofern könnte man es auch als Symbol für das schneller und dynamischer gewordene moderne Spiel auffassen, während die alten Betonstadien die langsamere und statischere Spielkultur symbolisierten. Erklärtes Ziel der Basler Architekten jedenfalls war es, das Stadion wie einen lebendigen Organismus aussehen zu lassen, der nicht nur Dank der aufblasbaren Kunststoffkissen sowohl blau als auch rot leuchten kann, je nachdem welche Münchner Mannschaft gerade spielt, nein, auch die Intensität der Farbe soll sich verändern können – je nach Spielstand und Be26 Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/Main: Fischer 1960, S. 463. 169
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findlichkeit der Fans. Dem Äußeren des Stadions sind also Informationen über das Geschehen im Inneren zu entnehmen. Hier ist das Stadion nun endgültig selbst die Botschaft. Und in diesem Sinne haben wir es nicht nur mit der klassischen Beziehung zu tun, dass die räumlichen Strukturen Einfluss auf das Spiel, das Publikum und die Atmosphäre haben, sondern auch mit dem umgekehrten Verhältnis, nachdem die Handlungen der Akteure Einfluss auf den Raum und seine Spezifika ausüben.
4. Zusammenfassung und Ausblick Rekapituliert man die vorangegangenen genannten Charakteristika der modernen Fußballarenen – Privatisierung, Kommerzialisierung, Segregation, Medialisierung, Inszenierung, Flexibilisierung, Mobilisierung –, so wird deutlich, dass mit ihnen nicht nur die neuen Stadien beschrieben werden können. Vielmehr sind mit ihnen zugleich auch einige zentrale Charakteristika der gegenwärtigen Gesellschaft insgesamt benannt. So findet die Verdichtung verschiedenster Aktivitäten an einem Ort nicht nur im Fußballstadion, sondern etwa auch in Shopping Malls, Multiplexkinos, Flughäfen und Bahnhöfen statt, so dass sich auch hier ein Trend zur Entdifferenzierung bei gleichzeitig fortbestehender Differenzierung nachweisen lässt. 27 Die für die WM 2006 förmlich aus dem Boden gestampften Stadien zeichnen sich nicht zuletzt durch eine stärkere Differenzierung der Tribünen in untere, mittlere und obere Ränge, in Logen, Lounges, Business- und Sponsoren-Bereiche aus. Offensichtlicher als bisher scheint zwischen der Welt der Fans und der VIPs unterschieden zu werden. Damit erleben wir – was sich auch an anderen Beispielen zeigen ließe – eine neue Sichtbarkeit sozialer Unterschiede. Einen Teil der Faszination für das public viewing während der Fußballweltmeisterschaft 2006, das hinsichtlich der medialen Aufmerksamkeit den Stadien fast den Rang abgelaufen hat, erklärt sich wohl nicht zuletzt aus der Mischung des Publikums, die im krassen Gegensatz zu seiner Fraktionierung im modernen Stadion stand und eher an den offenen Raum der Stadien des frühen 20. Jahrhunderts erinnerte. 28 Die postmodernen Fußballstadien entwickeln sich dagegen nicht nur zu Multifunktionsräumen, in denen es neben dem sportlichen Ereignis zahlreiche weitere Aktivitäten gibt, denen man dort nachkommen kann, sondern auch zu Räumen, die klare Inklusions- und Exklusionsregeln konstituieren. Mag die Architektur der neuen Stadien auch auf eine strenge Abschirmung vom um-
27 Vgl. Markus Schroer: „Raum als soziologischer Begriff. Programmatische Überlegungen“, in: Jan Wehrheim (Hg.), Shopping Malls. Interdisziplinäre Betrachtungen eines neuen Raumtyps, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 35-54. 28 Vgl. J. Bale: Stadien als Grenzen und Überwachungsräume, S. 39. 170
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gebenden Raum angelegt sein, so dass einige wie Kapseln aussehen, in die schwer hineinzukommen ist, so ist doch kaum zu übersehen, dass dort nicht das „ganz andere“ angeboten wird, also vieles stattfinden kann, was in der Gesellschaft sonst keine Rolle mehr spielt. Obwohl viele Zuschauer nicht zuletzt diese Erwartung ins Stadion treibt, wird doch das Stadion von eben jenen Entwicklungstrends bestimmt, die auch außerhalb des Stadions anzutreffen sind. Insofern bietet das postmoderne Stadion nicht mehr jenen Fluchtort, der in größtmöglicher Distanz zu den Regeln des Alltags stehen sollte. Das Stadion kann vielmehr als getreues Abbild gesellschaftlicher Wirklichkeit verstanden werden.
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Hidden Games. Vergemeinschaftungs- und Fragmentierungsprozesse im Profifußball DORIS BLUTNER/UWE WILKESMANN
1.
Einleitung
Die Kapitalisierung des Profifußballs vermag bis heute die gemeinschaftlichen Wurzeln des Fußballs nicht zu kappen. Im Gegenteil, trotz organisationaler und wettbewerbsorientierter Durchdringung des Profifußballs lebt er von der emotionsgetragenen Identifikation der Vereinsmitglieder, Spieler und Fans mit ihrem Club. Aber das Zusammenspiel zwischen gemeinschaftlicher, organisationaler und wettbewerbsbezogener Koordination des Vereinshandelns hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Einerseits ist Vergemeinschaftung 1 im Profifußball ohne Vergesellschaftung nicht mehr realisierbar. Andererseits bedarf es Formen der gemeinschaftlichen Identitätsstiftung, um das Emotionsgut Fußball trotz organisationaler und wettbewerbsbezogener Koordination zu erhalten. Der Preis dieser vielfältig verschränkten Koordinationsmechanismen, die sich einer Reduktion auf einen gemeinsamen Nenner entziehen, sind Fragmentierungen, die inzwischen auch den Profifußball kennzeichnen. Im Alltag bleiben diese meist unentdeckt. Erst in Ausnahmesituationen, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die die bislang unhinterfragten Konstituenten der Gemeinschaft betreffen, kommen diese zum Vorschein. 2 In Anlehnung an Crozier und Friedberg 3 bezeichnen wir jene – jenseits des offiziellen Reorganisationsprozesses – einhergehenden Auseinandersetzungen als hidden games. Sie treten im Schatten hart geführter Diskurse um neu zu setzende Ordnungen der Vergesellschaftung in Gestalt 1 2 3
Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1972. Vgl. Doris Blutner: Kontrafakt Innovation. Eine sozialwissenschaftliche und kontrafaktische Analyse innovativen Handelns im Vertrieb, Berlin 2005. Vgl. Michel Crozier/Erhard Friedberg: Die Zwänge des kollektiven Handelns – Über Macht und Organisation, Frankfurt/Main: Hain 1993. 175
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von medial lancierten und verbandsintern geführten Äußerungen, Drohungen und Nötigungen zutage. Vergesellschaftung zeigt sich – wie im zweiten Kapitel rekonstruiert wird – in unterschiedlichen Ausprägungen der Koordinationsmechanismen Gemeinschaft, Organisation und Wettbewerb. Die Ausnahmesituation, an der die stets ablaufenden hidden games hervortreten, betrifft in diesem Beitrag die Entscheidung über die Regeln zur Verteilung der Fernsehgelder. Dazu diskutieren wir zunächst die sozialen Phänomene Gemeinschaft und Gesellschaft unter Verwendung der Begrifflichkeiten gemeinschaftlicher, organisationaler und wettbewerbsbezogener Koordination. Die Diskussion wird zeigen, dass Gemeinschaftsbezüge im Profifußball nicht notwendigerweise angesichts veränderter Vergesellschaftungsformen verloren gehen müssen. Um als Mitspieler der Gesellschaft anzugehören, reicht die aktive Teilnahme bei den hidden games aus, in denen die Regeln der Vergesellschaftung fortwährend neu definiert und prozessiert werden. Zum Schluss stellen wir Koordinationsweisen der Vergesellschaftung vor, die sich entlang des Identitätsverständnisses, „kleiner“ oder „großer“ Verein zu sein, konstituieren. Diese Typen lenken nicht nur den Blick auf Fragmentierungsprozesse im Profifußballbereich. Sie geben ebenso wertvolle Hinweise zur Rationalität guter Taten, die jene Profifußballvereine vollbringen, die die Profiteure der Vergesellschaftung, d.h. der neuen Verteilungsregeln sind.
Gemeinschaft und Gesellschaft: Eine Rekonstruktion anhand der Koordinationsformen Wettbewerb, Gemeinschaft und Organisation
2.
2.1 Historische Wurzeln und Merkmale von Gemeinschaften Häufig ist es so, dass erst beim Wandel eines bislang selbstverständlichen sozialen Phänomens das soziologische Erkenntnisinteresse erwacht. Wie Ferdinand Tönnies in seinem grundlegenden Werk Gemeinschaft und Gesellschaft zeigt, gilt dies für die Sozialform Gemeinschaft nicht minder. 4 Er befasste sich mit dem Konzept Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt, zu dem das Konzept Gesellschaft längst an praktizierter Dominanz gewonnen hatte. Räumliche Nähe, soziale Interaktion und stabile Bindungen begannen ihre existentielle, sozialintegrative Bedeutung in dem Maße zu verlieren, in dem sich die Basisbeziehungen von Gemeinschaften wandelten. Die historischen Konstituenten von Gemeinschaften verortet Tönnies in den engen Beziehungen zwischen Mutter und Kind, Mann und Frau sowie zwischen den Geschwistern. Dieses
4
Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, S. 7.
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HIDDEN GAMES
Miteinander gründet sich auf gemeinsame Existenzsicherung und findet in einem gemeinsamen Lebensort statt, dem Haus, das sich als Erlebensgemeinschaft für alle Beteiligten etabliert. Gemeinschaftliches Handeln umschließt damit ökonomische wie erlebensbezogene Handlungen. 5 Gemeinsamer Nutzen von Gütern zum Existenzerhalt wie gemeinsam erlebtes Wir-Gefühl, 6 welches sich u.a. bei gemeinsamer Tafel und Totenwache reproduziert, konstituieren die Gemeinschaft. Diese gemeinsam erlebten Erfahrungen, die eine stete Erinnerung erfahren, werden im Gedächtnis der Gemeinschaft nicht nur aufbewahrt. 7 Die engen Beziehungen sowie die andauernde und unvermittelte Kommunikation erschaffen eine gemeinsame Welt,8 die durch Definitionen und Bestätigungen über das relevante Wissen über die Welt fortwährend reproduziert wird. Nicht selten wird dabei Vergangenheit zurechtgerückt und neu interpretiert. Im Zuge dessen einigen sich die Gemeinschaftsmitglieder auf bestimmte Deutungen und Selbstfestlegungen, die wiederum das Verständnis der eigenen Identität prägen. Dieser Punkt ist in zweierlei Hinsicht zentral. Erstens wird deutlich, dass in ähnlicher Weise Projektionen über die eigene Zukunft erstellt werden, wobei in diese kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen auch jene Aspekte als Bewertungskriterien einfließen, was als gut und als schlecht in der Gemeinschaft gilt. 9 Zweitens verhelfen die dichten sozialen Beziehungen dem einzelnen zu einem Identitätsbewusstsein sowie zu einem spezifischen Ordnungs- und Konventionsverständnis. Weber entkoppelt konsequent Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff von der Orts- und Abstammungsbedingung durch die Hinzunahme der sozialen Phänomene Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft. Damit entlastet er den Gemeinschaftsbegriff und führt die Kontingenz als Wesensmerkmal von sozialen Prozessen auch in diesen Phänomenbereich ein. Unter Vergemeinschaftung versteht er eine soziale Beziehung, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“. 10 Die Soziologie hat zu Recht den engen Bezug auf die drei Basisbeziehungen aufgegeben und rekonstruiert auf dieser Basis weitere Zusammenschlüsse als Gemeinschaft. 11 Zwei wertvolle Einsichten verdanken wir dennoch bis heute Tönnies: 5 6 7 8 9
Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Peter Berger/Hansfried Kellner: „Die Ehe und die Konstruktion von Wirklichkeit“, in: Soziale Welt 16 (1965), S. 220-232. 10 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 21. 11 Vgl. Christian Wenger: „Ich bin ein Trekkie – Identitätsstiftung und Vergemeinschaftung in Fangemeinden am Beispiel der ‚Star-Trek‘-Fans“, in: Ders. (Hg.), Medienidentitäten, Köln: von Halem 2003, S. 347-361; Vgl. Ronald Hitz177
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(1) Zum einem betrifft es die Mitgliedschaft in Gemeinschaften. Ein Individuum kann weder per Entscheidung einer Gemeinschaft beitreten, noch kann es per Entscheidung seine Mitgliedschaft beenden. Die Mitgliedschaft ist immer personalisiert und im Sinne der Definition Insider versus Outsider eindeutig. Darüber hinaus stellt die subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit der Beteiligten einen wichtigen Baustein gemeinschaftlicher Konstitution und Vergewisserung dar. Aber erst die Verbindung der Sachverhalte, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auf der Grundlage von gemeinsam Erlebten 12 und die Bewahrung des Erlebten im Gemeinschaftsgedächtnis, 13 welches in rekursiver Weise als Grundlage zur Definition von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft dient, kennzeichnet eine Gemeinschaft. 14 Wiesenthal 15 verweist in diesem Zusammenhang auf Luhmann, 16 der die in der Vergangenheit erbrachten Selektionsleistungen als Geschichtsschreibung der Gemeinschaft interpretiert, aus der letztlich die Identität einer Gemeinschaft erwächst. (2) Zum anderen betrifft es den Sachverhalt, dass Gemeinschaften durch Aufgabenteilungen und Rollenstrukturen charakterisiert sind.17 Funktionale Arbeitsteilung, Rollendifferenzierung, Kompetenzunterschiede und Statuszuweisungen sind nicht nur grundlegende Merkmale von Gemeinschaften, sondern sie führen gleichsam zu Funktions- und Statushierarchien, die der rekursiven Reproduktion unterliegen. Bei Tönnies stellt der vorherrschende Reproduktionsmechanismus von Gemeinschaften, mit dem Blick auf die Basisbeziehungen, die Gewöhnung aneinander dar. 18 Dieser Gewöhnungsprozess, der im Kontext der Familie mit emphatischer Zuneigung beginnen kann, lässt ungleiche Rollenstrukturen zu, an die sich Machtchancen andocken, die den Rolleninhabern in Gestalt von mehr Handlungsoptionen zur Verfügung ste-
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ler/Thomas Bucher/Arne Niederbacher: Leben in Szenen. Posttraditionale Formen der Gemeinschaftsbildung, Opladen: Leske+Budrich 2001, S. 20ff.; Vgl. Matthias Grundmann: „Soziale Gemeinschaft: Zugänge zu einem vernachlässigtem soziologischen Forschungsfeld“, in: Ders. u.a. (Hg.), Soziale Gemeinschaften. Experimentierfelder für kollektive Lebensformen, Münster: Lit 2006, S. 15. Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 21. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Hartmann Tyrell: „Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp“, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25, Opladen: Westdeutscher Verlag 1983, S. 75-87. Helmut Wiesenthal: „Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste’ Verfahren sozialer Koordination“, in: Raymund Werle/Uwe Schimank (Hg.), Gesellschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit, Frankfurt/Main, New York: Campus 2000, S. 54. Vgl. Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisationen, Berlin: Duncker & Humblot 1972, S. 57. Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 22. Vgl. ebd. S. 5.
