Organisierte Rettung: Studien zur Soziologie des Notfalls [1. Aufl.] 9783658301613, 9783658301620

In vier aufeinander aufbauenden Studien befasst sich Nils Ellebrecht mit der Organisation des Notfalls. Er verhandelt de

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German Pages XIV, 344 [352] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Nils Ellebrecht)....Pages 1-9
Dimensionen des Notfalls (Nils Ellebrecht)....Pages 11-71
Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall (Nils Ellebrecht)....Pages 73-137
Kooperation professioneller und organisierter Retter (Nils Ellebrecht)....Pages 139-229
Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung (Nils Ellebrecht)....Pages 231-300
Resümee (Nils Ellebrecht)....Pages 301-309
Back Matter ....Pages 311-344
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Organisierte Rettung: Studien zur Soziologie des Notfalls [1. Aufl.]
 9783658301613, 9783658301620

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Organisationssoziologie

Nils Ellebrecht

Organisierte Rettung Studien zur Soziologie des Notfalls

Organisationssoziologie Reihe herausgegeben vom Vorstand der Sektion Organisationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Potsdam, Deutschland Vertreten durch Cristina Besio, Hamburg, Deutschland Raimund Hasse, Luzern, Schweiz Stefan Kirchner, Berlin, Deutschland Uli Meyer, Linz, Österreich Kathia Serrano Velarde, Heidelberg, Deutschland Arnold Windeler, Berlin, Deutschland

Organisationen stellen einen Theorie- und Forschungsgegenstand „sui generis“ dar, der einer differenzierten Gegenstandsbetrachtung und spezifischer Analyseansätze bedarf. Neben der ganzen Breite von Organisationstypen rücken für die Herausgeberinnen und Herausgeber auch spezifische empirische Methoden der Organisationsforschung sowie differenzierte theoretische Zugänge zur Analyse des Organisationsgeschehens in den Vordergrund. Die Bände dieser Reihe werden vor allem drei Dinge im Blick haben: Erstens die gesellschaftliche Bedeutung von Organisationen; zum Zweiten die disziplinäre natio­ nale und internationale Verortung innerhalb der Soziologie; und zum Dritten die trans- und interdisziplinäre Perspektive. Hier wird insbesondere die gewachsene Breite und Interdisziplinarität der Organisationsforschung integrativ aufgegriffen. Der Vorstand der Sektion Organisationssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der diese Buchreihe herausgibt, wird vor allem herausragende Bei­ träge der Sektionsveranstaltungen in dieser Reihe versammeln, um den jeweils aktuellen Forschungsstand der Organisationssoziologie zu dokumentieren. Herausgegeben vom Vorstand der Sektion Organisationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Vertreten durch Cristina Besio Hamburg, Deutschland

Kathia Serrano Velarde Heidelberg, Deutschland

Raimund Hasse Luzern, Schweiz

Arnold Windeler Berlin, Deutschland

Stefan Kirchner Berlin, Deutschland Uli Meyer Linz, Österreich

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/10439

Nils Ellebrecht

Organisierte Rettung Studien zur Soziologie des Notfalls

Nils Ellebrecht Institut für Soziologie ­Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Freiburg im Breisgau, Deutschland Dissertation der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2019 Die Publikation wurde von der Gerda Henkel-Stiftung gefördert.

ISSN 2625-6932 ISSN 2625-6940  (electronic) Organisationssoziologie ISBN 978-3-658-30162-0  (eBook) ISBN 978-3-658-30161-3 https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für Sabrina, Tammo und Janne

Inhalt

Abkürzungen ..................................................................................................... XI  Abbildungen und Tabellen ............................................................................ XIII Einleitung ............................................................................................................ 1 

I  Dimensionen des Notfalls ............................................................................ 11  1  Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation ......................... 18  1.1  Not als Bedürfnisform .................................................................. 18  1.2  Der Notstand als Sonderfall des Handelns im liberalen Recht ..... 20  1.3  Zwischen Gefahren und Risiken: Erleben und Handeln im Notfall ..................................................................................... 24  2  Dringlichkeit als Notfallzeit .................................................................... 29  2.1  Kleiner Bruder, große Schwester? Der qualitative Unterschied von Notfall und Katastrophe ........................................................ 32  2.2  Evidenz und Kontingenz: der graduelle Unterschied von Gefahrenabwehr und präventiver Intervention ............................. 36  3  Erste Hilfe: Wenn aus Fremden Retter werden (sollen) .......................... 43  3.1  Emergencies als plötzliche, synchronisierende und appellative Ereignisse ..................................................................................... 43  3.2  Formen des (unterlassenen) Rettens im gesellschaftlichen Wandel ......................................................................................... 46  3.3  Rettung wider Willen? Konsentierte und dissentierte Notsituationen .............................................................................. 55  4  Zusammenfassung: Soziologische Aspekte des Notfalls......................... 69

VIII

Inhalt

II  Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall ....................................... 73  1  Regelmäßigkeit des Plötzlichen: die Organisation des Notfalls .............. 78  1.1  Entscheiden über den Notfall: Leitstellen als misstrauische Filter ...................................................................... 78  1.2  Unechte Notfälle, falscher Alarm und Übungen .......................... 81  1.3  Organisierte Hilfsbereitschaft: Einsatzkräfte im Wartemodus ................................................................................. 85  1.4  Die dringliche Einsatzfahrt: Alarm, Sonderrechte und Frist ........ 88  1.5  Verschachtelung von Planung und Rettung ................................. 89  1.6  Stab und Gruppe: Die Organisation im Einsatz............................ 94  2  Einsatzroutine(n) und ihre Folgen ......................................................... 103  2.1  Soziologischer Einsatzbericht: mangelnde Notfallroutine ......... 103  2.2  Musterlösung oder Erfahrung: Was ist Routine? ....................... 110  2.3  Blinde Routine und high reliability ............................................ 118  2.4  Fehlende Empathie? Taktlosigkeit und Emotionsarbeit im Einsatz ................................................................................... 126  2.5  Eigengefährdung und Fremdrettung ........................................... 133  3  Zusammenfassung: Strukturen und Folgen organisierter Rettung......... 134  III Kooperation professioneller und organisierter Retter ........................... 139  1  Rettungsdienst: Notfallmedizin und ihre Grenzen................................. 145  1.1  „Treat first what kills first!“ Funktion und Folgen der Notfallmedizin............................................................................ 148  1.2  Die Notärztin: stay and play oder load and go? ......................... 157  1.3  Die „hilflose Person“ als Grenzfall: Rettungsdienst zwischen Sozialer Arbeit und Notfallmedizin ............................ 173  1.4  Exkurs: Der gute Tod: Sterben lassen trotz Überlebenschance? ..................................................................... 181 

Inhalt

IX

2  Feuerwehr: Technische Rationalität par excellence .............................. 183  2.1  Sicherheitsrealismus: zur Sachlichkeit der lead organisation ............................................................................... 186  2.2  Einfache Struktur oder Selbsttrivialisierung? ............................. 194  3  Viele Retter: Kooperation zwischen Formalität und Vertrauen............. 207  3.1  Mehrere Organisationen, eine Einsatzführung ........................... 208  3.2  Zwischen Profession und Organisation: die Leitende Notärztin (LNÄ) ......................................................................... 216  3.3  Die Polizei beim Massenanfall von Verletzten (MANV)........... 222  4  Zusammenfassung und Ausblick: Vertrauen als Lösung? ..................... 224  IV  Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung ........... 231  1  Triage und Gleichheit: gesellschaftliche Inklusion und organisierte Ungleichheit....................................................................... 233  1.1  Die Geburt der Triage: Heeressanitätswesen und Bürgerarmee ............................................................................... 233  1.2  Krankenbehandlung für alle: Inklusion in der funktional differenzierten Gesellschaft ........................................................ 237  1.3  Viele Patienten, knappe Hilfe: Kann die Medizin sich selbst rationieren?....................................................................... 240  1.4  Organisation als Ungleichheitsgeneratorin und Leistungsbeschneiderin .............................................................. 247  2  Geplante Entscheidungen: die Triage als organisatorisches Programm .............................................................................................. 251  2.1  Eine Frage der Form: zur begrenzten Komplexität von Triagekonzepten ......................................................................... 252  2.2  Wer triagiert? Das Personal als Entscheidungsprämisse ............ 262 3  Sterben lassen oder heilen? Triage als „ethisch bitteres Handeln“ ........ 268  3.1  „Abwartende Behandlung“: Folgen medizinischen Fortschritts.................................................................................. 268 

X

Inhalt

3.2  Katastrophenmedizin und Atomkrieg: die Triagediskussion in den 1980ern ............................................................................ 274  3.3  Tödliche Kategorie: zur problematischen Formalisierung letaler Entscheidungen ............................................................... 278  3.4  Das notärztliche Dilemma: Patientenselektion zwischen situativen, professionellen und formalen Handlungsvorgaben ..................................................................................... 289  4  Entscheidungen im Nebel: Praxis zwischen Gerechtigkeit, Programmatik und Willkür .................................................................... 296 

Resümee ........................................................................................................... 301 

Verzeichnisse ................................................................................................... 311  Zitierte Interviews ...................................................................................... 311  Literatur ..................................................................................................... 313 

Anhang............................................................................................................. 341  Interviewleitfaden I: Rettungskräfte: zwischen Routine und Ausnahme ................................................................................................. 341  Interviewleitfaden II: Interorganisationale Zusammenarbeit bei Großeinsätzen ........................................................................................... 343

Abkürzungen

AFW

Ausschuss für Feuerwehrangelegenheiten im Arbeitskreis V der Innenministerkonferenz (IMK)

ÄLRD

Ärztlicher Leiter Rettungsdienst

ASB

Arbeiter-Samariter-Bund

BAND

Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands e.V

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BMA

Brandmeldeanlage

DGU

Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie

DRK

Deutsches Rotes Kreuz

ELW

Einsatzleitwagen

FW

Feuerwehr

Fw Dv

Feuerwehr-Dienstvorschrift

FSD

Feuerwehr-Schlüsseldepot

GLA

Gelenklöscharm

HRO

High Reliability Organization

ICS

Incident Command System

JUH

Johanniter-Unfall-Hilfe

KTW

Krankentransportwagen

LNÄ/LNA

Leitende Notärztin/Leitender Notarzt

MANV

Massenanfall von Verletzten (und Erkrankten, selten: Betroffener)

MHD

Malteser Hilfsdienst

NA

Notarzt

XII

Abkürzungen

NEF

Notarzteinsatzfahrzeug

NS

Notfallsanitäter

OrgL/OLRD

Organisatorischer Leiter Rettungsdienst

PAK

Patientenanhängekarte

PSNV

Psychosoziale Notfallversorgung

RA

Rettungsassistent

RS

Rettungssanitäter

RTW

Rettungswagen

SEK

Spezialeinsatzkräfte

SOP

Standard Operation Procedure

StGB

Strafgesetzbuch

StVO

Straßenverkehrsordnung

UA/UAS

Unterabschnitt

Abbildungen und Tabellen

Abbildung II.1:

Führungsstab der Feuerwehr bei Großeinsätzen .................. 93 

Abbildung II.2:

Sitzordnung des Stabs und Nachrichtenfluss ....................... 95 

Abbildung II.3:

Gruppe (kleinste taktische Feuerwehreinheit) ..................... 97 

Abbildung II.4:

Universalalgorithmus im Rettungsdienst Dortmund .......... 114 

Abbildung III.1:

Basisaufbau einer Trauma Unit ......................................... 165 

Abbildung III.2:

Kennzeichnung und Hierarchie der Einsatzkräfte im MANV .......................................................................... 197 

Abbildung III.3:

Technikschau damals (Dortmund 1906) und heute. .......... 201 

Abbildung III.4:

Zwei Frauen als hysterischen Mütter bei einer Übung ...... 204 

Abbildung III.5:

MANV-Plan: Einsatzkonzept Landkreis Osnabrück ......... 209 

Abbildung III.6:

Führungskräfte bei einer Lagebesprechung ....................... 220 

Abbildung IV.1:

Triage als organisierte Raumordnung ................................ 246 

Abbildung IV.2:

In den USA gebräuchliche Patientenanhängekarte ............ 254 

Abbildung IV.3:

Frühe Version des STaRT-Algorithmus von 2001. ........... 256 

Abbildung IV.4:

Das Problem angemessener Komplexität .......................... 258 

Abbildung IV.5

Notärztliche Triage/Sichtung ............................................. 266 

Abbildung IV.6:

START-Adaption des U.S.-amerikanischen Gesundheitsministeriums ................................................... 285 

Abbildung IV.7:

Vorläufer des mSTaRT-Algorithmus................................. 286 

Abbildung IV.8:

Erste Variante des mSTaRT-Algorithmus ......................... 287 

Abbildung IV.9:

Zweite Variante des mSTaRT-Algorithmus ...................... 288 

XIV

Abbildungen und Tabellen

Tabelle I.1:

Katastrophe – Notfall – Szenario ......................................... 36 

Tabelle I.2:

Notsituation im Konsens und Dissens .................................. 68 

Tabelle II.1:

Einsatzahlen des Rettungsdienstes Berlin (2001) ................. 78 

Tabelle III.1:

Rechtsunsicherheit medizinischer Rettungskräfte .............. 171 

Tabelle IV.1:

Sacco Triage Method: Punkteberechnung .......................... 259 

Tabelle IV.2:

In Deutschland gebräuchliche Triage- bzw. Sichtungsstufen* ................................................................ 282 

Tabelle IV.3:

Umfrage zur Sichtung unter (Leitenden) Notärztinnen und Notärzten ..................................................................... 292 

Einleitung

Zeitdiagnosen sehen die Gesellschaft der Gegenwart inmitten einer umfassenden Vertrauenskrise, in der etliche Institutionen, vom politischen System über Banken und Kirchen bis hin zu wissenschaftlichen Einrichtungen, mit enormen Legitimitätsverlusten zu kämpfen haben. Ganz entgegen diesem allgemeinen Trend scheinen Rettungsorganisationen geradezu immun gegen jedes Misstrauen, Feuerwehren und Rettungsdiensten sind diese Vertrauensvorbehalte fremd. Im Gegenteil, ihre öffentliche Wertschätzung ist nicht nur hierzulande kaum zu überbieten. Weltweit erzielen Feuerwehren und Rettungsdienste kontinuierlich Umfragewerte, von denen andere Einrichtungen träumen dürften. Mehr als neun von zehn Befragten gelten Rettungskräfte als vertrauenswürdig – kein anderer Beruf, keine andere Institution genießt mehr Vertrauen (Müller et al. 2018; dbb und forsa 2019). Wenn Soziologinnen demnach vermuten, es sei schwierig “to imagine an occupation endowed with more public trust and esteem than firefighting“ (Scott und Tracy 2007, S. 57), dann liegen sie mit dieser Einschätzung, nehmen wir noch Rettungsdienste hinzu, ganz richtig. Anders als Kirchen, Banken, Parteien oder auch die Polizei scheinen Feuerwehren und Rettungsdienste über beinahe jeden Zweifel erhaben. Sie stehen sinnbildlich für jenen unerschrockenen, kompetenten Helfer, der zuverlässig herbeieilt, wenn die Not am größten ist. Wer wollte diesen Rettern, diesen modernen Helden dann auch nicht vertrauen? Doch das bedingungslose Vertrauen in Rettungskräfte lädt auch zu einer weiteren Sichtweise ein. Denn, bleiben der in Not befindlichen Person und dem Ersthelfer, der ihr schnell, aber dann zunehmend ratlos zur Seite steht, überhaupt eine andere Wahl als zu vertrauen? Ist es angesichts der eigenen Ohnmacht nicht unvermeidlich sich auf die Fähigkeiten und das Wohlwollen der Rettungskräfte zu verlassen? Für Zweifel an ihren Motiven und ihr Können ist im Ernstfall schlichtweg kein Platz, und vor allem keine Zeit. Noch das Vertrauen der einige Meter entfernt, hinter dem Absperrband stehenden Zuschauer sei so hoch, so schildert es Kristof Magnusson (2014, S. 166) in einer fiktiven Romanszene, „dass die Möglichkeit, dass Dinge schiefgingen, kaputtgingen, eine Drehleiter einfach stehen blieb, nicht vorgesehen war. Was immer die Rettungskräfte taten, war alternativlos. Hatte einen Sinn. Dabei gab es, wie bei so vielen vermeintlich alternativlosen Dingen, eigentlich immer eine Alternative.“ © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0_1

2

Einleitung

Jede soziologische Arbeit, die sich mit Rettungsorganisationen befasst, wird dem großen Vertrauensvorschuss und der hohen Anerkennung schnell gewahr, die Feuerwehren und Rettungsdiensten zufällt. Vertrauen, ob nun gerechtfertigt oder nicht, ist der unverzichtbare Stoff für den Aufbau und den Bestand von Institutionen, und er scheint diesen beiden Einrichtungen aufgrund ihrer besonderen Position wie von selbst zuzufallen. Wie aber steht es mit den Organisationen, die „hinter“ diesen Institutionen stehen? Verfügen diese über besondere Eigenschaften, die das große Vertrauen mithin rechtfertigen? Notfälle sind besondere Situationen, daran besteht kein Zweifel. Doch wie färben diese speziellen Situationen auf diejenigen Einrichtungen ab, die ständig mit ihnen in Kontakt stehen? Verfügen Rettungsorganisationen über Strukturen, die für sie typisch, die sogar einmalig sind? Oder sind auch Notfallorganisationen schlicht ganz normale Organisationen, die mit ihren Konzepten, Mitarbeitern und Kommunikationsnetzen allein das tun, was alle Organisationen permanent tun: Entscheidungen treffen und mit diesen Unsicherheiten in Sicherheiten zu überführen? Diese Fragen geben das Programm der vorliegenden Arbeit und ihren Aufbau vor. In Kapitel I wird zunächst der Notfall als eine besondere Situation verhandelt, bevor es in Kapitel II um charakteristische Merkmale von Rettungsorganisationen und um die Folgen organisierter Rettung geht. Im anschließenden Kapitel III wird dann schärfer differenziert, was bis dato noch als Einheit erschien. Herausgearbeitet werden nun die Unterschiede, Konflikte und Kooperationsformen verschiedener Notfallakteure: der notärztlichen Profession, des Rettungsdienstes und der Feuerwehr. Kapitel IV führt die vorangehenden Überlegungen zusammen und denkt diese nochmals weiter. Mit der Triage behandelt es ein Notfallprogramm, das erst dann eingesetzt wird, wenn Rettungsorganisationen an die Grenzen des Machbaren stoßen, aber ihre Arbeit nicht einstellen können. Eine Soziologie des Notfalls steht vor theoretischen, methodischen und empirischen Herausforderungen. Zunächst muss sie es tunlichst vermeiden, den Notfall als eine ontologische Einheit mit natürlichen Anforderungen und Rechten zu verstehen. Der Notfall ist nicht nur von seinem Inhalt, auch von seiner Form her historisch variabel und ein spezifischer, je sozial zu etablierender Interaktionskontext. Die Notfälle etablierenden und in ihnen geltenden Normen sowie die an Notfälle anschließenden Verhaltensbewertungen müssen analytisch so gedreht werden, dass sie ihrer Selbstverständlichkeit entkleidet werden können. Einer derart interessierten Soziologie kann nicht die gesellschaftspolitische Aufgabe zufallen, sich für intensivere Schulungen in Erster Hilfe stark zu machen oder Programme zu begrüßen, die vom Bürger ein entschiedeneres Zupacken im Notfall einfordern.

Einleitung

3

Etwas abgewandelt kann Luc Boltanskis und Laurent Thévenots (2011, S. 50) Forderung übernommen werden, dass eine Soziologie des Notfalls die hehren Ideale rascher Hilfe vorübergehend aufgeben muss, um die normativen Prinzipien wahrzunehmen, die der helfenden Intervention und damit der täglichen Arbeit von Rettungsorganisationen zu Grunde liegen. Diese Forderung schließt auch die entgegengesetzte Position bzw. ein gegenläufiges Engagement zunächst aus. Es kann hier nicht das Anliegen sein, die übermächtigen Handlungsansprüche und mithin daran anschließende Regelbrüche zu kritisieren. Eine „Seduction to Stop Thinking“ (Scarry 2011, S. 3–18) mag für viele Notfälle typisch sein, aber dies im Rahmen dieser Arbeit zu bedauern, würde ihren Zweck verfehlen. Gerade in der Beschäftigung mit Notfällen, diesen moralischen Ungetümen, muss die Soziologie aus der für sie typischen Distanz arbeiten, um zuerst zu einer nüchternen Analyse der Gegebenheiten zu gelangen. Bekanntlich richten Boltanski und Théveno ihre Forderung an eine Soziologie der Kritik, die eine neutrale, eben unkritische Haltung zur Kritik einnehmen und nicht mit ihrem Gegenstand paktieren soll. Anders als eine Soziologie der Kritik kann die empirische Notfallforschung sich jedoch nicht gefahrlos einer neutralen Haltung verschreiben und auf Distanz bleiben. Es ist im Feld nicht möglich, sich den im Notfall herrschenden Ansprüchen umfassend zu entziehen. Kaum eine andere Situation besitzt ein höheres Eigenrecht gegenüber anderen, konkurrierenden Geltungsansprüchen, kaum eine andere Interaktionsordnung kann mit dem Ernst der Lage in Notsituationen konkurrieren. Es ist eine Charakteristik des Feldes, dass jede Beobachterin im Notfall Gefahr läuft, einen Frevel zu begehen und in vielen Teilen der Welt zudem einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllt, wenn sie nicht selbst helfend eingreift. Will man nicht zum „Gaffer“ oder „Bystander“ werden, der sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig macht, muss einkalkuliert werden, den eigenen Beobachtungsposten aufgeben und zupacken zu müssen (Mannon 1992, S. 203–218; Langhof 2018; → Kapitel II.2.1). Doch damit nicht genug, eine Soziologie des Notfalls steht vor weiteren methodischen und empirischen Herausforderungen. Wenn Rettungsorganisationen sehr stark vertraut wird, verschärft dies ein Problem, mit dem Forschungsarbeiten zu Organisationen, die im Sicherheitsbereich oder sogenannten Hochrisikoumwelten operieren, ohnehin besonders konfrontiert sind. Gerade im Falle von Organisationen, deren zuverlässiger und fehlerfreier Betrieb gesellschaftlich erwünscht und vorausgesetzt wird, weil die Konsequenzen von Störungen für ihre Umwelt furchtbar sein können, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass sie die in sie gesetzten Erwartungen bereitwillig enttäuschen, indem sie ungezwungen über Probleme und Fehler berichten und bereitwillig Einblick gewähren. Zudem ist zu bedenken, dass für die betreffenden Organisationen kritische Blicke

4

Einleitung

und Nachfragen aufgrund des ansonsten hohen Vertrauensvorschusses eher ungewohnt sind. Forschungsarbeiten wie die von Karlene Roberts und Gregory Bigley (2001) oder von Peter Mistele (2007), in denen Faktoren empirisch herausgearbeitet werden, die die außerordentliche Verlässlichkeit (high reliability) von Feuerwehren und Rettungsdiensten erklären sollen, stehen damit einem tiefgreifenden Problem gegenüber, das die angesprochenen methodischen Herausforderungen gut verdeutlicht. Als ausschließlich interviewbasierte Untersuchungen müssen sie die soziale Erwünschtheit ihrer Forschungsergebnisse besonders stark berücksichtigen. Rein interviewbasierte Untersuchungen besitzen den Nachteil, die Thematisierung von Zuverlässigkeit, von Fehlerkulturen und von Achtsamkeitshandeln nicht nur abhängig von der Gesprächskonstellation und dem Interviewrahmen verstehen, sondern den starken Normendruck, den ihr Interesse erzeugt, in ihre Analysen und Bewertungen einberechnen zu müssen. Gesellschaftliche Erwartungen reproduzieren sich in Interviews. Gerade für solche Organisationen, die um ihre öffentliche Garantenstellung wissen, können rhetorische Reliabilitätsnachweise nicht als verlässliche Belege gewertet werden. Selbstdarstellungen müssen nicht mit entsprechenden Handlungen korrespondieren. Ulrich Becks bekanntes Attest zur „verbale[n] Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ pointiert das Auseinanderfallen von normativ korrektem talk und demgegenüber enttäuschenden Handlungsstrukturen.1 Der soziologische Neoinstitutionalismus (Meyer und Rowan 1977; DiMaggio und Powell 1983) ist im wesentlichen als ein Forschungsprogramm zu begreifen, welches die stets einzukalkulierende Kluft zwischen Operationsweise und Außendarstellung von Organisation zum zentralen Gegenstand hat. Die interviewbasierte high reliability-Forschung hat sich mit diesen Bedenken bisher nicht auseinandergesetzt. Sie muss für sich noch klären, wie ihr Forschungsansatz methodisch mit dem Problem sozialer Erwünschtheit umzugehen gedenkt. Ob Anonymitätszusicherungen und eine direkte Adressierung möglicher organisatorischer Schwierigkeiten dafür ausreichend sind, ist nicht hinreichend

1

Beck 2012 [1986], S. 169. Es war hier die Aufgeschlossenheit der männlichen Bevölkerung gegenüber neuen Familien- bzw. Ehemodellen gemeint. Ähnlich verweist auch der Begriff der „rhetorischen Modernisierung“ (Wetterer 2003) auf die Kluft zwischen Äußerung und Verhalten. Für Organisationen ist „Heuchelei“, also der bewusste Gebrauch von Inkohärenz (es wird anderes entschieden als gehandelt und zudem anders geredet als entschieden bzw. gehandelt) durchaus funktional. Mittels organisierter Heuchelei kann die Organisation unterschiedliche Ansprüche bedienen bzw. wiederstreitende Zwecke teilerfüllen, indem sie sie kommunikativ, durch ihre Entscheidungen oder ihr Handeln befriedigt (Brunsson 1994, 2003).

Einleitung

5

gewiss.2 Mit der nötigen Vorsicht lässt sich bisher nur von folgender Annahme ausgehen: Je größer das Unbehagen des Interviewten hinsichtlich einer Aussage ist, desto „wahrer“ oder ehrlicher die Antwort (Diekmann 2009, S. 447–455). So besehen bieten Expertinneninterviews der high-reliability-Forschung eher die Möglichkeit, unangenehme Unzuverlässigkeit nachzuweisen, das begehrte Prädikat „besonders reliabel“ oder „vertrauenswürdig“ dagegen nur unter starken wissenschaftlichen Vorbehalten vergeben zu können. Die methodischen Herausforderungen stellen sich gar noch früher. Viele Studien zu verlässlichkeitsfördernden Faktoren scheinen bereits eine Idee zu besitzen, welche Faktoren dies sein könnten. Wenn Verlässlichkeit allein auf Lernbereitschaft, Fehleroffenheit, Rollenakzeptanz, Respekt vor Fachwissen, Teamfähigkeit usw. zurückgeführt wird – also Eigenschaften, die gegenwärtig hochgradig positiv besetzt sind –, macht die Forschung sich der Reproduktion und Verdinglichung ihrer eigenen Vorannahmen verdächtig. Es ist durchaus denkbar, dass Verlässlichkeit in der Praxis auch ganz anders generiert wird: durch rigide Kontrolle, harten Drill, blinden Gehorsam, Ideologie, Drohungen; oder aber: durch den notorischen Regelübertritt und die interne Billigung devianten Verhaltens. Nach außen hin können die eigene Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit auch durch Verdunkelung, Geheimhaltung oder dem Zurechtrücken von Einsatz- und Jahresberichten vorgegeben werden. All dies ist organisationssoziologisch wohlbekannt, was nicht heißt, dass es im konkreten Fall stets vorliegt. Dies aber im Vorhinein auszuschließen und nur angenehme, normkonforme und vorbildliche Elemente zu suchen, wird der Sache ebenfalls nicht gerecht. Auch reine Interviewstudien stehen den genannten Herausforderungen nicht völlig hilflos gegenüber. Wenn ein Rettungssanitäter z. B. bemerkt, dass die Arbeitsteilung im Rettungsdienst „eigentlich“ an rechtlichen Vorgaben orientiert sei, dann kann dies durchaus als Hinweis gewertet werden, dass es in der Praxis auch mal anders gehandhabt wird. Ein entsprechendes Interviewzitat findet sich bei Mistele (2007, S. 158f., Herv. N.E.), dort heißt es: „Vom Gesetz her ist die Rollenteilung ja eh da – zwischen Rettungsassistent und Rettungssanitäter. Gewisse Sachen am Patienten darf ja eigentlich nur der Rettungsassistent machen.“ Interviewerinnen können an solchen Stellen einhaken und nachfragen, in welchen Situationen Rettungssanitäter denn auch einmal Aufgaben der besser qualifizierten

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Mistele (2007, S. 115) weist in einem Absatz auf die Gefahr sozialer Erwünschtheit sowie auf seine Strategien hin, um diese abzumildern (Zusicherung vollständiger Anonymität; gezielte Fragen zum Umgang mit Fehlern und fehlgelaufenen Einsätzen) und unterstreicht deren Erfolg: „auch suboptimale Prozesse und Probleme innerhalb der Organisation“ wären von den Interviewpartnern angesprochen worden. Seine Arbeit beschränkt sich aber auf die Darstellung der Erfolgsgaranten der Organisationen.

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Einleitung

Rettungsassistenten übernehmen. Außerdem sind bei der späteren Analyse mithilfe texthermeneutischer Verfahren Muster sichtbar zu machen, welche über die reine Aussagenebene hinausblicken lassen. Kommen jedoch rein inhaltsanalytische Verfahren zum Einsatz, die an der buchstäblichen Oberfläche des Gesagten verbleiben und kein Gespür für Signalwörter oder das Interview durchziehende Muster besitzen, dann bleibt häufig die Chance ungenutzt, andere soziale bzw. organisationale Wirklichkeiten als die offiziell dargestellte zu entdecken (Kruse 2015, S. 398–417). Dies ist für den Fall Rettungsdienst umso bedauerlicher, da schon Palmer und Gonsoulin 1990 auf das deviante, durchaus funktionale Rollenverhalten von Paramedics hingewiesen haben.3 Um auf die diskutierten empirischen und methodischen Herausforderungen reagieren und Fragestellungen belastbar beantworten zu können, gingen dieser Arbeit langjährige und umfassende Studien voraus. Die empirische Datenerhebung erfolgte in unterschiedlichen Forschungskontexten, in denen verschiedene Erhebungs- und Analyseverfahren zum Einsatz kamen. 1) In einem zweisemestrigen Forschungsseminar zur qualitativen Sozialforschung führten und analysierten die teilnehmenden Studentinnen und Studenten 21 offene, leitfadengestützte narrative Interviews zum Arbeitsalltag von Rettungsassistenten und Notärztinnen (Interviewleitfaden 1 im Anhang). Das Datenmaterial wurde mit dem integrativen Basisverfahren (Kruse 2015) untersucht. Mein Dank gilt an dieser Stelle der engagierten Mitarbeit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in Form mehrerer Analysegruppe dabei halfen, grundsätzliche Fragestellungen herauszuarbeiten und erste Ergebnisse zu diskutieren. 2) Im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung von zwölf Übungen zum Massenanfall von Verletzten entstand neben Feldnotizen umfangreiches foto- und videografisches Material. So konnten durch den gezielten Einsatz von Reversmikrofonen und Audiorekordern zwölf tontechnische Mitschnitte von Einsatzgesprächen unter Führungskräften aufgenommen werden. Ergänzt wurden die Übungsbeobachtungen um 25 im Nachgang durchgeführte Interviews mit Übungsteilnehmerinnen und -teilnehmern. Notfallübungen besitzen zwar einen anderen Wirklichkeitscharakter als echte Einsätze, sie bieten aber die einmalige Chance Großeinsätze teilnehmend beobachten zu können. Im Laufe der Teilnahmen professionalisierten wir unsere Aufzeichnungs- und Beobachtungsmethoden. Mit Hilfe der Reversmikrofone und Kameras gelang 3

Auch andere Selbstbeschreibungen sollten nicht fraglos als Forschungsbefunde übernommen werden. So etwa, wenn betont wird, dass Mitarbeiter von Rettungsorganisationen aufgrund ihrer „ethisch-moralischen Verantwortung“ für die „Gesundheit und das Leben Dritter“ „jedem Einsatz eine hohe Bedeutung und Aufmerksamkeit“ beimessen und entsprechend agieren würden (Mistele 2007, S. 171).

Einleitung

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eine dichte Dokumentation des Einsatzgeschehens (Bsp. auf S. 220), ohne dass wir den Führungskräften weiterhin ‚hinterherhetzen‘ mussten und diese störten. Es kann angenommen werden, dass unser ‚Verschwinden‘ einen positiven Effekt auf die die Minimierung von Darstellungszwängen im Sinne authentischer Entscheidungen und Handlungen der Einsatzkräfte gehabt haben wird. 3) Während drei mehrtägigen Phasen teilnehmender Beobachtung in Leitstellen und im Rettungsdienst konnte ich etwa 50 Rettungsdiensteinsätze begleiten und fünf Rettungs- und Feuerwehrwachen besuchen. Daneben wurden verschiedene Fortbildungen, Meetings von Leitende Notärztinnen (LNÄ)- und Organisatorische Leiter Rettungsdienst (OrgL)-Gruppen, Treffen zur Übungsund Einsatzvorbereitung und zur Entwicklung von Einsatzkonzepten besucht. Die teilnehmende Beobachtung im Rettungsdienst hat sich für das grundsätzliche Verständnis typischer Rettungsdienstabläufe und zentraler Herausforderungen und für die Einordnung und den Abgleich der im Vorfeld erhobenen Interviewaussagen als unersetzbar erwiesen. 4) In einem weiteren Forschungsprojekt führte ich zwölf leitfadengestützte Experteninterviews mit Führungskräften und Angestellten des höheren Dienstes von Brand- und Polizeidirektionen, Gesundheitsämtern und Hilfsorganisationen. Inhaltlich ging es in diesen Interviews vor allem um die Bedeutung formaler Notfallkonzepte, insbesondere mit Blick auf die interorganisationale Kooperation bei Großschadenslagen (Interviewleitfaden 2 im Anhang). Um mehr über das Selbstverständnis und die Eigenarten der untersuchten Organisation zu erfahren, hat es sich hier als fruchtbar erwiesen, zirkuläre Fragestellungen zu verwenden, die den Befragten ins Außen versetzen. So lassen sich Feuerwehren etwa daraufhin befragen, was Rettungsdienste über sie denken, wie sich dieses Außenbild erklären lässt und was daran für sie stimmig oder falsch ist. 5) Im Rahmen der vorgenannten Studien entstanden sechs quantitative Studien, darunter eine bundesweite Umfrage zur Häufigkeit von MANV-Einsätzen, drei Befragungen zu Triageübungen und zwei experimentelle Versuche a) zur Anwendbarkeit unterschiedlich komplexer Sichtungsverfahren und b) zur Auswirkung expressiver Verletzungsdarstellung auf die Sichtungsdiagnose. Zu diesen Studien sind bereits diverse Publikationen erschienen. Kapitel 4 stellt diese Studien nicht nochmals im Detail vor, sondern diskutiert zentrale Ergebnisse im Rahmen einer historisch-soziologischen Gesamtanalyse, die das Herzstück dieser Arbeit darstellt.

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Das umfangreiche empirische Material kann in dieser Arbeit nicht in seiner ganzen Fülle und thematischen Breite ausgelegt werden. Die Auswahl der auf den kommenden Seiten wiedergegebenen Schilderungen, abgedruckten Interviewausschnitte und abgebildeten Umfrageergebnisse erfolgt unter Maßgabe der einleitend genannten Fragestellungen und mit dem Ziel, die Forschungsergebnisse zu illustrieren. Ein Verzeichnis der Interviews, aus denen in dieser Arbeit zitiert wird, findet sich im Anhang. Um die Lesbarkeit zu erhöhen, erfolgt die Wiedergabe von Feldnotizen, aufgezeichneter Interviews und dokumentierter Gespräche in der Regel wort- und nicht lautgetreu. Insbesondere dann, wenn es allein um den geschilderten Sachverhalt ging, wurde im zitierten Text kleinere Verbesserungen im Sinne der besseren Lesbarkeit vorgenommen. Die in dieser Arbeit angewandten textuellen Präsentationsregeln orientieren sich dabei an Lindemann (2002, S. 17f.). Bei der Wiedergabe von Beobachtungsprotokollen unterscheide ich zwischen einer zusammenfassenden Darstellung, einer sinngemäßen und einer wortgetreuen Wiedergabe der Gespräche. Am Anfang jeder Beschreibung wird entsprechend vermerkt, um was es sich handelt. In der Regel habe ich Gespräche, die im Rahmen teilnehmender Beobachtung geführt oder mitgehört wurden, sinngemäß wiedergegeben. Aus textästhetischen Gründen verzichte ich auf Groß-I-Ergänzungen oder umständliche /- oder *-Konstruktionen. Im lockeren Wechsel verwende ich sowohl das generische Maskulinum als auch das generische Femininum. Die Notärztin bezeichnet danach ebenfalls ihren männlichen Kollegen, so wie die Rede von Ärzten gewöhnlich auch alle Ärztinnen mitumfasst. Abweichungen erfolgen aus inhaltlichen oder empirischen Gründen und werden entsprechend gekennzeichnet. Grundsätzlich ist die Feuerwehr männlich dominiert, im Rettungsdienst und im Notärztinnenbereich ist diese Dominanz zahlenmäßig wesentlich schwächer und berufskulturell kaum ausgeprägt. Endlich obliegt mir die freudige Aufgabe, allen denen meinen Dank auszusprechen, die meine Arbeit auf die eine oder andere Art begleitet und unterstützt haben. Prof. Dr. Stefan Kaufmann danke ich für die gegebenen Freiheiten, das große Vertrauen in meine Arbeit und die wohlwollenden Ratschläge in neun Forschungsjahren. Dr. Michael Guggenheim verdanke ich eine Einladung und intensive Forschungszeit am Goldsmiths College, University of London. Prof. Dr. Wolfgang Hochbruck bin ich für die Übernahme des Drittgutachtens und seinen erfahrungsgesättigten Anregungen zu Dank verpflichtet. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Gerda Henkel Stiftung haben meine Forschungsarbeiten großzügig finanziell unterstützt. Ohne

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diese Förderung wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Damit wären mir auch eine große Zahl lehrreicher Forschungsreisen und Treffen zu Institutionen und Akteuren im Feld der organisierten Rettung verwehrt geblieben. Für die Zeit, die die interviewten und begleiteten Rettungskräfte und Notfallexpertinnen aufbrachten, um meine Fragen zu beantworten, und die Geduld, mit der die meisten meine neugieriegen Blicke bei Rettungseinsätzen ertrugen, möchte ich mich bedanken. Ein Großteil dieser Personen können an dieser Stelle aus Anonymitätsgründen nicht namentlich genannt werden. An ihrer Stelle möchte ich deshalb Prof. Dr. Leo Latasch nennen und persönlich danken. Als Koordinator eines bemerkenswerten Forschungsprojektes hat er nicht nur geholfen, Brücken ins Feld zu bauen, sondern mit seinen klaren Stellungnahmen meinen Blick für wesentliche Aspeke in den feldspezifischen Debatten und Tätigkeiten geschärft. Den Freiburger Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Institut für Soziologie und am Centre for Security and Society, in der Verwaltung und in der Wissenschaft, gilt mein herzlicher Dank für viele instruktive Gespräche und die erfahrene Wertschätzung. Einzelne Abschnitte und Fassungen dieser Arbeit haben Dr. Alexander Craig, Dr. Antonia Langhof, Andreas Lipps, Dr. Andrea zur Nieden, Dr. Gernot Saalmann, Dr. Cornelia Schendzielorz, Prof. Dr. Doris Schweitzer und Jonas Wegerer gelesen und mit Kommentaren und Anregungen versehen. In verschiedenen Workshops, Forschungskolloquien und auf Konferenzen konnte ich grundsätzliche Gedankengänge vorstellen. Hierfür danke ich dem Forschungsteam Communicating Disaster am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (Bielefeld), dem Basler-Freiburger Studientagen von Prof. Dr. Ulrich Bröckling und Prof. Dr. Axel Paul, dem Team der Katastrophenforschungsstelle Berlin um Prof. Dr. Martin Voss, Prof. Dr. Wolfgang Seibel und dem Konstanzer Team für die Organisation des Workshops „Sicherheit, Gesellschaft und Staat“ sowie der Forschungsgruppe am Centre for the Study of Invention and Social Process (London). Ich erinnere mich gerne an die freundschaftlichen Gespräche mit Dr. Jan Kruse zurück, der mit seiner persönlichen Begeisterung auch für einfache soziologische Sachverhalte anfängliche Bedenken hinsichtlich der Bedeutung meiner Forschungsarbeiten zerstreute. Meiner Familie, meinen Eltern und Geschwistern bin ich für die erfahrene Unterstützung und Ermutigungen dankbar, vor allem dafür, dass ich täglich erneut mit ihnen ins Konkrete, Vereinnahmende und Widersprüchliche eintauchen darf. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet.

I Dimensionen des Notfalls

Glaubt man den Hinweisen in unserer täglichen Umgebung, dann scheint es keiner weiteren Erklärung zu bedürfen, was Notfälle eigentlich sind. Wie selbstverständlich wird auf Hinweistafeln an öffentlichen Plätzen, in Behörden, Schulen, Bahnhöfen und anderen Orten davon ausgegangen, dass ihre Leserinnen bereits wissen, was ein Notfall ist. Anders wären die allpräsenten Instruktionen zum „Verhalten im Notfall“ wenig sinnvoll. Auch die zumeist knapp gehaltenen Gebrauchsregeln für die seit Jahrzehnten anwachsende Menge an für jedermann zugänglichen Rettungstechniken – für Nothämmer, Not-Aus-Schalter, Fluchttüren, Defibrillatoren4 – wären ohne das Wissen, wann ihr Gebrauchsfall vorliegt, ohne Sinn und Zweck. Notfallinstruktionen beginnen normalerweise mit dem Hinweis, die vorliegende Apparatur oder das sich präsentierende Werkzeug sei nur und ausschließlich „Im Notfall“ zu benutzen und setzen damit ein gemeinsames Verständnis dessen voraus, welche Umstände einem Notfall entsprechen würden. Notfälle sind jedoch weit davon entfernt, sich aus sich selbst heraus zu erklären. Folgt man der Sichtweise Giorgio Agambens (2004, S. 34–40) dann sind Notfälle hochgradig subjektive Angelegenheiten. Welche Umstände als ein Mangel an Sicherheit, als eine Not empfunden würde, das liege letztlich immer im Auge des Betrachters, sei abhängig von dessen Bedürfnissen und seiner Wahrnehmung. Notfälle seien geradezu ein Paradebeispiel dafür, dass eine Situation ganz unterschiedliche Bewertung erfahren könne: wo manche einen solchen zu erkennen meinen, winken andere ab. Für Agamben erübrigt es sich damit, dem Wesen des Notfalls weiter nachzuspüren. Da jede Notlage „ganz offensichtlich ein subjektives Urteil enthält“ (ebd., 39), würden sich Notfälle letztlich auch gegen jeden Versuch theoretischer Abstraktion und Vereinnahmung sperren. So gesehen ist der Agamben vielleicht der prominenteste und radikalste „Denker der Ausnahme“ (Ortmann 2003, S. 96), ein besonders begeisterter Denker des Notfalls ist er überraschend nicht.5 4 Vgl. für Exit-Architekturen wie dem Notausgang und dem Korridor Trüby (2008); für öffentliche Defibrillatoren s. etwa Canavas (2014) und Timmons (2011). 5 Agamben hat im Laufe seiner homo sacer Reihe vom Konzept des Notfalls oder Notstands (state of emergency – so noch der Titel eines Vortrags, den er 2002 hielt (Agamben 2002b) – auf das des politischen Ausnahmezustands (state of exception – so dann der Titel seines zwei Jahre später erschienen Werks (Agamben 2004) umgestellt. In den Mittelpunkt rückt damit die Sicht auf den Ausnahmeentscheid als eine politische Figur, und weniger die Frage, was Not ist und von welcher

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0_2

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Dass ein allgemeingültiges Notfallverständnis nicht immer vorausgesetzt werden kann, lässt sich empirisch anhand einer kleinen Debatte veranschaulichen, die 2010 geführt wurde. Im Sommer des besagten Jahres waren in mehreren deutschen Hochgeschwindigkeitszügen die Klimaanlagen ausgefallen und infolge die Innentemperatur weit über ein erträgliches Maß hinaus angestiegen. Angesichts kollabierender Reisegäste wurde die Frage laut, ob unter derartigen Umständen ein Ziehen der Notbremse oder ein Einschlagen von Zugfenstern erlaubt sei. Handelte es sich hier um den Notfall, von dem die im Zug angebrachten Hinweistafeln sprachen? Rechtfertigte die unerträgliche Hitze den Einsatz der installierten Rettungsmittel? Diese Frage beschäftigte auch die Medien. Die Nachrichtenplattform tagesschau.de stellte Informationen zum Thema „Was tun, wenn der ICE zur Sauna wird?“ zusammen. Die Pointe war dabei gerade die, dass keine genaue Antwort gegeben werden konnte: Eine Notbremse ist nur im Notfall zu benutzen – das gleiche gilt für das Einschlagen eines Fensters. Ein solcher Notfall tritt ein, wenn die eigene Sicherheit gefährdet ist oder die anderer Reisender. Ob das für den großen Klimaanlagen-Ausfall zutrifft, sei schwer einzuschätzen, so Heinz Klewe von der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr. Genaue Angaben dazu finden sich in den Beförderungsbedingungen der Bahn nicht (Banasch 2010).

Das Erkennen eines Notfalls scheint demnach nicht immer so einfach wie es der verbreitete Gebrauch des Begriffs vermuten lässt. Bahnexperte wie auch betriebliche Beförderungsbedingungen bleiben eine eindeutige Antwort schuldig. Letztlich entscheidend sei, ob die Situation tatsächlich so gefährlich gewesen sei, dass die Notbremse gezogen hätte werden müssen. Die einschränkende Gebrauchsanweisung „Im Notfall diesen Hebel ziehen“ stellt auf die Gleichartigkeit hochgradig verschiedener Situationen ab und lässt weitgehend offen, worin dieses Gleiche besteht. Man kann dies mit Wittgenstein (1984, §85, §225) als typisches, unvermeidbares Merkmal einer Regel sehen. Vielleicht ist eine präzise Spezifikation des Anwendungsfalls jedoch auch gar nicht die vorrangige Absicht der Anweisung und es handelt sich um eine bewusste Ungenauigkeit. So gesehen regelt die Einschränkung Im Notfall weniger ihren Gebrauch als vielmehr ihren Nichtanwendungsfall. Die nebenstehenden Sanktionshinweise („Missbrauch strafbar!“) und der drohende Zusatz „Nur im Notfall“ weisen darauf hin. Mit dem roten Nothebel wird zuallererst ein Bedienverbot assoziiert. Dies führt zu einer weiteren Einsicht, wie Notfälle sozial gehandhabt werden. Erst im Anschluss an eine Situation, in der wie in einem Notfall gehandelt wurde, Befolgungspflicht sie im Einzelfall ausnahmsweise befreit. In der Ausnahmeregelung im Notfall sieht Agamben eine dispensatio, und eben nicht eine exceptio (Agamben 2004, S. 34).

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wird diskutiert und rückblickend bestimmt, ob es sich tatsächlich um einen Notfall gehandelt hat. Es geht dann stets darum, ob ergriffene Interventionsmaßnahmen gerechtfertigt gewesen seien. Lag ein bestimmter Notfall vor, dann war der Einsatz unkonventioneller Mittel, von normalerweise verbotenen Maßnahmen – wie etwa das Ziehen der Notbremse, das Eintreten einer Tür, das Töten eines Angreifers in Notwehr –, ausnahmsweise erlaubt. „Not kennt kein Gebot“ heißt es dazu im Volksmund. Wenn es in einer Situation nicht anders möglich sei, ein hohes Gut wie Leben, Gesundheit oder Eigentum zu schützen, seien bestimmte Verbote außer Kraft gesetzt. Für die betreffende Situation widersinnige Handlungsschranken verlören für kurze Zeit ihre Gültigkeit. Der Weg ist dann frei, sich, jemand anderes oder etwas aus seiner Not zu retten. Der Nachteil eines solchen legalistischen Zugangs zu Notfällen ist zum einen der, dass immer erst das nachlaufende Urteil einer dazu ermächtigten Instanz abgewartet werden muss, die über die Frage entscheidet, ob eine ergriffene Maßnahme angesichts der Umstände gerechtfertigt gewesen sei. Erst wenn etwa die Deutsche Bahn oder ein Gericht erklärt, eine Handlung sei unter den vorliegenden Umständen gerechtfertigt gewesen, hat es sich de jure um einen Notfall gehandelt. Der Nachteil einer derartigen Perspektive ist nicht nur der, dass die Notfallfeststellung so erst nachlaufend erfolgt. Darüber hinaus erhebt eine solche Sicht nämlich, zweitens, die Ausnahme bzw. den ausnahmsweise erlaubten Regelbruch zum Hauptkriterium des Notfalls, obgleich sicherlich nicht jeder Notfall eine exzeptionelle Tat erfordert. De facto reicht im Notfall manchmal schon ein rascher Sprung zur Seite oder die Einnahme eines mitgeführten Notfallmedikaments. Sind solche Gefahrensituationen, die sich mit konventionellen Mitteln oder durch gute Vorbereitung lösen lassen haben, deshalb keine Notfälle? Es ist nicht nur fraglich, ob jeder Notfall zwingend auf einen erlaubten Regelbruch hinausläuft. Unsicher ist auch, ob beteiligte Personen sich während eines Notfalls überhaupt damit auseinandersetzen, ob und dass sie gerade den Bereich gewöhnlich geltender Regeln verlassen und im Modus einer Ausnahme handeln (Vollmer 2013, S. 15–18). Gerade in Notfällen steht womöglich kaum die Zeit zur Verfügung, über Angemessenheit und Rechtmäßigkeit bestimmter Handlungen nachzudenken. Und selbst wenn später ‚objektiv‘ geurteilt wird, eine Handlung sei unrechtmäßig durchgeführt worden, revidiert dies nicht zwangsläufig den ‚subjektiven‘ Status der zurückliegenden Situation als ein Notfall. Für eine soziologische Fassung des Notfalls lohnt es sich zunächst breit anzusetzen und nicht allein von der ausnahmsweise und im Nachhinein gebilligten Regelübertretung auszugehen. Auch diese Arbeit folgt zu Beginn rechtstheoretischen Auseinandersetzungen zur Notstandshandlung. Sie zielt jedoch nicht auf eine Theorie der Ausnahme, sondern arbeitet anhand der Auseinandersetzungen sukzessive

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die für Notfälle typischen Erwartungsstrukturen heraus. Gefragt wird, wie sich ein Notfall situativ und interaktional aufspannt, welche typischen Hürden eine Situation nehmen muss, um als Notsituation begriffen zu werden und vor welche Probleme Beteiligte in diesen Situationen typischerweise gestellt sind. Wohlgemerkt: es geht um die Frage, wie sich ein Notfall situativ etabliert, nicht um die Frage, was rückblickend als Notfall (durch das Recht) gerechtfertigt wird. Ziel dieses Kapitels ist es, den Notfall als soziologische Miniatursituation zu modellieren. Historische Brüche in der rechtlichen Fassung von Notfällen geraten dabei zwar ins Blickfeld, werden aber zu Gunsten der hier primär interessierenden Charakteristika und Facetten von Notfällen nicht eingehend in Augenschein genommen. Im Kern sind es am Ende drei Aspekte, die die soziologische Dimension von Notfällen umreißen. 1. Notsituationen liegt die Annahme einer evidenten Gefahr zu Grunde, 2. Notfallkommunikation und -handlungen flaggen Dringlichkeit aus und 3. Notfälle zehren von der Aussicht auf Rettung. Es bedarf also einer Retterin, oder zumindest der Hoffnung, dass Rettung noch möglich sei. Ohne diese Hoffnung auf Rettung, das ist der Punkt, der hier besonders stark gemacht wird, wird normalerweise nicht von einem Notfall gesprochen. Während sich eine Soziologie des Notfalls mit ihrer Reflexion über das Vorliegen einer evidenten Gefahr in Sichtweite zum juristischen Konzept des Notstands bzw. der konkreten Gefahr bewegt, betont sie mit dem dritten Aspekt einen Punkt, der in der Regel unterbelichtet bleibt: wer auch immer von einem Notfall spricht, erwartet, dass noch geholfen werden kann. Je brüchiger diese Erwartung ist, je mehr die Hoffnung schwindet, desto eher trägt die Situation katastrophale Züge und verliert ihre dramatische Qualität als ein Notfall. Auf den nächsten Seiten werden die vorgestellten Punkte eingehend dargestellt. Konzeptionell orientiere ich mich dabei an der Differenz dreier verschiedener Sinndimensionen. Not- und Rettungssituation werden entsprechend auf ihre sachliche (→ 1), zeitliche (→ 2) und soziale Dimension (→ 3) hin befragt. Die Heuristik basiert auf der Idee, Sinn sei das Universalmedium schlechthin6 und weise die drei genannten Dimensionen auf.7 In jeder Sinnform, also in jeder Erwartung

6 Mit einer knappen Formulierung Krauses (2001, S. 223) ist Sinn „allgemein die Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität des in Sinnsystemen als autopoietischen Systemen möglichen sinnhaften Erlebens und Handels. Sinn ist Universalmedium aller psychischen und sozialen Systeme, bildet jedoch kein System eigener Art“. 7 Vgl. neben den endlosen kleineren Anwendungen dieser Heuristik in seinem Werk vor allem Luhmann (1983b, S. 94–106, 1987, S. 112–122). Lindemann (2012) plädiert für eine Erweiterung um die Raumdimension. Systemtheoretische Auseinandersetzungen zu Raum und Materialität finden sich in Goeke et al. (2015) und Heintz & Tyrell (2015).

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(Struktur) und in jeder Kommunikation (Ereignis), konvergieren die drei Sinnhorizonte, sie fallen in ihr aber nicht zusammen. Die drei Dimensionen sind irreduzibel, sie kreuzen sich, können aber nicht in eine oder zwei der anderen beiden aufgelöst werden. Für die Analyse des Notfalls wird zum einen auf die Risikosoziologie Luhmanns (1991) und Japps (2000) zurückgegriffen, zum anderen auf Überlegungen Luhmanns zu „Formen des Helfens“ (1975). Der zweifache Zugang erlaubt es, im Notfall eine gefährliche und eine Rettungssituation zu sehen. Sachlich geht es bei Hilfe um ein bestimmtes Bedürfnis, für dessen Befriedigung man auf das Engagement eines anderen angewiesen ist (Selbsthilfe hier einmal ausgeklammert, sie erfolgt zirkulär). Für Hilfe bedarf es aber nicht nur einer anderen Person, die grundsätzlich in der Lage und willens ist zu helfen (soziale Dimension). Die Schwierigkeit von Hilfe liegt vor allem auch darin, sie zeitlich zu arrangieren. Bedürftigkeit und Bedarfsmittel müssen einander zeitgerecht finden. Hilfe dann anzubieten, wenn sie offensichtlich nicht (mehr) benötigt wird, ist nutzlos. Das Hilfsangebot wirkt dann schnell vorgeschoben und erregt den Verdacht, einem anderen Zweck dienen zu sollen. Unzweifelhaft spitzen sich die Anforderungen an Hilfe in Notfällen zu. Hilfeleistung kann in Notfällen kaum abgelehnt werden (soziale Dimension), da sie hier der Befreiung aus einer gefährlichen Notlage dient (sachliche Dimension) und unverzüglich erfolgen muss (zeitliche Dimension). Anders als bei gewöhnlicher Hilfe geht es bei Rettung um eine evidente Gefahr, die dem Notleidenden droht und aus der ihn erfolgreiche Rettung befreit. Im Notfall ersehnte Hilfe dient nicht einer bloßen Bedürfnisbefriedigung, in ihr artikuliert sich der inständige Wunsch, einen drohenden Schaden abzuwenden. Einfache Hilfe kann bei einer anstrengenden Arbeit erbeten oder zur Lösung eines kniffligen Rätsels gerufen werden, dagegen sehnt sich eine um Rettung schreiende Person nach einer solchen Tat, die die aktuelle Gefahr eines drohenden Schadens von ihr nimmt. Die Darstellung der Situation Notfall beginnt in Abschnitt → 1.1 mit der Sachdimension und wendet sich der Unterscheidung von einfachem Bedürfnis und Not zu, wofür sie auf den Noth-Artikel aus Zedlers Universal-Lexicon (1731-1754) zurückgreift. Der Rückgriff auf Zedler bietet sich an, da gerade die historische Distanz zur Noth-Definition einzelne Aspekte deutlicher hervortreten lässt. Aktuelle Lexika haben den Nachteil, dass ihre Definitionen in der Sprache des gegenwärtig Selbstverständlichen verfasst sind. Zedlers Artikel sperren sich häufig gegen ihr gedankenloses Verständnis; Sprache und Gedankengänge müssen erst durchdrungen und erfasst werden. In der Auseinandersetzung liegt die Chance allzu Gewöhnliches und Vertrautes erkennen und genauer konturieren zu können.

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Der Zedler-Artikel unterteilt Noth schlussendlich in drei verschiedene Grade und erhebt die „Ausnahme“ zum herausragenden Merkmal „äußerster Noth“. Im Anschluss geht es mir dann nicht darum, Funktion und Folgen von Ausnahmeregeln zu beleuchten und ihre politische Problematik zu diskutieren. Mich interessiert die Ausnahmeregel nur als Indikator, denn Ausnahmeregeln sind stets erklärungsbedürftig. In ihren Begründungen spiegeln sich Annahmen über die Natur von Notfällen wider. Je nach Zeit, ist diese Natur allerdings unterschiedlich verhandelt worden. Abschnitt → 1.2 skizziert zuerst ein historisch älteres Konzept, das im Notfall einen naturrechtlichen Vorfall sah, in dem sich eine Art Urrecht zu erkennen gebe. Dieses auf elementare Wahrheiten abstellende Modell steht die moderne Fassung des Notstands als Zwangssituation gegenüber, in der die Gefahr dem Betroffenen sein Handeln diktiert. In der modernen Fassung des Notstands als Zwangssituation spiegelt sich die Konzeption des Menschen als frei handelndes Wesen in problematischer Weise wider. Denn eben diese Handlungsfreiheit scheint im Notfall nicht gegeben (so eine erste Idee) oder sie scheint von der mit ihr im innersten verknüpften Verantwortung für das eigene Handeln abgetrennt (so die revidierte Fassung, die heute im entschuldigenden Notstand Rechtsrang erhalten hat). In Abschnitt → 1.3 wird die Eigenlogik der rechtlichen Handlungsattribution im Notstand analysiert, wofür der rechtshistorische Diskurs dahingehend beobachtet wird, wie er die Unterscheidung von Handeln/Erleben prozessiert. In → 2 wende ich mich der zeitlichen Dimension des Notfalls zu, die sich in der Dringlichkeit der Situation zeigt. Dringlichkeit wird hier weniger als ein innerlich wahrgenommenes Zeitgefühl, sondern als eine soziale Grammatik von Notfallkommunikation und -handeln verstanden. Notfälle leben von und zehren an der Hoffnung, dass ein antizipierter Schaden noch abwendbar oder zumindest eingrenzbar ist. Das im Notfall zu beobachtende Engagement ist von der Hoffnung getragen, die Situation sei, wenigstens teilweise, noch reparabel, das kommende Unheil noch abwendbar, die Stabilität der antizipierten Kausalkette fragiler als gedacht. Als beobachtbare Sinnform entspricht Dringlichkeit der im Notfall rasch schwindenden Erwartung, den antizipierten Lauf der Dinge noch ändern zu können. Sie drückt sich im Handeln und Sprechen der Beteiligten, in ihrer Kommunikationsweise und Verhaltensdarstellung aus. Die Feststellung, Dringlichkeit sei das kennzeichnende Merkmal der Zeitdimension im Notfall, führt schließlich zur Diskussion zweier Unterschiede. Der erste, qualitative Unterschied ist der zwischen Notfall und Katastrophe (→ 2.1). Anders als in Notfällen steht die Zeit in Katastrophen still. In der vollständigen Katastrophe sind die Reversibilitätschancen gleich Null, sie bezeichnet eine Situation absoluten Scheiterns. Es besteht keine Aussicht mehr auf Rettung, da das

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Schlimmste bereits eingetreten ist. Nicht Dringlichkeit dominiert Erleben und Handeln, Erwartung und Kommunikation, sondern entsetztes, traumatisiertes Schweigen. Stille, die Ruhe nach dem Sturm. Ein zweiter, gradueller Unterschied besteht zwischen den Praktiken, die zur Gefahrenabwehr im Notfall verrichtet werden, und solchen, die präventiv gegen Szenarien in Anschlag gebracht werden (→ 2.2). Während Abwehrmaßnahmen von konkreten Gefahren ausgehen, deren Evidenz im Zweifelsfall erst bewiesen oder zumindest rückwirkend nachgewiesen werden muss, stellt die präventive Intervention die Kontingenz der Zukunft nicht grundsätzlich in Frage. Notfallhandlungen können dagegen für sich in Anspruch nehmen, dass der Schadenseintritt nicht eine Möglichkeit unter vielen ist, sondern hochwahrscheinlich bis sicher sei. Die Konstruktion von Gefahrenevidenz stützt sich selten auf probabilistische Risikoberechnungen. Sie basiert in der Regel auf alltäglichen Erfahrungen. Dringlichkeit und Gefahrenevidenz konturieren sich in diesem Sinne gegenseitig. Je klarer die Gefahr, desto dringlicher die Aktion. Und umgekehrt: Je deutlicher Kommunikation und Handeln Dringlichkeit ausflaggen, desto plausibler scheint die Gefahr. Die soziale Dimension (→ 3) lädt nicht allein zur Beobachtung ein, wer sich in Not befindet und wer hilft bzw. helfen könnte. Je nach Personenkreis – Angehörige, Fremde, Berufsretter – unterscheiden sich Hilfspflichten und werden unterschiedliche Maßstäbe an die Hilfe angelegt (→ 3.1). Gerade in der sozialen Dimension zeigt sich dann, dass Normen enttäuscht werden können. In der Beziehung von Ego zu Alter verhandelt sich demnach die Möglichkeit von Dissens und Konsens, von Hilfe und Nicht-Hilfe. Einmal stellt sich damit historisch die Frage, welche Einrichtungen Gesellschaften im Verlauf ihrer Entwicklung hervorgebracht haben, um zur Hilfeleistung zu motivieren. „Erste Hilfe“, so der Titel des Kapitels, betrachtet hier daher weniger die Schulung medizinischer Kompetenzen, sondern widmet sich einer Form von Hilfe, bei der einander fremde Personen ermutigt werden sollen, einander zu retten (→ 3.2). Eine konfliktfreie Rettungsinteraktion hängt grundsätzlich davon ab, ob beide Seiten, Retterinnen wie Opfer, in die Hilfe einwilligen. Widerspricht eine Seite der Rettung droht ein Dissens. Das „Nein“ kann vom potenziellen Helfer ausgehen, es kann aber auch der scheinbar Notleidende sein, der die Rettung ablehnt. Den vier Möglichkeiten von Dissens und Konsens widme ich mich im abschließenden Abschnitt und greife dabei beispielhaft auf Beobachtungen im Rettungsdienst zurück (→ 3.3). Der abschließende Abschnitt (→ 4) fasst zentrale Einsichten dieses Kapitels zusammen.

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Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation

1.1

Not als Bedürfnisform

Sachlich bezieht sich Sinn auf etwas in der Welt8 und grenzt dieses etwas dadurch von anderem ab. Während in der Zeitdimension der Unterschied zwischen einem Vorher und einem Nachher Bedeutung erhält, in der Sozialdimension die Differenz von Alter und Ego der zentrale Bezugspunkt ist, sondert sich in der Sachdimension etwas Bestimmtes von dem Übrigen. Jede Bezeichnung von etwas beginnt mit einer Unterscheidung von anderem. Kurz gesagt, in der Sachdimension wird darüber informiert, um was es gerade geht. In ihr differenziert sich Wissen. Mit Blick auf das Thema dieses Kapitels stellt sich nun die Frage, was eine Notsituation sachlich bestimmt oder was Not von anderen Bedürfnislagen unterscheidet. Zur Beantwortung von Was-Fragen wurde in der Moderne eine große Vielzahl von Enzyklopädien verfasst. Schon im ersten Nachschlagewerk, Zedlers Universallexikon, findet sich eine geglückte Formulierung zur Not. Der Autor des NothArtikels hat das zentrale Merkmal in einer für unsere Ohren umständlichen, aber nichts weniger als prägnanten sprachlichen Wendung eingefangen: Noth […] bedeutet einen solchen unglücklichen Zustand des Menschen, daß man sich nicht wohl daraus reissen kann (Zedler 1731-1754, S. 1417).

Not überragt ein einfaches Bedürfnis darin, dass zur Befreiung aus ihr besondere Anstrengungen erforderlich sind. Dass „man sich nicht wohl daraus reissen kann“, verweist auf zwei Momente: im Rahmen einer Selbstrettung erinnert die Formulierung an die unangenehmen Folgeprobleme, an einzugehende Risiken, die eine Aufhebung der Not mit sich bringt oder provoziert. Man kommt aus der Not nicht vollständig unbeschadet heraus – man musste stehlen, um den eigenen Hunger zu stillen – und dies macht die Not zu einem besonderen Bedürfnis. Oder aber, und das ist das zweite Moment, auf das der Satz anspielt, Not findet sich dort, wo das eigene Handeln nichts mehr auszurichten vermag und die eigenen Handlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Not lässt sich in diesem Falle nur mit fremder Hilfe abwenden. Die Mittel zur Aufhebung des Mangels stehen demnach in einem besonderen Verhältnis zur Not. Sie sind not-wendig, um den Mangel zu beheben, und sie sind not-gedrungen, denn entweder kann die eigene Notlage nur unter Inkaufnahme 8 Welt ist der Begriff, der den aktuell möglichen Sinnhorizont einer bzw. der modernen Gesellschaft bezeichnet; der Begriff hat also keinen echten Gegenbegriff (auch das „Nichts“ gehört zur Welt). Die für die Systemtheorie wichtigste Grundunterscheidung ist die von System und Umwelt.

1 Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation

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anderer Übel gelindert werden, in diesen Fällen frisst sogar der Teufel Fliegen. Oder man ist auf andere angewiesen, um die eigene Not zu lindern – andererseits ist der bittre Frost der Tod. Von dieser Grundfigur ausgehend, wird Not im Zedler weiterhin danach unterschieden a) wie beträchtlich sie ist und b) was von ihr betroffen ist. Sie wird in verschiedene Absicht abgetheilet, als 1) in Ansehung der Grade sey sie entweder eine geringere, oder eine grössere, oder eine äusserste. 2) In Ansehung der Sachen, weswegen man sich darinnen befindet, hätte man eine Noth der Ehrlichkeit, der Sicherheit und Bequemlichkeit. […] [Da] man die Noth nicht nach der Einbildung und den Affecten der Menschen abzumessen hat, so ist einmal die geringe Noth vor keine Noth anzusehen; diejenige aber, welche man große Noth […] nennet, ist eben das, was in der anderen Abtheilung die Noth der Bequemlichkeit […] heisset, weil man dabey noch einige Mittel zu seiner Rettung, wiewohl mit großer Incommodität hat; und was man sonst necessitatem integritatis nennet, das ist, die äusserste Noth, von der ein besonderer Artickel. Auf solche Weise darff man die Noth nur in die Noth der Sicherheit und der Bequemlichkeit eintheilen, davon jene die äusserste, diese aber die grosse ist (Zedler 1731-1754, S. 1417f.).

Im gesonderten Artikel zur „äussersten Noth“ wird diese schließlich bezeichnet als ein solcher unglücklicher Zustand eines Menschen, da er sich aus der bevorstehenden Leibes- und Lebens-Gefahr durch kein Mittel herausreissen kan, sofern er nicht dergleichen etwas beginnet und vornimmt, welches sonst in denen Gesetzen hoch und theuer verboten (Zedler 1731-1754, S. 1418).

Schauen wir uns die Reihenfolge genau an: Die Bemerkung, geringere Not sei von keiner Not zu unterscheiden, scheint zunächst trivial und überflüssig, ist aber auf das Objektivitätsproblem von Not zurückzuführen: Wo und wann genau Not beginnt, ist schwierig zu bestimmen. Der Autor legt an dieser Stelle lapidar fest, Not sei ein objektiver Zustand und nicht durch rein subjektive Wahrnehmung „abzumessen“, Einbildung und Affekte würden noch keine Not qualifizieren. Größere und äußerste Not werden im Zedler schärfer gegeneinander kontrastiert. Größere Not erweise sich als unbequem, da eine komfortablere Position aufgegeben werden muss: es fehlt an Geld, das Haus muss verkauft und eine kleinere Wohnung bezogen werden. Anders als in äußerster Not ist der Einsatz der zur eigenen Rettung verwendeten Mittel zwar bedauerlich, aber nicht verboten. Erst äußerste Not zwingt zum Gesetzesübertritt, um für Sicherheit zu sorgen. Die persönliche Integrität (Ehrlichkeit) oder die körperliche Integrität (Sicherheit) laufen Gefahr, Schaden zu nehmen, wenn nicht gegen gewöhnlich geltendes Recht verstoßen werde. Größere und äußerste Not unterscheiden sich demnach nicht nur durch

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den sie betreffenden Mangel. Vor allem ist es der Gesetzübertritt, der auf der einen Seite verboten, auf der anderen Seite erlaubt sei. Für den Autor ist es vor allem die Ausnahmeregel, die für die Definition äußerster Not von Bedeutung ist. Wir gehen an dieser Stelle aber nun einen Schritt weiter. Aus zweierlei Gründen ist es unbefriedigend, die legitime Anwendung der Ausnahmeregel als Notfallbeleg zu begreifen. Zum einen bedarf es selbst zur Rettung in äußerster Not nicht zwingend eines Rechtsübertritts. Rettung kann auch regelkonform erfolgen. Manchmal reichen noch die eigenen Kräfte oder schlicht eine helfende Hand, um ans rettende Ufer zu gelangen. Der Notfall ist also „mehr“ als eine Ausnahmeregelung. Daran schließt die zweite Einsicht an: Es ist weniger die Ausnahmeerlaubnis selbst, die etwas über den Notfall erzählt, vielmehr enthält ihre Begründung ein Verständnis von der Eigentümlichkeit der Situation, für die die Ausnahme gelten soll. Im Folgenden wird die historische Entwicklung der Begründung des entschuldigenden Notstands im deutschen Strafrecht in den Blick genommen und anschließend die Eigenlogik von Notfallhandlungen mithilfe der soziologischen Unterscheidung von Handeln/Erleben erörtert. 1.2

Der Notstand als Sonderfall des Handelns im liberalen Recht

Die Begründung der Erlaubnis von Ausnahmen erfolgt im liberalen Recht gänzlich anders als in der vormodernen Rechtfertigungslehre. Moderne Notstandsmodelle sind zugleich Blaupause eines neuen Menschenbilds, konservative Konzeptionen sehen im Notfall dagegen weiterhin eine Situation, in der Ursprüngliches zu Tage trete. In Letzteren verweist der Notfall und die mit ihr in Zusammenhang stehende Ausnahme auf ein besonderes, vom normalen Recht abgehobenes Notrecht. Gerade die naturrechtliche Tradition hat im vitalen Bedürfnis, sich und seine Nächsten in absoluter Not gegen alle Widerstände zu verteidigen, ein natürliches, angeborenes oder gottgegebenes Recht gesehen, das im Leib oder im Menschen angelegt sei. Im Begriff des „Selbsterhaltungstriebs“ ist diese Naturalisierung noch heute lebendig. Dagegen hat das moderne Recht einen anderen Weg eingeschlagen, um mit der im Notfall begangenen, eigentlich rechtswidrigen Tat gerecht umgehen zu können. Der Notstand wird im modernen Recht als Zwangslage begriffen, in der nicht mehr vollständig frei gehandelt werden könne.9 Von diesem

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So lautete eine juristische Definition etwa: „Notstand ist eine Zwangslage, in der man befugt ist, auf eine fremde Sache so weit einzuwirken, wie zur Verhütung eines drohenden Schadens nötig ist“ (Hübner 2013, S. 261). Strafrechtler scheinen auf den Terminus Zwangslage eher zu verzichten. Vgl. Küper (1987, S. 81).

1 Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation

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Gedanken her hat das moderne Recht zwei Begründungsmodelle entwickelt, mittels denen das angeklagte Notstandshandeln daraufhin geprüft werden kann, ob es zu rechtfertigen oder ob es zu entschuldigen sei. Obgleich beide zunächst in Konkurrenz zueinanderstanden, bilden sie heute als Differenzierungstheorie eine Synthese (Küper 1987). Mit Blick auf das im Notfall handelnde Rechtssubjekt ist der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) zunächst der historisch und soziologisch interessantere, wenn auch der in der Rechtspraxis unbedeutendere Fall. Seine Entwicklung ist wesentlich stärker mit der Idee der Handlungsfreiheit und der juristischen Zurechnungstheorie verknüpft, weswegen seine rechtliche Genese zuerst verfolgt wird. Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) ist aufgrund der in ihm enthaltenen Güterabwägungstheorie zwar nicht weniger modern, knüpft jedoch stärker an die alte Idee eines exklusiven Notrechts an. Wie sein Name bereits sagt, wird die Rechtswidrigkeit der Tat hier nicht, wie bei der entschuldigenden Regelung, bestehen gelassen, sondern aufgehoben. Am Ende dieses Abschnitts wird darauf in gebotener Kürze zurückgekommen. Als erster verabschiedet sich Immanuel Kant und nach ihm der einflussreiche Rechtsgelehrte Paul Johann Anselm von Feuerbach von bis weit in das 18. Jahrhundert dominanten Lehren, die Nothandlungen auf natürliches Recht zurückführen – sei es als angeborenes Recht (Cicero), gottgewollter Selbsterhaltungstrieb (Thomasius) oder vorgesellschaftliche Gütergemeinschaft (Grotius).10 Kant wie auch Feuerbach stellen den freien Willen ins Zentrum ihrer Rechtstheorien. Ersterem geht es vor allem darum, den freien Willen als Voraussetzung jeglichen Rechts zu behaupten. Kant bricht deswegen konsequenterweise „mit der alten naturrechtlichen Tradition, indem er die Existenz eines Notrechts verneint. Nach Kant kann die Notwehrhandlung niemals Grundlage eines Rechtsgesetzes sein, da dieses auf dem Prinzip des freien Willens beruht, dem der äußere Zwang der Not widerspricht“ (Lichtblau 1984, S. 941). Dort, in der Not, gibt es nach Kant keine Entscheidungsfreiheit und demnach könne es dort auch kein Recht geben. Von diesem Grundgedanken her erklärt sich die bekannte Festlegung Kants aus der Metaphysik der Sitten: „Der Sinnspruch des Notrechts heißt: ‚Not hat kein Gebot (necessitas non habet legem)‘; und gleichwohl kann es keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte“11. Die Festlegung, dass es kein dem positiven Recht übergestelltes, ihm vorausgehendes oder es fundierendes bzw. außer Kraft setzendes Naturrecht/Notrecht gebe, führt zu der schwierigen Frage, wie denn mit einer Tötung in Notwehr rechtlich umzugehen sei. Kant findet hier zu der bekannten Formel, dass diese zwar niemals unsträflich (inculpabile), wohl

10 11

Vgl. Lichtblau (1984, S. 941f.). Kant (1956 [1797], S. 343). Vgl. zum Notfall bei Kant Küper (1998) und Kühl (1999).

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I Dimensionen des Notfalls

aber unstrafbar (inpunible) sei. Im heutigen Strafgesetzbuch findet sich diese Figur im Paragraphen zum entschuldigenden Notstand (StGB § 35) wieder. Die Prämisse Kants aufgreifend, die gesamte Rechtsordnung müsse von der Idee des freien Willens ausgehen,12 geht Feuerbach einen Schritt weiter. Ausgehend von der grundsätzlichen Entscheidungsfähigkeit einer Person entwickelt er eine Theorie der Zurechnung von Handlungen und kommt zu dem Schluss, eine in Not begangene Handlung sei einer der Fälle, in denen die „Übertretung des Gesetzes ohne alles Zuthun des Willens“13 erfolge. Notstandslagen seien primär über ihren Zwangscharakter zu verstehen. Für Feuerbach schaltet der existenzielle Zwang den freien Willen aus und verhindert so, eine im Notfall begangene Tat der vermeintlich handelnden Person als ihre eigene Wahl zuzurechnen. Begriff man den Notfall vorher als ein Phänomen, in dem Naturrecht hervortrete, wurde er nun mehr und mehr zu einem Sonderfall des Handelns. Der Kampf um das eigene Überleben wurde von einem urgesetzlichen Phänomen zu einer alternativlosen, ja willenlosen Aktion. In der Fassung des Notstands als psychische Zwangssituation spiegelt sich die moderne Konzeption des Menschen als frei entscheidendes und autonom handelndes Wesen wider. Da die Moderne den Menschen im Vergleich zu vorherigen Vorstellungen hinsichtlich seiner Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit massiv aufwertet (Luhmann 1991, S. 54f.), ihn als selbstbestimmt handelnden Akteur begreift (Meyer und Jepperson 2000) und der Liberalismus die Gesellschaft dieser Grundvorstellung entsprechend einrichtet (Foucault 2006a, S. 13–111, 2006b, S. 505–510) dann ist die juristische Verschiebung von naturrechtlichen Notrechtslehren hin zu Zurechnungsanalysen nur konsequent. Mit dem neuen Menschenbild wird der Notstand in einen handlungspraktischen Sonderfall überführt. Das Interesse, den Notfall über einen naturrechtlichen Bezug zu charakterisieren, verlor sich im 19. Jahrhundert zusehends und wurde zu einer Position konservativer Strömungen (Grünewald 2010, S. 57f.). Die moderne Notstandslehre „verzichtete auf tiefgründige Ableitungen“ (ebd., S. 58) und argumentiert pragmatischer. In Einklang mit der modernen Fassung des Menschen als „Akteur“ (Meyer und Jepperson 2000) wurde der Notfall nun zu dem Ort, an dem diesem seine Handlungsfreiheit durch äußeren Zwang geraubt ist. Die Fassung des Menschen

12

13

In der Willensfreiheit sehen führende Rechtswissenschaftlerinnen heute keine ontologische Bedingung. Ihre „Annahme ist eine normative Setzung, eine soziale Spielregel, die sich nicht zu der Frage äußert, wie es mit der menschlichen Freiheit seinsmäßig beschaffen ist, sondern die lediglich anordnet, daß der Mensch vom Staat als prinzipiell frei und verantwortungsfähig behandelt werden sollte ((Roxin 1997, S. 60f.). Vgl. auch Schulz-Schaeffer (2007, S. 381–383). Feuerbach, Paul Johann Anselm von & Mittermaier (1840 [1801], S. 145); vgl. Lichtblau (1984, S. 943).

1 Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation

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als grundsätzlich frei handelndes Wesen machte es notwendig, den Notfall zu einem juristischen Schutzraum umzubauen, in dem ihm Freiheit und Mündigkeit nicht zum Verhängnis werden konnten. Im 20. Jahrhundert verschiebt sich die rechtliche Fassung des Notstands ein zweites Mal. Die reine Zurechnungslehre kann die Entschuldigung einer Handlung nicht hinreichend präzise klären. Zweifel werden laut, ob die Notstandshandlung tatsächlich durch willenloses Zutun gekennzeichnet sei und dies eine unrechtmäßige Tat entschuldige. Reinhard von Frank stellt zu Beginn des Jahrhunderts lakonisch fest: „auch der im Notstand handelnde Täter weiß, was er tut. Ihm den Vorsatz […] abzusprechen heißt einfach unlogisch sein“ (Frank 2009 [1907], S. 7). Die Ansicht, dass Nothandlungen nicht mit willenlosem Verhalten gleichzusetzen seien, führt bei von Frank zur Reflexion über den Schuldbegriff. Er verwirft dabei zwar nicht die Idee, dass bei fehlender Zurechnungsfähigkeit auch die Schuldfähigkeit geprüft werden müsse, für von Frank ist es aber alles andere als ausgemacht, dass eine in Not begangene Tat zwingend die Handlung eines Zurechnungsunfähigen14 sei. Frank versteht Unzurechnungsfähigkeit als das Fehlen einer „normale[n], geistige[n] Beschaffenheit des Täters“ (ebd., S. 13) und es sei nicht einzusehen, warum es in Not geratenen Personen an dieser mangeln solle. Zurechnungsunfähigkeit wird demnach von der Idee der Zwangssituation abgekoppelt. In rechtlicher Sicht stellt der Notstand damit nicht mehr eine Situation dar, in der willenlos und deswegen schuldlos gehandelt wird. Willens- und Entscheidungsfreiheit setzen im Notfall nicht aus, auch hier wird, jedenfalls aus Sicht des Rechts, gehandelt und zwar, wie jetzt zunächst festzustellen ist, unrechtmäßig.15 Getragen von dem Problem, dass eine Nothandlung nicht von sich aus Zurechenbarkeit ausschließe, Notstandshandlungen aber weiterhin anders beurteilt werden können sollen, nimmt Frank einen Umbau des Schuldbegriffs vor, der in dem bis heute gültigen Satz „Schuld ist Vorwerfbarkeit“ mündet (Frank 2009 [1907], S. 15; Schulz-Schaeffer 2007, S. 380f.). Schuld wird damit von seiner moralpsychologischen Bedeutung, als seelische Belastung, befreit und zu einer allgemeinen Rechtsnorm, für deren Geltung bestimmte rechtliche Bedingungen vorauszusetzen sind. Um jemanden eine an sich verbotene Handlung rechtlich zum Vorwurf machen zu können, ist neben Vorsätzlichkeit und Fahrlässigkeit nicht nur die Zurechenbarkeit der Tat zu beurteilen, sondern auch die begleitenden Umstände. „Der Gedanke ist immer der: man kann dem Täter aus gewissen Handlungen, die

14 15

Gewöhnlich spricht man von Unzurechnungsfähigkeit; das Strafrecht verwendet den Terminus Zurechnungsunfähigkeit. Juristisch betrachtet ist die Aussage so natürlich falsch, da ja noch zu überprüfen wäre, ob im rechtfertigenden Notstand gehandelt wurde. Dies übersehe ich aus Gründen der soziologischen Darstellung.

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I Dimensionen des Notfalls

er unter Umständen von gewisser Abnormität vollzieht, keinen Vorwurf machen“ (Frank 2009 [1907], S. 18). Für eine Klärung der Schuldfrage müssen demnach auch die äußeren Begebenheiten eingerechnet werden, die gegebenenfalls veranlassend auf bestimmte Handlungen wirken können. Während Feuerbach diesen Gedanken noch überspringt, indem er die Begleitumstände (den „Zwang“) pauschal in der Unzurechenbarkeit bzw. dem fehlenden freien Willen der Person aufgehen ließ, wertet Frank sie zu einer eigenständigen Komponente des Schuldbegriffs um und verschiebt die Diskussion um die Notstandshandlung damit von der Tat auf die Schuld oder, anders ausgedrückt, von der Handlung auf die Verantwortung. 1.3

Zwischen Gefahren und Risiken: Erleben und Handeln im Notfall

Die juristische Reformulierung des Notstands als Zwangssituation und die dahinterstehende Frage nach der Begründung, warum mit im Notfall begangenen Handlungen rechtlich anders umzugehen sei, wird im Folgenden noch einmal aufgegriffen und mithilfe soziologischer Konzepte rekonstruiert. Wie das Recht so verfügt auch die Systemtheorie über eine Zurechnungstheorie, allerdings ist diese nicht an der Frage orientiert, ob eine Tat einem Täter zurechnungsfähig oder zurechnungsunfähig ist, die Soziologie fragt wie zugerechnet wird, als Handeln oder als Erleben. Die Differenz von Erleben und Handeln wird […] durch unterschiedliche Richtungen der Zurechnung konstituiert. Intentionales Verhalten wird als Erleben registriert, wenn und soweit seine Selektivität nicht dem sich verhaltenden System, sondern dessen Welt zugerechnet wird. Es wird als Handeln angesehen, wenn und soweit man die Selektivität des Aktes dem sich verhaltenden System selbst zurechnet. Wohlgemerkt: Ein Verhalten des Bezugssystems des Zurechnungsprozesses ist immer im Spiel. Im Zurechnungsprozeß geht es nicht um die Verortung der Tatsache des Verhaltens, sondern um die Verortung seiner Selektivität, nämlich um die Lokalisierung der Ursache dafür, daß etwas so und nicht anders abläuft. (Luhmann 1981a, S. 68f.)