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hen. Diese unterschiedlich verteilten Optionszugänge können die auf diese Weise Privilegierten zu einem indifferenten Verhalten veranlassen oder gar sie zur individuellen Nutzenverfolgung anstiften, infolgedessen es zum Untergang der Gemeinschaft kommen kann. 19
2.2 Gemeinschaften und ihre Grenzziehungen Die Unmittelbarkeit der interaktionsgestützten Beziehungen 20 bei eng begrenzter Teilnehmerzahl kennzeichnet gemeinschaftliches Handeln und verweist darauf, dass Gemeinschaften ihre Grenzen durch sinnbezogene Kommunikationen ziehen. Erst jene Kommunikationen jedoch, denen es an Anschlussfähigkeit fehlt, lassen die Systemgrenze zum Vorschein kommen. Durch dieses Merkmal sind ebenso Organisationen gekennzeichnet:21 Unterschiede zwischen beiden Koordinationsmechanismen bestehen in ihrer Unvermittelbarkeit und Unspezifität einerseits sowie ihrer Aufgabenbezogenheit und Regelbedürftigkeit andererseits. 22 Prozesse der Sinnproduktion und –reproduktion schaffen in Gemeinschaften jene Verbundenheit, die diese konstituieren und aufrechterhalten. Wie sicher sich der Einzelne in seiner Gemeinschaft fühlt bzw. wie plausibel er die Welt erfährt, hängt von der Stärke und der Kontinuität der als bedeutungsvoll erachteten Beziehungen ab. 23 Der Einzelne in der Gemeinschaft fühlt sich umso integrierter in der Welt, je dichter und stabiler die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft sind. Der Umstand, dass das Wissen und die Stabilität der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder von diesen beiden Kriterien Dichte und Stärke der sozialen Beziehung abhängt, offenbart den Entstehungszusammenhang von kognitiven Zugängen bei der Interpretation der Welt. Trotz der Stärke und Dichte der Beziehungen verlaufen die Kommunikationen, die Bindungen und die Gefühle innerhalb einer Gemeinschaft in keine eindeutige Richtung. 24 Wettbewerb und Solidarität, 19 Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination. 20 Unter ‚unmittelbare Interaktion mit unspezifischen Inhalten‘ verstehen wir die Gleichzeitigkeit des Handelns, der Wahrnehmung des Handelns sowie der Wahrnehmung des Wahrgenommenen. 21 Organisationen setzen organisierte Interaktionen voraus – schon um den Eintritt von Organisationsmitgliedern zuverlässig zu gewährleisten. Demgegenüber können sich Gemeinschaften auf klare Regeln und Geschäftsordnungen einigen; sie stellen aber keine hinreichenden Voraussetzungen für die Existenz und das Fortleben der Gemeinschaft dar. 22 Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination; Vgl. H. Tyrell: Zwischen Interaktion und Organisation. 23 Vgl. P. Berger/H. Keller: Die Ehe und die Konstruktion von Wirklichkeit. 24 Vgl. Neil Smelser: „The Rational and the Ambivalent in the Social Science“, in: American Sociological Review 63 (1998), S. 1-16. 179
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Liebe und Hass, Mitgefühl und Gleichgültigkeit werden von denselben Individuen gelebt und prozessiert und sorgen für dessen Handlungsambiguität. Handeln in Gemeinschaften ist daher keineswegs auf eine Handlungsweise zu reduzieren. Entscheidend sind der kommunizierte Sinn und die damit verbundene identitätsstiftende Wirkung. Die in Gemeinschaften entstehenden, gemeinsam geteilten Normen und Konventionen werden häufig durch stereotype Annahmen über Gegner und Gegenspieler ergänzt. Konstitutiv für die Identitätsstiftung der Gemeinschaft nach außen bleiben jedoch die erlebte Gemeinsamkeit, die Gemeinschaftsgeschichte sowie die personalisierte Mitgliedschaft. Auf diese Weise wird der praktizierten Umweltoffenheit eine Selbstbezüglichkeit entgegengesetzt, die für die systemadäquate Verarbeitung der Umweltbezüge sorgt und dadurch den Reproduktionsmechanismus der Gemeinschaft in Gang hält.
2.3 Funktionsverlust durch Leistungssteigerung Koordinieren sich im Sinne von Tönnies Hausgemeinschaften über Gewöhnung und Herrschaft, so bedürfen demgegenüber Nachbarschaftsbeziehungen oder Freundschaften ein Mehr an Beschlüssen, Regeln und Konventionen. Die Entscheidungsbedürftigkeit von Sachverhalten, die dem Wohl der Freundschaft, der Gemeinde oder dem Verein dienen, führte Tönnies folgerichtig zur Betrachtung der Gesellschaft, deren Koordinationsbedürftigkeit angesichts ihrer funktionalen Differenzierung und fortwährenden Spezialisierung längst unbestritten ist. 25 Er sieht im äquivalenten Tausch nicht nur eine neue Qualität ökonomischen Handelns, sondern vielmehr ein Grundprinzip der Gesellschaft verwirklicht. Das getrennte Leben in modernen funktional differenzierten Marktgesellschaften bringt freie und autonome Individuen hervor bzw. setzt sie voraus. Sowohl die gewonnene Unabhängigkeit von (engen) gemeinschaftlichen Sinngebungen und Erlebensgeschichten sowie der Gewinn an Akteursautonomie, der sich in einer Vielfalt neu gewonnener Rollen, Interessen und Orientierungen zeigt, macht den Umgang miteinander in einer Gesellschaft in einem besonderen Maß koordinationsbedürftig. Indizien für einen solchen Koordinationsbedarf in Gesellschaften sind definiertes Eigentum, geregelte Eigentumsrechte oder Kontraktgebundenheit des Tauschs. Unverkennbar ist damit, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft mit einem Funktionsverlust für Gemeinschaften einhergeht. Die Veränderungen, die die Gemeinschaft erfährt, stellen nicht selten Folgen rationaler Strategien dar, die darauf zielten, das gemeinsame Erleben des gewünschten Miteinanders zu steigern. Gerade aber die Umsetzung solcher 25 Tönnies beschreibt die Gesellschaft als „Kreis von Menschen, die friedlich nebeneinander leben, keine wesentlichen Bindungen unterhalten und getrennt bleiben“ (F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 34). 180
HIDDEN GAMES
Strategien bedarf Koordinationsleistungen, die innerhalb gemeinschaftlicher Formen häufig nicht mehr zu leisten sind. Der gemeinsame Urlaub bedarf ebenso der Organisation wie die Mitgliedschaft der Tochter im Fußballverein. Da der Fußballverein vom Wohnort weiter weg ist, muss die Mutter die Tochter mit dem Auto zum Training fahren, dafür hilft aber die Tochter der Mutter bei der Vorbereitung einer Party für Geschäftsfreunde der Mutter. Es ist zu beobachten, dass in dem Maße auf Leistungen zurückgegriffen wird, in dem versucht wird, das Gemeinschaftserleben zu vervollkommnen. Diese Leistungen entstammen jedoch organisierten oder wettbewerbsbezogenen Kontexten. Auf diese Weise verlieren gemeinschaftliche Bindungen zugunsten ihrer beabsichtigten Leistungssteigerung an Relevanz, die nur durch die Koordinationsmechanismen Organisation und Wettbewerb zu erreichen sind.
2.4 Wettbewerb, Organisation und Gemeinschaft Die gerade geleistete Rekonstruktion des Gemeinschaftsbegriffs führt uns im Folgenden dazu, nicht Tönnies Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft zu benutzen, sondern die Sozialformen Organisation, Wettbewerb26 und Gemeinschaft als basale Koordinationsmechanismen einer Gesellschaft zu betrachten. Ihre irreduzible Eigenwertigkeit lässt sich anhand grundlegender Merkmale charakterisieren. Zur besseren Vergleichbarkeit fassen wir die Befunde zur Gemeinschaft kurz zusammen und skizzieren daran anschließend die Koordinationsmechanismen Organisation und Wettbewerb.
Gemeinschaft Der Koordinationsmechanismus Gemeinschaft ist durch die Merkmale Personengebundenheit, Themenoffenheit und unbefristete Kontinuitätserwartung gekennzeichnet. 27 Die Mitgliedschaft in Gemeinschaften ist an individuelle Identitätsmerkmale und nicht an formale Erwartungen geknüpft und legitimiert sich durch Selektionsentscheidungen der Gemeinschaft und des Mitglieds. Die Gemeinschaft selbst konstituiert und legitimiert sich durch Grenzziehung gegenüber der Umwelt. Diese ist nicht nur Voraussetzung für die sinnhafte Konstruktion der Wirklichkeit innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft; 28 sie schafft darüber hinaus den Raum für gemeinsam geteilte, kollektive Deutungen. Manifestieren sich in diesen Gemeinschaftsprozessen kollek26 Wiesenthal verwendet anstatt des Begriffs Wettbewerb den Begriff Markt. 27 Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination. 28 Vgl. Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/Main: Fischer 1970. 181
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tive Deutungen und verlieren demgegenüber individuelle Interpretationen und Identitäten ihren Einfluss, sind kollektive Identitätsbildungsprozesse in Rechnung zu stellen. Durch endogene Sinnproduktion und -reproduktion bildet sich nicht nur kollektive Identität; sie lässt Vertrauen auf der Basis einer gemeinsamen Geschichte und identitätsbehafteten „Assoziation von Konformitätserwartung und Regelbewusstsein“29 entstehen. Das Funktionsrisiko von Gemeinschaft liegt in einem übersteigerten Identitätsbezug, der zum Einfrieren von Umweltkontakten führen kann. Im Ergebnis dessen erleiden Gemeinschaften nicht selten Realitätsverluste, weil das dauerhafte Aussperren von fremden Weltbildern kognitive Schließungsprozesse in Gang setzen. 30
Organisation Hierarchie wird häufig als ein eigenwertiger Koordinationsmechanismus betrachtet, weil über dieses Strukturprinzip die arbeitsteilig und potentiell zentrifugal wirkenden Prozesse in Organisationen integriert werden. 31 Hierarchische Koordination stellt aber nur ein Strukturprinzip organisationaler Koordination dar. 32 Die weiteren Strukturprinzipien sind:33 die Entscheidungsbedingtheit von Aufgaben-, Interaktions- und Prozessstrukturen, die Disponibilität von Mitgliedschaft, 34 die Koordination über Erwartungserwartungen 35 sowie das System von Vertragsbeziehungen.36 Wenn diese Strukturprinzipien als Merkmale der Organisation berücksichtigt werden, erübrigt sich der Rekurs auf Macht und Einfluss, 37 Professionalität 38 und Standardisierung 39 als
29 H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination, S. 77. 30 Vgl. ebd., S. 58; Vgl. Gernot Grabher: „The Weakness of Strong Ties. The Lock-In of Regional Development in the Ruhr Area“, in: Ders. (Hg.), The Embedded Firm. On the Socioeconomics of Industrial Networks, London: Routledge 2000, S. 255-277. 31 Vgl. Henry Mintzberg: Mintzberg über Management. Führung und Organisation – Mythos und Realität, Wiesbaden: Gabler 1989, S. 113. 32 Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination; Vgl. Uwe Wilkesmann: „Die Organisation von Wissensarbeit“, in: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), S. 55-72. 33 Vgl. D. Blutner: Kontrafakt Innovation, S. 104. 34 Vgl. Albert Hirschmann: Abwanderung und Widerspruch, Tübingen: Mohr 1974. 35 Vgl. N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisationen. 36 Vgl. Oliver Williamson: Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications, New York: Free Press 1975; Vgl. Herbert Simon: Administrative Behaviour. A Study of Decision-Making Processes in Administration Organization, 3rd ed., New York: Free Press 1976. 37 Vgl. Lutz Zündorf: „Macht, Einfluss und Vertrauen und Verständigung“, in: Rüdiger Seltz/Ulrich Mill/Eckart Hildebrandt (Hg.), Organisation als soziales 182
HIDDEN GAMES
eigenständige Koordinationsmechanismen. Das Leistungsmerkmal organisationaler Koordination stellt das Kriterium Zuverlässigkeit mit den Eigenschaften hohe Kontinuität, Berechenbarkeit und Erwartbarkeit dar. Seine funktionalen Grenzen findet er genau dann, wenn organisationale Prozesse ihren Wirklichkeitsbezug verlieren und sich subjektlos verselbstständigen.40
Wettbewerb Der Mechanismus Wettbewerb erfährt in den meisten Konzepten eine Reduktion auf Tauschprozesse zwischen rational handelnden Akteuren, ohne die Bedingungen des Tausches genauer zu spezifizieren. Aber erst wenn der Marktverkehr als Kombination von Tausch und Wettbewerb41 bzw. als Wettbewerb von Tauschgelegenheiten 42 begriffen wird, gewinnt der Koordinationsmechanismus seine signifikante Spezifik. Diese besteht in der Gleichzeitigkeit von gleichen und ungleichen Interessen der Tauschpartner und dem Vorhandensein von wenigstens einem Konkurrenten auf der Nachfrage- bzw. Angebotsseite. Durch den so in Gang gesetzten Wettbewerb wird der Anreiz geweckt, dem Wettbewerb um Preiskonditionen durch Produktinnovation zu entkommen. 43 Das wesentliche Leistungspotenzial von Wettbewerb besteht daher darin, ein Maximum an Innovationseffizienz unter allen Umständen zu gewährleisten. 44 Sein Funktionsrisiko besteht in der stets wählbaren Option, im Sinne des moral hazard zu handeln. Weil diesem Verhalten jedoch dieselben egoistischen Präferenzen zugrunde liegen, vermag der Koordinationsmechanismus Wettbewerb sein Leistungsmaximum nur mittels externer Ressourcen (u.a. Identität, Reputation, soziale Normen) zu erreichen. 45
38 39 40 41
42 43 44 45
System. Kontrolle und Kommunikationstechnologie in Arbeitsorganisationen, Berlin: Sigma 1986, S. 33-56. Vgl. Douglas North: Der Wandel von Institutionen, Tübingen: Mohr 1992. Vgl. H. Mintzberg: Mintzberg über Management. Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination, S. 59ff. Vgl. Richard Swedberg: „Markets as social instruments“, in: Neil Smelser/Richard Swedberg (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton, New York: Princeton University Press 1994, S. 271; Vgl. Doris Blutner/Andre Metzner: „Entwicklung organisationsinterner Steuerung im Privatisierungsprozeß“, in: Thomas Edeling/Werner Jann/Dieter Wagner (Hg.), Öffentliches und privates Management, Leverkusen: Leske+Budrich 1998, S. 161-186. Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination. Vgl. Friedrich Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Tübingen: Mohr 1969. Vgl. H. Wiesenthal: Markt, Organisation und Gemeinschaft als ‚zweitbeste‘ Verfahren sozialer Koordination. Vgl. ebd., S. 57; Vgl. D. North: Der Wandel von Institutionen; Vgl. Mark Granovetter: „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embedded183
DORIS BLUTNER/UWE WILKESMANN
Charakteristika Koordinationsmechanismus
Leistungsspezifika
Funktionsrisiko
Organisation
Zuverlässigkeit
Verselbstständigung
Wettbewerb
Innovationseffizienz
Opportunismus
Gemeinschaft
kollektive Identität
kognitive Schließung
Abbildung 1: Charakteristika der Koordinationsmechanismen46
3.