Zweierlei sticht am Begriff des Erlebens hervor. Unter Erleben soll nicht ein passives, tatenloses Schauen, ein blinder, bewusstloser Affekt verstanden werden. Eher schon kann Erleben mit Begriffen wie Wirklichkeitsinterpretation, Wort und Intellekt assoziiert werden, und ihm das Handeln als Gestaltung, Tat und Instinkt entgegengestellt werden (Baecker 2009, S. 38f.). Erleben bleibt weiterhin mit einer Verhaltensäußerung verbunden: doch die Verhaltensursache, also warum es getan wird, wird der Welt zugerechnet. Während Handeln als genuines Ereignis

1 Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation

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begriffen werden kann, partizipiert Erleben am Ereignislauf. Die Wahl des Verhaltens wird beim Erleben nicht als autonome Entscheidung einer Person gesehen, allerdings wird es auch nicht einseitig auf die Umwelt der Person (bzw. des Systems) übertragen. Erleben ist Verhalten, welches dort unterstellt wird, wo es seine Gründe im Eingelassen-Sein der Person in der Welt hat – und zu dieser zählt die Person (das System) dazu. „Weltzurechnung ist mithin zunächst eine Zurechnung auf Indifferenz (und insofern kein genaues Korrelat zur Zurechnung auf Systeme)“ (Luhmann 1981a, S. 69). In unserer alltäglichen Beobachtung von Erleben wird diese Indifferenz regelmäßig übergangen, verdeckt und der Verhaltensgrund vorschnell allein der Umwelt zugeschlagen. Erleben erscheint dem Beobachter als bloß reaktives Verhalten, als Reiz-Reaktion (Luhmann 1987, S. 125). Luhmann führt dies auf den Zurechnungsdruck zurück, der im Alltag herrscht. Bei der Unterscheidung von Gefahr und Risiko (Luhmann 1991, 1996, 2005b; Japp 2000) handelt es sich analog zu der von Erleben und Handeln um ein Schema zur Beobachtung16 von Zurechnungsrichtungen. Das erstgenannte Schema wird hier in seiner Beobachtungsrichtung verschoben und der Blick auf mögliche zukünftige Schäden, die entweder als Gefahr erlebt oder als Risiko handelnd eingegangen werden, perspektiviert. Von Risiken wird dort gesprochen, wo ein möglicherweise eintretender Schaden auf eigens getroffene Entscheidungen zurückgerechnet werden kann, Gefahren werden dagegen als drohende Schäden bezeichnet, die in der Umwelt aufziehen. Gefahren gehen demnach von möglichen Schäden aus, deren Eintritt man selbst nicht (mehr) in der Hand hat. Während Risiken eingegangen werden (zum Beispiel durch die Wahl eines riskanten Fahrstils) und man für eventuell dadurch eingetretene Schäden später zur Rechenschaft gezogen werden kann, kommen Gefahren auf einen zu (im Straßenverkehr etwa durch riskant fahrende Verkehrsteilnehmer) und provozieren Abwehrreaktionen. Schadensursachen lassen sich demnach intern oder extern attribuieren. Die Äquivalenz von Gefahr/Erleben Risiko/Handeln ist ersichtlich. Das Zurechnungskonzept ist stark ins theoretische abstrahiert, was seine empirische Anwendbarkeit deutlich erschwert.17 Wie jedes Handeln Erleben voraussetzt, so transformieren sich viele Risiken, nachdem man sich für sie entschieden 16 17

Die Funktion des Schemas ist aber eine ganz andere. Während das Recht seine Unterscheidung verwendet, um die Schuldfähigkeit eines Täters zu prüfen, benutzt die Systemtheorie ihr Schema zur Beobachtung der Eigenlogik von Handlungszuschreibungen in unterschiedlichen Kontexten. Dies konstatiert bereits Luhmann (1987, S. 126), der das Konzept später auch kommunikationstheoretisch rückgebunden und im systemtheoretischen Kommunikationsbegriff aufgehen lassen hat. Liegt der Schwerpunkt von Kommunikation auf der Mitteilungskomponente spricht er von Mitteilungshandeln, identifiziert die Mitteilung also eher mit Handeln. Kommunikation, bei der vor allem die informative Seite gesehen wird, wird einem System/einer Person eher als Erleben zugerechnet. In seinem Letztwerk arbeitet Luhmann schließlich die typische Konstellation von

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I Dimensionen des Notfalls

hat, in Gefahren, die man nicht mehr zu kontrollieren vermag. Zwar muss man für riskante Entscheidung später geradestehen, doch im Moment der Gefahr, dann also wenn die Kontrolle über die Folgen einer Entscheidung verloren gingen, ist man zunächst auf Fortüne oder fremde Hilfe angewiesen. Alpinistinnen, die sich trotz Wetterwarnung in die Berge aufmachen, denen es dann aber nicht mehr aus eigener Kraft gelingt, sich vor dem aufziehenden Unwetter in Sicherheit zu bringen, werden von der Bergwacht aus ihrer misslichen Lage befreit – und anschließend für die riskante Unternehmung gescholten. In der rechtstheoretischen Diskussion um den Notstand lässt sich eine eindeutige Entscheidung, wie eine in Not begangene Tat zu bewerten ist, als Erleben oder Handeln, nicht finden. Eher schon scheint die Verhaltensattribution hier zu schwanken und zwischen beiden Seiten der Unterscheidung zu oszillieren. Denn einerseits beharrt das moderne Recht fest auf seinem Standpunkt, auch eine im Notstand begangene Tat sei dem Täter als Handlung anrechenbar und geschehe gerade nicht, wie es Feuerbach zunächst vorschlug, willenlos. Spätestens seit von Franks rechtlicher Normativierung des Schuldbegriffs ist gemeinhin klar, dass das Gefangen-Sein in einem Notfall noch nicht per se Zurechnungsunfähigkeit erzeugt, sondern dieses unabhängig davon Beurteilung finden muss.18 Andererseits verweist die Fassung des Notstands als Zwangssituation auf die Begleitumstände der Tat und rechnet einen guten Teil der Verhaltensgründe damit extern zu. Das Recht schlägt sich in diesem Moment auf die Seite des Erlebens. Folgerichtig wird dann auch verneint, ob eine im Notstand begangene Tat dem Täter vorwerfbar sei. Die Handlung bleibe zwar Unrecht, dem Täter träfe jedoch keine Schuld für seine Handlungswahl. Die rechtliche Verantwortung für seine Entscheidung hat er nicht zu tragen. Die Rechtsfigur von Franks hat in Form des entschuldigenden Notstands im deutschen Strafgesetz Eingang gefunden. Dort findet sie sich mit zusätzlichen Bedingungen belastet, die u.a. ausschließen, die Entschuldigung auch dann für Handlungen in Anspruch nehmen zu können, wenn der Grund der Not vom Handelnden selbst hervorgerufen wurde. Sprich: der Täter darf an der misslichen Lage, in der er steckt, nicht schuld sein, um sich rechtswidrig, aber eben schuldlos aus ihr befreien zu dürfen. Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich

18

Erleben und Handeln in verschiedenen Funktionssystemen aus, ohne diese jedoch im Detail zu erörtern (Luhmann 1997, S. 335f.). Vgl. zur Konstruktion der Zurechnungsunfähigkeit von Notfallpatientinnen → 3.3.

1 Getriebene der Gefahr: der Notfall als Zwangssituation

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weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte (§ 35 (1) StGB, Herv. N.E).

Mit der Einschränkung, die Gefahr dürfe nicht selbst herbeigeführt worden sein, kappt das Recht die Möglichkeit von Schuldlosigkeit auch dann zu sprechen, wenn der eine Gefahr Erlebende für seine Lage rückblickend selbst verantwortlich gemacht werden kann. Im Rahmen des entschuldigenden Notstands darf die Gefahr nicht kausal auf ein riskantes Handeln des die Gefahr Erlebenden zurückrechenbar sein. Durch diese Einschränkung wird garantiert, dass das rechtwidrige, jedoch entschuldigte Notstandsverhalten umfassend auf externe Gründe zurechenbar bleibt. Es wird damit stärker, wenn auch aufgrund seiner grundsätzlichen Bewertung als Tat niemals in Gänze, als Erleben akzentuierbar. An dieser Stelle muss eingeschoben werden, dass der entschuldigende Notstand in der Praxis kaum Anwendung findet. Er erfüllt heute die Aufgabe, ethisch besonders problematische Fälle zu regeln, wie sie etwa im Gedankenexperiment zum „Brett des Karneades“ oder unter dem Stichwort „Rettungsbootproblem“ verhandelt werden. Diese Fälle fallen nicht unter den rechtfertigenden Notstand, sollen aber gleichwohl keine Sanktionsfolge haben. Bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Fälle im Rechtsalltag wird dagegen geprüft, ob die Handlung zu rechtfertigen sei. Anders als beim entschuldigenden ist die Handlungszuschreibung im rechtfertigenden Notstand unproblematisch. Zwar setzt auch er voraus, dass der Täter sich in einer Zwangslage befinde, dennoch rechnet er die exzeptionelle Tat dem Täter voll zu. Das wesentlich Moderne an dieser Notstandsregelung ist, dass sie die Güter- bzw. Interessenabwägung als juristische Methode in das Recht hineinholt und ihre korrekte Anwendung durch den Täter zur Voraussetzung seiner Straffreiheit macht. Es gilt nun zwischen dem Interesse, das zur Wahrung eines anderen Interesses beschädigt wird, und eben diesem zweiten Interesse, das durch Schädigung des ersten Interessens geschützt wird, abzuwägen. Im Gegensatz zum entschuldigenden Notstand bewertet der rechtfertigende Notstand die Notstandstat deutlich stärker als Handeln. Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden (§ 34 StGB).

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I Dimensionen des Notfalls

Mit dem rechtfertigenden Notstand zieht die Abwägung in das deutsche Recht ein und wird nun, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in immer mehr Bereichen zum rechtsmethodischen Prinzip erhoben. Viele Juristinnen sehen die Ausbreitung dieses neuen Verfahrens äußerst kritisch, allerdings nicht im Strafrecht, da die Güterhierarchie sich hier aus dem Recht selbst erschließen lässt und nicht erst durch einen Richter abgewogen werden muss (Rückert und Joachim 2011, S. 915f.).19 Während die Güterabwägung die Modernität dieser Regelung ausmacht, steht die enthaltene Suspendierung für die alte (Naturrechts)Idee eines fundamentaleren Rechts, das gewöhnliches Recht bricht. Der rechtfertigende Notstand betont eben nicht, wie der entschuldigende Notstand, das Unrecht begangen wurde, sondern er hebt das die Rechtswidrigkeit erzeugende Verbot gänzlich auf. Das Notrecht, das Kant ausschließen, Hegel aber retten wollte (Küper 1987, S. 94), bekommt hier eine neue Gestalt. Wie die Notwehr20 so regelt auch der rechtfertigende Notstand solche Fälle, „in denen das Recht es unter rechtlich geregelten Bedingungen erlaubt, gegen das Recht zu verstoßen“ (Luhmann 1983b, S. 285). Mit dem rechtfertigenden Notstand findet sich der ehemals übergesetzliche Notstand als Notrecht im Recht wieder (Hübner 2013, S. 261). Mit diesem abschließenden Exkurs zur Modernität und zum Anachronismus des rechtfertigenden Notstands komme ich auf die Frage der Handlungsattribution im Notfall zurück. Die Beobachtung der zwei unterschiedlichen rechtlichen Notstandsregelungen entlang der Unterscheidung von Handeln/Erleben zeigt, dass das Recht sich zur Notstandshandlung hinsichtlich seiner Referenzierung schwankend verhält. Die Unterscheidung von Gefahr und Risiko, von Erleben und Handeln ist verunsichert. Stärker als die Entschuldigung tendiert die Suspendierung von Handlungsverboten dahin, eine Tat voll als Handlung zuzurechnen. Um die Unentscheidbarkeit von Erleben und Handeln, von Gefahr und Risiko im Notfall eindeutig auflösen zu können, wechselt das Recht von der Sach- auf die Zeitebene und rekonstruiert den Handlungsverlauf. Damit verändert sich der Beobachtungsindex: es geht in erster Line nicht mehr darum, was sich ereignet hat, 19

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Luhmann (1991, S. 70 u. 183) deutet in seiner Risikosoziologie an, dass das Recht vermehrt auf Abwägungsverfahren umstelle und sich damit ein methodisches Prinzip ausbreite, das für das Recht untypisch sei. Durch Abwägungsformeln verunsichere sich das Recht selbst, denn es veruneindeutige die Unterscheidung rechtmäßigen und rechtswidrigen Handelns. Damit stellt Luhmann darauf ab, dass das eigentliche Vorgehen des Rechts die „Subsumption eines Sachverhaltes unter eine Regel zur Ableitung der konkreten Rechtsfolge“ ist (Riehm 2006, S. 5). Dieser Auffassung widerspricht Riehm, wobei er sich nicht auf Luhmann bezieht und auch nicht diskutiert, ob es einen Zusammenhang zwischen Risikorecht und Abwägungsverfahren gibt. Vgl. rechtssoziologisch zusammenfassend Hesse (2004, S. 122–127). Auch hier wird das gewöhnliche Recht suspendiert: „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig“ (§ 32 (1) StGB).

2 Dringlichkeit als Notfallzeit

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sondern wann sich was ereignet hat. Der schwankende Blick lässt sich juristisch partiell stillstellen, indem der Ereignisablauf zeitlich unterteilt wird, wobei die Gefahr als vorgängige Handlungseinschränkung und als Motivgeberin begriffen, das Risiko aber der zeitlich nachfolgenden Entscheidung zugeschlagen wird. Die zeitliche Zergliederung in ein vorgängiges Erleben und ein daran anschließendes Handeln, macht den Vorsatz des Täters wieder sichtbar und justitiabel. Im anschließenden Abschnitt → 2 wird die zeitliche Dimension des Notfalls skizziert, die gegenwärtige Dringlichkeit. Zur Charakterisierung der Temporalität von Notsituationen und Rettungsinteraktion wird das rechtliche Notstandskonzept verlassen und nun vergleichend gearbeitet. Die Zeitstruktur von Notfällen wird mit der von präventiven Eingriffen und Katastrophen kontrastiert. Der dann folgende Abschnitt → 3 gilt der sozialen Dimension des Notfalls. Dort wird auf die Gefahr/Risiko Unterscheidung zurückgekommen. 2

Dringlichkeit als Notfallzeit

In zeitlicher Hinsicht kann Sinn sich auf unterschiedliche Zeitaspekte wie vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Zeitpunkte beziehen. Von ersterer und letzterer Möglichkeit können vor allem komplexere Systeme Gebrauch machen. So operiert etwa das Funktionssystem Recht hauptsächlich mit Blick auf Vergangenes (die begangene Tat), das Wirtschaftssystem orientiert sich dagegen eher an Gewinnchancen und ist der gegenwärtigen Zukunft zugewandt.21 Anders aber als in komplexen Funktionssystemen, in dem ein Zeithorizont einseitig dominieren kann (und dann das Einschleichen anderer Zeithorizonte, man denke an ein präventives, auf zukünftige Straftaten ausgerichtetes Strafrecht, kritisch gesehen werden kann (Opitz 2012a), besitzen einfache, sich stets situativ etablierende Interaktionssysteme keine einseitige Zeitpräferenz. Dafür fehlt es ihnen schon an Komplexität, die es erlauben würde, sich zum unmittelbaren Gegenwartsvollzug, dem Interaktionsgeschehen, in Distanz zu setzen. Zeitbezüge ergeben sich in Interaktionssystemen in erster Linie aus der Themensetzung. Je nach thematischer Rahmung einer Situation erwartet man etwa ein bestimmten Ende der Interaktion (Luhmann 1981c, S. 134).22 Begrüßungszeremonien, Seminardiskussionen oder Liebesakte verfügen mal über eher fließende, mal über mehr oder weniger strikt konventionalisierte 21 22

Für eine anschauliche Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zeitorientierung von Wirtschaft und Recht vgl. mit Blick auf Katastrophenszenarien: Opitz und Tellmann (2015). Zur Zeitlichkeit der Medizin vgl. Kapitel → III.1.1 zur Notfallmedizin. Die zeitliche Grenze einer Interaktion kann aber auch in den Händen einer privilegierten Person liegen, also eher über die soziale als über die sachliche Dimension bestimmt sein (Luhmann 1987, S. 565).

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I Dimensionen des Notfalls

Zeitgrenzen. Sie können langsam in neue Situationen übergehen oder durch eindeutige Zeichen beendet werden. Innerhalb ihrer temporären Grenzen lässt sich eine Situation als „arretierte Zeit [begreifen], in der etwas im Unentschiedenen, Widerrufbaren, Vorbehaltenen belassen werden kann“ (Luhmann 1981c, S. 134). Für eine kurze, manchmal auch lange Weile sind Interaktionen offene Angelegenheiten, in denen Erwartungen erfüllt, missverständliche Aussagen korrigiert und bisher zurückgehaltene Informationen noch mitgeteilt werden können. Erst wenn die Situation abgeschlossen ist, gewinnt das in ihr Vorgefallene historische Qualität, wird zur gegenwärtigen Vergangenheit, zu Geschichte, auf die als scheinbar unveränderbares Faktum zurückgeblickt werden kann. Gelegenheiten, die nicht ergriffen wurden, werden dann zu verpassten Chancen. Das zeitliche Ende einer Notlage ist auf den ersten Blick über die Dauer bestimmt, die es braucht, bis der drohende Schaden vollständig eingetreten oder abgewendet ist. Ben Anderson und Peter Adey folgen dieser Beobachtung und sehen im Notfall vorrangig ein Intervall (Anderson und Adey 2011, 2012). Sie definieren „emergencies as intervals in-between the occurrence of an event and some form of damage or loss“ (Anderson und Adey 2012, S. 29). Entsprechend kann der Notfall als der Zeitraum bestimmt werden, in der eine aktuelle Gefahr noch gebannt werden kann. Allerdings überbetont der messtechnische Begriff des Intervalls die Präzision und Fixierung des zeitlichen Endes einer Notfallsituation. Während eines Notfalls kann von den Beteiligten häufig gar nicht mit Sicherheit gesagt werden, wann er endet. Ein definitiver Schlusspunkt kann selten mit Bestimmtheit angegeben werden, gewöhnlich ist es eher so, dass die Gefahr mit der Zeit anschwillt, der Schadenseintritt immer unausweichlicher wird oder der Schaden in seinem Ausmaß zunimmt. Mit fortschreitender Zeit sinken im Notfall die Reversibilitätschancen, die Erwartung einer irreparablen Wirkung gewinnt zusehends an Stabilität.23 Der Notfall zehrt von und eben auch an der Erwartung, das Blatt noch wenden zu können. Erst wenn jede Hoffnung versiegt ist, ist auch die Grenze der Notsituation überschritten. Entscheidend ist nun, dass das zeitliche Ende in erster Linie als Drohung wirkt, deren Aktualisierung es zuvorzukommen gilt. Und da es im Notfall gerade vermieden werden soll, diesen Punkt zu erreichen, in dem die Notsituation quasi von selbst kollabiert und „alles zu spät ist“, ist der in ihr vorherrschende Zeitbezug der der Dringlichkeit. Jeder Zeitverlust ist angetan, die

23

Die Differenz von Reversibilität/Irreversibilität ist für jede Zeiterfahrungen konstitutiv (Luhmann 1987, S. 117).

2 Dringlichkeit als Notfallzeit

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Dramatik noch zu steigern.24 Im französischen Sprachgebrauch hat diese Eigenart der Situation ihren Namen gegeben: cas d'urgence. In gewisser Weise erhebt sich die Zeitdimension im Notfall über Sach- und Sozialdimension, denn es ist zunächst bedeutender, dass bald etwas getan wird und weniger bedeutsam, wer etwas tut oder auch was er tut (Baecker 2009, S. 83, Anm. 47). Notsituationen sind nicht mit Situationen zu verwechseln, in denen über eine Notsituation gesprochen wird. In diesem Fall wird die „Dringlichkeit“ einer Notsituation zum Thema eines Gesprächs, das selbst nicht unbedingt unter Zeitdruck stattfinden muss, im Gegenteil. In einem Gerichtsprozess kann über die Dringlichkeit einer Handlung zwar ausgiebig diskutiert werden, um über ihre Rechtmäßigkeit urteilen zu können. Doch die Verhandlung selbst ist eher auf Langsamkeit hin eingerichtet. Während Dringlichkeit im Rahmen einer Notsituation durch kurze, laute, schrille Alarmsignale kommuniziert wird – Hilferufe, Sirenen oder Blinklichter –, sollen im Gerichtsverfahren so lange Gründe erörtert, Beweise präsentiert und Abläufe rekonstruiert werden, bis ein genaues, möglichst widerspruchsfreies und plausibles Gesamtbild entstanden ist. In Notsituationen gibt sich Dringlichkeit bereits im Schrumpfen der Kommunikationseinheiten zu erkennen: es gilt typischerweise, die Anforderung, den Informationsgehalt auf das Wesentliche zu beschränken (Scarry 2011, S. 7–10), zu handeln, anstatt zu reden (Dombrowsky 2013, S. 30–32). Vielfach ist Notfallkommunikation zudem so angelegt, dass sie andere Kommunikationsweisen übertönt. Häufig gibt es gesonderte Frequenzen oder Signalformen im jeweiligen Kommunikationsmedium, die der Notfallkommunikation vorbehalten sind. Schon die Verständigung über das Vorliegen einer Notsituation erfolgt häufig in Form eines schrillen Schreis, eines lauten Hilferufs oder ohrenbetäubender Alarmsignale oder sie macht von festgelegten Kurzcodes (SOS, 110) Gebrauch. Die Verständigung in und über Notsituationen wird darüber hinaus von einem strengen Modulationsverbot begleitet.25 Zuallererst ist jede Vortäuschung eines Notfalls streng verboten und wird härter sanktioniert als viele andere Täuschungsmanöver. Bestrebungen wiederum, in der Not des anderen die eigene Chance zu sehen, von ihr zu profitieren, gelten mitunter als die abgründigsten Hilfeleistungsmotive überhaupt. Der Ernst der Lage eignet sich auch nicht für Witze. Notfälle dürfen nicht für Übungszwecke missbraucht, als spielerische Herausforderung, als sportlicher Wettkampfrahmen oder als Profitchance genutzt werden. Die in der Situation geltenden Dringlichkeitsansprüche müssen sich im Ernst des eigenen 24

25

Sieht man Wissenschaft in zeitlicher Hinsicht durch ihre Langsamkeit charakterisiert, steht sie der Notsituation radikal entgegen. Methodologisch und methodisch ist die Erforschung von Notsituationen daher vor große Herausforderungen gestellt. Vgl. Michaels (2003) sowie Stallings (2002). Zum Modulationsbegriff vgl. Goffman (1974, S. 52–97).

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I Dimensionen des Notfalls

Verhaltens widerspiegeln: professionell etwa durch sachliche Ruhe, Konzentration auf das Wesentliche, Empathie; unerfahrenen Ersthelfern wird hingegen durchaus zugestanden, im Notfall unbeherrscht, aufgeregt, impulsiv, hektisch und kopflos zu reagieren, selbst ein hysterischer Lachanfall wird gegebenenfalls entschuldigt, weil er auf Überforderung verweist. Er ist Ausdruck der Spannung, in der sich ungewollte Helfer plötzlich befinden (Goffman 1973, S. 46–51). Sie stehen eingeklemmt zwischen hohen obligatorischen Hilfsanforderungen und ggf. der eigenen Unfähigkeit, spontan eingreifen zu können (→ 3.2). Gegenüber den Mitgliedern von Rettungsorganisationen ist man weniger nachsichtig, wenn ihr Verhalten den Ernst der Lage nicht würdigt und ihr Engagement nicht nur Routine, sondern auch Gewöhnung oder gar Beiläufigkeit ausstrahlt. Es ist eine der Folgen organisierter Rettung, dass sich mit Routine die Verhaltensdarstellung ändert, zugleich aber auch strengere Maßstäbe angelegt werden (→ II.2.4). Routine veralltäglicht den Notfall, wodurch dieser für Modulation anfällig wird. 2.1

Kleiner Bruder, große Schwester? Der qualitative Unterschied von Notfall und Katastrophe

In Notfällen ist stets die Erwartung, wenigstens aber die Hoffnung lebendig, dass Hilfe noch möglich sei. Aussicht auf Rettung oder Schadensbegrenzung ist das zentrale Merkmal in Notsituationen. Solange etwa die in eine Gletscherspalte gestürzte Wandergruppe nicht vermisst wird, für sie keine Aussicht auf Rettung besteht, stellt sich die Lage (für sie) vielmehr als Katastrophe denn als Notfall dar. Verstummen die ungehörten Rufe nach Hilfe, dominiert schweigende Verzweifelung. Kann die betroffene Gruppe sich aus der misslichen Lage nicht aus eigener Kraft befreien und auch nicht mit fremder Hilfe rechnen, wird sie nicht von einem Notfall, wohl aber von einer Katastrophe sprechen. Eifriger Aktionismus bricht sich erst dann wieder Bahn, wenn die Wandergruppe zufällig in ihrer unglücklichen Lage entdeckt wird. In ihrer vollen Radikalität stellt die Katastrophe eine Situation absoluten Scheiterns dar, in der jede Aussicht auf eine positive Wendung vernichtet ist. In der Notsituation keimt dagegen bis zuletzt Hoffnung. Ihr letzter Funken erlischt häufig erst dann, wenn die Notärztin die Rettungskräfte anweist, die Reanimationsbemühungen einzustellen. Eine Definition, die, wie die vorgelegte, den Unterschied zwischen Notfall und Katastrophe im Wesentlichen daran bemisst, ob die Beteiligten noch eine Chance auf Nothilfe oder Rettung sehen, weist den Vorzug auf, die Unterscheidung nicht auf externe und nachlaufende Berechnungen der Schadensgrößen zu reduzieren. So sieht etwa die International Disaster Database EM-DAT erst dann

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eine Katastrophe vorliegen, wenn von einem Unglück mindestens hundert Personen betroffen sind oder mindestens zehn Tote zu verzeichnen sind. Auch der U.S.amerikanische Katastrophensoziologie Enrico L. Quarantelli unterstreicht, dass in Katastrophen enorme Schäden zu beklagen sind: „Most or all of the community built structure is heavily impacted. For example, Hurricane Hugo destroyed or heavily damaged more than 90 percent of all homes in St. Croix. […] The heavy damage in New Orleans and towns on the Mississippi coast in Hurricane Katrina was of a catastrophic nature with 80 % of the city being flooded“ (Quarantelli 2006). Obgleich sich für die größenbezogene Unterscheidung von Notfall und Katastrophe im Sinne von kleinem Bruder zu großer Schwester viele Anhänger finden, ist sie soziologisch betrachtet unbefriedigend. Exakte Grenzen (zehn Tote) wirken willkürlich und für einige Fälle wenig plausibel: mit 9355 Hitzetoten gilt beispielsweise der Sommer von 2003 laut EM-DAT als größte Katastrophe in der jüngeren deutschen Geschichte. Im kollektiven Gedächtnis findet sich jedoch nicht entsprechendes für den digitalen Eintrag in der Katastrophendatenbank. Die Sommerhitze im Jahr 2003 wird zwar allgemein als ein außergewöhnliches Klimaphänomen erinnert verstanden, jedoch wird sie nicht als eine, und schon gar nicht als die schlimmste Katastrophe jüngeren Datums gesehen. Quantitative Analysen können kaum Auskunft darüber geben, was für wen tatsächlich als Katastrophe zählt (Luhmann 1991, S. 159). Näher an der Erfahrung liegt die Unterscheidung in alltägliche und außeralltägliche Vorkommnisse, auf die schon die frühe Soziologie zurückgriff, und die bis heute vielfach zur Erklärung und Einordnung sozialer Phänomene eingesetzt wird.26 Auch Quarantelli belässt es nicht dabei, Katastrophen allein quantitativ zu bestimmen. Das enorme Ausmaß der Zerstörung erhält seine katastrophale Bedeutung für ihn erst, weil es den alltäglichen Herausforderungen der Betroffenen spottet. Es stellt zum einen Opfer, zum anderen aber auch gelernte Helfer vor derart neue Herausforderungen, das bestehende Konzepte angepasst oder Lösungen erst noch entwickelt werden müssen (Quarantelli 1994). Als ein weiterer Beleg für die Außergewöhnlichkeit eines Ereignisses lässt sich zudem der hohe Nachrichtenwert von Katastrophen anführen. Kein Ereignis, das als Katastrophe benannt wird, kommt heute an den Massenmedien vorbei. Ein weiteres Merkmal sieht Quarantelli darin, dass Katastrophen externe Akteure auf den Plan rufen. Staatliche Behörden greifen ein oder es wird um überregionale Hilfe gebeten. Ähnlich definiert auch EM-DAT die Ausrufung des Notstandes und 26

Weber (1972, S. 140) sieht im Charisma eine außeralltägliche Qualität einer Persönlichkeit und verhandelt, wie sich Charisma auf Dauer stellen kann, also Außeralltägliches sich gegen seine Erosion im Alltag schützen kann. Zur Einordnung von Situationen findet der Begriff des Außeralltäglichen vor allem bei Schütz Verwendung.

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I Dimensionen des Notfalls

die Bitte um internationale Hilfe neben dem Schadensausmaß und der Anzahl der Toten als drittes und viertes Merkmal, welches eine Katastrophe belegt. Die letztgenannten Kriterien verweisen auf das Merkmal, auf das es mir hier ankommt. Katastrophen sind deshalb außergewöhnlich, weil sie eine Situation unerwarteter Hilflosigkeit darstellen, in der man zumindest für den Moment nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Eine qualitative, am Konzept der Lebenswelt orientierte Studie rekonstruiert diese Erfahrung für solche Momente, in denen verunglückte Personen auf Hilfe warten, ohne zu wissen, ob diese rechtzeitig eintreffen wird. Im Moment des Wartens erlebt das Opfer die eigene Situation als Notfall und zugleich als Katastrophe: „In hopelessness, time stands still and for a moment one’s whole life can pass by. The fear grows stronger and stronger. The person fears not being found, not being cared for in time and that the threatening environment can give more injuries“ (Elmqvist et al. 2008, S. 188). Mit Japp kann von Katastrophen immer dann gesprochen werden, wenn „eine für das betroffene System bestandswichtige Erwartung enttäuscht wird und diese Diskontinuität in wesentlichen Hinsichten intransparent ist“ (Japp 2003, S. 79). Als Beispiel wählt Japp bewusst nicht eine große Naturkatastrophe, sondern den tragischen Verlust eines Fingers, den eine Pianistin zu beklagen hat. Der irreparable Schaden ist zum Faktum geworden, er kann weder mehr verhindert noch gemildert werden; virtuose Fingerfertigkeit, und damit: Karriere und Lebensmittelpunkt der Klavierspielerin, sind auf einen Schlag Vergangenheit, Zukunftspläne und vertraute Gewissheiten haben sich plötzlich zerschlagen. Katastrophen kündigen sich nicht an und gehen mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit einher. Die Betroffene ist weder selbst in der Lage sich zu helfen, noch kann sie erwarten, dass ihr jemand oder etwas helfen kann, um den Schaden wieder rückgängig zu machen. Systemtheoretisch betrachtet, kommuniziert ein soziales System dann (s)eine Katastrophe, wenn es derart nachhaltig irritiert ist, dass ihm seine Anschlussfähigkeit und damit seine Autopoieses abhanden zu kommen droht. Ein Kollaps des Systems zeichnet sich ab. Ähnlich wie die Katastrophensoziologie in der Tradition Lars Clausens (2003, S. 75; Voss 2006, S. 68) sieht Japp in der Katastrophe die Möglichkeit von Sprach- und Sinnverlust aufscheinen – allerdings, und das unterscheidet ihn wiederum von Clausen, nur perspektivisch, am Horizont! Japp schiebt der Drohung eine entscheidende Wendung hinterher, um die Funktion der Kommunikation von Katastrophen zu klären. Katastrophen interessieren an dieser Stelle nicht mehr als faktische Systemzerstörung, in den Blick gerät hingegen ihre Kommunizierbarkeit. Entscheidet sich etwa eine Stadt Katastrophenalarm auszulösen, erfüllt dies die Aufgabe, das System (die Stadt) am Laufen zu halten. „Die Kommunikation reißt […] nicht wirklich ab, sie signalisiert nur die Möglichkeit des Abreißens als Katastrophe und setzt dann die Folgekommunikation auf die

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Vermeidung der katastrophalen Folgen um, auf ein Folgenbegrenzungsprogramm, also auf die Vermeidung dessen, was ‚man unter keinen Umständen‘ will“ (Japp 2003, S. 85). Wenn öffentliche Einrichtungen eine Katastrophe feststellen, dann setzen sie aus eigener Kraft ein Hilferufprogramm in Gang, mit dem extern zugerechnete Ressourcen mobilisiert werden sollen. Die Ausrufung des Katastrophenfalls kommuniziert demnach unzureichende Selbsthilfemöglichkeiten, also einen Notfall, in dem um fremde Hilfe ersucht wird. Jeder Katastrophenalarm verweist so gesehen ‚nur‘ auf die Vorstufe zur Katastrophe. Erst wenn in den Augen der Betroffenen jegliche Hoffnung versiegt ist, wäre im hier vertretenen Verständnis von einer Katastrophe zu sprechen. Ob eine Situation als Katastrophe oder als Notfall kommuniziert wird, hängt von den Möglichkeiten der Betroffenen ab. Dieselbe Situation kann durchaus als Katastrophe begriffen werden, während sie von anderen als Notfall und von Dritten als ein banales Problem verstanden wird. In wessen Arbeitsbereich Unglücke gehören, also z. B. der Unfallarzt, der Einsatzleiter der Feuerwehr, der Zivilschutzbeauftragte eines Landkreises, der definiert zunächst viele Ereignisse gar nicht als „Katastrophen“, die es für den Verunglückten sind. Ein Unfall auf der Kreuzung kann für die Familie des Verstümmelten lebenseinschneidend sein, dem Chirurgen aber Routine. Doch kennt auch der Arzt „Katastrophen“: das nämlich, was zwar seine Handlungsmöglichkeiten ressortmäßig trifft, jedoch übersteigt. Bei auf Vorschriften gedrillten Verwaltern kann es bereits katastrophal wirken, wenn andere (z. B. Beteiligte) nach Gutdünken verfahren und also nicht mehr seinen Anordnungen folgen. […] [Ein] organisierter Wilder Treck wird zur „Panik der Bevölkerung“. Im Grenzfall redet ausschließlich eine Behörde von „Katastrophe“, ihre Klientel (die Bevölkerung) aber gar nicht (Clausen 1983, S. 49).

Die Handverletzung, die für die Pianistin eine Katastrophe darstellt, wird von der Notaufnahme als ein gewöhnlicher Notfall behandelt. Großflächige Überschwemmungen in anderen Teilen der Welt mögen aus europäischer Sicht katastrophal sein, für die Betroffenen jedoch jährlich wiederkehrende Ereignisse, auf die hin man sich eingerichtet hat. Für viele Passagiere der Titanic mag ihr Untergang bis zuletzt eine Notsituation gewesen sein, aus der es sich zu retten galt oder in der bis zuletzt auf Rettung gehofft wurde, für andere – man denke an das legendäre Musikertrio, das den Untergang bis kurz vor Schluss musikalisch begleitet haben soll – war jede Aussicht auf Rettung vergebens. Ohne Aussicht auf Rettung, kein Notfall.

36

I Dimensionen des Notfalls

2.2

Evidenz und Kontingenz: der graduelle Unterschied von Gefahrenabwehr und präventiver Intervention

Der Notfall wurde zuletzt von der Katastrophe durch die charakteristische Erwartung abgesetzt, Rettung sei prinzipiell noch irgendwie möglich. Umgekehrt stellt sich nun die Frage, ob jede Situation, in der ein Unheil zu verhindern versucht wird, immer ein Notfall ist. Viele Sicherheitspraktiken finden nicht vor dem Hintergrund einer lokalisierten Gefahr statt, sondern sind rein präventiver Natur. Wir stoßen an dieser Stelle auf das Problem, wie Handlungen, die auf die Abwehr einer Gefahr zielen, von Vorkehrungen, die der präventiven Vorsorge gegen eine Bedrohung dienen, abzugrenzen sind. Allgemein lässt sich zwar relativ schnell angeben, wodurch sich Gefahrenabwehr und Prävention unterscheiden, in der Praxis ist aber häufig strittig, welcher Seite eine (geforderte) Maßnahme zuzuschlagen sei. Tabelle I.1: Katastrophe – Notfall – Szenario

Katastrophe

Notfall

Szenario

Präsens des Schadens

Eingetretener Schaden: Zerstörung, plötzliches Faktum

Evidente Gefahr: drängendes Problem, Not, Schmerz

Mögliche oder wahrscheinliche Bedrohung,Vagheit

Blick in die Zukunft

ohne Hoffnung

dramatisch

unsicher, aber aufgeklärt

Dominanter Handlungstyp

handlungsunfähig, anschlusslos

interventive Ausnahme (Ausnahmeregel oder geregelte Ausnahme)

Prävention, Vorsorge

Zeitbezug

Stillstand

Dringlichkeit

Zeit haben u. gewinnen

BetroffenerEntscheiderSchema

Reines BetroffenSein, keine Handlungsoption

Tendenz zur verantwortungsbefreiten Entscheidung

Riskante, verantwortbare Entscheidung

Präventive Maßnahmen befassen sich mit künftigen Schäden, die vage, und d. h. kontingent sind. Es liegt im Bereich des Möglichen, dass das Schadensszenario eintritt, seine Aktualisierung kann aber auch ausbleiben und es kann ganz anders als gedacht kommen. Zukünftige Schäden bleiben aber nicht nur deshalb im Vagen, weil Zukunft an sich ungewiss ist – das war und ist sie in gewissem Umfang seit jeher. Doch nur die Moderne ist wie keine andere Zeit vor ihr von der

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Vorstellung durchdrungen, Zukunft sei mit gegenwärtigen Entscheidungen und Handlungen zirkulär verknüpft (Luhmann 1991, S. 84). Im Gegensatz zum Gedanken, der Lauf der Welt wäre bereits festgelegt – sei dies nun kausaldeterministisch oder durch göttlichen Willen gedacht –, gestaltet sich das Panorama des zukünftigen Möglichkeitshorizonts für die moderne Gesellschaft durch die Wahl, welche Handlungen unternommen und welche unterlassen werden. Es ist eben noch nicht entschieden, welche Entscheidungen getroffen werden, sondern einer unergründlichen Freiheit des Einzelnen überlassen (Luhmann reserviert dafür den Begriff der Willkür). Bestimmte Verläufe lassen sich, so der moderne Gestaltbarkeitsgedanke, (positiv:) planen bzw. durch präventive Maßnahmen (negativ:) verhindern. Im Gegensatz zur Kontingenzträchtigkeit präventiver Maßnahmen beruht ein Engagement in Notfällen wesentlich stärker auf Evidenzannahmen.27 Evidenz liegt dann vor, wenn als weitgehend gesichert gilt, dass ein Schaden eintreten wird. Ob diese Evidenz tatsächlich gegeben ist, ist hier nicht von Belang. Evidenzen sind hochgradig stabile Konstruktion, in der die für die Moderne typische Komplexität und Kontingenz gebannt ist. Gefahrenevidenzen bezeugen ein sicheres Kausalverhältnis von gegenwärtigem Ereignis X und zukünftigem Schaden Y und machen dies zur plausiblen Grundlage einer Intervention, die den antizipierten Ereignisverlauf von X zu Y zu unterbrechen sucht. Zwar wird die Gefahrenabwehr in juristischer Sicht zum Arsenal präventiver Praktiken dazu gezählt, eben, weil sie auf einen zukünftigen Schaden perspektiviert. So sieht das Polizeirecht in der Gefahrenabwehr eine präventive Maßnahme (im Gegensatz zur Repression). Dies unterschlägt aber, dass Gefahrenabwehr die für Prävention typische Kontingenz (Leanza 2016) ausblendet; der Möglichkeitshorizont ist im Notfall derart verengt, dass Notwendigkeiten erzeugt werden. Präventive Maßnahmen sind nicht darauf angewiesen, handfeste Beweise für eine Gefahr anführen zu müssen, um in Aktion treten zu dürfen. Der Kampf gegen mögliche Bedrohungen basiert auf Zukunftsszenarien, die ein hohes Maß methodischen und empirischen Unwissens mit sich führen und aushalten können (Daase und Kessler 2007). Prävention begegnet Problemen, die niemals eintreten oder eingetreten wären. Befürworter präventiver Maßnahmen haben deswegen notorisch mit Zweiflern zu rechnen, die in Frage stellen, ob ein vorsorgliches Vorgehen gegen ein Problem, mit dem man, wenn überhaupt, erst in der Zukunft konfrontiert 27

Ähnlich auch Massumi (2010, S. 111), der die sozialpsychologische Wirkkraft einer vagen Bedrohung durch Entgegensetzung zum konkreten Problem zu verdeutlichen sucht (im englischen Original wird der Begriff der situation anstatt dem des Problems benutzt). Eine evidente Gefahr äußert sich nicht in ungerichteter Angst, sondern in konkreter Furcht. Zum Unterschied von gerichteter Furcht (vor etwas) und ungerichteter (bloßer, begriffsloser) Angst vgl. schon Kierkegaard (1992).

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I Dimensionen des Notfalls

wird, tatsächlich gerechtfertigt oder nicht doch übertrieben sei. Im Notfall ergriffene Maßnahmen kennen diese Schwierigkeit kaum, zumindest haben es ihre Kritiker schwerer, ihren Gegenargumenten Gehör zu verschaffen. Im Rahmen eines Notfalls verrichtete Handlungen verweisen in der Regel auf relativ sichere Kausaltheorien, die dem Schadenseintritt eine hohe Evidenz zusprechen. Anders als gegen präventive Maßnahmen lassen sich gegen Rettungsbemühungen keine Argumente vorbringen, die im Notfall mit Untätig-Bleiben oder Abwarten als eine echte Alternative werben können. Mit Blick auf ihren Plausibilitätsgrad sind verschiedene präventive Kalküle unterscheidbar. Bröckling (2012, S. 102) hebt drei Präventionsdispositive hervor, die sich in erster Linie durch den Vagheitsgrad der durch sie umsorgten Bedrohungen unterscheiden. Ihr Vergleich macht deutlich, dass es umso schwieriger wird, scharf zwischen einer präventiven Maßnahme und einer Notfallintervention zu unterscheiden, je größer die Evidenz eines zukünftigen Schadens ist. Die Katastrophenvorsorge stellt den ersten und zugleich ‚unsichersten‘ Präventionstypus dar. Für sie ist eine gewisse Narrenfreiheit in Bezug auf mögliche Schadensszenarien geradezu zweckmäßig. Jede noch so absurd erscheinende Eventualität verdient Aufmerksamkeit. Erst das unvorstellbare, hochgradig unwahrscheinliche Katastrophenszenario liefert die epistemische Basis für die zu entwerfenden Präventionsstrategien. Mit Überraschungen muss – das ist die diese Präventionsform begleitende Paradoxie – immer gerechnet werden (Aradau 2014). Katastrophenvorsorge wird von der ständigen Befürchtung begleitet, zu plausible Bedrohungsszenarien seien inadäquat und letztlich gefährlich, weil ihre Fixierung auf Wahrscheinliches den Blick für das Undenkbare, aber eben Mögliche, geradezu verstellen. Den worst case kann nur der verhindern, der ihn vorher erträumt, phantasiert oder simuliert hat (Blum 2016). Wer das Unvorstellbare zur Grundlage präventiver Anstrengungen macht, der kann nicht mehr damit rechnen, jede künftige Katastrophe abwenden zu können. In diesem Sinne sind die Präventionsstrategien der Katastrophenvorsorge nur zu einem sehr kleinen Teil auf Katastrophenverhinderung und auf Präemption28 hin ausgelegt. Der weitaus größere Teil der Bemühungen gilt heute dem Aufbau und der Förderung resilienter Systeme, die fähig sind, auch mit überraschenden, katastrophalen Ereignissen adäquat umzugehen und ihre Folgeschäden begrenzen zu können.29 Weit mehr Plausibilität beanspruchen Bedrohungsanalysen, die sich auf statistisch-mathematische Wahrscheinlichkeitsberechnungen berufen. Sie zeigen 28 29

Zur präemptiven Präventionsstrategie vgl. Anderson (2010) und Krasmann (2011, S. 56 und Anm. 1). Zur historischen Genese dieser Denkfigur vgl. Kaufmann & Blum (2012) und Collier & Lakoff (2015).

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sich besser informiert, weil sie Risiken durch stochastische Berechnungen einschätzen. Damit entsteht die Fiktion einer wahrscheinlichen Realität (Esposito 2007; Bonß 1995). Unsicherheiten werden durch den empirisch-quantifizierenden Rückgriff auf vergangene Ereignisse reduziert und angebbar begrenzt. So lassen sich beispielsweise Armuts-, Krankheits- oder Unfallrisiken relativ genau berechnen und deswegen auch unternehmerisch profitabel versichern. Die Versicherung, sei sie privatwirtschaftlich oder staatlich eingerichtet, kompensiert oder federt erlittene Schäden monetär ab und wird damit zu einem wesentlichen Stabilitätsgaranten der modernen Gesellschaft (Ewald 1993; Makropulus 1990). Für Beck markiert das Neuauftauchen unversicherbarer Katastrophenrisiken gar eine Schwelle, mit deren Überschreiten moderne Gesellschaften von einer ersten in eine zweite Phase der Moderne eintreten. Als low probability/high impact-Ereignisse entziehen sich Großkatastrophen wie das Atomkraftwerksunglück von Tschernobyl, so Beck (1993, S. 40f.), ihrer statistischen Berechenbarkeit und damit ihrer Versicherbarkeit. Vor allem letzteres ist aber von zahlreichen Autorinnen angezweifelt worden.30 Zuletzt lässt sich eine dritte Präventionsform ausmachen. Diese bezieht sich nicht auf Katastrophenszenarien und auch nicht auf probabilistische Berechnungen, ihr Wissen basiert auf Alltagserfahrungen, denen eine verglichen mit statistischen Risikoanalysen nochmals gesteigerte Verlässlichkeit zugesprochen wird. Wir sind uns beispielsweise sicher, dass fehlendes Zähneputzen bei hoher täglicher Schokoladendosis in absehbarer Zeit zu Karies führen wird. Dieses Wissen kommt im Alltag ohne wissenschaftliche Berechnung und Beweisführung aus. Die Plausibilität dieses Szenarios ist belegt. Präventionsstrategien, die, wie das Zähneputzen, nicht mehr durch risikomathematische Kalkulation angeleitet werden, sondern von allgemein anerkannten Erfahrungswerten ausgehen, werden von Bröckling unter dem Topos der „Gefahrenabwehr“ subsummiert. Der Begriff geht damit über die in diesem Kapitel verwendete Bedeutung hinaus. Er erstreckt sich bei Bröckling auch auf Praktiken, denen keine Dringlichkeit beigemessen wird. Die Schwelle zwischen präventivem und notfallinterventivem Gefahrenabwehrhandeln bleibt daher undeutlich. Diese Ungenauigkeit ist im Begriff der Gefahr angelegt, denn er allein legt noch nicht fest, welche Evidenz die Gefahr besitzt. Der polizeilichen Gefahrenabwehr ist diese Schwelle inhärent. Das Recht differenziert zwischen verschiedenen Gefahrenstufen und knüpft an ihr Vorliegen bestimmte Eingriffsbefugnisse, die bis hin zum „finalen Rettungsschuss“ reichen. 30

Zum genauen Argument Becks vgl. Collier & Lakoff (2015, S. 19–23) sowie Collier (2008, S. 225) mit den entsprechenden Verweisen zur Debatte. Kritisch außerdem: Hapke & Japp (2001, S. 67f.). Schluchter (2014, S. 37f.) sieht zwar ein neues „Risikoprofil“, aber noch keine Epochenwende. Nichtversicherbare Risiken habe es schon seit langem gegeben.

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I Dimensionen des Notfalls

Auf der einen Seite kann eine Gefahr als eine konkrete, gegenwärtige, dringliche (gleichbedeutend: erhebliche), als „Gefahr im Verzug“ oder als „Gefahr für Leib und Leben“ bestimmt werden, auf der anderen Seite kann auch nur eine latente oder abstrakte Gefahr konstatiert werden. Eine stark befahrene Straße stellt eine latente Gefahr dar, mit dem in ihrer Nähe gebauten Kindergarten wächst sie dann zu einer konkreten Gefahr auf. Ist ein Kind im Begriff blindlings auf die Straße zu laufen, besteht Gefahr im Verzug, ein Notfall. Die Gefahrenabwehr, auch wenn sie in rechtlicher Sicht in Gänze als präventives Handeln zu fassen ist31, beinhaltet demnach einen Umschlagpunkt, an dem Prävention in Intervention übergeht. Die kritische Diskussion um die exakte Verortung dieser Schwelle, die den Übergang vom Notfalleingriff zum präventiven Vorgriff markiert, sowie die Sorge um das Wandern dieser Grenze in die eine oder andere Richtung, ist ein Charakteristikum liberaler Gesellschaften (Jouvenel 1972, S. 402–423; Opitz 2012b). Angesichts der typischen Hypothezität der Gefahr bzw. der Zukünftigkeit oder Virtualität des Schadens gelten die in Anschlag gebrachten Maßnahmen schnell als überzogen. Trat der Schaden nun nicht ein, weil harte Maßnahmen ergriffen wurden, oder wäre es ohnehin nicht dazu gekommen? – diese Abwägung ist für das argumentative Nachspiel der Intervention kennzeichnend. Ein nicht exakt verifizierbarer Sicherheitsgewinn konkurriert mit den sichtbaren Einschränkungen und negativen Folgen, die der Eingriff mit sich gebracht hat.32 Viele, auch viele soziologische Zeitdiagnosen, konstatieren mit Blick auf die letzten Jahrzehnte eine „Vorverlagerung des polizeilichen Zugriffs von der Beweisermittlung für ein Strafverfahren über die Gefahrenabwehr hin zu einer Gefahrenvorsorge“ (Singelnstein und Stolle 2008, S. 64). Mit einem mulmigen Gefühl wird das Aufziehen „dunkler Zeiten“ (Hesse 1994) beobachtet, in denen bürgerliche Freiheitsrechte hinter staatliche Sicherheitsbedenken zurücktreten. 31

32

Das rechtliche Schema unterscheidet zwischen Repression und Prävention. „Das ‚präventive‘ Handeln, die Gefahrenabwehr, setzt eine ‚im einzelnen Falle bestehende‘, eine sogenannte ‚konkrete‘ Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung voraus; das ‚strafverfolgende, repressive‘ Tätigwerden ist an die Bejahung des Vorliegens eines sogenannten ‚Anfangsverdachts‘ einer Straftat gebunden“ (Denninger 2008, S. 90f.). In einer so genannten „doppelfunktionalen Maßnahme“ verbinden sich beide Handlungstypen. Mit der hier etablierten Differenz zwischen Notfall und Prävention ließe sich diese Feststellung nochmals insofern pointieren, weil sie präzisiert, dass heute eben nicht nur im Fall evidenter Gefahren polizeilich eingegriffen wird, sondern auch vor dem Hintergrund wesentlich vagerer Drohungen. Eine stärkere Differenzierung zwischen evidenten Gefahren und kontingenten Bedrohungen ist für eine an der Sache, und nicht an der Empörung interessierte Präventionsforschung unerlässlich. Werden evidente baldige und mögliche zukünftige Schäden im Begriff der Bedrohung undifferenziert vermischt (Opitz (2012a) 255-259), so führt dies zu skandalträchtigen Szenarien, denen zu Recht vorgehalten werden muss, dass mehr „analytische Besonnenheit geboten“ (ebd.. S. 258) sei. Schirmer (2008) unterscheidet ebenfalls nicht zwischen Notfallintervention und Prävention und vermengt beides im Bedrohungsbegriff.

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Bröckling sieht in der Gefahrenabwehr einen Präventionstyp, der Zukunftsszenarien und Interventionsstrategien auf Basis sicherer Erfahrungswerte und konkreter Gefahren, so genannter „known knowns“ (Daase und Kessler 2007), entwirft. Die in diesem Zusammenhang gewählten Beispiele – Händewaschen als hygienische Gefahrenabwehr, Abschreckung eines bekannten Feindes durch Aufrüstung als militärische Gefahrenabwehr – betonen zwar die Gefahrenevidenz, lassen aber die Zeitlichkeit außer Acht. Sie lassen die Aufdringlichkeit einer Gefahr unbeachtet. Zum Waschen der Hände wird man zwar zu bestimmten Anlässen veranlasst, etwa vor dem Essen, nach der Toilette oder vor einer Operation, man verrichtet sie aber nicht unter Zeitdruck. Gefahrenabwehr im Notfall zeigt sich dagegen drastisch unentspannter – und um diese Beobachtung muss die Soziologie der Prävention ergänzt werden. Sobald eine Gefahrenabwehrmaßnahme durch Dringlichkeit gekennzeichnet ist, gilt sie nicht mehr als eine originär präventive Maßnahme. Präventive Handlungen stellen eine unaufdringliche Form der Verhinderung „unsicherer zukünftiger Schäden“ (Luhmann 1991, S. 38, Herv. NE) dar, die über ein Mindestmaß an offener Kontingenz verfügen – hinsichtlich des zeitlichen Schadenseintritts, seines Umfangs, Verlaufs etc. Auch Luhmanns Unterscheidung von Risiko und Gefahr verdeckt durch ihre Zuspitzung auf Zurechnungsvorgänge den typischen Zeitbezug von Gefahren. Gefahr, das ist für Luhmann in erster Linie „ein in der Zukunft verborgenes Unglück, das möglicherweise auf den zukommt, für den es bestimmt ist. Risiko dagegen ist eine Aufforderung zur gegenwärtigen Kalkulation einer unbekannten Zukunft“ (Luhmann 1996, S. 282). Die Unterscheidung erfolgt hier sichtlich im parteiischen Interesse der an Präventionsregimen interessierten Risikosoziologie. Gefahren betreffen unbekannte zukünftige Schäden, die gerade wegen ihrer Unbekanntheit nicht verhindert werden können, Risiken antizipieren dagegen immer schon mögliche zukünftige Schäden und laden dazu ein, sie einzugehen oder sie zu vermeiden. Hält man sich streng an diese Definition, dann fallen die Gefahren, mit denen Betroffene im Notfall konfrontiert sind, aus der Definition heraus. Denn Notfallgefahren liegen nicht mehr im Dunkel einer unbekannten Zukunft, im Gegenteil, sie stehen gut sichtbar vor der Gegenwart. Ein baldiger Schaden appräsentiert sich plötzlich in den gegenwärtigen Dingen (nicht in einem errechneten Risiko, nicht in einem erdachten Szenario) und droht, ins Jetzt durchzuschlagen. Genau genommen ist es sogar unbedeutend, ob die Gefahr von einem virtuellen Schaden kündet, der sich in wenigen Sekunden (eine auf Skifahrer zurasende Lawine) oder aber erst in Monaten (ein allen mathematischen Berechnungen zufolge auf die Erde zurasender Asteroid) aktualisiert haben wird. In beiden Fällen sind hoch-

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I Dimensionen des Notfalls

plausible Kausalzusammenhänge hergestellt worden, die das Ergreifen abwehrender oder ausweichender Maßnahmen gegen die evidente Gefahr unmittelbar erzwingen. Der Vorschlag Notfallgefahren mit Evidenz in Zusammenhang zu denken33, darf nicht derart verstanden werden, dass Evidenzen nicht hergestellt und verteidigt werden müssen. Noch naturwissenschaftliche Kausalannahmen sind Evidenzkonstruktionen, allerdings solche, die bestimmten methodischen Garantien unterworfen sind, die ihnen hohe Plausibilität verleihen.34 Das durch die starke Kontrastierung von präventiven und notstandsmäßigen Interventionen gewonnene Argument, erstere sähen sich häufiger kritischen Einwänden ausgesetzt als letztere, ist ebenfalls nicht so zu verstehen, als ob im Notfall ergriffene Maßnahmen fernab jeden kritischen Einspruchs stünden. Zum einen setzt die kritische Diskussion präventiver Maßnahmen häufig gerade an Praktiken an, die durch Sicherheitsorgane als Notfallmaßnahmen gelabelt werden. Entscheidend ist dabei, dass gerade die Gefahrenevidenz kritisch beäugt und feste Kausalbeziehungen als bloße Annahmen „enttarnt“ werden. Gerade diejenigen Sicherheitsakteure, die Notfallmaßnahmen regelmäßig ergreifen dürfen und sollen, stehen in liberalen Gesellschaften unter besonders kritischer Beobachtung. Sie stehen unter dem notorischen Verdacht, Notfälle übereilt zu konstatieren oder vorzuschieben, um außergewöhnlicher Eingriffe oder Sonderbehandlungen zu rechtfertigen. Derartige Befürchtungen respektive Praktiken betreffen nicht allein die polizeiliche, militärische oder geheimdienstliche Gefahrenabwehr. Rohde (1974, S. 346–348) konstatiert etwa dem Krankenhaus eine „Ideologie der absoluten Dringlichkeit“ und eine „Routinisierung des Notstandsverhaltens“. Insbesondere die ärztliche Belegschaft sei es gewohnt, ihre Forderungen innerhalb des administrativen Apparats der Klink mit dem Verweis durchzusetzen, es handele sich um einen Notfall. „Alles und Jedes sei als Sofortmaßnahme“ zu behandelt und würde als vordringlicher Fall betitelt. Um dann allerdings noch von der Einstufung als Notfall zu profitieren, sei es nicht mehr entscheidend, dass es sich überhaupt um eine Notfallmaßnahme handelt, sondern welchem Notfall es gegenüber anderen gelingt, sich als ernstesten Fall zu profilieren. 33

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Man kann zu bedenken geben, dass die mögliche Schadenshöhe für die Etablierung eines Notfalls ebenfalls bedeutend ist und sie eine unsichere Eintrittsevidenz abfedern kann. In der Folge wäre zu untersuchen, ob ein enormer Schaden Gefahrenabwehrmaßnahmen auf den Plan rufen kann, obwohl seine Eintrittswahrscheinlichkeit geringer ist. In diesem Zusammenhang wäre schließlich auch zu untersuchen, ob und wenn, unter welchen Bedingungen es gelingt, einen Präemptivschlag als Notfallmaßnahme darzustellen. Vgl. auch Fn. 123 zur Frage, warum medizinische Gefahrenabwehr im Gegensatz zur polizeilichen Gefahrenabwehr nicht als präventive Praktik begriffen wird.

3 Erste Hilfe: Wenn aus Fremden Retter werden (sollen)

3

Erste Hilfe: Wenn aus Fremden Retter werden (sollen)

3.1

Emergencies als plötzliche, synchronisierende und appellative Ereignisse

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Notfälle sind plötzliche Ereignisse, sie emergieren praktisch aus dem Nichts. Der englische Begriff emergency hebt diesen Bedeutungsakzent von Notfällen hervor und betont die ihnen eigentümliche Neuheit und Akzidenz.35 Ein Notfall hebt sich von einem Davor ab, das, jedenfalls in der Rückschau, normal und gewöhnlich war (Vollmer 2013, S. 38–43). Diese Diskontinuität, die Herstellung eines normalen Vorher durch den plötzlichen Einbruch eines anderen „Jetzt“ ist geradezu paradigmatisch für die Wahrnehmung von Notfällen (Milev 2011). Häufig ist es ein überraschender Unfall (accident), der die Notfallphase (emergency) einläutet. Ihr unvermitteltes Auftreten lässt Unfälle und die durch sie ausgelösten Notfälle im ersten Moment wie geschichtslose Ereignisse wirken. Ihre Potenzialität war bis zu ihrem Eintritt nicht erkennbar, sie lag außerhalb des Erwarteten. Auch wenn die Verantwortung für das Ereignis später dem unvorsichtigen Verhalten oder riskanten Handeln der von ihm Betroffenen zugerechnet wird, im Augenblick seines unangekündigten Eintritts und für die Dauer der Gefahr wird das Ereignis von Leidtragenden und Beobachtern fremdreferenziert. Es wird der sozialen Umwelt (beliebt: der Feind), dem Körper (beispielsweise: dem Herzen) oder der Natur (typisch: dem Erdbeben) zugerechnet und zunächst zu einem weitgehend geschichtslosen Vorgang, den man nicht vorhersehen konnte (Luhmann 2011 [1975], S. 23). Es war nicht gewollt – selbst wenn man es ‚getan‘ hat (durch Provokation des Gegners, durch ungesunde Ernährung, durch unzureichende Bauweise des Hauses).

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Im Englischen steht der Notfall begrifflich näher an der Ereignisemergenz. Vielleicht wird folgende Diskussion zwischen Adorno und Horkheimer, beide soeben aus den USA zurückgekehrt, noch einmal verständlicher, wenn die englische Übersetzung von „Notstand“ (state of emergency) mitgedacht wird. Beide Sozialphilosophen beklagen in einer gemeinsamen Unterhaltung die konservative Grundhaltung moderner Gesellschaften. Dabei weist Adorno darauf hin, dass der Versuch, die Veränderung der Gesellschaft praktisch zu betreiben, von vielen als unkontrolliert ereignishafter und deswegen gefährlicher Vorgang (emergency) gesehen werde. „Schon immer hat man uns [= den Vertretern der Kritischen Theorie] einen Begriff [der Praxis] entgegengehalten, der einer Notstandssituation angemessen ist“ (Horkheimer und Adorno 1996, S. 62). Adorno spielt damit auf einen Bedeutungsakzent im Begriff von Notstand an, der im Englischen stärker hervortritt. Praxis enthält stets ein unberechenbares, emergentes und in diesem Sinne „plötzliches“ Moment. Konservative verständen „Praxis“ deswegen als unkontrollierbare Veränderung und daher als eine Bedrohung. Vgl. die weitere Ausführung dazu von Karakayali (2012). Dort sowie bei Han-Yin Chang (2004) auch eine weitere Auseinandersetzung zum Emergenz-Konzept George Herbert Meads.

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I Dimensionen des Notfalls

Die Katastrophensoziologie hat diesen Umstand lange als ihren kritischen Einsatzpunkt verstanden: Katastrophen, so betont Clausen (1983, S. 43f.), seien niemals Naturkatastrophen, rein von außen auf die Gesellschaft wirkende Impacts, sondern immer auch Kulturkatastrophen. Katastrophen würden der Gesellschaft ihre eigenen blinden Flecken aufzeigen und ihre Institutionen qua „Real-Falsifikation“ scheitern lassen (Dombrowsky 1989, S. 258). Katastrophensoziologie versteht sich entsprechend seit jeher als warnende Instanz, die Politik und Gesellschaft aufzuklären versucht, bevor es zu spät ist, bevor es zum Notfall kommt. Die Plötzlichkeit, mit der eine Gefahr im Notfall im Raum steht, und der dringende Appell, den nun sichtbaren Ereignisablauf zu unterbrechen, absorbieren zunächst jedes Interesse an einer genauen Ursachenrekonstruktion. Überraschungsmoment und Interventionsdringlichkeit erzeugen eine dem notfallartigen Ereignis eigentümliche Ahistorizität. Diese Geschichtslosigkeit wird durchaus kritisch gesehen, denn sie berge das über das Ereignis hinausgehende Potenzial, Kausalzusammenhänge zu verschleiern. Craig Calhoun zeigt dies für den Bereich internationaler Politik, in dem die Bezeichnung emergency zunehmend an Bedeutung gewonnen habe. Viele Hungersnöte oder gewaltsamen Konflikte würden heute, so sein Vorwurf, als emergency betitelt, um auf rasche Hilfseinsätze oder militärische Interventionen zu drängen.36 Unter dem begrifflichen Deckmantel des emergency würden dann die in der Regel langen und bis dato unbeachtet gebliebenen Vorgeschichten verdeckt und diese Gefahr laufen, in Vergessenheit zu geraten. Der Titel emergency besitze nicht nur Appellfunktion, er lege auch Nahe, dass die eingetretene Situation nicht vorhersehbar gewesen sei. Würden Krisenereignisse als emergencies gerahmt, führe dies weiterhin dazu, dass eine ggf. eigene Verantwortung an ihrer Entstehung abgedunkelt werde. Im Anschluss ermögliche es die helfende Zuwendung dann sogar, die auf den Weg gebrachte Rettungsintervention (oder Forderung danach) als humanitären Akt zu begreifen und ein positives Selbstbild zu entwerfen. Plötzlichkeit und Appell gehen im Notfall Hand in Hand. Wenn man noch kann, dann schreit man im Notfall nach „Hilfe“. Die Aufforderung Hilfe zu leisten, trifft die überwiegende Mehrheit möglicher Helfer dabei ebenso unerwartet wie den Betroffenen sein Unglück. Die Besonderheit des Notfalls als eine plötzliche 36

„[T]he word emergency points to what happens, without reference to agency, astral misalignments or other causes, or any specific outcomes. The emergency is a sudden, unpredictable event emerging against a background of ostensible normalcy, causing suffering or danger, and demanding urgent response. Usage is usually secular. Use of the word focuses attention on the immediate event and not its causes“ (Calhoun 2010, S. 19). An anderer Stelle formuliert Calhoun: Emergency „implies sudden, unpredictable events which require immediate action. But many ,emergencies‘ develop over long periods of time, are not merely predictable but watched for weeks or months or years before they break into public consciousness or onto the agendas of policy-makers“ (Calhoun 2008, S. 83).

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Hilfssituation beschäftigt die Sozialpsychologie seit Anfang der 1970er Jahre. Akzidenz und Plötzlichkeit stellen für die sozialpsychologische Forschung dabei nur ein Merkmal des Notfalls dar. Darüber hinaus betont sie, dass Notfälle einzigartige, seltene und unerwartete Ereignisse seien (Latané und Darley 1970, S. 29, 1976, S. 3f.). Die genannten Aspekte lassen sich jedoch nicht verallgemeinern. Sie gelten nicht für erfahrene Retter. Für Feuerwehrleute, Mitglieder der Bergwacht oder Notärztinnen sind die in ihr Ressort fallenden Notfälle weder einzigartig, noch selten, noch treffen sie sie in ihrer Funktion als ausgebildete Retter überraschend. Der Merkmalkatalog beschreibt Aspekte, die für die Notfallwahrnehmung plötzlich Notleidender und unerfahrener Helferinnen gelten, nicht aber für den Notfall. Die sozialpsychologische Notfallforschung übernimmt die fehlende Erfahrung und die dominanten Wahrnehmungsmuster unvorbereiteter Helfer in ihre Notfalldefinition. Dies bleibt folgenlos, da die Sozialpsychologie daran interessiert ist, wie diese Personengruppe in einer für sie außergewöhnlichen Situation reagiert. Sie beobachtet dann in erster Linie das (unterbleibende) Hilfsverhalten, seine Motivation, seine Grammatik. Soziologisch betrachtet kommt der Notfall für Anwesende einem „kritischen Ereignis“37 gleich. Ein Merkmal solcher Ereignisse ist es, dass sie die Aufmerksamkeit der Anwesenden konzentrieren, zusammenschalten und auf ein gemeinsames Zentrum hin ausrichten. Eingeleitet wird das kritische Ereignis z. B. durch einen Hilfeschrei, der typischerweise nicht persönlich adressiert ist. Er ist sachlich (um was geht es) wie auch sozial (wer wird angesprochen) spezifisch unspezifisch. Seine Funktion ist es, aus peripher Anwesenden Interaktionspartner werden.38 Ehedem unverbundene Personen und nebeneinander, aber getrennt voneinander ablaufende Interaktionen werden dazu motiviert, ihre Themen, Engagements und Verpflichtungen aufzugeben. Waren die Anwesenden bis zu diesem Zeitpunkt in unterschiedlichen Zeitordnungen unterwegs, besitzen sie nun eine gemeinsame Zeit. Das kritische Ereignis synchronisiert die Zeitwahrnehmung. Aber nicht nur das: das kritische Ereignis appelliert an jeden, sich zum Geschehen zu verhalten. Es ist nicht möglich, die Augen zu verschließen, sich abzuwenden oder einfach nichts zu tun. Es wird eine Situation etabliert, in der „auch Nicht-Wählen noch Ausdruck einer Wahl ist“ (Bourdieu 1989 [1984], S. 285). Sein Unterlassen wird dem Handelnden zunächst einmal als eine falsche Entscheidung zugerechnet, auch wenn ihm seine Überforderung und Unerfahrenheit später 37

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Der Begriff geht auf Pierre Bourdieu (1989 [1984], S. 285–290) zurück, der damit ein gesellschaftspolitisches Ereignis bezeichnet, das die Wahrnehmungen unterschiedlicher Gruppen zusammenschaltet und die ‚Stimmung zum Überlaufen bringen kann‘. Es kann zu Demonstrationen bis hin zur Revolution führen; die Analogie zum Notfall ist demnach sehr begrenzt. Mit Goffman (1973, S. 7–16) kann von der Verwandlung einer nichtzentrierten Begegnung Fremder in eine fokussierte Begegnung gesprochen werden.

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I Dimensionen des Notfalls

mildernd angerechnet werden können. Man könnte nun meinen, dass die moralische Pflicht anderen, auch Fremden, in äußerster Not zu helfen, seit jeher und kulturübergreifend anzutreffen ist. Bei genauerem Hinsehen, können jedoch durchaus verschiedene Formen der Ersten Hilfe erkannt werden, die nicht zwingend oder ausschließlich über moralische Normen gesteuert werden. Der rettende Eingriff in einen Notfall kann unterschiedlich motiviert sein. 3.2

Formen des (unterlassenen) Rettens im gesellschaftlichen Wandel

Fremde Notfälle verpflichten zur eigenen Hilfeleistung. Dennoch oder gerade weil es als Selbstverständlichkeit gilt, anderen in plötzlicher und äußerster Not zu helfen, ist es eine bekannte Klage, dass diese Erwartung zu oft enttäuscht werde. Berücksichtigt man die vier oben von Latané und Darley genannten Notfallmerkmale – Plötzlichkeit, Einzigartigkeit, Seltenheit und Unerwartetheit – dann lässt sich sozialpsychologisch gut erklären, warum potenzielle Helfer in Notfällen untätig bleiben können und warum in ihrer „unterlassenen Hilfeleistung“ weniger ein skandalöses Verhalten39 denn eine (jedenfalls: wissenschaftlich) verständliche Reaktion auf eine außergewöhnliche Herausforderung zu sehen ist. In der Sozialpsychologie hat das Untätig-Bleiben der unresponsive bystander zur Bildung zweier Theorien geführt, die es jenseits moralisierender Untätigkeitsvorwürfe begreifbar machen. Die Theorie pluralistischer Ignoranz begreift die unterlassene Hilfeleistung einer Gruppe von Personen in einem Notfall über gleichzeitig ablaufende und wechselseitig aufeinander bezogene Orientierungsprozesse. Da Ego und Alter unsicher sind, was zu tun sei, schaut Ego wie Alter und Alter wie Ego sich verhält; endlich übernehmen beide das jeweils beobachtete Handlungsmuster des anderen. Die wechselseitige Orientierung am anderen führt demnach zur Nichthilfe aller. Die Theorie der Verantwortungsdiffusion, auch bekannt als „Freiwilligendilemma“, macht geltend, dass Personen, die kollektiv angesprochen werden, die Handlungsverantwortung an die übrigen Anwesenden delegieren. Gerade in größeren Gruppen mag es deshalb entgegen der ersten Vermutung schwer sein, einen Ersthandelnden, einen „Freiwilligen“, zu finden. Die Verantwortung diffundiere und löse sich in wechselseitigen Zuschreibungsprozessen auf.40 Dies gilt bezeichnenderweise auch in Situationen, in denen nicht Hilfe erwartet wird, sondern die 39 40

Das dann häufig als Indikator für einen gesamtgesellschaftlichen Sittenverfall gilt. Einen interessanten Gesichtspunkt steuert hier Valentin Rauer (2016, S. 142–144) bei. Die stark formalisierten Sprachregelungen von Notrufen auf See („Mayday, mayday, mayday…“) begreift er als Verfahrensregeln mit dem Ziel, eine Verantwortungsdiffusion zu verhindern. Da ein Notruf auf See mit dem Problem zu kämpfen hat, nicht persönlich adressiert werden zu können und über

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eigene Sicherheit betroffen ist. Je mehr Personen sich in einem Raum befinden, in den langsam Rauch einströmt, so das Ergebnis einer frühen Notfallstudie, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass eine anwesende Person sich frühzeitig alarmiert zeigt (Latané und Darley 1968). Systemtheoretisch gewendet beschreiben die beiden Theorien Interaktionsblockaden (Luhmann 1972, S. 57), deren Wahrscheinlichkeit mit zunehmender Gruppengröße steigt. Dies gilt allerdings nicht pauschal. Die Reaktion der Anwesenden kann nicht unabhängig vom Gruppenzusammenhang betrachtet werden. Eine Notfallinteraktion gerät z. B. seltener ins Stocken, wenn es sich um eine vertraute Gruppe handelt. Unter Familienangehörigen oder Verwandten bzw. in Gruppen mit hoher Kohäsion und internen Abhängigkeitsverhältnissen sind Interaktionsblockaden seltener, Hilfe ist wahrscheinlicher (Rutkowski et al. 1983). Hilfsbemühungen und Verpflichtungen nehmen hier die Form einer reziproken persönlichen Hilfe unter Bekannten an. Analog zur Hilfe in segmentären Gesellschaften (Stämme, Clans) hat Hilfe hier die Form einer subjektiv spontanen, empirisch aber hochgradig erwartbaren Gabe, deren Empfang zu Dankbarkeit und zur Rückgabe verpflichtet. In der Folge wartet der einmal Gerettete auf den rechten Moment, in dem seine Hilfe gebraucht wird und er die Last der Dankbarkeit zurückgeben kann. Es kommt zu einem Kreislauf gedehnter Dankbarkeit.41 Gesellschaften sind komplexer als Gemeinschaften, deren Mitglieder miteinander bekannt sind. Gesellschaftsmitglieder sind einander in der Regel fremd und fern, weswegen die Hilfserwartung gelockert werden muss. Hilfe lässt sich nicht mehr über wechselseitige Rückgabeverpflichtungen steuern, da es immer unwahrscheinlicher wird, Gelegenheit zu bekommen, seinem fremden Retter in äußerster Not ebenfalls helfen zu können. Die Lockerung gelingt über die normative Generalisierung von Hilfserwartungen (Luhmann 1975, S. 139). Da die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass man für Hilfe und Rettung auf die Tat eines Unbekannten angewiesen ist, wird sie zur „guten Tat“ aufgewertet. Luhmann hebt hervor, dass mit der normativen Generalisierung der Hilfe die direkte Reziprozität von Hilfeleistung und -erwartung zeitlich unterbrochen wird. In der Ständegesellschaft wird

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den Funkkanal breit gestreut wird, sei eine strikte Kommunikationsregel entwickelt worden (strukturierte Angaben zum eigenen Hilfeersuchen: Name, Ort, Art des Notfalls), deren Verwendung den potenziellen Hörer dazu zwinge, sich als Adressat zu begreifen und zu helfen. Hier sind aber Zweifel angebracht. Empfängerinnen eines Funkspruchs lassen sich wohl auch von unstandardisierten Hilferufen ansprechen – sofern sie diese denn als solche verständlich sind. Es ist weniger die programmierte Kommunikationsstruktur des Notrufs selbst, vielmehr sind es rechtliche Normen, die die Seefahrerin zur Hilfeleistung verpflichten. Luhmann (1975, S. 137f.) in Anschluss an Mauss (1968 [1925]).

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I Dimensionen des Notfalls

die Erwartung zur Gabe von Almosen in erster Linie an die höheren Stände gerichtet, die selbst nicht mehr davon ausgehen, dass ihnen der „milden Gabe“ wegen langfristig gedankt und in der Zukunft geholfen wird. Was sie aber erwarten können, ist, dass ihre Generosität der Anerkennung ihres Standes und so der Stabilisierung der gesellschaftlichen Differenzierung dient.42 Fraglich ist aber, inwieweit diese gesellschaftliche Steuerung von Hilfe auch für die Notfallrettung funktional ist. Da die Almosengabe sich in konkreten Institutionen verstetigt, etwa im Bettelwesen oder im allsonntäglich wiederkehrenden kirchlichen Klingelbeutel, lockert sich auch der zeitliche Zusammenfall von Hilfsbedürfnis und Hilfeleistung. Im Unterschied zur konkreten Hilfe im Bedarfsfall leistet die Sach- oder Geldspende Hilfe über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg. Die Almosengabe entkoppelt Hilfeleistung und konkrete Bedürftigkeit, stellt die Hilfegelegenheit auf Dauer und gewährt dem Spender nur eine kurze Schonfrist, bevor wieder an seine Generosität appelliert wird. Die Almosengabe eignet sich also nicht ohne weiteres zur Verfügbarmachung von Notfallrettung, denn für diese kommt es weiterhin auf den zeitlichen und, das muss hier ergänzt werden: räumlichen Zusammenfall von Bedürfnis und dessen sofortiger Befriedigung an.43 Spendengelder retten niemanden in akuter Lebensgefahr, sie können jedoch genutzt werden, um Rettung zu organisieren und für den Ernstfall bereitzustellen. Eine weitere bei Luhmann unerwähnt bleibende Form der Hilfe sind Hilfsnetzwerke, die in vielen Teilen der Welt bestehen: in Äthiopien finden sich alte bäuerliche Netzwerke, in denen sich gegenseitig unter die Arme gegriffen wird, wenn einzelne Farmer etwa Probleme mit dem Saatgut haben; in Japan sind Assoziationen bekannt, die sich nach Erdbeben gegenseitig Hilfe leisten; und in den Prärieprovinzen Kanadas existieren seit langem gemeinschaftliche Regelwerke, die die überörtliche Hilfe zwischen Dörfern (bei Bränden, Wassermangel oder bei Evakuierungen) koordinieren (Scarry 2011, S. 34–51). Obgleich Hilfe hier unter Gleichen erfolgt, lässt sie sich nur noch begrenzt als gedehnte Dankbarkeit begreifen. Die vorgehaltenen Strukturen sind durch Verträge gestützt und nicht mehr auf eine festgelegte Gemeinschaft begrenzt. Hilfsnetzwerke verfügen häufig nicht über eindeutige Mitgliedschaftsgrenzen und zeigen sich denen gegenüber offen,

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Die Frage, ob institutionalisierte Hilfeleistung die gesellschaftliche Ungleichheit eher abstützt und nicht mindert, wird, auch wenn diese Überlegung in der gesellschaftshistorischen Konzeption Luhmanns nach der Ständegesellschaft keine Rolle mehr spielt, auch heute noch häufig gestellt: notorisch in der Entwicklungshilfekritik, beispielhaft auch in der aktuellen Diskussion um Tafeln (Selke 2009). Dass die Spendenbereitschaft normalerweise steigt, wenn in den Medien über Katastrophen oder andere Notlagen berichtet wird, ist unstrittig, dass sie (jedenfalls innerhalb eines Landes) auch mit Abnahme der räumlichen Distanz zum Schadensort zunimmt, ist weniger bekannt. Vgl. dazu Prosch (2004).

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die ähnlichen Drohungen ausgesetzt sind, gegenüber denen sie sich schützen wollen. Der Übergang von Selbsthilfenetzwerken zu Selbsthilfeorganisationen ist fließend. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen schließlich Organisationen hinzu, die fremden Personen im Notfall helfen. Auf der Suche nach Geselligkeit finden sich Teile der städtischen Bevölkerung zu dem Zweck zusammen, um anderen Hilfe anzubieten (Müller-Jentsch 2008, S. 487f.). Viele Rettungsorganisationen haben sich – im Gegensatz zu staatlichen Militär- und Zivilschutzorganisationen – „von unten“, über Hilfsnetzwerke, Assoziationen oder aus karitativen oder humanitären Vereinen heraus entwickelt (Lakoff 2006). Eine allgemeine Hilfemoral findet sich in der, lange Zeit religiös begründeten Verpflichtung, Fremden in Not, Hilfe zu leisten. Moral steuert Verhalten über Achtung, die demjenigen zufällt, der gut handelt oder sich gut positioniert. Geächtet werden dagegen unmoralische, schlechte Einstellungen und Taten. Mit dem Übergang von Ständegesellschaft zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft nimmt die Ethik sich moralischen Forderungen an. Hilfe versteht sich nicht mehr primär als gottgefälliges Tun oder als „milde Gabe“ der Oberen und Reichen, sondern fasst sie als „gute Tat“ eines jeden Gesellschaftsmitglieds und schließlich als „true generosity in private action“ (Herbert Spencer)44. Biblische Bezüge werden zwar weiterhin hergestellt – auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) beziehen sich etwa einige der im 19. Jahrhundert gegründeten Hilfs- und Rettungsorganisationen –, doch sind dies eher Rückgriffe auf positive Assoziationen denn auf religiösen Überzeugungen. Wichtig ist, dass Hilfe nun vollständig von anderweitigen Rollen- und Normkonstellationen und Erwartungsabgelöst wird. Gerade für die Erste Hilfe gilt, dass es keinen Unterschied macht, wer der andere und wer man selbst ist. Dies gilt für den Retter wie für den zu Rettenden. Erst die moderne Moral der Ersten Hilfe entbindet radikal von anderen Erwartungsbezügen. Sie verlangt von jedem, der Notzeichen wahrnimmt, sich um die Rettung des Notleidenden zu bemühen. Die Erwartung, anderen in Notlagen zu helfen, ist vielerorts, lange Zeit auch in Deutschland, ein moralisches Gebot und keine gesetzliche Vorschrift. Vordenker und Befürworter des liberalen Rechtsstaats und eines Minimalrechts, welches zu gesetzlichen Regelungen nur greift, um die bürgerlichen Freiheiten zu schützen, sehen in der Nothilfe ein Gebot, über dessen Befolgung jeder Bürger persönlich zu entscheiden habe, dessen Befolgung aber nicht rechtlich erzwungen werden sollte. Ihr Rechtsverständnis basiert auf der Überzeugung, dass Recht Freiheiten soweit möglich garantiere, nicht aber einschränke. Ein strafrechtlich sanktionierter Zwang zur Hilfeleistung (kodifiziert in der „Unterlassenen Hilfeleistung“) konnte 44

Zit. n. Luhmann (1975, S. 140, Fn. 29).

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sich deshalb auch in Deutschland lange Zeit nicht durchsetzen und bestand im 19. Jahrhundert nur in eingeschränkter Form als Polizeihilfegesetz (die Polizei konnte Bürger in bestimmten Situationen unerwartet zur Hilfe verpflichten). Erst unter den Nationalsozialisten erweiterte sich dieses Gesetz von einer Hilfspflicht des Bürgers gegenüber der Exekutive zu einer allgemeinen Hilfeleistungspflicht, die zudem unabhängig von einer expliziten Aufforderung gilt. Die Verallgemeinerung verfolgte den „Gedanken der Treuepflicht gegenüber der Volksgemeinschaft“ (Kühnbach 2007, S. 99) und versuchte die moderne Gesellschaft segmentären Bindungsprinzipien zu unterwerfen. Bis heute steht das Gesetz zur „Unterlassenen Hilfeleistung“ (§ 323c StGB) unter Rechtfertigungszwang und in der liberalen Kritik.45 Selten wird in der rechtsphilosophischen Diskussion dabei die Frage nach der empirischen Wirkmächtigkeit des Gesetzes gestellt und beachtet, dass die situativen, verhaltenspsychologischen und sozialen Determinanten von Hilfeverhalten vielfältig und interdependent sind (Frey et al. 2001). Eine der wenigen empirischen Arbeiten zur gesetzlichen Sanktionsdrohung lässt daran zweifeln, ob rechtliche Sanktionsdrohungen zur Hilfeleistung in Notlagen zusätzlich ermuntern (Hyman 2006). Die gesellschaftliche Steuerung von Hilfserwartungen basiert in all den bis hierhin genannten Formen auf der Annahme, dass Notsituationen nicht nur für die in Gefahr schwebende Personen, sondern auch für die potenziellen Helfer eine über ihre Plötzlichkeit hinaus seltene, einzigartige und unerwartete Situationen darstellen. Die Interventionshürde ist, wie die Bystander-Forschung unterstreicht, hoch, der Erwartungsdruck Hilfe zu leisten, ist es aber ebenfalls. Dass dies auch so bleibt, dafür sorgen nicht zuletzt Tugendgeschichten und die massenmediale Skandalisierung untätigen Verhaltens.46 Darüber hinaus sind in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Strategien erkennbar, um Interventionshemmnisse abzubauen und zur Hilfeleistung anzuregen. Schulungen zu Erste Hilfe-Techniken oder die Installation von Notfalltechniken in öffentlichen Räumen, Gebäuden und Verkehrsmitteln – vom Feuerlöscher über Notrufsäulen und Notbremsen bis zum Defibrillator – machen die Kompetenzen und Hilfsmittel verfügbar, die in bestimmten Notsituationen gebraucht werden. Das Recht wiederum verhält sich einer „leichten Fahrlässigkeit“ unerfahrener Retterinnen gegenüber nachsichtig (Deutsch und Spickhoff 2008, S. 654).47 Nicht jeder Fehler wird bestraft, denn Hilfsbemühungen sollen nicht aus Angst, etwas falsch zu machen, unterlassen

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Vgl. neben anderen Gieseler (1999) und Hirsch et al. (2013) und zuletzt den Rechtsvergleich von Fanatico (2015). Vgl. für ein Beispiel aus den 1960er Jahren die Einleitung von Latané & Darley (1970). Für die Autoren war die öffentliche Reaktion auf diesen Fall ein Grund ihrer Forschungsmotivation. Gemeint ist hier die Haftungsprivilegierung nach § 680 BGB.

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werden. Hinzu kommen pädagogische Kampagnen, die über die persönlichen Risiken von Nichthilfe aufklären, und sich dadurch verhaltenssteuernde Effekte versprechen. Diese Reflexion [über nachträglich entstehende Schuldgefühle] sollte das Aktivierungspotenzial zugunsten von Zivilcourage positiv verändern. […] Im Kern geht es letztlich darum, bei der Nichthilfeleistung den kurzfristigen persönlichen Vorteil dem längerfristigen gesellschaftlichen Nachteil, der für den einzelnen nicht sofort spürbar ist, gegenüberzustellen und so die Verantwortung für die Gesamtgesellschaft auf jeden einzelnen von uns zu delegieren (Frey et al. 2001, S. 110).

Hilfe wird damit zu einer Entscheidung, die nicht nur die Rettung des Anderen im Blick hat, sondern bei der auch das Wohlergehen des Helfenden auf dem Spiel steht. Die Sorge um das eigene Selbst wird zum politisch-pädagogischen Transmissionsriemen, über den ein moralisch korrektes Verhalten ankurbelt wird. Die präventive Vermeidung quälender Gewissensbisse stimuliert vermehrte Rettungsbemühungen. Die genannten Maßnahmen lassen eine Rationalität und Strategie erkennen, welche die Hilfsbereitschaft und Hilfskompetenz der Bevölkerung in Notsituation zu erhöhen versucht.48 Mehr denn je wird die Bevölkerung als zentrale Ressource begriffen und nach geeigneten Mitteln gesucht, diese zu mobilisieren. What occurs in an emergency is either immobilization […], or incoherent action […], or coherent action […]. Those are the three alternatives. Clearly immobilization and incoherent action are not outcomes to emulate. What needs to be undertaken, then, is an assessment of a coherent action, and almost all instances of coherent emergency action entail high degrees of habit (Scarry 2011, S. 79).

Paradigmatisch heißt es nun, dass Nichtstun und fehlerhaftes Tun durch Ausbildung und Einprägung passender Handlungsgewohnheiten zu verhindern sind. Damit schwindet der lange Zeit in behördlichen Sicherheitskreisen dominante Vorbehalt, die Bevölkerung sei vor allem eine betroffene, panische, im besten Falle passiv bleibende, im schlimmsten Falle störende, durch Fehlverhalten glänzende Größe (Dombrowsky 1989, S. 120–124). Ressource ist sie vor allem dort, wo die organisierte Rettung Lücken aufweist: als Ersthelferin wird die Bevölkerung zum zentralen Glied der Rettungskette, als couragierte Zivilistin meldet sie Straf- und Gewalttaten, als „ungebundene Helferin“, so der gegenwärtige Jargon, unterstützt sie den an seine Grenzen stoßenden Katastrophenschutz.

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Zu den Strategien, die Resilienz, die Zivilcourage, den Selbstschutz oder die Selbsthilfe der Bevölkerung zu erhöhen, wäre eine gesonderte Arbeit zu schreiben.

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Die moderne Gesellschaft differenziert zwischen auf der einen Seite organisierten und professionellen Helfern und, auf der anderen Seite, ungebundenen Helfern. Auf diese Entwicklung wird zu Beginn von → Kapitel III näher eingegangen. An dieser Stelle interessiert zunächst, dass diese Unterscheidung sowohl in der Sozialpsychologie als auch im Recht über den Notfallbegriff erhebliche Bedeutung erhält. Wird etwa das vorgestellte sozialpsychologische Notfallkonzept angelegt, so scheint der Notfall für professionelle und organisierte Rettungskräfte beinahe schon kein Notfall mehr zu sein. Da die Bearbeitung ihr tägliches Geschäft ist, begegnen Notfälle den Rettungskräften weder selten, noch unerwartet, noch treffen Notfälle die wartenden Einheiten unvorbereitet. Das Recht reflektiert auf diesen Zusammenhang ganz ähnlich wie die Sozialpsychologie. So schwer der Notfall auch zu definieren sein mag, er wird durch die Elemente der Überraschung, der Plötzlichkeit, des Unvorbereitetseins und der Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Für die Unvorhersehbarkeit kommt es darauf an, dass der Notfall nach den Erwartungen des durchschnittlichen Arztes nicht vorhergesehen werden konnte. So stellt eine Herzattacke im Stuhl des Zahnarztes einen Notfall dar, nicht jedoch in der Kardiologie oder auf einer Intensivstation (Deutsch und Spickhoff 2008, S. 654).