Über die außerordentliche Koordinationsbedürftigkeit des Profifußballs
3.1 Der Fußballverein als Ort des gemeinschaftlichen Spiels In diesem Kapitel wird das theoretische Gerüst der drei basalen Koordinationsmechanismen auf den Gegenstandsbereich des Fußballs übertragen. Organisiert wird das Fußballspiel über den Verein und (in komplexeren Gebilden) über den Verband. Die Mitgliedschaft ist grundsätzlich freiwillig und legitimiert sich durch die Verfolgung der Interessen der Mitglieder. Dazu benötigen die Vereine freiwillig geleistete Mitgliedsbeiträge, um jene Ressourcen bereitstellen zu können, die zum Gemeinschaftserleben, in dem Fall dem gemeinsamen Fußballspiel, vonnöten sind.47 Deutlich wird, dass für das Gemeinschaftserlebnis im Fußballverein Koordination durch Organisation unabdingbar ist. Das Fußballspiel als reines Spiel bedarf solange keiner gesatzten Regeln, solange es nicht in einem institutionalisierten Spielbetrieb stattfindet. Als reines Freizeitvergnügen enthält Fußballspielen einen hohen Anteil des Koordinationsmechanismus Gemeinschaft, aber geringe Anteile der Koordinationsmechanismen Organisation und Wettbewerb. Im Sommer, häufig freitags nachmittags, treffen sich Männer wie Frauen mehr oder weniger zufällig auf einer städtischen Wiese und spielen in ohne feste Regeln zusammengesetzten
ness“, in: Mary Zey (Hg.), Decisionmaking, Newbury Park: Sage 1992, S. 305331. 46 D. Blutner: Kontrafakt Innovation, S. 108. 47 Vgl. Uwe Wilkesmann/Doris Blutner/Claudia Meister: „Der Fußballverein zwischen e.V. und Kapitalgesellschaft. Wie Profifußballvereine das Dilemma zwischen Mitgliederrepräsentation und effizienter Zielverfolgung institutionell lösen“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 54 (2002), S. 753-774, hier S. 755. 184
HIDDEN GAMES
Mannschaften. Die Kommunikationen sind durch den Sinnbezug Fußball zentriert und können Grundlage einer gemeinsamen Identitätsbildung werden. Aber erst wenn aus dieser Identität der Wille erwächst, in einer Meisterschaft sich mit anderen Mannschaften zu messen, steigt die Bedeutung der Koordinationsmechanismen Organisation und Wettbewerb. Ein Verein muss als eingetragener Verein gegründet und Mitglied im DFB (bzw. eines seiner Landesverbände) werden. Die einzelnen Spieler benötigen Spielerpässe, der Verein Eigentums- oder Nutzungsrechte an einem Fußballplatz, auf dem die Meisterschaftsspiele ausgetragen werden sowie Trainings stattfinden. Zusätzlich müssen Schiedsrichter dem Fußballverband zur Verfügung gestellt werden. Die Kriterien der formalisierten Mitgliedschaftsrolle, der gesatzten Vereins- und Verbandsordnung, der eigenen Leistung im Rahmen des Wettbewerbs der Meisterschaft treten in den Vordergrund.48
3.2 Organisation und Wettbewerb: Dominante Konstituenten des Profifußball Diese aktive und wettbewerbsbezogene Umweltausrichtung lässt den emphatischen oder traditionellen Bezug ‚Wir und die Anderen‘, ‚das Vertraute vs. das Fremde‘ vorerst in den Hintergrund treten, ohne dass die Gemeinschaft als Ressource der Identitätsvergewisserung verschwindet. Die formale Organisation des Wettbewerbs „Meisterschaft“ wird im deutschen Profifußball durch den Deutschen Ligaverband geleistet, der sich durch Pflichtbeiträge finanziert. Die Spielberechtigung eines Vereins ist im Verband an die Erfüllung bestimmter institutioneller Vorgaben geknüpft. 49 Um immer höher gesetzte Ziele zu erreichen, definieren Profifußballvereine wie jede moderne Organisation ihre bedeutenden Umwelten neu, 50 reorganisieren ihre kapitalbezogenen Entscheidungsstrukturen und Einkaufsstrategien und nehmen eine Zielgruppendifferenzierung vor. Der Einkauf von Spielern sowie die Verpflichtung von Trainern dient der Leistungssteigerung, kostet jedoch Geld. Der Fernsehzuschauer stellt in diesem Kontext eine be48 Bei der Verfolgung dieser wettbewerbsorientierten Ziele wird immer öfter auf Dienstleistungen zurückgegriffen. Diese sind entweder innerhalb der Gemeinschaft entweder vorrätig oder werden in der Umwelt kostengünstiger oder qualitativ hochwertiger angeboten. Der Einkauf gemeinschaftsfremder Kompetenzen generiert seinerseits neue Andockstationen für organisiertes Handeln und weitere Marktaktivitäten. 49 Die finanziellen Pflichtbeiträge generieren sich aus einem gewissen Prozentsatz der Fernsehgelder, die die DFL direkt einbehält. Profifußballvereine unterwerfen sich der Lizenzierungsordnung des Ligaverbandes (vgl. Uwe Wilkesmann/ Doris Blutner: „Going public: The Organizational Restructuring of German Football Clubs“, in: Soccer and Society 3 (2002), S. 19-37). 50 Vgl. Karl Weick: Der Prozess des Organisierens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. 185
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deutende Umwelt im Profifußball dar, weil das aus Fernsehausstrahlungen herrührende Geld genau dafür ausgegeben wird. Die zentrale Vermarktung der Fernsehübertragungsrechte gründet sich einerseits auf vereinsbezogene Wettbewerbserfolge und unterliegt andererseits der kollektiven Beschlussfassung aller Profifußballvereine. Die außerordentliche Organisationsbedürftigkeit der Fernsehübertragungsrechte ergibt sich nicht nur aus der Verschränkung von „Brot und Spiele“; 51 sie erhält ihre besondere Brisanz aus dem Umstand, dass die Verteilung der Fernsehgelder der Logik des kollektiven Handelns unterliegt. 52 Unbestritten ist, dass die Koordinationsmechanismen Wettbewerb und Organisation den Profifußball längst dominieren. Die Analyse der hidden games wird jedoch zeigen, dass bei der Regelfindung zur Verteilung der Fernsehgelder auf den Koordinationsmechanismen Gemeinschaft rekurriert wird.
4.
Eckpunkte zur Verteilung der Fernsehgelder
4.1 Leitorientierungen zur Regelfindung für die Verteilung der Fernsehgelder Die durch die Zentralvermarktung erzielten Einnahmen werden durch alle sechsunddreißig Profifußballvereine zu unterschiedlichen Anteilen erwirtschaftet. Diese Differenzen hängen vom erwarteten Fernseherleben hinsichtlich der Kriterien Leistungszuschreibung, Spannungsaufkommen durch besondere Paarungen oder erreichbare Positionen innerhalb der Ligen ab. Die numerische Teilbarkeit von Geld eröffnet den Raum für unterschiedlich gewichtete Verteilungsschlüssel. Denkbar sind Verteilungslösungen, die innerhalb des Kontinuums Gleichverteilung und Leistungsprinzip liegen. Während eine Entscheidung für die Gleichverteilung der Gelder die Orientierung an der Gemeinschaft bedeuten würde, verweist das Leistungsprinzip auf wettbewerbsbezogene Koordinationsweisen. Folgende Überlegungen leiteten unsere Forschung zur Verteilung der Fernsehgelder an: (1) Das Prinzip der Gleichverteilung wird vor allem von den „kleinen“ Vereinen favorisiert. Ihre Präferenz leitet sich aus den Konstitutionsvoraussetzungen des Wettbewerbs ab. Weil alle Vereine ihren Beitrag zur Organisation der Meisterschaft leisten, würde ein Verteilungsschlüssel, der die „gro-
51 Vgl. Uwe Wilkesmann/Doris Blutner: „Brot und Spiele. Zur Produktion und Allokation von Clubgütern im deutschen Profifußball“, in: Soziale Welt 58 (2007), S. 55-74. 52 Die kollektive Vermarktung von Fernsehübertragungsrechten stellt ein Clubgut dar. Eine ausführliche Diskussion dazu liegt bereits vor (vgl. U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele). 186
HIDDEN GAMES
ßen“ Vereine bevorzugt, ungerecht sein, weil alle gleichermaßen zu der Produktion und Durchführung der Meisterschaft beitragen. (2) Das Leistungsprinzip wird von jenen „großen“ Vereinen favorisiert, die über einen längeren Zeitraum sportliche Erfolge erzielen. Ihr Votum leitet sich aus dem individuell erzielten Erfolg ab. Weil ein Spiel zwischen erfolgreichen Vereinen mehr Einnahmen im Fernsehen generiert, als ein Spiel zwischen weniger erfolgreichen Mannschaften, würde eine Gleichverteilung der Gelder die „kleinen“ Vereine bevorzugen. An dieser Stelle kann vorweggenommen werden, dass sich die Gruppe der „kleinen“ Vereine nicht durchsetzen konnte, obgleich sie zahlenmäßig der Gruppe der „großen“ Vereine überlegen ist. Bevor dieses Abstimmungsergebnis diskutiert wird, erläutern wir die methodische Vorgehensweise und die institutionellen Rahmenbedingungen der Entscheidungsfindung.
4.2 DFL und Ligaverband: Institutionelle Akteure der Regelfindung Der deutsche Profifußball mit seinen 36 Profivereinen wird seit dem 18.12.2000 nicht mehr durch den Deutschen Fußball Bund (DFB) koordiniert, sondern durch den Ligaverband („Die Liga – Fußballverband e.V.“) als autonome organisationale Einheit des DFB organisiert. Operativ wurde die Organisation des Ligaverbandes in eine Kapitalgesellschaft, die Deutsche Fußball Liga GmbH (DFL) überführt. Einziger Gesellschafter ist „Die Liga – Fußballverband e.V.“. Der Vorstand des Ligaverbandes war zum Untersuchungszeitpunkt dadurch personalidentisch mit dem Aufsichtsrat der DFL.53 Die DFL war von Anfang an mit der inhaltlichen Vorbereitung der Entscheidung zur Neuverteilung der Fernsehgelder beauftragt worden. Die Entscheidung selbst wurde durch die acht Personen des Ligavorstands getroffen. 54 Der Präsident, der Vizepräsident sowie zwei weitere Vorstandsmitglieder des Ligaverbandes werden durch die Mitgliederversammlung gewählt. Die Versammlung der Vereine und Kapitalgesellschaften der 1. Bundesliga und 2. Bundesliga wählen jeweils noch zwei weitere Vorstandsmitglieder (§ 16 Satzung Ligaverband). Trotz institutioneller Vorkehrungen der gleichgewichtigen Berücksichtigung von „großen“ und „kleinen“ Vereinen waren zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verteilung der Fernsehgelder im
53 Für den neuen Liga-Vorstand, der am 7.8.2007 gewählt wurde, gilt ein anderer Modus. Neben den – wie bisher – gewählten Vertretern kommen die vier Geschäftsführer der DFL automatisch in den Vorstand. Da aber diese vier Personen nicht gleichzeitig ihre eigenen Vorgesetzten sein dürfen, werden vier weitere Personen für den Aufsichtsrat der DFL gewählt, die dann im Aufsichtsrat die Geschäftsführer ersetzen. 54 Vgl. U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele. 187
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Jahr 2006 die „kleinen“ Vereine im Vorstand unterrepräsentiert. Die Auswertung der von uns durchgeführten Interviews (siehe folgenden Abschnitt) offenbarte eine Enttäuschung seitens der „kleinen“ Vereine über den Ausgang der Wahl. Das für die „kleinen“ Vereine nachteilige Abstimmungsergebnis ist jedoch nur zum Teil dadurch zu erklären, dass sich größere Gruppen schwerer organisieren lassen als kleine Gruppen. 55
4.3 Methodische Anmerkungen Zur Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses zur Verteilung der Fernsehgelder führten wir eine Dokumentenanalyse und Experteninterviews durch. 56 Bei der Durchführung und Auswertung der Interviews konzentrierten wir uns auf die Strategien, Akteurskonstellationen und verhandelten Sachverhalte, die jeden Entscheidungsfindungsprozess begleiten. Folgende Interviews fanden statt: Aus dem Entscheidungsgremium, dem Vorstand des Ligaverbandes, sind jeweils ein Vertreter eines „großen“ Vereins und ein Vertreter eines „kleinen“ Vereins interviewt worden. Ebenso fand ein Interview mit einem Mitarbeiter der DFL statt, durch dessen Abteilung die inhaltliche Unterstützung der Entscheidung vorbereitet wurde. Diese Organisation stellte uns auch Material zur Auswertung zur Verfügung. Darüber hinaus führten wir Interviews mit zwei Vereinsvertretern, die das Entscheidungsverfahren und die neue Verteilungsregel öffentlich kritisiert haben. Nicht alle angefragten Entscheidungsträger standen zum Interview bereit – vor allem diejenigen nicht, die mit dem Aufbau von Drohpotenzialen die Brisanz des Entscheidungsprozesses erhöht haben. 57
5.
Fernseheinnahmen: Regeln und Ressourcen
5.1 Fernsehgelder als Ressource zur Leistungssteigerung im Wettbewerb Seit der Gründung der deutschen Bundesliga im Jahr 1963 wird der Betrag, der durch den Verkauf der Fernsehübertragungsrechte eingespielt wird, nach 55 Vgl. Mancur Olson: Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen: Mohr, 2. Aufl. 1985. 56 Bei den analysierten Dokumenten handelt es sich um eine Mischung von Textsorten: sie kommunizieren Maßnahmen zur Entscheidungsfindung der Verteilungsregel, inhaltlichen Statements einzelner Entscheidungsträger und dokumentieren ebenso verbindliche Entscheidungen über die vorangegangenen Regelsetzungsprozesse sowie über den untersuchten Regelsetzungsprozess. 57 Folgender Schlüssel wird zur Kennzeichnung der Interviews verwendet: DFL = Interview 1; Vorstand = Interview 2 und 4; zwei Vereinsvertreter = Interview 3 (beide wurden gleichzeitig interviewt). 188
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festgesetzten Regeln an die einzelnen Vereine verteilt. Im Durchschnitt aller Bundesligavereine belaufen sich die Fernseheinnahmen auf 25% aller Einnahmen bei durchschnittlich 27,8% Werbeeinnahmen.58 Weil die Gestaltung der Verteilungsregel an wettbewerbsbezogene Erfolgserwartungen geknüpft sind, ist damit zu rechnen, dass bei der Entscheidungsfindung zur Regelsetzung gemeinschaftliche Orientierungen in den Hintergrund treten und leistungsbezogene Kriterien, die konfliktgeladene Situationen hervorrufen, die Aushandlungen dominieren.
5.2 Verteilungsregeln der Jahre 2000 und 2006 im Vergleich Das Entscheidungsverfahren zur Festsetzung einer Verteilungsregel umfasst zwei Sachverhalte, das Festlegen des Verteilungsschlüssels und das Festsetzen der Laufzeit, für die der Verteilungsschlüssel gilt. Die Festlegung des Verteilungsschlüssels erfolgte bislang unter Rückgriff auf beide Prinzipien, das Gleichheitsprinzip und das Leistungsprinzip. Im Vergleich zum Jahr 2000 spielte im Jahr 2006 das Gleichheitsprinzip keine entscheidende Rolle mehr. • Verteilungsregel 2000: Von Juli 2000 bis Januar 2006 galt folgender Modus: Von der Gesamtsumme (ca. 600 Mio. DM) wurden 80% den Vereinen der ersten Bundesliga zur Verfügung gestellt. Die Hälfte dieser 80% wurde auf alle 18 Mannschaften gleich verteilt. Die Verteilung der anderen Hälfte orientierte sich am Leistungsprinzip und wurde erfolgsbezogen gestaffelt: 75% (der zweiten 50% der 80%) errechneten sich aus den Platzierungen der vergangenen drei Spielzeiten und 25% (der zweiten 50% der 80%) errechneten sich aus dem aktuellen Tabellenstand der laufenden Saison nach jedem Spieltag.59 Die Verteilung der TV-Einnahmen in der zweiten Bundesliga orientierte sich demgegenüber stärker am Gleichheitsprinzip: 75% der 20% wurden zu gleichen Teilen auf die 18 Vereine verteilt. 25% der 20% errechneten sich auf der Erfolgsbasis. • Verteilungsregel 2006: Der Ligavorstand beschloss im Jahr 2006 folgenden Modus: 60 Von der Spielzeit 2006/07 an erhalten die 36 Profifußballvereine für drei Spielzeiten jeweils 420 Millionen Euro. Die Summe beträgt 1,26 Milliarden Euro. Der Verteilungsschlüssel zwischen erster und zweiter Bundesliga liegt bei 79 zu 21 Prozent. Die Spreizung zwischen den Plätzen 1 und 18 beider Spielklassen liegt bei 2:1. In jedem Fall ste-
58 Einzelangaben pro Verein werden leider nicht veröffentlicht, nur Durchschnittswerte. Vgl. Deutsche Fußball Liga (DFL): Bundesliga Report 1 (2006), S. 41. 59 Vgl. U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele, S. 63. 60 Vgl. DFL: Bundesliga Report 1, S. 33. 189
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hen 86 Millionen Euro zur Verteilung innerhalb der 2. Bundesliga bereit. 61 Vergleicht man beide Verteilungsregeln ist eine Verschiebung zugunsten des Leistungsprinzips unverkennbar. Die Verteilungsregel 2000 bedeutete eine Spreizung zwischen dem ersten und letzten Tabellenplatz in der Bundesliga von 1,7:1. Durch die neue Verteilungsregel ist die Spreizung auf 2:1 größer angewachsen, sodass der Tabellenstand, d.h. die erbrachte Leistung ein höheres Gewicht durch die neue Regel erhält. Die Anwendung des neuen Verteilungsschlüssels offenbart somit Nutzenvorteile durch relative Gewinne für die erfolgreichen Mannschaften.62 Angesichts dessen zeigen sich die Vertreter der „kleinen“ Vereine aus zwei Gründen enttäuscht. Erstens verringert der neue Verteilungsschlüssel ihre Chancen erfolgreich in der Bundesliga mitzuspielen. Zweitens wurde der Verteilungsschlüssel – entgegen anders lautenden Bekundungen – vor dem Entscheidungsakt nicht gegenüber dem Großteil der Manager kommuniziert (Interview 3) und dadurch die bislang unterstellte Erwartung an gemeinschaftlicher Sinnorientierung enttäuscht. Der VfL Bochum forderte daher öffentlich, dass über die Verteilungsregel nicht mehr nur der Ligavorstand, sondern alle 36 Vereine abstimmen sollten.63 Er begründet seinen Vorschlag damit, dass es sich bei der Verteilung der Fernsehgelder um einen haushaltsrechtlichen Sachverhalt handelt, der laut Satzung eine Abstimmung auf der Vollversammlung des Ligaverbandes bedarf. Mit dem Bezug auf die gesatzte Ordnung des Ligaverbandes klagt er angesichts der veränderten Situation Koordination durch Wettbewerb (um Wählerstimmen) ein. Dass diese sich bereits auf vergesellschaftlichen Pfaden organisierter Koordination bewegt, verdeutlicht die Antwort der Ligavertreter: Der Vorstand sei ein demokratisch gewähltes Gremium und ist mit entsprechenden Entscheidungskompetenzen ausgestattet (Interview 4).
6.
Hidden Games im Schatten der Regelfindung
Die Prozesse zur Entscheidung für einen neuen Verteilungsschlüssel betreffen den Vergesellschaftungsprozess des deutschen Profifußballs, weil sie die Umgestaltung einer gesatzten Ordnung beinhalten. Durch diesen Bezug rahmt die neue zu setzende Ordnung die individuellen Möglichkeiten der Vereine, am Wettbewerb durch Investitionen in human capital teilzuhaben. Die hidden games laufen im Schatten der offiziellen Verhandlungen um die neue Ordnung mit und fungieren als aktualisierbare Deutungsressource für das verein61 Vgl. ebd. 62 Vgl. U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele, S. 65. 63 Vgl. Werner Altegoer: Die Front gegen Bayern wächst. Interview mit Werner Altegoer von Berris Boßmann, in: Sport Bild Online vom 01. Februar 2006. 190
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bezogene Abstimmungsverhalten zur Vorstandswahl und den Verteilungsschlüssel. Erst in solchen Ausnahmefällen zeigen sich die hidden games und offenbaren die mit ihnen geführten Legitimationsquellen. Die Interviewauswertung zeigt, dass die hidden games gerade wegen ihres Vergesellschaftungsbezugs den Rahmen der Vergemeinschaftung beeinflussen, ohne ihn zu determinieren und ohne dabei das offizielle Verfahren der demokratischen Einigung, welches auf der Satzung der DFL basiert, zu verletzen. In der öffentlichen Diskussion um die Neuverteilung der Fernsehgelder taten sich Vertreter von zwei Akteursgruppen hervor: Vertreter von „großen“ Vereinen, die sich als „europäische Spitzenmannschaft“ sehen, sowie Vertreter von „kleinen“ Fußballprofivereinen. Der öffentliche Schlagabtausch legte zwei Drohungen frei, die die hidden games während der Entscheidungsphase dominierten. Zum einen stand die Drohung im Raum, den Weg der individuellen Vermarktung der Fernsehrechte zu gehen, um den eigenen Gewinn zu maximieren. 64 Der FC Bayern München würde damit die Gemeinschaft der 36 Vereine schwächen, weil es zu einer Reduktion der erwartbaren Summe der Fernsehgelder kommen würde. Dadurch bekräftigen sie ihre Position, dass die „kleinen“ Vereine durch die Zentralvermarktung der Fernsehgelder bevorteilt werden. Zum andern stand die Drohung im Raum, sich dem Verein FC Bayern München im laufenden Wettbewerb als Gegner zu verweigern,65 damit er sich für den europäischen Wettbewerb nicht spielerisch rüsten kann. Die Vereine VfL Bochum und Eintracht Frankfurt haben als Vertreter der „kleinen“ Vereine mehrfach darauf verwiesen, dass die „großen“ Vereine die „kleinen“ Vereine als Mitspieler in der Meisterschaft, die im Fernsehen übertragen wird, brauchen. Weil wir uns auf die Rekonstruktion der Gemeinschafts- sowie auf die Organisations- und Wettbewerbsbezüge als Vergesellschaftungsphänomene konzentrieren, die im Vorfeld der Regelfindung stattfanden, verzichten wir auf die vollständige Diskussion der Gründe,66 die – vermittelt über die Vor64 „…dann rollt man uns den roten Teppich aus, und wir würden mit einem Scheck in der Größenordnung 75 bis 100 Millionen Euro das Büro verlassen“ (Interview mit Ulli Hoeneß, 2006, in: http://www.rp-online.de vom 23. Januar 2006). 65 „Auch der FC Bayern braucht 17 ernsthafte Gegner, damit der Wettbewerb noch attraktiv für Zuschauer und Fans bleibt“ (Interview mit Werner Altegoer, in: RevierSport Nr. 10 (2006), S. 21). 66 Sechs Gründe konnten wir identifizieren (U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele, S. 68-69.): 1. Es gibt keine Übereinstimmung zwischen der Fremd- und Selbstzuschreibung „kleiner“/„großer“ Verein. 2. „Kleine“ Vereine zeichnen sich durch eine schwache Handlungsfähigkeit aus. 3. Der FC Bayern München sanktioniert und belohnt loyales Verhalten der „kleinen“ Vereine. 4. „Kleine“ Vereine verfügen nicht über genügend Ressourcen, um Kollektivgutleistungen 191
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standswahl – zu einem Verteilungsschlüssel führten, der die „großen“ Vereine begünstigt. Zwei Befunde offenbarten die hidden games: (1) Beiderseits wurden die Drohpotenziale aufgebauscht, um das Abstimmungsverhalten der einzelnen Vertreter des achtköpfigen Entscheidungsgremiums unter Druck zu setzen.67 Nachweislich stellten beide Drohungen keine realisierbaren Optionen dar. Die individuelle Vermarktung der Fernsehrechte wäre frühestens ab 2009 möglich, weil bis dahin die Zentralvermarktung vertraglich geregelt war. Die Mehrheit der Bundesligavereine zur Spielenthaltung gegenüber dem FC Bayern München zu überzeugen, bedarf einer zeitstabilen Einigkeit, die keine positive Anreizwirkung zur Kooperationsenthaltung mit sich führt. Weder auf diese Option noch auf eine andere Kollektivstrategie einigten sich die „kleinen“ Vereine, weil sie sich nicht als Gruppe der „kleinen“ Vereine definierten und dementsprechend keine gemeinsame Deutung ihrer Situation entwickelten. Die Mehrheit der so genannten „kleinen“ Vereine versteht sich entweder als „großer“ Verein oder strebt es an, zu dieser Gruppe dazuzugehören (Interview 1). Diejenigen Vereine, die sich in ihrer Selbstzuschreibung als „Kleine“ begreifen, können nicht jene kritische Masse mobilisieren, die ihren Interessen entscheidendes Gehör verhilft. Aus diesem Grund gelang es ihnen auch nicht, die Vorstandswahlen entscheidend zu beeinflussen, um auf diesem Weg die Verteilung der Fernsehgelder an eine eher gemeinschaftliche Orientierung anzulehnen. Die gemeinsame Identitätsfindung als Gruppe der „kleinen“ Vereine wird dadurch erschwert, dass aufgrund der saisonalen Aufstiegs- und Abstiegsmodalitäten keine hinreichende Dichte und Stärke der Kommunikation entsteht. Diese wäre jedoch nötig, um über so erzeugte Grenzziehungen gemeinsame Deutungen über Situationen und ihre Bearbeitung zu generieren. Die Vertreter der „kleinen“ Vereine schließen nicht aus, dass sich in Anbetracht des von ihnen als schlecht erachteten Verteilungsschlüssels sich die „Fahrstuhlmannschaften“ organisieren, um ihre Interessen zukünftig besser zu vertreten (Interview 3). Der Umstand, dass kleine Vereine sich zu den großen zugehörig fühlen,68 lässt erahnen, dass weder bessere Ressourcenausstattungen noch – auf dieser Basis erzeugte – Sanktionspotenziale die Situation der Uneinigkeit wesentlich vermindern. Es sind die Kommunikationen und die sich daran anschließenden Gewinngelegenheiten, die mit dem signifikanten Dritten wie dem FC Bayern München geführt werden, die die Wahl der Zugehörigkeit beeinflussen. Mehrere Interviewpartner wiesen darauf hin, dass der Verein FC Bayern München zu erbringen. 5. Die Professionalisierung des Profifußballs bewirkt, dass Manager ihre Interessen gegenüber den Vereinsinteressen strategisch abwägen. 6. Sonderinteressen gelingt es, die Legitimation demokratischer Entscheidungen zu unterlaufen. 67 Vgl. U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele, S. 68. 68 Vgl. ebd. 192
HIDDEN GAMES
immer im Ligavorstand vertreten sein müsse, weil er sich sonst nicht den Beschlüssen unterordnen würde. 69 Dies wird in einem anderen Interview wie folgt interpretiert: „Warum muss Bayern im Vorstand sitzen? Damit wir Ruhe haben. Dies ist ein Stück Angst.“ (Interview 3). Die Sanktionsdrohungen verknüpft der FC Bayern München geschickt mit selektiv wirkenden guten Taten, die er einzelnen „kleinen“ Vereinen widmet: Das politische Feld im LigaVerband wird indirekt über Freundschaftsspiele mit „kleinen“ Vereinen bestellt. Einige kritische Stimmen konnten so besänftigt werden (Interview 2 und 4). Selbstzuschreibung groß
klein
stabil
große Vereine
-
selten
Hochstapler
kleine Vereine
Spitzenleistung
Abbildung 2: Gruppenteilung innerhalb der „Gemeinschaft“ Bundesliga Die Analyse der hidden games verdeutlicht nicht nur, dass das Zugehörigkeitsgefühl im Sinne der Selbstzuschreibung und das damit verbundene Identifikationsbedürfnis mancher „kleiner“ Vereine nicht mit ihren tatsächlich erbrachten sportlichen Leistungen korreliert. Die „Gemeinschaft“ Bundesliga konstituiert sich genau genommen durch drei Gruppen, die „großen“ Vereine, die „kleinen“ Vereine und die „Hochstapler“ (siehe Abbildung 2). Diese Gruppeneinteilung ergibt sich durch die Kreuzung der Merkmale Zugehörigkeit und tatsächlich erzielte Spitzenerfolge. Während sich die Gruppen „große“ und „kleine“ Vereine erwartungsgemäß konstituieren, sehen sich die Vereine, die die Gruppe der „Hochstapler“ bilden, als Spitzenmannschaft hinsichtlich ihres Potenzials trotz ausbleibender Erfolge. Die Gruppe der „Hochstapler“ markiert die Achillesferse der kollektiven Handlungsunfähigkeit der „kleinen“ Vereine: ihre stete Instabilität, die sich durch Auf- und Abstiege einerseits und die individuelle Identitätsbekundung andererseits reproduziert. Diese Instabilität korreliert negativ mit der Handlungsfähigkeit eines Kollektivakteurs und führt in diesem Fall zu einer Fragmentierung der Chancenverteilung bei der Verfolgung von Zielen. 70 Das Set von Selbstzuschreibung und erwarteter Instabilität reichte letztlich aus, um den Verteilungsschlüssel zu69 „Um Kompromisse zu haben, musst Du Bayern im Vorstand haben, weil sonst Bayern die demokratisch legitimierten Beschlüsse nicht akzeptiert“ (Interview 4). 70 Vgl. U. Wilkesmann/D. Blutner: Brot und Spiele, S. 70. 193
DORIS BLUTNER/UWE WILKESMANN
gunsten der „großen“ Vereine signifikant zu beeinflussen. Diese Gruppe „Hochstapler“ fungierte dabei als berühmtes Zünglein an der Waage. (2) Die Vertreter der „großen“ bzw. „kleinen“ Vereine griffen auf gemeinschaftliche und wettbewerbsbezogene Koordinationsmechanismen unterschiedlich zurück. Entscheidend war jedoch, auf welche Koordinationsmechanismen sich die jeweiligen Vertreter zur Abstimmung für die gesatzte Ordnung letztlich beziehen.