Aus psychologischer wie juristischer Sicht ist eine Entgegensetzung von Routine und Notfall durchaus sinnvoll, da beide Disziplinen nach der individuellen Kompetenz des Helfers fragen. Nur so kann rechtlich beurteilt werden, inwieweit eine Person Interventionsfehler in einem Notfall zu verantworten hat.49 Nach deutschem Recht müssen, das will das zitierte Beispiel verdeutlichen, ausgebildete Notfallhelfer im Dienst mit Notfällen rechnen. In dieser Lesart stellt der Herzinfarkt in der Kardiologie dann keinen Notfall dar, da man auf einen solchen vorbereitet sein muss. Diese Erwartbarkeit hat rechtliche Konsequenzen. Wenn professionelle Retterinnen berufsbedingt mit einem Herzinfarkt kalkulieren müssen und umzugehen wissen, können sie bestimmte rechtliche Schutzkonstruktionen nicht in Anspruch nehmen, auf die unerfahrene Helfer sich zu ihrem Vorteil berufen können. Notärztinnen etwa müssen sich im Gegensatz zu ihren Kolleginnen ohne notfallmedizinische Ausbildung schon wegen einer leichten Fahrlässigkeit bei einem Einsatz verantworten und sind nicht haftungsprivilegiert (§ 680 BGB). Allein dann, wenn die Notärztin darlegen kann, dass die Situation ihre Kompetenz überstieg und sie trotz Fachwissen und professioneller Vorbereitung unvorbereitet traf, gilt auch für sie das nachsichtigere Recht. Erst dann kann überhaupt, so suggeriert es das Zitat, von einem Notfall gesprochen werden. 49

Dies bezieht sich auf das deutsche bzw. kontinentaleuropäische Recht. Im angloamerikanischen Raum wird mit Interventionsfehlern, vor allem, wenn sie von Rettern außerhalb ihrer Dienstzeit begangen werden, anders umgegangen. Hier greifen die so genannten Good Samaritan Statutes.

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Mit Blick auf die rechtliche Verantwortbarkeit von Interventionsfehlern ist eine strikte Unterscheidung zwischen Routinefall und Notfall nachvollziehbar. Anders als für Betroffene und Ersthelfer sind Notfälle für Einsatzkräfte in der Regel keine außergewöhnlichen Situationen. Sie erleben sie, so wird es juristisch und in der sozialpsychologischen Hilfeforschung gesehen, nicht als Ereignisse, die sie überwältigen. In einer Interaktion von Rettungskräften und Betroffenen stellen wir uns die Handlungspotenziale sehr eindeutig verteilt vor. Wohl und Wehe einer hilfsbedürftigen Person liegen in der Verantwortung der Retter. Diese handeln, andere werden behandelt. Die typischen Attributionen treten hier bruchlos hervor: Betroffene sehen sich Gefahren gegenüber und erleben ihre Rettung, wohingegen Retter über Handlungen entscheiden, dabei Risiken eingehen und die Verantwortung für etwaige Schäden tragen. Die idealisierte Rettungssituation macht zunächst den Entscheidungszwang eindrücklich, unter dem Retter stehen. Während die Risikosoziologie am Entscheider/Betroffenen-Schema in der Regel veranschaulicht, dass Entscheidungsrisiken anderen als Gefahren gegenübertreten (Luhmann 1991, S. 112–134) und sich dieser Zusammenhang in der modernen Gesellschaft rasant ausbreitet50, zeigt sich hier eine weitere Dynamik. Angesichts der Evidenz einer bereits existierenden Gefahr tritt das Handlungsrisiko des Retters dem Hilflosen als eine zweite Gefahr gegenüber. Als handlungsunfähige Person ist sie der Behandlung durch den Retter ausgeliefert und muss auf dessen Wissen und gute Absicht vertrauen. Zugleich tritt die Gefahr des Betroffenen dem Helfer als das eigene Risiko entgegen, die richtige Hilfsentscheidung zu wählen. Der Retter ist so gesehen eingespannt zwischen der drohenden Gefahr des Betroffenen, die ihn zur Handlung verpflichtet, und dem Risiko eigenen Scheiterns. Das typische Idealbild einer Rettungsinteraktion und die gängige Attribution, Retter seien aktiv und handelnd, Betroffene dagegen ohnmächtig und die Situation ‚lediglich‘ erlebend, weist eine starke Asymmetrie auf. Einseitig liegen Handlungskompetenz und Entscheidungsgewalt in Händen der Helfer, während die Hilfesuchenden dieser souveränen Macht ergeben sind und auf ihr Wohlwollen und Können vertrauen müssen. 50

Riskante Überholmanöver, die Wahl des falschen Präsidenten, die Beförderung einer ungeliebten Kollegin zur Vorgesetzten: die Mitglieder moderner Gesellschaften müssen sich, ob sie wollen oder nicht, vermehrt zu den Entscheidungen anderer verhalten. Es ist der zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaften (Japp 2000, S. 50–64), den anwachsenden Handlungsverflechtungen (Elias 2013, S. 347–352), aber auch der Abhängigkeit von technischen Infrastrukturen (Collier und Lakoff 2008) oder den neuen Katastrophenpotenzialen technischer Großanlagen (Beck 2012 [1986]) geschuldet, dass fremde, auch weit entfernt vollzogene Handlungen zur Gefahr für andere, viele andere, gar für jedermann – man denke an die Gefahr eines nuklear geführten Kriegs – geworden sind.

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I Dimensionen des Notfalls

Die einseitige Darstellung ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden. „People do not simply suffer a disaster. They interact with terror and emergencies, often adapt to it, draw lessons and meaning from it, sometimes are disoriented and confused by it but often learn to creatively reorganize their life around it“ (Furedi 2007a, S. 171). Furedi argumentiert, dass die Zuschreibung historischen Bedingungen unterläge. Es käme nicht nur auf die tatsächlichen Kompetenzen und Erfahrungen von Betroffenen und Ersthelfern an, wesentlich seien auch die durch kulturelle Narrative verfestigten Erwartungen an den Einzelnen. Während etwa Gemeinden früher zugetraut wurde, in Notlagen zusammenzustehen und das Unglück gemeinsam zu bestehen, würden heute skeptische oder gar schwarzmalerische Darstellungen hinsichtlich ihrer Selbsthilfefähigkeiten überwiegen. Statt Resilienz (Handeln) würde heute Vulnerabilität (Erleben) angenommen – und nicht zufällig seien es die Vertreter von Hilfsorganisationen gewesen, die diese Ansicht früh vertreten hätten (Furedi 2007b). Mithin ist zu vermuten, dass das Bild seine Dominanz und Einseitigkeit der Entstehung organisierter Rettung zu verdanken hat und einen kaum zu unterschätzenden Effekt auf das tatsächliche Verhalten von Betroffenen und Rettern hat. „Übrig bleibt eine fatale Schere: Wachsende Inkompetenz den Opfern, wachsende Kompetenz den Helfern“, resümiert Dombrowsky (1981, S. 752). Der in Not geratene Bürger, so lautet die Kritik, dürfe nicht zum reinen Objekt von Rettung und Nothilfe, von Staat und Hilfsorganisationen degradiert werden. Andererseits beobachten zahlreiche Sozialwissenschaftlerinnen in den letzten zwei Jahrzehnten neben der Deagentifizierung von Betroffenen im Notfall, zusätzlich deren zunehmende Inverantwortungnahme im Rahmen der Vorsorge für kommende Notfälle, die oben bereits angesprochen wurde. Der Staat ziehe sich im Zuge eines allgemeinen Wandels von Staatlichkeit auch aus dem Bereich der Katastrophenvorsorge zurück und lege – diesmal unter dem nun zum Paradigma erhobenen Stichwort der Resilienz – die Verantwortung für diese zunehmend in die Hände der Bevölkerung (Zebrowski 2008; Lentzos und Rose 2009; Kaufmann und Blum 2012, 2013). Fraglich ist nun, ob diese Verschiebung auch die Handlungserwartungen im Notfall verändern. Eindrücklich ist jedenfalls die Gleichzeitigkeit von, einerseits, Klagen, dass die Bevölkerung zu wenig vorbereitet sei, und von, andererseits, den offenkundigen Schwierigkeiten, die Behörden und Rettungsorganisationen mit engagierten Betroffenen haben, die im Rahmen von Katastrophen als „ungebundene Helfer“ eigene Rettungsstrategien entwickeln oder bei größeren Unglücken zum „Selbsteinweiser“ werden und selbstständig ein Krankenhaus aufsuchen.

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3.3

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Rettung wider Willen? Konsentierte und dissentierte Notsituationen

Es ist leicht einsehbar, dass Notsituationen nicht ausschließlich dann auftreten, wenn tatsächlich eine „Gefahr für Leib und Leben“ droht. Es kann bereits genügen, einen Notfall bloß anzunehmen, um ihn herzustellen. Dass interpretative Gewissheiten sich im Handeln der von ihrer Annahme überzeugten Akteure verlängern und sich so auch auf das Handeln Dritter auswirken, war Soziologinnen schon früh bekannt (Thomas und Thomas 1928, S. 572; Merton 1995). Ob das Drücken eines Feueralarms einen triftigen Grund hatte, auf einem Irrtum beruhte oder ein schlechter Scherz war, ist hinsichtlich der unmittelbaren Wahrnehmung und Handlungskonsequenzen aller Alarmierten vorerst ohne Bedeutung. Das Recht spricht im Zusammenhang mit den gegebenenfalls bösen Folgen eines irrtümlich angenommenen Notfalls von einer „Putativnotwehr“ oder einem „Putativnotstand“ und unterscheidet naturgemäß zwischen der rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Falschannahme eines Notfalls. Notsituationen, bei denen Ego der Hilfe von Alter bedarf, konstituieren sich zumeist im Konsens. Auch für die konsentierte Etablierung einer Notsituation bleibt es ohne Bedeutung, ob Ego tatsächlich Hilfe benötigt oder ob sie ihre Schwäche vortäuscht, etwa um Alter zu veranlassen, mit ihr in Kontakt zu treten und sie kennenzulernen. Für das Zustandekommen einer Notsituation wäre es selbst noch nachrangig, ob Alter um die eigentlichen Absichten Egos weiß. Solange Alter das Situationsthema mitträgt und den Notfall „mitspielt“, indem er den an ihn gestellten Verhaltenserwartungen nachkommt, ist die Situation für beide und auch für alle Zuschauer ein Notfall. Allerdings gilt auch das Umgekehrte: kein Unglück – ob es sich dabei um einen schweren Verkehrsunfall, ein zerstörerisches Naturereignis oder um in einem brennenden Haus eingeschlossene Personen handelt – ist aus sich heraus ein Notfall (Clausen 1983, S. 43f.; Geenen 2003, S. 7–12).51 Jeder Notfall muss erst als solcher hergestellt werden. Der schwere Herzinfarkt einer Passantin, welche deswegen inmitten einer belebten Fußgängerzone zusammensackt, wird erst dann zu einer Notsituation, wenn die anwesenden Anderen ihre Not erkennen und helfend eingreifen (Latané und Darley 1970, S. 31–36). Abseits des Problems, dass Notfälle, wie andere Situationen auch, korrekt oder irrtümlich angenommen werden können, werden Notfälle häufig einfach konstatiert (Schulz-Schaeffer 2008, S. 370). Oft tritt man Situationen hinzu, die bereits 51

In die gleiche Richtung zielt Ophir (2010, S. 62–64), wenn er feststellt, dass manche Katastrophen kaum wahrgenommen werden („their victims simply disappear without a trace, and some recognized devastating effects are explained away as soon as they are recorded“), andere hingegen diskursiv heraufbeschworen werden.

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I Dimensionen des Notfalls

durch die Anderen in ihrem Charakter vorgegeben sind. Die Orientierung erfolgt mehr oder weniger gedankenlos und mit dem Ziel, sich der etablierten Situation einzupassen. Versuche, die Situationsdefinition und damit das Verhalten bereits involvierter Akteure entscheidend zu ändern, sind in der Regel selten; Redefinitionsversuche sind wenig erfolgsversprechend, wenn man selbst keine die Situation etablierende und tragende Rolle besitzt. Zusätzlich drohen bei bewusstem Fehlverhalten hohe Sanktionskosten. Nicht untypisch ist dagegen gerade in Notfällen ein Verhalten Hinzutretender, das die Bedeutung der Situation überdurchschnittlich würdigt, selbst wenn ein solches Verhalten nicht angemahnt wird: Notaufnahme, Übergabe eines bewusstlosen Intensivpatienten an ein Schockraumteam. Rettungsassistent, Rettungssanitäter und ich stehen mit einem intubierten Intensivpatienten vor der noch geschlossenen Tür zum Schockraum. Wir nehmen mit dem Patienten, an den etliche Geräte und Schläuche angeschlossen sind, einen Großteil des Ganges in Beschlag. Eine Reinigungskraft kommt mit ihrem rollenden Putzwagen aus einem Aufzug, bewegt sich zögernd auf uns zu und mustert uns dabei. Der Rettungssanitäter fragt höflich: „Wollen Sie vorbei?“ Der Angesprochene nimmt das Angebot nicht an: „Nein, ich suche mir einen anderen Weg.“ Die Reinigungskraft wendet und geht zurück zum Aufzug.

Rettungsarbeiten dürfen nicht gestört werden. In der beschriebenen Situation richtet die Reinigungskraft ihre Aktivität an der vorherrschenden Situation aus – selbst wenn die eigentliche Rettungsarbeit gerade stockt. Bis hierhin wurden Notsituationen beschrieben, in der keine Seite das Vorliegen eines Notfalls in Frage gestellt hat. Als nächstes geht es nun darum, inwieweit Notfälle auch dann auftreten, wenn kein Konsens über eine Gefahr und ein Hilfsbedürfnis besteht. Sobald zum Beispiel Alter dem hilfesuchenden Ego eine Täuschungsabsicht unterstellt oder seine Hilfsbedürftigkeit offen anzweifelt, wird es mit dem Aufbau einer gemeinsam geteilten Situationsdefinition schwierig. Thema und Verhaltenserwartungen der beiden Akteure harmonieren dann nicht. Der umgekehrte Fall sollte ebenfalls nicht übersehen werden: ein Dissens tritt auch dann auf, wenn der vermeintlich hilfsbedürftige Ego sich nicht als hilfsbedürftig versteht und jede Form von Hilfe zurückweist. Besteht keine unmittelbare Einstimmigkeit in der Situationseinschätzung sind drei Entwicklungsmöglichkeiten denkbar: (1) Verhandlung bis zum Konsens, (2) Auseinandergehen im Dissens und (3) Rettung wider Willen. Nur die dritte Möglichkeit soll hier ausführlicher besprochen werden; bei der Darstellung der beiden anderen belasse ich es jeweils bei einem kurzen Beispiel aus meinen Beobachtungen im Rettungsdienst. (1) Verhandlung bis zum Konsens Ego und Alter sind sich hinsichtlich der Bedeutung der Situation uneins und verhandeln, bis eine vorgestellte Definition keinen

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Widerspruch mehr erzeugt. Ob wir bei einer derartigen Übereinstimmung im Einzelfall von einer auch innerlich geteilten Überzeugung der Interaktionspartner sprechen wollen oder annehmen, dass ein Partner die Definition lediglich erduldet, ist häufig nicht eindeutig auszumachen. Der Begriff der konsentierten Situationsdefinition bietet hier zwar den entsprechenden Spielraum, doch besteht in bestimmten Fällen Zweifel, ob der Konsens nicht rein oberflächlicher Natur ist und unter dem Eindruck der Verwendung sanften Zwangs steht. Schon das nachfolgende Beispiel lässt diese Schwierigkeit erahnen. Zusammenfassung einer teilnehmenden Beobachtung: Das RTW-Team ist durch einen Mann alarmiert worden, der seine bettlägerige Mutter in seinem Haus pflegt. Laut Aussage des Sohns gehe es seiner Mutter zunehmend schlechter, sie müsse dringend ins Krankenhaus. Die Betroffene selbst widerspricht dieser Einschätzung und lehnt es ab, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Nach einem längeren Gespräch zwischen Rettungsassistent und Sohn, welchem die Patientin wortlos folgt, gibt sie letztlich ihre Zustimmung, allerdings nur durch ein leichtes Nicken, zu verstehen und wird ins Krankenhaus gebracht.

(2) Auseinandergehen im Dissens Die Akteure behalten ihre eigene Einschätzung aufrecht, trennen sich voneinander und belassen den anderen im unterstellten „falschen“ Glauben. Wir betreten die zu einem größeren Wohnblock gehörende Wohnung von Herrn Schuster. Herr Schuster ist über 70 Jahre alt, lebt alleine und wurde vom ambulanten Pflegedienst beim täglichen Besuch stark geschwächt aufgefunden. Ein älterer Notarzt ist in Begleitung einer angehenden Notärztin bereits vor Ort und klärt den stillen, auf einer Couch sitzenden Patienten mit einfachen Worten über dessen labilen Zustand auf. Der Notarzt versucht Herrn Schuster davon zu überzeugen, vom Rettungsteam ins Krankenhaus gebracht zu werden, damit sein Zustand dort überprüft und überwacht werden kann. Der Patient hat bisher nicht gesprochen und äußert sich auch jetzt nicht. Er wirkt von der Anwesenheit der vielen Personen eingeschüchtert. Gleichzeitig demonstriert er durch sein Sitzenbleiben, dass er nicht mitkommen möchte. Ein Rettungsassistent (RA) greift ein und wendet sich freundlich an den Patienten (sinngemäß): „Wir kommen in Teufelsküche, wenn wir Sie jetzt hier zurücklassen und Sie sterben. Gehen Sie ins Krankenhaus.“ Herr Schuster antwortet leise und kurz: „Ne.“ RA (sinngemäß): „‚Ne‘ versteh ich nicht, das müssen Sie schon deutlich sagen.“ Herr Schuster deutlicher: „Nein, will nicht.“ Der kurze Satz bleibt bis zu unserer Abfahrt seine einzige deutliche Äußerung. Pflegekraft (sinngemäß): „Herr Schuster, ich kann nicht nach Ihnen schauen, ich komme erst in zwei Stunden wieder! Wenn Ihnen dann was passiert…“ Die Pflegekraft schildert verschiedene Szenarien (Erbrechen im Bett, Sturz).

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I Dimensionen des Notfalls Notarzt zur Pflegekraft (sinngemäß): „Nimmt er Morphine oder Opiate?“ RA witzelnd: „Ah, willste das jetzt über die Schiene machen?“ Die Pflegekraft verneint die Frage des Notarztes: Keine Einnahme starker Schmerzmittel. Herr Schuster wird nochmals über die möglichen Folgen seiner Entscheidung in Kenntnis gesetzt und unterschreibt anschließend ein Dokument, dass er, „über alle Risiken bis hin zum Tode aufgeklärt“ wurde. Die Pflegekraft unterschreibt als Zeugin. Beim Mittagessen in der Krankenhauskantine treffe ich den Notarzt und die ihn begleitende angehende Notarztkollegin wieder und spreche beide nochmals auf den Einsatz an. Der ältere Notarzt resümiert (sinngemäß): „Das sind die blöd’sten Situationen.“ Er spricht von einem „großen Grenzbereich“, in dem abgewogen und entschieden werden müsse, ob ein Patient zu Hause bleiben dürfe. Die angehende Notärztin spricht sich strikt für eine Überrumpelungstaktik aus. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie Herrn Schusters Widerspruchsmöglichkeiten mit einem Satz wie „Da müssen wir Sie jetzt mal mit ins Krankenhaus nehmen!“ gleich zu Beginn klein gehalten und hätte versucht, jede Diskussion mit dem Patienten zu vermeiden. In einer späteren Unterhaltung, die ich allein mit den Rettungsassistenten führte, erzählen diese, dass viele Notärzte den Patienten mitgenommen hätten. Viele Notärzte seien diesbezüglich sehr unnachgiebig. Im Zweifelsfall würden Medikamente verabreicht werden, die die Mitnahme erleichtern.

Nicht alle Äußerungen und Kommentare, die ich im Zusammenhang mit dem Einsatz notiert habe, lassen sich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen – das ist an dieser Stelle aber auch nicht notwendig. Von soziologischem Interesse ist hier, dass die Beteiligten den Umgang mit den konträren Situationsauffassungen und Erwartungen unterschiedlich adressieren. Für alle Beteiligten, bis auf Herrn Schuster, handelt es sich bei der Situation um einen Notfall, in dem Hilfe geleistet werden soll. Unterschiedliche Strategien werden angewandt oder angedeutet, um Herrn Schuster zur Mitfahrt ins Krankenhaus zu bewegen. Die medizinische Aufklärung und die Szenarien der Pflegekraft zielen dabei auf einen gemeinsamen Konsens. Herr Schuster soll überzeugt werden seine Hilfsbedürftigkeit anerkennen. Er lässt sich aber, anders als die bettlägerige Mutter in der Darstellung zuvor, nicht umstimmen. Der Rettungsassistent bedient sich in der Situation schließlich eines rhetorischen Kniffs und dreht den Spieß gewissermaßen um. Plötzlich sind es die Rettungskräfte, die auf Herrn Schusters „Hilfe“ angewiesen sind, um nicht in „Teufelsküche“ zu kommen. Würde Herr Schuster in seiner Wohnung versterben, hätte dies, so die Darstellung, zwangsläufig ein rechtliches Nachspiel für die Rettungskräfte. Diese müssten dann nachweisen, dass es sich trotz Notrufs der Pflegekraft,

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trotz des Notarzteinsatzes und obwohl Herr Schuster später verstorben sei, objektiv nicht um einen Notfall gehandelt habe. Der Verweis auf ein mögliches Verfahren wird zum moralischen Appell an das Verantwortungsbewusstsein von Herrn Schuster. Das Schicksal der Rettungskräfte liegt nun in seinen Händen. Die angehende Notärztin zielt dagegen nicht auf einen expliziten Konsens über die Situation. Sie setzt auf ihre Autorität als Ärztin, mit der sie alternativlos festzulegen versucht, was als nächstes zu tun ist. Sie formuliert die Behandlungsnotwendigkeit von und gegenüber Herrn Schuster imperativisch und hofft, derart das Risiko eines offenen Dissenses zu verringern. Mit ihrer Ansage, „Da müssen wir Sie jetzt mal mit ins Krankenhaus nehmen!“, will sie performativ Fakten schaffen.52 Ihre Überrumpelungsstrategie stellt darauf ab, den Patientenglauben an die Legitimität der ärztlichen Instruktion auszunutzen, noch bevor sich eine mögliche innere Widerwilligkeit des Patienten zeigen kann. Mit Weber (1972, S. 28) verweist die Strategie der Notärztin auf ein tradiertes Herrschaftsverhältnis. Ärztliche Autorität setzt den gesellschaftlichen Konsens voraus, ein Kranker habe die Bereitschaft zu zeigen, wieder gesund zu werden (Parsons 1970, S. 41). Im Notfall, das hat Metz (1981, S. 145) beobachtet, kommen Patienten der Forderung, ihrer Behandlung nicht selbst im Wege zu stehen und sich kooperativ zu zeigen, manchmal nach, indem sie Bewusstlosigkeit vortäuschen. Ziel des Manövers ist es nicht, den eigenen Krankenstatus zu dramatisieren. Die gespielte Ohnmacht kann eher als Beitrag gewertet werden, denen mit der Rolle des Notfallpatienten zusammenfallenden Verhaltenserwartungen zu entsprechen. Qua gespielter Bewusstlosigkeit willigt der Patient pauschal darin ein, alles zu seiner Rettung Notwendige mit sich machen zu lassen. Legt ein Kranker es dagegen willentlich darauf an, nicht für seine Genesung zu sorgen oder nicht im Sinne seines Wohlergehens zu kooperieren, wird dies – aller verfassungsrechtlich verbrieften Freiheit zur Krankheit zum Trotze (dazu gleich mehr) – als deviantes Verhalten betrachtet. Weil er krank bleiben will, wird der uneinsichtige Patient zum „Abweichler mit kognitiven und evaluativen Fehlleistungen“ (Luhmann 1977, S. 191) und für die Medizin zu einem weiteren Beispiel mangelhafter compliance. Saake geht in ihrem Aufsatz zur Ärztin-Patienten-Interaktion auf die vornehmlich medizinsoziologische Kritik an der ärztlichen Dominanz bzw. am asymmetrischen Gefälle in dieser Beziehung ein. Sie kritisiert, dass die Asymmetrie vor

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Vgl. Lemke (2007, S. 24–28). Diese Strategie ist im Rettungsdienst durchaus gebräuchlich, dies zeigt auch der Einschub eines Rettungsassistenten, der sich ebenfalls mit der Einwilligung des Patienten auseinandersetzt: „Teilweise fragt man es ja auch schwammig, ne? Tendenziell sagt man es einfach nur als Aussage, […] und wir stellen den Patienten das nicht als Frage“ (Feuerwehrmann, 22, Dgroßstadt).

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allem durch den wissenschaftlichen Beobachter artikuliert wird, dabei aber gleichzeitig ihre Funktionalität unterschlagen werde. Die Ärztin verfolge das Ziel, diagnostische und therapeutische Entscheidungen zu treffen, um den Körper des Patienten zu heilen, und werde dafür von dem Patienten angerufen. Dem Patienten falle in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, über seinen Körper Auskunft zu geben, der Ärztin diejenige, den Körper abzuhorchen und den Patienten über seinen Körper zu befragen. Erst ein distanzierter Beobachter beschreibe die medizinische Interaktion kritisch als eine asymmetrische und fordere ihr Austarieren. Als Anschauungsmaterial dient Saake der medizinische Notfall. Dort nämlich, so das Argument, bliebe die Ärztin-Patienten-Interaktion unkritisiert. Das gemeinsame Interesse von Patient und Ärztin, den Körper des Patienten zu retten, liege im Notfall auf der Hand, womit die Asymmetrie hinter dem Behandlungsziel verschwinde. „Der Arzt ist im Moment des Notfalls von diesem Problem […] nicht betroffen, weil die Effekte der Behandlung das Dominanzgebahren unsichtbar werden lassen“ (Saake 2003, S. 431f.). Saakes Argument ist plausibel, aber auch trivial, denn es setzt den Konsens voraus, den die Kritiker in Frage stellen. Zunächst aber unterstreicht ihr Argument einmal mehr, dass Notfallkommunikation und -handlungen von einer Grammatik der Dringlichkeit durchzogen sind, hinter die andere Merkmale zurücktreten: „Der Notfall bzw. die Rede von Leben und Tod scheint jede Art von Begründungsbedürftigkeit zu suspendieren. Asymmetrien sind also nicht per se ein Problem, sondern nur dann, wenn sie begründungsbedürftig werden bzw. wenn genug Zeit bleibt, um sich Reflexion zu erlauben“ (Saake 2003, S. 429, Herv. NE). Diese Feststellung gilt nicht allein für medizinische Interventionen, sondern für jede Form von Rettung. Ob medizinische, technische, polizeiliche oder militärische Rettung, die in ihr angelegte Asymmetrie bleibt unproblematisch – allerdings nur so lange, wie von einer konsentierten Rettung, von gemeinsam geteilten Hilfserwartungen ausgegangen werden kann. Und selbst für den Fall einer konsentierten Rettung finden sich Stimmen, die auf die verbliebenen Handlungsmöglichkeiten von Notfallpatienten hinweisen und die im Sinne der gesundheitsförderlichen psychophysischen Erlebnisverarbeitung und Genesung vor einer nachhaltigen Entmachtung warnen und stattdessen ein verstärktes empowerment von Notfallpatienten einfordern (Elmqvist et al. 2008). Dies kann als medizinischer Therapievorschlag verstanden werden, der die verbliebenen Handlungsmöglichkeiten im Blick hat, die zum Zwecke einer verbesserten Therapie des Patienten genutzt werden wollen, dies kann aber auch als ein politischer Eingriff in das asymmetrische Gefüge begriffen werden.

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Und natürlich treten gerade in Notfällen schwerwiegende Konflikte auf, wenn der Rettungskonsens fehlt: Wird ein Notfall gegen den Willen derjenigen ausgerufen, die es zu retten gilt, verwandelt sich die unproblematische Asymmetrie der Hilfe (die Handlung der Retter wird erlebt) in eine problematische Macht-symmetrie (der Handlung der Retter wird entgegengehandelt). Dies gilt insbesondere für die Etablierung medizinischer Notfälle, in der Ärztin und Polizei eine Zwangsbehandlung und -einweisung wünschen und durchzusetzen versuchen. Saake lässt die der Ärztin zufallende professionelle Definitionsmacht über Krankheit und Notfall, ihre mithin politische Stellung (→ III.1.2) unberücksichtigt. Sie unterstellt a priori einen Behandlungskonsens, der selbst im Notfall nicht vorhanden sein muss. Machtstrukturen scheinen in erster Linie ein Dominanzgefälle vorauszusetzen, basieren aber auf einer symmetrischen Bedingung (Baecker 2009, S. 25–37). Nur dort, wo beide Seiten handeln, also die Chance besteht, eigens zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten zu entscheiden, kann überhaupt von Macht gesprochen werden (Luhmann 1997, S. 336). Machthandeln beinhaltet sowohl die Entscheidung für einen Befehl als auch die Entscheidung des Befehlsempfängers, der Weisung nachzukommen oder sich ihr zu widersetzen. Entscheidungswillkür („Handlungsfreiheit“) findet sich auf Seiten der Machthabenden wie auf Seiten der Beherrschten, selbst dann, oder besser: gerade dann, wenn eine Seite der anderen mit Widerstand droht. Nicht nur muss jede Seite abwägen, welche Entscheidung sie selbst trifft, immer geht es auch um die Frage, welche Entscheidung die andere Seite wohl fällen wird. Diese auf beiden Seiten vorgenommene Einschätzung erfolgt, indem die Rolle des anderen übernommen wird und so die gegenüberliegenden Handlungsmöglichkeiten (Durchsetzungs- bzw. Widerstandsoptionen) antizipiert werden. Auf Basis dieser Erwartungen werden dann die eigenen Handlungsmöglichkeiten (Widerstands- bzw. Durchsetzungsoptionen) kalkuliert. Erst die Beobachtung des Handlungsvollzugs – die eine befiehlt, der andere folgt (schließlich) – vermittelt den Eindruck, es lediglich mit einer asymmetrischen Beziehung zu tun zu haben. Das obige Beispiel, in dem die Notärztin vorschlägt, von ihrer ärztlichen Autorität Gebrauch zu machen, ist so gesehen schwierig einzuordnen. Reagiert Herr Schuster auf das Überrumpelungsmanöver („Da müssen wir Sie jetzt mal mit ins Krankenhaus nehmen!“) wie von der Notärztin geplant, ist kaum zu sagen, ob nun ein Behandlungskonsens vorliegt, für den Herr Schuster sich entschieden hat oder ob dieser Konsens darauf beruht, dass Herr Schuster die Aufforderung bloß verhaltensmäßig hinnimmt. Im ersten Fall würde man von einer machtbasierten Interaktion sprechen, im zweiten Fall nicht. Im ersten Fall hätte Herr Schuster die

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Äußerung der Notärztin bewusst, vielleicht sogar gegen inneren Widerstand akzeptiert und wäre ihrer Anweisung gefolgt, im zweiten Fall hätte Herr Schuster die Aufforderung einfach umgesetzt. Die Notärztin setzt auf eine ambivalente Strategie, denn sie versucht mit ihrem Dominanzgebahren eine Entscheidung des Patienten für oder gegen eine Behandlung auszuschließen. Sie positioniert sich nicht als Befehlsgeberin, sondern als ärztliche Autorität, die im paternalistischen Modus handelt. Der zentrale Unterschied liegt dabei nicht so sehr in der Differenz dieser beiden Figuren (beide entscheiden und handeln), sondern im Entwurf ihres jeweiligen Gegenübers. Während Untergegebene auf Befehl hin handeln (widersetzen eingeschlossen), erleben Notfallpatienten ihre Rettung bzw. Behandlung. Da ihnen keine Entscheidungsmöglichkeiten eingeräumt werden, geraten sie in die Position eines ärztlichen Objekts, mit dem etwas gemacht wird, das sich aber nicht selbstständig für oder gegen die eigene Behandlung positioniert. Die Strategie der Notärztin zielt darauf, dass Herr Schuster sich also nicht dafür entscheidet, ins Krankenhaus zu gehen – denn das würde das Risiko einschließen, dass er sich dagegen entscheiden könnte –, sondern dass er es einfach tut. Sie versucht, eine rein asymmetrische Interaktionskonstellation zu platzieren. Während der Notarzt in der Situation mit dem Patienten verhandelte (reziprokes Entscheidungsmodell) und ihm am Ende die Autonomie zusprach, selbst zu entscheiden, präferiert die Notärztin ein paternalistisches Modell. Als souveräne Fürsorgerin entscheidet sie, was für den Patienten am besten ist (Jäger 2017, S. 93). Als Beobachter lässt sich nicht mehr genau sagen, ob die von der Notärztin bevorzugte Handlungsform noch einer Machthandlung entspricht. Auf der einen Seite antizipiert die Handlungsstrategie der Notärztin die (wenigen) Widerstandsmöglichkeiten, die Herrn Schuster bleiben. So gesehen lässt sich eindeutig von Kommunikation im Medium Macht sprechen. Auf der anderen Seite versucht sie ihre Handlung nicht als Befehl erscheinen zu lassen und Herrn Schuster zu überrumpeln. Sie will den Patienten im Zustand widerspruchslosen Erlebens abholen; er soll nicht frei- oder widerwillig mitkommen, er soll automatisch, willenlos folgen. Sieht man an dieser Stelle vom Aspekt des jede Entscheidungsmöglichkeit tilgenden Überrumpelns ab und beachtet stattdessen, dass die Notärztin mit ihrer Anweisung auf Herrn Schusters Erleben zielt, kann man ihre Handlungsweise auch als „Führung“ bezeichnen und damit als Sonderform machtbasierten Handelns begreifen. Reine Machtkommunikation ist gegenüber dem Erleben der Beteiligten indifferent, Führung bezieht das Erleben bei ihrem Versuch, ein bestimmtes Handeln Alters zu bewirken, dagegen mit ein. „Führung heißt dann, immer so zu handeln, dass ein Erleben anderer so beeindruckt werden kann, dass gewünsch-

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tes Handeln motiviert wird“ (Baecker 2009, S. 41). Als Ressource ihres Führungsanspruchs dient der Notärztin ihre professionelle Autorität. Ihre Strategie ist Ausdruck medizinischer Herrschaft. Das Fallbeispiel zeigt, dass sich – insbesondere dann, wenn die Dringlichkeit eines Notfalls unklar ist – verschiedene Interaktionsmodelle zwischen Ärztin und Patient etablieren können. Einige dieser Modelle setzen auf eine freie Entscheidung des Patienten, welche auf Basis ärztlichen Rats erfolgen soll. Darüber hinaus kann die Ärztin versuchen, den Patient zu einer bestimmten Entscheidung zu überreden. Solche Überzeugungsversuche können darin gipfeln, dass die Ärztin auf den Patienten Druck ausübt, etwa indem sie ihre Enttäuschung über sein Verhalten bekundet oder Behandlungsangebote in eine Konditionalform bringt (nur wenn Sie…, dann…) (Jäger 2017, S. 92). Daneben kann beobachtet werden, dass paternalistische Ärztin-Patienten-Interaktionen in Notfällen gehäuft auftreten. Die dieser Beziehung innewohnende Asymmetrie wird in Notfällen häufig problemlos akzeptiert, da Konsens darüber besteht, dass schnelle Hilfeleistung gefragt ist. Doch der Schritt zur eindeutig machtbasierten Interaktion ist kein großer. Drohungen oder physische Zwangsmaßnahmen setzen auf den offenen Einsatz von Macht. Es kommt zur Rettung wider Willen. (3) Rettung wider Willen Beide Personen bleiben in diesem Fall bei ihrer unterschiedlichen Situationseinschätzung, doch kann eine Person, Ego oder Alter, ihre Situationsdefinition gegen die der anderen durchsetzen und damit ein Handlungsprogramm initialisieren, dem sich der andere widerwillig fügen muss (Weber 1972, S. 28). In diesem Fall soll von einer dissentierten Notsituation gesprochen werden, bei der Hilfe wider Willen gegeben oder empfangen wird. Konsentierten, gemeinsam geteilten Situationsdefinitionen stehen auf Macht basierende, einseitig etablierte Situationsdefinitionen gegenüber (SchulzSchaeffer 2008, 2010). In beiden Fällen hat man es mit einer Notsituation zu tun, die eine liegt im Konsens, die andere im Dissens vor. Unterschiedliche Mittel können eingesetzt werden, um eine Situationsdefinition einseitig zu etablieren. Auf welche Ressourcen ein Akteur dabei zurückgreifen kann, hängt in der Regel davon ab, ob dieser Hilfe sucht oder geben will. Konflikte bahnen sich immer dann an, wenn eine Person zu einer anderen, lautstark oder leise, direkt oder „durch die Blume“, „Nein“ sagt bzw. der andere annimmt, zu ihm sei „Nein“ gesagt und eine Offerte abgelehnt worden (Nollmann 1997). Gerade Notsituationen eignen sich denkbar schlecht zur Konfliktaustragung, denn nach Ansicht eines oder mehrerer Beteiligter ist Hilfe gerade bitter nötig. Der sich ankündigende Konflikt steht dem Wunsch nach dringlicher Ret-

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tung im Wege, auch weil er den Handlungsfokus zunächst einmal verschiebt, indem er den Streit in den Mittelpunkt rückt (Luhmann 1972, S. 62; Kieserling 1999, S. 282). Der Konflikt konterkariert jeden Versuch schneller Hilfe. Gerade in der organisierten Bearbeitung von Notfällen ist der Unwille zum Konflikt auch strukturell eingearbeitet. Die Einsatzhierarchien und Führungskulturen von Rettungsdiensten und Feuerwehren entmutigen offenen Widerspruch (dazu in den folgenden Kapiteln mehr). Kritische Diskussionen werden, wenn überhaupt, dann auf Einsatznachbesprechungen verschoben. Aus nachvollziehbaren Gründen sind Beispiele rar, in denen der hilfsbedürftige Akteur die Definitionsmacht besitzt, eine Notsituation gegen den erklärten Willen möglicher Helfer so zu etablieren, dass Hilfeleistung erzwungen werden kann. Der Hilfsbedürftige verfügt in aller Regel nicht über die Ressourcen, um anderen seinen Willen aufzuzwingen. Die letzte Möglichkeit, die dem ohnmächtigen Akteur jedoch bleibt, ist, seine Not als Mittel einzusetzen. Ein Patient, dem eine Behandlung oder ein Transport durch ein Rettungsteam verwehrt wird, kann nicht nur an das Mitgefühl der Einsatzkräfte appellieren, er kann Handlungsdruck auch durch die Einbeziehung anderer Personen aufbauen. Durch expressive Darstellung ihrer unglücklichen Lage kann die hilflose Person versuchen, Passanten für ihre Sache zu gewinnen, die allein schon durch ihre neugierige Hinwendung zum Geschehen als Normativitätsverstärker wirken und die Einsatzkräfte so zu einer positiven Hilfsentscheidung drängen. Das Brechen des Unwillens zu Helfen gelingt dann über die moralische Macht, die die Ohnmacht dem Hilfesuchenden verleiht. Ein anderes Beispiel nimmt die Situation von Flüchtlingen in den Blick, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. Diesen wird mitunter unterstellt, bewusst hochseeuntaugliche Boote zu benutzen, um die europäischen Küsten- und Grenzwächter zu zwingen, sie von diesen Booten zu retten und aufs europäische Festland zu überführen.53 Ähnlich wie beim Hungerstreik wird das eigene Leben zur verzweifelten Waffe, mittels der das überlegene Gegenüber genötigt werden soll, den eigenen Hilfsbedürfnissen nachzukommen. Solche erzwungenen Notfälle, bei denen die Hilflosen auf die letzten ihnen verbliebenen Mittel zurückgreifen, um Hilfe zu erhalten, setzen auf die Appellmacht des Notleidenden oder – im Falle eines bewussten Herbeiführens der lebensgefährlichen Lage – auf rechtliche Sanktionen, die Dritten drohen, wenn sie nicht eingreifen.54 In der Regel wird bei der machtbasierten Durchsetzung einer Notsituation an eine einseitige Situationsdefinition gedacht, die vom Helfer gegen den Willen des

53 54

Für den Fall vietnamesischer Bootsflüchtlinge in den 1970ern vgl. Ellebrecht (2019b). Für eine Diskussion zum Zusammenhang von Risiko und Mitleid vgl. Aradau (2004).

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zu Rettenden etabliert wird. Carl Schmitt hat diese einseitig vorhandene Befähigung vor allem in der Figur des politischen Souveräns konstitutiv angelegt gesehen. Der Souverän, so schreibt Schmitt, „entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen“ (Schmitt 1996, S. 14). Definitionsmacht und Entscheidungsgewalt über die Mittel zur Gefahrenabwehr konzentrieren sich auf die Person, die genau dadurch souverän wird, weil sie über diese Möglichkeiten verfügt. Die Schmitt’sche Figur gilt als Sinnbild uneingeschränkter (staatlicher) Macht, die sich zum einen in ihrer Exekutivgewalt im Notfall, vor allem aber durch ihre Entscheidungsmacht über das Vorliegen eines Notfalls, zeigt. Mit ihr verbindet sich die Furcht, der Regent könnte in Krisen und unter dem Deckmantel drohender Gefahr, nach eigenen Gutdünken schalten und walten. Der politische Liberalismus bezieht aus dieser Furcht seine Skepsis vor dem Staat.55 Wie auch immer man zur Figur des Souveräns stehen mag, ob man sie als durch rechtliche Schranken zähmbar (Volkmann 2008) oder an ihrer vollen Machtentfaltung letztlich nicht hinderbar begreift (Agamben 2002a), Beispiele für die hoheitliche Etablierung von Notsituation, die dann zur Rettung ohne Einverständnis führen, sind jedenfalls nicht rar. Mediales Aufsehen erregen sie zwar erst dann, wenn Regierungen die widerwillige Rettung von Bewohnern aus Hochwassergebieten anordnen und durchsetzen lassen. Doch auch abseits solcher zu Notstandsgebieten erklärten Katastrophenregionen ereignen sich täglich Hilfeleistungen, die nicht gewollt werden. Auf Basis richterlicher Eilverfügungen oder in dringlichen Fällen auch direkt durch Exekutivorgane (Polizei, Feldjäger, Ordnungsamt) werden Personen dann gegen ihren ausdrücklichen Willen „gerettet“. Eine einseitige Durchsetzung einer Notsituation nimmt etwa das Jugendamt vor, wenn es bei einer akuten Kindeswohlgefährdung die Wegnahme des betroffenen Kindes anordnet – in der Regel gegen den Willen der Eltern und möglicherweise auch gegen den des Kindes (Kozin 2007). Der typische Fall im Rettungsdienst, bei dem wider Willen gerettet wird, stellt der „psychotische Patient“ dar, der für sich selbst oder für andere eine Gefahr darstellt (Tonn et al. 2006). Offiziell entscheidet auch hier die Polizei, ob eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, diese Entscheidung erfolgt jedoch erst auf Grundlage einer notärztlichen Einschätzung (früher gaben sich polizeiliche Einsatzkräfte auch mit der Expertise von Rettungskräften zufrieden; berichtet wurde mir auch, dass in einigen Fällen die Einschätzung von Zivildienstleistenden, die früher häufig als Rettungshelfer oder -sanitäter eingesetzt wurden, ausgereicht hätte).

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Vgl. dies vor dem Hintergrund von Katastrophen durcharbeitend: Dombrowsky (1989, S. 120– 124).

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I Dimensionen des Notfalls

Es wurde gesagt, dass machtbasierte Notfallrettung auf beiden Seiten, auf der der „Retter“ wie auf der der „Betroffenen“, mit Freiheiten zu rechnet hat. Während konsentierte Notfallhilfe oft asymmetrisch ist (paternalistisches Modell), diese Asymmetrie aber unproblematisch und somit unsichtbar bleibt, stellt sich Rettung wider Willen vordergründig zwar als eine asymmetrische Interaktion dar, erweist sich aber als eine soziale Beziehung, in der sich Ego und Alter ihre Handlungsmöglichkeiten einander in Rechnung stellen. In diesem Sinne waren Machtbeziehungen im oberen Abschnitt als symmetrisch charakterisiert worden. Vor diesem Hintergrund ist von Interesse, wie die Handlungsfreiheiten beider Parteien rechtlich gegeneinander reglementiert werden. Wie wird rechtlich gerechtfertigt, eine Person gegen ihren erklärten Willen retten zu dürfen? Einer Rettung wider Willen steht grundsätzlich das „Recht zur Krankheit“ entgegen, welches das Verfassungsgericht und der Bundesgerichtshof seit 1981 in verschiedenen Urteilen gestärkt haben. Dies gilt auch dann, wenn die Verweigerung einer Behandlung lebensgefährlich ist. Denn die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt die Freiheit zur Krankheit und damit das Recht ein, auf Heilung abzielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind (Brosey 2012, S. 10).

Die Freiheit einer Person, Kranksein zu wollen, kann über eine Beurteilung ihrer Zurechnungsfähigkeit beschnitten werden. Beim medizinischen Notfall orientiert sich der Handlungsrahmen von Rettungskräften an der Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit des Notfallpatienten. Ist diese nicht gegeben, eine Behandlung bzw. ein Transport aber aus medizinischer Sicht indiziert, ist die Ärztin rechtlich verpflichtet, dem Patienten zu helfen. Weigert sich der Patient weiterhin, muss die Notärztin z. B. die Polizei hinzuziehen, die Behandlung und Transport dann anordnen und zwangsweise durchsetzen kann (Bahner 2013, S. 144f.). Zwischen der Weigerung des Patienten und einer gewaltförmigen Amtshilfe der Polizei befindet sich – wie es der Notarzt oben formuliert hat – ein „großer Grenzbereich“. Überredungskünste und Überrumpelungsmanöver stellen sanfte Überzeugungsformen dar. Darüber hinaus besteht sowohl hinsichtlich der zu prüfenden Behandlungsund Transportnotwendigkeit als auch hinsichtlich der Entscheidungsfähigkeit des Patienten interpretativer Spielraum. Als Richtschnur lässt sich festhalten, dass ein Patient jedenfalls dann nicht entscheidungsfähig ist, wenn er aufgrund akuter Verletzungen oder Erkrankungen nicht orientiert ist (etwa zur Person, Zeit, Ort). Entscheidungsunfähigkeit liegt in der Regel insbesondere bei Patienten vor, die stark alkoholisiert sind oder unter sonstigem Drogeneinfluss stehen. Entscheidungsunfähig sind auch Patienten nach Suizidversuch, mit Demenz, Schock (etwa durch Fraktur mit Fehlstellung oder

3 Erste Hilfe: Wenn aus Fremden Retter werden (sollen)

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durch riesige Wunde, die genäht werden muss), Kopfverletzungen (Amnesie) oder Hypoglykämie (zentralnervöse Reaktion, Verwirrtheit) (Bahner 2013, S. 144).

Die zitierte „Richtschnur“ legt eine enge Verbindung von Krankheit und Entscheidungsfähigkeit nahe. Die Zwangsläufigkeit, mit der hier bestimmten Notfallpatienten aufgrund ihrer Erkrankung automatisch auch Entscheidungsunfähigkeit attestiert wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Entscheidungsfähigkeit und Erkrankung von der Ärztin unabhängig voneinander festzulegen sind. Körperzustand (bzw. eine medizinisch indizierte Behandlungsbedürftigkeit) und Patientenwille werden im Normalfall voneinander getrennt betrachtet. Gemeinhin darf ein Patient nicht gegen seinen Willen behandelt werden – auch wenn er medizinisch besehen krank ist. Dieser gesellschaftliche und rechtlich sanktionierte Grundkonsens wird im Notfall brüchig. Die Erkrankung begründet bei normabweichendem Verhalten den Zweifel, dass der Patient nicht mehr ‚richtig‘ entscheiden kann. Der Notarzt gerät dann in die Position beurteilen zu müssen, ob der Patient entscheidungsfähig ist. Diese Beurteilung tendiert wiederum dazu, die ‚Gesundheit des Willens‘ eng mit dem körperlichen Zustand des Patienten in Zusammenhang zu bringen, sodass in vielen Fällen Erkrankung und Entscheidungsunfähigkeit des Patienten koinzidieren. Es darf dann im Extremfall (rechtmäßig nur mithilfe autorisierter Institutionen wie der Polizei) gegen den ausdrücklichen Patientenwillen gehandelt werden. Der ausdrückliche Wille ist hier, so die Unterstellung, nicht der eigentliche Wille der Person. Mit dem Körper der Person sei auch sein Wille erkrankt. Der reine Schwächeanfall eines älteren Patienten sperrt sich jedoch gegen eine unproblematische Unterstellung von Zurechnungsunfähigkeit. Für den Notarzt stand in der Situation nicht unumstößlich fest, dass Herr Schuster aufgrund seiner Schwächung unmündig sei, obgleich für ihn ein „Risiko bis hin zum Tode“ bestanden habe. Oder war die Schwächung von Herrn Schuster für den Notarzt entgegen dessen Darstellung doch nicht so erheblich? Offiziell dokumentierter Grund für die Nichtmitnahme war letztlich die Entscheidungsfähigkeit des Patienten – aber ob dies für den Notarzt der eigentliche oder einzige Grund war, den Patienten in seiner Wohnung zu belassen, ist abschließend nicht zu klären. Anhand der Äußerungen der übrigen Rettungskräfte kann vermutet werden, dass andere Notärzte durchaus anders entschieden hätten. In der Praxis bestimmt auch die innere Haltung und das Wertesystem der Rettungskräfte, wie es um die Zurechnungsfähigkeit einer Person bestellt ist (Brosey 2012, S. 11). Die Willkür der Entscheidung, also die Chance, dass sie auch hätte anders ausfallen können, ist hier im Rückblick der begleitenden Notärztin gut erkennbar.

68

I Dimensionen des Notfalls

Tabelle I.2: Notsituation im Konsens und Dissens

Notsituation

Keine Notsituation

im Konsens

Rettung

keine Hilfe, ggf. Hilfeabbruch

im Dissens (auf Macht basierende Situationsdefinition)

Rettung wider Willen

abgewiesenes Rettungsersuchen*

* Dies kann zur Beschuldigung „unterlassener Hilfeleistung“ führen und nachträglich zur rechtlichen Feststellung eines Notfalls.

Auf die Möglichkeit, eine Situationsdefinition gegen den Willen des zu Rettenden durchzusetzen, verweist auch die Frage zur Einnahme oder Verabreichung von Morphinen oder anderen Analgetika. Die Erkundigung des Rettungsassistenten, ob der Notarzt es nun auf „die Schiene“ machen wolle, verdeutlicht, dass sich mit einer positiven Bestätigung auch der Interaktionsmodus ändern könnte. Wie beim unter Drogeneinfluss stehenden Patienten wird die Einnahme starker Schmerzmittel als ein Beleg für eine mangelnde Entscheidungsfähigkeit des Notfallpatienten gewertet. Ein positiver Nachweis würde den legalen Weg für eine Zwangsbehandlung ebnen. Auf eine noch wesentlich drastischere Variante deutet der spätere Kommentar der Rettungsassistenten hin, einige Notärzte hätten in ähnlichen Fällen eine Entscheidungsunfähigkeit oder Folgsamkeit medikamentös herbeigeführt. Inwieweit diese Aussage tatsächlich eine gängige Praxis beschreibt, kann hier nicht verifiziert werden. Die Umstände des Gebrauchs von Analgetika im Rahmen von Notfalleinsätzen bedürfen weiterer Untersuchungen. In der sozialen Dimension verhandelt sich die Einstimmigkeit, ob eine Notsituation vorliegt. Es geht hier um die geteilte Erwartung dringender Hilfe. Abschließend können Konsens bzw. Dissens über die Situation kreuztabuliert und vier Fälle schematisch unterschieden werden. Eine Notsituation kann im Konsens (Tabelle I.2, Quadrant 1) oder im Dissens (Quadrant 3) bestehen. Letzteres tritt im Zusammenhang mit machtbasierten Situationsdefinition auf. Eine Situationsdefinition kann sich nur gegen den Willen anderer durchsetzen, wenn eine Partei in der Lage ist, das Interaktionsthema einseitig und wirksam festlegen zu können. Ebenfalls kann das Nichtvorliegen einer Notsituation konsentiert (Quadrant 2) oder dissentiert (Quadrant 4) sein.

4 Zusammenfassung: Soziologische Aspekte des Notfalls

4

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Zusammenfassung: Soziologische Aspekte des Notfalls

Im vorliegenden Kapitel wurde der Notfall als eine Situation gefasst, in der es thematisch um eine evidente Gefahr und deren Abwehrmöglichkeiten geht (Sachdimension). Da die Abwehrmaßnahmen möglichst schnell ergriffen werden müssen, flaggen Handeln und Kommunikation Dringlichkeit aus (Zeitdimension). Dringlichkeit bedeutet im Notfall ein stetiges Schwinden der Reversibilitätschancen. Aus dieser Erwartung heraus resultiert die für Notfälle typische Eile und Ruhelosigkeit, die sich etwa im Kommunikationsstil (kurz, prägnant, laut, schrill etc.) und im Verhalten der Anwesenden und zur Hilfe Eilenden erkennen lässt. Die unterschiedliche Auffassung über eine Situation ist in der Sozialdimension zu beobachten. Unter den Anwesenden kann Konsens oder Dissens darüber herrschen, ob es sich um eine evidente Gefahr handelt oder nicht, ob also ein Notfall vorliegt oder nicht. Doch selbst wenn keine Übereinstimmung über die Art der Situation vorliegt, kann eine Definition gegen den Willen anderer Anwesender durchgesetzt werden. Der Notfall im Dissens kann dann in einer aufgezwungenen Rettung gipfeln. Doch unabhängig ob gegen den Willen oder im Einklang mit den Betroffenen: Kein Notfall kommt ohne die Erwartung aus, Rettung sei noch möglich. Jeder Notfall wird von der Grunderwartung getragen, dass Rettung möglich ist. Es reicht also nicht, dass über die Evidenz einer Gefahr Einigkeit besteht; selbst der Konsens, dass schnell etwas passieren müsse, um die Gefahr noch abzuwenden, macht noch keinen Notfall. Jeder Konsens über Evidenz und Dringlichkeit ist bedeutungslos, wenn Rettung zwar gewünscht, aber nicht mehr erhofft wird. Es ist also dieser eigentümliche Antagonismus von Gefahrenevidenz und Kontingenzhoffnung, der den Notfall auszeichnet. Er bildet die ideale Voraussetzung für die Herausbildung von Ausnahmeregeln, die gewöhnlich geltende Verbote außer Kraft setzen. Verständlicherweise ist es gerade die exzeptionelle Normsuspendierung, die das Interesse am Notfall bestimmt. Es bleibt für das Vorliegen eines Notfalls jedoch irrelevant, ob geltende Konventionen ausnahmsweise übertreten werden dürfen oder aber die Rettungsmaßnahmen den Bereich gewöhnlich geltender Regeln nicht verlassen. Dies unterscheidet denn auch den juristischen Notstand vom soziologischen Notfallkonzept. Während das Recht immer schon die Rechtmäßigkeit eines Regelübertritts im Blick hat und diese beurteilt, beobachtet die Soziologie wie Evidenz- und Kontingenzannahmen zueinander in Beziehung gesetzt werden und die Situation Notfall ergeben. So gefasst, können Notfälle einerseits von Katastrophen, andererseits von Szenarien abgegrenzt werden, was nicht heißt, dass das, was für den einen ein Notfall ist, für jemand anderes nicht gleichzeitig eine entsetzliche Katastrophe und für dritte ein Schreckensszenario sein kann (es ist aber unwahrscheinlich, dass alle

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I Dimensionen des Notfalls

drei Sichtweisen zugleich auftreten). Handelt es sich für jemanden um eine Katastrophe, so birgt die Situation keine Hoffnung mehr. Jegliche Erwartung auf Rettung ist vernichtet. Dagegen zweifeln diejenigen, die nicht einen Notfall, sondern ein Szenario, eine Möglichkeit unter vielen sehen, an der Evidenz der Gefahr. Für sie ist der Schadenseintritt, ließe man die Dinge laufen, nicht zwingend, es könnte auch ganz anders kommen. Ihr Votum für ein Mehr an Kontingenzbewusstsein ist mit einem starken Vorbehalt gegenüber den Gebrauch unkonventioneller Maßnahmen verknüpft. Man kann dafür plädieren, dass Hilfe, die nicht von beiden Seiten, den Hilfsbedürftigen wie den Helfern, gewollt wird, nicht mehr im engeren Sinne als Hilfe begriffen werden kann (Baecker 1994, S. 35). Die Grundannahme lautet dann, dass Hilfe eine Handlung bzw. Kommunikation ist, die ein Einvernehmen voraussetzt. Diese Sichtweise mag mit Blick auf das weite Feld sozialpädagogischer Hilfsangebote plausibel sein, denn hier wird Hilfe typischerweise als etwas gedacht, dass kaum Sinn macht, wenn der Klient keine Bereitschaft zeigt, Hilfe anzunehmen. Versteht man Hilfe sowie auch Macht als Kommunikationsmedien, so dient es auch der theoretischen Klarheit, beide Handlungsformen eindeutig voneinander abzugrenzen. Spätestens aber im empirischen Fall verschwimmen die Konturen, wie gezeigt, ineinander. Im Sinne eines mikrosoziologischen Zugangs zum Notfall ist es sinnvoll, die erfolgreiche Etablierung einer Situation als Notfall zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen und dann zu untersuchen, auf welchem Wege diese erfolgte. Im Falle von Konsens kann dies in der Sprache der Hilfe geschehen sein, im Falle einer dissentierten Etablierung kann sie machtbasiert erfolgt sein. Das Zusammenspiel beteiligter Kommunikationsformen – neben Macht und Hilfe auch Medizin und Recht – muss genau betrachtet werden. Dieses Kapitel soll derartigen Untersuchungen als Grundlage dienen. Der Notfall wurde in diesem Kapitel als Situation gefasst. Damit gelang es einmal für das Ereignishafte eines Notfalls offenzubleiben und ihn zweitens als eine Interaktion begreifen zu können, für die bestimmte Erwartungen und Erwartungskonflikte typisch sind. Ereignis ist der Notfall vor allem dort, wo sein diskontinuierliches, plötzliches und außergewöhnliches Auftreten und sein unkontrollierbarer, eben ereignishafter Ablauf erlebt und betont werden. Die Dinge überschlagen sich, plötzlich, ohne Vorwarnung. Als Ereignis besitzt der Notfall affizierende Qualität: man steht unter Strom oder fühlt sich wie gelähmt, man ist hellwach (aber gleichzeitig starr vor Schreck), aufgeregt bis panisch; der Körper kann sich dem Geschehen nicht entziehen, schüttet Adrenalin aus, lässt den Puls in die Höhe schnellen, die Pupillen vergrößern sich. Das Ereignis zieht in seinen Bann und brennt sich ins Gedächtnis ein: es bleibt in Erinnerung und erhält narrativen Wert. Von ihm wird nicht unbedingt so berichtet, wie es sich tatsächlich verhielt,

4 Zusammenfassung: Soziologische Aspekte des Notfalls

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aber es wird berichtet, immer und immer wieder, sei es von den unmittelbar Betroffenen selbst, durch Einsatzkräfte oder in den Nachrichten. Dabei folgt die Ereigniswiedergabe bestimmten Erzählformen und nutzt bestimmte stilistische Mittel. Die Berichterstattung über das Ereignis erfolgt aber nicht nur verbal und medial, ihre Wiederholung findet auch in den Köpfen statt. Nacht für Nacht aktualisiert sich das Geschehen in Albträumen. Das Erlebte macht durch seine Erinnerung und Nachwirkungen krank, die Bilder lassen nicht los, beherrschen die Gedanken, belasten den Körper posttraumatisch. Als Interaktion stellt sich der Notfall als Schauplatz verschiedener Anwesender dar. Im Mittelpunkt stehen Betroffene und (Erst)Helfer, daneben finden sich typisch Angehörige/Bekannte und Publikum. Sie alle haben an der Situation teil und verhalten sich in irgendeiner Form zur Hilfserwartung. Im Extremfall wird entweder beherzt eingegriffen (Handeln) oder aber gebannt zugeschaut (Erleben). Das Verhalten aller Anwesenden wird innerhalb des zwischen diesen beiden Polen aufgespannten Kontinuums beobachtet und beurteilt. Es ist dann, auf der einen Seite, heldenhaft, unerschrocken, altruistisch, intuitiv, tröstend etc., oder, auf der Seite des Erlebens, verzweifelnd, stumm, wie gelähmt, gaffend, staunend, nonresponding. Die gegenwärtige Routinelösung, die in etwa in der Mitte dieses Kontinuums placiert ist, besteht darin, den Notruf zu betätigen und Hilfe zu erbitten. Die von einem selbst geforderte Intervention wird umgeleitet auf diejenigen, die für diese Situation als zuständig und für fachlich qualifiziert erachtet werden. Im Moment der telekommunikativen Anforderung organisierter Hilfe bekommt es der Notfall mit Strukturen zu tun, die auf ihn abgestimmt sind. Rettungsorganisationen, so lässt sich mit Blick auf die Diskussion im nächsten Kapitel formulieren, stellen Komplexität zur Verfügung, die dem Aufbau und der Durchführung von Rettungsmaßnahmen dient. Der Notfall wird von seiner Ereignishaftigkeit entlastet und zu einem Fall erhoben, der bestimmten Regeln gehorcht und nach bestimmten Regeln bearbeitbar ist. Er existiert nicht mehr nur in Wahrnehmung und Kommunikation der Anwesenden. Er ist nun ein organisierter Sachverhalt, eine Entscheidung, an die weitere Entscheidungen anschließen werden. Mit dem Eintreffen der Rettungskräfte wird aus einer Situation Erster Hilfe eine organisational gerahmte Interaktion, die Probleme löst, aber auch neue einführt.

II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Mit dem Übergang von Interaktionen zu Organisationen geht ein Wechsel der Systemebene einher. Während Interaktionssysteme reflexive Wahrnehmung und Kommunikation unter Anwesenden voraussetzen, sind die Elemente organisierter Systeme Entscheidungen (Luhmann 1981b, 2000; Kühl 2011). Auch in organisierten Sozialsystemen schließt Kommunikation an Kommunikation (bzw. Handlung an Handlung) an, diese setzt aber nicht Anwesenheit voraus, sondern vergangene Entscheidungen, an die aktuelle Entscheidungen anknüpfen, um wiederum zukünftige Entscheidungen zu ermöglichen. Organisationen beobachten sich und ihre Umwelt ausschließlich in Form ihrer Entscheidungen. Sie können „Realität nur als Korrelat ihrer eigenen Entscheidungen sehen“ (Kieserling 1999, S. 332). Dass Organisationssysteme nicht auch durch Prozesse reflexiver Wahrnehmung ausgezeichnet sind und ausschließlich auf Entscheidungskommunikation aufsetzen, weist auf ihre, verglichen mit Interaktionssystemen, größere Distanz zur natürlichen Umwelt hin. Interaktionen lassen sich rasch durch ihre psychische, organische und materiale Umwelt irritieren. Die blutige Platzwunde eines Anwesenden kann kaum unthematisiert bleiben. Umgekehrt können Interaktionen stärker als andere Systemtypen ihre außersoziale Umwelt „beanspruchen und aktivieren“, „vor allem die psychischen und die körperlichen Fähigkeiten der Menschen“ (Luhmann 1987, S. 553). Der an dieser Stelle wesentliche Unterschied zwischen Interaktionen und Organisationen ist nun, dass jene darüber verhandeln, gar streiten können, ob ein Notfall vorliegt, Organisationen müssen und können dies nur entscheiden. Anders als in Interaktionen, können Organisationen für diese Entscheidung Strukturen (Programme, Mitarbeiter) vorhalten, die relativ eng vorgeben, unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Auch nachträglich kann entschieden werden, dass ein Notfall vorgelegen hatte und so ein bereits vergangener Notfall in das Bewusstsein der Organisation gehoben werden. Mit Blick auf Notfälle ist eine weitere Differenz von Interaktion und Organisation zu betonen. Interaktionen sind zu unterkomplex, um über sich selbst als System zu reflektieren (Luhmann 1972); sie sind keine mitgliedschaftsbewussten Systeme (Kühl 2015). Da eine Interaktion im Gegensatz zur Gruppe oder zur Organisation kein Wir-Bewusstsein besitzt, kann sie niemals als Ganzes von einem Notfall betroffen sein; es können immer nur ein Anwesender, mehrere oder alle Anwesende in Gefahr schweben, aber immer nur als einzelne Personen, nie als ein ganzer Zusammenhang. Droht dagegen einer Gruppe oder einer Organisation © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0_3

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Schaden, betrifft dies stets das System als eine sich selbst von der Umwelt abgrenzende Einheit. Für Organisationen bedeutet das, dass sie vor allem dann in Not geraten, wenn ihre Zwecke, die für die eigene Identität oftmals prägend sind, plötzlich und unmittelbar gefährdet sind (Luhmann 1968, S. 224f.). Der Herzinfarkt eines Mitarbeiters am Arbeitsplatz ist daher zwar ein Notfall, aber keiner, der die Organisation als Organisation betrifft – auch wenn die Organisation sich offiziell betroffen zeigt und Vorgesetzte Blumensträuße und Genesungswünsche senden. Unter den Bedingungen von Unsicherheit ist die Organisation, verstanden als ein permanenter Entscheidungsprozessor, die zentrale Sicherheitsgarantin moderner Gesellschaften (Luhmann 2000, S. 167).56 Ihre Entscheidungen stiften Sicherheit, sie schaffen Definitives. Organisationen legen etwa fest, dass ein Notfall vorliegt und bieten damit, unabhängig ob man mit jeder Entscheidung übereinstimmt, einen festen ontologischen Bezugsrahmen. Entscheidungen stiften schon deswegen Sicherheit, weil mit ihnen die Übernahme eines Risikos kommuniziert wird. Irgendjemand trägt die Verantwortung der Entscheidung (Luhmann 1964, S. 174f.). Gleichzeitig provozieren Entscheidungen wiederum neue Unsicherheiten, da sie eine neue Ausgangslage schaffen, die neue Entscheidungen erfordert: Wer muss im Fall eines Notfalls informiert werden, wie lautet das Notfallprozedere, was ist zuerst zu tun? Anders als Interaktionen können Organisationen aufgrund ihrer größeren Umweltdistanz Dringlichkeit nicht an Anwesenden wahrnehmen, z. B. am expressiven Stil eines Mitglieds ablesen. Um auf die Ebene der Organisation durchzuschlagen, muss Dringlichkeit als zeitliche Bedingung der Möglichkeit von Entscheidungen

56

Für Luhmann ist der unsicherheitsabsorbierende Effekt von Entscheidungen ihrem Zeitbezug zu verdanken. Organisationen arbeiten in der Regel mit Blick auf eine Zukunft, die in der modernen Gesellschaft offen und gestaltbar geworden ist. Mit ihren Zwecken widmen sich Organisationen der planmäßigen Herstellung einer bestimmten Zukunft. Sie mögen an ihren Zielen noch so oft scheitern, trotzdem bleiben Organisationen stur und verfolgen ihre Zwecke weiter, als ob diese, obgleich in der Zukunft liegend, fix und vorherbestimmt sind (Martens und Ortmann 2006, S. 429f.; Baecker 2000, S. 100). Auf der anderen Seite behandeln Organisationen ihre Vergangenheit als ein Reservoir für unterschiedlich denkbare, stets veränderbare und im Sinne der gesetzten Zwecke sinnvolle Anschlussmöglichkeiten. Jede Entscheidung gebraucht die Zeithorizonte in dem beschriebenen Sinne, denn sie „postuliert, dass sie durch die Vergangenheit nicht festgelegt ist und deshalb die Zukunft festlegen muss.“ Sie kehrt also das herrschende Zeitverständnis, in denen Vergangenes festgelegt, Zukunft unbestimmt ist, einfach um. „Auf der einen Seite wird die Bindung an die Vergangenheit gelockert dadurch, dass das, was als Resultat der Geschichte vorliegt, als offene Alternative, als Wahlmöglichkeit rekonstruiert wird. Das erzeugt den Eindruck, dass mit der Entscheidung eine neue Geschichte beginnt. […] Auf der anderen Seite müssen die entscheidungsrelevanten Möglichkeiten der Zukunft eingeschränkt werden, sehr typisch in der Form der Festlegung von Zwecken, aber auch durch die Vorstellung begrenzter Risiken und bestimmter Gefahren. In die Vergangenheit muss also Zukunft, in die Zukunft Vergangenheit eingeführt werden“ (Luhmann 2000, S. 166).

II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

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auftreten. Dringlichkeit, also Absinken von Reversibilitätschancen, nimmt in Organisation die Form von Fristen und Prioritäten an (Eilt!) (Luhmann 1971a). Dagegen sind Termindruck, Stress oder nervöse Zuckungen Symptome, die zwar durch Organisationen befördert, die aber vor allem interaktionale, psychische oder physiologische Systeme zu spüren bekommen (Vollmer 2015). Der zentrale Unterschied zwischen einer auf Notfälle spezialisierten Organisation und einer Organisation in Not ist die Referenz des Notfalls. Der Notfall begegnet Feuerwehren und Rettungsdiensten als ein fremdes Ereignis. Es ist der Notfall eines anderen; der Schaden droht jemandem oder etwas in ihrer Umwelt, nicht ihnen selbst. Typisch ist nun, dass Notfallorganisationen dem extern verorteten Notfall nicht indifferent gegenüber bleiben. Sie machen ihn zu ihrer Sache, lassen sich durch seine Meldung reizen, auf den Plan rufen und mit dem Ziel in ihn hineinziehen, die Gefahr aus der Welt zu schaffen. Wenn es der übergeordnete Zweck von Notfallorganisation ist, Notfälle zu bearbeiten, dann distanziert sie dies zur Art der Notfallbearbeitung, wie sie in Interaktionssystemen erfolgt. Denn durch die Zwecksetzung wird Rettung a) zu einem abstrakten Ziel, das b) durch Planung in diverse Unterzwecke und Programme zerlegt wird, wobei wiederum unterschiedlichste Folgen Berücksichtigung erfahren können (Kosten, Anfahrtsrisiken, Eigengefährdung, durch die Rettung erst entstehende, aber gebilligte Schäden, parallel stattfindende Einsätze etc.) (Luhmann 1968, S. 110f.). Für Notfallorganisationen ist Notfallbearbeitung damit etwas anderes, als sie es für Interaktionssysteme ist, welche für die elementare Dringlichkeit und das Unmittelbare der Situation sensibler sind. Diese zentrale Differenz wird uns in unterschiedlichen Formen noch wiederholt begegnen. Den häufig zu vernehmenden Vorwurf, eine Organisation sei nicht ausreichend auf Notfälle vorbereitet, kann man Rettungsorganisationen zunächst nicht machen. Ihr Personal, ihre Kommunikationsstrukturen und ihre Programme sind auf die Bearbeitung von Notfällen eingerichtet. Um den Dringlichkeitsansprüchen gerecht zu werden, ist das organisationale Kommunikationsnetz in der Regel stark zentralisiert (Moynihan 2009, S. 898) und auf Entscheidungsschnelligkeit hin ausgelegt (LaPorte und Consolini 1991, S. 33f.).57 Darüber hinaus besitzen Notfallorganisationen genaue formale Regelungen, allgemeine Vorgehensmodelle aber auch spezielle Sonderprogramme, um für Notfälle gewappnet zu sein (LaPorte und

57

Der frühe Luhmann fordert diese Zentralisierung auch für normale, nicht auf Notfälle spezialisierte Organisationen. Ganz Carl Schmitts folgend schreibt er: „Unter dem Druck der Situation muß dann [= im Notfall, NE] freilich rasch und auf Grund weitreichender Vollmachten gehandelt werden können. Der Rhythmus von Routine und Krise setzt eine Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen voraus und wird pathologisch dort, wo sie – z. B. infolge des Gewaltenteilungsprinzips – nicht gegeben ist“ (Luhmann 1968, S. 225).

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Consolini 1991, S. 34f.; Grothe-Hammer und Berthod 2017). Bevor ich mich diesen Charakteristika von Notfallorganisationen zuwende, eine letzte Bemerkung zur Möglichkeit, dass die für Notfallorganisationen typische Referenz des Notfalls umschlagen kann. Ein fremder Notfall besitzt immer das Potenzial zu einem eigenen Notfall zu werden. Aus der auf Notfälle spezialisierten Organisation wird dann eine Organisation in Not. Droht etwa eine Rettungsorganisation sich das absehbare Scheitern eines Einsatzes selbst zurechnen zu müssen, wird der einst ausschließlich fremdreferenzierte Notfall plötzlich zu einem Ereignis, von dem die Organisation selbst betroffen ist. Auch die Notfallorganisation befindet sich nun in Not – es geht nun um nichts weniger als ihre Existenzberechtigung. Es wird dann nicht mehr nur um das Leben der Klientin gekämpft, es geht nun plötzlich auch darum, die konkrete Gefahr organisatorischen Versagens abzuwenden. Rettung ist für Rettungsorganisationen nicht nur ein Zweck neben anderen, Rettung ist zugleich die Leistung, die die Gesellschaft von ihnen erwartet und einfordert – und genau darin liegt die Gefahr für Notfallorganisationen. In dem Moment, in dem Rettung nicht gewährleistet oder vollbracht werden kann, steht die Organisation prinzipiell immer vor einem Legitimitationsproblem. Sie hat dann zu erklären, warum ihr die Rettung nicht gelungen ist. Angesichts der hohen Anzahl von Einsätzen, in denen „wir nichts mehr tun konnten“, müsste es eigentlich verblüffen, dass die Kompetenzen von Rettungsorganisationen nicht permanent angezweifelt werden. Rettungsorganisationen bleiben jedoch von legitimitätskritischen Folgen ihres Versagens in der Regel verschont, da ihnen die Gründe ihres Scheiterns nicht zugerechnet werden. Der Einsatz blieb erfolglos, weil äußere Bedingungen (die Verletzungsschwere, das hohe Alter des Patienten, das bereits in Gänze in Flammen stehende Gebäude) keine erfolgreiche Intervention mehr erlaubten. Es war zu spät. Man kann darüber spekulieren, ob diese konventionelle Externalisierung der Erfolglosigkeitsgründe auch dazu führt, dass Rettungsorganisationen selten öffentlich mit Einsatzfehlern konfrontiert werden. Unterstützung findet die Fremdattribution der Scheiternsgründe durch den, wie ich es am Ende dieser Arbeit nenne, Nebel des Notfalls (→ IV.4), dadurch also, dass es für Außenstehende grundsätzlich schwierig ist, Fehler im Einsatzmanagement zu identifizieren. Wenn überhaupt, dann zielen Klagen auf zu lange Eintreffzeiten, denn diese sind einfach zu messen und mit gesetzlichen Vorgaben zu vergleichen; oder sie gelten abgelehnten Notrufen oder riskanten Einsatzfahrten, aber eben in der Regel nicht der notfallmedizinischen Erstdiagnose, der Dosierung von Medikamenten, der Zusammenstellung von Einsatzeinheiten oder der Wahl des Druckschlauchs. In der Regel bleiben die Entscheidungshintergründe, ja sogar selbst die konkreten Rettungs-

II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

77

handlungen, für Zuschauer und Betroffene uneinsehbar. Umgekehrt ist das übrigens teilweise anders: Notarzteinsatzprotokolle halten z. B. fest, ob die durch Laien ergriffenen Ersthilfemaßnahmen „suffizient“ oder „insuffizient“ waren (DIVI-Notarzteinsatzprotokoll 5.1). Das vorliegende Kapitel ist zweigeteilt. Der erste Teil behandelt die Problemstellung von Notfallorganisation und welche Lösungsstrukturen sie für diese entwickelt haben und vorhalten. Der zweite Teil widmet sich den Folgen, die diese Strukturen neben ihren eigentlichen Funktionen außerdem haben. Um Notfälle rasch feststellen und schnell auf sie reagieren zu können, haben Notfallorganisationen verschiedene Institutionen und Kompetenzen ausgebildet. Leitstellen filtern aus dem täglichen Strom aus Anrufen echte Notfälle heraus und leiten diese positiv entschiedenen Anfragen intern weiter (→ 1.1). Trotzdem gehören unechte Notfälle, Fehlalarme und Übungen zur täglichen Realität von Notfallorganisationen (→ 1.2). Rettungskräfte halten sich für ihren Einsatz im Bereitschaftsmodus (→ 1.3) und Sonderrechte ermöglichen und verpflichten ausrückende Einheiten auf eine schnelle Ankunft am Schadensort (→ 1.4). Ich argumentiere, dass ein zentrales Merkmal von Notfallorganisationen weniger in einer strikten Trennung denn in einer Verschachtelung vorbereitender und operativer Tätigkeiten zu sehen ist (→ 1.5). Abschließend wird die mechanische Natur von Einsatzstrukturen am Beispiel der organisatorischen Subsysteme Stab und Trupp dargestellt und vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten von Flexibilität diskutiert (→ 1.6). Zu Beginn des nächsten Abschnitts veranschaulicht ein ethnografischer Bericht die Diskrepanz zwischen fehlender und vorhandener Einsatzroutine (→ 2.1). Anschließend greife ich auf Beispiele aus dem Bericht zurück, um zu klären, was Routine ist. Es ist zentral zwischen formalen Einsatzroutinen (Musterlösungen) und Einsatzroutine (Erfahrung) zu unterscheiden (→ 2.2). Routinen wie Routine weisen zwei typische Folgeprobleme auf: sie führen zu Normalerwartungen, machen blind gegenüber Abweichungen (→ 2.3) und erhöhen das Risiko taktlosen Verhaltens (→ 2.4). Als eine dritte Folge stelle ich die widersprüchlichen Erwartungen im Rahmen von Einsätzen vor, in denen Fremdhilfe und Eigengefährdung gegeneinander abgewogen werden sollen (→ 2.5). Zum Abschluss fasse ich die Folgen organisierter Rettung zusammen und weise auf weitere hin (→ 3).

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

1

Regelmäßigkeit des Plötzlichen: die Organisation des Notfalls

1.1

Entscheiden über den Notfall: Leitstellen als misstrauische Filter

Für Organisationen, die wie Feuerwehren, Rettungsdienste, Polizeien oder auch Bergwacht und Seenotrettung auf Notfallrettung spezialisiert sind, stellt sich der Umgang mit Notfällen auf den ersten Blick nicht grundsätzlich anders dar als für solche Organisationen, die von Notfällen selbst betroffen sind. Ebenso wie diese müssen auch Rettungsorganisationen entscheiden, dass ein Notfall vorliegt. Da dies jedoch kontinuierlich geschieht, haben sie für diese Tätigkeit Spezialeinrichtungen ausdifferenziert: Leitstellen nehmen Notrufe entgegen und entscheiden darüber, ob es sich bei dem Hilfeersuchen um einen Notfall handelt oder nicht. Tabelle II.1: Einsatzahlen des Rettungsdienstes Berlin (2001), nach Poloczek 2002.

Alarmierungsgrund

Anzahl

% aller Alarme

Hilflose Person/Person in Notlage

77.087

46,6

Verletzte Person

43.176

26,1

Heftiger Brustschmerz

11.948

7,2

Akute Atemnot

9.505

5,8

Plötzlich Bewusstlos

6.851

4,1

Geburtshilfe

4.295

2,6

Verkehrsunfall

3.038

1,8

Schock

2.710

1,6

Unfall in Wohnung

2.169

1,3

Schwere Verletzung

1.498

0,9

Sonstiges

2.993

1,8

Verglichen mit unternehmerisch ausgerichteten Notdiensten setzt die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes, der Feuerwehr oder der Polizei keine vorherige kostenpflichtige Mitgliedschaft (wie beim Pannendienst des ADAC) und auch keine vertragliche Dienstleistungsvereinbarung voraus (Klempner-Notdienst, IT-

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Notfall-Service, Schlüsseldienst) (Whalen et al. 1988, S. 346). Derartige Unternehmen richten ihr Dienstleistungsangebot zwar an Notlagen ihrer Umwelt aus, verifizieren aber kaum, ob es sich im Einzelfall um einen echten oder um einen falschen Notfall handelt. Für ihre Aktivierung ist die Zahlungsfähigkeit des hilfesuchenden Kunden und die aktuelle Auslastung entscheidend. Leistungsbewilligungen durch Rettungsleitstellen erfolgen dagegen auf anderem Wege. Da es für die Gewährung von Rettungsmaßnahmen durch die Leitstelle unerheblich ist, ob die Notrufende Mitglied einer Feuerwehr oder des Deutschen Roten Kreuzes ist oder ob sie über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, den Feuerwehreinsatz zu bezahlen, verlagert sich die Einsatzbedingung auf die Einschätzung des Disponenten, ob es sich um einen echten Notfall handelt. Dies muss von der Anruferin überzeugend dargestellt werden, wobei vorerst dahingestellt sei, ob ein Hilfeersuchen Überzeugungskraft über die sachliche Präsentation von Fakten, über seine schlüssige Gesamtdarstellung, über eine besonders engagierte Darbietung oder anderweitig gewinnt. Leitstellen operieren als den Einsatzorganisationen vorgeschaltete Filter, die eingehende Anrufe sachlich bearbeiten und selektiv Leistungen gewähren (Tacke 1997, S. 23f.). Als Grenzstelle schirmt die Leitstelle die Organisation von Anforderungen aus der Umwelt ab (Hughes 1971, S. 346). Da sie hochgradig offen und ohne Schwierigkeiten erreichbar ist, ist sie konstitutiv mit Misstrauen ausgestattet (Garcia und Parmer 1999). Neben der Aufgabe, einen eingehenden Notruf mit den notwendigen Informationen an die richtigen Stellen weiterzuleiten, erfüllt die Leitstellendisponentin die Funktion, zwischen echten und falschen Notfällen zu unterscheiden und ein Hilfeersuchen gegebenenfalls abzulehnen. Sie unternimmt zu diesem Zweck eine „Wahrheitsprüfung“ (Bergmann 1993, S. 302–306). Bei banalen Problemen oder einem Kinderstreich ist es ihre Aufgabe die Unzuständigkeit der Organisation zu erklären oder diese zu wahren, indem telefonisch Hilfe zur Selbsthilfe (etwa: bei einer bekannten Epilepsie) gegeben wird. Wird das Misstrauen der Disponentin dagegen enttäuscht, wird der Fall nach bestimmten Vorgaben gerastert. Das Hilfeersuchen wird in ein Einsatzstichwort übersetzt (→ Tabelle II.1), seine Dringlichkeit wird festgelegt und schließlich werden die in der Alarm und Ausrückeordnung (AAO) hinterlegten Einheiten alarmiert. Wird Rettung organisatorisch vorgehalten und über den Notruf anwählbar, wird sie nicht mehr „durch den Anblick der Not, sondern durch einen Vergleich von Tatbestand und Programm ausgelöst“ (Luhmann 1975, S. 143). Leitlinien klären, ob jemand Hilfebedürftig ist oder nicht. Werden z. B. bestimmte Stichwörter durch den Anrufer genannt, löst dies entsprechende Prozeduren aus. Bei einer „akuten Atemnot“ oder einer „plötzlichen Bewusstlosigkeit“ wird beispielsweise neben dem Rettungsdienst zusätzlich auch eine Notärztin alarmiert. Die starke

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Formalisierung der Entscheidungsrichtlinien, die bestimmte Rettungsmaßnahmen aufrufen, hat zweierlei Konsequenzen: zum einen führt sie dazu, dass einige Anrufer sich auf die Programme über das gewünschte Maß hinaus eingestellt haben. Sie bemühen sich nicht nur, ihre Schilderung in der sachlich richtigen Reihenfolge58 vorzutragen, sondern zwingen die Disponentin durch die Verwendung bestimmter Signalwörter, die gewünschten Rettungsmittel zu entsenden. In besonders diffizilen Fällen ist der Anrufer für seine übertriebene Inanspruchnahme des Notdiensts bereits bekannt. Die Disponentin befindet sich dann in der Zwickmühle, entweder auf ihre Erfahrung zu vertrauen oder dem formalen Verfahren zu folgen.59 Andererseits kann es dem Anrufer aber auch nicht glücken, die formalen Hürden mithilfe korrekter Antworten und passendem Gesprächsverhalten zu überwinden. Dies nimmt dann die Form dramatischer Missverständnisse an. Rettungskräfte werden in der Folge zu spät oder gar nicht entsandt, weil die Disponentin vom Vorliegen eines Notfalls nicht überzeugt werden konnte. Werden solche „Fehlentscheidungen“ publik, ist die öffentliche Empörung in der Regel groß; Konversationsanalytiker sind mit ihrem Schuldspruch dagegen vorsichtiger (Whalen et al. 1988; Cromdal 2013). Da die Konsequenzen für das Nichterkennen echter Notfälle schlimm sein können60, belastet die Leitstelle eher die Seite positiver Leistungsentscheide.61 Aus der Sicht der Organisation führt dies zu einer hohen Rate von falsch-positiv Entscheiden (Tacke 1997, S. 23f.). Während organisationsintern mit der Trivialität vieler Notrufanlässe gehadert wird, motivieren Rettungsorganisationen in öffentlichen Darstellungen weiterhin dazu, auch bei nichtigen Anlässen anzurufen. So heißt es in einem Zeitungsartikel mit dem schlagenden Titel „Feuerwehr klagt über 58 59

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Schon Grundschulkinder lernen heute die korrekte Notrufabgabe entlang der 5 Ws: Wo geschah es? Was geschah? Wie viele Verletzte? Welche Art von Verletzungen? Warten auf Rückfragen! Hierzu zwei Interviewausschnitte: RA (m, 22, aus Ldorf): „Die Leute rufen auf der Leitstelle an und die Leitstelle hat dann bei bestimmten Stichwörtern halt eigentlich keine andere Wahl als uns hinzuschicken; die versuchen zwar ein bisschen auszusieben, aber das geht nicht immer.“ RA (m, 29, tätig in Bstadt): „Mittlerweile wissen auch viele, viele psychisch Kranke, was sie sagen müssen, dass der Rettungsdienst kommen muss, und was sie sagen müssen, dass der Rettungsdienst sie mitnimmt. Da haben wir keinerlei Handlungsspielraum.“ „Echt“ hier weiterhin verstanden als ein durch die Leitstelle vergebenes Gütesiegel, das im Falle von „Fehlentscheidungen“ fälschlicherweise nicht verliehen wurde. Auch hierzu ein Interviewzitat eines Rettungsassistenten (m, 26, aus Bstadt): „Hier in [Bstadt] sind nach meiner gefühlten Einschätzung vielleicht dreiviertel der Notfälle völlig irrelevant. Also, wo nicht unbedingt ein Rettungswagen hinmüsste, meines Erachtens. Was dann aber halt doch passiert, weil die Leute sich eben große machen. Manchmal ist es für die Leitstelle am Telefon auch schwer zu entscheiden, was da nun los ist. Und dann wird eben im Zweifel natürlich einmal mehr ein Rettungswagen geschickt wird als einmal zu wenig.“

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Notrufe wegen Schluckauf und Katzen“: „Doch bei allen Klagen, eines will Schöneborn ganz deutlich machen: Wer ein berechtigtes Anliegen habe, der dürfe nicht zögern, den Notruf zu wählen. ‚Lieber rufen uns die Leute einmal zu viel als einmal zu wenig‘“ (WAZ 2014). Die paradoxe Doppelsinnigkeit der Forderung ist deutlich zu erkennen: einerseits wünschen sich die Organisationen eine höhere Hemmschwelle bezüglich der Notrufnutzung. Sie werten den Anrufer zum Mitentscheider über die Berechtigung des gestellten Hilfeersuchens auf und drohen bei rechtswidrigen Vergehen mit Bußgeldern. Im gleichen Zug entlasten sie den Bürger von Zweifeln, indem bei auftretender Berechtigungsunsicherheit unisono zur Notrufbetätigung raten. Rettungsorganisationen können öffentlich nicht fordern, im Zweifelsfall nicht den Notruf zu betätigen. 1.2

Unechte Notfälle, falscher Alarm und Übungen

Rettungskräfte wissen um die Schwierigkeiten von Leitstellen, echte Notfälle von unechten zu unterscheiden. Während ihrer Dienstzeit sind sie täglich mit Einsätzen konfrontiert, die aus ihrer Sicht eigentlich keine richtigen Notfälle sind. Sie stehen am Einsatzort vor dem Problem, stets mit mehreren, teils koexistierenden, teils sich ablösenden Notfalldefinitionen zu tun haben. In der Interaktion am Einsatzort steht die medizinische Notfalldefinition neben der Sichtweise Betroffener, neben der Einschätzung anderer Notfallorganisationen sowie neben der Entscheidung der Leitstelle. Die organisatorische Realität, der Einsatz gelte einem Notfall, bleibt davon aber zunächst unbeeindruckt. Die Leitstellenentscheidung hat Bestand, selbst wenn es vor Ort anders aussieht. Dies macht der folgende Interviewausschnitt deutlich: Interviewer: Wie oft tritt das so ein, dass es eher kein Notfall ist und wann ist es ein Notfall? Weil, vorhin sprachst du von den Fällen, die eigentlich keine richtigen Notfälle sind, zu denen ihr aber trotzdem gerufen werdet. RA (m, 30, aus BStadt): Ja, aber da rücken wir meistens nicht aus. Die Rettungsleitstelle, sagen wir es mal so, wird uns nicht zu einem umgeknickten Zehennagel hinschicken, das macht sie nicht. Das heißt: Wenn wir ausrücken, kommen wir in gewisser Weise zu einem Notfall.