Entscheidung
Selbstzuschreibung „großer Verein“
Selbstzuschreibung „kleiner Verein“
Deutungsangebot
„Wir sind im Wettbewerb“
„Wir 36 sind eine Gemeinschaft“
Verteilung: Handlungen
Leistungsprinzip
Selektive Anreize: Gemeinschaft
Abbildung 3: Rekurs auf Koordinationsweise und ihre empirische Anschlussfähigkeit Die hinter der Regelfindung zur Fernsehgeldverteilung liegenden Fragen sind: Verstehen sich die 36 Profifußballvereine als Gemeinschaft? Lässt sich auf dieser Basis ein gemeinschaftliches Selbstverständnis erzeugen? Ist die Belohnung des sportlichen Wettbewerbs die dominante Strategie? Auf diese Fragen antworteten die „kleinen“ respektive „großen“ Vereine gewissermaßen eindeutig. Während erstere eine Lösung im Sinne einer gemeinschaftlichen Gleichverteilung präferierten, stimmten die „große“ Vereine und die Gruppe der „Hochstapler“ für das Leistungsprinzip. Den „kleinen“ Vereinen blieb bis zuletzt nur der Appell: „Wir sind eine Gemeinschaft“.71 Dieses Deutungsangebot wurde weder von der Mehrheit der Vereine unterstützt, noch fanden sich Mitstreiter, um die Organisation von Leistung und Wettbewerb mit gemeinschaftlichen Sinn zu untersetzen. Die „großen“ Vereine haben demgegenüber die Organisationsbedürftigkeit des Wettbewerbs nicht nur erkannt; sie möchten darüber hinaus auch ihren individuellen Nutzen ziehen. Dem „Wir sind im Wettbewerb“ auf der Deutungsebene setzen sie eine entsprechende Handelungsorientierung zur Seite. Erst durch das Votum für das Leistungsprinzip gelingt es ihnen außerhalb des Wettbewerbs, Gemein-
71 „Auch der FC Bayern braucht 17 ernsthafte Gegner, damit der Wettbewerb noch attraktiv für Zuschauer und Fans bleibt“ (Werner Altegoer: „FernsehgeldVerteilung verzerrt den Wettbewerb“, Interview mit Werner Altegoer, in: RevierSport 12 (2006b), S. 21). 194
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schaftsorientierungen wieder zu beleben. Diese zeigen sich als Sanktionsdrohungen wie selektiv zugewiesenen Belohnungen. „Kleine“ Vereine, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, werden direkt durch „große“ Vereine finanziell gestützt (1860 München) oder durch kostenlose Freundschaftsspiele unterstützt (z.B. Energie Cottbus, Hansa Rostock, FC St. Pauli). Sie sind dem Werkzeugkasten gemeinschaftlicher Koordination entnommen. Ferner stellen sie Gunstbeweisungen dar, die zuvor gezeigte und in Erwartung gestellte Gefolgschaft belohnen. 72 Auf beiden Seiten, den Gönnern und den individuell Begünstigten, wird aus dem Nebeneinander von Wettbewerb und Gemeinschaft der höhere individuelle Nutzen – zumindest kurzfristig – gesehen. Langfristig wird sich zeigen, ob sich die Gewinner der Verteilungsregel 2006 auch als solche fühlen, nachdem sie Erfahrungen mit dem neuen Verteilungsschlüssel gesammelt haben. Nicht der unterschiedliche Rekurs auf die Koordinationsformen Organisation, Wettbewerb und Gemeinschaft, sondern die Wirkung der hidden games in diesem Entscheidungsprozess war entscheidend. Letztere vermochten die kollektive Handlungsfähigkeit der „kleinen“ Vereine so zu schwächen, dass es zu keiner gemeinsamen strategischen Positionierung kam.
7.
Fazit
Der Profifußball ist längst eine vergesellschaftete Arena, die über Formen der Organisation und des Wettbewerb koordiniert wird. Die kollektive Handlungsunfähigkeit der „Kleinen“ demonstriert das Verschwinden gemeinschaftlicher Orientierungen exemplarisch. Dieser Befund kann zweifach belegt werden. Zum einen ist eine Fragmentierung der Chancenverteilung, die aufgrund der relativ hohen Stabilität der kleinen Gruppe der „großen“ Vereine einerseits und der relativen Instabilität der großen Gruppe der „kleinen“ Vereine andererseits stabil bleibt, unübersehbar. Die Organisationsvorteile der kleinen Gruppe der „großen“ Vereine, Stabilität und hohe Kommunikationsdichte, sind markant. Dass zwei wichtige Wesensmerkmale gemeinschaftlicher Koordination dieser Gruppe zur Erhöhung ihrer Wettbewerbsressourcen verhelfen, mag nur auf den ersten Blick die Ironie dieser Entscheidungsergebnisse darstellen. Schließlich ist festzuhalten, dass beide Akteursgruppen in den hidden games auf gemeinschaftliche Orientierungen und damit verbundene Drohungen rekurrieren, die an traditionale und teilweise auch an charismatische
72 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft.; Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft.; Vgl. William Ouchi: „Markets, Bureaucracies and Clans“, in: Administrative Science Quarterly 25 (1980), S. 129-141.; Vgl. A. Sorge: Arbeit, Organisation und Arbeitsbeziehungen. 195
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Formen von entscheidungsbezogener Führerschaft erinnern. 73 Diese Rückbezüge verweisen nicht nur auf gemeinschaftliche Wurzeln des Fußballspiels; sie besitzen eine funktionale Passfähigkeit, um den Anschluss an den Alltag angesichts ungeregelter Situationen und Momente zu erleichtern. Dieser Rückgriff auf Gemeinschaft bleibt riskant, weil er die gesatzte Ordnung des inzwischen vergesellschafteten Profifußballs unterläuft. Auf der anderen Seite darf die Gemeinschaftsorientierung nicht verloren gehen, weil die bedingungslose Fortschreibung der Leistungssteigerung wettbewerblicher Formen nichtintendierte Effekte mit sich führt, die die Nachfrage nach der Meisterschaft als Fernsehprodukt deutlich schmälern könnte. Zum einen zeigt eine Studie von Pfeiffer, Hovemann & Herpel, dass eine hohe Spreizung bei der Verteilung von Fernsehgeldern den Zuschauerwert durch einen Verlust der competitive balance verdirbt. 74 Diese gerät wesentlich durch ungleiche Chancenverteilung zum Einkauf von Spielerqualitäten in eine Schräglage. Im Gegensatz zu der deutschen Liga gibt es in der spanischen und italienischen Liga aus Zuschauersicht kaum noch jene Spannung, die das Fernsehen zum Erlebnis werden lässt. Die in diesen Ligen getätigten Investitionen in human capital schlagen durch und bewirken, dass nur noch so ausgestattete Mannschaften überproportional erfolgreich spielen und das Verfolgen der Meisterschaft keine Spannung mehr verspricht. In einem ausbalancierten Wettbewerbssystem „Meisterschaft“ spielen Zuschauerinteresse verknüpft mit Fernsehübertragungsrechten und sportlicher Erfolg ineinander. Wenn die Kluft zwischen „Großen“ und „Kleinen“ zu groß wird, droht der gegenteilige Effekt, weil ein signifikanter Rückgang an nachgefragtem Zuschauerinteresse hinsichtlich der Fernsehübertragungen den Anreiz von Sponsoren minimiert, in dieses Geschäftsfeld zu investieren. Die Fragmentierung der Chancenverteilung bedarf daher einer Rückbindung an die Gemeinschaft oder besser formuliert, auch der Markt „Meisterschaft“ bedarf einer institutionellen Einbettung. In diese Richtung geht auch der Vorschlag von Pfeiffer, Hovemann & Herpel, der die Kopplung der Instrumente Zentralvermarktung der Fernsehrechte und Umverteilung der Einnahmen aus den Medienrechten an alle Clubs beinhaltet. 75 Eine solche Einbettung mag im Profifußball zu einer Mischung institutionell organisationaler und traditional gemeinschaftlicher Koordination führen. Nimmt Vergesell-
73 Vgl. Doris Blutner/Ursula Holtgrewe/Gabriele Wagner: „Charismatische Momente und Trajekte: Das Projekt als Plattform charismatischer Führung“, in: Georg Schreyögg/Jörg Sydow (Hg.), Managementforschung: Führung – neu gesehen, Berlin, New York: de Gruyter 1999, S. 199-237, hier S. 231. 74 Vgl. Stefan Pfeiffer/Ernst Hovemann/Phillip Herpel: „Bälle, Tore und Finanzen IV“, in: Ernst & Young (Hg.), http://www.de.ey.com, http://www.ey.com/global/content.nsf/Germany/Home vom 22. August 2007, S. 17. 75 Vgl. ebd., S. 19. 196
HIDDEN GAMES
schaftung einen solchen Weg, „dass isoliertes individuelles Nebeneinander sich zu bestimmten Formen des Miteinanders und Füreinanders gestalten und Wechselwirkungen hervorrufen“, 76 so bleibt Raum für Neues auch im Profifußball. Hervorzuheben ist dabei, dass „sowohl die gleiche Form der Vergesellschaftung mit verschiedenen Inhalten verbunden werden kann wie sich das gleiche inhaltliche Interesse in unterschiedlichen vergesellschafteten Formen zeigen kann“. 77 Diese Überlegungen von Simmel stoßen die Tür weit auf, Prozesse der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung mittels Koordinationsmechanismen zu analysieren.
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76 Georg Simmel: Soziologie, Berlin: Duncker & Humlot 1958, S. 5. 77 Vgl. ebd., S. 7. 197
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Die gesellschaftliche Bedeutung von Fußballbegeisterung. Vergemeinschaftung und Sozialkapital-Bildung auf dem Prüfstand MIKE S. SCHÄFER/JOCHEN ROOSE
Fußball ist weit mehr als ein Spiel – zumindest kann man diesen Eindruck bekommen, wenn man sich manche Thesen über diesen Sport ansieht. So wird Fußball oft als Spiel mit großer sozialer Integrationskraft dargestellt. Dem FIFA-Präsidenten Joseph Blatter zufolge bringt Fußball „alle Völker, alle Rassen, alle Religionen, alle Altersklassen und alle Geschlechter zusammen“, 1 weil es, so der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan, „in every country and by people of every race and religion“2 gespielt werde. Dass das Finalspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 laut FIFA von weltweit mehr als 600 Millionen Menschen im Fernsehen verfolgt wurde,3 illustriert das integrative Potenzial des Fußballs. Doch bevor wir dieser begeisterten Werbung für die positiven Effekte des Fußballs folgen, wollen wir einen Schritt zurück treten. Ist es plausibel, dass sich Zuschauer, nur weil sie gemeinsam dasselbe betrachten, gleich vergemeinschaften? Und wenn dem so ist, hat dies gesellschaftliche Wirkungen? Zunächst einmal scheint die Annahme, dass sich Fußball in besonderer Weise als Kristallisationspunkt sozialer Gruppenbildung eignet, durchaus plausibel: Der Konsum dieser Sportart ist so gut wie allen Menschen möglich – Stadien und Fernsehgeräte finden sich allerorten, und nicht umsonst zählt die TV-Übertragung der Bundesliga in Deutschland nach wie vor zur mas-
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Martin Mai/Holger Meeh/Manfred Seidenfuß: „Faszination Fußball“, in: Politik und Unterricht 32 (2006)H 1, S. 5-6, hier S. 6. Vgl. Emsie Ferreira: In praise of football, by Kofi Annan (Agenturmeldung). Paris: AFP 2006. FIFA: TV Data. http://www.fifa.com/aboutfifa/marketingtv/factsfigures/tvdata. html vom 11. Juli 2007. 201
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senmedialen „Grundversorgung“ der Bevölkerung. Darüber hinaus wird der Sport den Menschen nicht oktroyiert, sondern kann freiwillig wahrgenommen werden. Kurz: „Keiner wird gezwungen, und keiner wird ausgeschlossen“. 4 Die Vergemeinschaftung durch Fußball scheint also möglich, und Beispiele wie der neue Patriotismus, der in Deutschland während der WM 2006 vermeintlich entstanden ist, 5 scheinen dies zu belegen. Zwar dürfte die vergemeinschaftende Wirkung derartig umfassender Prozesse, die alle Gesellschaftsmitglieder einschließen, eher temporär sein und langfristig allenfalls schwache Effekte zeigen. Aber es finden sich, auf der konkreten lokalen Ebene, auch dauerhaftere und tiefgehendere Prozesse der Sozialintegration rund um den Fußball. Diese betreffen zwar weniger Menschen, wirken auf diese aber vermutlich stärker. Sie begründen relativ beständige, robuste und sehr sichtbare Gruppen Gleichgesinnter: nämlich der Fans der jeweiligen lokalen Vereine. Inwieweit diese Gruppen tatsächlich als Formen von Vergemeinschaftung verstanden werden können, wird die erste Frage dieses Artikels sein. Darüber hinaus wird es um die Wirkungen derartiger Vergemeinschaftungen rund um den Fußball gehen. Denn neben der Vergemeinschaftung Gleichgesinnter wird dem Fußball oft auch eine weitergehende gesellschaftliche Integrationswirkung zugeschrieben: die Ausbildung von Sozialkapital. In den 1990er Jahren kam in der Politikwissenschaft und der politischen Soziologie die Diskussion um Sozialkapital und dessen Bedeutung für die Demokratie auf. 6 Vor allem Robert D. Putnam vertrat in seinem Buch über das Funktionieren der Verwaltungsinstitutionen in Italien und in späteren Arbeiten die These, dass Sozialkapital die Basis für ein funktionierendes Gemein-
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Klaus Cachay u.a.: Global Player Local Hero. Der Sportverein zwischen Spitzensport, Publikum und Vermarktung. Projektabschlussbericht, Universität Bielefeld 2005, S. 17. Vgl. z.B. W. Sander: Deutsche Nation. Vgl. Übersichten zur Diskussion bei Sonja Haug: Soziales Kapital. Ein kritischer Überblick über den Forschungsstand, Mannheim: Arbeitspapier 15 des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung 1997; Robert D. Putnam (Hg.): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2001; Jan W. van Deth: „Ein amerikanischer Eisberg. Sozialkapital und die Erzeugung politischer Verdrossenheit. Essay“, in: Politische Vierteljahresschrift 42 (2001), S. 275-281. Dieser, v.a. in den USA geprägte Strang sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung entwickelte sich recht eigenständig und weitgehend unabhängig von der Theorie Pierre Bourdieus, in der ein ähnlicher Begriff – „soziales Kapital“ – von zentraler Bedeutung ist (Vgl. z.B. Pierre Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen: Otto Schwarz 1983, S. 183-199.) Der hier vorgelegte Aufsatz schließt an die erstgenannte Tradition an.
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DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
wesen schaffe. 7 Derartiges Sozialkapital, von Putnam definiert als „features of social organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions“,8 entstehe maßgeb-lich in Vereinen und Gruppen. Durch die Einbindung in kleinräumige soziale Netzwerke eigneten sich Menschen das Sozialkapital an, das sie dann in anderen Lebensbereichen einsetzen könnten. Putnam zufolge wächst auf Basis sozialen Vertrauens in derartigen Netzwerken die Bereitschaft des Einzelnen zur Kooperation mit anderen Menschen und auch der Wille zur Unterstützung anderer Menschen. Diese Kooperations- und Unterstützungsbereitschaft bleibt in der Folge aber nicht auf die kleinen Netzwerke beschränkt, sondern ist über ihre eng umgrenzten Entstehungskontexte hinaus generalisierbar. In kleinen Netzwerken könne man lernen, so Putnam, dass man auch Unbekannten vertrauen und mit ihnen kooperieren könne. Dies wiederum stärke die Handlungsbereitschaft der Einzelnen und letztlich den Willen der Bürger, sich politisch zu engagieren und damit Kollektivgüter zu produzieren. „Good government in Italy is a by-product of singing groups and soccer clubs“, 9 ist Putnams pointierte These – und diese dürfte nicht nur für Freizeitvereine gelten, sondern auch für die von uns betrachteten Fußballfans. 10 Putnams These steht in einer langen Tradition in den Politikwissenschaften. Bereits Alexis de Tocqueville hatte in der amerikanischen Zivilgesellschaft des 19. Jahrhunderts die Basis für die Demokratie gesehen. 11 Doch auch für Gegenthesen gibt es prominente Ahnherren. Karl Marx bezeichnete die Religion bekanntlich als „Opium des Volkes“, 12 weil sie vornehmlich der Ablenkung und Befriedung der Massen angesichts ihrer elenden und ungerechtfertigten Lebenssituation diene. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno äußerten sich in ähnlicher Weise über die „Kulturindustrie“, deren
7
Robert D. Putnam: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton: Princeton University Press 1993; Robert D. Putnam: Bowling Alone, New York u.a.: Touchstone 2000; Robert D. Putnam: „Bowling Alone: America’s Declining Social Capital“, in: Journal of Democracy 6 (2000), S. 65-78. 8 R. D. Putman: Making Democracy Work, S. 167. 9 Vgl. ebd., S. 176. 10 Zu Sportvereinen vgl. z.B. Bo Rothstein: „Sozialkapital im sozialdemokratischen Staat – das Schwedische Modell und die Bürgergesellschaft“, in: Robert D. Putnam (Hg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2001, S. 142; Jean-Pierre Worms: „Alte und neue staatsbürgerliche und bürgergesellschaftliche Bindungen in Frankreich“, in: R. D. Putnam (Hg.), Gesellschaft und Gemeinsinn, S. 344ff.; Robert Wuthnow: „Der Wandel des Sozialkapitals in den USA“, in: R. D. Putnam (Hg.), Gesellschaft und Gemeinsinn, S. 668ff. 11 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart: Reclam 1985. 12 Karl Marx: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx-Engels-Werke Bd. 1, Berlin: Dietz 1844, S. 378. 203
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Rolle ihrer Meinung nach „im Überbau als Kontrolle zu Gunsten der Herrschenden“ liege. 13 Zwar dachten weder Marx noch Horkheimer und Adorno an Sportveranstaltungen, diesen könnte man aber durchaus eine ähnliche Rolle zuschreiben wie der Religion oder der Kulturindustrie: möglicherweise dienen auch sie der Ablenkung vom gesellschaftlich eigentlich Substanziellen, von der Politik oder gar von den eigentlich wichtigen Unterdrückungsprozessen. Thomas Bernhard formulierte 1970 anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises eine solche These für den Sport: „Dem Sport ist zu aller Zeit und vor allem von allen Regierungen aus gutem Grund immer die größte Bedeutung beigemessen worden: er unterhält und benebelt und verdummt die Massen; und vor allem die Diktatoren wissen, warum sie immer und in jedem Fall für den Sport sind.“ Mit anderen Worten: Ganz im Gegensatz zu Putnam wird in dieser Tradition die Sportbegeisterung keineswegs als Schule der Demokratie interpretiert, sondern im Gegenteil als Ablenkung von der Politik. Schließlich lässt sich auch differenzierungstheoretisch argumentieren. Beschreibt man moderne Gesellschaften, wie es in der Soziologie durchaus verbreitet ist, 14 als funktional differenziert in Subsysteme mit einer eigenen Logik, so wäre eine dritte These naheliegend: Die Menschen sind gleichzeitig in unterschiedliche funktionale Subsysteme eingebunden, wenn auch unterschiedlich intensiv. Weil die Subsysteme jeweils einer eigenen Logik folgen, ist auch die Intensität der Einbindung in diese Subsysteme unabhängig voneinander. Bezogen auf die Subsysteme Sport und Politik könnte dies bedeuten, dass das Engagement im Sportbereich nichts aussagt über das Engagement in der Politik. Weil beide Subsysteme nach ihren eigenen Regeln funktionieren, stehen auch das Interesse an ihnen und die Beteiligung in ihnen nicht in einem subsystemübergreifenden Zusammenhang. Wir werden in der Folge der gesellschaftlichen Bedeutung der Begeisterung für den Fußball nachgehen. Dabei verfolgen wir die beiden skizzierten Dimensionen: die Vergemeinschaftung von Fußballfans, also die soziale Integrationskraft des Fußballs, und ihre vermeintliche Rolle als „Schule der Demokratie“ oder als „Opium des Volkes“. Zu diesem Zweck werden wir uns zunächst den klassischen soziologischen Begriff der „Gemeinschaft“ vornehmen, um die Gruppenbildung von Fußballfans zu fassen (Kap. 1). Nach einer kurzen Beschreibung der methodischen Vorgehensweise und Datengrundlage (Kap. 2) wird dann empirisch die Vergemeinschaftung bei Fußballfans be13 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“, in: Max Horkheimer (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 5. „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950, Frankfurt/Main: Fischer 1987, S. 141. 14 Vgl. z.B. Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen: Leske+Budrich 2000. 204
DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
schrieben, werden also die Behauptungen über eine enge soziale Integration unter Fans überprüft (Kap. 3). Davon ausgehend untersuchen wir dann den Zusammenhang von Vergemeinschaftung und Einstellungen zur Demokratie. Wir fragen, ob mit einem hohen Vergemeinschaftungsgrad tatsächlich ein höheres politisches Interesse einhergeht (Kap. 4). Abschließend resümieren wir unsere Befunde (Kap. 5).
1. Gemeinschaft, Sozialkapital und der Fall der Fußballfans Die Untersuchung sozialen Zusammenhalts ist ein klassischer, vielleicht der klassische Topos der Soziologie. 15 Ein zentraler Ausgangspunkt waren dahingehend die Arbeiten von Ferdinand Tönnies und seine Unterscheidung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, 16 welche die Analyse sozialer Integration bis heute beeinflusst und eine Reihe von Überschneidungen zur Konzeption des Sozialkapitals nach Putnam aufweist. Tönnies beschreibt „Gemeinschaft“ als eine subjektiv empfundene und gefühlsmäßig verankerte Zusammengehörigkeit von Menschen.17 Als Beispiele nennt er Familien-, Dorf- und Nachbarschaftsgemeinschaften – bei denen die subjektiv empfundene Zusammengehörigkeit noch durch ein weiteres Merkmal, nämlich durch verwandtschaftliche Verbindungen oder durch eine dauerhafte räumliche Nähe der betreffenden Personen untermauert wird.18 Weitere Beispiele seien Geistes-, Volks- oder Glaubensgemeinschaften, bei denen das Zusammengehörigkeitsgefühl vornehmlich auf eine gemeinsame „Gesinnung“ 19 zurückgehe. Die Bindungsstärke in Gemeinschaften kann variieren. Teils ordnet sich das Individuum lediglich selbst einer Gruppe zu und interagiert mit ihr. Teils wird die Gruppe explizit über das Individuum gestellt und der Kerngedanke der Integration besteht dann im „gemeinsamen Wol-
15 Vgl. statt anderer Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski (Hg.): Soziale Integration, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. 16 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. 17 Vgl. ebd., S. 7ff. 18 Tönnies betonte – für seine Zeit typisch – v.a. die naturalistische Basis menschlicher Gemeinschaft. Die Blutsverwandtschaft innerhalb der Familie sei die Grundform von Gemeinschaft und ihre „allgemeine Wurzel […] der Zusammenhang […] durch die Geburt“ (ebd., S. 7) Schon Tönnies nennt aber auch andere Grundlagen der Gemeinschaftsbildung, und die moderne Soziologie weiß, dass Gemeinschaften ebenso gut als „vorgestellte Gemeinschaften“ (Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin: Ullstein 1998) entstehen und dabei eine große Handlungsrelevanz erreichen können. 19 Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 17. 205
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len“, 20 d.h. darin, dass der Einzelne einen Beitrag zum Gelingen der Gruppe leisten müsse. 21 Von der Gemeinschaft grenzt Tönnies die „Gesellschaft“ 22 ab, bei der das Kollektiv lediglich ein Mittel zur Realisierung der letztlich aber egoistischen Zwecke der Einzelnen sei. Beispiele sind Unternehmen und politische Organisationen. Diese beruhen nicht auf gefühlter und ausagierter Zugehörigkeit, sondern in ihnen steht der kalkulierende „Kürwille“ 23 der Einzelnen im Vordergrund. Entsprechend sind Gesellschaften auch weniger tiefgehend integriert als Gemeinschaften. Sie beruhen lediglich auf rationalen Bindungen der Menschen untereinander, während den emotionalen Bindungen, auf denen Gemeinschaften fußen, oft der Vorrang eingeräumt werde.24 Max Weber übernahm diese Unterscheidung von Tönnies im Wesentlichen, lediglich mit leicht veränderter Begrifflichkeit. Auch er betont die empfundene Identifikation des Einzelnen mit der Gruppe ebenso wie die Relevanz dieser Empfindung für Interaktionen in der Gruppe. Weber definiert „Vergemeinschaftung“ als „soziale Beziehung, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns … auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“. 25 Demgegenüber seien unter „Vergesellschaftung“ soziale Beziehungen zu verstehen, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht“. 26 Als dritter Autor lässt sich Emile Durkheim nennen, der – wenn auch mit abweichender Terminologie – in seiner Studie zur sozialen Arbeitsteilung 27 ebenfalls zwei soziale Integrationsmodi unterscheidet. Er beschreibt einerseits eine auf Ähnlichkeiten beruhende „mechanische Solidarität“, 28 bei der Individuen in ein starkes Kollektivbewusstsein integriert seien. Andererseits schil-
20 Ferdinand Tönnies: Einführung in die Soziologie, Stuttgart: Ferdinand Enke 1931, S. 5. 21 Kritisch dazu: Ralf Dahrendorf: „Gemeinschaft und Gesellschaft“, in: Ralf Dahrendorf (Hg.), Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1988. 22 F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 34ff.; F. Tönnies: Einführung in die Soziologie, S. 63ff. 23 F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 73ff. 24 Vgl. Robert Hettlage: „Gemeinschaft“, in: Günter Endruweit /Gisela Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, München: dtv 1989, S. 231233, hier S. 232. 25 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1972, S. 21. 26 Ebd., S. 21. 27 Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. 28 Ebd., S. 118ff. 206
DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
dert er die „organische Solidarität“, 29 die sich im Wesentlichen auf die Arbeitsteilung spezialisierter sozialer Einheiten und auf deren steigendes Aufeinander-Angewiesensein zurückführen lässt, der man also stärker rationale und kalkulierende Züge zuschreiben kann. Es ließen sich weitere Arbeiten anführen, in denen diese Dichotomie so oder ähnlich entwickelt wird. 30 Schon die Vorstellung der klassischen Arbeiten von Tönnies, Weber und Durkheim genügt aber, um auf ihrer Basis die drei zentralen Dimensionen extrahieren zu können, mit denen sich Gemeinschaften kennzeichnen lassen und die auch in der Folge im Mittelpunkt stehen sollen: • Identifikation: Gemeinschaften zeichnen sich durch die subjektiv empfundene Zusammengehörigkeit der Einzelnen aus, die sich selbst also der jeweiligen Gruppe zugehörig fühlen. • Interaktion: Gemeinschaften sind einem spezifischen, auf die Gruppe gerichteten und oft emotionalen oder affektiven (im Gegensatz zu zweckund wertrationalem) Handeln der Einzelnen verbunden. Diese beiden ersten Dimensionen sind bei allen drei genannten Klassikern weitgehend Konsens. Vor allem Tönnies weist aber darüber hinaus auf eine weitere Dimension hin. Er beschreibt, dass Gemeinschaften zur Folge haben können – und in der Tat oft haben –, 31 dass die Gruppe dem Einzelnen übergeordnet wird und dass dann die Funktion des Einzelnen wesentlich oder ausschließlich darin gesehen wird, zum Erhalt und Wohlergehen der Gruppe beizutragen. Dieser Gedanke soll hier als dritte Gemeinschaftsdimension aufgenommen werden. • Kollektivwohlorientierung: Gemeinschaften führen teilweise dazu, dass die Einzelnen die Gruppe über sich stellen und mit ihrem Handeln vor allem einen Beitrag zum Gelingen der Gruppe leisten wollen. Diese drei Dimensionen von Gemeinschaften sind mit den existierenden Arbeiten zu Sozialkapital durchaus kompatibel.32 Unter Sozialkapital versteht Putnam selbst, wie oben erwähnt, „features of social organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions“.33 In Anlehnung an diese Definition ist Sozial-