Wenn es heißt, jeder Ausrückbefehl gilt „in gewisser Weise“ einem Notfall, dann hebt diese Aussage auf die Entscheidung der Leitstelle ab, die zwischen Notfällen und Nichtnotfällen selektiert hat. Auf der Realitätsebene der Organisation besitzt der Vorfall die Qualität eines Notfalls. Ähnlich wie auch Bereitschaftsrichterinnen auf Antrag kurzfristig einen „Notfall“ feststellen können und damit bestimmte

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Handlungsbeschränkungen aufheben, fabriziert die Leitstelle durch ihre Operationen Notfälle.62 Anders als bei der interaktionalen Thematisierung eines Ereignisses als Notfall, wird der Notfall durch die Organisation administrativ erzeugt – „as if“, so drückt ein Ethnograf sein Erstaunen aus, „it were some kind of a product to be manufactured“ (Kozin 2007, S. 3). Sobald die Leitstelle festgelegt hat, dass es sich bei einem aktuellen Ereignis um einen Notfall handelt, gewinnt die Definition eine eigene Realität: Wachen werden alarmiert und Rettungsteams ausgesandt. In diesem Moment existiert der Notfall nicht nur in und für die Organisation (und zwar vollständig abgelöst von der Frage, ob am Zielort tatsächlich ein echter Notfall vorliegt). Der Notfall breitet sich vom Entscheidungsort aus. Auch all diejenigen Verkehrsbeteiligten, die den Einsatzfahrzeugen den Weg freigeben, erleben den Notfall quasi mit, erfahren seine Dringlichkeit und müssen auf seine Anforderungen reagieren. Zum Arbeitsalltag von Rettungskräften gehört es, am Einsatzort überprüfen zu müssen, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelt. Einige Rettungsdienstprotokolle dokumentieren die betreffende Entscheidung und fragen nach der Interventionsdringlichkeit. So differenziert das in Berlin eingesetzte Formular zwischen fünf Stufen – Lebensgefahr (Sofortbehandlung), sehr dringlich (10 min.), dringlich (max. 30 min.), normal (max. 90 min.), nicht dringlich (max. 120 min) – und stellt damit mehr oder weniger ausdrücklich auf die Unterscheidung zwischen echten und falschen Notfällen ab. Bestand keine Dringlichkeit, liegt auch kein Notfall vor. Das Rettungsdienstprotokoll verknüpft medizinische Einschätzung und organisationale Realität. Der Notfall tritt auf der einen Ebene als Entscheidung auf, auf der anderen als Diagnose. In der Einsatzinteraktion trifft die medizinische Objektivität wiederum auf die subjektive Sorge der Betroffenen: RA (m, 57, tätig in LStadt): Eine echte Notfallsituation?, das ist auch wieder relativ subjektiv. Objektiv würde man sagen: eine echte Notfallsituation ist immer dann gegeben, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, das ist eine echte Notfallsituation, wenn die Vitalfunktionen betroffen sind. Zwischenzeitlich ist es sicherlich auch eine echte Notfallsituation, wenn die Vitalfunktionen eines Angehörigen, insbesondere eines Kindes betroffen sind und die Mutter dekompensiert komplett. Dann ist eigentlich die Mutter die echte Notfallsituation, die wieder auf den Boden zu bringen. Es ist individuell völlig verschieden, auch wie es die Leute betrachten. Wenn sie irgendjemand anders interviewen würden, würde der ihnen eine völlig andere Antwort geben.

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Vgl. die Analyse von Büchner (2018, S. 115–152) zur Konstruktion und Bedeutung von Notfällen in Sozialen Diensten.

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Ein anderer Interviewpartner skizziert die Handlungsproblematik, die sich aus der unterschiedlichen Bewertung ergibt: RA (m, 26, tätig in Bstadt): Ja, ein Notfall an sich ist halt Definitionssache. Oder vielmehr ist es sehr individuell, was nun ein Notfall ist; also für denjenigen, der anruft und sich Sorgen macht, für den ist das eben ein Notfall. Es kann dann aber auch so sein, dass wir da hinfahren und denken: „Naja, das ist nun weiß-Gott kein Notfall, da hätten wir jetzt nicht unbedingt kommen müssen.“ Und dann muss man sich aber trotzdem damit befassen und irgendwie die Situation lösen.

Zwischen Betroffenen und Rettungskräften kann sich die Annahme, was ein Notfall ist, deutlich unterscheiden. Eine ältere Studie spricht davon, dass in etwa Dreiviertel der Fälle Patienten und beteiligte Einsatzkräfte in ihrer rückblickenden Einschätzung übereinstimmen, ob es sich um einen Notfall gehandelt hat oder nicht (Richards und Ferrall 1999).63 Während Rettungskräfte Gefahren über ihre medizinische Bedeutung64 ableiten, würden Betroffene bereits dann von einem Notfall sprechen, wenn sie eine diffuse Sorge umtreibt. Der medizinische Blick trifft auf die Unruhe der Betroffenen (Brown et al. 2009, S. 521f.). Diese persönliche Sorge um sich selbst, um Angehörige oder fremde Anwesende wird von Rettungskräften grundsätzlich als legitimer Grund für die Indienstnahme anerkannt. Ihre Anerkennung findet aber eine Reihe von Grenzen, etwa wenn die Sorge als grundlos oder übertrieben erachtet wird oder wenn der Rettungsdienst sich in seiner Funktion missbraucht sieht, etwa, weil der Eindruck entsteht, als bloßer Transportdienst oder „Taxiersatz“ zu dienen. Die vorgängigen, vor dem Eintreffen der Rettungskräfte erfolgen Versuche der Betroffenen, die Situation selbst unter Kontrolle zu bekommen, sowie die generelle Hemmung, den Notruf zu benutzen, nehmen Rettungskräfte dagegen kaum wahr (Ahl et al. 2006). Doch selbst in den Fällen, in denen Rettungskräfte den Betroffenen ungenutzte Selbsthilfemöglichkeiten unterstellen und keinen Notfall erkennen, zweifeln sie die Rechtmäßigkeit des fremden Anliegens selten offen an. Die divergierende Bewertung wird den Betroffenen nicht mitgeteilt und verbleibt im „denken“ (s.o.). Sie wird zu einem unausgesprochenen, zu einem halbierten Dissens. Die Organisation wird qua Protokoll über die fehlende Gefahr in Kenntnis gesetzt, die Betroffenen nur soweit, dass es nicht so schlimm sei. Dies wiederum führt hin zu einer Situation, die die Rettungskräfte „irgendwie“ (s.o.) zu lösen haben, ohne dabei die andere Seite zu brüskieren. Will man es in der Einsatzinteraktion beim äußerlichen Konsens belassen, bleiben letztlich nur die beiden Möglichkeiten, sich 63 64

Patienten und Einsatzkräfte wurden in dieser Studie frühestens bei ihrer Ankunft in der Notaufnahme befragt. Selbst unter Ärztinnen besteht bis heute keine Einigkeit, was einen medizinischen Notfall genau ausmacht (Brown et al. 2009, S. 522f.).

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den Sorgen taktvoll anzunehmen und die Betroffenen über ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten aufzuklären (dies kann als eine Variante des „lernenden Klientel“ begriffen werden (Luhmann 1971b, S. 136)) oder, wenn dies nicht ausreicht, das „Problem“ für seine weitere Abklärung ins Krankenhaus zu verschieben – was Mitarbeiter der Notaufnahme mit vorwurfsvoller Miene quittieren werden. Beide Formen sind häufig zu beobachten – ebenso wie fortwährend Klagen über unnötige Notrufe oder die übertriebene Inanspruchnahme des Rettungsdienstes zu hören sind. Im Umfeld von Notfallorganisationen findet sich eine Vielzahl formaler Klassifikationssysteme, mit denen Notfalleinsätze unterschieden werden. Ihnen allen zu Grunde liegt die Hauptunterscheidung zwischen echten und falschen Notfällen. Echte Notfalleinsätze werden von Rettungsdiensten danach unterschieden, welchen organischen bzw. fachmedizinischen Hintergrund der Notfall besitzt (internistisch, neurologisch, orthopädisch, pädiatrisch, chirurgisch etc.).65 Feuerwehren unterteilen sachlich nach Einsatzanlass und -größe (Klein-, Mittel-, Großbrand, Katastropheneinsatz, Technische Hilfeleistung etc.). Neben diesen Schemata zur Untergliederung echter Notfälle finden sich verschiedene Typen falscher Notfälle. Darunter sind zum einen solche Notfallmeldungen, die einen echten Einsatz ausgelöst hatten, sich aber dann als „böswilliger“ oder als „blinder Alarm“ herausstellten. Daneben gibt es verschiedene Formen organisierter Notfallmodulationen, also Situationen, in denen nur so getan wird, als ob ein Notfall vorliegt. Notfallübungen, Notfalldemonstration oder auch Löschwettkämpfe täuschen Notfälle zu Lernzwecken (also zum Strukturaufbau), aus Präsentationsgründen, zur Legitimitätsgewinnung oder zum Zwecke eines sportlichen Leistungsvergleichs nur vor (Goffman 1974, S. 52–97; Rosental 2013; Ellebrecht et al. 2013a). All diejenigen, die wissen, dass es sich nicht um einen echten Notfall handelt, beurteilen die Veranstaltung primär hinsichtlich ihrer Realitätsnähe. Besonders im Rahmen von Übungen, die zu Trainingszwecken durchgeführt werden, wird die Künstlichkeit des Settings kritisch beäugt und gefragt, wie sich diese auf den Lernleistung auswirkt. Nicht zwingend steht dabei das ersonnene Übungsdesign mit all seinen typischen Schwachstellen an erster Stelle, häufig geht es um das Vorwissen der Übenden selbst. Im Vorfeld großer Übungen, an deren Planung eine Vielzahl von Mitarbeitern beteiligt ist, kann kaum verhindert werden, dass Informationen schon vorab die Runde machen. Das Kernproblem bleibt, dass die Übenden in aller Regel

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Jenseits der formalen Kategorisierung gibt es im Rettungsdienst weitere Ordnungsschemata, die informellen Charakter besitzen. In ihren ethnografischen Rettungsdienststudien haben Mannon (1992, S. 101–146) und Metz (1981, S. 111–137) diese Sortiermuster eingehend gewürdigt.

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wissen, dass kein Ernstfall vorliegt und ihr Verhalten deswegen unter dem Generalverdacht steht, nicht realistisch/authentisch zu sein. Daneben erfordert jede organisierte Nachahmung eines Notfalls die Aufklärung derer, die sie für echt halten könnten. Vor allem Zuschauer müssen zum Zwecke ihrer Beruhigung und Irritationsvermeidung über die Harmlosigkeit des Vorfalls in Kenntnis gesetzt werden. Ähnlich wie es im wissenschaftlichen Bereich heute höhere Anforderungen an die Probandenaufklärung gibt, sind auch in sicherheitsrelevanten Bereichen die Hemmungen gestiegen, Alarme oder Notfälle zu Übungszwecken ohne Wissen der dann Involvierten oder nur peripher Betroffenen (z. B. Anwohner) vorzutäuschen. 1.3

Organisierte Hilfsbereitschaft: Einsatzkräfte im Wartemodus

Organisationen sind deshalb so besondere soziale Phänomene, weil es ihnen gelingt, sehr spezielle Leistungsangebote dauerhaft stabil zu halten. Dies haben sie vor allem ihren Mitgliedern zu verdanken, die sich mit ihrer Mitgliedschaftsentscheidung verpflichten, bestimmte Tätigkeiten (wiederholt) zu verrichten und Verhaltenswünschen innerhalb festgelegter Grenzen zu entsprechen. Mitglieder statten die Organisation im Zuge ihrer Beitrittsentscheidung mit der hohen Erwartungssicherheit aus, ihnen ein extrem unwahrscheinliches Verhalten abverlangen zu können (Luhmann 1964, S. 42). Verhaltensanforderungen, denen außerhalb der Organisation kaum freiwillig nachgekommen werden würde, werden qua Mitgliedschaft zu Verhaltensnormen, die formal festgeschrieben und dabei unterschiedlich allgemein gehalten sein können. In diesem Sinne ist der Betrieb einer Organisation als „governing by abstraction“ (Stinchcombe 2001, S. 179) zu verstehen (Vollmer 2013, S. 109–113). Die hohe Erwartbarkeit unwahrscheinlichen Verhaltens führt auf der anderen Seite dazu, dass ein unerwarteter Bruch mit den Verhaltensnormen automatisch die Mitgliedschaftsfrage aufwirft. Nicht nur die Organisation wird in einem solchen Fall an die Unvereinbarkeit devianten Verhaltens bei gleichzeitiger Mitgliedschaft erinnern, das betroffene Mitglied wird die Inkongruenz spätestens bei wiederholten Verstößen selbst zum Thema seiner persönlichen Identität machen und sich zumindest nach den Motiven befragen müssen, warum es seine Pflichten verletzt. Für jede Organisationen, nicht nur für solche, die auf die Bearbeitung von Notfällen spezialisiert sind, ist die generalisierte Bereitschaft ihrer Mitglieder zur Übernahme bestimmter Tätigkeiten, eine konstitutive Voraussetzung (Luhmann

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1964, S. 55–59). Doch bei Notfallorganisationen vollzieht sich diese Tätigkeitsbereitschaft in besonders eindrücklicher Form. Bereitschaft wird hier nicht nur erwartet, sie wird gelebt (Morgenroth und Schindler 2014, S. 107f.). Rettungsorganisationen verfügen über Stationen oder Wachen, auf denen die Einsatzkräfte auf ihren nächsten Einsatz warten. Weitere Einsatzkräfte halten sich als Reserve abseits der Wachen in Bereitschaft und können, wie die stationierten Einsatzkräfte, über einen Funkmelder alarmiert werden, dessen Empfangsbereitschaft sie zu gewährleisten haben. Durch die dauerhafte Besetzung von Einsatzwachen und durch das Sich-in-Rufbereitschaft-Halten weiterer Kräfte erstreckt sich die organisationale Bindung weit in den privaten Alltag der Mitglieder hinein. Einsatzkräfte müssen während ihrer Bereitschaftszeit davon ausgehen, jederzeit alarmiert werden zu können und zu einem Einsatz aufbrechen zu müssen. Der gesamte Wachenalltag ist der vorhersehbaren, wenn auch unregelmäßigen Wiederkehr des Plötzlichen unterworfen. Auf der Wache dirigiert der „Pieper“ das gemeinsame Leben (Metz 1981, S. 20f.); so lange er still bleibt, verbleibt Zeit, den letzten Einsatz formal abzuschließen (Einsatzprotokollabgabe), das technische Equipment (Materialauffüllung, Desinfektion, technische Checks) und sich selbst (Nahrungsaufnahme, Toilettengänge, sportliche Betätigung) auf kommende Einsätze vorzubereiten, hauswirtschaftliche Aufgaben durchzuführen (Kochen, Geschirrspülen) und dann in Gesellschaft (z. B. im Gemeinschaftsraum) oder alleine (z. B. im Schlafraum) auf die nächste Alarmierung zu warten. Übermittelt der „Pieper“ eine Einsatzmeldung der Leitstelle, unterbricht dies schlagartig das gegenwärtige Tun. Die Unbestimmtheit eines konkreten Alarmierungszeitpunktes führt zu zahlreiche Problemen in der Alltagsstrukturierung – bei hoher Einsatzfrequenz müssen Essensgelegenheiten geschaffen werden, lange Wartezeiten wollen dagegen sinnvoll gestaltet werden (Mannon 1992, S. 167– 172).66 Doch bei aller Unregelmäßigkeit und Unvorhersehbarkeit von Einsatzmeldungen ist zu unterstreichen, dass es die individuelle wie institutionelle Ein- und Ausrichtung auf die Diskontinuität des Plötzlichen ist, die typisch für den Beruf 66

Eine sinnvolle Tätigkeit ist etwa, Soziologen ein Interview zu geben. Allerdings wiederum nur unter dem Risiko, dass dieses durch einen Einsatzalarm unterbrochen wird: Funkmeldeempfänger vibriert auf dem Tisch. Interviewer: „Sie können…“ RA (m, 32, tätig in Hdorf): „Moment.“ I: „Ok.“ Piepen des Tastentons. RA: (13) „Ähm, ich muss leider .“ I: „.“ RA: „ hier grade. Es tut mir sehr leid, ähm, wir haben jetzt ein größeres Feuer.“ Weitere Piepgeräusche. RA: „Ähm, dann muss ich mal ganz kurz an den Funk. Warten sie mal ganz kurz, ja?“ I: „Ja, absolut.“ Schnelle Schritte aus dem Raum hinaus. Lauter Signalton.

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des Notfallhelfers ist (Metz 1981, S. 191). Um ein zu hohes Arbeits- und Stresspensum im Beruf zu vermeiden, sind unterschiedliche Bereitschaftspläne entwickelt worden. In einigen Rettungsdienstbezirken erhält zum Beispiel der Rettungswagen, der am längsten pausiert hat, den nächsten Einsatzbefehl. In anderen Bezirken gibt es Modelle, nach denen einsatzbereite Rettungsteams unterschiedliche Alarmierungsprioritäten besitzen, so dass Rettungswagen 3 immer erst dann alarmiert wird, wenn Rettungswagen 2 und 1 bereits im Einsatz sind. Diese festgelegten Alarmierungsfolgen geben den Einsatzkräften die Chance, die Wahrscheinlichkeit einer zeitnahen Einsatzalarmierung besser abschätzen und einplanen zu können. Aus Sicht der Organisation dient dies auch den eigenen Zielen. Ausgeruhte Einsatzkräfte retten besser. Es wird gewöhnlich angenommen, dass Notfälle unerwünschte Ereignisse sind, die niemand herbeisehnt. Mit dieser Erwartung harmoniert dann allein die Vorstellung, Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Feuerwehren würden ihren Beruf ausüben, um Personen in Not zu helfen. RA (m, 43, tätig in Rgroßstadt): Wenn jemand, der 17, 18, 19, 20 Jahre alt ist, sagt, ich möchte mich ehrenamtlich bei einer Hilfsorganisation im Bereich des Sanitätsdienstes engagieren, dann macht er das zu 75 % auch deshalb, weil er Bock darauf hat, irgendwann in Einsatzleitung, im Blaulichtauto, irgendwann auch mal im Einsatz zu stehen, und nicht, weil er sagt, ich finde das so toll, weil ich da den Menschen helfen kann. […] Die Leute, die in den 1990ern Rettungsassistent werden wollten, wollten irgendwann auch mal Blaulicht fahren, die wollten Rettungsdienst fahren, die wollten das erleben, die wollten das sehen, Adrenalin, das war ja auch die Zeit, in der diese ganzen Sendungen im Fernsehen waren.

Die berufliche Motivation von Rettungskräften konfligiert mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Für viele Rettungskräfte liegt die Attraktivität des Berufs in seiner exzeptionellen Qualität: der Beruf sei nicht langweilig, halte jeden Tag Überraschungen parat, ermögliche es, soziale Konventionen zu übertreten und Grenzerfahrungen zu machen. Obgleich ihr Motiv damit nicht weit von dem der Schaulust entfernt ist, die denen am Unfallort „Gaffenden“ unterstellt wird, verhindert die berufsmäßige Verpflichtung auf den Organisationszweck, dass Rettungskräften ihre Erlebnisorientierung als Laster ausgelegt wird.

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1.4

II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Die dringliche Einsatzfahrt: Alarm, Sonderrechte und Frist

Nachdem ältere Gesellschaften die Wahrscheinlichkeit von Rettung durch gemeinschaftliche Bindungskräfte oder durch moralische Verpflichtung erhöhten, hat die moderne Gesellschaft mit der Organisation ein weiteres Mittel zur Bearbeitung von Notfällen geschaffen. In sachlicher Hinsicht sind Rettungsorganisationen dabei den anderen Formen deutlich überlegen, da sie aufgrund ihres Fachwissens und ihrer technischen Ressourcen über weit mehr und effektivere Handlungsmöglichkeiten disponieren können. Auch ihr Personal rechnet pausenlos damit, im nächsten Moment zur Rettung ausrücken zu müssen. In zeitlicher Hinsicht bleibt organisierte Rettung den anderen Rettungsformen dagegen drastisch unterlegen, denn sie ist nur mit der üblichen Verzögerung von einigen Minuten zu haben. Dieser unaufhebbare Nachteil organisierter Rettung macht die Einsatzfahrt zur „most intense time in ambulance work“ (Metz 1981, S. 22). Für die Organisation ist die Einsatzfahrt ein Prozess, der innerhalb einer gegebenen Frist abgeschlossen sein muss. Für Feuerwehr und Rettungsdienst sind die gesetzlichen Hilfsfristen, so schreibt es die deutsche Wikipedia, das für ihre Einsätze „wichtigste Planungs- und Qualitätsmerkmal“. Vorgaben zur Hilfsfrist schwanken je nach Besiedlung des Einsatzgebiets zwischen acht und 17 Minuten. Üblicherweise findet hier die zusätzliche Regelung Anwendung, dass fünf Prozent der Einsatzzeiten von der Vorgabe abweichen dürfen. Für den Brandschutz legen die Kommunen Einsatzfristen fest. Dringlichkeit tritt auf organisationaler Ebene als Frist in Erscheinung, die dazu zwingt, Aufgaben zu priorisieren (Luhmann 1971a, S. 147f.). Dies geschieht zum einen planerisch, indem die gesamte Organisationsstruktur – von der Wachenarchitektur bis zum Dienstplan – auf die Frist hin ausgerichtet wird, zum anderen dadurch, dass während eines Einsatzes entschieden werden kann, das Sonderrecht zur Kommunikation von Vorfahrt in Anspruch zu nehmen.67 „Blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn“ ordnen an: „Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen“ (StVO § 38, Abs. 1). Während der Fahrer darin vertieft ist, dass „Rettungsschiff“ zu manövrieren, den Verkehr und den richtigen Anfahrtsweg im Auge zu behalten, fährt sein Beifahrer den Rettungswagen „auf der rechten Seite mit“ (er beobachtet den Verkehr auf der rechten Seite, wenn ein Ampelsignal oder ein Stoppzeichen überfahren wird), kontrolliert das Sondersignal, achtet auf Straßenschilder und Hausnummern

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Schirmer (2008, S. 185–188) spricht von Vorfahrtskommunikation.

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und beginnt mit dem Ausfüllen der Einsatzformulare.68 Es ist, und diese Feststellung mag im ersten Moment überraschen, die Einsatzfahrt mit Sondersignal und nicht unbedingt die Hilfeleistung am Einsatzort, die Rettungskräfte als „most intense time“ erleben. Die Einsatzfahrt markiert einen Wendepunkt, eine Zwischenzeit, in der nicht mehr gewartet wird, in der aber auch noch nicht gerettet werden kann. Sie vergeudet Zeit, die vorher ausreichend zur Verfügung stand, von der aber nun zu wenig vorhanden ist. Die gebotene Eile unterscheidet sich von der am Einsatzort durch ihre Objektlosigkeit. Der Rettung mangelt es noch am Rettbaren und dieses Fehlen erzeugt auf der Interaktionsebene einen anonymen Zeitdruck, der sitzend, fahrend und wartend ausgehalten werden muss. Erst kurz nach Ankunft am Einsatzort und nach einer ersten Sichtung der Lage fällt diese Übergangsspannung ab. Mit der erfolgreichen Herstellung von Präsenz kann sich ein Lagebild/Krankenbild aufbauen, das mit zunehmender Konkretisierung den allgemeinen Zeitdruck kanalisiert und praktische Handlungsformen annehmen lässt. Andererseits kann die rechtlich vorgegebene und organisatorisch berücksichtigte Frist auch gegenteilig auf die Interaktion durchschlagen. Da Rettungsassistenten wissen, dass sie im Rahmen einer Frist am Einsatzort anzukommen haben, kann dies die Dringlichkeitsansprüche auf der Interaktionsebene auch entschärfen. Sie tun der „Sache“ genüge, wenn sie innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens, also nicht zu langsam, nicht nach Fristende, aber auch nicht überstützt, z. B. unter Inkaufnahme hoher Eigen- oder Fremdgefährdung während der Einsatzfahrt am Einsatzort ankommen. Bei Alarm springen Rettungskräfte nicht von ihren Stühlen auf und hasten nicht zum Einsatzwagen, sie erheben sich zügig und schreiten schnellen Schrittes auf ihr Fahrzeug zu. Die Dringlichkeitsansprüche und -darstellungen unterscheiden sich hier wesentlich von denen, unter denen Betroffene und Helfer zur selben Zeit am Ort des Notfalls erleben und handeln. 1.5

Verschachtelung von Planung und Rettung

Als Passage zwischen Rettungswache und Einsatzort, zwischen Warten und Hilfeleistung trennt die Einsatzfahrt zwei hochgradig unterschiedliche Aktivitätsbereiche. Das Leben auf der Wache unterscheidet sich maßgeblich vom Geschehen bei einem Notfalleinsatz. Organisationsforscher sehen in dieser Doppelgesichtig-

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Frei übersetzt nach Metz (1981). Die Arbeitsteilung wird sich im Laufe der Jahre etwas verändert haben, etwa durch die Einführung von Navigationsinstrumenten. So übernimmt hierzulande die Fahrerin die Steuerung des Einsatzsignals, das ausgeschaltet oder bei Bedarf in einen zweiten, schrilleren Modus umgeschaltet werden kann, um z. B. andere Verkehrsteilnehmer zu einem schnelleren oder adäquateren Verhalten anzuhalten.

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keit das zentrale Merkmal von Einsatzorganisationen (Hunt und Philips 1991; Geser 1983, S. 149). „Uniformed organizations are really two-sided: They have one side for prevention, facilitation, and preparation, and one side for the real action“ (Soeters 2000, S. 466). Im Gegensatz zum langsamen, mitunter langweiligen Trott auf den Wachen und in den angrenzenden Verwaltungseinrichtungen, versprechen Einsätze echte Action. Sie sind ereignisreicher, lebhafter und abenteuerlicher und scheinen der Stabilität und Trägheit administrativer Apparate weit entrückt. Einsätze werden in metaphorischer Anlehnung an sprachliche Gepflogenheit im Rettungsdienst („running hot“) und der Brandbekämpfung der Feuerwehr als „heiße Seite“ der Organisation bezeichnet, dem das Wachenleben und der Alltag in den häufig in unmittelbarer Nähe befindlichen Verwaltungseinrichtungen als „kalte Seite“ gegenübergestellt wird.69 Auf den folgenden Seiten gehe ich über die schematische Trennung einer heißen und einer kalten Seite hinaus und denke das Konzept integrativ. Mein zentrales Argument ist, dass es gerade die Charakteristik und die Schwierigkeit von Einsatzorganisationen ist, diese Trennung ständig aufzuheben. Notfallorganisationen suchen Stabilität im Dynamischen und lösen das Ereignishafte im Trägen auf. Anders gesagt: Organisationen, die auf Notfälle spezialisiert sind, planen während sie retten und antizipieren und simulieren Notfälle während sie auf sie warten. Einsatzorganisationen lösen beide Bereiche vielfach ineinander auf. Zentrale Herausforderung von Notfallorganisationen ist es, in dynamischen, komplexen, gefährlichen und fehlersensiblen Situationen unter Zeitdruck Lösungen für ein Problem finden und umsetzen zu müssen. Notfalleinsätze sind, so heißt es recht einvernehmlich in den Organisationswissenschaften, in „Hochrisikoumwelten“ (Mistele 2007, S. 25-30 u. 119-128) zu Hause und verfolgen dort das Ziel, Gefahren zu bannen und Schutzbedürftige(s) zu retten. Die Frage ist nun, wie leisten Notfallorganisation dies? Arbeiten, in denen Notfallorganisationen in erster Linie über die Unterscheidung eines kalten und eines heißen Operationsbereichs begriffen werden, stehen in Tradition der Kontingenztheorie und neigen zu schematischen und prototypisierenden Antworten. Die Kontingenztheorie gewichtet Umweltbedingungen besonders stark und sieht in ihnen die wesentliche Determinante von Organisationsstrukturen (Ebers 1992). Zu den ersten Theoremen der frühen Kontingenztheorie gehörte es, Organisationen in stabilen Umwelten eine Neigung zur Entwicklung hinzu mechanischen Organisationsformen zu attestieren (etwa Verwaltungen), für Organisationen, die sich in dynamischen Umwelten befinden – also Umwelten, deren konstantes Merkmal ihre Wandelbarkeit ist –, dagegen anzunehmen, sie 69

Vgl. Soeters (2000) und Soeters et al. (2006). Die kulturwissenschaftliche heiß/kalt-Unterscheidung geht auf Claude Lévi-Strauss (1991).

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würden regelmäßig organische Organisationstypen hervorbringen (Burns und Stalker 1961; Lawrence und Lorsch 1967). Organische Strukturen zeichnet eine hohe Innovationskraft und Adaptivität aus. Sie ermöglichen es einer Organisation, je nach Lage neuartige Lösungswege zu entwerfen und sich den Gegebenheiten anzupassen. Ihre zwei Hauptvertreter, die simple Organisation und die Adhocratie, werden dann auch nicht zufällig im Zusammenhang mit Notfallorganisationen genannt.70 Auf ihrer heißen Seite würden Einsatzorganisationen simple und adhocratische Strukturformen ausbilden. Auf ihrer anderen, der kalten Seite würden sich wiederum mechanische Strukturtypen finden. Die Annahme, Einsatzstrukturen seien hochgradig flexibel und adaptiv, hat zunächst die Intuition auf ihrer Seite. Wie, wenn nicht auf Basis hoher Flexibilität, sollte es Organisationen möglich sein, in unterschiedlichsten Einsatzsituationen erfolgreich zu agieren? Schon der Volksmund weiß, dass Not erfinderisch macht, Akteure, die auf die Bearbeitung von Notfällen spezialisiert sind, sollten in Einsätzen daher mit innovativen Ideen glänzen. Doch schon ein oberflächlicher Blick auf typische Notfallorganisationen legt eine andere Sichtweise nahe. So mag die Feuerwehr zwar einfache Lösungen bevorzugen und zur Selbsttrivialisierung neigen (→ III.2.2), sie ist aber weit davon entfernt, von organischen und einfachen Strukturen dominiert zu werden. Feuerwehren stellen auch im Einsatz komplexe, hochgradig mechanische Gebilde dar, die über eine strenge Hierarchie, eindeutig festgelegte Kommunikationsregeln und klare Einsatzscripts (LaPorte und Consolini 1991, S. 35) verfügen. Diese rigide Formalstruktur widerspricht dem organischen Strukturtyp. Will man an der These hoher Flexibilität und Adaptivität festhalten, muss zumindest von einem Mischtyp (Hull und Hage 1982) oder von einer „enabling bureaucracy“71 gesprochen werden. Adhocratien finden sich unter Notfallorganisationen eher selten. Die Adhocratie setzt in ihrem Bemühen um neuartige Lösungen auf eine projektförmige Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Spezialisten, die kollaborieren und ohne zentrale Entscheidungsinstanz auskommen (Mintzberg 1979, S. 431–465; Hunt und Philips 1991). Die fachliche Diversität der Gruppe und geringe Vorgabendichte setzt kreative Potenziale frei und steigert die Innovations- und Adaptionsfähigkeit der Organisation (Mintzberg 1979, S. 432). Doch auch wenn Notfallorganisationen über Einrichtungen verfügen, in denen verschiedene Spezialisten zusammenkommen, sind dies keine kreativen Denkfabriken. Einsatzstäbe etwa sind 70 71

So etwa Soeters (2000, S. 474) mit Verweis auf Mintzberg (1979). So Roberts & Bigley (2001, S. 1294) in Anschluss an Adler und Borys (1996) und Adler et al. (1999). Soeters greift das Konzept „befähigender Formalstrukturen“ ebenfalls auf. Er macht dies allerdings, um einen kulturellen Wandel bei Einsatzorganisationen begreiflich zu machen, in dessen Prozess bspw. die traditionelle hierarchische Disziplin durch Selbstdisziplin der einzelnen Einsatzkräfte ersetzt werde (Soeters 2000, S. 472; Soeters et al. 2006, S. 244).

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

hochgradig bürokratische Organisationselemente, Rettungsdienstteams verfügen über eine eindeutige Hierarchie und die Mitglieder klinischer Traumaeinheiten arbeiten eher nebeneinander als miteinander am Notfallpatienten. In jüngeren Konzepten werden auch Traumateams um eine rein koordinative Stelle ergänzt. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die simple Identifizierung der heißen Seite mit organischen, der kalten mit mechanischen Strukturen zu kurz greift. Sie verallgemeinert über ganz unterschiedliche Notfall- und Einsatzorganisationen hinweg und lässt einen empirischen Beleg für ihre Annahmen vermissen. Besonders kritisch aber ist, dass ihr Schematismus einen blinden Fleck generiert, der den Blick für das verstellt, was für Notfallorganisationen charakteristisch ist. Die Unterteilung in zwei Bereiche sieht in jedem der beiden nur das für ihn jeweils vermeintlich typische: auf der Wache und in der Administration die träge Struktur, im Einsatz hochgradig formbare Elemente. Genau das Gegenteilige ist aber für Notfallorganisationen wesentlich: Sie verschachteln und beziehen beide Felder intensiv in- und aufeinander. Schon die Wartezeit auf der Wache kann ohne ihren antizipativen Bezug zum nächsten Einsatz nicht begriffen werden. Auf der Wache herrscht nicht nur verwaltungs- und wartungstechnische Monotonie, es besteht sogar eine ausgesprochen hohe Akzeptanz des Nichtstuns, die jedoch nicht mit der vermeintlichen Schläfrigkeit administrativer Strukturen zu verwechseln ist. Mit Blick auf den nächsten Einsatz ist es Einsatzkräften erlaubt, sich während der Arbeit von der Arbeit zu erholen. Die Regenerationsphase ist daher auch nicht zwingend auf Mittagspause, auf den Feierabend oder den Urlaub beschränkt. Deutlicher wird die Verschachtelung im Rahmen von Aus- und Fortbildungen von Einsatzkräften. Zum einen werden Einsatzbedingungen in Trainingseinheiten und in Übungen imitiert – die dynamische Umwelt wird also in den kalten Bereich künstlich hineingeholt –, um bei einem echten Einsatz gut vorbereitet zu sein. Übungen induzieren Stress, um dann im Einsatz weniger aufkommen zu lassen. Das Ereignishafte des Einsatzes wird in ihnen nachgestellt und zeitlich vorverlegt, damit später, beim echten Einsatz, über die in Simulationen aufgebauten Routinen disponiert werden kann. Beide Seiten werden demnach ineinander aufgelöst und aneinander angeglichen. Die kalte Seite wird hoch-, die heiße runtergekocht. Eine dritte Form von Verschachtelung findet sich in den Einsatzprogrammen der Organisationen. Für den Systemtyp Organisation gilt allgemein, dass er Entscheidungsarbeit verdoppelt: es muss nun „über das Programm und über den Einzelfall in der Ausführung des Programms“ (Luhmann 1975, S. 142) entschieden werden. Es findet demnach eine wechselseitige Verschränkung von Einzelfall und allgemeinem Modell statt. Die Standard-Einsatz-Regeln (SER) der Feuerwehr und die im Rettungsdienst eingesetzten Algorithmen generalisieren das Einsatzvorgehen und berauben dem spezifischen Notfall seiner Individualität. Die Logik von

1 Regelmäßigkeit des Plötzlichen: die Organisation des Notfalls

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Leiterin / Leiter S1 Personal / Innerer Dienst

S2

Lage

S3

Einsatz

S4 Versorgung

S5

S6

Presseund Medienarbeit

Informations- und Kommunikationswesen

Fachberaterin, Fachberater und Verbindungspersonen

Abbildung II.1: Führungsstab der Feuerwehr bei Großeinsätzen Quelle: AFW 1999, S. 13.

Einsatzprogrammen folgt dezidiert dem Prinzip „Einsätze sind eher gleich als verschieden“72. Bei der Programmentwicklung werden aus den heterogenen Erfahrungen vergangener Notfalleinsätze allgemeine Merkmale deduziert und abstrakte Vorgehensregeln entwickelt. Auch hier findet demnach eine Auflösung der beiden Seiten ineinander statt: während die Organisation im Notfalleinsatz auf entschiedene Entscheidungsprämissen zurückgreift und regelgeleitet agiert (→ Abbildung II.4, S. 114), erfolgt die ‚kreative‘ Entwicklung formaler Einsatzprogramme vor, nach bzw. abseits von Einsätzen, wenn aus heterogenen Erfahrungen ein Einsatzmodell abgeleitet wird. Die Verschränkung ist an dieser Stelle kein besonderes Merkmal von Notfallorganisationen, gleichwohl sticht sie am Gegensatz von Organisation und Notfall besonders hervor. Die Beispiele zeigen, dass es a) ein wesentliches Merkmal von Notfallorganisationen ist, sich abseits von Notfalleinsätzen kontinuierlich auf zukünftige Notfalleinsätze vorzubereiten und dass b) die Einsatzvorbereitung einer Strategie folgt, die der kommenden Situation ihre typische Außergewöhnlichkeit, Individualität und Unberechenbarkeit raubt. Kontingenztheoretische Überlegungen fallen hinter diese Einsichten zurück. Ihre Annahme, Notfallorganisationen verfügten über adaptive Einsatzstrukturen, ist zwar nicht grundlegend falsch. Eine vorschnelle Identifizierung der Einsatzseite mit organischen Strukturen lässt aber übersehen, dass Notfallorganisationen sowohl im Einsatz auf allgemeine, gegenüber den Besonderheiten des Falls weitgehend indifferent bleibenden Strukturen 72

Dieser Grundsatz wird einem Vordenker der Standard-Einsatz-Regeln (SER) zugeschrieben. Vgl. Ulrich Cimolino (Hg.): Was sind SER?, http://standardeinsatzregel.org/ was-sind-ser/ (22.2.2017).

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

zurückgreifen als auch um eine Antizipation und Simulation dynamischer Einsatzbedingungen abseits von Einsätzen bemühen. Im Folgenden möchte ich zwei Schritte weitergehen. Während bisher überwiegend die typische Verschachtelung kalter und heißer Elemente abseits des Einsatzes hervorgehoben wurde, wende ich mich ihr nun im Einsatz ein. Ich habe dafür zunächst das augenfällige Beispiel „Einsatzstab“ gewählt. Es zeigt deutlich, wie Notfallorganisationen versuchen strenge formale Strukturen im Zentrum des Einsatzes zu platzieren. In einem zweiten Schritt lassen sich dann die Folgeprobleme sichtbar machen, mit denen die Integration mechanischer Elemente rechnen muss. 1.6

Stab und Gruppe: Die Organisation im Einsatz

Mithilfe ihrer Formalisierungen beschreiben sich Organisationen selbst und machen ihren Mitgliedern einen Komplex an Regeln sicht- und greifbar, deren Einhaltung von ihnen erwartet wird (Kieserling 1994, S. 168–172). Formalisierung objektiviert Erwartungshaltungen und macht sie im Bewusstsein der Organisationsmitglieder abbildbar (Jäger und Coffin 2014, S. 86f. ; Stinchcombe 2001). Über ihre Formalstruktur besitzen Organisationen schließlich eine wesentliche längere Lebensspanne und einen höheren Komplexitätsgrad als Interaktionen, die Strukturen im Rahmen ihrer kurzen Lebensdauer immer erst situativ etablieren müssen (Luhmann 1972). Während Interaktionen deswegen in ihrer Entwicklung offener sind, sind Organisationen hochgradig restriktiv; gerade diese Selbsteinschränkung generiert ihre Leistungsfähigkeit (Luhmann 2015 [1975], S. 13f.). Einsatzstäbe und Einsatzgruppen von Feuerwehren zeigen dies deutlich. Während freiwillige Helfer sich zunächst koordinieren müssen, gar zunächst klären und rechtfertigen müssen, warum sie überhaupt vor Ort sind –, folgen Stäbe oder Einsatzgruppen detaillierten Vorgaben, die regeln, welche Personen an ihnen teilnehmen, welche Aufgaben diese jeweils zu übernehmen haben, was diese anzuziehen und an Equipment mit sich zu führen haben und in welcher Beziehung sie jeweils zu den anderen Kräften stehen. So wie das Konzept Einsatzstab vorgibt, wo welche Person am Tisch sitzt, gibt die Verordnung für die Gruppe vor, wo die ihr angehörenden Personen im Einsatzwagen Platz zu nehmen bzw. bei der Ankunft am Einsatzort zu stehen haben.

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Abbildung II.2: Abgebildet ist die Sitzordnung des Stabs (z. B. im Einsatzleitwagen) und der Nachrichtenfluss. Bei der Stabsarbeit werden normierte Nachrichtenvordrucke benutzt. Die Abbildung stellt den Eingang einer Nachricht dar. Dabei wird der gelbe Durchschlag vom „Sichter“ als „Quittung“ an die „Nachweisung“ zurückgegeben. Der rote Durchschlag wird an den Sachgebietsleiter Lage (S 2) für das Einsatztagebuch (ETB) weitergereicht. Den grünen Durchschlag erhält entweder der S 3 (Einsatz) oder er geht, wie auch der blaue Zettel, an einen festgelegten Adressaten. Quelle: DRK-Landesverband Rheinland-Pfalz 2016, S. 11.

Eine Ähnlichkeit von adhocracy und Einsatzstab bleibt durch die starke Bürokratisierung des Stabs kaum mehr als vage erkennbar. Man erkennt im Einsatzstab schnell die drei zentralen Komponenten, die nach Weber (1972, S. 551f.) eine Bürokratie kennzeichnen: Befehl, Büro und Aktenführung (die Komplementärelemente der Adhocracy wären: Diskussion, Runder Tisch und White Board oder Post-Its). Der Stab untersteht dem Einsatzleiter, bei dem die Entscheidungsgewalt in der Regel verbleibt.73 Die sechs Sachgebietsleiter (S) des Stabs bilden sich mit zunehmender Größe der Einsatzorganisation sukzessive aus den Führungsassistenten heraus, die dem Einsatzleiter bei kleinen Einsätzen unterstützend zur Seite gestellt werden. Der Führungsstab stellt die letzte Stufe einer erweiterten Einsatzleitung dar. 73

Ich stelle dies hier vereinfacht da. In der Regel muss noch zwischen der Technischen Einsatzleitung vor Ort und einem Krisen- oder Verwaltungsstab im Hintergrund unterschieden werden. Mischformen und Querverbindungen sind ebenfalls möglich. Je nach dem kann die Einsatzleitung auch an andere Personen wechseln, etwa den Hauptverwaltungsbeamten (Bürgermeisterin, Landrätin), bzw. in eine taktisch-technische Einsatzleitung vor Ort und eine administrativ-organisatorische Leitung aufgeteilt werden.

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Die administrative Funktion des Stabs erläuterte ein Feuerwehrkommandant Leitenden Notärzten bei einer Informationsveranstaltung, die der Vorbereitung für eine kommende Großveranstaltung diente. Der Feuerwehrmann erklärte wesentliche Aspekte der Stabsarbeit und bat die anwesenden Ärzte für einen Großschadensfall um Verständnis, sollte der Stab zurückhaltend agieren und nicht alle vorhandenen Ressourcen für den Einsatz mobilisieren. Im Beispiel sprach er von zwei Rettungswägen, die nicht zur Einsatzstelle geordert, sondern im Bereitstellungsraum belassen würden. Für ärztliche Einsatzkräfte, die an der Einsatzstelle an der medizinischen Rettung beteiligt sind, sei diese Sparsamkeit unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens nicht nachvollziehbar. Angesichts des gegenwärtigen Leids stoße die Zurückhaltung vorhandener Ressourcen gemeinhin auf empörtes Unverständnis. Jedoch komme der Stab mit dieser Maßnahme seiner Aufgabe nach, über die Bedienung aktueller Probleme hinaus sicherzustellen, dass die Organisation auch für andere, aktuell noch unbekannte Anforderungen gewappnet bleibe. Der Vortragende verwies beispielhaft darauf, bei einem laufenden Rettungseinsatz in Folge eines Terroranschlags auf mögliche weitere Anschläge vorbereitet zu bleiben. Die Einbettung administrativer Rationalität steht hier in Konflikt zu den im Einsatz herrschenden Dinglichkeitsansprüchen. Die Organisation entscheidet nicht allein nach vorliegenden und akuten Bedürfnissen, sondern orientiert ihre Strategie auch an außersituativen Kriterien. Administrative Rationalität berücksichtigt nicht nur Anwesendes, sie zieht auch zeitlich oder räumlich Abwesendes mit ins Kalkül. Der Einsatzstab hat nicht nur die Situation vor Ort im Auge, von ihm wird auch erwartet, mögliche Nebenfolgen, potenzielle Ereignisse und unaufdringliche Aspekte in seine Entscheidungen miteinzubeziehen. Triageprogramme weisen einen ähnlichen Ansatz auf: Auch sie führen Kriterien in die Situation ein, die dieser äußerlich und den interaktionalen Normstrukturen gegenüber fremd, wenn nicht sogar feindlich erscheinen (ausführlich dazu in → Kapitel IV). In solchen Momenten tritt organisierte Rettung den Anwesenden als eine Rationalität gegenüber, die nicht an den akuten Bedürfnissen interessiert oder den Sinn für den eigentlichen Grund der Operation aus den Augen verloren zu haben scheint. Der in → 2.1 folgende Soziologische Einsatzbericht schildert eine Ausbildungssituation, die während eines Notfalleinsatzes stattfindet. Training im Notfall ist durchaus üblich, und so zeigt auch dieses Beispiel: Um ihre Mitglieder ausund fortzubilden, wird die Einsatzwirklichkeit nicht nur abseits echter Einsätze nachgeahmt und geprobt, auch echte Notfalleinsätze werden zu Ausbildungsstätten umfunktioniert. Das operative Ziel, Gefahren abzuwehren und Personen zu retten, wird von weiteren Zwecken wie etwa die Ausbildung neuer Mitglieder begleitet. (Ein anderes Sekundärziel ist das Anfertigen eines Einsatzprotokolls zu

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Abbildung II.3: Die Gruppe (kleinste taktische Feuerwehreinheit) verfügt über eine genau festgelegte Sitz- wie auch Aufstellformation. Letztere kann hinter (Foto oben) oder vor dem Einsatzfahrzeug eingenommen werden. Unten: Ordnungsskizze: Me=Melder, Ma=Maschinist, A=Angriffstrupp, W=Wassertrupp, S=Schlauchtrupp, Weiß 2 Punkte=Gruppenführer, Quadrat=Truppmann, Quadrat mit schwarzer Ecke=Truppführer. Quelle: Oben: Eigenes Foto, Löschübung. Unten: Woelle ffm (2001) de.wikipedia.org/wiki/Datei:Antrete_Sitzordnung.jpg (CC BY 3.0).

administrativen und versicherungsrechtlichen Zwecken. Dies geschieht häufig schon während der Rettungsoperation.) In der geschilderten Ausbildungssituation reagierten fremde Beobachter mit Unverständnis auf die mitten im Notfalleinsatz einsetzenden Ausbildungsbemühungen. Für die Organisation mag die gleichzeitige Verfolgung mehrerer Ziele im Einsatz vorteilhaft sein, ihre Umwelt sieht in der Ausrichtung auf einen anderen Zweck als den der Rettung eine problematische Aufmerksamkeitsverschiebung. In abgeschwächter Form kann die Differenz von Planung und Eingriff auch in der Einsatzgruppe erkannt werden (→ Abbildung II.3). Auch hier orientieren sich

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

die Gruppenmitglieder an formalen Vorgaben. Persönliche Neigungen werden bei der Wahl der Sitzplätze im Einsatzfahrzeug ebenso vernachlässigt, wie auch die konkreten Bedingungen am Einsatzort unberücksichtigt bleiben. Schreie, Rauch, Feuer – beim Ausstieg aus dem Fahrzeug ist dies für die Organisationseinheit „Gruppe“ nicht von Interesse. Die organisationalen Prämissen modalisieren das Verhalten. Anders als im Stab findet hier zwar keine strategische Einsatzplanung statt, die Einsatzkräfte sollen sich aber wie geplant verhalten und sind in der Folge rücksichtslos gegenüber Ereignissen, denen die Aufmerksamkeit gewöhnlich zuerst zufällt. Grundsätzlich fällt es der Organisation jedoch schwerer, ihre Verhaltensanforderungen in Einsatzteams als in Stabseinheiten durchzusetzen.74 Die Führung operativer Einheiten ist prekärer als die von strategischen Abteilungen. Das in der Forschungsliteratur bekannteste Beispiel ist das des Mann Gulch Unglücks von 1949, bei dem die Führungsstrukturen eines Löschteams, dessen Aufgabe die Bekämpfung eines Busch- und Waldbrandes war, fast gänzlich kollabierten (Weick und Roberts 1993).75 In der Folge desintegrierte die Einheit und 13 ihrer Mitglieder verbrannten. Allein diejenigen drei Waldbrandbekämpfer überlebten, die ein Organisationsminimum als Orientierungsmoment aufrecht hielten, die eigene Rettung planten, und nicht kopflos vor der auf sie zukommenden Flammenwand davon rannten (ebd., S. 638).76 Organisationen sind für ihren Vollzug auf Interaktionssysteme angewiesen.77 Handeln Anwesende entlang formaler Vorgaben – seien dies nun Mitglieder eines

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77

Vgl. dies für das Beispiel militärischer Einsatztrupps rekonstruierend: Hellmann (2013, 2015). Allgemein zum Thema Führung in Extremsituationen vgl. aktuell Holenweger et al. (2017). Zum wildland firefighter vgl. die ethnografische Studie von Desmond (2006). Weick (1993, S. 637) bezieht sich in seiner Analyse auf Freud, welcher seine Überlegungen am Beispiel einer militärischen Gruppe darlegt: „Eine Panik entsteht, wenn eine solche Masse [= militärische Gruppe] sich zersetzt. Ihr Charakter ist, daß kein Befehl des Vorgesetzten mehr angehört wird und daß jeder für sich selbst sorgt ohne Rücksicht auf die anderen. Die gegenseitigen Bindungen haben aufgehört, und eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei. Natürlich wird auch hier wieder der Einwand naheliegen, es sei vielmehr umgekehrt, indem die Angst so groß gewachsen sei, daß sie sich über alle Rücksichten und Bindungen hinaussetzen konnte.“ (Freud 1955, S. 104). Organisationen kommen genauso wenig ohne Interaktionen aus wie das moderne Gesellschaftssystem ohne Organisationen und Interaktionen. Organisationen ‚bestehen‘ jeweils aus einer Vielzahl an Interaktionen, die sich als Episoden des Organisationsvollzugs begreifen lassen (Kieserling 1994, S. 171, Luhmann 2000, S. 25 u. 255). Luhmann (1987, S. 552, 1997, S. 812) behilft sich in diesem Zusammenhang mit dem Bild, Organisationen würden auf Interaktionen „schwimmen“ Man kann an dieser Stelle von Interaktionen „in“ Organisationen sprechen. Die Anführungszeichen markieren dabei ein theoretisches Problem (Greve 2015, S. 138, Schwinn 2015, S. 44–47, ferner: Greve 2006). Eine systemtheoretische Prämisse ist bekanntlich, dass Sys-

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Stabs oder eines Außenteams –, so kann von einer organisational gerahmten Interaktion gesprochen werden.78 Die Organisation führt die Interaktion. Da Interaktionen Systeme eigenen Typs sind, kann die Organisation nie vollständig auf die Interaktion durchgreifen. Und da Interaktionen eine wesentlich größere Nähe zu nicht-sozialen Systemen besitzen, lassen sie sich stärker als Organisationen durch ihre natürlichen, biologischen und psychischen Umwelten irritieren. Gerade Außenteams haben im Einsatz mit heterogenen und aufdringlichen Umwelteindrücken zu kämpfen und sind daher „auf der Ebene des Wahrnehmens in hohem Maße störanfällig. Was der Wahrnehmung auffällt, hat möglicherweise soziale Relevanz, kann in die laufende Kommunikation einbrechen, sie stören, sie stoppen“ (Luhmann 1987, S. 562). Gleichzeitig weisen Interaktionen eine geringere Komplexität als Organisationen auf und besitzen daher eine begrenzte Verarbeitungskapazität (ders. 1972). Organisationen konditionieren Interaktionen auf unterschiedliche Weise auf ihr Interesse hin. Mittels Disziplin versuchen Einsatzorganisationen ihr Personal auch in Außenbereichen unter Kontrolle zu halten. Dabei lassen sich unterschiedliche Disziplinarformen unterscheiden (Shalit 1988, S. 120–153; Bröckling 1997). Disziplin durch Drill produziert eine enge Kopplung organisatorischer Vorgaben, von Befehlen und körperlichen Reflexen. Maßgeblich ist hier, dass sich der Ablauf störungsfrei, das heißt ohne Einspruch oder Zustimmung des psychischen Systems entwickelt. Verfahren der Selbstdisziplinierung setzen hingegen nicht darauf, das psychische System aus Sorge vor dessen Eigensinnigkeit zu überbrücken, sondern darauf es zu überzeugen. So begreifen Feuerwehrkräfte heute die disziplinierte Einhaltung formaler Vorgaben als essentiell für einen erfolgreichen Einsatz. Eine Untersuchung von hundert Near-Miss-Reports unterstreicht die positive Bedeutung, die Feuerwehrleute Formalstrukturen in Krisensituationen geben. „[F]ormal policies and guidelines, like formal role positions, provide a stabilizing force that alleviates some of the ambiguity inherent in dangerous contexts“ (Baran und Scott 2010, S. S63).

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teme, egal welchen Typs, als autonom, selbstreferentiell und geschlossen zu verstehen sind. Daraus folgt zum einen, dass sie ihre Elemente ausschließlich aus sich selbst heraus herstellen, und zum anderen, dass Systeme niemals direkt auf andere Systeme einwirken können, geschweige denn aus ihnen bestehen. Interaktionen und Organisationen bleiben also eigenständige, nichts aus ihrer Umwelt heraus steuerbare Systeme. Zugleich schweben Systeme jedoch auch nicht im leeren Raum, sondern sind mit anderen Systemen strukturell oder operativ (d. h. ereignishaft) gekoppelt (Kneer 2001, S. 416f.). Der Kopplungsbegriff wurde durch das Autopoieses-Konzept notwendig und bildet einen zentralen Bestandteil der späten Systemtheorie. Die Autopoieses/Kopplung-Unterscheidung ersetzt die gebräuchliche Unterscheidung von Differenzierung/Integration (Krause 2001, S. 56–63). Von Rahmung einer Interaktion durch Organisation spricht Kieserling (1999, S. 359f.) in Anschluss an Goffman (1974).

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Disziplin konditioniert psychische und körperliche Systeme auf formale Vorgaben und macht sie empfänglich für Befehle. Für die Organisation ist Disziplin ein funktionales Äquivalent der Büroarchitektur. Disziplin und Gehorsam sind für die Einsatzorganisation wichtig, da diese in fremden Umgebungen arbeitet, in denen der Organisation außer ihren Gerätschaften und Einsatzwägen kaum materiale Strukturierungshilfen zur Verfügung stehen. Einsatzorganisationen müssen sich in der Fremde erst aufrichten und setzen dafür auf die Disziplin ihrer Mitglieder. Der geordneten Einrichtung der Einsatzstelle fällt dabei enorme Bedeutung zu. Raumkontrolle besitzt bei Rettungsdiensten wie bei Feuerwehren höchste Priorität (Campeau 2008). Die „Ordnung des Raums“ wirkt auf die Organisation strukturierend zurück. Sie erleichtert ihr nicht nur ihre Arbeit, vielmehr verankert sich die Organisation durch ihre Raumgestaltung in der Fremde. Organisationen, die ihren Mitarbeitern Büros oder Produktionsräume zur Verfügung stellen, können mitunter deutlich weniger Disziplin voraussetzen. Die räumliche und materiale Einfassung des Personals übernimmt dessen Konditionierung.79 Die Arbeitsplatzarchitektur ermöglicht, die begrenzten Kapazitäten von Interaktionen im Sinne organisatorischer Vorgaben umfänglich abzuschöpfen. Dies lässt sich auch für den Einsatzstab beobachten (→ Abbildung II.1). Mit steigender Größe des Führungskopfes wachsen auch die Anforderungen an seine Behausung. Kleineren Führungsköpfen dient der Einsatzleitwagen (ELW) als Stützpunkt, bei größeren Einsätzen wird dieser durch Busse, Lastkraftwagen oder Container ersetzt, die kleine Konferenzräume beinhalten (häufig dann ELW 2 oder ELW 3 genannt). Wird ein Führungsstab benötigt, so bezieht dieser mit entsprechenden Kommunikations- und Präsentationsmöglichkeiten ausgestattete Räumlichkeiten, welche entweder direkt an der Einsatzstelle liegen oder „rückwärtig“, etwa in der Leitstelle oder einer Einsatzzentrale untergebracht werden. Die hochgradige Formalisierung der Leitungsarbeit ist dabei immer deutlicher erkennbar. Entscheidungen werden in einem Einsatztagebuch protokolliert; die Umweltkommunikation erfolgt hochgradig standardisiert. Ein „Sichter“ kontrolliert, wer in den Stabsraum/ELW 2 eintritt. Zudem beurteilt und verteilt dieser ein- und ausgehende Communiqués (→ Abbildung II.2). Auch die Sitz- und Raumordnung ist streng normiert, so dass insgesamt eine Atmosphäre80 nüchterner Sachlichkeit entsteht.

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Vgl. zum hier verwendeten Konditionierungsbegriff Stichweh (2009) und Goecke und Zehetmair (2015, S. 190–193). Von organisatorischer Konditionierung von Interaktionssystemen sprechen auch Jäger und Coffin (2014, S. 71–99), allerdings ohne dabei die materiale Dimension des Raums im Blick zu haben. Die Atmosphäre eines Raums begreift Löw (2008, S. 44) als dessen Potenzialität, die ins Gefühl vorgreift. Es ist spürbar, was an diesem Ort möglich und was hier unangebracht ist. Zum Konzept vgl. Thrift (2004). Für eine systemtheoretische Anwendung s. Ziemann (2003, S. 145f.).

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Der Führungskopf ist vom unmittelbaren Einsatzgeschehen abgesondert und erhält derart einen ganz anders gearteten Bezug zur Lage als ihn die operativen Einsatzkräfte haben. Über seine physische und räumliche Abschirmung von der Gegenwart drängender Bedürfnisse und dringlicher Erfordernisse bleibt er gegenüber anderen Risiken und Erwägungen weiterhin offen. Neben der Lagebewältigung bezieht der Stab auch abstrakte organisatorische Anforderungen in seine Entscheidungen mit ein. Er steht damit vor der Aufgabe, zwischen planerischen Anforderungen und akuten Bedürfnissen abwägen zu müssen.81 Stab und operativer Einheit entspricht jeweils eine unterschiedliche Einsatzrealität. Während die „Gruppe“ vor Ort mit der operativen Intervention betraut ist, ist die Einsatzleitung angehalten, den Einsatz von hinten, aus der Distanz heraus zu führen. Je anspruchsvoller der Einsatz, je komplexer die Gesamtorganisation und je mehr diese auf technische Verbreitungsmedien (vor allem auf den Funk) zurückgreift, desto mehr entfernt sich die Einsatzleitung vom Einsatzort. „Frontdistanz“ baut sich auf, und zwar nicht nur räumlich, sondern auch erfahrungsmäßig (Kaufmann 1996, S. 256–260). Die Informationen, die in beiden Subsystemen über die Einsatzlage vorliegen, weichen deutlich voneinander ab. Operative Einheiten nehmen die Lage vor Ort unmittelbar, aus ihrem Blickwinkel und kontinuierlich wahr. Der Stab erhält Information dagegen immer schon durch mehrere Organisationsebenen gefiltert, aggregiert, in unregelmäßigen Abständen, nachlaufend und von unterschiedlichen Stellen. Bei Bedarf muss er fehlende Informationen erfragen. Man kann den Einsatztrupp als Grenzstelle begreifen, den Stab als organisatorischen Kern. Allerdings bleibt bei der Begriffswahl (Grenze/Kern) unberücksichtigt, dass Einsatzstäbe ebenfalls konkrete Umweltverbindungen unterhalten, allerdings solche, mittels denen sie direkt mit den Kernen anderer relevanter Organisationen kommunizieren können. Anwesende Verbindungspersonen (→ Abbildung II.1) ermöglichen es dem Stab sich mit den Führungsebenen anderer an der Operation beteiligter Organisationen abzustimmen. Neben den Sachgebietsleiterinnen (S) kommen außerdem, je nach Notfall externe Berater hinzu: die Leitende Notärztin, Chemieexpertinnen, Kontaktpersonen der Bundespolizei/Polizei, der Deutschen Bahn AG, betroffener Unternehmen etc. Für das Militär wurde beobachtet, dass die telemediale Einbettung der Einsatzleitung neue Führungstypen hervorgebracht hat (Kaufmann 1996; Jungmeier 2010). Heute steht der Feldherr nicht mehr auf einem Hügel und blickt weitgehend unvermittelt auf die Schlacht, sondern hockt im war room, inmitten heterogener Lagerepräsentationen. Er ist dem Kampfgeschehen vollständig entzogen. Mehr als der militärische Feldherr bleibt der Einsatzleiter der Feuerwehr mit dem Problem 81

Vgl. Apelt (2014, S. 75).

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

konfrontiert, am Einsatzort selbst auf Distanz gehen bzw. auf Distanz bleiben zu müssen. Die Entscheidung, als Stabsmitglied auf der Hinterbühne des Einsatzes (im ELW) zu verbleiben oder die Position zu wechseln, Distanz aufzugeben und sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen und direkt steuernd einzugreifen, ist ihm, anders als seinem militärischen Pendant, nicht genommen. Äußerungen eines Einsatzleiters, die im Anschluss an eine kurz zuvor abgeschlossene Großübung fielen, belegen die Ambivalenz seiner Flexibilität. Interviewer: Wenn du dir den Ablauf heute insgesamt anschaust, in welchen Momenten würdest du gucken, dass du vielleicht doch noch einmal einen besseren Überblick bekommst? Einsatzleiter Feuerwehr (m, 39, Agroßstadt): Der Überblick hätte sicherlich an manchen Stellen noch aktueller sein können. Aber die Führungsweise heute war eigentlich Untypisch für das, was die Feuerwehr normalerweise macht. Der ADienst [= der Einsatzleiter selbst] sollte eigentlich wirklich da hinten, draußen [im ELW] sitzen und von da aus führen. Und das geht bei dieser Art von Einsatzlage meiner Meinung schlichtweg nicht! Es geht nicht! Darum war ich vorne; aber, dass ich da großartig was anders hätte machen sollen?

Um einen aktuellen Überblick über die Lage zu erhalten, gab der Einsatzleiter das rückwärtige Führen auf und ging nach „vorne“. Mit dieser Entscheidung handelte er gegen die verbreitete Maxime, die aus der Erfahrung geboren wurde, dass die strategische Funktion der Spitze Gefahr laufe verloren zu gehen, sobald sich diese in operative Probleme verstricke (Mintzberg 1979, S. 312). Während der abgeschottete Einsatzstab räumlich so eingerichtet und eingebettet ist, dass sich Interaktion und Organisation einander anschmiegen, sind die operativen Einsatzinteraktionen näher an der natürlichen Umwelt gebaut und irritationsempfindlicher. Während der hier zitierte Einsatzleiter der Feuerwehr die unterschiedliche Einsatzrealität von Stab und operativer Gruppe noch überbrücken konnte, indem er zwischen beiden Organisationselementen (unerlaubterweise) pendelte, bleibt das Problem bei zunehmender räumlicher Distanz bestehen. Dauerhaft eingerichtete Leitstellen ist der Blick für die „Situation vor Ort“, wie sie sich den Einsatzkräften stellt, verstellt. Andere Maßstäbe – bis hin zu finanziellen Überlegungen (Weick und Sutcliffe 2010, S. 13–15) –, können hier in den Mittelpunkt rücken und in Konkurrenz mit den Erfordernissen an vorderster Front treten.

2 Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

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Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

Auf den folgenden Seiten befasse ich mich mit der Frage, was unter organisierter Routine zu verstehen ist und welche Folgen es hat, wenn Notfallhelfer über Einsatzroutine(n) verfügen. Zu diesem Zweck beginne ich mit einem längeren ethnografischen Bericht eines Rettungsdiensteinsatzes, an dem ich als Beobachter teilnahm (→ 2.1). Als Bericht über eine teilnehmende Beobachtung ist er ungewöhnlich, da im Mittelpunkt nicht eine dichte Beschreibung des äußerlich Beobachteten steht, vielmehr ist es meine Involvierung und mein Verhalten in einer Notfallsituation, die autoethnografisch nacherzählt wird. Wie in der qualitativen Sozialforschung nicht ungewöhnlich, ist es ein scheinbar unglücklicher Vorfall, der sich letztlich als wissenschaftlicher Glücksfall erweist. Als spontan eingesetzter Laienhelfer brachte ich den Unterschied zwischen Einsatzroutine und Routinemangel selbst in die Situation ein. Es lassen sich mindestens drei Formen dessen abgrenzen, was unter Routine verstanden werden kann (Geiger et al. 2008). Das klassische organisationswissenschaftliche Verständnis sah – ähnlich wie man heute im IT-Bereich von einer Programmroutine oder einem Protokoll spricht – im standardisierten Verfahren eine Routine. Im Blickpunkt dieses Routineverständnisses steht ein gleichförmiges, erwartbares Verhalten, das sich im Vollzug eines ex-ante definierten Handlungsmusters zeigt (ebd.). Damit steht die Routine, nicht aber Routinisierung im Sinne einer erlernten Kompetenz im Mittelpunkt (Stinchcombe 2001, S. 186). Versteht man Routine dagegen als Kompetenz, geht es nicht mehr um die Mustergültigkeit eines Verfahrens. Als Kompetenz tritt Routine in zwei Formen auf: als Könnerschaft und als Erfahrung. „Könnerschaft“ beruht auf implizitem und besonderem Handlungswissen (tacit knowledge), das dazu befähigt, in außergewöhnlichen Situationen adäquat und richtig (eben: gekonnt) zu handeln. Gleichzeitig sind die es Besitzenden nicht in der Lage, ihr Wissen zu explizieren. Tacit knowledge ist daher kaum vermittelbar und somit auch nicht formalisierbar. Während Könnerschaft die individuelle Fähigkeit einer Person, Meisterin ihres Faches, betrifft, lässt sich Erfahrung auch als kollektive Kompetenz verstehen, die durch gezieltes Training aufgebaut werden und im Gedächtnis einer Organisation eingelagert werden kann. 2.1

Soziologischer Einsatzbericht: mangelnde Notfallroutine

Die Einsatzalarmierung erreicht uns auf der Rückfahrt vom Krankenhaus zur Rettungswache. Ich sitze angeschnallt neben der Patiententrage, die ein Großteil des

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(jetzt dunklen) Innenraums des Rettungswagens ausfüllt und versuche die Anzeige des piependen und vibrierenden Einsatzmelders zu entziffern. Mangels passenden Gürtels sitzt dieser bei mir nicht wie bei den Einsatzkräften fest an der Hosenseite, sondern baumelt, etwas umständlich befestigt, an einer meiner Hosengurtschlaufen. Auf dem kleinen Display informiert ein kurzer Text über eine „akute Atemnot/Lungenödem“ und teilt den Einsatzort, ein Altenheim, mit. Im nächsten Moment ertönt das Sondersignal, das Blaulicht wird eingeschaltet und Rettungsassistent Christian wendet den Rettungswagen. Sein Beifahrer, RA Frank, ruft mir durch das kleine, verschließbare Zwischenfenster, welches zwischen Fahrerkabine und Transportraum eingelassen ist, zu, dass ich ja nun doch noch ein paar Einsätze „bekomme“. Der Vormittag hatte ruhig begonnen, doch nun haben wir die Rettungswache seit drei Einsätzen nicht wieder angefahren. Der Kastenwagen erhöht die Geschwindigkeit. Verglichen mit meinen ersten Einsätzen im Rettungsdienst, bin ich relativ entspannt. Auf den ersten Blick verspricht der Alarm keinen dramatischen Einsatz: keine Reanimation, keinen Kindernotfall, kein schweres Trauma, kein Massenanfall Verletzter. Viele Einsätze hatten mich vorher bereits in Altenheime oder in Wohnungen älterer Personen geführt; Tags zuvor begleitete ich außerdem zwei Einsätze, die jeweils eine akute Atemnot betrafen und zu Patienten führten, die unter einer chronischen Atemwegserkrankung (fortgeschrittene COPD82) litten. In beiden Fällen besaß der Patient bereits ein Sauerstoffgerät und in einem Fall wurde die klinische Verbringung vom Notarzt für nicht notwendig erachtet. Unter einem „Lungenödem“ konnte ich mir darüber hinaus nicht viel mehr als „Wasser in der Lunge“ vorstellen. Es war das dritte Mal, dass ich für einen Zeitraum von mehreren Tagen den Rettungsdienst einer Großstadt als teilnehmender Beobachter begleitete. Meine anfängliche Nervosität war mit der Zeit der Erfahrung gewichen, dass es zwar bei vielen Rettungseinsätzen wichtig sei, schnell am Einsatzort zu sein und den Patienten rasch für eine weitere Therapie in eine Klinik zu verbringen – etwa bei Verdacht auf Schlaganfall oder Infarkt, bei größeren Platzwunden oder auch bei Stürzen/Unfällen mit anschließenden Kopf- oder Bauchschmerzen –, dass aber Einsätze, bei denen noch am Einsatzort um das Leben des Patienten gerungen wird, die Ausnahme sind. Meine geringe Anspannung war nicht allein auf das Einsatzstichwort oder auf die geringe Wahrscheinlichkeit, mit einem dramatischen Notfall konfrontiert zu werden, zurückzuführen. Sie erklärt sie sich auch aus meiner ungewöhnlichen Rolle. Während der ersten Rettungseinsätze hatte ich mich schnell an die komfortable Position des passiven, im Hintergrund stehenden Notfallbeobachters gewöhnt. Da der Ort des Notfalls von mir immer erst zusammen mit, genauer: einige 82

Chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Viele Raucher erkranken an COPD.

2 Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

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Schritte nach den Rettungskräften betreten wurde, kam es auf meine Hilfe nie an. Mit meiner Ankunft waren immer auch schon die zur Hilfe gerufenen Notfallexperten vor Ort, in deren Händen das weitere Vorgehen lag. Meine Hilfeleistung beschränkte sich auf simple, die Einsatzkräfte unterstützende Tätigkeiten: das Tragen des EKGs, Ein- und Ausschalten von Lichtern, Offenhalten und Schließen von Türen, Tropfhalten etc. Meine Unterstützung galt primär den Rettungskräften, nie direkt dem Patienten. Mein Hilfsengagement blieb medizinisch wie allgemein „rettungstechnisch“ anspruchslos. Die mir entgegengebrachte Erwartungshaltung ähnelte nicht derjenigen, auf die eine potenzielle Ersthelferin trifft, wenn sie eine bewusstlose oder verletzte Person entdeckt. Ähnlich wie ein am Einsatzort vorbeikommender Passant durfte ich der konkreten Rettungsarbeit guten Gewissens fernbleiben. Mein Engagement wurde vor allem dann gefordert, wenn Patientenangehörige oder Ersthelfer in meiner Passivität eine Konversationschance sahen, an mich herantraten und mir ihre Sorgen oder weitere Informationen zum Patienten oder zum Notfallhergang mitteilten. Häufig wurden in den Gesprächen das eigene Notfallverhalten und damit verbundene Unsicherheiten und Bedenken thematisiert, die es meinerseits zu beschwichtigen galt. Trotz meiner weitgehenden Befreiung von einer rechtlichen wie auch moralischen Hilfspflicht war es mir erlaubt, am Ort des Notfalls zu verbleiben und das Geschehen zu beobachten. Die gemeinsame Ankunft mit dem Rettungsteam und meine Rettungsdienstuniform schützten mich vor kritischen Blicken, vor der Unterstellung voyeuristischer Motive oder dem Vorwurf unberechtigten Eindringens in die Wohnung des Patienten oder in dessen Intimsphäre. Wie die Einsatzkräfte genoss ich Sonderfreiheiten, die mich normalerweise geltenden sozialen Konventionen entzogen.83 Meine Position war deswegen vergleichbar komfortabel. Ich war bei einem Notfall zugegen, war aber weder in der Rolle des Opfers oder eines

83

Metz (1981, S. 65) beschreibt diese Freiheit in einer Zusammenfassung seiner ethnografischen Rettungsdienststudie wie folgt: „[B]ecause the demands of an emergency take precedence over social conventions, ambulance workers are granted a provisional suspension of the rules. Like other medical personnel, they are allowed to make intimate physical contacts and inquiries about personal matters that in different circumstances would be expressly forbidden. Beyond that, they are permitted to violate normal traffic rules and other formal restrictions. They enter places where they would ordinarily not be admitted – expensive restaurants, the working floors of factories, police lockups, private bedrooms. They disregard codes of etiquette (intruding into a funeral service), of privacy (entering restrooms of the opposite gender), and of formal authority (giving directions to personnel in city hall). These exceptions to everyday rules provide the personnel with a taste of freedom which, though temporary, is genuine. For a few moments the ambulance attendant is magically outside the limits of commonplace social regulations.“

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Angehörigen oder Bekannten, noch war ich gezwungen Helfer sein zu müssen oder lief Gefahr als Bystander oder „Schaulustiger“ gelabelt zu werden.84 Der Rettungswagen hält. Ich löse meinen Anschnallgurt, ziehe ein Paar Einwegsicherheitshandschuhe Größe L aus der an der Innenwand befestigten Box heraus, fummele meine Hände in diese hinein und löse das „Corpuls3“ aus der Wandverankerung, die gleichzeitig dessen Ladestation ist. Das „C3“ ist ein tragbares, in verschiedene Module zerlegbares Multifunktionsgerät, mit dem ausgewählte Vitalparameter des Patienten über längere Zeit erhoben werden können (Sauerstoffsättigung des Blutes, Blutdruck, Puls). Das Gerät kann ein EKG schreiben und verfügt über einen Defibrillator. Da ich im Innenraum des RTW mitfahre, ist es meine Aufgabe, das Gerät mit hinaus zu nehmen, wenn wir am Einsatzort angekommen sind. Ich schiebe die Seitentür des Rettungswagens auf, der unmittelbar vor dem Haupteingang des Altenheims parkt. RA Christian öffnet die Doppelhintertür des RTWs und zieht die Patiententrage heraus, deren Fahrgestell sich dabei automatisch ausklappt. Auf die Trage legt er eine Sauerstoffflasche. RA Frank öffnet eine Klappe an der Seite des RTWs und holt dort zwei Notfallkoffer heraus. So ausgerüstet schreiten wir in die große Eingangshalle des Altenheims hinein, in der mehrere Bewohner sitzen und uns anschauen. Ich frage mich, ob der Besuch des Rettungsdiensts hier zum Alltag dazugehört und welche Gedanken und Sorgen unser Eintreffen auslöst; ich notiere, dass ich mir wie ein „ungeliebter, aber oft gesehener Gast“ vorkomme. Daneben fallen mir die gegensätzlichen Geschwindigkeiten auf: dort Langsamkeit, hier zügige Schritte. Einige Meter von der Eingangstür entfernt sitzt ein Mitarbeiter an einem kleinen Empfangsschalter. Er teilt uns mit, dass wir in den ersten Stock müssten und 84

Unabhängig davon wurde ich im Laufe meiner Beobachtung mit zahlreichen Theorien konfrontiert, „wer“ ich sei. Patienten, Angehörige und Passanten sahen in mir aufgrund meiner Kleidung zunächst eine Rettungskraft, die (aus welchen Gründen auch immer) nicht in das Geschehen eingreift. Meine Untätigkeit wurde dann von einigen genutzt, um mir zu schildern, wie sie den Patienten entdeckt hätten, wie sich Patient und Situation dargestellt hätte, was sie dann getan hätten etc. Häufig wurde explizit die eigene Sorge, Hilfslosigkeit und Unsicherheit betont. Ähnlich wie die Rettungsassistenten habe ich dann geantwortet, es wäre richtig gewesen, den Notruf gewählt zu haben und dass „die Kollegen“ sich nun um alles kümmern würden. Angehörige oder mit dem Patienten bekannte Personen schilderten häufig ausführlich die Krankengeschichte des Patienten und die in letzter Zeit aufgetretenen Symptome. Bereits anwesende oder später eintreffende Einsatzkräfte verbuchten mich in der Regel als Praktikanten, Auszubildenden oder aber sie sahen in mir einen Arzt der Freiburger Uniklinik, wenn ihnen auf der Wache meine Universitätszugehörigkeit mitgeteilt wurde („Heute begleitet uns der Herr Ellebrecht von der Universität Freiburg.“). Ab und zu wollten diese Einsatzkräfte mich dann in die Hilfstätigkeit stärker mit einbeziehen, worauf ich sie in der Regel darüber aufgeklärte, dass ich „Sozialwissenschaftler“ sei (Soziologe hielt ich für eine zu akademische Bezeichnung) und dass ich die Arbeit im Rettungsdienst zu Forschungszwecken beobachte.

2 Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

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weist uns auf den Aufzug auf der anderen Seite der Halle hin. Während wir vor der Fahrstuhltür stehen und auf den Aufzug warten, ärgert sich RA Frank über den sparsamen Empfang und die fehlende Begleitung. Er moniert grummelnd (sinngemäß): „Man hätte ja auch nicht mal jemanden den Fahrstuhl schon holen lassen können!“ Im Aufzug beschwert er sich nochmals über die geringe Aufmerksamkeit und fehlende Unterstützung. Nachdem wir aus dem Fahrstuhl ausgestiegen sind, blicken wir einen langen, hellen, menschenleeren Gang hinunter. RA Frank ruft laut und mit einem gespielt fröhlichen Unterton, der seinem Ärger ironisch Ausdruck verleiht: „Halloho, der Rettungsdienst ist da!“ Aus einem Zimmer am Ende des Ganges ruft uns eine Pflegerin herbei. Der Patient, Herr Schmitt, ist zwischen 80 und 90 Jahre alt. Er sitzt, durch Kissen gestützt, aufrecht in einem Krankenbett und röchelt stark beim Ein- und Ausatmen. Das Geräusch erinnert an das Blubbern, das man mit einem Strohhalm erzeugen kann. In der medizinischen Diagnostik bezeichnet man das Symptom als „Brodeln“ und „feuchtes, grobblasiges Rasselgeräusch“. Der Patient spricht nicht, schaut uns aber über die gesamte Einsatzdauer an. Herr Schmitt bewohnt das Zimmer mit seiner gleichaltrigen Ehefrau. Sie sitzt in einem Rollstuhl, der etwas abseits, links neben dem Bett ihres Ehemanns steht. Sie macht einen besorgten Eindruck, zeigt äußerlich aber keine übermäßige Aufregung. Während die Rettungsassistenten damit beginnen, sich um den Patienten zu kümmern, erkundigen sie sich bei der Pflegerin nach seiner Krankengeschichte und erfahren, dass er gestern aus einer Klinik entlassen wurde. Dort hatte er eine Operation. Sie setzen dem Patienten eine Atemmaske auf und versorgen ihn darüber mit Sauerstoff. Dabei sagt RA Frank (sinngemäß): „Gleich geht es ihnen besser, Herr Schmitt.“ Der Rettungsassistent dreht sich zu mir um, reicht mir etwas entgegen und sagt (sinngemäß): „Hier, zieh Du mal das Medikament auf.“ Ich antworte abwehrend (sinngemäß): „Nein, danke, das macht ihr mal.“ RA Frank lächelt und sagt dann trocken und bestimmt (sinngemäß): „Hier, mach mal.“ Er legt mir eine Spritze und eine Aufziehkanüle, beide in Plastik verpackt, sowie ein Medikament hin, das sich in flüssiger Form in einer Glasampulle befindet. Er fordert mich auf, die Kanüle auf die Spritze zu setzen und das Medikament aufzuziehen. Ich weiß nicht, wie die Verpackung der Spritze zu öffnen ist, wende die Verpackung, lese die auf ihrer Rückseite abgebildete Anleitung und öffne die Verpackung dann wie dort angegeben. Das Prozedere zieht sich hin, Zeit verstreicht, mein Studium der Öffnungsanleitung passt nicht zur Situation. Es ist zwar nicht so, dass Rettungsdienstmitarbeiter sich im Einsatz nicht mit Lesen aufhalten würden: Arztbriefe, Krankenhausberichte, verschriebene Arzneien oder auch die Datenkurven des EKGs werden

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

häufig überflogen, selten aber eingehend studiert. Anleitungen für die Handhabung des mitgebrachten Equipments finden nicht ihren Weg vor die Augen der Rettungsdienstmitarbeiter. RA Frank zu mir (sinngemäß): „Ja, so soll man das Öffnen machen, aber wir reißen die Verpackung einfach ab.“ Beim Öffnen der Verpackung der Aufziehkanüle bin ich vorsichtiger, weil die Kanüle, obwohl sie noch in einer abziehbaren Plastikkappe steckt, lang und spitz ist. Nach dem Öffnen weist RA Frank mich an, den Spritzenaufsatz beim Aufsetzen der Kanüle aus hygienischen Gründen nicht zu berühren. Als nächstes versuche ich das Medikament aufzuziehen. Das gelingt mir aber schon deswegen nicht, weil sich der Kopf der Glasampulle nicht abbrechen lässt. Nach mehrmaligem Drücken nimmt RA Frank die Ampulle wieder in seine Hand und demonstriert mir ein zweites Mal die Öffnungstechnik: sein Daumen drückt gegen den Kopf des Fläschchens, die restlichen Finger umfassen den Flaschenkörper.85 Nachdem RA Frank einen starken Daumendruck angetäuscht hat, gibt er mir die ungeöffnete Ampulle zurück. Trotz weiterer Hinweise gelingt es mir abermals nicht, den Kopf abzubrechen. RA Frank (sinngemäß): „Hmm, vielleicht ist das eine ganz Hartnäckige?!“ Er nimmt die Ampulle in die Hand, öffnet sie umstandslos und gibt sie mir zurück. Ich entferne nun die Schutzkappe von der Spritze und ziehe das Medikament auf. Ohne auf weitere Anweisungen zu warten, halte ich die Spritze anschließend senkrecht mit der Spitze nach oben, und tippe mit dem Fingernagel meines linken Mittelfingers gegen den Spritzenbauch, um die kleinen Luftblasen zum Aufsteigen zu bewegen. Dann drücke ich den Spritzenkolben wieder etwas zurück und die angesammelte Luft heraus. RA Frank beobachtet mich dabei und fordert mich auf, den Kolben soweit hochzuschieben, bis die Luft aus ihrem Inneren vollständig entfernt ist. Ich drücke bis sich ein kleiner Tropfen der Flüssigkeit an der Kanülenspitze zeigt. Als nächstes fordert der Rettungsassistent mich auf, die Schutzkappe wieder auf die Spritze zu setzen und diese auf den Wohnzimmertisch vor mir zu legen. Meine während und unmittelbar nach dem Einsatz notierten Beobachtungen sowie die am Abend des Tages hinzugefügten Notizen betonen, wie langsam mir meine Tätigkeit vorkam. Daneben dokumentieren sie mein Erstaunen darüber, von einem Gespräch nichts bemerkt zu haben, welches direkt neben mir stattgefunden haben soll, während ich das Medikament aufzog. RA Christian berichtete mir nach dem Einsatz, die Altenpflegerin habe mein ungeübtes Zusammensetzen der Spritze und das Aufziehen der Injektionslösung gegenüber einer zweiten Pflegerin (deren Hinzukommen ich ebenfalls nicht bemerkt hatte) mit dem Satz kommen-

85

Auf eine Sollbruchstelle, die viele, aber nicht alle Ampullen besitzen, weist er mich nicht hin. Ich lese davon erst später.

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tiert (sinngemäß): „Schau mal, die haben noch im Notfall Zeit, Auszubildende anzuleiten, das haben wir nicht.“ RA Christian erzählte mir, er habe auf den Kommentar mit der Äußerung gekontert (sinngemäß): „Wir sind halt gut organisiert!“ Wie mir war auch den Pflegerinnen in der Situation nicht klar, dass die beiden Rettungsassistenten das weitere Vorgehen der etwa zwei Minuten später eintreffenden Notärztin bereits antizipiert hatten. RA Frank erklärte mir im Nachgespräch Ursachen, Symptome und Verlauf eines kardialen Lungenödems. Eine linksseitige Herzschwäche führt bei diesem zu einem Blutrückstau vor der linken (geschwächten) Herzkammer. In Folge des zunehmenden Drucks vor der Kammer wird Flüssigkeit aus den Blutgefäßen in die Lunge gepresst. Bei Herrn Schmitt hätte die Flüssigkeitsansammlung in der Lunge bereits lebensbedrohliche Ausmaße angenommen, die entweder sein Ersticken („Ertrinken“) oder ein Herzversagen zur Folge haben hätten können. Bei dem von mir aufgezogenen Medikament habe es sich um ein Diuretikum gehandelt, das die Wasserausschwemmung und ausscheidung des Körpers steigert. Das wegen seiner Wirkweise von den Rettungsassistenten auch „Pissfix“ genannte Medikament dürfe nur auf Anweisung einer Notärztin verabreicht werden. Das Aufziehen des Medikaments griff der Diagnose der Ärztin und ihrer späteren Anweisung vor. Die Notärztin trifft zwei Minuten später mit einem weiteren Rettungsassistenten (RA Schwarz) ein. RA Schwarz setzt sich etwas abseits hin und fertigt schriftliche Aufzeichnungen an. Es herrscht nun reges Treiben. Die Notärztin fordert RA Frank zur Verabreichung des von mir aufgezogenen Medikaments auf und verlangt eine weitere Dosis. RA Frank schaut mich auffordernd an, aber ich mache eine abwehrende Geste. Nach dem semierfolgreichen Versuch kurz zuvor verspüre ich wenig Lust, mich nun auch noch vor der Notärztin zu blamieren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es auch zu einer verbalen Aufforderung kam und ob die Notärztin mein Beharren auf Untätigkeit registrierte. Definitiv kam es dazu jedoch ein paar Sekunden später. RA Christian fragt mich: „Gibst Du mir mal das Pflasterband aus dem Koffer?“ Ich schaue auf den Boden um mich herum. Neben den zwei geöffneten Notfallkoffern aus dem RTW liegt nun zusätzlich noch der geöffnete der Notärztin. Ich schaue auf das „geordnete Chaos“ in den Koffern, zucke mit den Schultern und gebe ein verlegenes „Pfff, ähm.“ von mir. RA Christian grummelt (sinngemäß): „Ein bisschen kannst Du ja schon machen.“ Die Notärztin mustert mich, sagt aber nichts. RA Christian holt eine grüne Pflasterrolle aus dem Metallkoffer. Wenige Minuten später geht es schließlich darum, den Patienten vom Bett auf die Trage umzulagern. Dabei fragt die Notärztin die Rettungsassistenten des RTWs (sinngemäß): „Aber mit Anfassen kann er schon?“

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Weder meine Notizen noch meine Erinnerungen konnten mir später Auskunft darüber geben, welche Antwort die Rettungsassistenten gegeben haben. Ich weiß, dass ich bei der Umbettung nicht mehr geholfen habe. Meine unglückliche Rolle verfolgte mich im weiteren Einsatzverlauf noch bis zur Patientenübergabe in der Klinik. RA Christian entschuldigte sich bei mir später für seine vorherige Bemerkung, ich könne doch etwas mehr tun. Da es sich um meinen letzten Beobachtungstag in diesem Rettungsdienstbezirk gehandelt hat, konnte ich mich nicht mehr erkundigen, ob und wie Herr Schmitt das Lungenödem überstanden hat. Am Abend des Tages ergänzte ich meine Notizen schließlich um zwei Anmerkungen. Ein Kollege, ebenfalls Soziologe, reagierte auf meine Schilderung des Einsatzes mit der Bemerkung, dass es insbesondere für Herrn und Frau Schmitt schlimm gewesen sein müsse, zu beobachten, wie RA Frank und ich uns Zeit gelassen hätten. Meine zweite Ergänzung bezieht sich auf das bereits erwähnte Nachgespräch mit RA Frank. Erst seine späteren Erläuterungen zum Krankheitsbild machten mir begreiflich, wie ernst es um Herrn Schmitt bestellt war. Lange Zeit hatte ich nicht den Eindruck, es würde sich um einen „echten Notfall“ handeln: die ruhige Atmosphäre im Altenheim, das unaufgeregte Auftreten des Pflegepersonals – auch das der Ehefrau und des Patienten selbst –, das routinierte Vorgehen der Einsatzkräfte, all dies stand dem Eindruck entgegen, hier würde ein Patient in Lebensgefahr schweben. Nur ein kurzer Tadel der Notärztin kann rückblickend als Beleg dafür genommen werden, wie dringend medizinische Hilfe in dieser Situation benötigt wurde. Mit Blick auf das ausgeprägte Brodeln des Patienten wies die Notärztin die Pflegekräfte auf das fortgeschrittene Stadium des Lungenödems hin und fragte, ohne allerdings eine Antwort zu erwarten, wie eigentlich die späte Alarmierung des Rettungsdienstes zu erklären sei. 2.2

Musterlösung oder Erfahrung: Was ist Routine?

Organisationale Routine wurde lange Zeit unter Maßgabe seiner formalen Präskription verstanden. Der frühe Luhmann argumentiert zum Beispiel gegen Repetition als Grundmerkmal routinierten Handelns und spricht sich dafür aus, die berechenbare Natur der Verhaltensprogrammierung als für Routine charakteristisch zu verstehen. Gegen das quantitative „Ausmaß des Wiederholens“ (Luhmann 1971b, S. 116) bringt er die grundsätzliche Wiederholbarkeit einer als mustergültig erachteten Handlung in Stellung, für die Organisationen durch ihre verschriftlichten Regeln und ihre Verhaltensbindung Sorge tragen. Das Routineverständnis hat hier weniger ein antrainiertes Verhalten im Blick. Luhmanns „Lob der Rou-

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tine“ gilt hier die personen- und erfahrungsunabhängige Gleichförmigkeit formaler Handlungsakte, die schon Max Weber am modernen Verwaltungsbetrieb bestaunte. Ganz ohne Ausbildung, Übung und Lernen geht es aber nicht. Wäre dem so, ließe sich auch mein Handeln im oben beschriebenen Fall als routiniert bezeichnen, da es der Anleitung zum Auspacken und Zusammenbau der Spritze gewissenhaft und regelverständig folgte. Die geforderte Handlungsroutine lag zwar schriftlich vor, das skizzierte Programm wurde auch Schritt für Schritt prozessiert, es fehlte aber schlicht an Geübtheit in der Umsetzung. Entsprechend galt ich Zuschauern als Auszubildender. Verhalten und Engagement der Rettungsassistenten strahlten hingegen Routine aus: Sie waren – sobald sie beim Patienten angekommen waren und seine Rettung in ihren Händen lag – ruhig und unaufgeregt, erweckten den Eindruck zu wissen, was zu tun war, die Handgriffe saßen und auch sie selbst bezeichneten sich gegen jede Kritik keck als „gut organisiert“. Gleichzeitig wichen die Rettungsassistenten bewusst von Vorgaben ab. Die penible Befolgung einer abgebildeten Anleitung zur Entnahme und Zusammensetzung einer Spritze, wurde zwar mit der Bemerkung honoriert: „Ja, so soll man das Öffnen machen“, gleich aber um die Aussage ergänzt: „aber wir reißen die Verpackung einfach ab.“ Das hygienischen Standards verpflichtete Verfahren, so kann spekuliert werden, ist verglichen mit dem vorgezogenen Öffnungsverfahren langsamer und deswegen zu aufwendig. Der angedeutete Unterschied zwischen einer geschriebenen Programmroutine und einer routinierten Handlung kann in die Differenz von normativen und kognitiven Erwartungen rückübersetzt werden (Galtung 1959; Luhmann 1969, 1987, S. 436–443). Der zentrale Charakterzug normativer Erwartungen ist ihre enttäuschungsfeste Bauart. Von einem PKW-Fahrer wird auch dann noch erwartet an einer Unfallstelle anzuhalten und Erste Hilfe zu leisten, wenn die vorherigen Fahrer vorbeifuhren. Kognitive Erwartungen verfügen demgegenüber über geringere Standfestigkeit. Die Parabel vom Hirtenjungen etwa mahnt vor ihrer Brüchigkeit. Denn dieser hatte sich aus Langeweile mehrmals einen Spaß daraus gemacht, die Dorfbewohner mit den Worten „Der Wolf kommt! Der Wolf kommt!“ grundlos zu Hilfe zu rufen. Die Lehre ist bekanntlich, dass die Bewohner, durch den wiederholten Fehlalarm verärgert, am Ende nicht mehr zur Hilfe eilen. Es kommt nun schließlich wie es kommen musste. Das Lehrstück endet damit, dass die Schafe allesamt vom Wolf gerissen werden, da niemand auf den am Ende begründeten Notruf des Hirtenjungen reagiert. Die Geschichte unterstellt also, dass die dörflichen Erwartungsstrukturen aufgrund erlebter Enttäuschungen umgebaut wurden.

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

Im Alltag finden sich ähnliche Korrekturen im Zusammenhang mit zu Fehlalarmen neigenden Alarmanlagen oder dort, wo das Heulen öffentlicher Sirenen als üblicher Testlauf abgetan wird. Die Öffnungsanleitung der Spritzenverpackung übersetzt eine Hygienenorm in ein sehr engmaschiges Handlungsprogramm, welches auch dann nicht revidiert werden wird, wenn es die beiden Rettungsassistenten nicht befolgen. Es beinhaltet keine Optionen, bleibt indifferent gegen deviantes Verhalten und wird diesem nicht angepasst. Andere Vorgehensmodelle, wie z. B. die im Rettungsdienst zunehmend gebräuchlicher werdenden Algorithmen, statten ihre Anwender zwar mit etwas mehr Handlungsfreiheiten aus. Der Universalalgorithmus (→ Abbildung II.4) verlangt vom Rettungsassistenten ein medizinisches Urteil darüber, ob die Reaktion eines Patienten noch als „Ansprechbarkeit“ einzuordnen sei oder ob die Atmung eines Patienten ausreichend funktioniere. Doch auch wenn man diese kleinen (und im Einzelfall durchaus schwierigen) Entscheidungsmomente im Algorithmus entdecken kann, stellt er in erster Linie eine streng verhaltenskonditionierende Norm dar. Konditionalprogramme verpflichten nicht dazu, eine möglichst sinnvolle Individuallösung zu suchen. Sie binden das Handeln fest an ein Signal. Liegt eine bestimmte Information vor, dann löst diese ein bestimmtes Vorgehen aus (Luhmann 1971b [1964], S. 122). Ihre Rückwärtsgewandtheit macht sie gegenüber zukünftigen (Misser)Folgen und Effekten gleichgültig. Die damit einhergehenden Risiken beantwortet der Universalalgorithmus, indem er seinen Anwender zuletzt mit zusätzlichen Aufgaben belastet. So soll dieser den Patienten nach Durchlauf des Algorithmus überwachen oder „Maßnahmen im Rahmen der Notkompetenz“ (= eigentlich der Notärztin vorbehaltene Maßnahmen) erwägen (→ Abbildung II.4, gelber Kasten). Die Entscheidungsarbeit und Verantwortung wird an dieser Stelle vom Programm auf das Personal übertragen. Routine galt lange Zeit als bloßer Auswurf von Konditionalprogrammen (Geiger et al. 2008), Luhmann bezeichnete diese deswegen zunächst gleich als „Routineprogramme“ (Luhmann 1971b). Doch die Gleichsetzung von Programm und Routine beinhaltet die Annahme, normative Erwartungen seien bruchlos in kognitive transformierbar – was sicherlich ein Traum vieler Manager ist. Kognitive, auf Erfahrung basierende Routinen können zwar gezielt entlang formaler Vorgaben entwickeln werden, jedoch bedarf es enormen Aufwands sie mit diesen identisch zu machen und zu halten. Totale Disziplin, eine vollständige Verhaltenstechnisierung, ein Heer stumpfer Rechenknechte (Krämer 1988, S. 159) wäre nötig, um Formalstruktur und organisationalen Betrieb zusammenfallen zu lassen – und es war ja gerade das frühe Verdienst Luhmanns (1964, S. 268–382), die prinzipielle Unmöglichkeit eines solchen Betriebs schon allein aus Gründen des Ei-

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genrechts einer jeden Situation (später dann: Interaktion) zu betonen und den essentiellen Beitrag informeller Strukturen für die Stabilität von Organisationen hervorzuheben. Schriftlich fixierte Verhaltensnormen können als Ressourcen zum Aufbau kognitiver Routine genutzt werden,86 umgekehrt kann eine Organisation aber auch eingelebte Routinen adeln, indem sie sie in formale Konzepte übersetzt und zum Musterverfahren erklärt. Eine permanente Spiegelbildlichkeit stellt sich jedoch nie ein. Eine gute Formalstruktur muss eher darauf achten, etablierte kognitive Strukturen bei ihrer eigenen Fortentwicklung zu beachten (Stinchcombe 2001, S. 21– 29). Ansonsten droht sie sich von Wirklichkeitsansprüchen zu entfremden und überholt zu werden (ebd., S. 186): „no system of formality can last unless it can improve its abstractions of reality“ (ebd., S. 36). Erst Eingedenk dieser Zusammenhänge kann in sinnvoller Weise die Frage gestellt werden, wie das Verhalten von Rettungsassistenten dahingehend verändert werden kann, dass es hygienische Standards im Einsatz tatsächlich einhält.87 Nicht nur Konditionalprogramme, auch eigentlich dafür unverdächtige Zweckprogramme können Routinen hervorbringen (Jäger und Coffin 2014, S. 83– 85). Anders als Konditionalprogramme sind Zweckprogramme formal nicht auf ein bestimmtes Reiz-Reaktion-Schema hin festgelegt, im Gegenteil, sie sind nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert und stellen relativ frei, wie ein durch sie benanntes Ziel erreicht wird. Als organisatorische „Flucht nach vorne“ projizieren sie Soll-Zustände, projektieren sie Endergebnisse in die Zukunft, lassen den Weg dorthin aber offen (Besio 2009, S. 174). Aus der unterdeterminierten MittelZweck-Relation resultiert eine „begrenzte Beweglichkeit“ dieser Programme (Luhmann 1971b, S. 119). Ein innovativer und flexibler Mitteleinsatz ist durchaus gewünscht.88 Die Zweckprogrammen eigentümliche begrenzte Flexibilität in der Wahl der Mittel hat ihre Rechnung in der Praxis jedoch ohne die Erfahrung gemacht. So 86

87 88

Damit Organisationen Erlerntes auch in der Praxis umsetzen, reicht eine bloße Veränderung der formalen Entscheidungsprämissen häufig nicht aus. Sie bildet nur einen ersten Schritt, ein Lernen 1. Ordnung, welches noch nicht zwingend auf die Ebene kognitiver Routinen und kultureller Praxen durchschlägt und diese gleichsam mitanpasst. Dies wäre als ein Lernen 2. Ordnung zu bezeichnen (Argyris 1996; Argyris und Schön 2006). In Kapitel IV setze ich mich ausführlich mit Triagealgorithmen auseinander und komme in dem Zusammenhang auch nochmals auf die Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogrammen zurück. Der flexible Mitteleinsatz muss sich nachlaufend auf seine sachgemäße (zweckmäßige, zielgerichtete) Verwendung prüfen lassen. Die Definition von Zwecken ermöglicht eine Reflexion über die richtige Verwendung von Mitteln. Während Konditionalprogramme die Kontrolle so gesehen internalisiert haben, findet sie bei Zweckprogrammen nachfolgend statt und kann nicht weniger „hart“ ausfallen.

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offensichtlich Konditionalprogramme gemeinhin auf Routine zu verweisen scheinen, so abwegig ist dieser Gedanke üblicherweise für Zweckprogramme. Die Organisationsforschung weiß dennoch von etlichen Beispielen zu berichten, in denen Mittel und Wege, die sich einmal bewährt haben, wieder und wieder benutzt werden, obwohl längst bessere Alternativen zur Verfügung ständen. Mit der Herausbildung gängiger Verfahrenswege verringert sich die Möglichkeit von Variation. Diese Pfadabhängigkeit gipfelt im lock in, dem Punkt, an dem sich Prozesse zu Gewohnheiten verfestigt haben (Sydow et al. 2009).

Abbildung II.4: Universalalgorithmus im Rettungsdienst Dortmund Quelle: Schniedermeier und Lemke 20101, S. 4.

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Organisationen betrachten kognitive Routinen als Entscheidungsprämissen, über die sie nicht verfügen und die sie kaum verändern können, gleichwohl rechnen sie intern mit ihnen. Jede Organisation setzt zahlreiche Routinen voraus, vom Erkennen basaler Muster über schulisch erlernte Fertigkeiten bis hin zu Sonderwissen, das in der beruflichen Ausbildung erworben wird. RA Christian wusste zum Beispiel „aus dem Effeff“, in welchem Notfallkoffer sich die Pflasterrolle befand. Entsprechend sind kognitive Routinen Voraussetzung jeder Organisation: Alle selbstreferentiell konstituierten Entscheidungsprämissen findet man eingebettet in einen Kontext kognitiver Routinen. Keine Situationsdefinition wäre ohne sie möglich. Auch keine Kausalattribution. Auch keine abgrenzbaren Alternativen, also keine Entscheidungsfreiheiten (Luhmann 2000, S. 251).

Die letzte Einschätzung, die Erfahrung als Grundvoraussetzung für Entscheidungskommunikation aufwertet, ist hier von besonderer Bedeutung.89 Erst kognitive Routinen, Erfahrungen „erzeugen mithin jenen Entscheidungsspielraum, der dann durch normative Prämissen eingeschränkt werden kann“ (ebd., S. 252). Eine derartige Handlungseinschränkung steuerte auch das geschilderte Einsatzgeschehen. Aufgrund ihrer Erfahrung im Umgang mit kardialen Lungenödemen bereiteten die Rettungsassistenten die Verabreichung eines Diuretikums vor. Da es ihnen aber nicht erlaubt ist, dem Patienten das Medikament ohne ärztliche Anweisung zu geben, waren sie dazu gezwungen, auf die Notärztin zu warten. Erfahrung vermehrt also auch hier Handlungsmöglichkeiten, organisationale Normen schränken diese wiederum ein. Durch die Handlungseinschränkung öffnete sich ein Zeitfenster, in dem es möglich war, mich in das Rettungsgeschehen miteinzubeziehen. Der Kommentar von RA Christian: „Wir sind halt gut organisiert!“, den dieser auf die kritische Bemerkung der Pflegekräfte hin entgegnete, kann vor diesem Hintergrund durchaus als bewusster Ausdruck des Zusammenspiels kognitiver und normativer Erwartungen verstanden werden. Meine spontane Ausbildung war nur aufgrund der Zeitverzögerung möglich, den das Zusammenspiel von Einsatzroutine und organisatorischen Restriktionen erzwang. Bleiben wir noch einen Moment bei dem Beispiel stehen. Die operative Natur kognitiver Routinen lässt sich noch einmal näher bestimmen, wenn sie über die Unterscheidung von Beobachtung/Operation in den Blick genommen wird. Routine kann als eine Operation begriffen werden, die unbeobachtet erfolgt. Sie ist, wie es oftmals heißt, von Reflexion entlastet (Koch 2008, S. 104f.; Becker 2004, S. 656f.). Es ist zwar wünschenswert, dass Routineoperationen nie ganz aus dem eigenen Blick geraten, das „unter der vergesslichen und reflexhaften Gewohnheit 89

Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Auseinandersetzung zum Routinebegriff der Praxistheorie bei Pritzlaff (2006, S. 142–145).

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etwas“ wacht, (Latour 2014, S. 376), dieser Wunsch aber ist selbst der beste Zeuge, das Routinen häufig an Beachtung verlieren, an Kontrollaufmerksamkeit einbüßen und ihr vermeintlich bekannten Effekte kaum mehr überprüft werden. Jede Operation erzeugt eine Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher, produziert also eine Veränderung. Routineoperationen sind nun als solche Operationen zu verstehen, bei denen diese Differenz nicht mitbeobachtet wird. Sie sind „rein faktisches Geschehen“ (Luhmann 2002a, S. 50), sie „verlaufen blind. Sie tun, was sie tun“ (Luhmann 1988b, S. 896), sie reproduzieren ohne dabei Informationen abzuwerfen (Greshoff 1999, S. 80–83). Organisationen verfügen demnach nicht nur dort über Beobachtungslatenzen, über blinde Flecken, wo ihnen Routine und Sensorik fehlen (Kühl 2009). Gerade auch in den Arbeitsfeldern, in denen Routine – wohlgemerkt nun im Singular – vollständig ausgebildet und dauerhaft mit Erfolg eingesetzt wird, bauen sich im Vertrauen auf ihre erneute Wirksamkeit Latenzbereiche auf. Es bedarf dann der Einrichtung besonderer Beobachter, um ihr Operieren wieder ins Bewusstsein der Organisation zu heben (Luhmann 2000, S. 49). Beobachtungen stellen besondere Operation dar (Greshoff 1999, S. 80–83).90 Sie legen Unterscheidungen an und gewinnen darüber Information. Die Beobachtung einer Operation ist dann als eine Beobachtung 1. Ordnung zu verstehen, wenn sie im Blick hat, was die Operation vollzieht (und was nicht). Im obigen Beispiel ist die Beobachtung dessen, was meine Hand gerade tut – sie drückt erfolglos gegen den Kopf einer Glasampulle – als eine Beobachtung 1. Ordnung zu begreifen. Diese Beobachtung ist ganz bei der Operation. Auch die Simulation des Rettungsassistenten, die zeigen sollte, wie das Fläschchen in die Hand zu nehmen ist, blieb letztlich auf dieser Beobachtungsebene stehen. Zu einer Beobachtung 2. Ordnung wäre sie dann aufgestiegen, wäre beobachtet worden, wie ich meine Hand beobachte. Eine Beobachtung 2. Ordnung hätte erkennen können, dass meine Beobachtung 1. Ordnung mit der Differenz schwach/kräftig hantiert.91 Der Rettungsassistent hätte mich dann auf den blinden Fleck meines Beobachtungsschemas hinweisen können, nämlich dass ein erfolgreiches Öffnen weniger von der ausgeübten Kraft abhänge und mehr damit zu tun habe, ob der richtige Ort, die Sollbruchstelle am Ampullenhals korrekt fixiert wird (möglicherweise hat der Rettungsassistent mir das sogar demonstrieren wollen, nur: die Information erreichte mich nicht). Routine wirkt nicht nur reflexionsentlastend. Mit fortschreitender Perfektionierung einer Aufgabe verringert sie auch den Energieeinsatz (Luhmann 1983b, 90 91

Eine Identität von Operation und Beobachtung betont dagegen Schützeichel (2003, S. 54f.). Zum Unterschied der Beobachtung 1. und 2. Ordnung vgl. Luhmann (1986, S. 37f.); vgl. ferner auch: Knoblauch (2007, S. 345f.).

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S. 230f.). Während das Einüben neuer Verhaltensmuster Konzentration erfordert, stellen Routinen Kapazitäten frei, die eingespart oder anderen Bereichen zufallen können. Sobald Routinen einmal aufgebaut sind, werden zusätzliche Operationen möglich, die sich auf das Antrainierte stützen können (Pritzlaff 2006, S. 144). Auf den Schultern von Routinen können Einsatzteams im Notfall entlang eingeübter Schemata beobachten, gleichzeitig notwendige Informationen kommunizieren und nebenbei die angezeigten Handgriffe tätigen. Brisant wird es vor allem dann, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, die die kollektiven Erfahrungsstrukturen übersteigen. In einem euphemistischen Sinne echte Entscheidungen treten erst angesichts von Unentscheidbarkeit auf (Ortmann 2008, S. 145–147). Wenn Erfahrung kein verlässlicher Ratgeber mehr ist, formale Konzepte keine Richtung mehr vorgeben oder nicht berücksichtigt werden können und die riskanten Folgen einer Entscheidung Beachtung finden, steht man jenseits jeglicher Routine. Im Notfall und in Einsatzorganisationen ist die Willkür des Entscheidens92 daher auch bekannter bzw. anerkannter als in anderen Situationen und Organisationen. Notfälle drängen auf Entscheidungen. Es ist zwar nicht belanglos, wie entschieden wird, es ist aber wichtig, dass überhaupt entschieden wird. Um dies besser verstehen zu können, lohnt ein Blick auf die Zeitstruktur von Entscheidungen. Vor der Entscheidung verweist die Entscheidung noch auf mehrere Handlungsmöglichkeiten; noch ist offen, wie entschieden wird. Nach der Entscheidung zeigt sich die Entscheidung als fixierte Kontingenz; sie hat etwas verändert, bietet nun Orientierung, Anschlussmöglichkeiten und Hoffnung. Da im Notfall die Handlungsmöglichkeiten gering sind und zusehends schwinden, verknüpft sich mit der Handlungsentscheidung die Hoffnung, dass der Lauf der Dinge noch zu ändern sei. „Tut doch endlich was!“ Der Wunsch nach Führung und Entscheidungsstärke gedeiht dort besonders gut, wo gehandelt werden soll. Zweifel, das natürliche Entscheidungshemmnis, so schreibt Ortmann (2011, S. 25) mit Bertolt Brecht, werden in Notfällen nicht durch gute Gründe ausgeräumt. „Entscheiden heißt vielmehr, 92

Die Begriffe Entscheidungsfreiheit und Entscheidungswillkür sind in der Systemtheorie weitgehend austauschbar, allerdings unterstreicht Freiheit die Möglichkeit sich auch indifferent verhalten zu dürfen und nicht wählen zu müssen. Die Frage ist dann, ob auch Indifferenz als Verhaltenswahl zugerechnet wird. Der Entscheidungsbegriff selbst ist bei Luhmann nicht mehr weiter auflösbar. Herkömmliche Versuche, Entscheidung als Wahl zwischen Alternativen zu fassen, bleiben für ihn tautologisch und entfalten lediglich die Paradoxie des Entscheidens (Luhmann 1997, S. 831). Entscheidungen interessieren ihn daher allein als Kommunikation und nicht als ein Ausdruck des freien Willens. Entscheidungen entstehen für Luhmann immer erst mit ihrer Zurechnung im sozialen Prozess (Victoria et al. 2016). Ähnlich, aber mit anderer Absicht, kritisiert Weick (1993, S. 634f.) den die Organisationswissenschaft dominierenden Dezisionismus. Mit dem Sensemaking-Ansatz hebt er (1993, 1995) das Orientierungspotenzial von Entscheidungen hervor.

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sich über den Mangel an guten Gründen hinwegzusetzen“ und zu entscheiden, weil man handeln will. 2.3

Blinde Routine und high reliability Interviewerin: Wann werden für dich Notfallsituationen zur Normalität? RA (w, 26, tätig in Bstadt): Normalität oder Routine? I: Ja, beides. RA: Also, Normalität oder Routine sind ja solche Notfalleinsätze wie Herzinfarkt, Schlaganfall, so das, was man häufig hat. Bluthochdruck, Unterzucker, das sind so die ganz klassischen Notfälle, wo man dann ganz routiniert im Prinzip arbeiten kann und jeder weiß, was er zu tun hat. Und es ist auch ganz klar, was jetzt als nächstes passieren muss oder was der Patient für Medikamente kriegt. Das sind so im Prinzip die ganz normalen Notfälle. Vielleicht ist es leichter zu sagen, wann es nicht normal ist: Notfälle, in denen man nicht genau weiß, was der Patient hat oder so, das ist dann eher keine Routine mehr. Und dann ist man auch oft unsicher. Aber wie gesagt: so die ganz normalen, klassischen Einsatzbilder, das ist schon Routine, also das ist dann auch normal und das ist auch ganz angenehm, weil man dann einfach weiß, was man .

Organisationen schätzen Routine aufgrund ihrer Effizienz. Die mühelose Durchführung routinierter Operationen setzt jedoch nicht nur Kapazitäten frei, sie führt auch zu problematischen Verengungen. Zum einen fehlt es Routine gerade an dem, was sie einspart: Aufmerksamkeit. Routine neigt dazu, ihren eigenen Effekten gegenüber blind zu werden. Besonderheiten, die nicht ins Schema passen, werden mitunter nicht wahrgenommen. Ähnlich verhält es sich mit einer zweiten Folge. Die Permanenz des Notfalls und die ständige Wiederkehr immer gleicher Fälle und Handgriffe machen Routiniers unempfindlich gegenüber der individuellen Dimension und Note eines Notfalls. Takt- und Mitgefühl laufen Gefahr auf der Strecke zu bleiben. Die mithin folgenreiche Problematik organisierter Routine ist Rettungsorganisationen durchaus bekannt. In ihrem Bewusstsein werden Selbstansprüche formuliert, man müsse stets wachsam und empathisch bleiben. RA (m, 26, tätig in Bstadt): Naja, das ist so, dreiviertel der Einsätze sind ziemlich banal und das wiederholt sich eben natürlich auch oft. Das ist dann in dem Sinne normal, also für uns normaler Arbeitsalltag. Trotzdem muss man aber natürlich bei jedem Einsatz individuell wachsam sein und auf die Leute eingehen und man darf dann nicht was Relevantes übersehen! Man muss da natürlich immer im Hinterkopf haben, dass man trotz aller Routine eben nicht zu sehr in gewohnte Schemata verfallen sollte, weil es ja immer passieren kann, dass man da irgendwas

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übersieht und sowas. Dann kann man natürlich hinterher rechtlich dafür belangt werden; wenn man da Fehler beim Arbeiten begeht, die man hätte vermeiden können. Also: Trotz aller Routine und Banalität muss man immer wachsam sein, ja. Aber natürlich stellen sich Gewohnheiten ein und manche Sachen sind dann einfach nicht mehr so aufregend, wie sie vielleicht für Außenstehende oder auch für den Patienten selbst sind.

An die Entwicklung organisationaler Routinen kann der Aufbau von Normalerwartungen anschließen (Luhmann 2000, S. 250; Latour 2014, S. 374-380). Mit Normalerwartungen verliert sich das Korrekturpotenzial, das kognitive von normativen Erwartungen unterscheidet. Einmal ausgelöste Organisationsroutinen werden im blinden Vertrauen auf ihre wiederholte Wirksamkeit prozessiert und nicht weiter, nur im Seitenblick oder verspätet auf ihre Funktionalität hin überprüft. Während der Auszubildende enorme Kontrollleistungen aufbringt, um eine ihm ungewohnte Prozedur fehlerfrei zu verrichten, läuft der Routinier Gefahr diese blindlings durchzuführen und Störungen oder Abweichungen zu übersehen oder zu spät zu bemerken. Angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen fordert der interviewte Rettungsassistent daher stetige Wachsamkeit. Gerade dort, wo durch die Wiederholung bestimmter Handlungsschemata Vertrauen aufgebaut worden sei, müsse vermehrt Misstrauen eingesetzt werden.93 Das Problem dabei ist, dass Normalerwartungen keine Erwartungen im engeren Sinne darstellen. Da für Erwartungen maßgeblich sein soll, dass der Eintritt des Erwarteten überprüft werden kann, Normalerwartungen jedoch dort, wo sie eine blinde Vertrautheit94 mit der Welt betreffen, in einen unbeachteten Latenzbereich abzusinken drohen, sind sie häufig erst wieder für fremde Beobachter zu erkennen (Luhmann 2000, S. 130). Normalerwartende bemerken mithin nicht, dass sie enttäuscht wurden. Routiniers, so lässt sich zuspitzen, entscheiden nicht, denn einer echten Entscheidung geht stets die Einsicht voraus, es mit einer „schlecht definierten Situation“ (Schimank 2005, S. 72–78) zu tun zu haben, in der gewohnte Handgriffe zu versagen drohen. Für Entscheidungen braucht es zunächst Klarheit über bestehende Unklarheit; die Situation muss in ihrer Singularität erkannt werden. Zweifel, ob das üblicherweise angewandte Verfahren im vorliegenden Fall tatsächlich

93

94

Auch Effektivität kann routinisiert werden, steht dann aber sofort in der Kritik, jegliche Effizienz vermissen zu lassen. Ein in diesem Zusammenhang oft genanntes Beispiel, ist der Einsatz einer Halswirbelsäulenschiene („Halskrause“) in Einsätzen, bei denen der Patient gestürzt ist. In nicht dramatisch klingenden Fällen vertraut der Rettungsdienst in der Regel darauf, dass die Wirbelsäule beim Sturz nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde und legt keine den betreffenden Bereich immobilisierende Schiene an. Da eine tatsächliche Verletzung/Anbruch aber am Einsatzort kaum beurteilt werden kann, gibt es Bezirke, die ihren ausnahmslosen Einsatz vorschreiben. Neben Zutrauen (confidence) und Vertrauen (trust) bezeichnet Vertrautheit (familiarity) eine dritte Form von Vertrauen, die den anderen beiden zu Grunde liegt (Luhmann 1988a).

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adäquat ist oder ob es nicht sinnvoll sei, von ihm abzuweichen, bilden die Voraussetzung, um über Alternativen nachzudenken und deren Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Doch selbst wenn nicht entschieden wird und eine Einsatzkraft gedankenlos die üblichen Routinen abspulte, wird ihr dies im Falle eines Fehlers als falsche Entscheidung angerechnet. Keine Entscheidung zu treffen, war dann die falsche Entscheidung. Organisationen, die trotz all ihrer Routine der Möglichkeit unwahrscheinlicher Abweichungen gegenüber aufmerksam bleiben, werden in der Forschung als High Reliability Organizations (HROs) bezeichnet.95 Positiv besetzte Routineeffizienz tritt in HROs zu Gunsten höher bewerteter Effektivitätsmaßstäbe zurück, wodurch diese Organisationen verlässlich werden. Trotz aller Routine gelingt es ihnen sich deroutinisiert zu verhalten (Luhmann 2000, S. 318). Insbesondere Einsatzorganisationen stellt sich diese Anforderung in voller Schärfe: Da sie in Situationen eingreifen sollen, die gefährlich, chaotisch und für alle anderen ungewöhnlich sind, sind es gerade ihre Routinen, die sie positiv auszeichnen und sie zu einer verlässlichen Organisation machen. Gleichzeitig verzeihen aber gerade Notfälle keine Fehler, so dass es insbesondere hier gilt, jede Routineannahme auf ihre Plausibilität zu prüfen und Abweichungen gegenüber aufmerksam zu bleiben (Vidal und Roberts 2014, S. 25). Paradoxerweise stellt sich eine gesteigerte Verlässlichkeit erst mit der Entroutinisierung verlässlicher Routine ein. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, warum nicht jede Organisation eine HRO ist. Um dies zu beantworten, wende ich mich zunächst der Umwelt von HROs zu und kläre inwieweit Rettungsdienste und Feuerwehren zu ihnen gezählt werden können. Abschließend fasse ich einige Eigenschaften dieser Organisationen zusammen. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Hochzuverlässlichkeitsforschung einen enormen Boom erfahren und viele Unternehmen zeigen sich daran interessiert, wie sie ihre Verlässlichkeit erhöhen können. Blick man auf die Anfänge der high reliability Forschung zurück, scheinen die allgemeinen Erwartungen an die Theorie jedoch überhöht. Denn die ersten Fallstudien der in den 1980er Jahre gegründeten kalifornischen HRO-Forschergruppe galten solchen Organisationen, an deren sicheren Betrieb nicht nur die Organisationen selbst ein zentrales Interesse hatten, vor allem ihre soziale Umwelt (Bürgerinnen und Bürger, politische Institutionen, NGOs – pochte auf ihre Fehlersensibilität oder ihre Ausfallsicherheit (Bourrier 2008, S. 120). Die ersten Untersuchungen betrafen Organisationen, deren primärer

95

Vgl. insbesondere LaPorte (1996), Weick et al. (1999) und Weick und Sutcliffe (2007). Für einen kritischen Rückblick auf die Geschichte vgl. Bourrier (2008).

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Zweck der Betrieb eines technischen Systems war, dessen Ausfall schwerwiegende Konsequenzen zeitigen würde: die Arbeit auf einem Flugzeugträger (Rochlin et al. 1987; Weick und Roberts 1993), in einer Flugsicherungseinrichtung (LaPorte 1988), in einem Atomkraftwerk (Schulman 1993) und bei einem Energieversorger (LaPorte und Lascher 1988). Hier verlangen verschiedene politische und soziale Akteure, häufig auch eine Mutterorganisation, reibungslose, vor allem fehlerfreie Abläufe. Die Umwelt besitzt hier ein ureigenes Interesse an einem störungsfreien Betrieb96 dieser Einrichtungen, weshalb sie versucht, diese zu kontrollieren, etwa indem sie sachkundige Beobachter und Sicherheitsexpertinnen entsendet, die regelmäßig nach dem Rechten schauen. Dass die Umwelt an der Zuverlässigkeit der Organisation hochgradig interessiert ist und für ihre Gewährleistung auf die Organisation durchzugreifen versucht, stellt ein auffälliges Merkmal von HROs dar. Zusätzliche Bedeutung erhält die organisationale Umwelt durch ihren stabilisierenden Einfluss. In vielen Fällen garantiert sie wichtige Ressourcen und trägt damit zur Stabilisierung systeminterner Strukturen bei (Senge und Dombrowski 2015, S. 96). Die Umwelt von HROs erweist sich, verglichen mit der der meisten Wirtschaftsunternehmen, als relativ friedlich. Die untersuchten Organisationen stehen zum Beispiel nicht in einem harten Wettbewerb mit weiteren Konkurrenten (Senge und Dombrowski 2015, S. 90– 100). Der für HROs typische geringe unternehmerische Effizienzdruck, ein fehlendes oder abgeschwächtes Gewinnstreben, erlaubt es dann, überdurchschnittlich viele Ressourcen in die Zuverlässigkeit des technischen Systems zu investieren. Als ein dritter, die Herausbildung von HRO begünstigende Faktor stellt schließlich die hohe Kontrollmacht der betreffenden Organisation über ihren technischen Kern dar (ebd., S. 91). Vor dem Hintergrund der drei genannten Faktoren kann nun gefragt werden, ob Feuerwehren oder Rettungsdienste (oder beide) diese Voraussetzungen ebenfalls erfüllen. An ihrer Zuverlässigkeit besteht eindeutig ein hohes gesellschaftliches Interesse, Fehler sind keine Option. Ebenfalls sind sie in einem vergleichbar wettbewerbsarmen Umfeld aufgestellt, sodass die Organisationen entsprechend 96

Das besondere Interesse der Umwelt am tadellosen Funktionieren einer Organisation weist schließlich darauf hin, dass Reliabilität ein Prädikat ist, das ganz heterogene Leistungen adressieren und differenzierte Wertungen erfahren kann: Wann eine Organisation tatsächlich verlässlich ist, ist eine Frage der Perspektive, „a matter of definition and measurement“ (Berthod et al. 2015). Andere Theorien sind deswegen den umgekehrten Weg gegangen und haben danach gefragt, warum auch Organisationen, die keine Fehler machen dürfen, damit rechnen müssen, dass sie eines Tages versagen werden. Leistungsausfälle – so der Ausgangspunkt der Normal Accident Theory – gehören auch in diesen Organisationen dazu (Perrow 1984; Sagan 1995; Bourrier 2008, S. 130– 139). Die HRO-Forschung steht dagegen methodisch in Tradition der normal operation studies. Ihr geht es nicht darum, a posteriori Fehlerwege zu entschlüsseln und Unfallursachen zurückzuverfolgen. Sie zeigt sich am regulären Betriebsablauf interessiert.

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harmlos auf Effizienz getrimmt werden. Und auch der Betrieb ihres technischen Kerns, der Einsatzfahrzeuge, wird durch die Organisationen kontrolliert, allerdings findet der Betrieb nicht in einem geschützten Umfeld, sondern in einer fremden Umgebung statt. Die typische Fremdheit ihres Arbeitsumfeldes hebt Einsatzorganisationen von klassischen HROs ab. Zwar versuchen Rettungsorganisationen ihren konstitutiven Nachteil seit jeher durch technische Mobilität, durch eine möglichst sinnvolle Verteilung ihrer Wachen und durch zusätzliche Infrastrukturen (Alarmnetze, Hydrantensysteme, Vorhaltung von Feuerwehrlaufkarten in großen Gebäudekomplexen) zu kompensieren (Neudörfer 2007). Trotz allem muss der Arbeitsplatz aber am Einsatzort, auf fremdem Terrain aufgebaut, eingerichtet und Kontrolle erst hergestellt werden. Sozialwissenschaftliche Forschungen zum Rettungsdienst (Campeau 2008, S. 290) und zur Feuerwehr (Mistele 2007, S. 128; Baran und Scott 2010, S. S43) betonen denn auch die zahlreichen, für die Anfahrt und den Einsatzort typischen Unsicherheitsquellen (Zeit- und Entscheidungsdruck, situative Dynamik, ungenaue Information, Stressempfinden, fremde Akteure etc.). Eine Reihe initialer Strategien – wie die anfängliche Lageerkundung, die permanent forcierte „Ordnung des Raums“ oder das Absperren des Einsatzortes durch Feuerwehr oder Polizei – zielen darauf ab, die anfänglich fehlende Kontrolle über das Tätigkeitsgebiet möglichst schnell zu gewinnen (Campeau 2008). Die Uniform und das funktionale, Handlungsmacht demonstrierende Equipment (von Handschuhen über feuerrote Löschwägen und anderer „mächtiger“ Technik bis hin zu den polizeilichen Schusswaffen) unterstützen die Ortsaneignung. Schließlich verweist die von der Feuerwehr häufig verwendete Überholmetapher, das primäre Ziel sei immer, „vor die Lage zu kommen“, ihr also nicht mehr ‚hinterher rennen‘ zu müssen, auf die Kontrollidee. Einsatzorganisationen verwenden enorme Energie darauf, uneingeschränkte Kontrolle über ihr Einsatzgebiet zu erhalten, über die andere HROs von Haus aus verfügen. Aufgrund ihrer spezifischen Umweltdisposition sind bestimmte Organisationen für Zuverlässigkeitsanforderungen anfälliger als andere und neigen zur Ausbildung besonderer Merkmale. Erwartbar wäre, dass sich diese Besonderheiten auch in der Formalstruktur wiederfinden lassen, da sie durch die Organisation dort gezielt eingearbeitet werden können. Die formalen Ausprägungen stellen jedoch nur einen kleinen Teil der verlässlichkeitsbeeinflussenden Merkmale dar. LaPorte und Consolini (1991, S. 29) sehen HROs vor allem in der Pflicht die eigenen Konditionalprogramme stetig zu verbessern, um darüber auch die hauseigenen Routinen neu zu justieren. Weiterhin wird Notfallorganisationen attestiert über umfangrei-

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che Kontroll- und Rückfallstrukturen zu verfügen („Back-up-Systeme, Doppelbesetzung von Aufgaben, überlappende Aufgaben, Vier-Augen-Prinzip“ (Mistele 2007, S. 53f.). Derartige Überlappungen und Redundanzen verdichten die Aufmerksamkeit gegenüber Fehlern, entweder technisch oder personell. Lageabhängige Entscheidungsstrukturen, die es z. B. Feuerwehrkräften erlauben in dringenden oder unvorhergesehenen Gefahrensituationen schnell und flexibel zu reagieren, stellen eine weitere Komponente des gestaltbaren Organisationaufbaus dar, die eine zuverlässige Problembearbeitung gewährleistet. Im Rahmen der HRO-Forschung ist vor allem die Organisationskultur als wesentlicher Garant einer verlässlichen Aufgabenbewältigung und Regelbefolgung entdeckt worden. Eine Kultur der Achtsamkeit bildet danach die Grundlage für ein funktionales Misstrauen, das die Probleme effektivitätsgefährdender Routineblindheit und Nachlässigkeiten entschärft (Koch 2008). Anders als formale Vorgaben lassen sich Organisationskulturen nicht per Entscheid ändern (oder gar: abschaffen); sie gehören zu denjenigen Entscheidungsprämissen, die nicht entscheidbar sind. Der dringende Appell, Nachlässigkeiten zu vermeiden, zeigt bereits an, dass eine achtsame Arbeitsweise nicht programmiert werden kann. Achtsamkeitsmotive speisen sich vornehmlich aus denen in einer Organisation geltenden Wertvorstellungen. Aus ihnen folgt eine wachsame Arbeitsweise, ein verlässlicher Arbeitsstil, eine innere Haltung. Den Begriff der Achtsamkeitskultur haben insbesondere Karl Weick und Kathleen Sutcliffe (2010) geprägt.97 Sie identifizieren fünf grundlegende Elemente, die diese Kultur kennzeichne. Vier empirische Studien liegen vor, die Rettungsorganisationen, allen voran Feuerwehren, auf diese Elemente hin abgeklopft haben oder mit ihnen in Verbindung bringen (Roberts und Bigley 2001; Fratus 2006; Baran und Scott 2010). Die Untersuchung von Peter Mistele (2007) stellt dabei die umfassendste dar. Mistele erkennt in den drei von ihm untersuchten Organisationen (Feuerwehren, Rettungsdienste und Spezialeinheiten der Polizei (SEKs)) vor allem eine besondere „Offenheit im Umgang mit Erfahrung und Fehlern“. „Fehler werden als etwas Positives und damit als Lernauslöser und Lernmöglichkeit aufgefasst“ (Mistele 2007, S. 145). Für die untersuchten Einsatzorganisationen sei typisch, dass die Fehlerkultur neben ihrer inoffiziellen Pflege auch formal vorgeschrieben sei. Offizielle Einsatznachbesprechungen würden Reflexions- und Feedbackprozesse anstoßen und dem erfahrungsbasierten Lernen dienen. Eine Fehlerkultur, die Fehler nicht zuerst als Anlass für Tadel, sondern als Lernmög-

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Vgl. schon die frühere Ausarbeitung in: Weick et al. (1999), ferner bereits Weick (1987). Für eine Auseinandersetzung zum unterschiedlichen Achtsamkeitskonzept im fernöstlichen und im westlichen Verständnis vgl. Weick und Putnam (2006).

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lichkeit begreift, findet in der HRO-Forschung immer wieder Erwähnung. Die idealtypische HRO interessiert sich mehr für ihre Fehler denn für ihre Routinen (Dombrowsky 2013, S. 31) oder ihre Erfolge (Weick und Sutcliffe 2010, S. 10f.). Ein zweites und drittes Element, das einer Achtsamkeitskultur förderlich sei, sehen Weick und Sutcliffe im grundsätzlichen Streben der Organisation nach Flexibilität sowie in der typischen Achtung fachlichen Wissens und Könnens. Das zweite Element findet seinen Ausdruck etwa in der oben beschriebenen, auf- und abbaubaren Führungsstruktur der Feuerwehr, das dritte zeigt sich darin, so Mistele (2007, S. 158), dass die Führungshierarchie die Möglichkeit lässt, die Entscheidungsverantwortung in brenzligen Situationen auf die Einsatzkräfte vor Ort zu verlagern. Weiterhin nennen Weick und Sutcliffe ein feines Gespür für betriebliche Abläufe und die Ablehnung grob vereinfachender Situationsinterpretationen als für HROs typisch. Für Einsatzorganisationen weist Mistele darauf hin, dass das „Team die zentrale Aktionseinheit“ zur Bewältigung von Einsatzanforderungen sei. Teamfähigkeit sei elementar und die Gruppenintegration erstrecke sich häufig über den organisationalen Alltag hinaus bis in den privaten Bereich hinein. Einzelgänger, die sich nicht auf die enge „fraternity of danger“ (Simpson 1996) einließen, würden gar als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft und seien für die „Organisationen nicht tragbar“ (Mistele 2007, S. 138).98 Eine weitere reliabilitätsfreundliche Disposition erkennt er schließlich in der hohen intrinsischen Motivation der Mitglieder. Anders als üblicherweise in komplexen Organisationen zu beobachten ist (Luhmann 1964, S. 89–108), ähneln sich Mitgliedschaftsmotive und Organisationsziele in den untersuchten Einsatzorganisationen. Mitglieder besitzen dort eine „tiefe innere Überzeugung für die Aufgabe und die Ziele der Organisation“ (Mistele 2007, S. 172). Wie schon bei ihren ehrenamtlichen Pendants – Freiwilligen Feuerwehren und Hilfsorganisationen – besteht eine starke Bindung an die Organisation, was zu einer hohen Leistungsbereitschaft der Mitglieder führt und Motivationsprobleme verringert. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Führungskräften in HROs selten motivierende Aufgaben zufallen. Motivationsarbeit ist hier überflüssig (Klein et al. 2006; Bierly et al. 1995). Mistele kommt zu dem Schluss, dass die hohe Arbeitsmotivation zu guten Ergebnissen führen und sich dies in einer Art „Hochleistungszyklus“ (Mistele 2007) stabilisieren und verstärken würde. Man muss an dieser Stelle einschränken, dass es nicht zwangsläufig eine Identität von Organisationszielen und Mitgliedschaftsmotiven sein muss, die diesen Kreislauf antreibt. Gerade im Fall von Rettungsorganisationen wird häufig über-

98

Dass die dichte Gruppeninklusion wiederum Probleme verursacht, wird hier nicht weiter behandelt. Für weitere Literaturhinweise s. Ellebrecht und Jenki (2014, S. 24f.).

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sehen, dass ihre Mitglieder ganz andere, den Zielen aber durchaus dienliche Eigeninteressen verfolgen können. Ein Feuerwehrmann stellt dies in einem Interview wie folgt dar: Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Der Feuerwehrmann, fang ich mal damit an: Ehrlicherweise ist das der schöne Nebeneffekt, ja, das man sowas auch miterleben darf, und das ist wirklich auch eine persönliche Bereicherung, aber letztendlich ist für uns ja so diese Technik und dieser Zusammenhalt und diese, ja auch Contra zu diesen Gefahren, die uns da so lauern, diese Abwechslung, das ist ja so das Spannende im Endeffekt.

Für die Verlässlichkeit der Organisation stellen die eingestandenen Mitgliedschaftsmotive kein Hindernis dar, im Gegenteil. Was in der Interviewpassage aber enttäuscht wird, ist die gesellschaftliche Vorstellung, man werde Feuerwehrmann, weil man vor allem Menschen in Notlagen retten möchte. Mit dieser Erwartung wird kokettiert und teilweise gebrochen.99 Mistele stellt zwei weitere verlässlichkeitsgenerierende Faktoren heraus. Zum einen konstatiert er eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit der Einsatzkräfte. Vor allem erfahrene Mitarbeiter seien „in der Lage, in dynamischen und kritischen Situationen sowie unter Stresseinfluss, Veränderungen schnell und ganzheitlich wahrzunehmen“ (Mistele 2007, S. 167). Zum anderen verfügen Bedienstete von Feuerwehren, Rettungsdiensten und SEKs seinen Ergebnissen nach über eine klare, übereinstimmende und allgemein akzeptierte Zieldefinition.100 Gerade auch die organisationspsychologische Forschung betont die für die Fehlervermeidung hohe Bedeutung eines einheitlichen Lageverständnisses, um eine gemeinsame Zielvorstellung zu besitzen (Knigge et al. 2014 ; LaPorte und Consolini 1991). Während für viele Organisationen heterogene, teils konkurrierende Zielorientierungen typisch sind101, bestehe bei Rettungsorganisation im Einsatz ein breiter Konsens über den Einsatzzweck. Der Konsens gehe soweit, dass selbst „Meinungsverschiedenheiten oder Animositäten unter den Mitarbeitern während eines Einsatzes keine Rolle“ (Mistele 2007) spielen.102 Wie bereits zu Beginn der Arbeit in den methodischen Vorbemerkungen dargestellt, unterliegen die an dieser Stelle zusammengefassten Studienergebnisse zu

99 Vgl. dazu → Abschnitt 1.2 in diesem Kapitel. 100 Vgl. mit ähnlichen Ergebnissen: Roberts und Bigley (2001, S. 1290–1292). 101 Vgl. Kühl (2011, S. 58f.). In seiner Studie zur Organisation Krankenhaus stellt Rohde (1974) die zahlreichen, teils konkurrierenden Zwecke in den Mittelpunkt. 102 Das gilt, wie in → Abschnitt 1.4 gezeigt wurde, nur eingeschränkt. Innerhalb einer Einsatzorganisation mögen die unterschiedlichen Zwecke keine Dissonanzen hervorrufen, zwischen verschiedenen Einsatzorganisationen schon. Dazu in Kapitel III.

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den vorbildlichen Eigenschaften von Einsatzorganisationen einem Erhebungsvorbehalt. Inwieweit sie die Organisationswirklichkeit abbilden oder aber gesellschaftliche Erwartungen zurückspiegeln, lässt sich anhand der Studiendesigns nicht verlässlich beurteilen. 2.4

Fehlende Empathie? Taktlosigkeit und Emotionsarbeit im Einsatz

Wenn es eine Taktregel gibt, so ist es die: daß nicht Tatsachen, sondern nur Mitteilungen verwunden können. Luhmann 1964, S. 359 Rettungskräfte treffen in ihren Einsätzen auf Personen, für die die Notsituation alles außer Routine ist. Für Betroffene, Angehörige und unerfahrene Ersthelfer stellt der Notfall nicht nur eine Situation dar, die von einer konkreten Gefahr kündet und in der schnell gehandelt werden muss – soweit deckt sich die Sichtweise mit der der Einsatzkräfte. Zusätzlich tritt der Notfall den Betroffenen, anders als den Rettungskräften, als ein Ereignis entgegen, das einzigartig, selten und unvorhergesehen eingetreten ist.103 Everett Hughes (1971, S. 316) brachte diese Konstellation vor knapp 50 Jahren auf den Satz: „one man’s routine of work is made up of emergencies of other people“. Was für den einen Routine, ist für den andern fremd und neuartig und wirft schon allein deshalb Verhaltensfragen auf (Schütz und Brodersen 1972, S. 67; Schütz und Luckmann 1975, S. 179). Rettungskräfte und vom Notfall überraschte Personen greifen in der Rettungsinteraktion nicht nur auf je unterschiedliche Erfahrungen zurück, sie wissen auch um die auf der einen Seite fehlende, auf der anderen Seite ausgeprägte Erfahrung des jeweils anderen (sie können diese Ausgangserwartung natürlich auch korrigieren, z. B., weil die Rettungsassistentin sehr jung aussieht oder sich die Patientenangehörigen als aktive Mitglieder einer Freiwilligen Feuerwehr zu erkennen geben). Gemeinsam teilen beide Seiten Grunderwartungen, welches Verhalten von einem selbst und was von ihrem Gegenüber verlangt wird. Während Patienten, Angehörigen und Ersthelfern erlaubt ist, sich von der Situation ergriffen, emotional erschüttert und verunsichert zu zeigen, wird von Rettungskräften erwartet sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, kompetent zu handeln und Sicherheit auszustrahlen. Für die Interaktion beider Seiten ist das Verhalten der jeweils anderen Seite nun deswegen problematisch, weil es mit dem der anderen Seite in Konflikt 103 Zur Unterrichtung der Bevölkerung in Erster Hilfe vgl. Kap. I.3.1 und die einleitenden Bemerkungen in Kap. III.

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stehen kann. Rettungskräfte können die eigene Arbeit durch das ‚störende‘ Verhalten verängstigter Patienten oder aufgeregter und – wie es im Medizinerinnenjargon heißt – „dekompensierter“ Angehöriger beeinträchtigt sehen. Ein in diesem Zusammenhang oft genanntes Beispiel sind die besorgten Eltern eines verletzten Kindes. Rettungskräfte verzichten bei besonders expressiver Sorgedarstellung darauf, den Eltern eine Mitfahrt im Transportraum des Rettungswagens anzubieten. (Außerdem bitten sie die Eltern vorsorglich, wenn diese im eigenen PKW zum Krankenhaus nachfahren, auf Verkehrssignale zu achten und eine rote Ampel „auch rot sein zu lassen“.) Auf der anderen Seite können Einsatzkräfte derart routiniert mit einer Gefahr umgehen, dass Betroffene den Eindruck gewinnen, sie würden die eigene Sorge nicht teilen oder den Ernst der Lage verkennen. Exemplarisch für einen solchen Eindruck steht der kritische Kommentar der Pflegekraft zu meiner zeitraubenden Ausbildung im „soziologischen Einsatzbericht“. Auch mein wissenschaftlicher Kollege äußerte im Nachgespräch spontan die Befürchtung, dass es für den Patienten und seiner Ehefrau schlimm gewesen sein müsse mitanzuschauen, wie ich im Umgang mit der Spritze geschult wurde, während der Patient zu ersticken drohte. Ergriffenheit kann als ein Verhalten verstanden werden, das sich zu einer Situation reflexiv verhält, da es von ihr (oder etwas „in“ ihr) irritiert ist. Diese Irritation vollzieht sich immer auch auf einer gefühlsmäßigen Ebene. Erst Situationen, die irritieren, können emotional ergreifen (Pettenkofer 2012). Routinen laufen dagegen irritationsfrei, weitgehend reflexionslos und entsprechend emotionsarm ab. In der Folge neigt Routinehandeln zur Taktlosigkeit und ist insgesamt „ausdrucksschwach. Es führt dadurch zu Störungen des natürlichen Verhaltens in elementaren Kontakten“, womit Luhmann (1971b, S. 135) die Interaktion unter Anwesenden meint. In Anschluss an die oben skizzierte Unterscheidung von Routineprogrammen, die stark konditionalisierte, mustergültige Prozesse vorgeben, und kognitiven Routinen, die mit Normalerwartungen, Habitualisierung und Gewöhnung einhergehen, kann Taktlosigkeit als ein organisationales Phänomen begriffen werden. Allerdings finden sich unterschiedliche Ausprägungen. Dominiert die eine Seite, spreche ich von formalistischer, dominierte die andere, soll von habitualisierter Taktlosigkeit gesprochen werden. Grundsätzlich setzt taktvolles Verhalten gute Chancen der Selbstdarstellung für alle Beteiligten voraus. Jeder muß Gelegenheit finden, sich zu zeigen, wie er erscheinen möchte: er muß eine idealisierte Fassung seines Selbst zu sozialer Sichtbarkeit und Anerkennung bringen können. Die Kunst, soziale Kontakte so zu steuern, daß diese Gelegenheit für alle Beteiligten im Wechselspiel besteht und niemand mit seiner Projektion brüskiert oder blamiert wird, läßt sich als Takt bezeichnen. Takt erfordert Eingehen auf fremde

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall Selbstdarstellung, ein hilfreiches Mitwirken an ihren Schwierigkeiten und ein Bestätigen der Darstellung auch dort, wo sie durchschaut wird (Luhmann 1971b).

Verwaltungen und Behörden räumen ihrem Publikum, wie im Übrigen auch ihren Angestellten (ebd., S. 137), geringe Selbstdarstellungsmöglichkeiten ein. Kühle Rationalität beherrscht die Interaktionsatmosphäre und fördert und garantiert verwaltungstechnische Programmtreue (ebd., S. 133). Solange der Antragssteller keine sachlichen Gründe – d. h. Merkmale, die formal erfassbar sind und als Informationen verarbeitet werden können – vorbringen kann, bleibt die bürokratische Rationalität an den Besonderheiten eines Falles und den individuellen Folgen eines Entscheids uninteressiert. Verwaltungsmitarbeiterinnen mit Publikumskontakt können zwar angehalten sein, der Umwelt gegenüber Mitgefühl zu zeigen, gegen den Vorwurf fehlender Authentizität kann von Seite der Vorgesetzten aber kaum etwas unternommen werden; in der Regel kann aufgesetzt wirkende Höflichkeit nicht als offizieller Kündigungsgrund gereichen (Luhmann 1964, S. 119–122). Mitgefühl, verstanden i.w.S. als Mitfühlen, setzt voraus, so Mead (2013, S. 347), dass der Mitfühlende zum einen das Leid des anderen in sich nachfühlen kann, zum anderen aber auch, dass er sich in das kommende Gefühl des anderen, welches seine eigene Hilfe bei diesem auslösen würde (z. B. Trost, Erleichterung, Anerkennung), vorfühlen kann. Die emotionale Antizipation fremder Innerlichkeit könnte von Angestellten dauerhaft und auch für Fälle fehlender Sympathie formal zwar verlangt werden, aber ihre tatsächliche Erbringung ist unüberprüfbar. Und warum sollte die Organisation dies auch tun? Mitgefühl ist verwaltungstechnisch betrachtet zunächst funktionslos, denn es ändert weder die konkreten Vorgaben noch das formal richtige Ergebnis. Verwaltungen verlangen von ihren Mitarbeitern daher auch eher eine Außendarstellung, die Sachlichkeit und Richtigkeit einer Entscheidung betont (Luhmann 1964, S. 113). Wie vom Verwaltungsbediensteten so wird auch von der Ärztin affektive Neutralität erwartet. Sympathie oder Antipathie gegenüber einem Klienten bzw. einem Patienten sollen weder das Handeln des einen noch das der anderen beeinflussen (Parsons 1976). Von den pattern variables aus gesehen sind bürokratisches und professionelles Handeln den gleichen Normen verpflichtet (Schneider 2002, S. 135–138). Sie geben damit noch keinen Hinweis auf divergierende Taktlosigkeitsbedingungen. Affektive Neutralität soll Bevorzugung und Benachteiligung verhindern, führt aber nicht zwingend zu Taktlosigkeit. Luhmann sieht im taktunfähigen Verhalten ausdrücklich und ausschließlich eine Folge von Konditionalprogrammierung. Dass sie eine Konsequenz gewohnheitsmäßigen Verhaltens bzw. durch die „Wiederholungsdichte des Handelns“ (Luhmann 1971b, S. 137) verursacht sei, schließt er aus.

2 Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

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Es liegt auf der Hand, daß Routinehandeln, welches sich [wie es für Konditionalprogramme typisch ist, N.E.] nur mit dem Entziffern selbstdefinierter Zeichen befaßt, taktunfähig ist. Es pflückt der fremden Selbstdarstellung einige Informationen ab, bestätigt sie aber nicht, ermuntert sie nicht zur Fortsetzung und hilft ihr nicht über augenblickliche Verhaltensschwierigkeiten, Blößen oder peinliche Lagen hinweg. Soziale Kontakte, die von einer Seite routinemäßig behandelt werden, sind für den Partner daher typisch unbefriedigend, weil ihm Situationskontrolle und Selbstdarstellungsmöglichkeiten genommen sind; er fühlt sich gleichsam als nichtanwesend behandelt (Luhmann 1971b, S. 136).

Die Gründe und Auswüchse ausdrucksschwachen Verhaltens in Verwaltungen hat Luhmann hier in bewundernswerter Präzision beschrieben. Was aber fehlt, ist die Abgrenzung formalistischer von professioneller Taktlosigkeit, wie sie etwa bei einem Arztbesuch erfahren werden kann. Die Ursachen für Taktlosigkeiten in beiden Arbeitsbereichen sowie der Umgang mit ihr sind gänzlich unterschiedlich. Anders als Verwaltungen sind Professionen nicht die Prozessoren formaler Verfahren. Gegenstand professioneller Arbeit sind die Probleme ihrer Klienten, für deren Lösung die Profession auf ein durch sie selbst verwaltetes Wissen zurückgreift (→ III.1.2). Bei der Betreuung ihrer Klienten kommt es dabei durchaus zu Vorfällen fehlender Empathie und taktlosen Verhaltens; gerade und insbesondere der medizinischen Profession gegenüber sind diese Vorwürfe bekannt. Die Gründe dafür sind heterogen. Zum einen kann der Einzug von digitalen Technologien in die ärztliche Arbeit dazu führen, die Darstellungsmöglichkeiten von Patienten einzuschränken, sodass sich diese als abwesend behandelt fühlen (Groß 2006). Zum anderen überwiegt z. B. in der Medizin das Interesse am kranken Körper des Patienten gegenüber dem an seiner Person (Saake 2003; Luhmann 1990). Die typische Aufforderung einer Notärztin bei Verdacht auf Schlaganfall: „Lächeln Sie bitte einmal!“ adressiert eben nicht die Gefühlswelt des Patienten, sondern nimmt eine eventuelle Lähmung der Gesichtsmuskulatur in den Blick. Drittens bilden sich mit der Zeit Handlungsroutinen heraus, die einen taktvollen Patientenumgang behindern. Die Gewöhnung an fremdes Leid und wiederkehrende Sorgen führt dazu, dass sich medizinische Kräfte dazu ermahnen müssen, empathisch zu bleiben und auf die individuelle Patientenvorstellung nicht mechanisch zu reagieren (→ Interview oben, S. 118). Taktlosigkeit aus Gewöhnung hat dabei durchaus Ähnlichkeit zur formalistischen Variante. Denn beide Formen erhalten ihren unfreundlichen Charakter durch ihr stumpfes Leseverhalten: Patienten werden auf bedeutsame Signale hin abgesucht, dem restlichem Drumherum droht ärztliche Arroganz. Allein, ärztliche Nichtbeachtung ist der täglichen Routine geschuldet, die von Verwaltungen der formalen Anleitung. Entscheidender noch als die jeweiligen Gründe taktlosen Verhaltens ist der Umgang mit ihm. Die Ärztin wird für ihre mangelnde Empathie schärfer kritisiert

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

als der Verwaltungsbeamte, über dessen Herzlosigkeit zwar ebenfalls geklagt werden kann, mitgemeint ist damit aber immer auch das frostige Regelwerk und die bürokratische Struktur, die er erbarmungslos vertritt.104 Zwar wird von beiden ein ‚menschlicher‘ Verhaltensstil gefordert, dieser lässt sich aber nicht gleich erfolgreich durchsetzen. Mitgefühl kann im professionellen Kontext nicht nur aus Höflichkeitsgründen gefordert, sondern auch aus funktionalen Gesichtspunkten verlangt oder als Dienstleistung eingekauft werden. Beide Aspekte treten in öffentlichen Verwaltungen nur bedingt auf. Erst dort, wo ein Mehr an Empathie regelmäßig Situationen mit schwierigen Klienten entschärfen könnte, gilt Emotionsarbeit auch als ein administrativ sinnvolles Werkzeug. In der ärztlichen Arbeit wird taktvolles Verhalten aus gleich zwei Gründen als medizinisch funktional begriffen. Weniger zielt eine einfühlsam gestaltete Interaktion, in der Sorgen, Befinden und Wünsche des Patienten ernst genommen werden, direkt auf dessen akutes Wohlbefinden. Vielmehr wird dessen Wohlbefinden ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einer a) korrekten Anamnese und b) zu einer hohen Patienten-Compliance gesehen (Jäger 2017, S. 91; Vogel und Faller 2016, S. 217). Trotz all ihrer Routine und obwohl durchaus die Erwartung an sie besteht routiniert zu wirken, darf sich die Ärztin nicht übertrieben souverän zeigen. Professionalität verlangt den taktvollen Patientenumgang. Ärztinnen sind demnach aufgefordert, Missverhältnisse zwischen der eigenen Befindlichkeit und den normativen Erwartungen richtigen Fühlens in Richtung der für diese Situation geltenden sozialen Konvention zu verändern (Gerhards 1988, S. 52). Diese an sich selbst verrichtete Emotionsarbeit105 wird mit Hochschild (2007, S. 7) als „management of feeling to create a publicly observable facial and bodily display“ begriffen, welches sozialen Gefühlsregeln folgt (ders. 1979). Im Zusammenspiel mit geeigneten und mit der eigenen Gefühlsdarstellung verknüpften Kommunikationsstrategien zielt Emotionsarbeit darauf, die Gefühle einer anderen Person, hier des Patienten, zu steuern (Bauer 2016). Emotionsarbeit steht dabei notorisch vor Authentizitätsproblemen bzw. der Wahl zwischen echter Gefühlarbeit (deep acting) und Oberflächenhandeln (surface acting) (Hochschild 2007). Emotionale Dissonanzen treten auf, wenn sich gezeigte, empfundene und normativ erwartete Gefühle nicht entsprechen, wie dies etwa im soziologischen Einsatzbericht zu lesen war. Die 104 Die Erbarmungslosigkeit der Verwaltung stellt Seibel in seiner Einführung in die Verwaltungstheorie wiederholt in Frage. Verwaltungen seien nicht per se un- oder amoralisch, allerdings siedelt Seibel (2016b, S. 91) das moralische Urteil dann doch außerhalb der Organisationsstrukturen an, als eine individuelle Fähigkeit des Angestellten: „Letzten Endes bleibt die ethische Qualität des Verwaltungshandelns daher abhängig von der individuellen moralischen Urteilskraft der Verwaltungsangehörigen.“ 105 Hochschild unterscheidet zwischen emotional labor, die über einen Tauschwert verfügt, und emotion work, welche im privaten Kontext geleistet wird und einen Gebrauchswert besitzt. Das ärztliche Beispiel zeigt, dass ihre Unterscheidung nicht zwingend einfach fällt.

2 Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

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Rettungskräfte gehen dort zunächst auf die Sorgen von Herrn Schmitt ein, zeigen sich im weiteren Verlauf aber sorglos und an anderen Dingen interessiert. Beobachter erhalten daher den Eindruck, die Rettungskräfte würden sich nicht angemessen um den Patienten kümmern. Ging es Goffman (und im Anschluss an ihn auch Luhmann) hauptsächlich um die Darstellung von Gefühlen (Goffman 1991), also um surface acting, geht Hochschild über ihn hinaus, indem er überdies die Formbarkeit inneren Erlebens in den Blick nimmt. Deep acting ist lernbar. Um den eigenen Gefühlshaushalt so zu regulieren, dass schließlich die situativ und funktional richtigen emotionalen Äußerungen gezeigt und gefühlt werden, werden medizinischem Personal heute bereits verschiedene Verfahren zur Selbsteinwirkung angeboten (Bauer 2016). Grundsätzlich kann zwischen Verfahren unterschieden werden, die den eigenen Gefühlshaushalt physiologisch (durch Alkohol, Psychopharmaka, Veränderungen des vegetativen Nervensystems mittels autogenen Trainings oder Biofeedbacks), psychisch (durch Rekonstruktion biographischer Strukturen, Psychoanalyse) oder sozial (durch äußerliche Situationsänderung oder innerliche Umdeutung von Situationen) modulieren (Gerhards 1988, S. 53). Professionsadäquate Selbst- und damit verknüpfte Fremdemotionalisierung kann gelernt und ebenfalls zur Routine werden. Im Rettungsdienst finden sich solche, die Interaktionsatmosphäre als Ganzes im Blick haltenden Emotionsroutinen häufig in kurzen charmanten, aufmunternden Äußerungen, mit denen die Rettungskräfte die ernste Stimmung auflockern und die Patienten-Compliance erhöhen. (Schwer) Erkennbar ist dieses Emotionsmanagement daran, dass es auf sprachlich gewandte und pointierte Formulierungen zurückgreift, ein eingespieltes Verhältnis von Intonation, Wort und Mimik aufweist, gleichzeitig aber spontan wirkt und nur Beobachtern, die Rettungskräfte über eine längere Zeit begleiten, durch seine Wiederholung als antrainiertes Verhalten auffällt. Eine ältere, schwache und dehydrierte Frau sträubt sich gegen ihre Mitnahme in ein Krankenhaus. Resigniert verweist sie auf ihr Alter und ihren Gesundheitszustand und sagt, dass es keinen Zweck habe sie mitzunehmen, sie müsse doch eh bald sterben. Der Rettungsassistent reagiert darauf mit gespielt übertriebener Entrüstung (wortgetreu): „Liebe Frau, da haben sie leider die Falschen gerufen! Wir sind nicht hier, um sie sterben zu lassen, wir sind hier, um sie zu retten!“ Die Patientin lacht leise und entschließt sich, mit ins Krankenhaus zu fahren.

Rettungsdienste können hinsichtlich ihres Taktgefühls vor Zeitproblemen stehen. Der empathische Bezug zum Patienten ist nicht nur aus Routinegründen gefährdet, sondern auch aus Zeitnot. Anstatt den Sorgen und Ängsten widerspenstiger Patienten über ein taktvolles Gesprächs- und Emotionsmanagement zu begegnen,

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

kann und wird zur Abwendung drohender Schäden auf paternalistische Interaktionsformen zurückgegriffen (Jäger 2017) oder der Patient medikamentös ruhig und seine Compliance biochemisch hergestellt (→ I.3.3). Das distanzierte, häufig raue Verhalten von Angehörigen der Berufsfeuerwehren gegenüber am Einsatzort befindlichen Personen kann weder als professionelle noch als rein verwaltungstechnische, wohl aber als eine Form organisationaler Taktlosigkeit begriffen werden. Feuerwehren sind ihren formalen Organisationsstrukturen nicht nur sehr stark verpflichtet, sie verfügen darüber hinaus ein die eigene technische Rationalität betonendes Selbstbild. Im Einklang mit der hohen Disziplin und dem Selbstverständnis und Auftritt als Kontrollmacht, der es um die Beherrschung natürlich-stofflicher Umweltgefahren geht, wird die soziale Umwelt als Störfaktor begriffen. In der Summe führt dies dazu, dass Einsatzkräfte der Feuerwehr dabei beobachtet werden können, wie sie Personen einfangen, wegtragen oder aussperren. Sie neigen zu harten Fremdführungsformen, nicht zu weichen (→ III.2). Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass Emotionsarbeit nicht nur eine professionelle Kompetenz darstellt, die im Rettungsdienst eingesetzt wird, um Patientinnen zur Mitarbeit zu motivieren. Rettungskräfte sind zudem aufgefordert, sie im Rahmen der Selbstsorge reflexiv anzuwenden, um belastende Einsätze bewältigen zu können. Ziel ist es, einen professionellen Umgang mit den erlebten Ereignissen einzuüben, unabhängig davon, ob es sich um schockierende Einzelfälle, die auch nach den Maßstäben von Rettungsdiensten und Feuerwehren außergewöhnlich sind (Karutz 2014, S. 154), oder ob es sich um tägliche Vorkommnisse handelt, deren stetige Wiederkehr mit der Zeit auslaugt.106 Der anspruchsvollste Spagat im Rettungsdienst ist vermutlich der, mit Krankheit, Schmerz und Tod zwar routiniert, aber wiederum auch nicht so sorglos umzugehen, dass Fremde oder man selbst dadurch Schaden nimmt.

106 Am Beispiel Polizei unterscheidet Szymenderski (2012) zwischen einer stoischen, abwehrenden, verlagernden oder oszillierenden Verhaltensmethode und stellt diesen Verfahren das der Überforderung gegenüber.

2 Einsatzroutine(n) und ihre Folgen

2.5

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Eigengefährdung und Fremdrettung

Anders als militärische Organisationen, und möglicherweise auch anders als die Polizei – das ist umstritten (Bohnen 2015, S. 377) –, dürfen Rettungsdienste und Feuerwehren von ihren Mitgliedern nicht erwarten, auf Befehl hin das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Einsatzkräfte sind grundsätzlich angewiesen jegliche Eigengefährdung zu vermeiden.107 Die offizielle Vorgabe, jegliche Eigengefährdung (→ Abbildung II.4, S. 114) zu vermeiden, hat in Rettungsorganisationen mit Widerständen zu rechnen. Die Vorgabe, in Gefahr schwebenden Teamkolleginnen nicht zu helfen, wenn die Wahrscheinlichkeit selbst Schaden zu erleiden hoch ist, kann in Feuerwehr und Rettungsdienst in letzter Konsequenz kaum durchgesetzt werden. No man left behind. Die ungeschriebene Pflicht zur riskanten Kameradinnenhilfe ist mit der Gruppen- und der eigenen Selbstachtung eng verknüpft. Fraglich ist möglicherweise auch, ob die Gruppennormen zu den organisationalen Vorgaben tatsächlich in Konkurrenz treten oder ob die Organisation die lebensgefährliche Kameradinnenrettung nicht informell duldet, da sie keinen rechtlichen Anspruch auf diese formulieren darf. Zu klären wäre dann, welche Funktion diese für die Organisation erfüllt, inwieweit dadurch etwa Betriebsklima, Sicherheitsgefühl und schließlich Arbeitsmoral der Einsatzkräfte positiv beeinflusst werden. Auch jenseits von Kameradschaftspflichten kann der Rettungsauftrag mit der Eigenschutzpflicht kollidieren. Formal ist die Sache hier ebenso eindeutig wie im Fall der Kameradenrettung: Einsatzkräfte von Feuerwehr oder Rettungsdienst haben den Eigenschutz auch dann vorrangig zu behandeln, wenn ihre Klienten in Lebensgefahr schweben. Belehrungen, nicht „aus falschem Pflichtbewusstsein ein Risiko“ (DGUV und Pelzl 2012, S. 15) einzugehen, gehören zum Mantra von Ausbildungsstätten und Berufsversicherungen. Doch gerade der tägliche Kontakt mit Hilfe- und Rettung-Suchenden führt dazu, Hilfeerwartungen auch dann nicht enttäuschen zu wollen, wenn sie aufgrund von Eigengefährdung formal und rechtlich

107 Im Kontrast zum Militär ist der Unterschied schlagend, er lässt sich aber auch ein wenig relativieren. Obgleich Einsatzkräfte grundsätzlich jede Eigengefährdung ausschließen sollen, wird riskantes Verhalten vielfach doch von ihnen erwartet (etwa bei der Fahrt mit Sondersignal, bei der die Unfallwahrscheinlichkeit stark erhöht ist). Gefahren lassen sich am Einsatzort häufig nicht vollständig ausschließen. Das gilt nicht nur für die Feuerwehr, sondern auch für den Rettungsdienst wie Mannon (1992, S. 172–179) belegt. In den letzten Jahren weicht sich das „safety first“ Paradigma dahingehend auf, dass bei sogenannten „ongoing attacks“, also Einsatzlagen, in denen weiterhin eine Bedrohung durch einen Angreifer besteht, Rettungskräfte bereits mit ihrer Arbeit beginnen sollen. Weltweit werden derzeit unterschiedliche Einsatz- und Riskozonenkonzepte sowie Techniken ausprobiert. Der Autor forscht hierzu in einem auf fünf Jahre angelegten europäischen Netzwerk.

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

nicht geboten sind. Rettungskräfte versuchen in solchen Situationen einen Kompromiss zwischen beiden Anforderungen zu finden, „with patient care always seen as the priority to be optimized“ (Campeau 2008, S. 293). Komplementär zum Phänomen soldatischer Verrohung im Rahmen länger andauernder Kampfeinsätze mit ihren bekannten Folgen überschießender Gewalt kann beim Berufsretter von einem Rettersyndrom gesprochen werden. Im Gegensatz zum sogenannten Helfersyndrom, bei dem das übertriebene Bedürfnis, anderen zu helfen, psychologisch in der eigenen Unfähigkeit, Bedürfnisse zu zeigen, verortet wird, basiert das Rettersyndrom bei Einsatzkräften nicht auf einer psychischen Disposition, sondern einer gesteigerten Internalisierung der eigenen Helferrolle. Durch die ständig erfüllte Erwartung und Erfahrung, Hilfe leisten zu können, wird das berufliche Retten von seinen sachlichen Einschränkungen und formalen Bedingungen befreit. Der Preis der Rettung tritt in den Hintergrund, wenn Berufsretter das eigene Leben aufs Spiel setzen. Der habitualisierte Rettungsdrang wird durch die zum Einsatzort verbrachten technischen und medizinischen Hilfsmittel verstärkt. Dass es Berufsrettern nicht gelingt, im Fall hoher Eigengefährdung die fremden Hoffnungen zu enttäuschen und die eigenen Selbstansprüche zu ignorieren, kann auch auf das schlichte Zuhandensein der Rettungsmittel zurückgeführt werden.108 Die passive Präsenz von Einsatzkraft und Rettungsmittel passt angesichts des Leids nicht ins Bild, stumm appellieren die rettenden Dinge an ihren Gebrauch.

3

Zusammenfassung: Strukturen und Folgen organisierter Rettung

Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde der Notfall als eine Situation mit hohem Eigenrecht vorgestellt. Notfälle gelten gemeinhin als sehr ungewöhnliche, ernste Situationen. Lösungsvorschläge und Handlungsschnelligkeit sind gefragt. In der funktional differenzierten Gesellschaft sind ausgesuchte Organisationen mit der Aufgabe betraut, Notfälle zu bearbeiten. Rettungsorganisationen verfügen über verschiedene Strukturen, um diesem Zweck gerecht werden zu können: formale Konzepte, ausgebildetes Personal und eine hierarchische Gliederung der Stellen. Im Spiegel dieser Organisationsstrukturen zeigt der Notfall nun beobachterabhängige Qualitäten. Anders als für Betroffene, Angehörige und Ersthelferinnen ist der Notfall aus organisationaler Sicht kein unerwartetes, nicht einmal ein besonderes Ereignis. Der natürliche Abstraktionsgrad organisationaler Programme ist an der Bedeutsamkeit der Situation, wie sie sich den Anwesenden darstellt, vielfach un-

108 Hochbruck (2007) macht darüber hinaus zeitgenössische Heldenmythen aus der Populärkultur für riskantes Feuerwehrhandeln verantwortlich.

3 Zusammenfassung: Strukturen und Folgen organisierter Rettung

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interessiert; für das Rettungsprogramm ist das Ereignis allein hinsichtlich bestimmter vorgegebener Kriterien relevant. Für das Personal ist der Notfalleinsatz Routine; auch hier zeigt sich damit eine andere Sicht der Dinge. Die enge Inklusion in die Notfallinteraktion lockert sich im Falle der Einsatzkraft, die den Einsatz aus Sicht ihrer Kompetenzen, Pflichten und mit Blick auf festgelegte organisatorische Ziele erfasst. Schließlich sondert sich die gesamte Organisation – die Feuerwehr macht dies vor – über eine disziplinierte Orientierung an der eigenen hierarchischen Struktur von der Einsatzumwelt ab. In der Folge erscheint besonders die Feuerwehr als eine gegenüber den Bedürfnissen Anwesender weitgehend unempfindliche Helferin. Zusammenfassend kann gesagt werden: Rettungsorganisationen gelingt es, Strukturen für Ereignisse, die gewöhnlich ungewöhnlich sind, parat zu halten, zugleich ist es aber der Effekt dieser Strukturen, der die Organisationen von den situativen und in der Interaktion mit Anwesenden gewöhnlich erwarteten Anforderungen entfremdet. Ich stelle zentrale Punkte noch einmal zusammenfassend dar: 1.

Leitstellen und Wachen reagieren auf die zeitliche und örtliche Unbestimmbarkeit kommender Notfälle, indem sie permanent erreichbar und besetzt sind. Ihre an der statistischen Regelmäßigkeit des Plötzlichen orientierte räumliche Verteilung und zeitlich variierende Besatzungsstärke erhöht ihre Reaktionsfähigkeit nochmals. Gleichzeitig tritt mit der permanenten, barrierefreien Anrufbarkeit der Organisation das Problem auf, dass diese zwischen ihrer richtigen und falschen Inanspruchnahme zu unterscheiden beginnt. Zum einen ist sie misstrauisch gegenüber ihrem böswilligen Missbrauch, zum anderen setzt sie eigene Notfalldefinitionen, die sie mit der ihrer Anrufer vergleicht. Ggf. erklärt sie dann in Fällen ihre Unzuständigkeit, in denen sie hätte eingreifen sollen. Oder aber, das ist der weitaus häufigere Fall, sie entsendet Einheiten zu Einsätzen, die sich rückblickend als unnötig erweisen.

2.

Notfallorganisationen verfügen über generalisierte Rettungsprogramme. Diese klassifizieren Notfälle in verschiedene Typen und bearbeiten diese nach bestimmten verallgemeinerten Verfahren. Verfahrensroutinen und Routine bilden die Basis für den täglichen Erfolg organisierter Rettung und gleichzeitig die Differenz zum ungeübten und spontanen Eingriff einer Ersthelferin. Routine(n) ist bzw. sind die große Stärke, zugleich aber auch die typische Schwäche von Organisationen. Handlungsroutinen sind aus sich heraus bereits taktunfähig, da sie den Betroffenen nur begrenzte Selbstdarstellungsmöglichkeiten eröffnen. Gewöhnung, pejorativ als „Abstumpfung“ bezeichnet, verstärkt diesen Effekt. Er kann durch Freundlichkeitsroutinen

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II Rettungsorganisationen: Routine(n) im Notfall

abgemildert werden, vollständig verhindern lässt sich organisationale Taktlosigkeit nicht – muss es aber auch nicht, denn Rettungsorganisationen wollen primär erfolgreich retten, nicht unbedingt freundlich. Mit beiden, Routinen wie Routine, droht der Individualität eines Falles Unachtsamkeit; Durchführung und Wirkung von Programmen drohen in Erwartung ihres wiederholten Erfolgs nicht mehr kontrolliert zu werden. 3.

Notfallorganisationen verschachteln Planung und Rettung. Diese Verschachtelung zeigt sich nicht nur darin, dass Notfälle abseits von Einsätzen imaginiert werden und geplant wird, wie bei einem zukünftigen Einsatz vorgegangen werden soll. Sie geht auch nicht allein darin auf, dass Notfälle im Rahmen von Übungen künstlich entworfen, vergegenwärtigt und bespielt werden, um Rettung zu üben. Die Verschachtelung von Rettung und Planung ist gerade dann sehr eindrücklich, wenn laufende Rettungsoperationen in ihrem Umfang begrenzt werden, um auf mögliche kommende Notfälle weiterhin vorbereitet zu bleiben. Rettungsorganisationen widmen sich – zeitgleich! – aktuellen und möglichen Notfällen: so berücksichtigen Leitstellen und Einsatzleitungen bei ihrer gegenwärtigen Einsatzplanung die Möglichkeit zukünftiger Notfälle. Oder aber Organisationen nutzen Rettungseinsätze um sich auf zukünftige Notfälle vorzubereiten, z. B. indem sie ihn als Ausbildungsstätte benutzen. So ist also nicht nur die gekonnte Rettung für Notfallorganisationen typisch, insbesondere ist es die Inszenierung von Notfällen und die Verfolgung anderer Zwecke als die der Rettung während eines Notfalleinsatzes, die für sie charakteristisch ist. Beides führt in der Umwelt von Rettungsorganisationen zu Irritationen. Mit a) Vorbereitung und b) Rettung verfolgen Rettungsdienste und Feuerwehren, wie jede Organisation, gleichzeitig mehrere Zwecke, die nicht miteinander harmonieren müssen. Auch andere Organisationen kennen das Problem, dass der laufende Betrieb durch planerische und vorbereitende Maßnahmen gestört werden kann bzw. dass planerische Aspekte auf betriebliche Prozesse Rücksicht nehmen müssen. Zwei Zeithorizonte stehen sich in diesem Fall entgegen: während planende Tätigkeiten vorausschauend agieren, ist der Betrieb am gegenwärtigen Bedarf ausgerichtet. Das Beispiel Notfallorganisation kann sehr deutlich zeigen, dass Planung und Betrieb weder als zwei zeitlich aufeinander aufbauende Vorgänge noch als zwei scharf voneinander getrennte Arbeitsbereiche (ein „kalter“ und ein „heißer“) begriffen werden können. Der Verwicklung dieser beiden Zeithorizonte sollte auch in Studien zu anderen Organisationstypen mehr Aufmerksamkeit zufallen.

3 Zusammenfassung: Strukturen und Folgen organisierter Rettung

4.

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Organisationen können ihre Entscheidungskommunikation mithilfe ihrer Entscheidungsprämissen unterschiedlich stark konditionieren. Rettungsdienstalgorithmen etwa machen strenge Entscheidungsvorgaben, die dem Ergebnis (der Entscheidung) jegliche Willkürlichkeit rauben. Anders sieht es an der Hierarchiespitze (Einsatzleiter oder Notärztin) aus, die mit einem erheblichen Maß an Entscheidungsfreiheit ausgestattet ist. Das hierarchisierte Stellen- und Kommunikationsnetz ist eine Entscheidungsprämisse, in dem Entscheidungsfreiheiten unterschiedlich verteilt sind. Im Falle der Feuerwehr sollen strenge Hierarchie und Disziplin die Kommunikation von Entscheidungen vom strategischen Zentrum zu den operativen Einheiten beschleunigen und eine widerspruchslose Umsetzung garantieren. Diese Operationsweise steht vor der Schwierigkeit, den Befehlsempfänger trotzdem nicht auf die Rolle als rein ausführendes Organ festzulegen, sondern ihn soweit als Entscheidungsträger auszubilden, dass es im Sinne der Organisation zu einer effektiven Gestaltung der Befehlsumsetzung kommt. Auf diese Schwierigkeit wird zurückzukommen sein.