29 30 31 32
Ebd., S. 162ff. Vgl. überblicksweise R. Hettlage: Gemeinschaft. Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 9ff. Auch Putnam selbst beruft sich auf die genannten Klassiker, vgl. Robert D. Putnam/Kristin A. Goss: „Einleitung“, in: Robert D. Putnam (Hg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2001, S. 30. 33 R. D. Putnam: Making Democracy Work, S. 167. 207
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kapital in der einschlägigen Literatur häufig über Vertrauen operationalisiert worden. Die einzige Möglichkeit der Messung ist dies aber nicht. Die hier explizierten Dimensionen von Gemeinschaft korrespondieren direkt mit den von Putnam eingeführten Aspekten. Die Interaktionsdimension entspricht auf der individuellen Ebene den von Putnam thematisierten Netzwerken. Die Normen sind bei Putnam nicht inhaltlich spezifiziert, es ist aber deutlich, dass es um pro-soziale Normen geht, die sozialen Zusammenhalt stärken. Weidenfeld beispielsweise konkretisiert die Normen als „Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit“ sowie „Solidarität“, 34 Putnam und Goss sprechen von „Gemeinschaftsgeist, Mitgefühl und gesellige[m] Austausch“. 35 Die Kollektivwohlorientierung in Gemeinschaften lässt sich auf allgemeinster Ebene als inhaltliche Bestimmung derartiger Normen verstehen. Das Vertrauen schließlich ist nicht direkt Dimension der Gemeinschaft, stattdessen wird bei der Gemeinschaft Identifikation eingeführt. Beide Aspekte sind nicht deckungsgleich, lassen aber wiederum – insbesondere in Verbindung mit den anderen beiden genannten Aspekten – eine hohe Deckung erwarten. Eine weitere Parallele ist die gemeinsame Annahme von Tönnies, Weber und Durkheim, dass die Bedeutung der Vergemeinschaftung in modernen Gesellschaften tendenziell sinkt. Tönnies beschreibt die Modernisierung als unumkehrbare Entwicklung vom „Volkstum“ der Gemeinschaft hin zum „Staatstum“ der Gesellschaft in Webers Rationalisierungsentwurf treten traditionell-affektive Handlungen zugunsten zweck- und wertrationaler zurück und Durkheim diagnostiziert für die Entwicklung moderner Gesellschaften ein „fortschreitendes Übergewicht der organischen Solidarität“.36 Und auch in der Literatur zu Sozialkapital ist die These allgegenwärtig, dass selbiges in modernen Gesellschaften abnehme, vor allem aufgrund ausgeprägter „Zugewinne individueller Autonomie“ und wegen der „Loslösung der Individuen aus sozialen Milieus, in denen Gemeinschaftsfähigkeit gelernt wird“. 37 Es wird aber mitnichten angenommen, dass Formen der Gemeinschaftsbildung und des Sozialkapitals in modernen Gesellschaften gänzlich verschwinden und Fußballfans sind – wie eingangs geschildert – gewiss ein geeigneter Ort, um danach zu suchen. 38 34 Werner Weidenfeld: „Vorwort“, in: Robert D. Putnam (Hg.): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2001, S. 11ff. 35 R. D. Putnam/K. A. Goss: Einleitung, S. 16f. 36 E. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 200ff.; vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 208ff., M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 199ff. 37 W. Weidenfeld: Vorwort, S. 11. 38 Vgl. z.B. Thomas Alkemeyer: „Soccer as Mass Rituals and Interactive Event: On the Formation of Performative Communities in Modern Societies“, in: Sendai College of Physical Education (Hg.), Proceedings of the International Symposium on Soccer and Society, Sendai: ITO 2004, S. 57-71, Elk Franke: „Fuß208
DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
Empirische Untersuchungen zu diesen Fragen liegen bislang kaum vor. Zum Thema Fans existieren – obwohl es ein allgegenwärtiges Phänomen darstellt – generell nur wenige Forschungsarbeiten. Bislang haben lediglich Fußballfans 39 sowie Fans von Popgruppen 40 gelegentlich die Aufmerksamkeit von Sozialwissenschaftlern auf sich gezogen. Vereinzelt wurden Fans von anderem betrachtet, etwa von Science-Fiction-Serien, 41 Horrorvideos 42 oder so unterschiedlichen Musikangeboten wie Black Metal, 43 Volksmusik 44 oder Richard Wagner (dessen Fans sich selbst freilich nicht als „Fans“ bezeichnen). 45
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40
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42
43
44
45
ballfans eine Herausforderung an das sozialwissenschaftliche Arbeiten“, in: Detlef Garz/Klaus Kraimer (Hg.), Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 177-211. Vgl. z.B. E. Franke: Fußballfans eine Herausforderung an das sozialwissenschaftliche Arbeiten; Gunter Gebauer: „Fernseh- und Stadionfußball als religiöses Phänomen. Idole, Heilige und Ikonen am ‚Himmel‘ von Fangemeinden“, in: Markwart Herzog (Hg.), Fußball als Kulturphänomen. Kunst Kult Kommerz, Stuttgart: Kohlhammer 1998, S. 305-314; Thomas König: Fankultur. Eine soziologische Studie am Beispiel des Fußballfans, Münster: Lit 2002; Michael Prosser: „‚Fußballverzückung‘ beim Stadionbesuch. Zum rituell-festiven Charakter von Fußballveranstaltungen in Deutschland“, in: M. Herzog (Hg.), Fußball als Kulturphänomen, S. 269-292. Vgl. z.B. Bettina Fritzsche: Pop-Fans. Studie einer Mädchenkultur, Opladen: Leske +Budrich 2003; John Hauk: Boygroups! Teenager, Tränen, Träume, Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf 1999; Stefanie Rhein: „Teenie-Fans: Stiefkinder der Populärmusikforschung. Eine Befragung Jugendlicher mit dem MultiMediaComputer über ihre Nutzung fan-kultureller Angebote“, in: Werner Heinrichs/Armin Klein (Hg.), Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 1999, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2000, S. 165-194; Jan Weyrauch: Boygroups. Das Teenie-FANomen der 90er, Berlin: Extent 1997. Ulf Brüdigam/Jürgen Zinnecker: „Die ausgefransten Ränder der Rationalität. Ein bildungstheoretisches Strukturformat am Beispiel von Star Trek- und Akte X-Fans“, in: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki (Hg.), Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung, Opladen: Leske+Budrich 1998, S. 93-125. Waldemar Vogelgesang: Jugendliche Video-Cliquen. Action- und Horrorvideos als Kristallisationspunkte einer neuen Fankultur, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991. Waldemar Vogelgesang: „Inszenierungs- und Erlebnisformen von jugendlichen Black Metal-Fans“, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 213-229. Ralf Grabowski: „Zünftig, bunt und heiter“: Beobachtungen über Fans des volkstümlichen Schlagers, Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 1999. Vgl. Winfried Gebhardt: „Bayreuth vom Konvent zum Event“, in: Klaus Neumann-Braun/Axel Schmidt/Manfred Mai (Hg.), Popvisionen. Links in die Zukunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 185-198; Arnold Zingerle/Gabriel Cappai (Hg.): Sozialwissenschaftliches Übersetzen als interkulturelle Hermeneutik, Berlin: Duncker & Humblot 2003. 209
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Die vorliegenden Studien ähneln sich dabei überwiegend in ihren Fragestellungen. Sie beschreiben teils das Handeln von Fans und weisen bspw. auf dessen hoch ritualisierten Charakter46 oder auf vorzufindende Gewaltbezüge 47 hin. Darüber hinaus wird häufig die Bedeutung des Fan-Seins für den einzelnen Fan beschrieben: etwa der Vorbildcharakter, den Idole besonders für jugendliche Fans haben, 48 die Möglichkeiten zum Eskapismus 49 und mitunter auch der quasi-religiöse Charakter des Fanseins. 50 Es finden sich aber keine Arbeiten, die Fans oder Fußballfans als moderne Form von Gemeinschaften verstehen, die Produktion sozialen Kapitals in Fanszenen und dessen Wirkungen beschreiben und darüber hinaus einen Bezug empirischer Daten zu soziologischer Theorie herstellen. Zudem sind so gut wie alle vorliegenden Arbeiten zu Fans qualitativ orientiert. Sie vermitteln – häufig auf Basis eines quasi-ethnographischen Vorgehens – zwar einen detaillierten, interessanten und oft instruktiven Blick in die Welt der Fans, bleiben aber meist auf einen kleinen Ausschnitt der Fanlandschaft – und im Falle von Fußballfans oft auf die Anhänger nur eines Vereins 51 begrenzt. In beiden Punkten wollen wir über die Literatur hinausgehen. Unsere Annahme ist, dass sich Fußballfans als moderne Form der Gemeinschaftsbildung betrachten lassen. Während Menschen in modernen Gesellschaften immer weniger in traditionelle Ligaturen wie Familie oder Religion eingebunden sind, 52 bieten gerade leicht zugängliche und offene Gemeinschaften wie jene rund um den Fußball die Möglichkeit, sich individuell und freiwillig einer 46 Vgl. z.B. Christian Bromberger: „Fußball als Weltsicht und Ritual“, in: Andréa Belliger (Hg.), Ritualtheorien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 285301. 47 Vgl. z.B. Thomas Bliesener/Friedrich Lösel: „Identitätsbildung, Gruppenstruktur und Gruppenerleben bei Hooligans“, in: M. Herzog (Hg.), Fußball als Kulturphänomen, S. 253-268; Roland Girtler: Randkulturen. Theorie der Unanständigkeit, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995, S. 104ff. 48 Vgl. z.B. Phillip Vannini: „The Meanings of a Star: Interpreting Music Fans’ Reviews“, in: Symbolic Interaction 27 (2004), S. 47-69; B. Fritzsche: Pop-Fans. 49 Vgl. z.B. R. V. Kozinets: „Utopian enterprise: Articulating the meanings of Star Trek’s culture of consumption“, in: Journal of Consumer Research 28 (2001), S. 67-88. 50 Vgl. z.B. Constantin Klein/Thomas Schmidt-Lux: „Ist Fußball Religion? Theoretische Perspektiven und Forschungsbefunde“, in: Engelbert Thaler (Hg.), Fußball. Fremdsprachen. Forschung, Aachen: Shaker 2006, S. 18-35; Reinhard Kopiez: „Alles nur Gegröle? Kultische Elemente in Fußball-Fangesängen“, in: M. Herzog (Hg.), Fußball als Kulturphänomen, S. 293-303. 51 Vgl. z.B. Elk Franke/M. Bathke/W. Kasch/M. Pachulicz: Osnabrücker Fußballfans – eine sozialwissenschaftliche Begleitstudie eines sozialpädagogischen Programms, Osnabrück: Universität 1989. 52 Vgl. statt anderer Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1992, S. 39ff. 210
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Gemeinschaft zuzuordnen. In Gruppen von Fußballfans ist es potenziell möglich, sich umfassend zu vergemeinschaften: Sie bieten die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Verein, einem damit verbundenen Leitbild oder auch mit spezifischen Fan-Gruppierungen wie den so genannten „Ultras“. Sie intensivieren und institutionalisieren Interaktionen unter ihren Mitgliedern, etwa bei Spielen, bei Fantreffs oder bei Kneipenbesuchen vor oder nach dem Spiel. Sie machen es zudem möglich, dass Fußballfans in ihrer Selbstwahrnehmung am Kollektivwohl, also etwa am Spielerfolg als ‚Zwölfter Mann‘ mitwirken. Wir wollen entsprechend fragen, ob sich die drei explizierten Gemeinschaftsdimensionen – Identifikation, Interaktion und Kollektivwohlorientierung – auch bei Fußballfans finden lassen. Zudem werden wir der Frage der politischen Relevanz dieser Gemeinschaftsbildung nachgehen. Dazu setzen wir vorrangig quantitative Daten ein.
2. Daten und Methoden Ausgangspunkt unserer Operationalisierung sind die oben genannten Dimensionen von Gemeinschaft. Dafür steht uns eine standardisierte Befragung von Fans zur Verfügung, die 2005/06 im Internet stattfand. Auf der Website www.fanforschung.de wurden unterschiedlich formulierte, aber inhaltlich identische HTML-Fragebögen für Sportfans, Musikfans, Film- und Fernsehfans, Autofans und sonstige Fans veröffentlicht. Die Bitte um Beteiligung an dieser Befragung wurde dann an ca. 200 Fanclubs in ganz Deutschland per eMail verschickt und in die Foren entsprechender Websites gestellt. Die angeschriebenen Multiplikatoren wurden außerdem gebeten, die Informationen über die Befragung weiterzugeben. Hinzu kam, dass wir auf der Website eines internetbasierten Fußball-Tippspiels einen Verweis auf unsere Befragung einstellen konnten. Insgesamt beteiligten sich etwas über 4.000 Personen. Aus dieser Gruppe haben wir die 2.041 Fans extrahiert, die angegeben hatten, Anhänger eines Fußballvereins zu sein. Die Befragten waren zwischen 12 und 66 Jahren alt, der Altersdurchschnitt lag bei 27 Jahren. Sie waren zu 78% Männer und mehr als die Hälfte von ihnen – dies ist sicherlich ein Effekt der Befragung über ein Online-Medium – hatte Abitur oder einen höheren Bildungsabschluss. 53
53 Zusätzlich wurden in einem Forschungsseminar an der Universität Leipzig eine Reihe von qualitativen Interviews mit Fans geführt, die wir an einigen Stellen, allerdings lediglich illustrierend, einfließen lassen. 211
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3. Fußballfans als moderne Gemeinschaft Zunächst wollen wir der Frage nachgehen, ob sich Fußballfans als zeitgenössische Gemeinschaften im oben explizierten Sinne verstehen lassen, ob sich also in diesem Bereich moderner Gesellschaften Merkmale von Gemeinschaftsbildungen – d.h. fanspezifische Formen von Identifikation, Interaktion und Kollektivwohlorientierung – zeigen lassen.