III Kooperation professioneller und organisierter Retter Während das erste Hauptkapitel der Situation Notfall galt und das zweite sich charakteristischen Merkmalen von Rettungsorganisationen widmete, wende ich mich auf den folgenden Seiten dem Notfallnetzwerk der Gesellschaft zu. Im Laufe der letzten eineinhalb Jahrhunderte hat sich ein weit verzweigtes, technisch stabilisiertes Sicherheitsnetz gebildet, das seine höchste Dichte in urbanen Gegenden erreicht hat (Neudörfer 2007). Zahlreiche Rettungsakteure sind in dieses Netzwerk eingebunden. Hier geht es vor allem um drei: um die Profession der Notärztinnen und um die beiden Organisationen Rettungsdienst und Feuerwehr. Weitere Akteure – Gesundheitsbehörden, Kliniken, Technisches Hilfswerk, Polizei, Militär etc. – stellen ebenfalls wichtige Knotenpunkte dar, tauchen aber nur am Rande auf. Auch die im Feld professioneller und organisierter Rettung zentrale Differenzierung zwischen auf der einen Seite „Freiwilligen“ und „Ehrenamtlichen“, auf der anderen Seite „hauptamtlichen“ Rettungskräften würdige ich nur einleitend, bevor ich dann zum Hauptanliegen dieses Kapitels komme, die Eigenlogiken und Probleme medizinischer Rettung (→ 1) und technischer Rettung (→ 2) herauszuarbeiten und schließlich ihre interorganisationalen Harmonisierungsversuche darzustellen (→ 3). Die Unterscheidung von freiwilligen Helfern und ehrenamtlich tätigen Rettern und, auf der anderen Seite, solchen Einsatzkräften, die dieser Aufgabe beruflich nachgehen, verweist auf einen bedeutenden Sachverhalt: die Gesellschaft beschränkt sich nicht darauf, Rettung ausnahmslos an für Notfälle zuständige Berufsorganisationen zu delegieren. Rettung soll nicht ausschließlich eine Leistung von auf sie spezialisierten Organisationen sein, sondern durch die Gesellschaft selbst angeboten werden können. Historisch gesehen war die Phase, in der die Verberuflichung, Expertisierung und Organisierung von Rettung einseitig betrieben wurde, nur kurz (Ellebrecht et al. 2013a). Schon früh gab es Stimmen wie die Friedrich von Esmarchs (1823-1908), die eine umfassende Bildung der gesamten Gesellschaft in (medizinischen) Rettungstechniken im Auge hatten. Esmarch hat dieses Ziel durch das bis heute bekannte Kompendium – Die erste Hülfe bei plötzlichen Unglücksfällen (1886) – und durch den Aufbau sogenannter Samariterschulen gefördert. Sein Wunsch war es, die Gesellschaft „in den Stand zu setzen, die richtige Hilfe anzuwenden, bis der Arzt kommt, damit nicht unterdessen durch falsche Maßregeln unheilbarer Schaden angerichtet werde, oder gar das Leben ihrer Angehörigen oder Mitmenschen, während Sie untätig zu schauen, verloren © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0_4

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

gehe“ (Esmarch 1931, S. 1). Dieser Auftrag einer Volks- oder Breitenbildung in Erster Hilfe hat bis heute Bestand. Anfangs war die Breitenbildung vor allem eine medizinische Idee, deren Überzeugungskraft sich aus dem scheinbar trivialen Sachverhalt heraus speiste, dass die (Not)Ärztin bei einem Notfall nicht sofort vor Ort sein kann und ihre Abwesenheit überbrückt werden muss. Der Ersthelfer, das besagt schon sein Name, stellt aus Sicht organisierter Rettung kein funktionales Äquivalent der eigenen Leistungsfähigkeit, sondern eine Vorstufe, das erste Glied der Rettungskette dar. Zum Gegenstand politischer Interessen wurden die Notfallkompetenzen der Bevölkerung dagegen erst im Laufe der 1920er Jahre, als erkennbar wurde, dass die Zivilbevölkerung zu einem strategischen Ziel kommender Kriegsführung aufrückte. Kriege wurden nun auch an der Heimatfront entschieden. Eine Steigerung der Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung bedeutete vor diesem Hintergrund eine widerständigere Gesellschaft. Heute firmiert dieser Diskurs unter dem Stichwort „gesellschaftlicher Resilienz“ (Kaufmann 2011), seine kriegsstrategische Bedeutung und Provenienz sind aber kaum mehr erkennbar. Im Mittelpunkt stehen dort heute Großunfälle, Naturkatastrophen und Terroranschläge. Das Notfallnetz der Gesellschaft bestand also niemals ausschließlich aus auf Rettung spezialisierten Professionen und Organisationen. Die Ausbildung und Einbeziehung der Bevölkerung in Notfällen und Katastrophen ist ein ständiger Begleiter organisierter Rettung. Die Gesellschaft reflektierte früh über die Vorteile bürgerlicher Notfallkompetenzen und ehrenamtlicher Retter. Als freiwillige Hilfe tritt sie mit all ihren Eigenarten aber erst in dem Moment ins Bild, in dem sie von organisierter Hilfe abgegrenzt wird. Für die Organisation ist sie das ganz andere: sie ist kostenlos, potenziell überall vorhanden, gleichzeitig aber auch spontan, unkoordiniert, chaotisch. Das hat, zumindest in Deutschland, lange Zeit zu dem erfolgreichen Versuch geführt, dass Freiwilligenpotenzial organisatorisch ein-, besser: anzubinden. Freiwilligkeit wurde zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit; das Siegel der Ehrenamtlichkeit vergaben dabei die Organisationen selbst, die ihre freiwilligen Mitglieder so nicht finanziell, sondern qua ihrer Mitgliedschaft mit gesellschaftlicher Anerkennung entlohnen konnten. Ein Teil des gesellschaftlichen Hilfspotenzials wurde damit steuerbar; Hilfsziele konnten vorgegeben und Bedürftigkeit sachlich festgelegt werden (Danckwerts 1964, S. 132-136). Das spontane, intrinsische Hilfsbegehren wurde organisatorisch nutzbar gemacht, verlor damit aber auch seine unbürokratische Leichtigkeit. In dem Moment nun, in dem die Gesellschaft ins digitale Zeitalter eintritt, rückt der große Rest „ungebundener Helfer“ einmal mehr ins organisationale Blickfeld. Massenmedien und soziale Netzwerke machen es heute möglich zeitnah über akute Notfälle zu informieren, die sich in der näheren Umgebung ereignen, so dass jeder selbst eingreifen kann oder könnte. Kamen früher nur die unmittelbar

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Anwesenden als potenzielle Ersthelfer in Frage, kommt heute ein weitaus größerer Personenkreis in Betracht. Nicht nur verbreiten sich Nachrichten über größere Unglücke heute zeitnah, bei Installation der richtigen Software können sogar mittelbar Anwesende, die sich jenseits der Wahrnehmungsperipherie befinden, über sich in der Nähe ereignende kleinere Notfälle informiert und zur spontanen Hilfeleistung motiviert werden. Für die Organisationen ist damit eine Hilfsressource greifbar, die über das Konzept Ehrenamt bisher nicht erreichbar war, deren Steuerung sich aber als wesentlich diffiziler erweist. Als Nichtmitglied bleibt der neue Helfer „ungebunden“. Während die Organisation über das Ehrenamt noch soziale Anerkennung versprechen und im Gegenzug koordiniertes Engagement erwarten konnte, bleiben Motivation und Verpflichtung des ungebundenen Helfers für sie weitgehend unberechenbar. 109 Auf den nachfolgenden Seiten werden nicht die Kooperationsprobleme von Laien und Expertinnen, sondern solche unter Expertinnen untersucht. Das Notfallnetzwerk der Gesellschaft interessiert im Folgenden in seiner organisierten und professionellen Form. Aufmerksamkeit finden jene Konflikte, die zwischen „technischer“ und „medizinischer Rettung“ gären und die in den Reihen von Notärztinnen, Rettungsdiensten und Feuerwehren wohlbekannt (und wohlgepflegt) sind. Als Beobachter bei Großschadensübungen konnte ich Zeuge werden, wie sich über „freidrehende Ärzte“ und, auf der anderen Seite, über die „Arroganz der Feuerwehr“ beschwert wurde. Auch in einer Umfrage unter medizinischen Rettungskräften (Ellebrecht 2013), in der die interorganisationale Zusammenarbeit nur ein

109 Die Differenz von spontaner und organisierter Hilfe wird je nach gesellschaftlichen Standort unterschiedlich beobachtet und bearbeitet. Das politische System stellt seine Leistungsträger – Rettungskräfte üben in aller Regel ein ihnen öffentlich anvertrautes Amt aus – unter besonderen Schutz und stattet sie mit umfangreichen Befugnissen aus, die ihnen an der Einsatzstelle mehr Handlungsmacht, bis hin zur Verfügungsgewalt über Personen und über fremdes Eigentum, geben; das Rechtssystem legt für die Hilfsqualität von Laien und Experten wiederum unterschiedliche Gütekriterien an. Diskutiert wird, ob Rettungskräfte im Gegensatz zu Laienhelfern nicht haftungsprivilegiert sind. Während Laienhelfern eine leichte Fahrlässigkeit im Notfall nicht vorgeworfen wird, ist dies bei Rettungskräften umstritten. Die Tendenz geht, soweit ich das überblicken kann, dahin, Rettungskräfte das Haftungsprivileg nicht einzuräumen, da der Notfall für sie keine außergewöhnliche Situation sei, sondern Routine. Vgl. Deutsch und Spickhoff (2008, S. 620–624) und Dettmeyer (2006, S. 296); das Erziehungssystem sucht abseits der beruflichen Ausbildung von Rettungskräften nach geeigneten Möglichkeiten, die Gesellschaft in Erste-HilfeMaßnahmen zu unterrichten (etwa über die Führerscheinprüfung, über Schwimmabzeichen, Schullehrpläne); die Wissenschaft bestätigt, dass es besser ist, mit der Brandbekämpfung, der Reanimation oder anderen Rettungsmaßnahmen möglichst frühzeitig zu beginnen und nicht bis zur Ankunft der „Profis“ zu warten.

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Randthema war, gab es deutliche Kommentare. „Unglaublich schlechte Zusammenarbeit Feuerwehr/Polizei und Rettungsdienst!!!!!“110, lautete die in Freifeldern so oder ähnlich verlautbarte Diagnose. Beschwerden über das mangelnde Organisationsvermögen von Rettungsdienstmitarbeitern – „Bei der Feuerwehr sind die Strukturen klarer und besser verteilt. Im Rettungsdienst weiß oft niemand, wer das Sagen hat, vor allem wenn mehrere Rettungsdienstfahrzeuge an der Einsatzstelle sind.“ – standen solche gegenüber, die der Feuerwehr blinden organisatorischen Perfektionismus vorwarfen: „Feuerwehr sieht oft die Notwendigkeit einer sehr schnellen Bergung nicht ein, möchte technisch perfekte Bergung, die oft zu lange dauert“. In diesem Kapitel nutze ich den bekannten Kooperationskonflikt zwischen Rettungsdiensten, Feuerwehren und Notärztinnen, um zwischen organisierten und professionellen Rettern schärfer als bis hierher zu differenzieren. Die Leitfrage ist, wie die Unterschiede und der daraus resultierende Arbeitskonflikt zu erklären sind. Im letzten Kapitel deuteten sich diese Unterschiede bereits an, blieben aber undeutlich, da dort die allgemeinen Kennzeichen organisierter Rettung im Fokus lagen. Das ist hier nun anders. Die verschiedenen Retter werden jetzt gegeneinander abgegrenzt und ihre Unterschiedlichkeit betont. Ich stütze mich dabei vor allem auf zwölf problemzentrierte Interviews, die ich in drei Großstädten mit Führungskräften von Feuerwehren, Rettungsdiensten und polizeilichen Katastrophenschutzabteilungen sowie Ärztlichen Leitern verschiedener Rettungsdienste und Leitern von Gesundheitsämtern führen konnte. In den Interviews erkundete ich die Selbst- und Fremdbilder dieser Akteure und fragte nach den Bedingungen der Möglichkeit interorganisationaler Kooperation bei Großeinsätzen.111 Zwei wesentliche Aspekte muss eine organisationssoziologische Problemanalyse, die am unterschiedlichen Arbeits- und Selbstverständnis von Feuerwehren, Rettungsdiensten und Notärztinnen ansetzt, beachten.

110 Als eine kleine Auswahl aus der Umfrage finden sich diese und weitere Zitate abgedruckt in: Kaufmann et al. (2013, S. 45f.). 111 Über die Verwendung zirkulärer Fragen versuchte ich zur Reflexion der Organisation über sich selbst aus der Perspektive der anderen Organisation bzw. der Umwelt anzuregen. Solch zirkulären Fragen führen die systemkonstitutive Differenz von Organisation und Umwelt wieder in die Organisation ein und erlauben es, sich selbst aus den Augen der anderen zu betrachten und zu beschreiben. Diese von außen angestoßene Selbsterkundung führt allerdings nur dann einen zu einem höheren Rationalitätsniveau, wenn das re-entry durchschaut wird (Luhmann 2000, S. 464). Erst wenn über die identitätsstiftenden Grenzen zwischen der eigenen Organisation und Umwelt reflektiert wird, also erst wenn erkannt wird, wie erkannt wird, kann von einer rationaleren Form der Beobachtung gesprochen werden (Luhmann 1992, S. 182f.). Ob meine Interviewfragen eine solche Reflexion anstoßen konnten, mag ich nicht sagen. Zu hoffen bleibt, dass die in diesem Kapitel vorgenommenen Analysen in den untersuchten Organisationen dazu beitragen können, ein Verständnis, weniger über die anderen, denn über die eigene Organisation zu entwickeln.

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1. Während bisher Einsatz- und Rettungsorganisationen im Fokus standen, kommt mit der Notärztin nun die Vertreterin einer Profession hinzu. Professionen sind etwas Anderes als Organisationen. Ihre Standesvertreterinnen können zwar – und sind es in der aller Regel auch – Mitglieder einer Organisation sein, das Beispiel Notärztin zeigt aber, dass dies nicht zwingend ist. Anders als etwa ihre klinisch tätigen Kolleginnen sind Notärztinnen in der Regel nicht bei einem Rettungsdienstanbieter oder einer Feuerwehr angestellt. Sie sind also keine Mitglieder dieser Organisationen, dennoch sind sie dem Rettungsdienstpersonal im Einsatz vorgesetzt. Damit stellen sich mindestens drei grundsätzliche Fragen: - Wie unterscheidet sich die professionelle von der organisierten Rettung? - Inwieweit hilft der Unterschied die Kooperationsprobleme zwischen medizinischer und technischer Rettung zu erklären? - Wie treten beide Rettungsformen heute, z. B. bei Großeinsätzen, miteinander in Beziehung? 2. Organisationale Selbstbeschreibungen stehen und entstehen im gesellschaftlichen Kontext und können nicht unabhängig von Umwelterwartungen begriffen werden. Soziologisch betrachtet genügt es daher nicht, allein die Identität einer Organisation aus den Aussagen ihrer Mitarbeiter heraus zu erfassen, die Selbstbeschreibung ist auch im Zusammenhang mit externen Leistungsansprüchen und unter funktionsspezifischen Gesichtspunkten für die Gesellschaft zu verhandeln.112 In diesem Kapitel wird daher geklärt, wie das abstrakte Verhältnis von Organisation und Gesellschaft theoretisch zu verstehen ist113, um dann die Selbstverortung bzw. Abgrenzung der beiden untersuchten 112 Anders als Selbstbeschreibungen sind Leistungs- und Funktionsbeschreibungen Fremdbeobachtungen eines Systems. Leistungen werden von einem System durch sein Publikum erwartet. Funktionen erbringt ein System dagegen als Teilsystem für ein übergeordnetes Ganzes. Für gesellschaftliche Teilsysteme lässt sich diese feine Differenz gut nachvollziehen. Das politische System erfüllt zum Beispiel die gesellschaftliche Funktion, kollektiv bindende Entscheidungen zu ermöglichen, die Umwelt des politischen Systems sieht die politische Leistung jedoch vornehmlich in seiner Exekutivgewalt, also in der Umsetzung kollektiv bindender Entscheidungen. Vgl. ausführlich: Luhmann (1997, S. 758); ferner die Übersichtstabelle in Krause (2001, S. 50). 113 Es wird später nur geklärt, wie das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft zu verstehen ist, nicht aber, welche Funktionen Organisationen für die Gesellschaft erfüllen. Funktionen dürfen nicht mit den Zwecken von Organisationen verwechselt werden. Während jede Organisation sich eigene Zwecke setzt, erfüllt jede Organisation die gleichen gesellschaftlichen Funktionen. Organisationen können allgemein als Stabilisatoren funktionaler Differenzierung begriffen werden. Ihre Funktion besteht dann darin, das differenzierte, polyzentrische Gesamtgebilde abzustützen. Zum einen absorbieren sie über ihr permanentes Entscheiden die für funktional-differenzierte Gesellschaften typische Unsicherheit (Jäger und Coffin 2014). Unter der Bedingung von Unsicherheit stellt die Organisation somit die zentrale Sicherheitsgarantin moderner Gesellschaften

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Organisationen im Spiegel gesellschaftlicher Anforderungen und Bedingungen in den Blick nehmen zu können. Erst mithilfe dieser erweiterten Perspektive können die Eigenarten und Probleme dieser Organisationen soziologisch sinnvoll eingeordnet werden. Um den beiden vorgenannten Aspekten – Beachtung des Unterschieds von Profession und Organisation, Berücksichtigung der Relation von Organisation und Gesellschaft – gerecht werden zu können, befasse ich mich zunächst mit dem gesellschaftlichen Funktionssystem der Krankenbehandlung. Die Notfallmedizin kann als medizinisches Subsystem begriffen werden, das für das übergeordnete System der Krankenbehandlung die Funktion erfüllt, Patienten therapeutisch anschlussfähig zu halten. Notfallmedizin, so das Argument, geht es weniger um Heilung denn um Erhalt von Heilbarkeit (→ 1.1). Nach diesen einleitenden Überlegungen befasse ich mich mit der Sozialfigur der Ärztin, also der professionellen Ausrichtung der Medizin. Ziel ist es dann, zwei Besonderheiten der Not-ärztin hervorzuheben. Sie hebt sich darin von ihren ärztlichen Kolleginnen ab, dass sie a) regelmäßig die Patientenautonomie infrage stellt, und dass sie b) einem gesteigerten Entscheidungszwang ausgesetzt ist. Weiterhin skizziere ich mit der Frage, ob der Patient noch am Einsatzort behandelt oder ob er möglichst rasch abtransportiert werden soll, eine typische Entscheidungsleistung von Notärztinnen im Rahmen von Rettungsdiensteinsätzen (→ 1.2). Danach befasse ich mich am Beispiel des Falls der „hilflosen Person“ mit dem prekären Selbstverständnis von Rettungsdienstorganisationen, die sich als medizinische Einrichtungen begreifen, vielfach aber sozialarbeiterische Leistungen erbringen müssen (→ 1.3). Abschließend erinnere ich kurz an das Dilemma medizinischer Rettungskräfte, bei vielen reanimationspflichtigen Patienten zwischen einem guten Tod und einem schlechten Überleben entscheiden zu müssen (→ 1.4).

dar (Luhmann 2000, S. 167). Ihre Entscheidungen schaffen Definitives und eröffnen neue Anschlussmöglichkeiten. Zum anderen nehmen Organisationen eine Scharnierfunktion zwischen Funktions- und Interaktionssystemen ein. Kein Funktionssystem kann auf Organisationen verzichten, um den eigenen Blick auf die Welt in die Welt zu transferieren. Organisationen respezifizieren Interaktionssysteme, indem sie die hochabstrakten Codes und Programme der Funktionssysteme in konkrete Gesprächsthemen und Handlungsbedingungen übersetzen und in diese einfließen lassen Kieserling (1999, S. 339f.) sowie Martens und Ortmann (2006). Funktionssystemische Logiken begegnen uns daher mit Vorliebe in organisationalen Zusammenhängen, jenseits dieser dünnt ihre Präsenz aus. Die gesellige Interaktion stellt entsprechend das bewusste Gegenstück zur organisierten Interaktion dar. Geselligkeitsanlässe werden als von den ständigen Zumutungen, die in Organisationen erfahren werden, entlasteter Freiraum entworfen (Kieserling 1999, S. 336–339). Von Partygästen wird erwartet, dass sie sich „locker machen“.

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Im zweiten Abschnitt befasse ich mich mit der hohen technischen Rationalität der Feuerwehr und zeige, dass die Feuerwehr zwar dem politischen System zugerechnet wird, sich als öffentliches Verwaltungsorgan aber von funktionssystemischen Wertbezügen, z. B. machtpolitischer Einflussnahme abzugrenzen sucht. Als Sicherheitsbehörde pflegt und betont sie ein Ethos, das ihren Realismus, ihre Effektivität und ihre Verantwortung für Sicherheit (safety) zu sorgen betont (→ 2.1). An ihre technische Rationalität als Verwaltungsbehörde schließt ihr Einsatzverständnis an. Die Feuerwehr begreift sich als eine effiziente Maschine, die ihre Umwelt beherrscht. Ihr Erfolgsrezept besteht zum einen darin, sich scharf aus der fremden Umwelt als Organisation abzuheben, um sich an der eigenen Struktur zu orientieren. Sie neigt daher zu einer starken Trivialisierung der eigenen Struktur. Von dieser sicheren Basis aus greift sie auf die Umwelt durch und passt diese ihren Vorstellungen an (→ 2.2). Nachdem bis hierhin die Unterschiede zwischen Rettungsdienst und Feuerwehr dargestellt wurden, geht es nun darum, wie mit den daraus resultierenden Spannungen organisatorisch umgegangen wird (→ 3). Dies wird am Beispiel der Figur des Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OLRD) (→ 3.1) und der Leitenden Notärztin (LNÄ) dargestellt (→ 3.2). Beide Funktionen werden bei Großeinsätzen an der Schnittstelle zwischen technischer und medizinischer Rettung besetzt und übernehmen dort die Aufgabe, verschiedene Rettungsdienste unter eine einheitliche Einsatzleitung der Feuerwehr zu integrieren. Abschließend wird kurz das polizeiliche Interesse bei Großeinsätzen skizziert (→ 3.2), bevor dann die Ergebnisse des Kapitels zusammengefasst und am Ende auf die Bedeutung von Vertrauen in der interorganisationalen Kooperation hingewiesen wird (→ 4).

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Die Leistung des Funktionssystems Krankenbehandlung ist ungleich einfacher anzugeben als seine gesellschaftliche Funktion: sie besteht in der Herstellung von Gesundheit. Dies ist so trivial, dass es kaum einer weiteren Erklärung bedarf. Etwas wunderlicher ist es dann aber, dass das primäre Interesse des medizinischen Systems Krankheiten gilt und Gesundheit nur als Reflexionswert dient. Krank ist im binären Code der Medizin der positive Wert, gesund der negative.114 Diese absonderliche, „perverse Vertauschung der Werte“ (Luhmann 1990, S. 187) zeigt,

114 Vgl. Luhmann (2005a), Bauch (2006, S. 1–20), Fuchs (2006, S. 30f.), Pelikan (2007, S. 294– 297). Stollbergs Bedenken und sein Vorschlag, den Code in gesund/krank umzukehren, haben sich nicht durchsetzen können (Stollberg 2009).

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dass die gesellschaftliche Leistung eines Systems nicht zwingend mit dessen eigener Präferenz übereinstimmen muss. Während das System Krankheiten adressiert, nach „positiven Befunden“ sucht und dann darauf abgestimmte Therapien empfiehlt, denkt der Leistungsempfänger seine Behandlung vom ersehnten Resultat her, seinem gesunden Körper oder Geist. Für ihn zählt, anders als für die Medizin, nicht Krankheit, sondern Gesundheit, zumindest Linderung.115 In der Krankheit appräsentiert sich eine schwache Idee von Gesundheit – als Abwesenheit dieser Krankheit. Erst hier wird Gesundheit als „implizite Teleologie“ des Systems erkennbar (Fuchs 2006, S. 32). Gesund-Sein dient dem medizinischen System als leerer Reflexionswert, mittels dem ein Sachverhalt als irrelevant markiert und aus dem systemischen Aufmerksamkeitsbereich entlassen wird: der kurierte Patient darf wieder nach Hause gehen. Wie jedes Funktionssystem, das sich mit Veränderungen in der psychischen oder körperlichen Umwelt seiner Klienten befasst, neigt die Medizin dazu, die eigene Tätigkeit über ein vernünftiges Maß hinaus zu verlängern. Erziehung, Psychotherapie, Soziale Hilfe und Medizin haben „einen starken Hang zur Selbstkontinuierung, indem die Krankheiten multipliziert, die Bildungsmöglichkeiten als unabschließbar und die Bewußtseine wieder neu irritiert werden“ (Baecker 1994, S. 103). Krankenbehandlung kann, entgegen ihrem erklärten Ziel, krank machen. Und zwar nicht nur, weil in Krankenhäusern und Praxen die Ansteckungsgefahr hoch ist und die Gefahr iatrogener, also vom Arzt erst verursachter Krankheit ein Begleitrisiko jeder Behandlung ist. Der Eintritt in den Kreis medizinischer Intelligenz erhöht die Chance, dass neben oder nach der einen Krankheit die nächste entdeckt wird. Die gesellschaftliche Funktion der Krankenbehandlung ist schwieriger nachzuzeichnen als ihre Leistung. Zunächst kann konstatiert werden, dass sich das Funktionssystem erst relativ spät, Ende des 18. Jahrhunderts auszudifferenzieren beginnt (Steinebrunner 1987; Foucault 1973). Rettungsmedizinische Praktiken und die ersten Konturen eines organisierten Rettungswesens werden nochmals später, im letzten Drittel des 19. Jahrhundert, erkennbar. Die aufkommenden Rettungsdienste stellen zum einen ein passendes Übungsfeld für den militärischen Sanitätsdienst in Friedenszeiten dar, besonders das junge Rote Kreuz greift so auf den zivilen Bereich über (Goldmann 2000, S. 21), zum anderen reagiert die Einrichtung von Rettungsorganisationen auf die hohen Arbeitsunfallraten im Maschinenbetrieb und der Montanindustrie. Organisierte Rettung spezialisiert sich auf Hilfe für typische und massenhaft auftretende Problemfälle ihrer Zeit (Luhmann 115 Die Umbenennung einiger Krankenkassen von einer eben solchen in eine „Gesundheitskasse“ kann demnach als ein zumindest symbolischer Akt zu mehr Kundenorientierung verstanden werden.

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1975, S. 141–144; Apelt 2014, S. 72; Ellebrecht und Jenki 2014, S. 14–18). Bis in das 20. Jahrhundert hinein veranlasst der Arbeitsunfall den prototypischen Rettungseinsatz, dann, in der Mitte des Jahrhunderts, wird er vom Verkehrsunfall116 abgelöst. Heute wiederum dominieren mehr und mehr die internistischen Notfälle die Statistiken. Mit der Zunahme von Unfällen tritt zwar ein neues gesellschaftliches Problem auf den Plan, dem sich Notfallmedizin und organisiertes Rettungswesen widmen. Obgleich sie damit spezifische Lösungen für ein neues Gesellschaftsproblem anbieten, leitet sich von ihnen noch keine gesellschaftliche Funktion des Medizinsystems ab. Zum einen machen Unfallopfer nur einen kleinen Teil der „Krankheiten“ aus, mit denen sich die Medizin insgesamt befasst, zum anderen begann man Kranke, in welcher Form auch immer, nicht erst in der späten Neuzeit zu behandeln. Wie der Arbeitsunfall zur Bildung typisch moderner Rettungsorganisationen und zur Entwicklung medizinischer Spezialdisziplinen geführt hat, so muss auch die Genese des ganzen Funktionssystems auf spezifisch moderne Gründe zurückgeführt werden. Die Frage lautet also, für welches distinkte Problem der funktional differenzierten Gesellschaft ist das System Krankenbehandlung die Lösung? Dem medizinischen System fällt in der modernen Gesellschaft die Funktion zu, den Körper als letzten festen Integrationspunkt der Person – Person hier verstanden als soziale Adresse, nicht als psychische Identität – zu erhalten (Fuchs 2006, S. 22–27). Die Person ist in der modernen Gesellschaft nicht mehr wie in der vorgängigen Ständegesellschaft als Ganzes zu einer Schicht zugehörig, sondern in viele Funktionsbereiche inkludiert (→ IV.1.2). Die moderne Gesellschaft besitzt viele Zentren, sie ist polykontextural aufgebaut, zwingt der Person damit verschiedene Rollen auf, multipliziert also ihre soziale Adressierung (Burzan et al. 2008, S. 24f.). Man ist nicht mehr nur Bauer oder nur Königin, man ist vieles zugleich, und insofern individuell verschieden. Die Person ist nun „allenfalls ‚vertäut‘ im Eigennamen“ (Fuchs 2006, S. 24), weswegen es zur verbindlichen Rückabsicherung eines festen externen Halts bedarf. Hier kommt der Körper ins Spiel, der nun als vorgesellschaftliche, als eine die natürliche Einheit der Person repräsentierende Instanz entworfen wird. Geht man davon aus, dass jede Gesellschaftsform einen bestimmten Bezug zum Körper unterhält, so fällt dem Körper in der Moderne die Aufgabe zu, die soziale Dekomposition der Person wieder einzufangen. Er absorbiert die gesellschaftlich erzeugte Unsicherheit, er ist erste und letzte (biometrische) Identifikationsinstanz einer ‚multiplen Persönlichkeit‘. Die gesell-

116 Zehn gesellschaftshistorische Studien zum organisierten Umgang mit Unfällen finden sich in Cooter und Luckin (1997). Vgl. auch Ewald (1993), Green (1997) und Kessel (2008).

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schaftliche Funktion der Krankenbehandlung liegt dann in der Stabilisierung dieser im Vergleich zu früheren Gesellschaftsformen enorm aufgewerteten Personenklammer. Die Krankenbehandlung trägt Sorge, die Voll-Inklusion der Person in alle Funktionssysteme aufrechtzuerhalten. In der Ständegesellschaft bedrohte Krankheit noch nicht die eigene Primärinklusion, in der funktional differenzierten Gesellschaft hat sich dies dagegen verändert. Analog zur Funktion des gesellschaftlichen Teilsystems Soziale Hilfe (Baecker 1994, S. 103) kümmert sich Krankenbehandlung darum, dass gesellschaftliche „Problemfälle“ für die übrigen Funktionssysteme (Wirtschaft, Erziehung, Politik etc.) weiterhin erreichbar sind (Fuchs 2006, S. 26), dass sie weiter konsumieren, wählen, fortgebildet werden können. Die moderne Medizin sorgt dafür, die Person inkludierbar zu halten. Als Teilbereich der Krankenbehandlung fällt der Notfallmedizin eine Sonderrolle zu, die nur mittelbar auf die gesellschaftliche Funktion der Medizin verweist. Die Aufgabe, Patienten für die gesellschaftliche Umwelt zu erhalten, erfüllt die Notfallmedizin nur indirekt; denn als ausdifferenzierter Bereich des Systems Krankenbehandlung erfüllt die Notfallmedizin zunächst eine Funktion117 für die Medizin selbst. Aufgabe der Notfallmedizin ist es, Patienten vital zu stabilisieren und so medizinisch anschlussfähig zu halten. „Treat first what kills first!“ lautet die erste Direktive der Notfallmedizin. Rettungswesen und Notfallmedizin kennzeichnen das Bemühen, Patienten an das System Krankenbehandlung zu binden und therapierbar zu machen. 1.1

„Treat first what kills first!“ Funktion und Folgen der Notfallmedizin

Funktionssysteme sind intern weiter ausdifferenziert. Das politische Weltsystem etwa ist segmentär in Territorialstaaten zergliedert, zusätzlich weist es eine Zentrum-Peripherie-Differenzierung auf (Luhmann 1997, S. 760f.). Auch Wissenschaft und Medizin unterteilen sich primär in segmentäre Einheiten: in Fächer, Disziplinen oder Behandlungsgebiete, die sich in aller Regel über ihren Sachbezug von den anderen abgrenzen. Anders als die große Mehrheit medizinischer Fachgebiete ist die Notfallmedizin nicht sachlich spezialisiert, sondern hat sich über einen speziellen Zeitbezug ausdifferenziert. Manchmal auch leicht abfällig, weil ihren Eigenwert in Frage stellend, als Medizin unter besonderen Umständen bezeichnet, befasst sich die Notfallmedizin, so ein Medizinhistoriker, mit „akziden-

117 Vgl. für die Bedeutung von Subsystemen für das übergeordnete System et vice versa Luhmann (1964, S. 73–88, 1968, S. 186–195).

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tellen Akutfällen“ (Goldmann 2000, S. 16f.), also Krankheiten, die plötzlich auftreten und dringend behandelt werden müssen. Bei nochmals zugespitzten Fällen, bei „außergewöhnlich plötzlich auftretenden“ und „extrem schnell“ verlaufenden Krankheiten wie z. B. Herzinfarkten oder Schlaganfällen, spricht die Notfallmedizin auch von perakuten Erkrankungen. Diese „haben damit im Gegensatz zu chronischen und stärker als akute Krankheiten einen klar bestimmbaren Ausgangspunkt“118. Zugespitzt formuliert: Notfallmedizin nimmt sich nicht einem besonderen Organ an, sie nimmt sich jedes Organs an, wenn dieses urplötzlich erkrankt und es sofort behandelt werden muss. Die Notfallmedizin unterläuft durch ihren Zeitbezug die Ordnung in etablierte Fachgebiete und tritt als Querschnittsdisziplin auf. Der Begriff des akzidentellen Perakutfalls unterstreicht zwei Elemente, die für die historische Genese des medizinischen Notfalls wesentlich sind. Als eigenständiger medizinischer Typ, als Krankheitsmuster, das eigene Gesetzmäßigkeiten aufweist und in bestimmten Zusammenhängen auftritt, etabliert sich der medizinische Notfall erst im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte. Im 18. Jahrhundert werden unter den Sammelbegriff „morbos acutos“ Krankheiten subsummiert, die durch einen schnellen, gefährlichen und heftigen Verlauf gekennzeichnet sind.119 Das neue Interesse derartigen Krankheitserscheinungen gegenüber schlägt sich auch institutionell in der Einrichtung spezieller Krankenhausabteilungen nieder, die ein zentrales Merkmal des modernen Krankenhauses werden. 1797 begründet die medizinische Fakultät eine solche Einrichtung im Leipziger St.-Jakobs-Hospital damit, daß die Eigenart der dort zu versorgenden Krankheitsfälle ‚wegen der geschwinderen Veränderungen[,] denen sie ausgesetzt‘ seien, eine besondere Einrichtung und stetige Beobachtung durch den Arzt erforderten. Der Zweck eines solchen klinischen Instituts richtet sich ‚vorzüglich auf fieberhafte Krankheiten, die man morbos acutos nennt.‘ Die begriffliche Trennung bezeichnet deutlich die Aufgabe des neuen Krankenhauses als einer Institution, die zum Ort für heilbare Kranke erklärt wird (Goldmann 2000, S. 16).

Die Einrichtung von Abteilungen, die sich akuten Krankheiten widmen, stellt das genuin neue Element der modernen Klinik dar, dass sie von ihrem Vorgänger, dem mittelalterlichen Hospital absetzt. Dort wurde der natürliche Heilprozess durch Ruhe, Pflege und guter Ernährung zwar ebenfalls gefördert, oft waren sie aber auch „nur Sterbehäuser für Arme gewesen“ (Jetter 1973, S. 117). Mit der in der historischen Quelle nicht näher bezeichneten klinischen Spezialabteilung widmet sich das moderne Krankenhaus nicht allein der Pflege. Neben der Befriedigung

118 Vgl. flexikon.doccheck.com/de/Perakut (18.5.2018). 119 Vgl. etwa L. Christian Jahns (1761, S. 4), differenzierter dann schon: Puchelt (1835, S. 64).

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wissenschaftlicher Neugier dient es nun in erster Linie der medizinischen Versorgung akuter Krankheitsfälle, die dichter, ununterbrochener ärztlicher Beobachtung und Behandlung – die Ärzteschaft monopolisiert in dieser Phase die medizinische Therapie – bedurften. Die Krankenbehandlung differenziert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter aus. Institutionell schlägt sich dieser Vorgang in der Bildung weiterer Fachabteilungen – allen voran solche für Chirurgie, für Innere Medizin, daneben: Seuchenstationen, Geburtshilferäume – nieder, deren „eklatante Leistungsfähigkeit […] das alte Hospital um 1850 endgültig und irreversibel zur Krankenbehandlungsstätte gemacht hat“ (ebd.). Zur Ausbildung von Einrichtungen, die einzig auf die Behandlung von Notfallpatienten zugeschnitten waren (Intensivstation, Notaufnahme), kam es zwar erst in der Mitte des 20. Jahrhundert120, der Grundstein war mit der Umstellung auf akut zu versorgende Krankheiten bereits gelegt. Intensivstation und Notaufnahme stellen nicht nur auf die Gegenwart und Behandelbarkeit einer Krankheit ab, sie sind zugleich auch auf deren unangekündigtes Auftreten, ihre Zufälligkeit oder Akzidenz hin eingerichtet. Während die Notaufnahme dem plötzlichen Zufall dadurch Rechnung trägt, dass sie als unbürokratische, generalisierte, gleichzeitig aber hochgradig arbeitsteilige Schnittstelle zur präklinischen Umwelt eingerichtet ist, kennzeichnet die Intensivstationen eine enorme technisierte Wachsamkeit gegenüber spontan auftretenden, abnormalen Vitalparamatern (Lindemann 2002, S. 234f. u. 243). Der kranke Körper schlägt vermittels seiner technischen Einbettung bei Bedarf Alarm. Mit den beiden Einrichtungen Intensivstation und Notaufnahme geht das Krankenhaus über seine Hauptfunktion als Krankenbehandlungsstätte insofern hinaus, als dass es sich organisatorisch wie technisch so einrichtet, dass es auf akzidentielle Akutfälle wartet.121 Damit dreht es den Spieß gewissermaßen um: nicht mehr der Kranke wartet auf die Ärztin (zuerst: auf einen Termin, dann: auf den für seine Untersuchung terminlich vereinbarten Zeitpunkt, und schließlich: im Wartezimmer), sondern die Ärztin wartet auf den Notfallpatienten. Für die Intensivstation ist diese Umkehr einsichtig – es wird jederzeit damit gerechnet, dass sich der Intensiv- zum Notfallpatienten wandelt –, in vielen Notaufnahmen zeigt sie sich erst auf den zweiten Blick. Denn gerade in Notaufnahmen sind die Wartesäle zunehmend überfüllt und 120 Auf den ersten Blick scheint die historische Herausbildung von Intensivstation und Notaufnahme noch Forschungsdesiderat zu sein. Gestandene Fachärztinnen der beiden Disziplinen verfassen ihre Fachgeschichte bisher selbst (für die deutsche Intensivmedizin und Anästhesiologie s. Lawin et al. 2013) und orientieren sich dabei typischerweise an den für ihr Fach bedeutenden Behandlungsfortschritten und Fachpionieren. Vgl. Kessel (2014) für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Pioniergedanken im Bereich der Notfallmedizin und des Rettungsdienstes. 121 Mit einem wichtigen Unterschied: „Auf einer Intensivstation tritt der Tod fast nie überraschend ein, sondern aufgrund von vorherigen therapeutischen Festlegungen“ (Lindemann 2002, S. 240). Im Unterschied zur Notfallmedizin kennt die Intensivmedizin „ihre“ Patienten bereits.

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die Wartezeiten für Patienten mitunter lang (Lowthian et al. 2011a, 2011b). Paradoxerweise ist aber ein Grund, warum dies genau so ist, gerade der Umstand, dass die Ärztin in der Notaufnahme auf den Patienten wartet und die mitunter wochenlangen Wartezeiten bis zum (Fach-)Ärztinbesuch so umgangen werden können. Hinzu kommt, dass das medizinische Warten auf einen unangekündigten und dringlich zu behandelnden Notfall keine Schließzeiten erlaubt, wodurch sich die Notaufnahme außerhalb der Öffnungszeiten niedergelassener Fach- und Hausärztinnen als medizinische Anlaufstelle aufdrängt. Notaufnahmen haben auf die gesteigerte Nachfrage wiederum mit der Einführung von Triagesystemen reagiert, mit denen die Notfallpatienten hinsichtlich ihrer Behandlungsdringlichkeit priorisiert werden. Medizinische Notfallbehandlung wird rationiert, indem sie in die Zukunft verschoben wird. „Krankheit [ist] schlicht und nur: aktuell. Sie bringt alle Zeitordnungen durcheinander.“ Diese Bemerkung Luhmanns (2005a, S. 182) gilt abgeschwächt für chronischem Krankheiten, auf die man sich mit der Zeit einstellen kann, sie gilt umso mehr aber für medizinische Notfälle. Akzidentelle Akutfälle wirken sich nicht nur auf zeitliche Planungen – Verabredungen, Terminkalender, Verpflichtungen – aus, ihre Dringlichkeit verändert auch die Ärztin-Patienten-Beziehung. Notfallpatienten werden selten bei einer Ärztin vorstellig, sie vereinbaren mit der Ärztin auch keinen Termin oder warten auf ihre Visite. Die Interaktionsvektoren verschieben sich: nicht der Patient wird bei einer Ärztin vorstellig, die Ärztin kommt zum Patienten (Kessel 2014, S. 53). Nicht der Patient wartet, aufgerufen zu werden, die Notärztin wartet zur Therapie beordert zu werden. Ähnlich wie die Intensivstation auf die Notfallakzidenz hin eingerichtet ist und die Ärztin bei Alarm zum Bett des Intensivpatienten hastet, eilt – jedenfalls in Deutschland – im präklinischen Raum eine Notärztin zum verunfallten Patienten. Die für den notarztbasierten Rettungsdienst geltende Direktive, „der Arzt soll möglichst zum Patienten und nicht der Patient zum Arzt kommen“, wurde bereits 1938 von Martin Kirschner ausgegeben (ebd.) und gilt heute vielen „als Geburtsstunde der modernen Notfallmedizin“ (Lischke 2010, S. 158). Die historischen Wurzeln reichen zwar bei genauerer Betrachtung weiter zurück, was aber der Satz auf den Punkt bringt, ist eine für die Notfallbehandlung typische Verschiebung in der ÄrztinKlienten-Beziehung. Eine solche Umkehr hat natürlich weitere gesellschaftliche Folgen. Auf eine bekannte und derzeit auch in den Medien intensiv diskutierte Konsequenz wurde bereits mit Verweis auf das Problem „überfüllter Notaufnahmen“ hingewiesen (Winter 2015). Im Rettungsdienst zeigt sich die graduelle Umkehr der Bezugsvektoren in zwei kongruenten Phänomenen: einmal in der Verärgerung der Rettungsdienstmitarbeiter anlässlich von Einsätzen, bei denen ein Pa-

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tient zu versorgen ist, dem aus medizinischer Sicht zugemutet hätte werden können, selbstständig eine Hausärztin aufzusuchen, ein weiteres Mal in der Verlegenheit, die manche Notfallpatienten ausdrücken, weil ein medizinisches Rettungsteam zu ihnen kommt, um zu helfen. Dies ist besonders bei älteren Notfallpatienten in ländlichen Regionen zu beobachten, für die es noch fernab jeder Selbstverständlichkeit liegt, dass ein fremdes Rettungsteam ‚auf Knopfdruck‘ bei ihnen erscheint. Verärgerung bzw. Verlegenheit sind vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die im Rettungsdienst dominante Form medizinischer Annäherung einen Sonderfall darstellt. Man kann allerdings einwenden, dass der Sonderfall auch als eine Rückkehr zur alten, teils auch noch in ländlichen Regionen oder im globalen Süden praktizierten Form begriffen werden kann, in denen die Ärztin noch immer zum Patienten geht. Obgleich sich im historischen Rückblick zeigt, dass der Notfallpatient in der Medizin ein relativ junger Behandlungsfall ist, stellt er von außen betrachtet den prominentesten medizinischen Fall dar. Auf den ersten Blick scheinen gerade medizinische Notfälle so etwas wie den Kernbereich der Medizin zu umreißen: im Notfall ist der Schmerz am größten (Luhmann 2005a, S. 181f.), die Ärztin-PatientenBeziehung am reinsten zu beobachten (Saake 2003, S. 431) und der medizinische Behandlungsauftrag am selbstverständlichsten: Bei einem plötzlich auftretenden Notfall mit Bewusstlosigkeit wird etwa eine Therapieeinwilligung unterstellt; die Ärztin entscheidet für den Notfallpatienten „in dubio pro vita“ (Trzeczak 2013, S. A706). Wenn die Medizin, verstanden als das Funktionssystem der Krankenbehandlung, in zeitlicher Hinsicht primär über ihren Gegenwartsbezug ausgezeichnet ist (Luhmann 2005a, S. 182; Kraft 2006, S. 46f.), dann pointiert sich dieser Zeitbezug in der Notfallmedizin.122 Auch wenn die notfallmedizinische Versorgung klaffender Wunden, gebrochener Gliedmaßen, großflächiger Verbrennungen, spritzende Blutungen oder pulsloser Patienten sich im ersten Moment gegen den Begriff der Gefahrenabwehr123 sperrt und eher von Sofortmaßnahmen gesprochen wird, so bleibt es doch

122 Vgl. Goldmann (2000, S. 15), der Luhmann bescheinigt, die Beschreibung des medizinischen Funktionssystems vom medizinischen Notfall aus vorzunehmen. Ähnlich sieht dies Atzeni (2016, S. 296–298). 123 Wenn Notfallmedizin besonders durch ihren Gegenwartsbezug ausgezeichnet ist, inwieweit ist sie dann auf die Abwehr zukünftiger Schäden hin ausgerichtet? Oder anders gefragt: Warum werden notfallmedizinische Eingriffe (die unter die medizinische Gefahrenabwehr subsummiert werden (Sefrin 2010)) nicht ähnlich wie auch Maßnahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr als präventive Praktiken verstanden? Denn anders als die polizeiliche Gefahrenabwehr zeigt sich die Notfallmedizin der Durchführung präventiver Praktiken fast gänzlich unverdächtig, obgleich

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drohender und abzuwendender Schaden, der für die Notfallmedizin handlungsleitend ist. Deutlich wird dies bei der Behandlung multipler Krankheitsbilder (z. B. Polytrauma), bei der sich die Notfallmedizin an ihre „wichtigste Regel“ halten soll: „Treat first what kills first“ (Lackner und Urban 2010, S. 73). Die Maxime der Krankenbehandlung, „nach der einiges eilig ist und anderes Zeit hat“ (Luhmann 2005a, S. 182), dient der Medizin zur allgemeinen Orientierung. In der Notfallmedizin wird die Maxime vom „Primat der Vitalfunktionen“ (Kessel 2008, S. 69) bestimmt. Vorrang hat hier stets der Eingriff, der den drohenden Tod abwendet. Die Prominenz gewisser notfallmedizinischer Behandlungstechniken, die das Überleben eines Kranken sichern und Schaden von diesem abwenden sollen (z. B. Reanimation bei Herzkreislaufstillstand, Luftröhrenschnitt124 bei Erstickungsgefahr, Druckverband bei starken Blutungen, Verabreichung von Adrenalin beim anaphylaktischen Schock) darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Notfallmedizin, vor allem in der präklinischen Praxis, Krankheitsursachen nicht eindeutig re-

auch sie es mit künftigen Schäden zu tun hat. Präventive Medizin, so lässt sich zu allererst festhalten, steht zum Gegenwartsbezug der Behandlung akuter Krankheiten in markanter Distanz. Präventive Medizin kuriert nicht gegenwärtige Krankheiten, sondern sorgt sich um abwesende (Hafen 2007, S. 62). Präventive Behandlungsmaßnahmen sind u.a. dadurch charakterisiert, dass sie stets vor dem Problem stehen, nicht belegen zu können, ob es ihrem vorsorglichen Eingriff zu verdanken war, dass eine Krankheit ausblieb, oder ob die Krankheit auch ohne ihr Zutun nicht ausgebrochen wäre (→ I.2.2). Die Kontingenz präventiver Praktiken ist demnach, auch im Bewusstsein der medizinisch präventiv Behandelten, hoch und führt zu schwierigen Risikoabwägungen und Entscheidungsprozessen. Für den Fall eines erhöhten Brustkrebsrisikos vgl. die Studie von zur Nieden (2013). Ähnlich, wenn auch thematisch gänzlich anders gelagert, verhält es sich häufig in der polizeilichen Gefahrenabwehr. Polizeiliche Gefahrenabwehr erfährt ihren Kontingenzbezug weniger über die im Zeitverlauf ansteigenden Möglichkeiten, sondern vielmehr über ihr polizeiliches Gegenüber, dem potenziellen Täter. Anders als die Notfallmedizin ist die Polizei eingespannt in eine Situation doppelter Kontingenz und operiert bei der Gefahrenabwehr entlang von Erwartungserwartungen. Notfallmedizin dagegen spielt kein Katz-und-Maus-Spiel, sie hat es in erster Linie mit Körpern zu tun, die bereits Krankheitssymptome zeigen. Auch ihre Diagnosen mögen schwierig sein, doch kann die Ärztin zumindest davon ausgehen, dass der Patientenkörper sie nicht bewusst täuschen will. Ihm werden keine Absichten unterstellt, denn der Körper erwartet nichts vom Arzt. Da das notfallmedizinische Gegenüber der verletzte Körper ist, steht die Medizin in einer Beziehung einfacher Kontingenz. Unsicherheiten – und auch diese mögen groß sein – entstehen im Rahmen naturwissenschaftlich unterstellter Kausalzusammenhänge. Kontingenz entfaltet sich in der Medizin sachlich und zeitlich. Erst wenn die Ärztin zum Zweck der Anamnese mit dem Patienten sprechen muss, gerät sie in eine soziale Situation, also in eine Situation doppelter Kontingenz. 124 Die notfallmedizinische Koniotomie, bei der die Atemwege in Höhe des Kehlkopfes geöffnet werden, wird umgangssprachlich fälschlicherweise als Luftröhrenschnitt bezeichnet. Es kommt bei ihr aber nicht zu einem echten Luftröhrenschnitt (Tracheotomie).

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konstruiert. Bei ihr steht die auf einer „Verdachtsdiagnose beruhende, symptombezogene Vorgehensweise“ (Sefrin 2010, S. 4) im Vordergrund.125 Anders als benachbarte Fachdisziplinen erhebt Notfallmedizin nicht den Anspruch, ein genaues Krankheitsbild zu entwerfen, die therapeutischen Maßnahmen exakt auf dieses und den Patienten abzustimmen und Heilungschancen und -risiken dabei im Blick zu haben. Wie das ganze Funktionssystem Krankenbehandlung ist auch die Notfallmedizin am Code krank/gesund orientiert. Doch notfallmedizinische Hilfe zielt weniger auf die Gesundheit des Patienten. Eher geht es der Notfallmedizin darum, den Patienten für das Funktionssystem überhaupt anschlussfähig126 und d. h. krank, aber lebendig zu halten. „Meistens“, so bringt dies ein Notarzt auf den Punkt, „können wir schnell und effektiv helfen, auch wenn wir die genaue Ursache der Symptome gar nicht kennen. Denn man macht in der Regel einfach das, was schnell dazu führt, dass sich der Patient besser fühlt und man ihn sicher in die Klinik bringen kann. Die präklinische Notfallmedizin ist da eher pragmatisch“ (Hölscher 2014). Der Notfallmedizin fällt primär die Aufgabe zu, für das Überleben des Patienten zu sorgen. Ihre Voraussicht beschränkt sich darauf, den Patienten für das System zu erhalten, die Zukunft des Körpers zu sichern, und ihn nicht an den Tod zu verlieren (Saake 2003, Fuchs 2006, S. 26, Anm. 20 u. S. 35). In der Sprache der Notfallmedizin heißt dies, die „Kreislauf- und Transportstabilität“ des Patienten sicher zu stellen. Selbst dann, wenn dies geschehen ist, geht es der Notfallmedizin anschließend kaum darum, Krankheitsursachen derart eng einzugrenzen, dass über langfristige Heilverfahren entschieden, der Patient gesunden und aus der Obhut des medizinischen Systems entlassen werden kann. Die Notfallmedizin ist mit dem Systemeintritt des Patienten befasst, nicht mit seiner Entlassung. Zur Transportstabilisierung gehört die Behandlung akuter Schmerzen mithilfe einer analgetischen Therapie. Mit ihr soll zum einen das Leiden des Patienten gelindert werden, insofern wird Schmerz heute – und das ist neu – als eigenständige Krankheit anerkannt und nicht allein als ihr Zeichen. Zum anderen werden Analgetika eingesetzt, weil Schmerzen zu physiologischen Reaktionen führen (Adrenalinausstoß, beschleunigter Puls, Umverteilung des Blutvolumens), die den Zustand des Notfallpatienten unter Umständen zusätzlich verschlechtern können. 125 Vor dem Hintergrund dieser Definition mag man darüber streiten, ob die notfallmedizinische Behandlung „sich prinzipiell nicht von allen andern ärztlichen Behandlungen“ unterscheidet (Gassner-Bachmann 2006, S. 1813). Zentral ist, dass im Notfall die „Diagnose und die Therapie […] nur im Hinblick auf den Zeitfaktor modifiziert werden [müssen]. Dabei ist das Erfassen von Langzeitrisiken nicht notwendig“ (ebd.). Dies markiert dann doch einen zentralen Unterschied. 126 Anschlussfähigkeit kann hier durchaus im technischen Sinne verstanden werden. Je nach Krankenbild erwarten Kliniken, dass der eingelieferte Patient bereits über einen intravenösen Zugang verfügt, der bei einer einsetzenden Gefäßverengung später schwieriger herzustellen ist.

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Drittens wird, und das wird in der Regel nicht betont, die beruhigende und sedierende Wirkung von Analgetika häufig auch mit dem Ziel eingesetzt, die Interaktion mit dem Patienten bzw. die Behandlung seines Körpers zu vereinfachen. John Berger (1999 [1967], S. 12) berichtet in seinem Portrait eines englischen Landarztes von der sozialen Funktion des Analgetikums: „Als das Morphin zu wirken begann, entspannte sich das Gesicht des Verletzten, und seine Augen schlossen sich. Diese Erleichterung erschien so stark, dass sie sich auf die anderen übertrug.“ Die analgetische Wirkung beruhigt das Geschehen, nimmt ihm die Dramatik – auf Seite des Patienten wie auf der der Helferinnen und Umstehenden. Es vereinfacht den Zugang zum Patientenkörper (Lindemann 2002, S. 244f.). Will man Notfallmedizin auch als Querschnittsdisziplin und nicht nur über ihre medizinische Erhaltungs- oder Brückenfunktion verstehen, dann ist die gegenwärtige organisatorische wie fachliche Bedeutung der Notfallmedizin in Deutschland besonders aufschlussreich. Anders als in vielen anderen Ländern existiert hierzulande bis heute keine Fachärztin für Notfallmedizin. Präklinisch tätige Notärztinnen verfügen je nach Bundesland über den Fachkundenachweis Rettungsdienst oder über die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin. Der Erwerb einer solchen Qualifikation verlangt, ohne hier auf die detaillierten Bestimmungen eingehen zu wollen, eine zweijährige Weiterbildung in der stationären Patientenversorgung, die Teilnahme an einem 80stündigen Kurs und die Begleitung von 50 Notärztineinsätzen. Vom Umfang her ist sie daher nicht mit einer Ausbildung zur Fachärztin vergleichbar (fünfjährige Weiterbildung in Vollzeit). Hinzu kommt, dass Notärztinnen ausschließlich für den präklinischen Einsatz ausgebildet werden, für den Tätigkeitsbereich Notaufnahme ist die Qualifikation zur Notärztin nicht vorgesehen bzw. nicht zwingend. Einige andere Länder kennen dagegen die emergency physician nur als Ärztin im emergency room, im präklinischen Feld sind dort dagegen in der großen Mehrheit paramedics, also nichtärztliche Fachkräfte tätig. Die Frage, ob ein notärztinnengestützter Rettungsdienst qualitativ besser oder schlechter ist, wird seit langem kontrovers diskutiert (Nurok 2001). Notfallmedizin, so habe ich argumentiert, umreißt den Kernbereich des medizinischen Funktionssystems und nimmt damit eine ähnliche Position wie die Allgemeinmedizin ein. Gleichzeitig liegt sie damit zur fachlichen Vielfalt der Medizin quer. Interessanterweise ist ihr Querliegen gerade daran ersichtlich, dass sie, anders als viele andere Fachdisziplinen, nicht über den einen, für ihr Fach typischen Notfallpatienten verfügt. Die Notfallmedizin nimmt sich sowohl kardiologischen, internistischen, chirurgischen, gynäkologischen, neurologischen etc. Notfällen an. Ebenso wie die Allgemeinmedizin keine allgemeinmedizinische Krank-

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heit kennt, gibt es in der Notfallmedizin keinen notfallmedizinischen Notfallpatienten. Notfallmedizin bündelt das Wissen zu diesen verstreut liegenden Fällen. Würde in Deutschland die notfallmedizinische Fachärztin eingeführt, würde sich die Interdisziplinarität der Notfallmedizin verfestigen und sich quer zur fachlichen Aufgliederung der Medizin legen. Nach Vorstellung der Befürworterinnen einer Fachärztin solle diese zum einen über die in Notaufnahmen benötigte hohe Handlungskompetenz, daneben aber auch über diagnostische Zuordnungskompetenz verfügen. Drittens habe sie aufgrund ihrer interdisziplinären Erfahrung einen Blick für den Zusammenhang gleichzeitig vorliegender Erkrankungen bei einem Patienten (Multimorbidität), was in einer alternden Gesellschaft eine zunehmend wichtiger werdende Kompetenz sei (Hense 2014). Besonders etablierte Fachdisziplinen wie Innere Medizin und Chirurgie stehen der Einführung einer Fachärztin Notfallmedizin ablehnend gegenüber. Sie halten ihr entgegen, in der Notaufnahme werde zwar ein gut qualifizierter ärztlicher „Manager“ gebraucht, der „die eintreffenden Notfälle ähnlich dem Triagesystem unverzüglich an die zuständigen Fachabteilungen“ weiterleitet, jedoch kein „Allrounder, der von allen Fachbereichen ‚etwas‘ Ahnung hat, [da dies] keine Verbesserung der Versorgequalität darstellt“ (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin 2013). Die Diskussion zur Fachärztin Notfallmedizin lässt sich aber nicht allein auf den Konflikt „Querdenker“ vs. „Fachidiot“ reduzieren. Die Ausdifferenzierungsproblematik wird nicht nur auf sachlicher, sondern auch auf symbolischer Ebene verhandelt. So wird befürchtet, dass die neue Fachärztin eine starke Sogwirkung auf den ärztlichen Nachwuchs ausüben könne (Beres et al. 2013). Eine Fachärztin Notfallmedizin überstrahle die an wissenschaftlichen Detailfragen interessierten und mit hochspezialisierten Behandlungen befassten medizinischen Subdisziplinen durch seine hohe akute Behandlungskompetenz und die breite Ausbildung an Attraktivität. Bisher sei das studentische Interesse an der Notfallmedizin nur ein erster Schritt auf den Weg in eine etablierte Fachrichtung, eine Fachärztin Notfallmedizin könne den Weg jedoch für viele in der Notaufnahme enden lassen. Aber nicht nur eine Abwanderung junger Fachkolleginnen wird befürchtet, manche Fachbereiche hegen auch den Verdacht, ausgebildete Notfallmedizinerinnen könnten eine neue Patientenverteilpraxis in den Notaufnahmen etablieren und bestimmten Fachbereichen zukünftig weniger Patienten zuweisen.

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Die Notärztin: stay and play oder load and go?

In dieser Arbeit habe ich bisher darauf verzichtet, den Begriff der Professionalität inflationär zu gebrauchen, indem etwa die besondere Expertise einer Person oder einer Gruppe als hinreichende Bedingung einer gegebenen Professionalität gewertet wurde.127 Ganz bewusst wurden Rettungskräfte von zufällig vor Ort befindlichen Laienhelfern nicht als professionelle Retter abgegrenzt, auch wenn sie für die Aufgabe des Rettens ausgebildet wurden und durch Weiterbildungen und ihre teils mehrjährige Berufserfahrung besonders qualifiziert sind. Der Begriff der Profession ist in dieser Arbeit für eine bestimmte Gruppe von Berufen reserviert. Zum Kern dieser Gruppe werden in der soziologischen Literatur neben der ärztlichen vor allem die juristische, die theologische und die pädagogische Profession (Lehrerinnen/Sozialarbeiterinnen) gezählt. Daneben findet sich eine ganze Reihe weiterer Vorschläge, welche Berufe ebenfalls als Profession gelten könnten. Die Frage, die diese Vorschläge aufwerfen, ist jedoch weniger, ob die vorgeschlagenen Berufe die Kriterien für eine Profession erfüllen, vielmehr dreht sich die Diskussion um die Kriterien selbst, also um die Frage, welche Eigenschaften die Profession als soziologische Kategorie aufweist. An dieser Stelle können die Diskussion und miteinander konkurrierenden Ansätze nicht dargestellt werden. Mit Blick auf die Organisation Rettungsdienst und als Grundlage für die in → Abschnitt 3 und in → Kapitel V untersuchten Kooperations- bzw. Handlungskonflikte steht hier im Vordergrund, a) die zentrale Funktion der ärztlichen Profession zu skizzieren, diese b) für den besonderen Fall der Notärztin zu diskutieren und c) einige Folgen für den gemeinsamen Einsatz mit nichtärztlichen Kräften des Rettungsdienstes aufzuzeigen und zu erläutern. Systemtheoretische Ansätze sehen ein zentrales Element von Professionen darin, dass sie Interaktionen unter den Vorzeichen eines bestimmten funktionssystemischen Codes betreuen (Kurtz 2000, 2010; Atzeni 2016; ferner: Stichweh 2008). Eine an Hughes angelehnte Fassung sieht in professioneller Arbeit eine Form des people-processing oder people-changing (Kurtz 2011, S. 34f.). Hinter dieser Beschreibung steht die Beobachtung, dass Professionen sich mit Problemen von Personen befassen: mit deren Streits, Krankheiten, Sorgen und Sünden oder aber ihrer Erziehung. Die Problembearbeitung können Professionelle in hohem Maße nur gemeinsam mit ihren Klienten vollziehen. Gemeinsamkeit bedeutet hier zum einen 127 Zur Abgrenzung von Profession und Experten vgl. die Übersicht von Schützeichel (2007), die zusätzlich einen guten Überblick nicht nur über die verschiedenen Theorieschulen in der Professionssoziologie bietet, sondern auch die historische Entwicklung eines kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Professionsbegriffs erläutert.

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die Notwendigkeit räumlicher Kopräsenz beider Seiten. Dies unterstreicht die Bedeutung, die der Interaktion mit Klienten im professionellen Modus zufällt. Zum anderen meint Gemeinsamkeit eine Forderung, die im professionellen Kontext an den Klienten gestellt wird. Professionelle Arbeit wird erschwert oder gar verunmöglicht, wenn sie nicht gemeinsam mit dem Klienten an der Problembeseitigung arbeiten kann. Vom Klienten wird in der Regel immer erwartet, im Rahmen gegebener Möglichkeiten an der Problemdiagnose und Lösung mitzuwirken. Das wiederum bedeutet nicht nur, dass dieser sich im Sinne der professionellen Empfehlung verhalten und so sein eigenes Wohlergehen koproduzieren soll,128 ganz grundsätzlich verlangt jede Mitwirkung vom Klienten, sich auf eine professionelle Beratung einzulassen und dem Professionellen zu vertrauen. Das wiederum stellt hohe Anforderungen an die Profession. Beispielsweise wird ein Patient die „Zumutungen und Gewalt“ ärztlichen Handelns nur dann gerechtfertigt sehen, wenn die medizinische Profession „plausibilisieren kann, dass es ihr weniger um ihre Eigeninteressen denn um das Wohl des Patienten geht. Trotz der hiermit verbundenen Widrigkeiten lässt man sich vom Arzt als Objekt behandeln, weil man davon ausgeht, dass es im Sinne der eigenen Autonomie und Lebenspotenziale geschieht“ (Vogd 2011b, S. 218). Entsprechend muss die professionelle Interessenvertretung bei solchen Forderungen, die auf den ersten Blick rein eigennützig sind – z. B. den Wunsch nach weniger Überstunden –, immer auch den Mehrwert für die Klienten betonen (weniger Überstunden bedeuten mehr Erholungsphasen bedeuten weniger Behandlungsfehler). Gesellschaftstheoretische Bedeutung fällt der ärztlichen, juristischen, religiösen und pädagogischen Professionen zu, weil sie in funktionaler Äquivalenz129 zu den Erfolgsmedien anderer Funktionssysteme stehen. Auffällig ist nämlich, dass solche Funktionssysteme, deren Kommunikationscode nicht zwingend auf Interaktion unter Anwesenden angewiesen ist, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ausgebildet haben (für die Wirtschaft ist das Geld, für die Politik Macht), um die Annahmewahrscheinlichkeit systemtypischer Kommunikation

128 Vgl. zur Koproduktion von Gesundheit vgl. Strauss et al. (1997, S. 192–194) und die Anmerkungen von Stollberg (2008, S. 348f.). Im Vorgriff auf die folgende Diskussion kann hier bereits zu Bedenken gegeben werden, dass die Notfallmedizin regelmäßig mit Patienten zusammentrifft, die ihre Gesundheit nicht mitproduzieren können. 129 Sie sind aber keine funktionalen Äquivale-nt-e von Erfolgsmedien (so aber Atzeni 2016, S. 300), da etwa die ärztliche Profession nicht die Funktion von Geld im Wirtschaftssystem ersetzen kann. Professionen stellen andere Lösungen für das gleiche abstrakte, aber eben nicht für dasselbe konkrete Problem dar. Würde man „Krankheit“ als medizinisches Medium ansehen, erst dann ließe sich die ärztliche Profession als ein funktionales Äquivalent für dieses begreifen (s. die nachfolgende Anmerkung).

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(z. B. einer Zahlung, eines Befehls) gegenüber ihrer Ablehnungswahrscheinlichkeit zu erhöhen und so den Systemfortbestand zu garantieren. Diese Erfolgsmedien fehlen in den professionsbasierten Funktionssystemen Medizin, Religion, Recht und Erziehung bzw. ihr Vorhandensein ist in der Soziologie mehr oder weniger stark umstritten.130 Während Kurtz die Funktion von Profession daher dahingehend auflöst, dass diese den Funktionscode in der Interaktion unter Anwesenden betreue und dort auf seine Annahme hin motiviere, hat Atzeni vorgeschlagen, den Interaktionsbias etwas zu lockern und den Professionellen als eine – durchaus streitbare und das in sie gesetzte Vertrauen regelmäßig bewähren müssende – wirkmächtige Sozialfigur zu verstehen, die schon vor ihrer Interaktionspräsenz auf die Inanspruchnahme und zur Annahme z. B. medizinischer Kommunikation motiviere. Atzenis Argument ist, dass ärztliche Kompetenz schon unabhängig von der konkreten Interaktion Bedeutung besitzt, etwa bereits dann, wenn sich ein Kranker für oder gegen einen Arztbesuch oder eine schuldmedizinische Therapie entscheidet. Medizinische Kommunikation, unabhängig wer sie vollzieht und wo sie vollzogen wird, erhält „ihre Plausibilität aus der Figur des Arztes“ (Atzeni 2016, S. 300). Die „Kompetenzdarstellungskompetenz“, die Pfadenhauer (2003) als wesentliche Eigenschaft von Professionen anführt, besitzt demnach auch fernab ihrer situativen Inszenierung und institutionalisierter Symbole Geltungskraft.131 Anders gesagt: es erfordert im Allgemeinen wesentlich weniger Begründungsaufwand, sich für einen Arztbesuch zu entscheiden oder sich gemäß des Ratschlags einer Ärztin zu verhalten als das Gegenteil zu tun. Mit dieser Erweiterung wird die Profession auch theoriekonzeptionell näher an das Konzept eines situationsunabhängigen Erfolgsmediums herangerückt. Für die Notärztin scheint diese Diskussion auf den ersten Blick weitgehend irrelevant. Folgt man der Darstellung Saakes (→ I.3.3), dann stellt sich die Frage nach der Annahme medizinischer Kommunikation im Notfall kaum. Starke Schmerzen oder akute Beschwerden besitzen eine lebensweltliche Evidenz, die beim Patienten eine Art natürliche Widerspruchslosigkeit gegenüber dem ärztlichen Vorgehen erzeugen (Fuchs 2006, S 28). Es scheint in solchen Fällen keiner weiteren Überzeugung zu bedürfen, ärztliche Hilfe sofort in Anspruch zu nehmen. Doch auch wenn dies in vielen Fällen zutreffend sein mag, ist dies nicht auf not-

130 Fuchs (2006) argumentiert für Krankheit als Medium der Medizin. Für Religion wird Glaube als Erfolgsmedium diskutiert, für Recht Recht, für Erziehung und Soziale Hilfe der Klient. 131 Darauf weist im Grunde Kühl (2010, S. 276-278) in seiner Ergänzung zu Pfadenhauer hin, in der er die Selbstverständlichkeit professioneller Kompetenz betont, die gerade nicht mehr auf eine kompetente Inszenierung angewiesen ist, sondern die Kompetenzannahme des Klienten voraussetzen kann.

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ärztliche Hilfe beschränkt. Jede Retterin, die nicht schon auf den ersten Blick unzweifelhaft inkompetent wirkt, darf damit rechnen, dass ihr Hilfsangebot ohne Zögern angenommen wird.132 Jeder Notfall, egal welcher Art, neigt zu Evidenzkonstruktionen (die konkrete Gefahr) und schreibt Handlungspotenziale einseitig zu (handlungsfähige Retterinnen, machtlose Opfer). Die einseitige Zuschreibung von Handlungsmöglichkeiten im Notfall wird durchaus angezweifelt und kritisch gesehen. Die Besonderheit der Notärztin darin liegen zu sehen, dass diese es mit einer besonders unproblematischen Ärztin-Patienten-Beziehung zu tun hat, kann nur zur Hälfte überzeugen. Denn auf der anderen Seite ist es ja gerade die Notärztin, die regelmäßig mit Patienten zu tun hat, die medizinische Hilfe kategorisch ablehnen, denen aber trotzdem ‚geholfen‘ wird. Das Beispiel medizinischer Notfalleinsatz eignet sich demnach weniger zur Demonstration eines in jeder Ärztin-Patienten-Interaktion vermuteten Grundkonsenses. Mit Blick auf ‚schwierige Einsätze‘ liegt das Besondere der Figur Notärztin in ihrer politischen und rechtlichen Bedeutung. Es mag zwar richtig sein, dass viele Notfallpatienten sich ihrer Hilfe erleichtert hingeben und, wie zur Bestätigung der These, klagen, die Notärztin habe zu lange gebraucht oder sie habe zu wenig oder nichts getan. Es muss aber auch gesehen werden, dass es mit Ausnahme der Psychiaterin kaum eine andere Fachärztin gibt, die häufiger gegen den explizit geäußerten Wunsch eines (suizidalen, psychotischen, panischen etc.) Patienten handelt. In diesen Notfällen steht vielleicht nicht der gesellschaftliche oder Angehörigenwunsch nach Hilfeleistung in Frage, aber doch der des Patienten, was sich nicht zuletzt in seiner körperlichen Gegenwehr ausdrücken kann. Kaum eine andere Ärztin (be)handelt derart oft unter Zuhilfenahme oder auf Aufforderung polizeilicher Kräfte und urteilt regelmäßiger über die Zurechnungsfähigkeit eines Patienten wie die Notärztin. Eine unterstellte lebensweltliche Evidenz und die natürliche Widerspruchslosigkeit liegen in diesen Fällen beim Patienten augenscheinlich nicht vor. Sie werden durch einen gesellschaftlichen Grundkonsens ersetzt, der den unerwünschten medizinischen Zugriff unter bestimmten Bedingungen für rechtlich zulässig hält. In aller Regel teilen Verwandte, Freunde oder auch fremde Anwesende diesen Konsens und vertreten seine praktische Durchsetzung.

132 Die Insignien medizinischer Kompetenz sind dafür jedoch hilfreich. In diesem Zusammenhang ist die Schilderung eines Rettungsassistenten bezeichnend, der von seinem Erstaunen erzählte, als er außerhalb seiner Dienstzeit bei einem Verkehrsunfall eingriff und bereits das Überstreifen der im Erste-Hilfe-Kasten befindlichen Hygienehandschuhe dazu führte, dass die Anwesenden seinen Anweisungen folgten, ohne dass er auf seine Ausbildung hingewiesen habe. Dem Autor ist einige Jahre nach dieser Erzählung Ähnliches widerfahren, als er als Ersthelfer tätig wurde. Mit Blick auf die von mir übergestreiften Hygienehandschuhe erkundigten sich die eintreffenden Rettungskräfte, ob ich „vom Fach“ sei.

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Die Patientenautonomie steht im Notfall immer zu Disposition und die Ärztin entscheidet, wie diese zu bewerten ist. Professionen bearbeiten die Probleme ihrer Klienten, indem sie Informationen über sie sammeln, diese Informationen klassifizieren und schließlich eine Diagnose erstellen. An die Diagnose ist dann eine bestimmte Behandlung gekoppelt. Beide Seiten, Diagnose und auch Behandlung, sind sehr stark technisiert und formalisiert (Luhmann spricht deshalb von Diagnose- wie von Behandlungsprogrammen) und können deshalb nicht selten auch vom Klienten erlernt und durchgeführt werden (Abbott 1988, S. 40–48). Z. B. kann krankhafter Bluthochdruck mit den geeigneten Geräten heutzutage unschwer auch von medizinischen Laien festgestellt werden, und auch die in diesem Fall einfach durchzuführenden Behandlungsverfahren (Medikamenteneinnahme, Nahrungsumstellung, körperliche Betätigung etc.) können bzw. müssen vom Patienten selbst oder von Angehörigen oder Pflegekräften unternommen oder gefördert werden. Natürlich gibt es auch diagnostische und therapeutische Verfahren, die kompliziert sind und die von ausgebildeten Spezialistinnen durchgeführt werden, aber selbst diese Berufe müssen nicht zwingend ärztliche sein, und sie sind es häufig auch nicht. Reine professionelle Arbeit ist denn auch hauptsächlich im Zwischenraum von Diagnose und Behandlung zu finden, an der Stelle, an der beide Seiten in Relation zueinander gebracht werden müssen.133 Genuin professionelle Arbeit ist vor allem dann erforderlich, wenn die Schlussfolgerung aus einer Diagnose unsicher ist (Abbott 1988, S. 48-50). Medizinische Inferenz- bzw. Entscheidungsarbeit folgt dabei dem Ausschlussprinzip – wenn etwas nicht wirkt, werden Diagnose und/oder Therapie variiert. Andere Professionen, beispielsweise Rechtsanwälte, selektieren das geeignetste Vorgehen häufig durch Szenariokonstruktion. Gewählt wird hier schließlich das Vorgehen, das einen möglichst erfolgreichen Ausgang und ein geringes Risiko verspricht. Für den Fall der Notärztin ist an dieser Stelle von Interesse, dass sie vom typischen Vorgehen ihrer Profession eigentlich abrücken müsste, da ein Vorgehen nach dem Ausschlussprinzip nur derjenigen möglich ist, die Fehler machen darf und mindestens mit einer zweiten Behandlungschance rechnen kann (ebd.). Der 133 Das schließt natürlich nicht aus, dass ärztliche Autorität auch von diagnostischer und therapeutischer Kompetenz zeugt bzw. erzeugt wird. Diesen Punkt adressiert Baecker (2008, S. 50) mit Verweis auf Foucault (1973). Der für die moderne ärztliche Krankenbehandlung „entscheidende Punkt, darauf eben zielten die Analysen des klinischen Blicks bei Michel Foucault, besteht darin, eine Krankheit so zu bestimmen, dass man von ihr reden und über sie reden, sie an bestimmten Zeichen (‚Symptomen‘) erkennen, ihr bestimmte Ursachen und Wirkungen zurechnen und sie anhand dieser Zurechnungen unterscheiden (‚Differentialdiagnose‘) und ihr so nicht zuletzt einen Handlungsbedarf (‚Therapie‘) zurechnen kann.“ Abbotts Analyse weist darüber hinaus, wenn er eine dritte Praxis beschreibt, die weniger auf Fachbuchwissen, medizinischen Klassifikationssystemen und Behandlungstechniken basiert und eher die Fähigkeit betont, beide Seiten (Diagnose und Therapie) miteinander in Beziehung zu setzen.

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notarztbasierte Rettungsdienst in Deutschland erhält aber seine Legitimität im Besonderen über die Annahme, der ärztliche Einsatz würde das Risiko präklinischer Fehlentscheidungen senken und die Qualität dadurch im Gegensatz zu anderen Ländern mit reinem Paramedic-System erhöhen (Gorgaß et al. 2007, S. 18f.). Das notfallmedizinische Arbeiten mit Verdachtsdiagnosen – in der Notfallmedizin spricht man auch von „Arbeitshypothesen“, die im Krankenhaus zu verifizieren seien –, steht zu diesem Anspruch in einer gewissen Spannung. Da es sich um einen ersten und expliziten Verdacht handelt, wird ein möglicher Fehler betontermaßen nicht ausgeschlossen. Der präklinische Rettungsdienst ist vornehmlich damit beschäftigt, den Patienten soweit zu versorgen, dass er möglichst schnell in ein Krankenhaus überstellt werden kann und muss daher das Auftreten unzutreffender Hypothesen einkalkulieren. Wenn aber der schnelle Abtransport und die rasche Übergabe an ein Krankenhaus zum dominanten Ziel des Rettungsdiensts erklärt werden, verliert die professionelle Inferenzarbeit an Bedeutung. Damit wird nun ein zentraler Konflikt besonders von notarztbasierten Rettungsdiensten sichtbar: Strategien, die auf eine kurzfristige Transportstabilisierung und schnelle Verbringung des Patienten in ein Krankenhaus zielen („load and go“, und solche, die die Wichtigkeit einer professionellen Diagnose und Behandlung betonen, die in der Regel am Einsatzort erfolgen („stay and play“), konkurrieren miteinander. Notarzt (m, 36, tätig in BStadt): Eine wichtige Entscheidung ist immer: haben wir Zeit vor Ort zu bleiben und den Patienten top zu versorgen, also im Sinne von stay and play, das heißt, wir bleiben da, spielen ein bisschen rum, ja, also der Patient kriegt die maximale Unterstützung. Oder aber: load and go, das heißt: einladen, losfahren, weil ich vor Ort für den Patienten eh wenig tun kann. Das ist eine wesentliche Entscheidung, die ich vor Ort treffen muss. Danach richtet sich viel. Wie es dann auch für den Patienten weitergeht, und das ist so, es gibt diesen Fachbegriff: zehn Sekunden für zehn Minuten. Das heißt, ich muss in den ersten zehn Sekunden vielleicht mir einen Überblick verschafft haben, um dann zu sagen, wohin gehen die nächsten zehn Minuten; habe ich zehn Minuten Zeit vor Ort? Oder müssen wir richtig ranklotzen, damit wir möglichst schnell mit dem Patienten in der Klinik sind.

Beide Strategien sind historisch unterschiedlich verwurzelt. Ursprünge des load and go-Verfahrens – auch scoop and run genannt – finden sich in militär- und sanitätstaktischen Überlegungen, die das schnelle Ausfliegen verletzter Soldaten aus Kampfgebieten mit Helikoptern bevorzugen. Es wurde vor allem im Koreaund Vietnamkrieg entwickelt, wogegen noch im Zweiten Weltkrieg Sanitätslager in kurzer Distanz zur Frontlinie aufgebaut wurden und eher die erste Variante unterstützten (Moskop und Iserson 2007a, S. 277f.). Notarztbasierte Systeme wird nachgesagt, der stay and play-Variante zu folgen; das angloamerikanische, auf pa-

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ramedics bzw. emergency medical technicians (EMT) zurückgreifende Rettungssystem forciert eher den schnellen Transport (Nurok 2001).134 Hier sieht der Patient die emergency physician erst in der Notaufnahme (die Ärztin ist also nicht, auch wenn die wörtliche Übersetzung dies Nahe liegt, mit einer deutschen Notärztin zu verwechseln). Der Interviewpartner sieht in der raschen Auswahl einer der beiden Strategien seine zentrale Aufgabe. Ob die Verdachtsdiagnose eine Behandlung vor Ort oder eine rasche Verbringung ins Krankenhaus erfordert, sollte möglichst in „den ersten zehn Sekunden“ von ihm entschieden werden. Obgleich eine Fehldiagnose im Rettungsdienst fatale Konsequenzen haben kann – eine rechtmedizinische Studie spricht im Fall von 264 obduzierten Notfallpatienten, die an ihren traumatischen Verletzungen verstarben, von 9,9 % potenziell vermeidbaren und 5,3 % vermeidbaren Todesfällen (Buschmann et al. 2013) –, können Notärztinnen schon aus Zeitgründen nicht Szenario-konstruierend vorgehen. Sie müssen das Risiko einer falschen, eventuel fatalen Verdachtsdiagnose in Kauf nehmen. Neben den beiden genannten Inferenzverfahren gibt es schließlich noch einen dritten Weg, der jedoch keine genuin professionelle Arbeitsweise mehr unterstützt. Paramedic-basierte Rettungssysteme haben diesen Weg eingeschlagen. Sie verzichten auf den Einsatz professioneller Entscheidungsarbeit und setzen dagegen auf Konditionalprogrammierung. Rettungsdienstalgorithmen sind als Vorgehensmodelle zu begreifen, die den gesamten rettungsdienstlichen Einsatz hinsichtlich möglicher und diagnostisch-therapeutisch gewünschter Verlaufsformen abbilden. Ausgehend von allgemeinen, der Umsicht am Einsatzort und einer ersten Diagnostik dienenden Orientierungsverfahren (Basisalgorithmus → Abbildung II.4) weisen sie an, wie bei typischen Notfallpatienten (diskutiert werden 25 bis 30 Typen) zu handeln ist (Peters und Runggaldier 2005). Die Algorithmen sind zwar teils sehr verzweigt und verweisen untereinander aufeinander, aber sie sind eben doch les- und lernbar, ein Merkmal, mit dem die professionelle Entscheidungsarbeit ihrer Esoterik beraubt wird (Abbott 1988, S. 50). Ähnlich wie evidenzbasierte Medizin in Konkurrenz zur ärztlichen Kunst tritt, drohen Rettungsdienstalgorithmen die Entscheidungsarbeit von Notärztinnen am Notfallort überflüssig zu machen (→ IV.2.2). Die starke Fixierung des Rettungsdienstes auf den Patiententransport sowie die Grundannahme, eine umfassende Anamnese und eine darauf

134 Vor allem für den Massenanfall von Verletzten, also für das zivile Pendant gab es in Deutschland bis zuletzt eine Konkurrenz beider Systeme. In urbanen Regionen, in denen die Versorgung mit Krankenhäusern weitgehend gewährleistet ist, hat sich erstes nun durchgesetzt. Für ländliche Regionen, für die stay and play-Varianten noch diskutabel sind, wird die Unterstützung der lokalen Einsatzkräfte durch telemedizinische Notärztinnen erforscht (Paulus und Follmann 2017; zur Nieden und Ellebrecht 2017).

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abgestimmte Therapie würden erst im Krankenhaus erfolgen, erleichtern es den formalen Modellen, notärztliche Entscheidungsarbeit zu substituieren. Als Hauptargument für die Beibehaltung des notarztbasierten Rettungssystems wird zwar auch heute weiterhin auf eine höhere, jedoch schwierig zu verifizierende medizinische Versorgungsqualität verwiesen (Timmermann et al. 2008). Darüber hinaus betont man, dass die Arbeitsteilung zwischen Ärztinnen und Assistenzpersonal sich in Mitteleuropa in allen medizinischen Arbeitsfeldern historisch etabliert habe und deswegen „konsequenterweise auch auf den präklinischen Sektor auszudehnen“ (Gorgaß et al. 2007, S. 19) sei. Kritische Stimmen sehen das anders und konstatieren eine hochgradig „pathologische Form der Arbeitsteilung“ zwischen Rettungsassistent und Notärztin (Nadler 2008, S. 30). Als ein weiteres Argument für einen notarztgeprägten Rettungsdienst wird auf die rechtlich verbrieften Befugnisse der Notärztin verwiesen. Viele rettungsmedizinische Behandlungsformen – vom sogenannten Luftröhrenschnitt bis hin zur Vergabe von Analgetika – obliegen allein der Ärztin. Doch das ist ein wackeliges Argument. Denn rechtlich gesehen darf nicht nur der Rettungsassistent Maßnahmen ergreifen, die der Ärztin vorbehalten sind, selbst medizinische Laien können dieses Recht im eventuellen Fall für sich beanspruchen, wenn anzunehmen ist, dass dies die einzige Möglichkeit zur Rettung des Patienten ist. Auch die deutsche Ärzteschaft hat dies früh erkannt und zwei rettungsmedizinische Kompetenzmodi entworfen, um die ärztliche Kompetenz von der der Nichtärztin weiterhin abheben zu können (Bundesärztekammer 1992). Bis heute hält sich die Unterscheidung in eine rettungsdienstliche „Regel-“ und eine „Notkompetenz“. Erstere schließt das Ergreifen diagnostischer- und therapeutischer Verfahren, die der Ärztin vorbehalten sind, durch Rettungsassistenten aus, die andere schließt sie unter der Bedingung höchster Not ein. Die juristische Eignung dieser Unterscheidung wird jedoch unter Verweis auf längst bestehende und längst nicht nur spezifisch den Rettungsdienst adressierende Gesetze zum Notstand und zur Garantenstellung bezweifelt (Tachezy 2009). Vor allem mit der Etablierung des Berufsbilds Notfallsanitäter gehen überdies immer mehr Rettungsdienstbezirke dazu über, aus der Ausnahme eine Regel zu machen, Beschränkungen zu lockern und die ehemals Ärztinnen vorbehaltene Vergabe bestimmter Medikamenten in die Algorithmen aufzunehmen. Trotz dieser Neuerungen deutet bisher nichts darauf hin, dass das notarztbasierte System in Deutschland ein Auslaufmodell sei und in naher Zukunft von einem anderen abgelöst werde. Neuere Entwicklungen, die Ansätze eines Paramedic-gestützten Systems fördern könnten, finden sich zwar, tragen aber nicht zur Erosion der tradierten Rettungsdienststruktur bei. Das deutsche System ist durch

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Abbildung III.1: Basisaufbau einer Trauma Unit Quelle: http://www.trauma.org/archive/resus/traumateam.html (Zugegriffen am 19.11.2017).

eine starke ärztliche Lobby sowie durch einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung gegen Änderungen stabilisiert. Auch im Rettungsdienst finden sich starke institutionelle Beharrungskräfte in der Form, dass er zentral auf die notärztliche Entscheidung hin eingerichtet ist. Dieser Umstand zeigt sich am deutlichsten gerade in den Rettungsdiensteinsätzen, die ohne Notärztin durchgeführt werden. Denn die bedeutendste Entscheidung ist für die nichtärztlichen Rettungskräfte hier letztlich die, ob eine Notärztin nachbeordert werden sollte oder nicht. Dies muss etwa dann beurteilt werden, wenn sich der Notfallpatient in einem kritischeren Zustand befindet als zunächst angenommen wurde. Da die Entscheidung für solche Grenzfälle kaum programmierbar ist, ist sie mit vielen Unsicherheiten konfrontiert, die letztlich in der Frage kummulieren, wie viel Verantwortung Rettungsassistenten und Notfallsanitäter bereit sind selbst zu tragen. Die Tendenz geht deutlich stärker zur Nachbeorderung als zur Risikoübernahme, insbesondere bei den mehrheitlich jüngeren Rettungskräften. Gleichwohl fürchten viele Rettungskräfte von der Notärztin dafür getadelt zu werden, sie für einen belanglosen Fall herbeigerufen zu haben.135 In der Kollaboration von Notärztinnen und Rettungsassistenten, Notfall- und Rettungssanitätern verschwindet das hierarchische Gefüge selten. In Anschluss an die Forschung zu extreme action teams kann zwar durchaus beobachtet werden, dass der Einsatz in einen aktiven (operativen) und einen passiven (beobachtenden) Teil zerfallen kann und damit ansatzweise dynamisch wird. Der sichtbare Aktivi-

135 Das zeitliche Hauptargument, das gegen die Nachbestellung spricht, ist die Anfahrtszeit, die die Notärztin bis zum Eintreffen braucht und die im Entscheidungsprozess gegen die Zeitspanne abgewogen wird, die eine sofortige Krankenhausverbringung des Patienten benötigen würde.

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tätsschwerpunkt geht in diesem Moment auf die nichtärztlichen Kräfte über, während Kontrolle und Monitoring in den Händen der Ärztin verbleiben. Klein et al. (2006) haben diesen Vorgang unter dem Blickwinkel von Führung und Delegation für Traumteams der Notaufnahme nachgezeichnet. Im Vergleich wird klar, dass sich die Koordinationsprozesse in Rettungs- und in Traumateams in vielen Punkten ähneln, mit der hohen Dynamik und Variabilität der Führung in und von Traumateams können die hier untersuchten Rettungsteams aber nicht mithalten. Die höhere Arbeitsteiligkeit und das geringere bzw. kleinteiligere Gefälle in der offiziellen Hierarchie von Traumateams (→ Abbildung III.1) begünstigen dort dynamische Führungsstrukturen. Das Fehlen dieser Elemente in kleinen präklinischen Rettungsteams erschwert die Herausbildung derartiger Führungsmuster. In Deutschland bestehen diese aus einem zweiköpfigen RTW-Team (in der Regel bestehend aus Rettungsassistent und -sanitäter) und aus einem zweiköpfigen NEFTeam (Notärztin und Rettungsassistent). Selbst wenn die Notärztin Aufgaben delegiert, geschieht dies kleinteilig. Sie bleibt in der Regel sehr nah am Geschehen, die Entscheidungsfindung wird nicht abgegeben, allein die Ausführung wird übertragen. Dies konstatieren beide Seiten, sowohl Rettungsassistenten: RA (w, 31, tätig in Kdorf): Es gibt auch Ärzte, die lassen uns dann alles machen, die stehen daneben und sagen nur: „Ja, mach das und das“ und wir machen das dann. Das ist natürlich für uns super, ja, und dann gibt es aber auch Ärzte die [sagen]: „Nein, alles meins“, gar nix.

Und auch Notärztinnen beschreiben – spiegelbildlich zur Aussage der Interviewten zuvor –, dass jede Verantwortungsdelegation entschieden werden muss und jederzeit zurückgenommen werden kann. Es ist vor allem die Kritikalität des Patientenzustands, die, als zentraler Faktor, über den Aufbau des Kooperationsgefüges und das aktive Eingreifen der Notärztin entscheidet (Klein et al. 2006, S. 605608). Daneben heben Notärztinnen aber auch funktionale Aspekte hervor. Betont wird zum einen, dass durch die Delegation von Aufgaben a) nichtärztliche Rettungskräfte das theoretisch in der Ausbildung angeeignete Wissen nun praktisch erlernen können; dass sie b) so auf Situationen vorbereitet werden, in denen sie auf sich allein gestellt seien; dass ihre intensive Einbeziehung c) helfe, die eigenen Entscheidungen zu verifizieren und Fehler zu erkennen und dass d) die Notärztin durch die volle Verantwortungsübertragung für den nächsten Einsatz verfügbar sei.136

136 Ein Notarzt (m, 36, tätig in Bstadt) schildert seine Verantwortungsübergabe an die Rettungsassistenten wie folgt: „Oftmals schreibe ich auch auf das Notarztprotokoll noch mal drauf, was zu tun ist, wenn. Dass die auch so ein bisschen Handlungsspielraum haben. Und dann lass ich mir ganz klar von denen sagen, ob sie sich das zutrauen oder nicht.“

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Aufgabendelegation und Verantwortungsübertragung werden als ein Bestandteil guter Führung begriffen. Eine Gefährdung der einfachen, begrenzt dynamischen Kooperations- und Kontrollordnung wird vor allem dann ausgemacht, wenn Notärztinnen keine Aufgaben abgeben. Die zitierte Rettungsassistentin beschreibt einen solchen Habitus mit den Worten: „‚Nein, alles meins‘, gar nix“. Ein anderer Rettungsassistent spricht an dieser Stelle vom Einzelkämpfer: „Das ist ja öfters mal ein Problem, sagt man, im ärztlichen Bereich, dass die als Einzelkämpfer ausgebildet werden“. Die Interviewerin hakt an dieser Stelle ein: Interviewerin: Okay [Ja.], und können sie das ein bisschen (.) äh genauer SCHILdern viellEICHT was sie meinen mit ähm EINzel:kämpfer? RA (m, 32, tätig in Hdorf): Achso, ähm, ja, man erlebt das immer so: JA!, Notarzt (.) ähm wenn man (.) oder ÄRZTE, nicht NOTärzte sind es so, ähm beSCHREIBT man oft das die halt allEINE, (.) dieses (.) was sie halt alle oft alleine entscheiden müssen; is’ ja oft so ja, und: SIE dann in einem TEAM zu integrieren ist immer ein bissel schWIERIG also zum Beispiel probieren sie mal eine NOTarztgemeinschaft zu FÜHRen; ähm wenn sie DIE Kollegen interviewen würden (.) des ist ein Graus, weil jeder sieht’s ein bisschen anders: (.) zwei Ärzte sechs MEINungen sage ich jetzt mal.

Der Interviewausschnitt wurde in diesem Fall näher am gesprochenen Ausdruck belassen, damit die Selbstkorrektur des Rettungsassistenten und der zweifache Bezugswechsel sichtbar bleiben. Zu Beginn verbessert sich der Rettungsassistent zunächst: nicht Notärzte, allgemein alle Ärzte seien Einzelkämpfer. Am Ende wird der Bezug dann wieder aufgegeben und erneut der Notarzt, diesmal als Gruppe, als unführbar und unentschieden adressiert. Dieses gut erkennbare rhetorische Schwanken zwischen Arzt und Notarzt bringt die Schwierigkeiten und die Erwartung, mit denen sich die notärztliche Rolle konfrontiert sieht, sehr genau auf den Punkt. Eine gute Notärztin ist in der Lage, wesentliche Momente ärztlich-professionellen Verhaltens abzulegen. Dieser Aspekt geht über das Merkmal guten notärztlichen Führens im Sinne eines kontrollierten Verteilens medizinischer Aufgaben an nichtärztliches Rettungsdienstpersonal hinaus, das oben angesprochen wurde. Adressiert wird hier die Entscheidungskraft der Notärztin. Im Folgenden möchte ich diesen zentralen Konfliktpunkt nachzeichnen. Vielmehr noch als mit Erfolgsmedien können Professionen mit Organisation verglichen werden. Wie oben beschrieben, lassen sich Organisationen als Mittler zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen und Interaktionssystemen verstehen, denn sie verengen Interaktionen auf funktionssystemische Logiken hin (Kieserling 1999, S. 339f.). Professionen eifern Organisationen darin nicht nur nach, sie tun dies auch in ganz bestimmten Fällen, nämlich für nicht-technisierbare Arbeitsvollzüge (Luhmann 2000, S. 373). Während Organisationen Entscheidungen in erheblichen Maße von formalen Vorgaben abhängig machen, sie durch

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diese Automation eines guten Teils ihrer Willkürlichkeit berauben und Arbeitsprozesse dadurch technisieren, sind Professionen gerade für solche Entscheidungen zuständig, die nicht programmiert werden können. Professionelles Entscheiden vollzieht sich nur in einem für Uneingeweihte und für Organisationen „undurchsichtigen Geschehen“ (ebd.), die Entscheidungen erscheinen dann entsprechend arbiträr, noch im Nachhinein kann die Entscheidung in der Regel nur von professionellen Fachkolleginnen nachvollzogen und auf Richtigkeit hin überprüft werden. Die Willkürqualität von Entscheidungen ist im professionellen Kontext wesentlich greifbarer als in Verwaltungen („zwei Ärzte sechs MEINungen sage ich jetzt mal“). Bürokratien sind – folgt man dem Gedanken Webers zur Legitimität rationaler Herrschaft – willkürlichen Entscheidungen weitgehend unverdächtig. Erst auf den höheren Verwaltungsebenen, auf denen über problematische, nicht ins gängige Schema passende Einzelfälle geurteilt wird, droht ein Beliebigkeitsverdacht aufzublinken. Entscheidungen erfordern hier daher mehr Begründungsaufwand. Das Aufkommen etwaiger Zweifel an professionellen Entscheidungen muss dagegen durch Vertrauen in die Kompetenz des Professionellen unterbunden, zumindest verringert werden (gerade die Kompetenzdarstellung in der Interaktion generiert Vertrauen, z. B. indem Untersuchungsergebnisse dem Patienten vorgelegt und erklärt werden). Zweifel lassen sich im professionellen Kontext kaum durch Verweis auf formale Vorgaben beseitigen. Während Verwaltungsentscheidungen ihre Legitimität über den Glauben an ihre Legalität beziehen, basiert das Vertrauen in professionelle Entscheidungen auf Ruf und Reputation der Profession, welche in guter Verfassung sein, aber auch Schaden nehmen können. Es ist gerade der notärztliche Beruf, der die professionelle Entscheidungswillkür auf die Spitze treibt. Ein Leitender Notarzt formuliert dies wie folgt: LNA (m, 55, Bgroßstadt): Notärzte ticken auch so ein bisschen anders als Krankenhausärzte, weil Notärzte, die länger im Geschäft sind, haben das gelernt, was man eben in dieser Akutmedizin – wie auch in anderer Akutversorgung [bei] der Feuerwehr – erst beispielsweise braucht, dass man innerhalb sehr kurzer Zeit sehr harte Entscheidungen treffen muss und auch zu diesen harten Entscheidungen stehen muss, auch wenn sie nicht hundert Prozent die richtigen sind, sondern nur 90 Prozent oder 80 Prozent. Die dürfen nicht völlig falsch sein, dann muss man sie ändern, aber an sich ist der Weg eingeschlagen und der wird dann auch gegangen. Und dieses schnell entscheiden, klare harte Entscheidungen treffen und die Konsequenzen daraus tragen, das ist bei uns tägliches Geschäft. Das ist im Krankenhaus nicht so tägliches Geschäft, das müssen Ärzte erst lernen. Interviewer: Das ist ja auch vor dem Hintergrund des Zeitmanagements und des Notfalls zu sehen.

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LNA: Ja, natürlich, das ist das Zeitmanagement des Notfalls. Und in diese andere Philosophie müssen Notärzte, oder Ärzte, die in der Notfallmedizin sind, erstmal hineinwachsen, ebenso wie Pflegekräfte, die als Rettungsassistent jetzt beispielsweise zusätzlich ausgebildet sind, müssen diese harten, schnellen Entscheidungen lernen – und das tun die auch. Und das ist eben anders als bei so einer Visite im Krankenhaus, wo man dann noch den Befund zu Rate zieht und den Laborwert noch zu Rate zieht und [unverständlich] die ich selten durch sofortige, harte Entscheidungen treffen muss.

Notärztinnen sehen sich dazu gezwungen, Entscheidungen unter Ungewissheit zügig treffen und diese Entscheidungen gegen Zweifel und Korrekturen zunächst schützen zu müssen. Der interviewte Notarzt begreift dies als eine Eigenschaft, die gute Notärztinnen sich mit Feuerwehreinsatzleitern teilen und die sich auch Rettungsassistenten aneignen können. Die Devise, eine Entscheidung und ihre Folgen dürfe nicht sofort einer Revision unterzogen werden, findet sich wiederholt in den Interviews von Führungskräften der Feuerwehr. Wichtig sei, einmal getroffenen Entscheidungen Zeit zu geben und sie zunächst ‚laufen zu lassen‘. Die Gefahr eines Zu-Vieles an Entscheidungen und Entscheidungsarbeit liegt sowohl in der Länge des Entscheidungsfindungsprozesses als auch in einer zu hohen Taktfrequenz korrigierenden Entscheidens. Beides gilt als zusätzlicher Unsicherheitsfaktor, der die operative Intervention der Einsatzorganisation verzögert, da frische, mühsam aufgebaute Strukturen und Orientierungen wieder eingerissen werden. Die notärztliche Rolle steht unter der paradoxen Anforderung, für das von ihr erwartete Entscheidungsverhalten von genuin ärztlichen Verhaltensmerkmalen abrücken zu müssen, um ihren notfallmedizinischen Auftrag zufriedenstellend erfüllen zu können. „Der weniger erfahrene Notarzt“, so heißt es dazu an einer späteren Interviewstelle, „denkt ärztlich, umfangreich und braucht deswegen länger“ (LNA, m, 55, Bgroßstadt). Professionelles Urteilen zeichnet sich durch eine gewisse Besonnenheit aus; es bezieht verschiedene Informationen ein und wägt diese gegeneinander ab, um schließlich zu einem sicheren Entschluss zu gelangen. Diese akademische Langsamkeit, die in verschiedenen anderen Interviews um das Attribut einer ausgeprägten innerprofessionellen Diskussionsfreude und Meinungsvielfalt ergänzt wird, ist schon Weber (1972, S. 158-167; Klatetzki und Tacke 2005, S. 11f.) nicht entgangen (auch wenn sie bei Weber im Begriff horizontaler Kollegialität aufgeht). Sie gewährleiste zwar eine größere Sorgfalt bei der fachmännischen Problemanalyse, bezahle diese aber zugleich mit einer „Hemmung präziser und eindeutiger, vor allem schneller Entschließungen“ (Weber 1972, S. 162). In der jüngeren Professionssoziologie findet diese Langsamkeit und Uneindeutigkeit kaum noch Erwähnung. Dies liegt wohl auch daran, dass sie immer erst in sozialen Zusammenhängen auffällig wird, in denen sie von einer Seite als dysfunktional erlebt und beanstandet wird. Im Krankenhaus wird ein solcher

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Vorwurf außerhalb von Notaufnahmen und abseits kritischer OPs kaum laut zu vernehmen sein, doch der unerfahrenen Notärztin wird ihre Professionalität – ihr zu ärztliches Denken und Handeln – dagegen von erfahrenen Notärztinnen zum Vorwurf gemacht. Umgekehrt wiederum, ist es gerade dieses „tägliche Geschäft“ des Fällens „schneller, klarer, harter Entscheidungen“, das Notärztinnen und Notärzten von Seiten der restlichen Ärzteschaft den belächelten Titel „Cowboy“ eingebracht hat. Der Vergleich taucht in Gesprächen mit Ärzten über Notärzte vereinzelt auf und unterstreicht, dass diese aus der Sicht ihrer Kollegen einer anderen Logik und einem eigenen Recht zu folgen scheinen. Während der professionelle Entscheidungsmodus die richtige Problemanalyse und -behandlung im Auge hat und deswegen den kollegialen Ratschlag sucht und die Entscheidung häufig sogleich um eine Urteilsbegründung ergänzt, geht es der Notfallorganisation primär darum, dass überhaupt entschieden wird. Damit ist die eigentümliche Sonderstellung der Notärztin hinreichend beschrieben. Die notärztliche Tätigkeit setzt sich zum einen von der gewöhnlichen ärztlichen Praxis ab, weil sie regelmäßig gegen einen ausdrücklichen Patientenwunsch handelt. Zum anderem wird von der Notärztin Entschlusskraft, Urteilsschnelligkeit und Entscheidungshärte gefordert, Eigenschaften, die eher politische und heroische denn professionelle Qualitäten beschreiben. Diese Besonderheiten des notärztlichen Berufs drücken sich nicht zuletzt in einer hohen Rechtsunsicherheit seiner Akteure aus (→ Tabelle III.1). Der permanente Zwang zur Entscheidung in Notfällen führt zu dem verbreiteten Gefühl, ständig an der Grenze des Rechtmäßigen zu handeln. Ob dies tatsächlich großflächig zutrifft – was erfahrene Rettungskräfte häufiger als Berufsanfänger bezweifeln –, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Natürlich besteht die gesellschaftliche Erwartung und bestehen rechtliche Befugnisse, die ihr außergewöhnliches Handeln legitimieren und legalisieren. Wie weit die Profession diese Regelungen selbst auslegt, kann hier nicht diskutiert werden.137 Die Umfrageergebnisse in → Tabelle III.1 belegen außerdem die oben skizzierte rechtunsichere Position des Rettungsassistenten.

137 Im Abschnitt zur „Rettung wider Willen“ (→ I.3.3) wurde bereits ein Untersuchungskonzept vorgestellt, mit dem sich notärztliche Entscheidungen soziologisch analysieren lassen. Am Ende dieser Arbeit (→ IV.4) wird der Notfall als für Außenstehende schwer einsehbare Entscheidungssituation problematisiert.

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Tabelle III.1: Rechtsunsicherheit medizinischer Rettungskräfte

Notärztin (NÄ) (n = 499)

Rettungsassistent (RA) (n = 1600)

Anzahl (%)

Anzahl (%)

Als NÄ/RA handelt man in Notfällen häufig innerhalb rechtlicher Grauzonen.

stimme zu

64,9

89,3

lehne ab

35,1

10,7

Als NÄ/RA steht man ab und zu mit einem Bein im Gefängnis.

stimme zu

57,6

76,4

lehne ab

52,4

23,6

Die Organisation Rettungsdienst ist im Einsatz auf die notärztliche Entscheidung ausgerichtet und angewiesen. Entscheidungskraft rückt hier zu einer organisatorischen Forderung an die notärztliche Profession auf. Das organisatorische Umfeld im Notfalleinsatz erwartet, dass eine gute Notärztin Entscheidungen zügig trifft. An dieser Forderung wird die Notärztin immer wieder gemessen und an ihr droht sie zu scheitern. An einem Beispiel soll dies abschließend dargestellt werden. Es ist hier gerade das Fehlen dezesionistischer Stärke, das im Interview zum Makel erhoben wird. Rettungsassistent (29 Jahre, zugleich Feuerwehrkommandant): Wenn man zum Notfall fährt und man weiß, der oder die kommt dann auch noch, dann denkt man auch wieder: „Ohje, das ist schon wieder so ein Gezeter“ und je nachdem, wenn es dann zum Beispiel noch gynäkologische Notfälle sind und man hat schon mal so Sachen erlebt mit der oder die Notärztin, wo man dann sagt: ohje, wir haben letztens schon mal sowas gehabt, wo es dann eine Stunde lang ging. Und anstatt, dass die sich jetzt entscheidet und mitnimmt; und ein Gezeter.

Der gynäkologische Notfall nimmt im Rettungsdienst eine Sonderstellung ein; die Aussicht, plötzlich Geburtshelfer zu sein, wird von einigen Rettungskräften begrüßt, andere möchten eine solche Situation aufgrund der hohen Intimität und Dramatik (und möglichen Tragik) bei weitgehender Hilfslosigkeit nicht erleben. Dies zeigt sich im Interview am wiederholt verwendeten Begriff des „Gezeters“, der unsicher attribuiert ist. Er bezieht sich nicht eindeutig auf ein sich im kommunikativen Einsatzverhalten der Notärztin zeigendes Zögern, er könnte ebenso gut das Wehklagen der Patientin adressieren; wahrscheinlich ist, dass beide Aspekte im Begriff gebunden sind. Mithin bedient der Interviewte in Form seiner Person (männlicher Rettungsassistent, zugleich Feuerwehrkommandant in einer Kleinstadt) sowie mit seiner Erzählung (Vorwurf mangelnder Entschlusskraft an eine weibliche Notärztin in einem weiblichen Notfall) sowohl ein stereotypes Berufs-

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als auch Geschlechterbild. Darum geht es mir aber an dieser Stelle nicht.138 Die Interviewstelle drückt darüber hinaus die unterschiedliche strategische Präferenz und den unterschiedlichen Autonomiegrad von Rettungsassistenten und Notärztinnen aus. Der interviewte Rettungsassistent spricht sich für ein schnelles Load and Go aus. Seine Präferenz kollidiert dabei mit der Neigung der Notärztin im Stay and Play-Modus zu bleiben. Der Notärztin wird ihre strategische Präferenz wiederum als fehlende Entschlusskraft angerechnet. Letztlich gilt dem Rettungsassistenten allein die Transportentscheidung als Entschluss. Warum? Die professionelle Problembearbeitung erfolgt maßgeblich selbstbestimmt (selbstreferenziert) und ist auf den Einzelfall ausgerichtet. Nichtärztliche Rettungskräfte arbeiten dagegen weitgehend fremdbestimmt; sie folgen entweder den Vorgaben organisationaler Programme oder sie führen die Anweisungen von Notärztinnen aus. Im Fall einer anwesenden Notärztin ist ihre Aufmerksamkeit auf den ärztlichen Entschluss hin ausgerichtet. Stockt die Entscheidungskommunikation an dieser Stelle, erleben die Assistenten sich in einer Situation als weitgehend untätig und vorgabenlos, in der von ihnen gewöhnlich schnelles und zielgerichtetes Handeln gefordert wird. Bei einem gynäkologischen Notfalleinsatz spitzt sich dies zu, da hier vor dem Hintergrund akuter Schmerzen (Wehen), aber nicht unbedingt im Rahmen eines akuten Notfalls entschieden werden muss. Die medizinische Beurteilung des Geburtsvorgangs erfordert gegebenenfalls Geduld. Die Organisation, vertreten durch die Rettungsassistenten, präferiert die schnelle notärztliche Entscheidung und zeigt wenig Neigung, vor Ort zu bleiben, langwierig abzuwägen und am Patienten ‚rumzudoktern‘. Hierbei lässt sich zwischen Rettungskräften der Feuerwehr und solchen von Hilfsorganisationen differenzieren. Erstere sind hierarchische Einsatzstrukturen stärker gewöhnt. Oft sind die Rettungsdiensteinheiten der Feuerwehr auf Feuerwehrwachen stationiert, haben vor ihrer Ausbildung zum Rettungsassistent eine Feuerwehrgrundausbildung absolviert und wechseln nicht selten wöchentlich zwischen Feuerwehr- und Rettungsdienst hin und her. Vom Selbstverständnis her sind sie Einsatzkräfte der Feuerwehr. Im Rettungseinsatz mit Notärztinnen begreifen sie sich eher als Subordinierte denn als Partner. Der Interviewte veranschaulicht dieses Verständnis durch eine Semantik eigenen Erlebens und fremden Entscheidens, die beinahe keiner weiteren Erklärung bedarf – sie deckt sich buchstäblich mit dem Luhmann’schen Begriffsapparat. Rettungsdienstkräfte der Hilfsorganisationen besitzen dagegen ein höheres Autonomiebewusstsein (= selbstreferenzierte Verhaltensgründe) und verstehen sich selbst als medizinische Fachkräfte. Der Rettungsdienst wird vermehrt von künftigen Medizinstudentinnen zur Vorbereitung auf ein späteres Medizinstudium 138 Vgl. dazu Baigent (2001), Thurnell-Read und Parker (2008), Wetterer et al. (2008).

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genutzt, so dass die Orientierung am professionellen Selbstverständnis zunimmt. Rettungsassistenten, die eher am medizinischen Wert des Einsatzes interessiert sind, stehen damit zwischen dem professionellen Problemlösungs- und dem organisationalen Entscheidungsmodus. Sie befinden sich damit in einer Position, die der der Notärztin nicht unähnlich ist. Und sowohl für diese, stärker am professionellen Modus orientierten Rettungskräfte als auch für die Profession der Notärztinnen findet sich die Distanz zur organisatorischen Rationalität thematisiert. Die ambivalente Beziehung von Profession und Organisation findet ihre Artikulation vor allem im Kontext interorganisationaler Zusammenarbeit bei Großeinsätzen. In den Abschnitten zur Figur der Leitenden Notärztin (→ 3.1), des Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (→ 3.2) und der notfall- bzw. katastrophenmedizinischen Triage (→ IV.2.2) wird sie weiter untersucht. 1.3

Die „hilflose Person“ als Grenzfall: Rettungsdienst zwischen Sozialer Arbeit und Notfallmedizin

Das Verhältnis von Funktionssystemen zu Organisation ist vielfach umstritten gewesen (Kneer 2001). Heute wird die These, Organisationen ließen sich ausschließlich einem Funktionsbereich zuordnen oder seien als Subsystem eines Funktionssystems zu denken, kaum mehr vertreten (Tacke 2001b). Funktionssysteme und Organisationen sind jeweils Systeme eigenen Typs, sie sind operativ geschlossen Systeme mit eigener Autopoiesis. Erstere können letztere demnach genauso wenig steuern, wie letztere mit ersteren kommunizieren können. Auch wenn bekannt ist, dass man „zur Krankenbehandlung ins Krankenhaus“ (Baecker 2008) gehen sollte, bleibt die Organisation Krankenhaus ein ausschließlich auf Entscheidungskommunikation basierendes und nicht am Code des medizinischen Funktionssystems operativ beteiligtes System. Gleichzeitig ist das rekursive Strukturbildung von Organisation an vielen Punkten mit derjenigen von Funktionssystemen (und Interaktionssystemen) verknüpft. In jeder Klinik finden sich neben medizinischen Entscheidungen auch solche, die mit rechtlichen, ethischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder anderen Gesichtspunkten strukturell oder operativ gekoppelt sind (Kneer 2001, S. 416). Jede Organisation agiert multireferentiell (Guggenheim 2005, S. 41f.), wobei sie verschiedene gesellschaftliche Wertlogiken zueinander in Beziehung setzt (Apelt et al. 2017, S. 10-12). Letztlich ist es genauso schwierig, Funktionssysteme ausfindig zu machen, mit denen eine Organisation nicht interferiert, wie es in vielen Fällen einfach anzugeben ist, zu welchem Funktionssystem die gleiche Organisation im Sinne einer eindeutigen Zuordnung „gehört“. Dass das Krankenhaus als eine medizinische Organisation gilt, bedeutet jedoch nicht,

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dass es eine Unterabteilung des medizinischen Systems ist.139 Vielmehr verweist seine gewöhnliche Einordnung als eine medizinische Einrichtung darauf, dass funktionale Differenzierung nicht nur eine gesellschaftswissenschaftliche Heuristik, sondern zugleich ein allgemeines Raster ist, mit dem die Gesellschaft Organisationen bestimmten Bereichen zuordnet (Tacke 2001a). Nicht nur die Soziologie beobachtet die Gesellschaft mithilfe des Schemas funktionaler Differenzierung, auch die Gesellschaft verwendet dieses Ordnungsmuster. Auch der Rettungsdienst wird als eine in erster Linie medizinische Organisation begriffen. Sowohl in der Selbstbeschreibung der Organisation als auch in ihrer gesellschaftlichen Einordnung gilt die Organisation als eine, die primär der Krankenbehandlung verpflichtet ist. Brüchig wird die Primärzuordnung etwa dann, wenn, wie in den letzten Jahren geschehen, „private“ Rettungsdienstanbieter auf einen seit jeher umkämpften Markt drängen, den bis dahin Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter Unfall Hilfe, der Malteser Hilfedienst oder der Arbeiter-Samariter-Bund oder aber städtische Berufsfeuerwehren bedienten. Nun fallen die wirtschaftlichen Organisationzwecke ins Auge und die tradierte Primärzuordnung des Rettungsdienstes erscheint problematisch – allerdings vorerst nur auf Seiten der „privaten“ Dienstleister. Sie sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, Notfälle zuvorderst über ihre ökonomische Dividende zu begreifen und notfallmedizinische Programme sparsam auszulegen.140 Dass auch Hilfsorganisationen gewinnorientiert (jedenfalls nicht: verlustindifferent) arbeiten, ahnt man allerdings nicht erst seit Wolf Haas Roman „Komm, süßer Tod“ (1998), in dem zwei konkurrierende Hilfsorganisationen nichts unversucht lassen, um über ihre Notfalleinsätze eine möglichst hohe Rendite zu erzielen. Solche Fälle sind keine reine literarische Fiktion, sondern auch in der deutschen Geschichte, wenn auch nicht dergestalt böse und durchtrieben wie im Kriminalroman, belegt (Kessel 2008, S. 44f. u. 113f.). Jeder Notfallpatient ist ein medizinischer Fall und zugleich ein 139 Auch die Formulierung, in der Organisation Krankenhaus dominiere eine Leitunterscheidung (die anderen), wie Martens (2000, S. 304) die Beziehung von Organisation und Gesellschaft verstanden wissen will, scheint mir den Blick auf die Multireferentialität von Organisationen und die spannende Frage, wie diese mit dieser umgehen, noch zu verstellen. Schimank (2000) begrüßt Martens Vorschlag. 140 Nicht nur bei privaten Rettungsdienstorganisationen konfligiert die Fremd- und Selbsteinordnung. Der Fall Scientology zeigt sehr deutlich, dass organisationale Selbst- und Fremdzuordnungen nicht deckungsgleich sein müssen, wenn, wie hier, eine Organisation sich im religiösen System verortet, von außen aber überwiegend als primär an wirtschaftlichen Gesichtspunkten interessierte Organisation begriffen wird (Tacke 2001a, S. 153–158). Natürlich gibt es auch zahlreiche Organisation, die sich offiziell verschiedenen Logiken verpflichtet sehen. Zu denken ist etwa an Universitätskliniken, die sowohl an Wissenschaft, Krankenbehandlung und Erziehung interessiert sind. Andere Beispiele sind die ehemals öffentlichen Unternehmen Post und Telekom oder, noch heute, die Deutsche Bahn, die sowohl als politische und als wirtschaftliche Organisation gesehen wurden oder werden (Bode und Brose 2001).

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„Geschäft“. Das sieht auch ein interviewter Notarzt so, der dafür plädiert, Hilfsorganisationen sollten mit ihren ökonomischen Interessen selbstbewusster umgehen: ÄLRD (m, 60, Agroßstadt): Rettung ist ja heute auch ein Geschäft. Wir müssen uns mal von den philanthropischen Grundsätzen verabschieden, von der hehren Rettung – sondern hier geht es um richtig Geld und wenn ich 50 Leute beschäftige muss ich auch 50 Leute ordentlich bezahlen können. Diesen Anspruch des DRK, Malteser oder JUH: „Wir sind jetzt die Retter!“, das kann man sich ja abschminken, das sind alles knallhart durchkalkulierte Organisationen, wo am Schluss Geld rauskommen muss. Ich kenne keine, die Geld verliert. Und wenn sie Geld verliert, dann stellt sie bestimmte Sachen ganz schnell ein und sagt: „So, Schluss, Aus, jetzt hier nicht mehr weiter!“

Um die Konkurrenzsituation zwischen Rettungsdiensten zu entschärfen und einen auf der Straße ausgetragenen ökonomischen Wettkampf um die rascheste Ankunft beim Notfallpatienten zu vermeiden, wird heute darauf geachtet, Gebietszuständigkeiten auf einige Anbieter zu begrenzen. Hinzu kommt, dass die Zuteilung von Rettungseinsätzen heute über Leitstellen erfolgt; selten fragt diese über Funk im Bezirk herum, wer einen Einsatz übernehmen kann (verlagert die Selektion also von sich auf die im Dienst befindlichen Einheiten). Gewinnmaximierungschancen sind dadurch erheblich eingeschränkt worden, andererseits ist der durchschnittliche Umsatz, der die Bewirtschaftung eines Rettungsdienstbezirks einbringt, abschätzbar geworden. Leitstellen erfüllen damit auch die Funktion, Konkurrenzverhältnisse unter Kontrolle zu halten. Durch diese Aufgabe fallen ihnen nicht nur Sympathien zu. Sie stehen ab und an unter Verdacht, konkurrierende Parteien zu bevorzugen. Einige Leitstellen setzen deswegen vermehrt auf Transparenz und geben neben Rettungsdiensten auch aufnehmenden Kliniken, die zueinander in einer ähnlichen Konkurrenz um die Zuweisung von Notfallpatienten stehen (allerdings ist nicht jeder Notfallpatient für eine Klinik wirtschaftlich gleich attraktiv), Einblick in ihre Dispositionsentscheidungen. Gerade in Großstädten tritt die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den verschiedenen Rettungsdienstleistern heute bei Neuausschreibungen oder bei der Reformierung von Rettungsdienstbezirken deutlich zu Tage. Doch trotz Profitinteressen und diverser Skandale kann konstatiert werden, dass es denen im Rettungsdienst tätigen Hilfsorganisationen glückt, öffentlich als selbstlose, rein an der Patientengesundheit interessierte Organisationen aufzutreten und ein positives Image zu besitzen. Die Beschimpfung des DRK als „Konzern der Menschlichkeit“ ist jedenfalls nicht im öffentlichen Bewusstsein hängen geblieben (Kessel 2008, S. 113).141 141 Einem ähnlichen Vorwurf geht Monika Krause (2014) nach. Sie zeichnet nach, wie humanitäre Einsätze international agierender Hilfsorganisation nicht zwingend denjenigen gelten, die es am nötigsten haben, sondern es immer auch Ziel ist, ein Hilfsprojekt mit großer öffentlicher Strahlkraft zu platzieren.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

Nicht nur dem gesellschaftlichen Verständnis, auch ihrem Selbstbild nach sind Rettungsdienste in erster Linie medizinische Organisationen. Mithin wird das Selbstverständnis so weit zugespitzt, dass die Organisation sich als ausschließlich für notfall-medizinische Fälle zuständig versteht; für alle anderen Kranken nicht. Der Rettungsdienst, so wird betont, fährt eben einen Rettungstransportwagen (RTW), nicht einen Krankentransportwagen (KTW). Viele Patienten seien im Grunde Fälle für den Hausarzt, nicht für den Rettungsdienst. Der Anteil echter Notfälle sei extrem niedrig. Oft wird bemängelt, der Rettungsdienst werde von vielen Patienten unnötig angefordert, teils missbraucht und als bloßes Taxi benutzt (Metz 1981, S. 117f.; Mannon 1992, S. 132 u. 143f.).142 Rechtlichen Rückhalt findet das organisationale Selbstverständnis in Klauseln, die dem Notrufenden bei Falschalarmierung drohen, die Einsatzkosten selbst tragen zu müssen. Andererseits lassen sich viele Einsätze, die dem Verständnis der Rettungsdienstmitarbeiter nach keine Notfälle sind, schon deswegen nicht verhindern, weil a) Leitstellen aufgrund der fatalen Konsequenzen von falsch-negativ-Entscheidungen eher dazu optieren müssen, Notfälle zu unterstellen und ein Hilfeersuchen anzunehmen und b) für den Notrufenden ein echter Notfall etwas Anderes ist als für die Beschäftigten des Rettungsdienstes (→ II.1.1). Beides erklärt, warum es zur Realität des Rettungsdienstes gehört, notorisch auf Fälle zu treffen, die diesen unterfordern und für die er sich tendenziell als unzuständig begreift. Die skizzierte Problematik geht auf die Schwierigkeit zurück, medizinische Notfälle aus einer Vielzahl trivialer Krankheitsfälle schnell und übereinstimmend herauszufiltern. Die Sortierarbeit operiert hier mit einer medizinischen Unterscheidung (Hausarztpatient/Notfallpatient), an die auch das Selbstverständnis des Rettungsdienstes ankoppelt. Auf einen anderen Problemkontext verweist dagegen das Einsatzstichwort „hilflose Person“. Es deutet über den medizinischen Bereich hinaus. Die „hilflose Person“ ist ein urbanes Phänomen. In Großstädten wie Berlin läuft beinahe jeder zweite Rettungsdiensteinsatz unter dem von der Leitstelle vergebenen Einsatzstichwort „hilflose Person“ (→ Tabelle II.1, S. 78). Anders als andere Einsatzstichwörter enthält es keine Information, um was für einen medizinischen Typ von Notfall es sich vorraussichtlich handelt. Der Notfall ist medizinisch unterspezifiziert, dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass er keine 142 Das organisatorische Selbstverständnis umzäunt demnach einen eigens definierten Zuständigkeitsbereich und kann entsprechend als „boundary-work“ begriffen werden (Gieryn 1983; Lamont und Molnár 2002). Bergmann (1993, S. 323) hat eine ähnliche Selbstumgrenzung für die Feuerwehr herausgearbeitet: „Die Rede von der Fiktion der ‚Feuer‘-Wehr besagt ja, daß die Feuerwehr in der Hauptsache zwar faktisch mit Nicht-Brandfällen zu tun hat, ‚eigentlich‘ jedoch und ihrem Anspruch nach nur zum Feuerlöschen da ist.“ 80 % aller Feuerwehreinsätze gelten nicht einem Brand (ebd.).

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notfallmedizinische Relevanz besitzt. Das Problem medizinischer Unterbestimmtheit resultiert aus dem Umstand, dass als „hilflose Person“ in der Regel solche bezeichnet werden, die dem Notrufenden selbst nicht bekannt sind. Die Figur des „Hilo“ (Hilflosen) findet sich daher vor allem in städtischen Gebieten, an öffentlichen Orten bzw. dort, wo Fremde einander wahrnehmen ohne in Kontakt miteinander zu treten. Passanten fällt eine ihnen unbekannte Person auf, von deren Verhalten oder Erscheinungsbild aus sie schließen, dass sie Hilfe benötigt. Häufig handelt es sich um stark alkoholisierte oder anderweitig unter Drogeneinfluss stehende, um verwirrte, um schlafende oder anderweitig auffällige, von Konventionen oder dem Aussehen oder dem Verhalten betreffenden Normalitätsvorstellungen abweichenden Personen. Hilflosigkeit liegt in vielen dieser Fälle nicht ein persönlich artikulierter Wunsch des Betroffenen nach Hilfe zu Grunde. Vielmehr wird eine fehlende Bedürfnisbefriedigung von einem Beobachter unterstellt. Oft ist es ein attribuierter Mangel an kompetenter Selbstführung, der zum Hilferuf motiviert. Gleichzeitig bleibt die besorgte Person aber auf Distanz zum Betroffenen, sei es aus Angst, aus Ekel oder aber, weil die vermeintlich hilfsbedürftige Person scheinbar nicht in der Lage ist, zu kommunizieren. Hilferufer und hilfsbedürftige Person sind und bleiben sich in der Regel unbekannt. Selten kommt es dazu, dass ein Notruf, der einer dem Anrufendem persönlich bekannten Person gilt, zur Vergabe des Einsatzstichworts „hilflose Person“ führt. Normalerweise lässt sich der Einsatzanlass in diesen Fällen medizinisch näher bestimmen: als verletzte Person, heftiger Brustschmerz, akute Atemnot, plötzliche Bewusstlosigkeit, Intoxikation oder zumindest als Unfall. Die Tatsache, dass fast die Hälfte der Einsätze in Berlin Personen gilt, die in und von der Öffentlichkeit als „hilflos“ eingeschätzt werden (→ Tabelle II.1, S. 78), verweist auf das große Feld „sozialer Problemfälle“, mit denen der Rettungsdienst täglich konfrontiert ist. Der Rettungsdienst muss hier zu einem ganz erheblichen Anteil nicht notfallmedizinische Leistungen erbringen. Die Bandbreite an geforderten Tätigkeiten ist groß. Sie reicht, wie ich im Rahmen meiner Rettungsdienstbegleitungen beobachten konnte, von medizinisch-präventiven über karitative bis hin zu sozialarbeiterischen Tätigkeiten: unter starken Alkohol- oder Drogeneinfluss stehende Personen werden überzeugt, in ein Krankenhaus verbracht zu werden; dem häufig unausgesprochen bleibenden Wunsch von Obdachlosen wird entsprochen und sie werden in ein Krankenhaus überstellt; andere „Hilfslose“ wiederum werden geweckt und gebeten, einen Ort aufzusuchen, an dem sie weniger

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

Aufsehen erregen und nicht stören; verwirrte, aus Alten- oder Pflegeheimen ausgerissene Bewohner werden, nachdem ihr Unterbringungsort mühevoll rekonstruiert143 werden konnte, wieder dorthin zurückgebracht. Von der Möglichkeit, die Polizei oder eine Notärztin herbeizuziehen, wird in diesen Fällen selten Gebrauch gemacht. Das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal versichert sich der notfallmedizinischen Irrelevanz des Falles und greift auf eigens entwickelte Lösungsstrategien zurück. In der Regel wird versucht, den Einsatz entweder in die vorhandenen Strukturen hineinzupressen, d. h. die Person wird zur Kontrolle in eine Notaufnahme überstellt und verbleibt im Krankenhaus144; oder der Rettungsdienst entscheidet auf nichtmedizinische Hilfe, bringt verwirrte Heimbewohner zurück oder sucht für ein Problem vor Ort nach anderen Lösungen. Insgesamt ist im Rettungsdienst eine hohe Diskrepanz zwischen Ausbildungsinhalten und täglicher Praxis feststellen. Der Leiter einer Rettungsschule brachte diesen Umstand in einem Gespräch auf den Satz: „Nur für fünf Prozent der Fälle sind wir eigentlich ausgebildet worden, der Rest ist gut reden und ins Krankenhaus bringen.“ Angesichts der hohen Anzahl sozialer Problemfälle in der täglichen Arbeit des Rettungsdienstes hat der US-amerikanische Soziologie James M. Mannon im Paramedic früh das medizinische Pendant zum Sozialarbeiter gesehen. Während der Sozialarbeiter sich verantwortlich zeichne „for ‚patching up‘ socially and psychologically those who have been brutalized by the socioeconomic system, especially the poor“, versorge der Paramedic diese mit dem medizinisch Notwendigstem. When the EMT and paramedic bring medical attention to the so-called crock, administer to abused and neglected children, and make house calls on the elderly and urban poor, they are patching up the failures of modern health-care systems

143 Ein erster Blick des Rettungsdienstpersonals gilt in diesen Fällen dem Hemd des Betroffenen, in dem die Heimadresse häufig eingenäht wird. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich bei der Leitstelle nach aktuellen Vermisstenanzeigen zu erkundigen. 144 Die Notaufnahmen reagieren auf die Problemverschiebung, gerade wenn es sich um bekannte hilflose Personen handelt, häufig verärgert. In einem Fall versuchte die angesteuerte Notaufnahme die Patientenaufnahme zu verweigern, worauf es zum Konflikt zwischen RTW-Besatzung und dem Personal der Notaufnahme kam. Die kontaktierte Leitstelle erinnerte die Notaufnahme schließlich an ihre Pflicht, den Patienten des RTW übernehmen zu müssen. Vielfach wurde mir vom Rettungsdienstpersonal erzählt, dass obdachlose Personen den Rettungsdienst dazu nutzen, um in Krankenhäuser eingewiesen zu werden. Dort könnten sie dann nächtigen, Essen bekommen, duschen etc. In den Erzählungen wurde auch geschildert, dass Obdachlose Bewusstlosigkeit simulierten und selbst auf äußerst schmerzhafte Reize (z. B. gegen das Brustbein) nicht reagieren. Schmerzreize werden in der Notfallmedizin gesetzt, um die Tiefe einer Bewusstlosigkeit bestimmen zu können. Ist oder war eine Person bewusstlos, ist dies ein zwingender Grund, sie zur weiteren Beobachtung ins Krankenhaus zu überstellen. Zum Thema Schmerz und Bewusstseinsbestimmung vgl. die exzellenten Beobachtungen und Analysen Lindemanns (2002) auf Intensivstationen.

1 Rettungsdienst: Notfallmedizin und ihre Grenzen

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and, I suppose, in an even larger sense they daily witness the failures of modern society (Mannon 1992, S. 144f.).

Nach Mannon teilen sich Sozialarbeiter und Paramedics die Versorgung von Problemfällen entsprechend ihrer Leistungsrollen, die einen kümmern sich um die Armen und Hilflosen, die anderen um die ohne Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Diese These lässt sich jedoch noch verschärfen, formuliert man sie gerade nicht entlang funktionssystemischer Zuständigkeiten (Soziale Hilfe, Krankenbehandlung). Die Arbeit des Rettungsdienstes ist nicht derart eng auf einen funktional ausdifferenzierten Bereich begrenzt, wie Mannon es darlegt. Die eben genannten Rettungseinsätze lassen erkennen, dass im Rettungsdienst nicht ausschließlich medizinisch gearbeitet wird, sondern auch Handlungen anschließen, die am Code helfen/nicht-helfen orientiert sind (Baecker 1994). Rettungskräfte treten so gesehen nicht nur wie Sozialarbeiter auf, sie handeln als Sozialarbeiter und helfen bei Problemen der Lebensführung, wenn auch nur selektiv und punktuell145. Rettungsdienstkräfte lehnen sozialarbeiterische Hilfeleistung zwar rhetorisch kategorisch und entsprechend ihrem Selbstverständnis als medizinische Retter ab, zeigen sich aber in der Praxis durchaus gewillt, entsprechend zu handeln. Für die Gesellschaft ist die Organisation Rettungsdienst deshalb nicht nur von Bedeutung, weil sie ein löchriges Gesundheitssystem behelfsmäßig stopft, also Erfüllungsgehilfe für den Selbstanspruch der modernen Gesellschaft auf Inklusion aller Kranken in das System der Krankenbehandlung ist. Vielmehr knüpft ein erheblicher Teil der Kommunikation und Handlungen im Rettungsdienst an nichttherapeutische Bedürfnisse an und befriedigt diese. Die Gesellschaft selbst ist für diese Doppelleistung des Rettungsdienstes weitgehend blind, obgleich sie häufig vor ihren Augen, in aller Öffentlichkeit, zu sehen ist. In seiner Selbstbeschreibung nimmt der Rettungsdienst ebenfalls Abstand von ihr. Offen benannt werden die Hilfsbemühungen vor allem seitens der Feuerwehr, die den Rettungsdienst zwar durchaus als Organisation mit ähnlichen Anforderungen begreift, ihre Hilfe-Praxis aber belächelt. Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Der Rettungsdienst ist da ein Stückweit ähnlich, aber da steht dieses Helfen-Wollen glaub ich noch mehr im, im, da ist, also, das ist ein bisschen blöd, dass ich Ihnen das hier jetzt so sagen muss: da ist ein anderer sozialer Touch, ja, wir sagen immer so aus Spaß so: „Oh, die wollen helfe helfen“ Interviewer: Helfe helfen?

145 Punktuell, aber durchaus wiederkehrend. Häufig kennen Rettungsdienstkräfte „ihre Pappenheimer“ – obdachlose oder drogenabhängige Personen in ihrem Bezirk. Bereits nach Lesen einer Einsatzmeldung stellen sie Vermutungen an, um welche Person es sich diesmal handeln könnte.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter FW: Helfen helfen, ja, genau, und das das ist dann auch, jetzt grade, wenn man dann so aufs Ehrenamt schielt, da ist das noch extremer. Jemand der zur Freiwilligen Feuerwehr geht, wie ich jetzt zum Beispiel, ich könnte mir nie vorstellen… Auch wenn die nebendran zur Rotkreuzbereitschaft gehen, ja, das ist ein anderer Ansatz, die üben immer nur, da passiert nie was, ja, und wie gesagt, da wird halt jeder, jedem wird da geholfen.

Der interviewte Feuerwehrmann bestimmt den Rettungsdienst weniger als rettende denn als helfende Organisation und führt dies auf die Motivation der Mitarbeiter zurück. Rettungsdienstmitarbeitern wird unterstellt Personen unabhängig von ihrem Bedürfnis her helfen zu wollen. Gleichzeitig wird nahegelegt, dass dies nicht in allen Fällen nötig und dass die Feuerwehr anders ausgerichtet sei. Der in Feuerwehrkreisen gebräuchliche Topos „die wollen helfen helfen“ bringt dies spöttisch auf den Punkt. DieWortdopplung markiert zudem das Übergreifen des Rettungsdienstes in einen als fremd verstandenen Aufgabenbereich nachzeichnen. Wenn Rettungsdienstmitarbeiter beim Helfen helfen wollen, so unterstützen sie beim Helfen, also einer sozialarbeiterischen Tätigkeit. Auch außerhalb Deutschlands ist die scharfe Abgrenzung der Feuerwehr gegenüber dem Rettungsdienst Organisationssoziologinnen aufgefallen. Scott und Tracy sehen den Grund vor allem im Selbstbild von Feuerwehrkräften als Helden angelegt. Die gesellschaftliche Verehrung als Held, so ihr Argument, ist nur dann etablierbar und aufrecht zu erhalten, wenn die Rettungstätigkeit solchen Personen gilt, die unverschuldet, ungewollt, jedenfalls: unverdient in Gefahr geraten sind. Hilflose Personen werden dagegen als Betroffene betrachtet, die an ihrer Situation mitschuldig sind und diese irgendwie verdienen (Scott und Tracy 2007, S. 62). Heroismus ist schwerlich dort herzustellen, wo Hilfe es mit sozial unappetitlichen Klienten zu tun bekommt. Sozialarbeiterischen und karitativen Tätigkeiten fehlen denn auch die klassischen Qualitäten heroischer Handlungen. Sie sind nicht durch körperliche Bewährung und emotionale Härte ausgezeichnet, sondern durch eine höfliche, beinahe unterwürfig wirkende Haltung gegenüber dem (schwächeren) Klienten geprägt (ebd., S. 61). Die durchaus überzeugende Analyse von Scott und Tracy werde ich nach einem Exkurs im nächsten Kapitel (→ 2) um einen zentralen Blickwinkel erweitern. Ausgangspunkt für die Erklärung der emotionalen Kälte der Feuerwehr ist danach nicht ihr Streben nach heroischer Anerkennung. Als einen neuen Gesichtspunkt, der auch die betonte Differenz zur rettungsdienstlichen Tätigkeit miterklären hilft, werde ich die technische Rationalität der Organisation in den Fokus rücken. Als Übergang von der einen zur anderen Position dient mir Mark Tebeaus Topos vom modernen Feuerwehrmann als rationaler Held.

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1.4

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Exkurs: Der gute Tod: Sterben lassen trotz Überlebenschance? We need to look at what it means to die a medicalized sudden death. Timmermans 1999, S. 30

Die Schwierigkeit, etwas als Notfall zu bestimmen, wurde in dieser Arbeit mehrfach diskutiert. Dabei ging es in erster Linie um den Prozess, eine Situation als Notfall zu etablieren. In diesem Abschnitt interessiert nun weniger der Beginn einer Notfallsituation, sondern das Problem eine als Notfall etablierte Situation aus diesem Stand zu entlassen. Es geht um die Beendigung des Notfalls durch einen bewussten Abbruch notfallmedizinischer Rettungsbemühungen. Es geht damit im Kern um die schwierige Frage, wann der drohende Tod keine Gefahr mehr ist. Interviewerin: Und wie haben Sie sich denn durch ihren Beruf verändert? Rettungsassistent: […] Sagen wir mal so: ich habe mich persönlich dahingehend verändert, dass ich nicht mehr der Überzeugung bin, dass ich auf Biegen und Brechen eine Sache rette, biologisch am Leben erhalte, die am Leben überhaupt nicht mehr teilnehmen wird. Ich sage es mal so: wenn jemand so massive Schädelverletzungen hat, die menschliches Leben nicht mehr möglich machen, dann überlege ich mir sicherlich, ob ich jetzt das Herz zum Schlagen bringen soll oder nicht. Oder ob ich nicht viel, viel mehr kaputt mache. Aber die Entscheidung ist mir rechtlich nicht gegeben, die habe ich eigentlich gar nicht. Und trotz alledem: moralisch habe ich sie halt trotzdem zu treffen, für mich, aber ich muss es halt auch mit mir vereinbaren, und notfalls vor dem Gericht oder was-weiß-ich-wo, ’ne? Als man ganz, ganz jung war und sich da drauf gestürzt hat, weiß Gott wie, und wenn ich noch aus der Zeit Patienten sehe, was aus denen geworden ist, dann habe ich schon meine Gewissensbisse, was ich da gemacht habe, oder angestellt habe. Wo ich heute einfach anders drüber denke. Wissen Sie, ich meine, ein Einzeller lebt auch. Und die Frage ist, was unterscheidet den Menschen vom Einzeller oder was unterscheidet mich von einem Schaf. Ich brauche für jede körperliche Tätigkeit die geistige Voraussetzung, denn dem Schaf kann ich nicht sagen, mähe den Rasen. Das kann es einfach nicht, weil es die geistige Voraussetzung dazu nicht hat. Und dann ist halt die Frage, was den Menschen ausmacht. Wenn das Ergebnis [des Rettungseinsatzes] unter der Stufe vom Schaf liegt, dann frage ich mich, wer gibt mir das Recht so zu gestalten. Leider fragt die Gesellschaft, wer gibt ihnen das Recht, es nicht so zu gestalten, die Frage stellt sich eigentlich gar nicht. Aber moralisch stellt sie sich jedem. Für uns ist der Einsatz abgeschlossen, für die Familie oder das was hinterherkommt, da ist es ein Leben lang, ’ne? Wenn Sie jemanden 20 Jahre im Wachkoma gepflegt haben, ich glaube, dann sind Sie auch am Ende. Das darf man nicht laut sagen, das ist einfach so, aber lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Das ist tatsächlich so. Sie zerstören ganze Familien. Aber wie gesagt, das ist ganz persönlich meine Meinung, die ich auch nicht öffentlich kundtun werde, aber das hier ist ja anonymisiert.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

Verschiedene Argumente greifen hier ineinander, die bereits in den 1980ern in identischer Form von amerikanischen Paramedics vorgebracht wurden (Metz 1981, S. 126-128 u. 192; Mannon 1992, S. 142f.). Im Einzelnen werde ich die Sinnzusammenhänge und Begründungskontexte hier nicht rekonstruieren. Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist die Einschätzung des interviewten Rettungsassistenten, es gäbe Schlimmeres als den Tod bzw. das Ziel müsse ein gutes Überleben oder ein guter Tod sein. Dahinter steht die Erfahrung, dass in manchen Notfällen Rettungsbemühungen mehr Schaden anrichten können als wenn Rettungskräfte sich zurückhalten und in den traurigen Lauf der Dinge nicht intervenieren würden. Das mag auch für materielle Güter und Feuerwehreinsätze gelten – besser etwas ganz und nicht nur halb niederbrennen zu lassen –, die moralische Problematik ist aber kaum vergleichbar. Der Rettungsdienst ist im Rahmen von Reanimationsbemühungen mit der Frage konfrontiert, wann diese abzubrechen sind (Nurok 2014b). Rechtlich betrachtet liegen Entscheidung und Verantwortung in Deutschland allein in ärztlichen Händen. Rettungsassistenten dürfen nicht entscheiden, ob sie Wiederbelebungsmaßnahmen unterlassen oder abbrechen, sie sind verpflichtet mit ihnen zu beginnen und sie so lange durchzuführen bis eine Ärztin anderes anweist. Diesem automatischen Handlungszwang steht das Wissen und Gewissen des nichtärztlichen Rettungsdienstpersonals darüber entgegen, dass die Chance, eine solche Therapie ohne schwerwiegende neurologische Folgeschäden zu überstehen, gering ist und besonders bei älteren Patienten erheblich niedriger ist. Die Entscheidung zur oder gegen die Reanimation verhandelt demnach dreierlei: ihre medizinische Korrektheit, die formale und rechtliche Verpflichtung und den moralischen Anspruch, eine gute Entscheidung treffen zu wollen. Die starke Zunahme komatöser Patienten ist u. a. dem rettungstechnischen und notfallmedizinischen Fortschritt geschuldet (Timmermans 1999, S. 79–84). Sie steht im Verbund mit dem Aufstieg des Krankenhauses nicht nur zum Ort des Heilens, sondern auch des Sterbens. 46,2 % der 2015 in Deutschland gestorbenen, starben in einer Klinik.146 Weiterhin hat die Zunahme – vor allem angetrieben durch die Frage, ab welchen Zeitpunkt Organentnahmen rechtens sind (Lindemann 2002, S. 119–136) – zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Fragen geführt, welche biologischen Kriterien ein Körper erfüllen muss, um als tot gelten zu dürfen, welche Stufen des Sterbens es auf den Weg zum Tod gebe, auf welchen Stufen der Sterbeprozess noch (durch äußeren Eingriff) umkehrbar oder zumindest aufhaltbar sei und welche rechtlichen Konsequenzen damit jeweils zusammenhängen. Eng damit verknüpft, ist die Unterteilung des Komas in verschiedene, dann

146 Eigene Berechnung auf Basis frei zugänglicher Zahlen.

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auch irreversible Schweregrade. Agamben (2002a, S. 169–174) hat vor dem Hintergrund dieser Diskussionen den Begriff der „Politisierung des Todes“ geprägt und meint damit den Umstand, dass der Tod und der Grenzbereich zwischen Tod und Leben zum Gegenstand breiter gesellschaftlicher Diskussion geworden sind. Die typische, erst zur Entscheidung nötigende Unentscheidbarkeit eines Sachverhalts und die mit dieser Unentscheidbarkeit einhergehende politische Qualität von Entscheidungsprozessen zeigen sich an der Frage, wo die Grenze zwischen Tod und Leben verläuft, in geradezu paradigmatischer Form (Pritzlaff 2006, S. 46–50). Einen Teil der praktischen Konsequenzen dieser Politisierung tragen und übernehmen nichtärztliche Rettungskräfte. Nicht nur in Deutschland sehen sich Rettungskräfte aus moralischen Gründen dazu aufgefordert und ermächtigen sich, über diese Grenze mitzubestimmen. Man könne, so die interviewte Person, in solchen Situationen nicht gedankenlos den Vorgaben folgen, sondern müsse (selbst) entscheiden. Der Interviewte spricht hier von „gestalten“. Ein von Mannon interviewter Paramedic konstatierte schon 1992 (S. 143): „it’s a hell of a decision to have to make, I’ll tell you. Someone has to make it, and we’re stuck with it“. Ein damit zusammenhängendes Thema stellen Patientenverfügungen dar. Dazu nur zwei Anmerkungen. Seit mehreren Jahren werden die Rechte von Patienten gestärkt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich gegen unerwünschte, das Leben möglicherweise verlängernde Behandlungsmaßnahmen auszusprechen. Entsprechende Vorkehrungen können Patienten im Rahmen von Patientenverfügungen treffen. Theoretisch ließe sich so der Wille eines Patienten in einer Notsituation auch dann erfahren, wenn dieser nicht mehr in der Lage ist, ihn gesprochenen Wortes mitzuteilen. Der Patient kann sich schriftlich für den Fall eines Herz-Kreislauf-Stillstandes gegen seine rettungsmedizinische Wiederbelebung wenden und einen künftigen Notfalleinsatz damit vorzeitig abbrechen lassen. Diesem Kalkül steht jedoch die Logik des Notfalls, seine Dringlichkeit, entgegen. Bestehen Zweifel am Geltungsumfang oder der Authentizität einer Patientenverfügung ist die Rettungskraft von ihrer rechtlichen Befolgungspflicht befreit (Nüßen 2012). Dies gilt erst Recht, wenn die Patientenverfügung nicht schriftlich vorgelegt wird, sondern Angehörige den Willen des Patienten mündlich mitteilen (Kletecka-Pulker 2014, S. 8). 2

Feuerwehr: Technische Rationalität par excellence

Die Feuerwehr gilt Vielen seit jeher als Inbegriff gelebten Heldentums. Auch heute noch stellen Sozialwissenschaftler in regelmäßigen Abständen fest, dass der

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Feuerwehrmann Ruf und Status eines Helden genießt – allen Thesen des Übergangs in eine postheroische Gesellschaft zum Trotze (Lois 1999; Baigent 2001; Scott und Tracy 2007). Begreift man die letztkonsequentliche Opferbereitschaft des Helden im Dienst für die gute Sache als sein zentrales147 Merkmal (Cooper 1995, S. 161; Münkler 2007), dann erklärt sich der manifeste Kult um die Feuerwehr nicht zuletzt aus dem Tod von 343 Brandbekämpfern, die in Folge der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center im Einsatz starben. Nach den Ereignissen vom 11. September 2001, so folgern Scott und Tracy (2007, S. 56), sei es schwierig geworden, „to imagine an occupation endowed with more public trust and esteem than firefighting. During uncertain times, the heroism, strength and manliness attributed to this work by popular culture seem to be a source of comfort for many“. Nicht nur die Feuerwehr gewinnt aus ihrer Heroisierung Anerkennung und Autorität, auch für die Gesellschaft ist sie funktional. Mit der Stilisierung der Feuerwehr zur letzten „Ikone der Sicherheit“ beschwört die Gesellschaft einen Retter, auf den noch in größter Not Verlass ist (Cooper 1995, S. 161). Auch Mark Tebeau würdigt in seiner kulturhistorischen Studie (2003) zur Genese und Entwicklung der städtischen Feuerwehr ihr Heldentum. Danach sei der Feuerwehrmann gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur urbanen Ikone aufgestiegen. Er gilt nun als diejenige Instanz, die sich den Gefahren einer emporwachsenden städtischen Architektur entgegenstellt, im Brandfall in ihr verrauchtes Inneres eindringt, Wände niederreißt, Türen einschlägt und Feuer noch in den höchsten Etagen bekämpft: Unter Einsatz seines Lebens rettet der Feuerwehrmann den Stadtmenschen und sein Hab und Gut aus größter Gefahr. Doch der Feuerwehrmann gilt nicht nur als mutiger Retter, so Tebeau. Sein Engagement bringt auch viele Missstände und Fehler ans Licht, die seinen Rettungseinsatz erst erforderlich machten. „Repeated failures of public officials, insurers, engineers, and capitalists to protect urban America from fire fostered disorder in cities and provided the space in which firefighters established heroic credentials“ (Tebeau 2003, S. 203). Inmitten neuer industrieller Gefahren, schlampiger Planungen und gebrochener Sicherheitsversprechen wird die Feuerwehr zum neuen Korrektiv, die bereits vor und noch nach ihrem Einsatz für die Sicherheit aller und jedes Einzelnen kämpft.

147 Als ein zweites Merkmal der Heldin wird häufig genannt, dass sie zeitweise außerhalb des Gesetzes steht. Auf Feuerwehren trifft dies kaum zu, nicht zuletzt sind ihre hauptberuflichen Mitglieder Beamte. Cooper merkt an, dass es im 19. Jahrhundert zur Demokratisierung von Heroismus komme und nun auch gewöhnliche Personen Heldinnen werden konnten. „Heroes were not just exceptional people, they could also be the product of exceptional circumstances“ (1995, S. 161). Andererseits nimmt die Feuerwehr im Rahmen ihrer Einsätze Ausnahmeregelungen in Anspruch und übertritt – wie auch die Mitarbeiter im Rettungsdienst (Metz 1981, S. 65) – normalerweise geltende Konventionen.

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Systematisch deckt sie Sicherheitslücken auf und schließt sie mittels immer neuer Brandschutzvorschriften. Tebeau skizziert ebenfalls, wie sich das Heldenbild im 20. Jahrhundert verändert und der Feuerwehrmann vom mutigen und furchtlosen Retter zum „rational hero“ wird. Anders als die Mehrheit sozialwissenschaftlicher Feuerwehrstudien arbeitet Tebeau eine Reakzentuierung und Ergänzung des Heldenbildes heraus. Im 20. Jahrhundert wird es um einen neuen Charakterzug ergänzt: die Feuerwehr überzeugt nun auch durch Rationalität, Effizienz und Nüchternheit (Tebeau 2003, S. 285–341). In Feuerwehrakademien, durch kontinuierliches Training und regelmäßige Übungen, durch die Entwicklung von Normen, Manuals, „Best Practices“ und Einsatzprotokollen, mittels Einführung verwaltungstechnischer Verfahren der Personalführung, von Personalakten und von Auswahlverfahren und unter dem Eindruck neuer Technologien und Rettungstechniken wird der Held standardisiert. Der Rationalismus der Organisation greift auf den Helden über und vereinnahmt ihn. „In a culture obsessed with technology, firefighters transformed themselves, at least rhetorically, into an efficient machine” (ebd., S. 286). Rationale Maschine und Heroismus lösen sich dabei nicht ohne weiteres ineinander auf. Tebeau ist sich dieses inhärenten Widerspruchs in dem von ihm gewählten Begriff des „rational hero“ durchaus bewusst. Auf der einen Seite sieht sich die Feuerwehr nun regelmäßig dem Vorwurf ausgesetzt, ihre heldenhaften Charakterzüge würden sie nur allzu oft zu riskanten, kopflosen, irrationalen Rettungstaten verleiten (Kaprow 1991). Ihr selbstloses Draufgängertum wird nicht mehr nur gefeiert, sondern vermehrt kritisch gesehen: womöglich rette es nicht nur Leben, vielleicht gefährde sie sich und andere mit ihrer mut(will)igen Unbedachtheit erst. Im gleichen Atemzug wird der Feuerwehrberuf durch seine eigene Rationalisierung zunehmend entdramatisiert. „Accounts of valor became less dramatic; they emphasized that firefighters’ extensive training had enabled them to be heroic. Ironically, as firefighters emphasized and became more proficient at performing rescues, training for and formally recording them seemed to diminish some of the élan of firefighters“ (Tebeau 2003, S. 314). Held-Sein wird zum erlernbaren Beruf, Gefahrenabwehr zur Routine, Retten ein (riskanter) Job unter anderen. Auch die deutschen Feuerwehren, zumindest die deutschen Berufsfeuerwehren der Großstädte, gelten im 20. Jahrhundert als effiziente Maschinen und stellen sich als solche dar. Schaut man auf die kulturhistorische Entwicklung beider Länder, ist dieses Bild in Deutschland möglicherweise bereits früher als in den USA gegenwärtig. Schon ein kurzer Blick in die zahlreichen Bücher, in denen die Geschichten verschiedener deutscher Feuerwehren erzählt werden, verrät das dominierende Narrativ eines kontinuierlich fortschreitenden organisatorisch-technischen Perfektionismus. Die Autoren, häufig altgediente Feuerwehrmänner, haben

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das Bild der „rationalen Maschine Feuerwehr“ in ihren Chroniken populärhistorisch verbreitet. Das Bild wird jedoch nicht ausschließlich in historischen Arbeiten über die Feuerwehr transportiert, es ist auch in heutigen Selbstbeschreibungen der Feuerwehr allgegenwärtig. Ohne Anspruch auf eine vollständige Ausmalung des Rationalitätsimages der Feuerwehr, werden im Folgenden zwei Bereiche anhand verschiedener Interviewausschnitte in den Blick genommen, in denen es sich niedergeschlagen hat. Zuerst wird die verwaltungstechnische Rationalität der Branddirektion als staatliche Behörde mit ausgeprägtem Sicherheitsethos herausgearbeitet (→ 2.1). Als nächstes wird die technische Rationalität der Feuerwehr in ihrem Selbstverständnis als maschinelle Einsatzorganisation nachgezeichnet. Als Organisation im Einsatz grenzt sie sich scharf gegen ihre Umwelt ab, indem sie ihre eigene Struktur trivialisiert, sich dadurch orientierungsfähig und stabil macht und so den Grund dafür bereitet, auf die Umwelt durchgreifen und diese anpassen zu können (→ 2.2). Ich verhandele demnach nicht, wie rational (i. S. v. vernünftig) die Feuerwehr tatsächlich agiert und ist. Dafür fehlt es dieser Arbeit schon an den dafür notwendigen Bewertungskriterien. Rationalität wird auch nicht als theoretischer Begriff verstanden, mit dem der Reflexionsgrad eines Systems bezeichnet ist (→ Fn. 111). Rationalität wird hier als Bezeichnung gewählt, die dem Image der Feuerwehr gegeben wird. Unter einem Image ist an dieser Stelle eine Vorstellung zu verstehen, die zum einen die organisationale Identität (das Selbstbild) prägt, von der aber auch die gesellschaftliche Reputation einer Organisation zehrt (Kirchner 2015, S. 75–77). Ein Image steht demnach auf der Grenze einer Organisation und vermittelt das Selbstbild einer Organisation mit ihrer gesellschaftlichen Reputation. Das „schlechte Image“ einer Organisation – man denke etwa an die Pharmabranche, Ölkonzerne oder Waffenproduzenten – kommuniziert das gesellschaftliche Ansehen mit dem Selbstverständnis der Mitarbeiter; es fordert dieses ggf. heraus. Die Feuerwehr kennt solche Probleme allerdings kaum. Zwar genießt sie durchaus den Ruf, militärischen Gehorsam und Sexismus zu pflegen, doch ihr rationales Heldentum überstrahlt diese Kritik. 2.1

Sicherheitsrealismus: zur Sachlichkeit der lead organisation Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Uns geht’s wirklich drum, dass wir vernünftige Strukturen aufbauen. Da muss man halt immer sagen, da hat die Feuerwehr [im Vergleich zu Hilfsorganisationen] andere Maßstäbe.

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Gemeinhin wird die Feuerwehr dem politischen System zugeschlagen, sie begreift und forciert sich jedoch selbst als gänzlich unpolitische Organisation. Als heute148 vollständig öffentliche Einrichtung dient sie der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten (Wolter 2011, S. 61–72) und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Dombrowsky 1989, S. 100–196). Als Bestandteil des staatlichen Verwaltungs- und Exekutivapparats ist es ihre Aufgabe Sicherheit herzustellen. Sie wird deswegen auch als „Gewährleistungsorganisation“ (Apelt 2014, S. 69) bezeichnet und der staatlichen Daseinsvorsorge zugeordnet. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Feuerwehr vornehmlich über ihre Einsatzeinheiten bekannt, die ausrücken, wenn akute Gefahr droht und Hilfe benötigt wird. Sie wird aber nicht erst dann aktiv, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, sie ist nicht allein auf „Daseinsnachsorge“ (Luhmann 1975, S. 143; Baecker 1994, S. 98) ausgerichtet. Neben und hinter dem operativen Apparat unterhält die Feuerwehr eine weit verzweigte Behörde, die auf vielfältige Weise in die staatliche, industrielle und versicherungsbezogene Risikovorsorge eingebunden ist. Kontinuierlich wirkt sie an der Entwicklung allgemeiner Sicherheitsnormen und veranstaltungsbezogener Sicherheitskonzepte mit und stößt diese an. Als Branddirektion ist die Feuerwehr in gleichem Maße vorsorgende Behörde des Präventionsstaats wie sie nachsorgende Rettungseinsätze erbringt (Tebeau 2003, S. 327-341; O'Malley und Hutchinson 2007; Wolter 2011, S. 70). So steuert die Feuerwehr durch gezielte Umwelteinwirkung ihren eigenen Anforderungsgrad (Thompson 1967, S. 21), denn ein fortgeschrittener Brandschutz verringert auch das/ihr Einsatzaufkommen. Die Branddirektion beansprucht einem neutralen Planungsrealismus zu folgen. Politische Kalküle und wirtschaftliche Interessen gelten als der eigenen Rationalität fremd und schädlich. Die Aufgabe der Feuerwehr, für Sicherheit (safety) zu sorgen, verträgt sich nicht mit Handlungen, die politisch opportun oder ökonomisch betrachtet sparsam bzw. gewinnbringend sind. In zwei Interviewbeispielen wird das entsprechende Ethos des Feuerwehrbeamten deutlich. In dem ersten Beispiel geht es thematisch um die Überarbeitung des Katastrophenschutzplans eines Bundeslandes. Dabei kritisiert der interviewte Feuerwehrmann (m, 50, Agroßstadt) die bestehenden Konzepte als unrealistisch, die neu entwickelten hingegen als Fortschritt: Wir haben das jetzt wirklich gemeinsam gemacht und wollten wirklich gucken, dass wir was hinbekommen, was realistisch ist. Viele Katastrophenschutzpläne schöpfen immer aus dem Vollen. Das ist natürlich politisch gewollt. Die reale 148 Feuerwehren sind nicht von Anfang an staatliche Institutionen gewesen. Vor allem in Süddeutschland bildeten sich die Freiweilligen Feuerwehren abseits staatlicher Strukturen als bürgerschaftlicher Selbsthilfeverein.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter Verfügbarkeit, ja, und wirklich auch reale Eintreffzeiten – also ich kenne keinen Plan, wo das berücksichtigt wurde. Bei uns wurde das berücksichtigt. Wir haben uns dann wirklich hingesetzt und haben dann wirklich Tabellen aufgeschrieben und haben geguckt: wie viele Fahrzeuge haben wir denn überhaupt verfügbar? Weil: die meisten sind immer irgendwie im Rettungsdienst im Einsatz. Das wird ja alles immer Spitz auf Knopf kalkuliert, da ist nicht viel Puffer drin, und dann haben wir gesagt: „OK, wir können [bei einer großen Schadenslage] auf den ersten Schlag sechs bis acht Autos loseisen, dann können wir nach weiteren zehn Minuten nochmal fünf Autos hinkriegen, die sich in der Klinik freimachen.“ Wir haben dann wirklich so eine Kaskade aufgebaut, haben wirklich real gesagt: „Die Ehrenamtlichen, wie schnell kriegen wir die denn wirklich auch gesichert dahin?“ […] Das war ja schon der erste Fehler in den [früheren] Grundplanungen, die, wie gesagt, immer schon aus dem Vollem schöpfen, also man hat immer gesagt, wir haben aufgestellt, wir haben Autos zur Verfügung gestellt, wenn jetzt alarmiert wird, sind die einsatzbereit? Wie gesagt, da ist politischer Wille halt auch dahinter, dass man ja nicht sagt: „Ok, tagsüber sind die aber gar nicht einsatzbereit, weil die sind alle auf der Arbeit, und die arbeiten auch nicht in [unserer] Stadt X, sondern die fahren alle nach Stadt X.

Mit ihrem betont politisch unabhängigen Planungsrealismus bescheinigt sich die Branddirektion einen Wirklichkeitssinn, der sie von politischen Interessen und damit verbundener Schönfärberei emanzipiert habe. Wie auch andere öffentliche Einrichtungen so steht die Feuerwehr als staatliche Organisation vor dem Problem, politischen Kalkülen einerseits unmittelbar ausgeliefert zu sein, andererseits als ausführendes, leistungserbringendes Exekutivorgan des politischen Systems eingerichtet zu sein, das seine Legitimität aus dem am Gemeinwohl orientierten Sicherheitsauftrag bezieht. Sie steht damit im Spannungsfeld von politischen Interessen und gesellschaftlichen Ansprüchen. Während das politische System Informationen über ihre Bedeutung für eigene Machtansprüche verhandelt und die Erfüllung gesellschaftlicher Sicherheitsinteressen in Wählerstimmen umrechnet, misst die Gesellschaft das politische System daran, welche Leistung (Exekutive) dieses für sie erbringt. Das politische System neigt demnach dazu – so schildert es der interviewte Feuerwehrmann des gehobenen Dienstes – die Leistungsfähigkeit der Feuerwehr zu verklären und die tatsächlichen Gegebenheiten in Planungen großzügig darzustellen. Während das politische Interesse an der Feuerwehr darin besteht, mit ihr das gesellschaftliche Sicherheitsempfinden positiv zu befriedigen, beansprucht die Feuerwehr Sicherheitsmaßnahmen realistisch zu planen und steht ein für technische Sicherheit und Prozesssicherheit (safety). Aufgabe der Feuerwehr sei es, politische Ansprüche zu korrigieren, keine (Selbst)Blendung zu betreiben und die faktische Versorgungslage – auch wenn sie politisch weh tut – ernsthaft darzustellen.

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Im Zuge des New Public Management wurden in den letzten zwei Jahrzehnten marktwirtschaftliche Kalküle in öffentliche Einrichtungen implementiert. Auch Berufsfeuerwehren sind verstärkt Ansprüchen an ihre Wirtschaftlichkeit ausgesetzt. Sparwillige Kommunalpolitiker und Betriebswirte sehen sich allerdings mit scharfen Warnungen konfrontiert, die betonen, der Sicherheitsauftrag der Feuerwehr ließe sich nicht über marktförmige Mechanismen steuern. Als gemeinwohlorientierte Einrichtungen sei ihre Leistung nur sehr bedingt an Rentabilitätskriterien zu messen (Wolter 2011, S. 85f.). Kürzungen bei der Feuerwehr seien stets ein Spiel mit dem Feuer. Dieses Argument findet sich als Narrativ auch in Interviews wieder. Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Wenn dann die Stadt wieder mal sagt: „Naja, die Feuerwehr muss auch sparen.“, und dann fragen wir: „Naja, welche Staffel oder welche Leitern sollen denn weg?“ – „Ja, nicht die, die für mich zuständig ist!“, so endet das Gespräch eigentlich immer.

Politische Absichten, Haushaltsentscheidungen zu Lasten der Feuerwehr zu treffen, werden mit einem einfachen rhetorischen Kniff entschärft. Der politische Entscheider wird zum Betroffenen seiner eigenen Entscheidung gemacht; haushälterische Einschnitte werden dadurch, jedenfalls in der erzählten Darstellung, abgewendet. Ein Übergreifen von politischen oder ökonomischen Prinzipien kann die Feuerwehr durch Verweis auf ihren gesellschaftlichen Sicherheitsauftrag abwehren.149 Das bürgerliche Sicherheitsinteresse weiß sie schon früh gegen finanzpolitische Entscheidungen medial auf- und anzurufen (Engelsing 1990, S. 49). Ein letztes Beispiel für eine aus Sicht der Feuerwehr externe (fremdreferenzierte) Störgröße betrifft die Öffentlichkeitsarbeit während eines Einsatzes, die die Einsatzoperation behindern könne. Am Beispiel von Werkeinsatzstäben schildert ein interviewter Feuerwehrmann, wie Ressourcen im Rahmen von Einsätzen für nebensächliche Belange verschwendet zu werden drohen. Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Wo wir uns auch nie wiederfinden, das ist in den Werkeinsatzstäben der Industrieparks. Da gibt es immer einen Werkeinsatzstab, ja, der ist eigentlich immer für die Katzʼ. Der ist eigentlich umsonst, letztendlich. Das ist immer dasselbe: die haben ganz hoch immer die Öffentlichkeitsarbeit und blenden deswegen immer das ganze Einsatzgeschehen aus, um eine Pressemeldung zu machen. Wir schicken da keinen mehr hin, weil wir keine Ressourcen frei haben, um eine Pressemeldung zu schreiben, wenn parallel noch 149 Müller (2009) moniert für Freiwillige Feuerwehren ebenfalls, dass diese zunehmend gezwungen seien, sich unternehmerisch aufstellen zu müssen. Dies nährt bei ihm Befürchtungen, dass der „Feuerwehr, die in ihrem Selbstverständnis bisher wesenhaft eine Mischung aus öffentlicher Verwaltung, lokalem Verein und militärischer Einrichtung gewesen ist, [...] scheinbar eine Zukunft als Wirtschaftsunternehmen“ (ebd., S. 160) blühe. Hier sei dann für „Freiwilligkeit, Ehrenamt und Nächstenliebe“ (ebd., S. 161) kein Platz mehr.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter irgendwelche Gase austreten […]. In Unternehmen X zum Beispiel, da ist es so, das ist meine persönliche Wahrnehmung, da werden alle missbraucht, um diese blöde Pressemitteilung zu generieren, aber die Einsatzschwerpunkte laufen wo ganz anders.

Werkseinsatzstäbe werden in Industrieparks von den ansässigen Unternehmen eingerichtet und bei Produktionsunfällen tätig. Neben ausgewählten Unternehmensmitarbeitern ist vorgesehen, dass auch Feuerwehr und Polizei eine Person in den Werkseinsatzstab entsenden, um über „Strategie und Kommunikation“ zu beraten. Die Aufgabe umfasst „eine Gefährdungsbeurteilung für Menschen, Umwelt und Sachwerte innerhalb und außerhalb des Industrieparks“ und sieht das Verfassen und Versenden von Pressemitteilungen vor, die dann „als einheitliche Sprachregelung für die Beantwortung von Anfragen durch das Bürgertelefon dienen“ und zum Erstellen der „notwendigen Meldungen an Behörden“ genutzt werden können (Horn und Schnauber 2016, S. 285f.). Dies hat vor allem die Funktion den Einsatzstab der Feuerwehr zu entlasten, damit dieser sich auf die Ereignisbewältigung konzentrieren kann. Der Werkseinsatzstab ist für das betroffene Unternehmen von hohem Interesse, da er Bedeutung und öffentliche Wahrnehmung des Unglücks maßgeblich steuert. Dieser Aspekt spiegelt sich im Interviewausschnitt wieder. Aus einsatztaktischer Sicht stellen sich die Bemühungen des Werkseinsatzstabes um die richtige Kommunikationsstrategie als nebensächlich dar. Sie gefährden die Operation, da sie auf feuerwehreigene Ressourcen übergreifen. Auch hier müsse die Feuerwehr sich Fremdeinflüssen entziehen, um ihrem Sicherheitsauftrag nachkommen zu können. Insgesamt skizzieren die Interviewausschnitte ein Berufsethos, das die Verantwortung für den eigenen Sicherheitssauftrag unterstreicht. Dieser muss vor anderen gesellschaftlichen Wertmustern – vor allem politischen und wirtschaftlichen – geschützt werden. Hinter der Ablehnung fremdreferenzierter Ansprüche steht ein neutraler Sicherheitsrealismus, dem es zum einen um ein sachlich und fachlich korrektes Verständnis der Gegebenheiten geht und zum anderen darum, Ressourcen nicht unzweckmäßig zu vergeuden. Für Seibel (2016b, S. 22) beschreibt eine solche Einstellung den positiven Fall einer öffentlichen Verwaltung. Bürgerinnen und Bürger wünschen sich eine im Sinne ihres öffentlichen Auftrags effektive und verantwortlich handelnde Verwaltung. Luhmann sieht die Verwaltung entsprechend durch „eine Ideologie ‚des Dienstes am Publikum‘, die die Zweckformel ergänzt“ (Luhmann 1968, S. 151), ausgestattet. Gerade die staatliche Exekutive könne sich nur noch diffuse Zwecke geben (Gemeinwohl, Sicherheit, öffentliche Ordnung), da jede konkretisierte Zweckorientierung unempfindlich gegenüber mit

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der Zweckverfolgung einhergehenden Folgen mache.150 Statt konkreten Zwecken benötige die Verwaltung, so Seibel, daher ein Verwaltungsethos. Von Behördenversagen ist dann dort zu sprechen, wo Feuerwehren externem Druck nachgeben würden und der fachliche Auftrag nicht mehr verteidigt werde.151 Auch dort, wo sich Verwaltungen hinter ihrem Expertenwissen und ihren Befugnissen verschanzen, um eigene Privilegien zu wahren, drohen Behörden zu versagen (Seibel 2016b, S. 22). Der letztgenannte Fall deutet sich an, wenn Verwaltungen sich gegen ihre politische Kontrolle immunisieren und ihre Entscheidungen intransparent werden. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation wirft dies der ansässigen Branddirektion vor: OrgL (m, 43, Agroßstadt): Im Prinzip ist diese Branddirektion ja so eine autonome Machtzentrale. […] Die ist so ein eigenständiges UFO. Also die Stadt wird sich nicht anmaßen zu sagen, also kein Dezernent, kein Gemeinderat152 wird sagen: „Leute, was macht ihr da überhaupt?“, weil die Fachmänner für die Gefahrenabwehr sitzen in der Branddirektion, die entscheiden und sagen: „Wir brauchen das, das, das, das, das.“ Diejenigen, die es dann nachher umsetzen, sitzen in der Branddirektion, die kaufen dann und sagen: „Wir brauchen, das, das, das, das, das.“ Diejenigen, die Gesetze machen oder die Vorlagen für die Stadtverwaltung machen, wie der Rettungsdienst, wie die Gefahrenabwehr zu funktionieren haben, sitzen in der Branddirektion, die sagen: „Wir machen das, das, das, das, das.“ Selbst der vorbeugende Brandschutz, der die Gesetze macht, wie viele Brandmeldeanlagen wo installiert werden müssen, sitzt bei der Branddirektion und sagt: „Ihr müsst da und da und da was hin bauen.“ Und die Leitstelle, die das ganze koordiniert, ist ebenfalls da angesiedelt. Das heißt, wir haben eigentlich eine sehr starke Machtkonzentration, die können eigentlich, mal übertrieben gesagt, tun und machen, was sie wollen. Wenn sie sagen: „Wir schicken jetzt für jeden Einsatz drei Feuerwehrzüge dahin, und hinterher sagen wir, wir haben eine unglaubliche Einsatzsteigerung und deswegen brauchen wir mehr Fahrzeuge, mehr Personal und mehr Geld“. Ja, wer will denn kontrollieren, ob das zutreffend ist? Niemand wird sich hinstellen und sagen: „Da kannst Du auch nur zwei Züge hinschicken“. Dazu müsste man ja erstmal ein Gutachten machen, das dann wieder belegt, dass zwei 150 Das Zweckspezifikation indifferent gegenüber den Zweckfolgen mache, ist die zentrale These Luhmanns (1968). Durch das Setzen eines oder mehrerer Zwecke programmieren sich Organisationen auf ein Ziel hin, dessen Verfolgung und Erfüllung sie gegenüber anderen Folgen ihres Handelns unempfindlich macht. Zur Bedeutung dieser These für die öffentliche Verwaltung und Staatszwecke vgl. ebd., S. 149-153. 151 Seibel (2014, 2016a) hat ein solches Versagen für die NSU-Ermittlungen und für die behördliche Bewilligung der Duisburger Loveparade nachgezeichnet. 152 Aus Gründen der Anonymisierung verwende ich hier den Begriff des Gemeinderats. In Deutschland finden sich je nach Bundesland unterschiedliche, teilweise sehr spezifische Bezeichnungen für Gemeinderäte (Abgeordnetenhaus, Bürgerschaft, Gemeindevertretung, Rat der Stadt, Stadtvertretung u.v.m.).

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter Züge ausreichend wären und so weiter. Und dann will ich den Aufschrei gar nicht hören, wenn einer sagt: „Da wird mit der Sicherheit des Bürgers gespielt!“, also, das ist ja auch ein scharfes Schwert und diesem Problem sind wir ja auch ein Stück weit ausgeliefert. Das heißt, wir sind nicht in der Lage von unserer Seite aus eigenständig da reinzugehen und zu sagen: „Also diese Zahlen, die ihr da anbringt, da weiß ich nicht, ob die richtig sind“. Wir müssen das für bare Münze nehmen, das ist so ein Problem, was ich mir wünschen würde, dass sich das irgendwann etwas entzerren würde.