3.1 Identifikation bei Fußballfans Vor allem den Klassikern Tönnies, Weber und Durkheim zufolge zeichnen sich Gemeinschaften dadurch aus, dass sich die Einzelnen subjektiv als einer Gruppe zugehörig empfinden. Auf eine grundlegende Weise dürfte dies für alle unsere Befragten zutreffen: Da wir nur Personen befragt haben, die sich selbst als Fans bezeichnen und unter diesen wiederum nur diejenigen ausgewählt haben, die angaben, Fans eines Vereins zu sein, ist eine basale Form der Identifikation mit dem jeweiligen Verein und mit dessen Fanlandschaft bei allen Befragten ohnehin gegeben. Wir wollten aber über diese basale Identifikation hinausgehen und voraussetzungsvollere Fragen stellen, um das Ausmaß und die Tragweite der Identifikation in Fangemeinschaften besser abbilden zu können. Daher haben wir den Fußballfans vier Fragen vorgelegt, um verschiedene Aspekte der Identifikation abzudecken: Erstens haben wir gefragt, wie wichtig den Fans die Werte sind, für die ihr Verein steht. Diese Werte können im konkreten Fall sehr unterschiedlich sein – so wird z.B. der FC St. Pauli vor allem mit linksalternativen politischen Werten assoziiert, während der FC Bayern München eher für wirtschaftliche Potenz und Leistungsorientierung steht.54 Aber wie sie auch ausfallen, sie haben das Potenzial, Identifikation zu begründen und dauerhaft zu verankern. Zweitens haben wir versucht herauszufinden, wie intensiv die Identifikation mit dem Verein ausgeprägt ist und dazu gefragt, ob die Fans ‚vorbehaltlos‘, ohne Wenn und Aber von ihrem Verein begeistert sind. Drittens wollten wir messen, ob die Identifikation nur auf einen Verein zielt, der dann der exklusive Mittelpunkt der Vergemeinschaftung wäre. Dazu wurde gefragt, ob sich Fans, wenn sie sich für Fußball begeistern, auf ihren Verein konzentrieren. Viertens schließlich haben wir nach der Demonstration der Identifikation nach außen gefragt und wollten wissen, ob die befragten Fans ihre Identifikation mit einem Verein auch nach außen, für ihre Umwelt deutlich machen.
54 Für internationale Beispiele vgl. C. Bromberger: Fußball als Weltsicht und Ritual, S. 293f. 212
DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
100 90 80 weniger wichtig 70
trifft z.T. zu
trifft z.T. zu trifft z.T. zu
60 50 40 30
sehr wichtig trifft zu
20
trifft zu trifft zu
10 0 Die Werte, für die ein Verein steht, sind mir …
Ich bin vorbehaltlos begeistert von dem Verein
Wenn es um Ich zeige nach Fußball geht, außen, dass ich konzentriere ich Fan bin mich nur auf den Verein
Schaubild 1: Identifikation unter Fußballfans Unsere Ergebnisse zeigen, dass es unter Fußballfans eine ausgeprägte und weitgehende Identifikation mit ihrem Verein gibt. Erstens lässt sich zeigen, dass vielen Fans die Werte am Herzen liegen, für die ihr Verein steht. 58% der Befragten geben an, diese seien ihnen „sehr wichtig“. Damit ist die Wertbasis der Vereine etwas, das den befragten Fans höchst wichtig scheint – wichtiger etwa als der ebenfalls abgefragte sportliche Erfolg des jeweiligen Vereins, der nur von 34% als „sehr wichtig“ bezeichnet wurde. Die Beziehung von Fußballfan und Verein scheint also – in Max Webers Terminologie – keine primär zweckrationale, sondern eher eine wertrationale oder affektive zu sein. Darüber hinaus zeigen unsere Befunde, dass die Begeisterung für den jeweiligen Verein intensiv und oft exklusiv ist. Fast die Hälfte der Befragten (47%) gibt an, sie seien vorbehaltlos von ihrem Verein begeistert, und weitere 42% antworten, dies träfe zumindest teilweise zu. Zudem konzentrieren viele Befragte (41%) ihre Begeisterung auf nur einen Verein und weitere 44% geben an, dies träfe wenigstens zum Teil zu. 55 Schließlich wird deutlich, dass die Identifikation mit dem Verein von vielen Fans auch nach außen, für ihre Umwelt deutlich sichtbar demonstriert wird. Mehr als die Hälfte der Fans (53%) gibt an, sie würde ihre Anhänger55 Diese Konzentration auf einen Verein führt bei Fußballfans oftmals sogar zur expliziten Ablehnung bestimmter anderer Vereine, die als typische Gegner angesehen werden: Klassische Beispiele sind stadtinterne Fanrivalitäten wie in Hamburg (Hamburger SV vs. FC St. Pauli) oder München (FC Bayern vs. 1860) bzw. regionale Rivalitäten wie die zwischen den Ruhrgebiet-Vereinen Schalke 04 und Borussia Dortmund. 213
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schaft nach außen zeigen, und weitere 38% antworten, sie zeigten ihr Fansein wenigstens teilweise nach außen. Die Formen, in denen dies geschieht, reichen vom Tragen von Trikots des Vereins an Spieltagen über das Ausstellen von Vereinsschals in Autos und das Hissen von Flaggen im Vorgarten bis hin zur kompletten Gestaltung des eigenen Grundstücks in den Vereinsfarben – wie es bei einem der von uns interviewten Fans des FC Energie Cottbus zu finden war. Wir finden demnach bei vielen Fußballfans eine ausgeprägte, intensive und exklusiv auf den jeweiligen Verein gerichtete Identifikation, die zudem oftmals nach außen demonstriert wird. Ein erstes wesentliches Charakteristikum von Gemeinschaften ist damit bei Fußballfans erfüllt.
3.2 Interaktion unter Fußballfans Die zweite von uns explizierte Gemeinschaftsdimension zielt auf die Interaktion der betreffenden Menschen. Für die Operationalisierung dieser Dimension haben wir drei Fragen verwendet: Erstens haben wir gefragt, wie oft Fans Kontakt mit Gleichgesinnten, also mit anderen Anhängern ihres Vereins haben. Zweitens haben wir eruiert, wie häufig Fans Spiele ihres Vereins besuchen, mithin ins Stadion und damit an einen Ort gehen, an dem sie einerseits andere Fans treffen und andererseits mit dem Verein, dessen Spielern, Symboliken und Infrastruktur in Berührung kommen. Drittens haben wir gefragt, ob Fans Kontakt zu anderen Fans in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld, d.h. in ihrer „nahen Umgebung“ haben. Die Interaktion unter den befragten Fußballfans erweist sich dabei als sehr intensiv. Der Austausch mit Gleichgesinnten findet bei mehr als der Hälfte der Befragten (54%) „häufig“ statt und bei noch einmal 29% wenigstens „gelegentlich“. Damit haben mehr als vier Fünftel der Befragten sehr oft oder gelegentlich Kontakt zu anderen Fans – sei es im Stadion oder im Umfeld der Spiele der eigenen Mannschaft, beim Treffen des Fanclubs, beim Austausch von Devotionalien auf Tauschbörsen oder beim eigenen aktiven Fußballspielen mit anderen Fans. Fansein zeigt sich damit als ein zutiefst soziales Unterfangen. Ein großer Teil dieser Treffen ist offensichtlich um die Spiele des jeweiligen Vereins zentriert. Immerhin 62% der Befragten sagen, dass sie häufig die Spiele ihres Vereins besuchen, und weitere 25% besuchen sie gelegentlich. Dies unterstreicht den besonderen Charakter des Fußballs als Fangegenstand: Im Unterschied zu Fans von Musikern oder Schauspielern gibt ein Fußballverein regelmäßig Anlass dazu, sich in einem konkreten lokalen Kontext, nämlich im Stadion, zu versammeln.
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DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
100 90 80 gelegentlich 70
gelegentlich
60 50 40 trifft zu 30
häufig häufig
20 10 0 Wie oft hast du mit Wie oft besuchst Du anderen Fans Kontakt? Spiele Deines Vereins?
Ich habe Kontakt zu Fans in der nahen Umgebung.
Schaubild 2: Interaktion unter Fußballfans Mit der Konzentration auf einen lokalen Verein und mit der Regelmäßigkeit des Treffens bei Spielen im Stadion hängt sicherlich auch zusammen, dass zwei Drittel der Befragten (67%) angeben, in ihrem nahen Lebensumfeld fänden sich andere Fußballfans. Ein weiterer Grund für diese intensive Vernetzung von Fans in ihrer unmittelbaren Lebenswelt könnte sein, dass die Anhängerschaft zu Sportlern und Vereinen und insbesondere zu Fußballvereinen den Menschen oft schon im Kindes- und Jugendalter nahe gebracht wird, und zwar vornehmlich von Freunden und Familienmitgliedern wie dem Vater. 56 Damit weisen die Gemeinschaften von Fußballfans Parallelen zu anderen, vermeintlich in ihrer Bedeutung zurückgegangenen Gemeinschaftsformen wie etwa Familien auf. In der Interaktionsdimension zeigt sich also, dass sich den Fußballfans vergleichsweise viele Gelegenheiten zur Vergemeinschaftung bieten und dass sie diese auch tatsächlich nutzen. Über die Identifikation mit der Gruppe hinaus ist damit ein weiteres wesentliches Charakteristikum von Gemeinschaften bei Fußballfans erfüllt.
56 Vgl. Mike S. Schäfer/Jochen Roose: „Begeisterte Nutzer? Jugendliche Fans und ihr Medienumgang“, in: Merz – Medien + Erziehung (2005), S. 49-53; E. Franke: Fußballfans – eine Herausforderung an das sozialwissenschaftliche Arbeiten, S. 188f.
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MIKE S. SCHÄFER/JOCHEN ROOSE
3.3 Kollektivwohlorientierung: Das Verhältnis von Fan und Verein Die dritte Gemeinschaftsdimension, die Kollektivwohlorientierung, richtet sich im Falle von Fußballfans auf den Verein, dessen Fans sie sind. Mit drei Fragen bilden wir diese Kollektivwohlorientierung ab. Zunächst haben wir gefragt, ob Fans anderen Personen begeistert von ihrem Verein erzählen und in diesem Sinne missionarisch für ihre Gemeinschaft tätig sind. Darüber hinaus wollten wir wissen, ob und wie stark die Fans versuchen, ihren Verein bei dessen Spielen in irgendeiner Weise zu unterstützen. Als Drittes wurde gefragt, ob die Fans versuchen, bei den Spielen selbst für Stimmung zu sorgen (s. Schaubild 3).
100 90 80
eher ja eher ja
70 trifft z.T. zu
60 50 40 auf jeden Fall
30 20
auf jeden Fall trifft voll zu
10 0 Ich erzähle anderen Ich versuche, bei Ich versuche, beim begeistert von Spielen den Verein zu Spiel für Stimmung zu meinem Verein unterstützen sorgen
Schaubild 3: Kollektivwohlorientierung unter Fußballfans Auch diese Dimension der Gemeinschaftsbildung erweist sich als sehr ausgeprägt. Praktisch alle Fans erzählen anderen Menschen begeistert von ihrem Verein. Zwei Drittel wählen die Kategorie „trifft voll zu“, wenn es darum geht. Bei weiteren 32 % trifft dies zumindest zum Teil zu. Den Versuch, ihren Verein bei Spielen zu unterstützen, unternimmt ebenfalls eine klare Mehrheit. Bei 63 % der Befragten trifft dies voll zu, bei weiteren 30 % zum Teil. Der Versuch, beim Spiel für Stimmung zu sorgen, ist die wohl anspruchsvollste der drei Messungen der Kollektivwohlorientierung. Doch auch diese trifft auf
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DIE GESELLSCHAFTLICHE BEDEUTUNG VON FUSSBALLBEGEISTERUNG
knapp die Hälfte der Befragten voll zu (44 %) und auf weitere 42 % immer noch zum Teil. Die Kollektivwohlorientierung im Sinne der Unterstützung des eigenen Vereins scheint also für die Fans von zentraler Bedeutung zu sein. Für diese Dimension fallen die Zustimmungsraten noch höher aus als bei den übrigen Dimensionen.
3.4 Resümee Die Gruppierungen von Fußballfans lassen sich also augenscheinlich als spezifische, moderne Form der Gemeinschaftsbildung verstehen. Wie wir zeigen konnten, identifizieren sich Fans in hohem Maße mit dem Verein, interagieren sehr häufig mit Gleichgesinnten und versuchen, dabei dem Wohl des Vereins zuträglich zu sein und in Kooperation mit anderen ein Kollektivgut zu erstellen. Die spezifische Form der Vergemeinschaftung von Fans mit den drei Dimensionen Identifikation, Interaktion und Kollektivwohlorientierung zu fassen, wie wir es hier getan haben, bewährt sich zudem auch empirisch. Eine konfirmatorische Faktorenanalyse weist die Aufteilung mit den jeweiligen Indikatoren als gültiges Modell aus. 57 Die drei Dimensionen sind dabei allerdings nicht unabhängig voneinander, sondern im Gegenteil untereinander hoch korreliert. Dies entspricht jedoch auch den theoretischen Annahmen.
4. Die Gemeinschaft der Fußballfans und ihre politische Relevanz Nun wollen wir fragen, ob diese ausgeprägte Form der Vergemeinschaftung unter Fans politische Folgen hat. Auf Basis der politikwissenschaftlichen Arbeiten in der Tradition von Robert D. Putnam hatten wir dies vermutet: Aufgrund der Parallelen zwischen der hier vorgestellten Gemeinschaftskonzeption und den von Putnam und anderen beschriebenen Grundlagen der Entstehung von Sozialkapital müsste man annehmen, dass die dargestellten Fangemeinschaften ein Hort der Produktion von Sozialkapital sind. Das in Fangemeinschaften erzeugte Sozialkapital dürfte, wenn Putnams Annahmen stimmen, dazu führen, dass Fußballfans, die besonders stark vergemeinschaftet
57 Das entsprechende Messmodell wird hier nicht berichtet, vgl. aber die Erläuterungen des Strukturgleichungsmodells in Kap. 4. Die globalen Fit-Maße des Messmodells sind: X²-Test: p