Im urbanen Notfallnetz nimmt die Feuerwehr aufgrund ihrer Ressourcen, die ihr durch das politische System bereitgestellt werden, ihrer hohen Sachkompetenz und durch die Besetzung wichtiger Stellen, eine Schlüsselposition ein. Ähnlich wie im Falle der Polizei fallen ihr zentrale Aufgaben und Kompetenzen zu, die im Netzwerk einmalig sind, es zentralisieren und die übrigen Organisationen in eine asymmetrische Beziehung zu ihr rücken. In dem geschilderten Fall diktiert die Feuerwehr die Bedingungen, an denen die anderen Organisationen ihren Betrieb zu orientieren haben. Beim Interviewten löst diese „Machtfülle“ Misstrauen aus. Ob dieses im Sinne Seibels gerechtfertigt ist oder ob das Unbehagen von einem trotzigen Autonomiegedanken der Hilfsorganisation herrührt, kann hier nicht verifiziert werden. Grundsätzlich gilt aber, dass die politische Kontrolle von Verwaltungen schwierig ist. Verwaltungsvorgänge sind durch politische Gremien und Vorgesetzte schwer einzuschätzen, da ihnen das notwendige Fachwissen fehlt. Trotzdem, und das bleibt das Dilemma der Politikerin gegenüber ihrer Verwaltung, hat sie die politische Verantwortung zu tragen, wenn diese versagt (Seibel 2016b, S. 117f.). Der Interviewausschnitt belegt, dass die beschriebene Netzwerkkonstellation, die für interorganisationale Beziehungen im urbanen Notfallnetz typisch ist, regelmäßig mit einem geringen Vertrauen zwischen lead organisation und ihren Netzwerkpartnern einhergehen (Provan und Kenis 2008, S. 237f.). Nicht zwangsläufig führt ein geringes interorganisationales Vertrauen jedoch zu Ineffizienzen und einem geringeren Output an Sicherheit. In der starken Führungsrolle der Feuerwehr liegt sogar die Chance, dass sich weitere Akteure, zu denen im Rahmen von Sicherheitsplanungen (z. B. für eine Großveranstaltung) eine enge dyadische Verbindung aufgebaut wird, am hohen Sicherheitsbewusstsein der Feuerwehr anstecken (Berthod et al. 2015, S. 27f.). Umgekehrt ist die Feuerwehr von der Verlässlichkeit des gesamten Netzwerks abhängig. Grundsätzlich neigen interorganisationale Netzwerke mit einer moderaten Anzahl an Akteuren, einer moderaten Übereinstimmung ihrer Ziele und bei Aufgaben, für die besonders eine Organisation die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen besitzt, zur Steuerung durch eine lead organisation (Provan und Kenis 2008, S. 237-242). Ihre Effektivität bezahlen

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zentral gesteuerte Netzwerke in der Regel durch Motivations- und Verpflichtungseinbuße auf Seiten der geführten Mitglieder. Interne Spannungen tauchen hier besonders dann auf, wenn die lead organisation, die bereits hohes Ansehen und Legitimität in der Umwelt besitzt, ihre Stellung aus Sicht der anderen Akteure benutzt, um ihre Spitzenposition weiter auszubauen. Nicht zuletzt büßen zentrisch ausgerichtete Netzwerke an Flexibilität ein, da die Zentralposition nicht ohne weiteres durch eine Partnerorganisation ersetzt werden kann. Sie werden resistent gegenüber Veränderungen, gewinnen darüber aber an Stabilität und Lebensdauer (ebd., S. 242-247). Die Ausbildung eines streng zentralistisch geführten Netzwerks im Bereich der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr ist nicht zwingend, wenn auch wahrscheinlicher als andere Formen. Dennoch bestehen zumindest in Deutschland auch weniger zentralistische Formen. In den drei von mir untersuchten Großstädten ist dies in einer der Fall. Historisch bedingt erbringen die Hilfsorganisationen in Süddeutschland den Rettungsdienst – neuerdings vermehrt zusammen mit privaten Organisationen –, die Feuerwehr selbst ist dort im Rettungsdienst nur begrenzt involviert und widmet sich ihrem Kerngeschäft. Aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeit erfüllt die Branddirektion die Steuerungsfunktion hier eher administrativ-koordinativ, wogegen Feuerwehren in Städten, in denen sie zu einem wesentlichen Teil Rettungsdienstleistungen selbst erbringen und damit in allen Bereichen der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr operativ tätig sind, eher eine Führungsrolle einnehmen (Provan und Kenis 2008; Moynihan 2009). An Feuerwehr und Branddirektion lässt sich die typische Ambivalenz und Einbettung öffentlicher Verwaltungen in das politische System nachvollziehen (Luhmann 2002b, S. 253-265). Einerseits lehnen es diese ab, Entscheidungen aus einem politischen Opportunismus heraus mitzutragen, der allein das Wählerinnenverhalten im Blick hat. Ihre Berufs- oder Verwaltungsethik verbietet es ihnen, Entscheidungen aus reinem Machtinteresse heraus zu treffen; sie müssen sachlich begründet sein. Verwaltung ist dem Bürger, nicht dem Wähler verpflichtet. Andererseits wird sie in der Außenperspektive durchaus auch als politische Institution wahrgenommen, die kollektiv bindende Entscheidungen fasst und durchsetzt. Gerade wenn Verwaltungen ein Monopol auf bestimmte Aufgaben besitzen, kann dies dazu führen, dass sie nicht mehr nur politisches Instrument zur Durchführung und Umsetzung von Entscheidungen sind, sondern ihren Planungs- und Gestaltungsspielraum nutzen, um sich selbst weitere Ziele zu setzen und die gegebenen Handlungsprogramme selbstständig zu respezifizieren (Mayntz 1985, S. 66-72). Der oben geäußerte Vorwurf, bei der Branddirektion handele es sich um eine „autonome Machtzentrale“, die durch die gewählten Gremien nicht mehr kontrollierbar sei, legt den Finger genau in diese Wunde. Es zeigt sich, dass der Übergang

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zwischen machtgeleiteter Politik und sachgerechter Verwaltung durchaus fluide und weniger trennscharf ist als oft dargestellt. 2.2

Einfache Struktur oder Selbsttrivialisierung?

In diesem Abschnitt bekommen wir es mit drei verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Einfachheit zu tun. Systemtheoretisch betrachtet sind einfache Organisationen ein Widerspruch, da jede Organisation über veritable Strukturen verfügt und so gesehen nicht einfach, sondern komplex ist. Nur Interaktionen sind (1) einfache Sozialsysteme, da sie ihre Strukturen immer erst neu herstellen müssen und nur im Rahmen ihrer flüchtigen Existenz geringfügig Komplexität aufbauen. Man denke etwa an eine kurzweilige Begegnung zweier einander Fremder, in der der eine den anderen nach dem Weg fragt. Wohl mit Blick auf die Unterscheidung (2) trivialer und nicht-trivialer Maschinen (Foerster 1997) gibt Luhmann den Begriff einfacher Sozialsysteme später auf. Denn nach dieser Unterscheidung ist jedes soziale System eine nicht-triviale Maschine, da nicht vorhergesagt werden kann, welchen Output ein Input erzeugen wird. Interaktionen sind in ihrer Entwicklung ebenso kontingent wie Organisationen. Ganz anders aber triviale Maschinen (Automaten), die sich deterministisch verhalten. Mintzberg spricht dagegen von (3) simplen Organisationsstrukturen und meint damit solche Organisationen, deren Differenzierungsgrad gering ist (→ II.1.4). Typischerweise verfügt die simple structure über genau eine strategische Führungsposition, der alle operativen Stellen unmittelbar unterstellt sind – eine mittlere Führungsebene fehlt (Mintzberg 1979, S. 307). Weiterhin verlängert eine karge Technostruktur die Strukturarmut der simplen Organisation. Definitionsgemäß verfügt sie außerdem über einen geringeren Formalisierungsgrad und weist kaum planerische Elemente auf. Bereits am Beispiel von Stab und Einsatzgruppe haben wir gesehen, dass diese Merkmale nicht auf die Feuerwehr zutreffen. Im Gegenteil, die Einsatzorganisation ist ein hochgradig komplexes und durchbürokratisiertes System, in dem die Aufgabenverteilung detailliert geregelt ist und die Handlungsstrukturen eng mit ihren technischen Mitteln verbunden sind. Eine solche Sichtweise verträgt sich jedoch nicht mit der gängigen Annahme, nur hochgradig adaptive Organisationen, die u. a. über einfache Strukturelemente verfügen, seien in der Lage, sich in dynamischen Hochrisikoumwelten sicher zu bewegen. Ist die Feuerwehr nun also eine einfache oder komplexe Organisation?153 Wir werden sehen, dass sie beides zugleich ist. 153 Ich übersehe hier großzügig, dass die Einsatzorganisation Feuerwehr weltweit sehr unterschiedlich aussehen kann und im historischen Prozess unterschiedliche Wandlungen durchlaufen hat.

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Zwei zentrale Organisationscharakteristika werden wir in den Blick nehmen: Nach innen zeigt sich die Feuerwehr im Einsatz durch Disziplin und Hierarchie geprägt, nach außen durch ihre Technik und ihr dominantes Auftreten. Ich greife auf das Konzept der Selbsttrivialisierung zurück, um die Neigung von Organisationen (= komplexen, nicht-trivialen Maschinen) zu erklären, sich als triviale und d. h. einfache Maschine zu begreifen. Die weltweite Dominanz des Typs Feuerwehr ist zu einem guten Teil auf ihre Eigensimplifikation zurückzuführen. Diese Verhärtung zur Maschine begründet den Erfolg der Feuerwehr. Ihre Selbsttrivialisierung garantiert ihr ein klares Bild von sich selbst, das Orientierung stiftet, die Organisation in sich selbst verankert und zugleich eine scharfe Grenze zur Umwelt einzieht. Während eines Einsatzes zeigt sich die Feuerwehr dann auch wenig adaptiv. Im Gegenteil, sie interveniert recht kompromisslos in die Umwelt hinein – löscht Feuer, befreit Menschen, bindet Chemikalien – und verändert die Umwelt derart und solange, bis sie sich selbst erfolgreich überflüssig gemacht hat (Luhmann 1964, S. 124). In der Anfangsphase eines Einsatzes gilt die Aufmerksamkeit der Feuerwehr nicht dem äußeren Chaos, sondern dem eigenen. Ein Mantra der Feuerwehr lautet, jeder Einsatz beginne mit einer „Chaosphase“. Sie sei der „initiale Zustand an einer Einsatzstelle“ und bestehe in einem „so genannten lack of leader, also fehlende Führungsstrukturen“ (Fischer und Bail 2010, S. 53). „Jeder nimmt oder macht was er gerade meint, was für ihn am wichtigsten erscheint“ (Paland und Carstensen 2006). Um die Chaosphase zu beenden, müsse es das Ziel, sein dass die Einsatzleiterin die Einsatzkräfte unter „Kontrolle“ bekommt. Mit anderen Worten, sie hat ein Führungssystem zu etablieren. Dazu ist es erforderlich, dass sie ‚sichtbar‘ wird. Das eigene Agieren – d. h. Befehle aussprechen – hat oberste Priorität. Es ist klar und direkt zu kommunizieren (Karsten 2014).

Ein weiterer Ratgeber definiert schließlich das Ende der Chaosphase als den „Moment, in dem die Mehrheit der Einsatzkräfte keine Stressreaktion mehr zeigt“ (Wilke 2006, S. 109). Interessant an dem Begriff der „Chaosphase“ ist nun, dass er sich in erster Linie auf das organisationseigene Chaos bezieht, das es zu organisieren gilt. Die Organisation ist zunächst weniger damit beschäftigt, ein genaues Umweltverständnis zu entwickeln. Wäre die Einsatzorganisation so ausgerichtet, wäre sie wesentlich adaptiver: sie würde „Ordnung zum Chaos bringen“ und nicht das eigene „Chaos organisieren“ (Vidal und Roberts 2014, S. 11f.). Beide Alternativen sind letztlich möglich. Die in Deutschland übliche Konzentration auf eine zu überwindende Chaosphase zielt darauf ab, die eigene Organisationsstruktur auszudifferenzieren, sich von der Umwelt abzugrenzen und in der eigenen Struktur Halt zu finden.

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Die Führungsstruktur der Feuerwehr ist streng hierarchisch aufgebaut. Jedes Mitglied erhält in der Ordnung einen eindeutigen Platz und Funktion. Wichtige Entscheidungen liegen im command and control model in der Hand der Einsatzleiterin (Alexander 2008). Die klare Befehlskette verringert Ambivalenzen, Unsicherheiten und Konflikte – und zwar auf beiden Seiten, der Über- wie der Untergeordneten. Je strenger die formale Hierarchie zugeschnitten und internalisiert ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass nach Motivationsgründen von Befehlen und Aufträgen gefragt wird. Selbst bei riskanten Einsätzen kann die Einsatzleiterin darauf verzichten, die „Sinnhaftigkeit einer Anweisung deutlich zu machen“ (Kühl 2011, S. 62), denn die hierarchische Ordnung führt den Organisationszweck ständig mit sich mit (Baecker 2000, S. 99; Jäger und Coffin 2014, S. 148-164). Die Hierarchiespitze verkörpert den Zweck der Organisation, sodass für Befehle, die aus der Hierarchie kommen, angenommen werden kann, dass sie der Zielerfüllung dienen – auch wenn dies sachlich, also am Inhalt des Befehls selbst nicht zu erkennen ist. Feuerwehrkräfte betonen, die strenge Hierarchie bleibe stets intakt, sie sei das organisationale Grundprinzip (Mistele 2007, S. 158-161). Das enge Korsett der strengen Hierarchie wird nicht als einschränkend und unflexibel kritisiert. Für die Feuerwehr ist sie das organisatorische Minimum, in dem sich die Einsatzeinheit als Organisation erkennt. In Anspielung an den Spielfilm „Highlander – Es kann nur einen geben“ (1986) sprechen Feuerwehren davon, es gelte bei ihnen stets das „Highlanderprinzip, darum hat auch nur einer die gelbe Weste [des Einsatzleiters; → Abbildung III.2] an“; mit anderen Führungsstrukturen, so die Organisation über sich selbst, „kann der Feuerwehrmann nur bedingt umgehen“154. Das Highlanderprinzip ist im markigen Untertitel des gleichnamigen Films zusammengefasst: Es kann nur einen geben. Der Satz hebt nicht nur die Bedeutung der Hierarchiespitze hervor, er stellt auch auf das eindeutige Weisungsverhältnis ab, welches in der Einsatzordnung gilt.155 Neben der „Chaosphase“ und der starken Hierarchieorientierung gibt es ein drittes Beispiel, das die hohe Bedeutung unterstreicht, die dem Aufbau und dem Erhalt der eigenen Organisationsstrukturen zufallen. Ein Einsatzleiter verteidigte das Ausbleiben einer sinnvollen Strukturanpassung bei einer Feuerwehrübung mit dem Argument: Einsatzleiter FW (m, 39, Agroßstadt): Man kann auch nicht alle zwei Minuten irgendwas über den Haufen werfen und sagen: „Jetzt behandelt ihr da!“, und dann:

154 Vgl. zur Quelle die Ausführungen in → IV.3.1. Dort findet sich auch das Zitat in voller Länge. 155 Im Film bezeichnet der Satz allerdings das Prinzip, dass am Ende zahlreicher Kämpfe nur ein Überlebender stehen wird. Diese Bedeutung ist hier offenkundig nicht gemeint.

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„Ach nee, jetzt behandeln wir da!“, und dann: „Ach nee, jetzt tragen wir da!“. Ich muss auch Maßnahmen schlichtweg einfach mal laufen lassen.

Die geforderte Nichtreaktion kann als bewusste Ignoranz gegenüber neuen Anforderungen verstanden werden, die dem Strukturerhalt dient. Dieses „einfach mal Laufen-Lassen“ konterkariert die Vorstellung, die Einsatzorganisation verhalte sich maßgeblich wie ein hochadaptives System. Vielmehr wird deutlich, dass gerade von der höchsten Entscheidungsinstanz erwartet wird, nicht auf jede Irritation zu reagieren und die Organisation der Umwelt nicht fortlaufend anzupassen.

Abbildung III.2: Kennzeichnung und Hierarchie der Einsatzkräfte im MANV: Quelle: www.zrf-saar.de/de/rettungsdienst/massenanfall_von_verletzten/kennzeichnung_der_einsatzkraefte (20.11.2017).

Gerade die Einsatzleitung, von der eine „sensible Lagewahrnehmung“ (Strohschneider 2016, S. 18) erwartet wird, steht im Einsatz vor der Anforderung, den Strom permanenter Informationen zu Gunsten der organisationalen Gesamtorientierung selektiv auszublenden und aufkommende Zweifel zunächst einmal zu unterdrücken. Nur wichtige Ereignisse (aber welche sind das?) sollen eine Reaktion erfahren. Während Komplexität auf den unteren Hierarchieebenen dadurch verringert wird, dass die Funktion einer Stelle eng zugeschnitten ist und sich auf die kritiklose Durchführung einer bestimmten Aufgabe beschränkt, wird sie an der Hierarchiespitze reduziert, indem einmal getroffene strategische Entscheidungen unter Bestandschutz gestellt werden, der sie gegen ihre frühe Rücknahme oder Überschreibung zunächst absichert. Auch hier zeigt sich, dass die Leistung der Einsatzorganisation vor allem darin liegt, Komplexität auszublenden, und sie nicht etwa zu Gunsten schneller und fortwährender, die Organisation auf Dauer zermürbender Anpassungsprozesse zuzulassen.

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Man kann versucht sein, die Feuerwehr als einen Mischtyp aus organischen und mechanischen Elementen zu beschreiben (Hull und Hage 1982), muss dann aber immer die Vermengung der beiden Typen skizzieren. So erinnert das streng hierarchische Führungsmodell an die simple Struktur. Dort findet sich genau eine zentrale Führungsposition, deren Inhaber strategische Entscheidungen fällt. Parasitäre Kontrollstrukturen, die viele Verwaltungen im Laufe der Zeit um ihre Entscheidungsorgane herum ausbilden und die die eigentliche Entscheidungswahl usurpieren, von ihr zehren und alles komplizierter und langsamer machen (Luhmann 1992, S. 179), sind der simplen Organisation ebenso fremd wie der Einsatzorganisation, die auf einen möglichst schnellen, widerstandslosen Befehlsdurchsatz eingerichtet ist. Andererseits liegt eine einfache Führungsstruktur nicht vollständig vor, da die diese modular ausbaubar ist und dieser Ausbau sich an festen und eingeübten Plänen orientiert.156 Gruppenführer können Zugführer vorgesetzt werden, diese können wiederum von Abschnittsleitern geführt werden, die schließlich der im Zentrum dieses Gebildes thronenden Einsatzleiterin unterstellt sind. Ein weiteres organisches Merkmal findet sich in der hohen Austauschbarkeit des Personals, welche durch die gleiche Grundausbildung aller Feuerwehrmitglieder umfassend gewährleistet ist (Mistele 2007, S. 161–166). Um weniger in die Verlegenheit geraten zu müssen, von einem Mischtyp zu sprechen, kann die Feuerwehr als ein komplexes bürokratisches System begriffen werden, dass sich trivialisiert, indem es sich selbst als Maschine denkt und behandelt. Das Sinnbild Maschine steht für einen Komplex ineinandergreifender Rädchen, von denen jedes eine bestimmte Position einnimmt und eine klar umrissene Funktion erfüllt. Zusammen bilden alle Teile eine wohlgeformte Einheit und dienen einem übergeordneten Zweck (Morgan 2006, S. 30). Der gleiche Input generiert hier jedes Mal den gleichen Output. Die Sicherheit, die dieses Bild transportiert, machen sich Feuerwehren zu Nutze. Sie folgen dem Pfad der Selbsttrivialisierung, um sich als berechenbare Einheit zu verstehen. Ihre technische Rationalität perfektioniert sie durch eine Strategie der Kontrolle und Abschließung (Thompson 1967, S. 24). Die Maschinenmetapher besitzt zwei historische Linien. Das Bild vereint Anforderungen an einen effizienten Betrieb industrieller Maschinen, wie sie im 19. Jahrhundert virulent wurden, mit neuzeitlichen militärischen Führungsideen, die vor allem in den Reformen Friedrichs des Großen zum Ausdruck kamen: strenge

156 So gesehen entwickelt sich die Führungsstruktur situationsangepasst, Strukturveränderungen ergeben sich aber nicht ad hoc. Erstaunlich ist dabei, dass die modulare Veränderung des Einsatzsystems im laufenden Betrieb erfolgt. Eine Aufbaupause ist nicht vorgesehen, die operativen Ziele müssen parallel zum Strukturumbau weiterhin erfolgreich bedient werden (Roberts und Bigley 2001, S. 1288).

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Hierarchie und Gehorsamskultur, körperlicher Drill, Uniformierung, Aufgabenspezialisierung, Ersetzbarkeit des Einzelnen, Trennung von Beratern (Stab) und Befehlsgewalt (Morgan 2006, S. 29f.). Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Im Einsatz sind wir schon so militärisch organisiert und da weiß jeder genau: „Ich mach das jetzt und das mach ich so gut“, und der Rest interessiert ihn nicht, weil er weiß, das ist mein Part. Und im Rettungsdienst ist es halt oft so, in der Regel sind das Einzelkämpfer, die fahren zu zweit mit ihrem Auto irgendwo hin und müssen da dann wirklich tun und machen, in ihrer Einbauküche, wie sie es immer so schön sagen, in ihrem Rettungswagen; und wenn dann irgendwie so eine gewisse Hürde überschritten wird, dann verselbstständigen die sich, dann spielen die nicht so im Ganzen mit, weil die das nicht so im Blick haben. Der Feuerwehrmann weiß genau: „Hier sind 100 andere Autos, aber das ist mein Part, und den mach ich jetzt, und den mach ich gut.“ Der Führungsdienst der Feuerwehr ist, im Endeffekt, kein besserer Mediziner, also, um Gottes Willen, aber der kann natürlich Feuerwehrstrukturen aufbauen, ganz klar, mit deutlichen Worten: „Du machst jetzt das, Ende!“, „Nein, ich will aber…“, „Nein, Du machst jetzt das, Ende“, ja, so ist dann, da sind wir eigentlich ganz zufrieden mit.

Der Interviewausschnitt verweist auf das militärische Vorbild, die Bedeutung von Disziplin und Gehorsam und das arbeitsteilige Denken der Feuwurf fungiert der Rettungsdienst, deren Teams sich, insbesondere bei größeren Einsatzlagen („wenn dann so eine gewisse Hürde überschritten wird“), nicht mehr berechenbar verhalten würden. Sie „verselbständigen“ sich, spielen „nicht so mit im Ganzen“, sie „drehen frei“ (letzteres war der Vorwurf an einen LNA auf einer von mir begleiteten Übung). Der Unterschied zum Rettungsdienst ist bereits in der technischen Einrichtung beider Organisationen zu sehen. Anders als Feuerwehren verfügen Rettungsdienste über einen auf ihre Arbeitsbedürfnisse abgestimmten Rückzugsraum. Rettungswägen sind mit einem miniaturisierten Behandlungszimmer ausgestattet, das einst dem klinischen Vorbild nachempfunden wurde (Kessel 2008). Rettungskräfte haben damit die Möglichkeit, ihren Patienten in eine ihnen vertraute Arbeitsumgebung zu überführen, in der unterschiedlich kombinierbare Technologien zur Verfügung stehen (Thompson 1967, S. 17). Feuerwehren besitzen einen anders gearteten technologischen Bezug. Bereits ihr Gründungsmotiv war vor allem technischer Natur. Die im 19. Jahrhundert aufkommenden Spritzensysteme stellten neue Betriebsanforderungen. Beförderung, Aufbau, Anschluss und effizienter Betrieb der Maschinen konnten und können bis heute nur kollaborativ und abgestimmt erfolgen, was Planung und Übung verlangt. Auch wenn der koordinierte Krafteinsatz dank elektronischer Pumpen und hydraulischer Systeme stark zurückgegangen ist, bedarf der Maschinenbetrieb auch

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heute noch gemeinsamer körperlicher Anstrengungen und erfolgt weiterhin nach der industriellen Formel Arbeit = Energie (Luhmann 2000, S. 366). Noch heute wird vom Einsatz „schweren technischen Geräts“ gesprochen. Im massigen, durchtrainierten Körper des Feuerwehrmanns spiegelt sich das technische Gewicht der Maschinen wider.157 Feuerwehren zeigen sich zwar hochgradig technikaffin, äußern dann aber starke Bedenken, wenn es um die Substitution bestehender Technik durch digitale, infrastrukturell wie auch in ihrer Bedienung voraussetzungsvolle Technologien geht (Sturm et al. 2014). Maschinen lassen sich mit etwas handwerklichem Geschick selbst reparieren. Und dieses Geschick ist in Form einer entsprechenden beruflichen Vorausbildung bei Berufsfeuerwehren in der Regel Bewerbungsvoraussetzung. Digitale Systeme erfordern bei einem Defekt dagegen externen Support. Maschinen sind greifbar, Computer hingegen unsichtbare, sich von Situation zu Situation verändernde Maschinen (Luhmann 2000, S. 366–369). Zentrales Argument für die Beibehaltung der bestehenden analogen Werkzeugtechnologie ist ihre Robustheit und weitgehend unabhängige Einsetzbarkeit. Feuerwehren sind in dem Sinne risikoavers, dass sie die zusätzlichen, mit technischen Innovationen einziehenden Unsicherheiten nicht einzugehen bereit sind und analogen, maschinenartigen und interdependenzlosen Technologien den Vorzug geben (bisher jedenfalls noch). Über ihre typische Angewiesenheit auf eine funktionierende Wasserinfrastruktur hinaus sind Feuerwehren grundsätzlich nicht bereit, sich im Einsatz von technischen Umweltbedingungen (z. B. WLAN oder Handynetze) abhängig zu machen.

157 Der Unterschied der körperlichen Gestalt von Rettungsdienstpersonal und hauptberuflichen Feuerwehrkräften ist statistisch wohl nirgends erfasst, fällt aber schnell ins Auge. Ein Grund dafür ist, dass Feuerwehrwachen häufig über einen Fitnessraum und Sporthallen verfügen sowie die Einsatzkräfte im Gegensatz zum Personal des Rettungsdienstes deutlich mehr Zeit auf den Wachen, und nicht im Einsatz, verbringen.

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Abbildung III.3: Technikschau damals (Dortmund 1906) und heute. Quellen: Oben: Beilage Sonntagspost Nr. 27 vom 1.7.1906; Stadtarchiv Dortmund. Unten: http://www.chemnitz.de.

Am Beispiel Feuerwehr zeigt sich eindrücklich, dass Technik die Organisation zusammenhält, Positionen, Relationen und Aufgaben zuweist und Verhaltensweisen einfordert (Engelsing 1990, S. 45–55). Auch das Medium der Feuerwehr, das Funkgerät, schreibt hochgradig standardisierte Sprechformate vor, verlangt Funkdisziplin und stützt die gesamte Hierarchie ab. Technik scheint die herr-

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schende Ordnung hier einseitig zu stabilisieren. Andererseits findet sich unter Feuerwehrleuten auch ein ausgeprägtes Technikbegehren, ein Willen zur Technik, eine Lust an der Maschine. Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Jemand der zur Freiwilligen Feuerwehr geht, wie ich jetzt zum Beispiel, ich könnte mir nie vorstellen, bei uns... Auch wenn die nebendran zur Rotkreuzbereitschaft gehen, ja, das ist ein anderer Ansatz, die üben immer nur, da passiert nie was, ja, und wie gesagt, da wird halt jeder, jedem [Hilfebedürftigem] wird da geholfen. Und wir wollen eigentlich mit dem GLA [= Gelenklöscharm] da ein bisschen herumspritzen, im Endeffekt, ja, vom Grundtyp, aber das wissen sie vielleicht wirklich auch besser wie ich, hat man die einen, das ist ein anderer Schlag Mensch: die einen, die sich denn mehr dafür interessieren und die anderen, die sich mehr dafür interessieren.

Die technische Apparatur der Feuerwehr besitzt Anziehungskraft.158 Technik erweist sich damit einmal als organisatorischer Stabilisator, ein anderes Mal als Projektionsfläche für Handlungsmacht und Kraft (Latour 2001, S. 246). Sie ist der Fetisch der Feuerwehr, der seit ihrer Gründung in unzähligen Portraits und öffentlichen Ausstellungen millionenfach zur Schau gestellt wurde und wird (→ Abbildung III.3). Technik und Mitgliedsrolle vermitteln sich wechselseitig ineinander (Latour 1994) und stabilisieren die Organisation. Weick hat diese wechselseitige Stabilisierung von Organisationsstrukturen, technischem Gerüst und beruflicher Identität am Beispiel des Mann Gulch Unglücks (→ III 3.2) anschaulich gemacht. Dass sich unter den Waldbrandbekämpfern Panik breit machen konnte, nahezu der gesamte Trupp desintegrierte, den Anweisungen des Einsatzleiters nicht mehr Folge geleistet wurde und versucht wurde, dem nahenden Feuer auf eigene Faust (und nicht gemeinsam als Feuerwehrgruppe) zu entkommen, führt Weick auf die veränderte, feuerwehruntypische Zielausrichtung (nicht mehr das Feuer zu bekämpfen, sondern sich vor diesem in Sicherheit zu bringen) und in letzter Konsequenz auf die Aufforderung des Einsatzleiters zurück, sich der mitgeführten Werkzeuge zu entledigen. A fire crew that retreats from a fire should find its identity and morale strained. If the retreating people are then also told to discard the very things that are their 158 Sozial- und Kulturwissenschaftliche Studien (etwa: Baigent 2001; Desmond 2006; Simpson 1996) verzichten zwar auf naturalisierende Termini wie die des „Menschenschlags“, sie zeichnen aber ebenfalls ein sehr einheitliches Bild des Feuerwehrmitglieds: „white male, lower middle class, small town background, focus on craftmanship, affinity to technicality, family orientation, homosocial structures, antiintellectualism, political conservatism“ (Hochbruck 2016). Hochbruck sieht dies teilweise kritisch und verweist auf Brüche und Gegenbeispiele. Neben den technischen Bedingungen, die zur Entwicklung von Feuerwehren beitrugen, dürfen die sozialen und politischen Motive nicht vergessen werden, die ihre Bildung, jedenfalls in Süddeutschland, wo es enge Verbindungen zur liberalen Turnerbewegung gab, befeuert haben (Engelsing 1990).

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reason for being there in the first place, then the moment quickly turns existential. If I’m no longer a firefighter, then who I am? With the fire bearing down, the only possible answer becomes: An endangered person in a world where it is every man for himself (Weick 1993, S. 637)

Ohne etabliertes Organisationsziel und ohne ihre Technik zerbricht die Assoziation Feuerwehr. Disziplin löst sich auf.159 Die ehemaligen Einsatzkräfte fanden sich in gewisser Weise in einer vorgesellschaftlichen Situation wieder, die ihrer stabilisierenden Mittel verlustig gegangen ist (Latour 2001). Organisationen sind im Vergleich zu ihrer Umwelt stets komplexitätsärmer. Schon logisch gesehen ist es ihnen nicht möglich, die Umwelt identisch in sich abzubilden (Luhmann 1987, S. 45–51). Jede Organisation ist dazu gezwungen, auf Umweltanforderungen mit Verallgemeinerungen und selektiven Ausblendungen zu reagieren. Da das Verhältnis von System und Umwelt zirkulär bestimmt ist, jede Organisation ihre Umwelt gleichsam mithervorbringt, hängt es schließlich auch von den Organisationsstrukturen selbst ab, wie die Umwelt der Organisation beschaffen ist. Mithin ist eine wechselseitige Prägung und Hervorbringung von Umweltbeschaffenheit Organisationsstruktur Organisationsverhalten immer in Rechnung zu stellen (Ortmann 2008, S. 127–134). Organisationen erschließen sich ihre Welten und bringen sie dabei gleichsam hervor. Ein maschinelles Selbstverständnis zeigt sich bei der Feuerwehr auch im Umweltbezug. Es sind vornehmlich technische und natürliche Umweltgefahren, die die Feuerwehr auf den Plan rufen. Ähnlich wie der Rettungsdienst bearbeitet auch die Feuerwehr die Umwelt der Gesellschaft. Während aber der Rettungsdienst der körperlichen Umwelt medizinisch verpflichtet und für seine Tätigkeit wesentlich stärker auf Kommunikation mit dem Patienten angewiesen ist, ist die Feuerwehr mit einer „Störungen der materiellen Außenwelt“ (Bergmann 1993, S. 287) betraut, für deren Bearbeitung es eines kommunikativen Eingehens auf Betroffene kaum bedarf. Die Feuerwehr schützt und rettet zwar auch Menschen, sie sieht sich aber eher dem Leib als physischer Einheit verpflichtet, nicht der Gesundheit des biologischen Systems, das die Medizinerin mittels Patientengespräch zu verstehen versucht. Der Mensch ist der Feuerwehr ein Schutzgut unter vielen. Sie schützt nicht nur auch sein privates Hab und Gut, sondern sorgt sich auch um

159 Zur symbolischen Bedeutung der Feuerwehrautos vgl. auch Scott und Tracy (2007, S. 56).

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Abbildung III.4: Zwei Frauen spielen die Rolle der hysterischen Mutter bei einer Übung. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Manns (Osthessen-News)

Infrastrukturen. Sie stabilisiert die gesellschaftliche Ordnung, indem sie die technisch-materiale Endostruktur der funktional differenzierten Gesellschaft abzustützen hilft (Guggenheim 2015). Die Feuerwehr pflegt eine streng kausale Beziehung zu ihrer Umwelt. Im vollen Vertrauen auf einfache Kontingenz lautet der zentrale, die Entscheidungen und Handlungen anleitende Grundsatz der Feuerwehr, es seien stets die Möglichkeit „die richtigen Mittel, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort“ einzusetzen (AFW 1999, S. 24). Der technische Außenbezug zeigt sich weiterhin in dem Umstand, dass Feuerwehrkräfte mit betroffenen Personen in Einsätzen wenig kommunizieren und diesen fremd bleiben. Schon die Mimik von Einsatzkräften besitzt für ihr Gegenüber kaum Informationswert. Feuerwehrleute haben gelernt, so beschreibt es Kristof Magnusson (2014, S. 121) im Roman, sich „vor Zivilisten nichts anmerken“ zu lassen. Die eigene Überraschung oder Aufgeregtheit wird verborgen. Damit wird sowohl Kompetenz und Normalität demonstriert als auch verhindert, dass die Umwelt sich an der eigenen Irritation ansteckt. Die emotionale Kontrolle der äußeren Selbstdarstellung ist, anders als die steuernde Emotionsarbeit im Rettungsdienst, empathiefrei. Sie dockt nicht am individuellen Empfinden der Betroffenen an, sondern stellt ein souveränes, vom Geschehen unbeeindruckt erscheinendes Erleben dar.

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Auffällig ist, dass der sozialen Umwelt auf Feuerwehrübungen häufig ein hysterischer Charakterzug eingeschrieben wird. Die über alle Maßen erregte, kaum zu kontrollierende Frau (oder Mädchen) ist eine übliche Komponente auf Übungen (→ Abbildung III.4). Ob für die Übungsdesigner Hysterie ein sehr allgemeines Merkmal an Einsatzstellen ist und zu einer realistischen Darstellung einfach dazugehört oder ob die Einsatzkräfte regelmäßig mit einem unterstellten, kaum zu bändigenden „psychologischen Schwachsinn des Weibes“ (Möbius 1977 [1900]) herausgefordert werden sollen, ist soziologisch betrachtet an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung. Der eine wie der andere Grund zeigt, dass die soziale Umwelt an der Einsatzstelle aus Sicht der Organisation eine Widerständigkeit besitzt, die sich von ihrem unbelebten Einsatzbereich deutlich unterscheidet. Feuerwehrkräfte reagieren auf das hysterische Soziale nicht durch steuernde Emotionsarbeit, wie sie im Rettungsdienst beobachtet werden kann (→ II.2.4). Häufig werden Betroffene – wenn diese etwa versuchen, in Gefahr befindlichen Freunden eigenhändig zu helfen, oder versuchen, das Handeln der Einsatzkräfte flehend, schreiend oder an diesen herumzehrend zu beeinflussen – von der Feuerwehr, wie es dann heißt, „eingefangen“, weggetragen oder weggeschoben und zur weiteren Betreuung an den Rettungsdienst übergeben. Dieses handfeste Vorgehen lässt sich mit der Sicherheit der so behandelten Person plausibel begründen. Es veranschaulicht aber auch, dass sich der technische Zugriff im Umgang mit der sozialen Umwelt fortsetzt. Das Selbstverständnis, die eigene Organisation als Maschine zu begreifen, wurde hier als Selbsttrivialisierung bezeichnet. Organisationale Selbsttrivialisierung läuft Gefahr, wichtige Aspekte zu übersehen oder bedeutsame Veränderungen nicht zu bemerken. Vereinfachung kann auch blind machen (Schulze 2005, S. 341–343; Luhmann 1987, S. 386). Ältere Feuerwehrleute berichteten mir über Vorkommnisse aus ihren ersten Dienstjahren, in denen es ihnen aufgrund ihres Ranges nicht möglich gewesen war, eigenes Wissen oder Wahrnehmungen, die aus ihrer Sicht für die Operation wichtig gewesen seien, über das hierarchische Kommunikationsnetz in die Organisation einzuspeisen. Feuerwehren weisen aufgrund ihrer strengen Hierarchie und Zentralisierung das Problem auf, dass die operativen Grenzstellen Schwierigkeiten haben können, Informationen zum strategischen Kern zurückzusenden. Dieses strukturelle Problem ist seit langem bekannt und wurde auf formaler Ebene durch zwei Anpassungen abzufedern versucht, die mehr Komplexität zulassen: Auftragstaktik und kooperativer Führungsstil. Am Rande findet die Auftragstaktik schon in der Katastrophenschutz-Dienstvorschrift von 1981, der Vorgängerin der Feuerwehr-Dienstvorschrift (Fw Dv) 100, Erwähnung. Im Gegensatz zur Befehlstaktik räumt der Auftrag „dem/den

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Empfänger/n in der Durchführung und in der Wahl der Mittel soviel Handlungsfreiheit wie möglich“ (ohne Autor 1981, S. 33) ein. Die Auftragstaktik operiert mit Befehlen, die ihren Empfänger zu eigenen Entscheidungen ermutigen. Auftragstaktik, so formuliert es 1999 dann ausführlich die Fw Dv 100 können sich „auf eine eindeutige Formulierung des Ziels beschränken“ (AFW 1999, S. 8). Sie setzen „ein hohes Maß an fachlichen Fähigkeiten und verantwortungsbewusster Selbständigkeit“ voraus, fordern diese ein und bringen sie hervor (ebd.) Der auftragstaktische Befehl versteht sich als befähigendes Instrument, nicht als zwingende Vorschrift (Adler und Borys 1996). Während Zweckprogramme formal auf Dauer gestellt sind und automatisiert aufgerufen werden können, nimmt die Einmaligkeit des auftragstaktischen Befehls nicht nur den Befehlsempfänger, sondern auch den Befehlsgeber viel stärker in die Verantwortung. Gelingt es den Ausführenden nicht, die erteilte Aufgabe selbstständig zu lösen, wird der Befehlsgeber mit seiner Entscheidung und der Frage konfrontiert werden, warum er den Weg der Problemlösung nicht strenger vorgegeben oder eine geeignetere Person gewählt hat. Darüber hinaus betont die jüngste Version der Fw Dv 100, dass abseits akuter Gefahrenlagen, wenn möglich, ein kooperativer Führungsstil gepflegt werden solle. Dieser achte darauf, „Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Fachleute zur Beratung und Beteiligung an Entscheidungen“ heranzuziehen. Auf autoritäre Führung solle dann zurückgegriffen werden, wenn „schnelle Entscheidungen und Maßnahmen notwendig“ seien. Hier müsse sich dem „Willen der Vorgesetzten“ untergeordnet werden (AFW 1999, S. 7). Die bundesweit geltende Fw Dv 100 befasst sich mit den Grundprinzipien von „Führung und Leitung im Einsatz“. Sie wird von einem Facharbeitskreis entwickelt, aktualisiert und schließlich von den Innenministerien der Länder erlassen. Die Dienstvorschrift lässt den Versuch erkennen, das an den operativen Grenzen der Einsatzorganisation vorhandene Wissen für den strategischen Kern verfügbar machen zu wollen und den unerwünschten Auswüchsen strenger Hierarchie, dem Zugpferd der Selbsttrivialisierung, entgegenzuwirken. Organisationswissenschaftliche Arbeiten haben durchaus nachweisen können, dass sich die neuen Führungsmodelle und dahinterstehenden Ideen durchsetzen konnten. Mistele betont etwa, dass die Wahrnehmungsleistungen der operativen Einheiten heute anerkannt und dem System nicht vollständig entzogen werden (Mistele 2007, S. 167). Er sieht auch eine Dezentrierung der Einsatzsteuerung (ebd., S. 158), was darauf deuten könnte, dass es mittels Auftragstaktik und kooperativen Führungsstil gelungen ist, die Problemlösungskompetenzen der organisatorischen Ränder anzuzapfen. Auch andere Autoren skizzieren die (begrenzten) Improvisationsspielräume der

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operativen Einheiten (Roberts und Bigley 2001, S. 1288–1292; Baran und Scott 2010, S. S63). Die operativen Folgen eines strengen command and control model sind auch den Verantwortlichen nicht verborgen geblieben, die Umsetzung der (nicht mehr ganz so) neuen Richtlinien obliegt jedoch den einzelnen Verbänden. Die Feuerwehr verfügt damit über die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Führungsstilen situationsangemessen zu wechseln. Dies verleiht ihr größere Anpassungsmöglichkeiten als früher. Das vorherrschende Modell bleibt aber die streng hierarchische Form. Und es bleibt in jedem Einsatz eine Entscheidung der Führungskräfte, ob in eine andere Operationsform gewechselt wird. Die Wahl wird maßgeblich vom tradierten Selbstverständnis der Führung abhängen.

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Interorganisationale Kooperationserfordernisse stellen sich den Rettern schon im Alltag täglich. In vielen Einsätzen treffen Rettungsdienste, Notärztinnen, Feuerwehren und Polizei aufeinander und müssen, ob gewollt oder nicht, Entscheidungen, Handlungen und Ziele der anderen mit ihren jeweils eigenen Vorgehensweisen und Absichten arrangieren. Schon im täglichen Geschäft stellt dies die Organisationen vor Herausforderungen und macht vorausgehende Absprachen und Konzepte nötig, die die Kooperation vordenken und anleiten. Der Anspruch an die Retter erhöht sich nochmals bei Großschadenslagen oder in Katastrophen, in denen jede der genannten Organisationen eine hohe Anzahl eigener Einheiten zur Verfügung stellt, weitere Organisationen hinzukommen und der Einsatz über einen längeren Zeitraum andauert. Im Folgenden möchte ich zwei zentrale Schwierigkeiten herausarbeiten, die die interorganisationale Zusammenarbeit im Rahmen solcher Großeinsätze herausfordern. Zuerst geht es um das grundsätzliche Problem, Mitglieder verschiedener Organisationen unter eine Gesamtleitung zu stellen bzw. verschiedene Organisationen in einer Einsatzhierarchie aufgehen zu lassen. Dann zeige ich am Beispiel der Einbindung der medizinischen Profession, dass dieses Grundproblem sich nochmals verschärft, wenn Notärztinnen in das streng formalisierte und hierarchisierte Gebilde eingebettet werden sollen. Für beide Fälle zeige ich Probleme und Lösungen auf, die in verschiedenen deutschen Großstädten erfahren bzw. entwickelt wurden, und diskutiere deren organisationssoziologische Bedeutung.

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3.1

III Kooperation professioneller und organisierter Retter

Mehrere Organisationen, eine Einsatzführung MANV ist zu 100 % Leitung, Übersicht und Kontrolle. LNA (m, 60, Agroßstadt)

Die interorganisationale Kollaboration bei einem großen Notfalleinsatz kann organisationswissenschaftlich unterschiedlich gefasst werden. Die Zusammenarbeit kann als „temporary system“ (Roberts und Bigley 2001), also eine temporäre Organisation, oder auch als ein „response network“ (Jensen und Waugh 2014, S. 10f.) begriffen werden. Anders als Organisationen verpflichten Netzwerke nicht zur und qua Mitgliedschaft. Sie generieren ihre Stabilität und Erwartungssicherheiten über das wechselseitige Vertrauen der Akteure ineinander. Entschlüsse werden gemeinsam getroffen, Handlungen nicht befohlen (Powell 1990). Von diesen Eigenschaften eines reinen Netzwerks ist der Großeinsatz jedoch weit entfernt. Einerseits geben bereits rechtliche Vorgaben vor, dass die Einsatzleitung vor Ort in den Händen der Feuerwehr liegt, außerdem sind besonders im Laufe der zurückliegenden zweieinhalb Jahrzehnte verschiedene Konzepte für die interorganisationale Kooperation bei größeren Schadenslagen ausgearbeitet worden. Weltweit werden diese Konzepte unter dem Namen Incident Command System (ICS) diskutiert. Dabei ist zu sagen, dass es regional unterschiedlichste Varianten gibt. Selbst in den USA, in denen das ICS ein vom Department of Homeland Security unterstütztes Organisationsschema bezeichnet, finden sich historisch und lokal unterschiedliche, teils miteinander in Konkurrenz befindliche Formen (Jensen und Waugh 2014). Das dem ICS in Deutschland in Teilen entsprechende Konzept ist die Fw Dv 100 (AFW 1999), welche das Führen und Leiten im Einsatz regelt. Die Fw Dv 100 beinhaltet bereits Grundelemente für die Anbindung anderer Organisationen an die Führungsstruktur bei Großeinsätzen. Externe Fachberaterinnen und Verbindungspersonen sollen zum Stab hinzugezogen werden (→ Abbildung II.1). Die Möglichkeit zur interorganisationalen Koordination ist damit berücksichtigt, wie diese aber im Detail erfolgt, bleibt offen und wird durch weitere, auf lokaler Ebene nochmals unterschiedlich ausgestaltete Einsatzkonzepte geregelt. Hohe Koordinationserfordernisse stellen sich vor allem im Rahmen der Zusammenarbeit von Feuerwehr(en), Rettungsdienst(en) und Notärztinnen. Die interorganisationale Schnittstelle von medizinischer und technischer Rettung stellt

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Abbildung III.5: MANV-Plan: Einsatzkonzept für die interorganisationale Zusammenarbeit beim Massenanfall von Verletzten des Landkreises Osnabrück (UA bedeutet Unterabschnitt) Quelle: Fachdienst Ordnung, Abt. Rettungsdienst, Brand und Katastrophenschutz 2016, S. II.

einen der wichtigsten, gleichzeitig aber auch einen der am schwierigsten zu regelnden Bereiche übergreifender Zusammenarbeit dar. Dass Absprache und Koordination dieser Akteure bei Großeinsätzen sinnvoll und notwendig sind, steht außer Frage. Mit Blick auf die Ergebnisse, die zu Beginn dieses Kapitels präsentiert wurden, besteht aber auch darüber Klarheit, dass an dieser Schnittstelle unterschiedlichen Organisationsziele, Arbeitsweisen, Kooperationsformen und damit verbundene Handlungslogiken aufeinandertreffen. Organisationswissenschaftlichen Untersuchungen bieten sich daher diese und verwandte Schnittstellen an, um die Schwierigkeiten interorganisationaler Zusammenarbeit zu untersuchen (Lasogga und Ameln 2010). Ich beginne meine Darstellung mit dem grundlegendsten Problem. Gemeinsame Einsatzkonzepte sind schon deswegen erforderlich, weil jede Organisation über eigene verfügt, die mit denen von anderen in Konflikt treten können. Für sich genommen mag jedes einzelne Konzept über klare Vorgaben verfügen, mit anderen hauseigenen Plänen harmonieren und weitgehend widerspruchsfrei sein, im Rahmen von Großeinsätzen können sich diese Konzepte nun aber überlagern und bspw. zu unklaren Weisungsbefugnissen führen. Zusätzlicher Regelungsbedarf kann auch dort auftreten, wo erst durch die Zusammenarbeit neue Arbeitsbereiche entstehen. Einsatzkonzepte, die die Zusammenarbeit mehrerer Organisationen steuern sollen, weisen, wie schon die formalen Regelungen einer einzelnen Organisation, vor allem zwei Funktionen auf. Sie koordinieren die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren, indem sie Zuständigkeiten festlegen und sie geben den Partnern ein gewisses Maß an Kontrolle über das Verhalten und die Leistungen der anderen an die Hand (Vlaar 2006, S. 35–45).

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Obwohl die Notwendigkeit einer abgestimmten Zusammenarbeit technischer und medizinischer Retter schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt wurde (Neudörfer 2007, S. 19), wiesen die seitdem entwickelten Konzepte immer wieder erhebliche Defizite auf. Als einer der schlimmsten Fälle wird bis heute die interorganisationale Kooperation beim Flugunglück auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Ramstein gesehen, das sich am 28. August 1988 ereignete. In der Presse wurde gar gefragt, ob der „Rettungs-Einsatz selbst eine Katastrophe“ (dpa 10.9.1988) gewesen sei. Die Erfahrungen führten zur breiten Revision bestehender Konzepte für Großschadenslagen (Vemmer 2004). Einige Bundesländer begannen in den 1990ern damit, den Aufbau von MANV-Konzepten in ihren Rettungsdienstgesetzen rechtlich vorzuschreiben. Echte Bewegung kam in die Entwicklung bestehender Einsatzpläne aber erst durch die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland (Kreimeier und Weidringer 2007). Einerseits war ihre Ausrichtung an entsprechende Auflagen der FIFA gebunden. Darüber hinaus wirkte die kommende Weltmeisterschaft wie eine Projektionsfläche, da sie den schlimmsten Unglücks- und Anschlagsszenarien einen sehr konkreten Rahmen bot. Die Terroranschläge von New York, Madrid und London entfalteten ihre volle Wirkung auf die nicht-polizeilichen Gefahrenabwehrbehörden in Deutschland erst im Zusammenhang mit der Austragung der Fußballweltmeisterschaft. Heute besitzt jeder Landkreis und jede Stadt ein Einsatzkonzept für den Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV-Plan), in dem die Zusammenarbeit medizinischer und technischer Retter festgelegt ist. Jedoch hat sich bis heute kein einheitliches Modell für die interorganisationale Schnittstelle durchsetzen können, auch wenn es einen grundsätzlichen, teils auch in den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer fixierten Konsens über die Schlüsselfiguren gibt, die dafür gebraucht werden. MANV-Pläne rechnen hierzulande mit zwei Funktionsträgern, die der Führungsstruktur der Feuerwehr zunächst fremd sind, die aber dafür geschaffen wurden, medizinische und technische Rettung miteinander zu verzahnen. Leitende Notärztin (LNÄ) und Organisatorischer Leiter Rettungsdienst (OrgL oder OLRD), sollen, so wollen es die meisten Konzepte, den Einsatzabschnitt Rettungsdienst zusammen koordinieren und sind der Einsatzleitung der Feuerwehr unterstellt (→ Abbildung III.2 und → Abbildung III.5). Die LNÄ soll zum einen eine notfall- und katastrophenmedizinisch besonders versierte, vor allem in der Verletztensichtung (→ V.3.4) erfahrene, zum anderen mit den Führungsstrukturen der Feuerwehr und Führungskonzepten vertraute Notärztin sein. Sie ist mit der medizinisch-organisatorischen Bewältigung eines Einsatzes beauftragt. Dazu komplementär ist der OrgL mit den organisatorisch-technischen und taktischen Aspekte des Einsatzabschnitts Rettungsdienst beauftragt. Er soll die

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LNÄ unterstützen und diese von aus medizinisch-fachlicher „Sicht peripher erforderlichen Maßnahmen wie Kommunikation mit der Einsatzleitung und/oder der Leitstelle, Übermittlung der Anforderungen von Logistik und Personal, Ordnung des Einsatzraumes, Festlegung von Rettungsmittelhalteplätzen usw.“ (Crespin 2007, S. 33) entlasten. Kurz gefasst: die LNÄ ist mit der medizinisch-strategischen, der OrgL mit der dazugehörigen administrativ-taktischen Koordination befasst. Anders als die LNÄ und auch alle weiteren medizinischen Einsatzkräfte ist der OrgL daher mit zwei Funkgeräten ausgestattet, die ihn an die Kommunikationsstruktur der Einsatzführung der Feuerwehr anschließen. Vielfach hört die Einigkeit hier aber bereits auf und es ist der Ausgestaltung der jeweiligen Pläne überlassen, welche Aufgaben die beiden Rollen im Einzelnen genau übernehmen sollen, wie sie kooperieren sollen und wie die beiden Funktionsstellen tatsächlich in die Führungsstruktur eingebettet sind.160 Aus Feuerwehrsicht ist es untypisch, dass es überhaupt eine zweiköpfige Einsatzabschnittsleitung gibt. Die taktische Führungseinheit wird hier zum Team (Neff 2007, S. 111). Diese Dopplung vollzieht die Trennung von technischer und medizinischer Rettung damit noch einmal innerhalb der Führungsstruktur nach. Die Leitung des Einsatzabschnitts wird in zwei Funktionsträger, in LNÄ und OrgL aufgespalten, die je eine fachliche Seite abdecken. Dies zeigt sich nicht nur in der jeweiligen Aufgabenbeschreibung – hier medizinisch, dort technisch-organisatorisch –, sondern auch im Weisungsrecht. Während beide Figuren Befehlsgewalt gegenüber nichtärztlichen Einsatzkräften des Abschnitts ausüben dürfen, obliegt es nur der LNÄ, Notärztinnen anzuweisen. Aus Feuerwehrsicht bleibt die LNÄ Leiterin einer Sonderhierarchie, die zwar formal in die Einsatzhierarchie integriert ist, dieser aber weitgehend äußerlich bleibt. Der Zwischenentwurf eines MANVPlans veranschaulichte dies. Dort heißt es: Dem LNA obliegt die Supervision der Ärzte (Oberarztfunktion) in der Patientenablage. Er hat hierbei beobachtend auf die Verbesserung der Versorgung und Abläufe durch Beratung der Ärzte hinzuwirken.

Im gleichen Entwurf wurde die Aufgabe des OrgL in der „Supervision (Oberschwesterfunktion) des Rettungsdienstpersonals“ gesehen. Der Rückgriff auf die Begriffe Oberarzt- bzw. Oberschwesterfunktion bildet das Organisationsverständnis der Feuerwehr eindrücklich ab. Ihr geht es primär darum, beide Figuren in ihrer hierarchischen Bedeutung zu verstehen und zu fixieren. Es überrascht kaum, dass die so bezeichneten Leitenden Notärztinnen und OrgL die ihre Tätigkeit beschreibende Wortwahl unpassend fanden. Für sie ließ sich ihre Arbeit bei einem großen 160 Vgl. Crespin (2007, 41f.) für einen gegenüber der DIN 13050 (Deutsches Institut für Normung 2009) konkretisierten Vorschlag, dem wohl in den letzten Jahren viele Bezirke gefolgt sein werden.

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Unglück mit vielen Verletzten nicht im administrativen Krankenhausvokabular abbilden. Wer sich jedoch in den gewählten Begriffen wiederfand, war die Feuerwehr selbst. Für sie beschrieben die Begriffe das, was sie im rettungsmedizinischen Einsatzbereich am Arbeiten sahen: eine Hierarchie anderen Typs. Das medizinische Personal begriffen sie zunächst über ihre hierarchische Stellung und griffen für dessen Beschreibung auf das naheliegendste Beispiel zurück, das sie kannten: die Organisation Krankenhaus. Dass die Arbeit von LNÄ wie auch von OrgL in dem zitierten Entwurf als „Supervision“ bezeichnet wird, verweist nicht mehr auf die Hierarchie, sondern auf die andere Art des Arbeitens. Ich komme darauf in Abschnitt 3.2 zurück. An dieser Stelle genügt es zu wissen, dass die so bezeichneten Akteure sich gegen den Ausdruck wehrten, so dass es im nächsten Entwurf schließlich hieß, der LNA „leitet und überwacht die medizinischen Maßnahmen. Der LNA koordiniert das ärztliche Personal“. Für den OrgL lautete es entsprechend, er koordiniere das Rettungsdienstpersonal. Die Termini Oberarzt und Oberschwester wurden gestrichen. Die zwischenzeitlichen Funktionsbeschreibungen (Oberarztfunktion/Oberschwesterfunktion) zeigen aber, dass die Einbindung von Rettungsdiensteinheiten über die Funktionsstellen LNÄ und OrgL nicht selbstverständlich ist, sondern ein Verstehen über bereits bekannte Konzepte erst hergestellt wird. Dies muss für die Beteiligten noch nicht problematisch sein. In dem genannten Fall ging die Feuerwehr jedoch noch einen Schritt weiter. Sie überließ die Einsatzabschnittsleitung nicht LNÄ und OrgL, sondern stellte beiden Funktionsträgern eine dritte Führungskraft, nun aber eine der Feuerwehr, an die Seite. Geplant war, dass diese dritte Figur, der Führungsdienst der Feuerwehr, die Kommunikation „nach oben“ (zur Einsatzleitung) besorgen sollte, der OrgL war zuständig für die technische und organisatorische Umsetzung der Einsatzstrukturen im Abschnitt Rettungsdienst (wirkt also eher „nach unten“) und der LNA legte die medizinischorganisatorische Strategie fest. Auf Betreiben der Feuerwehr wurde das Duo also zum Trio erweitert. Es fehlte an hinreichendem Vertrauen, dass die Einbindung des Einsatzabschnitts in die Führungshierarchie über einen OrgL geleistet werden konnte. Mit ihrer Selbsteinbindung provozierte die Feuerwehr jedoch genau das, was sie zu verhindern suchte. Es bestanden nun zwei Parallelhierarchien, die nicht miteinander harmonierten. Selbst die im Vorfeld definierte Aufgabenverteilung unter den drei Kräften verhinderte nicht, dass die dreifach besetzte Abschnittsleitung bei ihrer ersten Erprobung zum Konfliktherd wurde. Ein Einsatzleiter kommentierte die während einer Übung aufgetretenen Spannungen innerhalb des dreiköpfigen Leitungsteams entsprechend wie folgt: Einsatzleiter FW (m, 38, tätig in Agroßstadt): Eine gemeinsame Einsatzleitung ist eigentlich für den Feuerwehrmann schon nicht existent. Da gibt es dann das High-

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landerprinzip, darum hat auch nur einer die gelbe Weste an und wir erproben derzeit neuerdings eine gemeinsame Einsatzleitung in diesem Bereich Rettungsdienst. Und da gab es eben teilweise falsches Eigenverständnis und dann, dass sich Leute nicht an Absprachen... – [Es] Sind bei uns eigentlich keine Absprachen, normalerweise sind es bei uns schlichtweg Befehle. Und mit einer gemeinsamen Einsatzleitung oder Unterabschnittsleitung sind das dann Absprachen und damit kann der Feuerwehrmann nur bedingt umgehen. Und ich muss es noch hinterfragen, aber es hat für echten Frust bei den Kollegen gesorgt.

Ohne die genauen inhaltlichen Gründe der aufgetretenen Konflikte näher zu kennen, ist die dahinterstehende Problemstruktur vom Einsatzleiter klar skizziert. Der Einsatzorganisation Feuerwehr sind kollektive Entscheidungsfindungsprozesse („Absprachen“) zumindest an dieser Stelle fremd. Sie ist ganz auf die Eindeutigkeit (und Selbstbezüglichkeit) eines persönlich gefassten Entschlusses und Befehls eingestellt. Die hier gemeinten Absprachen stellen hierarchielose Kommunikation dar. Da diese horizontal, unter Gleichrangigen, stattfindet, gibt es an dieser Stelle keine befehlsförmige Kommunikation. Aus Sicht der Feuerwehr zieht damit ein fremdes Element in die Hierarchie ein, wodurch diese von Einfachheit auf Komplexität umgestellt wird. „Absprachen“ stellen nichtstandardisierte Entscheidungskommunikation dar. Anders ist dies beim Befehl, dessen Aufbau am Schema: Einheit, Auftrag, Mittel, Ziel, Weg orientiert ist (AFW 1999, S. 36). Der Organisationsplan mag diese Unsicherheit durch seine klare Linienführung noch verbergen. Die Praxis aber zeigt sich widerspenstiger als das formale Konzept. Entscheidungskommunikation ist kein Automatismus, der sich formal festlegen lässt (Luhmann 2000, S. 316f.). Man kann der Feuerwehr nicht ohne weiteres vorschreiben, dass sie eine andere als die gewohnte Form der Entscheidungsfindung befolgen soll. „Absprachen“ sind Vereinbarungen, die eher auf wechselseitiges Vertrauen und Selbstverpflichtung setzen, und weniger auf Befehl und Gehorsam. Viele MANV-Pläne betonen deshalb auch, dass LNÄ und OrgL einander bekannt sein sollten. Um ein gewisses Maß an Vertrauen herzustellen, sollen die örtlichen LNÄ-Gruppen sich z. B. für die OrgL-Gruppe des gleichen Rettungsdienstbezirks öffnen (Crespin 2007, S. 46). Oberstes Ziel müsste es schon hier sein, Gedanken an eine Konkurrenz der beiden Funktionsstellen zu entkräften (Rammstedt 1981, S. 125). Ich komme auf den angesprochenen Konflikt im nächsten Abschnitt zurück, möchte hier jedoch zunächst einen Schritt weitergehen. Auch formal gut durchdachte und interorganisational abgestimmte Einsatzkonzepte, welche die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure regeln sollen, garantieren noch keine effiziente und effektive Kollaboration. Sie können sich in ihrer praktischen Anwendung

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allein schon deswegen als undurchführbar erweisen, weil die Mitglieder einer Organisation sich trotz eindeutiger Anweisung nicht an sie gebunden fühlen. Dieses typische Problem interorganisationaler Führungssysteme wird gemeinhin der unterschiedlichen Kultur der beteiligten Akteure zugeschrieben. Like other systems of command, ICS [= Incident Command System] is not infallible. It has difficulty in integrating many agencies and groups into the command structure and cannot cope effectively with organisations that do not wish to be part of it. […] In the end, the applicability of ICS is a question of cultural context. If the administrative, social and organisational cultures are favourable, it will take root and flourish. If not, then it is inappropriate (Alexander 2008, S. 141f.).

Normalerweise vermutet man nicht, dass es Feuerwehrkräfte sein könnten, die Schwierigkeiten damit haben, sich der autoritären Führungsstruktur am Einsatzort einzufügen und unterzuordnen (Lasogga und Ameln 2010, S. 166). Schließlich ist es die Feuerwehr, die die Leitungspositionen im interorganisationalen Führungskopf bekleidet und ein Denken und Arbeiten im hierarchischen Korsett gewohnt ist. Doch selbst die Feuerwehr erweist sich in bestimmten Fällen ihrer Organisation mehr verpflichtet als der Gesamteinsatzstruktur. Beispielhaft schildert dies ein Rettungsdienstmitarbeiter einer Hilfsorganisation, der bei Großschadenslagen die Funktion eines Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL) bekleiden würde. In seiner Funktion als OrgL ist der Interviewte gegenüber den nichtärztlichen Einsatzkräften der vor Ort befindlichen Rettungsdienste weisungsbefugt. Dies sei unproblematisch, solange es sich bei den Einsatzkräften um solche von Hilfsorganisationen handele. Es erweise sich jedoch dann als schwierig, wenn Rettungsdiensteinheiten angesprochen würden, die durch die Feuerwehr bestellt werden. Diese würden sich oftmals nicht durch Mitarbeiter einer Hilfsorganisation führen lassen – auch wenn dieser im Einsatz deutlich, durch eine beschriftete Weste und gekennzeichneten Helm, als OrgL zu erkennen sei. Um dieses Autoritätsproblem zu lösen, sei schließlich durch die Stadt beschlossen worden, dass jeder OrgL berechtigt sei, eine „blaue Uniform“, eine Feuerwehruniform, zu tragen, auch wenn es sich um einen Mitarbeiter einer Hilfsorganisation handelt, die in der Regel rote-weiße Uniformen trügen. OrgL (m, 43, tätig in Agroßstadt): Weil man eben auch Barrieren im Kopf abbauen wollte. […] Feuerwehrleute funktionieren nach Befehl und Gehorsam und Hierarchie, und wenn da einer kommt, den sie nicht einordnen können, weil er nicht genug Sternchen auf der Schulter hat oder einen roten Balken um den Helm161, dann machen die nichts. Und wenn da jemand kommt, der eine RoteKreuz-Jacke anhat und sagt: „Du musst jetzt da und da hingehen, ich bin der OLRD“, dann kann das sein, das der Feuerwehrmann es macht, weil er nett ist, 161 Rote Streifen am Helm weisen eine Führungskraft aus.

3 Viele Retter: Kooperation zwischen Formalität und Vertrauen

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kann aber auch sein, dass er sagt: „Interessiert mich nicht, weil mein direkter Vorgesetzter hat gesagt, ich soll hier stehen bleiben.“ Und dann funktioniert dieser Einsatz wieder nicht. Also hat man gesagt, wir müssen wirklich auf die kleinste Nenngröße runtergehen; und die kleinste Nenngröße ist: Feuerwehrleute funktionieren nach Feuerwehrtaktik, und wenn da einer in Feuerwehruniform kommt, der laut genug brüllen kann und sagt: „Du bewegst jetzt Deinen Hintern von hier nach da und wenn nicht, dann trete ich Dir rein“, dann funktioniert das. Genau deshalb hat man das [= das Recht Feuerwehruniformen zu tragen, Anm. NE] so gemacht. Man hat gesagt: ihr müsst die ansprechen und erreichen können. Und die müssen das wissen, dass ihr diese Möglichkeiten und Macht habt; und das funktioniert.

Formale Konzepte können sich nicht immer gegen tradierte Gewohnheiten durchsetzen oder anders gesagt: entschiedene haben immer mit unentschiedenen Entscheidungsprämissen, der Organisationskultur, zu rechnen. Um der gültigen Vorgabe in diesem Fall zu ihrem Erfolg zu verhelfen, wurde die auf spezifische Autoritäts- und Herrschaftssymbole geeichte Gehorsamskultur der Feuerwehr ausgetrickst, indem Nichtmitgliedern erlaubt wurde, sich wie Mitglieder zu kleiden. Durch die „blaue Uniform“ werden die OrgL zu jemand anderes und verändern dadurch das Verhalten der Umstehenden (Joseph und Alex 1972, S. 725). Dass man zu diesem Trick griff, zeigt zugleich auch, dass man nicht Willens war, die Gehorsamskultur der Feuerwehr anzutasten. Das auf kultureller Ebene liegende problemerzeugende Muster wurde in diesem Fall nicht zu verändern versucht, da es grundsätzlich nicht als Problem, sondern als funktionales Element der Organisation Feuerwehr verstanden wird. Erwähnt werden muss schließlich, dass sich das geschilderte Autoritätsproblem in vielen Regionen nicht stellt, da häufig ausschließlich die Feuerwehren Organisatorische Leiter stellen. Wenn hier ausschließlich die Feuerwehr die Funktionsstelle des OrgL besetzt, kommt in diesen Regionen auch keine Feuerwehr auf die Idee, dem LNÄ-OrgL-Duo einen zusätzlichen Abschnittsleiter der Feuerwehr anbei zu stellen. Häufig ist hier zudem festgelegt, dass Fahrer der Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF) von Rettungsassistenten der Feuerwehr gestellt werden. Damit ist sichergestellt, dass bei einem größeren Einsatz stets ein Rettungsassistent der Feuerwehr anwesend ist, der bis zum Eintreffen des diensthabenden OrgL die Rolle eines „Interims-OrgL“ stellvertretend ausfüllen kann (Rammstedt 1981, S. 112).162 Derart trägt die Feuerwehr dafür Sorge, dass die Führungsstruktur von Beginn an ausschließlich durch Einsatzkräfte ihrer Organisation besetzt wird. Andernorts, in Bezirken, in denen die organisatorische Herkunft des OrgL und auch des NEF-Fahrers variieren kann, wird die Stellenbesetzung nicht selten zum behördlichen und politischen Zankapfel. Nicht selten versuchen Feuerwehren den 162 Die Notärztin des ersten NEF ist entsprechend zunächst die „Interims-LNÄ“.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

Status quo zu revidieren, Hilfsorganisationen ihn zu verteidigen. Sachargumente finden sich auf beiden Seiten – die einen argumentieren mit der Einheitlichkeit und Effektivität der Führung, die anderen mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung als reine Rettungsorganisation. Unübersehbar zeugt der der bis in politische Ebenen hineinreichende Kampf um die Besetzung des OrgL auch vom Prestige, das sich mit dieser Figur verbindet. Das Recht, eigene OrgL zu stellen, öffnet Türen und gibt der beauftragten Organisation Zugänge und Einblicke in die Gefahrenabwehrbehörden, Leitstellen, LNÄ-Gruppen etc. 3.2

Zwischen Profession und Organisation: die Leitende Notärztin (LNÄ)

Bisher wurden die Kooperationsanforderungen allein aus interorganisationaler Perspektive betrachtet. Die Herausforderung bestand dort darin, Formalstruktur und Kulturen verschiedener Organisationen aufeinander abzustimmen, sodass eine zufriedenstellende Zusammenarbeit gewährleistet werden kann. Diese Anforderung verschärft sich an den Orten, an denen nicht verschiedene Organisationen sich begegnen, sondern eine Profession auf Organisationen trifft. Dieser Sonderfall liegt beim Großeinsatz außergewöhnlich ausgeprägt vor, da hier Ärztinnen aus verschiedenen Organisationen – verschiedenen Krankenhäusern wie eigenen Praxen – als organisationsungebundene, „heimatlose“ Notärztinnen am Einsatzort auftauchen und in die Einsatzstruktur integriert werden sollen. In der Organisationssoziologie ist das Spannungsverhältnis von Organisation und Profession seit langem bekannt, allerdings betreffen die Untersuchungen, die hierzu vorliegen, das Verhältnis von Professionen, die in Organisationen tätig sind: Ärztinnen in Krankenhäusern, Richterinnen in Gerichten, Wissenschaftler in Universitäten etc. (Klatetzki und Tacke 2005, S. 11–22). Im vorliegenden Fall handelt es sich dagegen nicht um ein weiteres Beispiel einer professionellen Organisation, in der die bestehende Organisationsmitgliedschaft der professionellen Akteure immer schon vermittelnd wirkt. Die Notärztinnen am Einsatzort sind der Einsatzleiterin der Feuerwehr zwar rechtlich unterstellt und haben ihren Anweisungen Folge zu leisten, sie sind jedoch nicht der Organisation Feuerwehr, ihren Regeln und Verfahren direkt, qua Mitgliedschaft verpflichtet. Gemeinhin sind Notärztinnen nur bruchstückhaft mit dem internen Regelwerk der Feuerwehr vertraut. Schon im gewöhnlichen Notfalleinsatz treffen die Einsatzkräfte einer Rettungsorganisation auf eine Notärztin, die nicht ihrer Organisation angehört. Das Weisungsverhältnis und die jeweiligen Befugnisse sind auch in diesem Fall rechtlich geregelt und werden täglich befolgt. Wie in → 1.2 dargelegt, erfolgt die professionelle Problembearbeitung selbstbestimmt, die organisationale hingegen eher

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fremdbestimmt. Die Profession arbeitet weniger entlang formaler Regelungen (Konditionalprogramme) und in geringerem Maße auf Anweisung, sie handelt dagegen stärker auf Basis eigener Kompetenzen und orientiert am vorliegenden Einzelfall/Problem. Diese Arbeitsweise tritt mit organisatorischen Erwartungen in Konflikt, wenn diese die professionelle Problembearbeitung mit Vorschriften belasten und technisieren und den Arbeitsmodus in geregelte Bahnen lenken und einschränken wollen. Schwierigkeiten können auch dann entstehen, wenn die Organisation auf Entscheidungen des Professionellen warten muss, um arbeiten zu können. So können Rettungsassistenten, wie oben gesehen (→ 1.2), die professionstypische Sorgsamkeit als Mangel an Entscheidungskraft erleben, durch den sich ein Einsatz unnötig in die Länge ziehe. Beim gewöhnlichen Rettungsdiensteinsatz muss das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal diese Spannung letztlich ertragen, auch wenn schon hier angesichts der Zeitstruktur von Notfällen deutliche Forderungen bestehen, professionelle Arbeit mit Entscheidungsstärke und -schnelligkeit anzureichern. Der gewöhnliche Rettungseinsatz mit Notärztin ist eindeutig auf diese zugeschnitten, die Profession dominiert die rettungsdienstliche Einsatzorganisation, nicht umgekehrt (Scott 1965). Beim Großeinsatz verschiebt sich diese Dominanz nun, da der Administration des Gesamteinsatzes mehr Gewicht zufällt. Dies liegt zum einen daran, dass nun mehr Rettungskräfte einschließlich Notärztinnen als bei einem gewöhnlichen Rettungseinsatz zum Einsatz kommen. Mehr medizinische Rettungskräfte bedeutet hier nicht nur mehr Profession, für die Einsatzführung bedeutet es in erster Linie mehr Regulationsaufwand. Beim Massenanfall von Verletzten (MANV) kommt schließlich, vor allem in der Anfangsphase, erschwerend hinzu, dass trotz einer erhöhten Anzahl medizinischen Personals ein Mangel an medizinischen Ressourcen besteht und deshalb sondiert werden muss, wo zunächst welche Form von Hilfe geleistet werden kann. Diese Form einer die Hilfeleistung optimierenden Rationierung wird als Triage bezeichnet. Ihre Durchführung übersteigt die rein medizinische Kompetenz der Profession und es bedarf organisatorischer Mittel der Klassifikation (→ IV.1.4). Zum anderen kommen bei Großeinsätzen in der Regel sowohl Notärztinnen, Einsatzkräfte der Rettungsdienste als auch solche der Feuerwehren zum Einsatz. Medizinische Aspekte und technische Fragen müssen aufeinander abgestimmt erfolgen. Die gestiegenen Koordinationserfordernisse werden in Deutschland durch OrgL und LNÄ bedient. Um den organisatorischen Anforderungen beim MANV gerecht werden zu können, können sich Notärztinnen zur Leitenden Notärztin (LNÄ) weiterbilden lassen. In dem 40-stündigen Aufbaukurs stehen zwei Lehrelemente im Vordergrund. Im Rahmen der einsatztaktischen Schulung wird die durch die Feuerwehr getragene Organisationsstruktur vermittelt und erklärt, welche

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Funktion, Position und Aufgaben der LNÄ in diesem Zusammenhang zufallen (Bundesärztekammer 2011). Während viele Katastrophenmediziner der ersten Stunde die LNÄ als charismatische, entscheidungsstarke Führerin ersten Ranges verstanden wissen wollten (Burkle 1984, S. 47f.; Rebentisch 2006, S. 17; Ellebrecht 2009, S. 250), zielen aktuelle Empfehlungen zur Gestaltung von LNÄKursen weniger auf eine charakterliche Qualifikation der Teilnehmerinnen und mehr auf ihr Organisationswissen und ein Verständnis organisatorischer Kalküle. Mit der zusätzlichen Qualifikation wird versucht die professionelle Handlungsautonomie der Notärztin einzuhegen und ihre Augen für administrative Erfordernisse jenseits der Krankenbehandlung zu weiten. Seminarelemente zu Sichtungskonzepten und -problemen, zur medizinischen Gesamtversorgung sowie praktische Übungen zur Triage lockern die professionelle Bindung der Notärztin und bringen sie näher an die organisatorische Rationalität heran. Bereits von Notärztinnen wird ein ausgeprägtes Maß an Urteilskraft, Entscheidungsschnelligkeit und dezesionistischer Härte erwartet – charismatische Merkmale, die mit ihrer akademischen Sozialisation und ihrer Sorgfaltspflicht gegenüber ihren Klienten zunächst unvereinbar scheinen. Gegenüber der LNÄ steigert sich diese Anforderung nochmals und es kommen neue hinzu. Als LNÄ ist jede genuin ärztliche Tätigkeit zu unterlassen; sie soll nicht mehr medizinisch eingreifen, sondern ärztlich führen, also von der Interaktions- auf die Organisationsebene wechseln. Dass dieses gelingt und so gesehen von einer erfolgreichen Deprofessionalisierung von Notärztinnen durch ihre Weiterbildung zu LNÄs gesprochen werden kann, zeige ich in → Kapitel V.3.1 am Beispiel der Triage. Andererseits sehen sich selbst erfahrene LNÄ nicht davor gefeit, bei einem Einsatz in ihre Rolle als Therapeutin zurückzufallen: LNA (m, 60, Agroßstadt): [Als LNA] schau ich immer mal ins Fahrzeug [= Rettungswagen, Anm. NE] rein, oder sage den Kollegen: „Guten Tag!“, und werfe natürlich einen Blick – weil es ja sehr oft auch jüngere Kollegen sind – auf die medizinische Versorgung und sage dann: „Versuche es mal von links, oder versuch es mal von rechts“, aber ich versuche es zu vermeiden, dass ich einen Katheder oder Tubus in die Hand nehme […]. Aber manchmal lässt sich das nicht vermeiden und dann werde ich plötzlich wieder zum Notarzt und nicht mehr Leitender Notarzt.

Der hier beschriebene Rückfall vom LNA zum Notarzt treibt auch die Feuerwehren um. Für sie bleibt der LNA eine Figur, die ihren professionellen Grundzug nicht abzuschütteln vermag. Der in Feuerwehrkreisen kursierende Witz, „Schlimmster Fehler bei einem MANV: dem LNA ein Funkgerät in die Hand zu drücken!“, kokettiert mit der akademischen Redseligkeit und Unentschlossenheit der ärztlichen Profession. In letzter Instanz könne dem LNA nicht zugetraut werden, im Einsatz tatsächlich die notwendige Funkdisziplin aufzubringen und sich

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kurz zu fassen. Es bestehe die Gefahr, dass er seine professionelle Geschwätzigkeit nicht zügeln könne und die Einsatzorganisation vor Probleme stelle. Tatsächlich ist der LNA die einzige Führungskraft, die im Einsatz kein eigenes Funkgerät besitzt. Es ist der OrgL, der die Wünsche des LNA in das Kommunikationsnetz übermittelt. Diese Arbeitsteilung wird gemeinhin als Erleichterung des LNA gelesen, sie drückt aber auch das Unbehagen der Feuerwehr vor dem professionellen Wort aus. Die zentrale Schwierigkeit einer LNÄ besteht darin organisatorische („technische“) und medizinische Notwendigkeiten miteinander zu harmonisieren. Als Zwitterwesen, das sowohl administrative wie auch medizinische Fähigkeiten besitzt, und als Grenzfigur zwischen dem Organisatorischen Leiter und der Einsatzleitung auf der einen und den vor Ort befindlichen Notärztinnen auf der anderen Seite, ist es die Aufgabe der LNÄ, Handlungsverlangen und Bedingungen beider Bereiche miteinander in Einklang zu bringen. Dies belegen anschaulich die wiederholten Gespräche zwischen einem LNA, einem OrgL und einem Einsatzabschnittsleiter der Feuerwehr (EA FW) im Laufe einer MANV-Übung, bei der 50 teils schwerverletzte Personen in einer Sporthalle auf ihre Versorgung warteten. Während eine wachsende Anzahl an Notärztinnen sich in den Räumen unter der Halle sammelte und darauf drängte, zu den Verletzten vorgelassen zu werden, sahen OrgL und EA FW in der schmalen Treppe, die vom im Untergeschoss befindlichen Foyer in die Halle hinaufführte, einen gefährlichen Flaschenhals, der für den Verkehr der gesamten Rettungskräfte und den zu transportierenden Patienten zu eng sei. Er schlug dem LNA daher vor, die Verletzten in das Untergeschoss (zu den wartenden Notärztinnen) bringen zu lassen, um sie erst dort ärztlich behandeln und relativ einfach in die wartenden RTWs einladen zu können. Die Umsetzung dieses Plans verzögerte sich aber. Der LNA pendelte während dieser Zeit zwischen der wartenden Notärztinnengruppe im unteren Teil des Gebäudes und dem um den OrgL versammelten Führungsteam, welches sich im oberen Geschoss aufhielt, hin und her. Während die einen ungeduldig warteten und darauf drängten, die Schwerverletzten medizinisch versorgen zu können, verpflichteten die anderen den LNA auf das vereinbarte logistische Prozedere. Der LNA agierte als Mittler: den Notärzten schilderte er das technische Problem und warb um ihre Geduld, dem OrgL zeigte er sich dagegen von seiner ärztlichen Seite und stellte die Entscheidung mit Blick auf die unversorgten Patienten in Frage. Schließlich eskalierte die Situation in einer Diskussion zwischen LNA (der in diesem Moment von zwei Notärzten (NA) begleitet wird, die es sich nicht nehmen ließen, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen), dem OrgL und dem EA FW (→ Abbildung III.6).

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

Abbildung III.6: LNA (gelbe Jacke, ganz rechts) und OrgL (gelbe Jacke, nach vorne gewandt) im Einsatz. Zwei weitere Notärzte (gelb-rote bzw. orange Jacken) sowie der Einsatzleiter (gelbe Weste, nach links abgewandt) stehen daneben. Quelle: Eigene Aufnahme.

LNA: Soll ich die Notärzte nicht hochholen? OrgL: Ok, passt auf, wir haben bis jetzt noch keinen Roten [= Schwerverletzten] unten [= dort halten sie die Notärzte auf]. LNA: Ja, eben darum – ich hole die Notärzte hoch. OrgL: Das heißt, wir fangen jetzt hier zu versorgen… Die Feuerwehrleute bringen jetzt den ersten runter, den ersten Roten, und wir machen hier oben die Versorgung, wir versorgen die hier oben [lediglich] vor. LNA: Also doch? OrgL: So hattest du es vorgeschlagen. LNA: So habe ich es vorhin vorgeschlagen, aber ihr wollt es ja jetzt wieder anders haben. NA: Jetzt macht mal! OrgL: Jetzt: Entscheidung, wie machen wir es? Rote runter, unten versorgen?

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LNA: Ok, dann holen wir die [Notärzte] hoch. OrgL: Unten, unten versorgen! NA: Wir holen jetzt die Roten. OrgL: Wir bringen… Ok, Schluss jetzt, wir machen es so, die Roten runter, unten versorgen, alles was sonst noch an Kapazität da ist, hier hoch, Gelb [= weniger schwer Verletzte] wird hier oben versorgt. Die Roten werden von mir direkt runtergebracht, versorgt, RTW, weg. Die beiden Notärzte wenden sich ab und beginnen mit der Versorgung einer neben ihnen liegenden verletzten Person. Der LNA bleibt neben dem OrgL stehen. […] OrgL zu einer Rettungsassistentin: Ok, ihr habt vorgesichtet, gut, dann geht ihr runter, schnappt euch den ersten Patienten, den ersten Roten und macht euch ab. Siegfried? (Siegfried ist der LNA) Ein Einsatzabschnittsleiter der Feuerwehr (EA FW) tritt hinzu. LNA: Ok, ja, soll ich jetzt noch Notärzte hochschicken, dass die bei der Versorgung hier oben mithelfen? OrgL: Ja, das ist deine Entscheidung. LNA: Ja, ihr habt gesagt, ihr tragt sie alle runter, aber jetzt? OrgL: Wir haben gesagt, jetzt, alle Roten gehen jetzt erst mal runter; [LNA: Gut.] dass wir hier ein bisschen… LNA: Ja, entweder die Roten tragt ihr runter oder ich schicke die Notärzte hoch zum oben versorgen. Wenn es länger dauert, hole ich sie von unten hoch. EA FW: In dem Moment, wo du die Notärzte nach oben schickst, kann ich dir sagen, blockieren die uns den Abweg für die Roten, dann kommt es zu einem Stau. Ich würde kucken, die sollen hier oben nach BMS [= Basic Medical Supply] vorversorgt werden, runter, [ärztlich] versorgen und Abfahrt. LNA: Klingt ja logisch, haben wir jetzt vorhin so ausgemacht, ziehen wir jetzt das auch so durch? EA FW: Kuck einmal auf den Wecker: wir liegen im Moment gut in der Zeit. LNA: Ja. EA FW: Im Moment sind sie alle gesichtet. LNA: Ja, ok, dann sollen die die Roten so schnell wie möglich runterbringen. EA FW: Genau.

In dem Audiomitschnitt wird die Diskussion vom permanenten Stöhnen und Geschrei zahlreicher Verletzter begleitet. Wiederholt wenden sich Betroffene hilfesuchend an die Einsatzkräfte. Vor diesem Hintergrund schien das Nichtstun der vor Ort befindlichen Notärzte derart unpassend, dass selbst der Übungsleiter sich zum Einschreiten gezwungen sah und den LNA dazu drängte, sein Vorgehen zu

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überdenken. Das akute Verlangen, die Verletzten medizinisch zu versorgen, und das planerische Kalkül der Feuerwehr stehen sich in dieser Situation beispielhaft entgegen. Während die Notfallmedizin die Gefahr vom erkrankten Körper her begreift, auf den es unmittelbar lindernd einzuwirken gilt, sieht die Administration die zentrale Gefahr in der logistischen Architektur des Notfalleinsatzes. Beide Gefahren konkurrieren miteinander, wobei das medizinische Handlungsverlangen die Wahrnehmung auf seiner Seite hat, die technische Rationalität hingegen das sachliche Argument. Der LNA findet sich eingeklemmt zwischen therapeutischem Handlungsdrang und einer organisationalen Gefahrenanalyse, die kognitiv, technisch, planend und daher insgesamt abstrakter erscheint. 3.3

Die Polizei beim Massenanfall von Verletzten (MANV)

Unterschiedliche Organisationszwecke generieren unterschiedliche Handlungslogiken, die im Rahmen von interorganisationalen Einsätzen miteinander kollidieren und zu Spannungen führen können. In diesem Kapitel sind die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten und Lösungskonzepte am Beispiel von medizinischer und technischer Rettung untersucht worden. Zum Abschluss möchte ich die Funktion einer weiteren Organisation vorstellen, es aber bei einer kurzen Skizze belassen. Es geht um eine besondere Zuständigkeit der Polizei beim MANV, die in vielen MANV-Konzepten enthalten ist, die den übrigen Organisationen aber Bauchschmerzen bereitet. Als dritte große Gefahrenabwehrorganisation ist die Polizei neben Feuerwehr und Rettungsdienst bei vielen Notfällen ebenfalls zugegen. Sie unterstützt die Rettungsarbeiten insbesondere bei psychiatrischen Notfällen, Gewaltdelikten, Verkehrsunfällen und bei Großschadenslagen. Ihr obliegt es in Fällen, in denen weiterhin eine Gefahr von einem Täter ausgeht, die Einsatzstellen für Rettungskräfte freizugeben. Bei großen Lagen ist dies eine besonders schwierige Aufgabe, da die Einschätzung, eine Einsatzstelle sei sicher, häufig nicht schnell und mit hoher Gewissheit getroffen werden kann. Einsatzstellen werden von der Polizei immer auch als ein junger Tatort betrachtet, der frische Spuren und noch unbefragte Zeugen aufweist. Pläne für Großschadenslagen sind deshalb auch, so beschreibt es ein für die Entwicklung polizeilicher Einsatzkonzepte zuständiger Polizist (m, 50, Bgroßstadt) anders ausgerichtet als die der Feuerwehr und Rettungsdienste. Denen geht es um Menschenrettung und uns geht es darum, die Menschenrettung zu ermöglichen, das ist ganz klar, zum anderen aber auch um den Schutz dieser Örtlichkeit.

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Die polizeiliche Unterstützungs- und Schutzaufgabe umfasst die Verkehrsregelung, die Evakuierung gefährdeter Personen und die Abriegelung der Einsatzstelle, auch um beispielsweise Plünderungen vorzubeugen. Der „Schutz der Örtlichkeit“ dient zudem der Spurensicherung und betrifft den polizeilichen Ermittlungsauftrag. Für die Ermittlungsbehörde Polizei besitzt die Einsatzlage eine ganz andere zeitliche Dimension als für Feuerwehr und Rettungsdienst. Unsere Lage, also diese Anschlagslage, dauert bei uns halt Wochen, Monate, weil die Ermittlung, bis dann die ganzen Spuren ausgewertet sind, bis diese ganzen Sicherungsmaßnahmen dann vorbei sind. Das ist halt schon ein Haufen Arbeit und auch, natürlich, der mediale Druck ist höher [als bei Rettungsdienst und Feuerwehr].

Bei kleineren Einsätzen kann häufig erlebt werden, wie Einsatzkräfte des Rettungsdienstes den Patienten gegen seine polizeiliche Inanspruchnahme abschirmen. Polizisten wird etwa der Zutritt zum im RTW liegenden Patienten verwehrt und die Seitentür mit dem Hinweis geschlossen, zunächst müsse der Zustand medizinisch beurteilt und der Patient behandelt werden.163 Patienten besitzen das Recht, zunächst versorgt und ggf. ins Krankenhaus verbracht zu werden, bevor sie polizeilich befragt werden. Die medizinische Betreuung des Patienten geht seiner Befragung als Zeuge oder Täter voraus. In Großschadenslagen, wenn die Ressourcen knapp sind und nicht jeder Patient sofort in die Obhut des Rettungsdienstes genommen werden kann, übernimmt die Polizei häufig die Aufgabe, körperlich leicht- oder auf den ersten Blick unverletzte Personen zu betreuen. In vielen MANV-Konzepten ist die Polizei eine der Organisationen, die die Aufgabe der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) zufällt. Psychosoziale Notfallhelfer sollen sich um das Wohlergehen der Notfallpatienten kümmern und sie vor weiteren Belastungen, wie sie Befragungen der Polizei darstellen können, schützen (Lasogga und Ameln 2010, S. 166 u. 168). Die Polizei entlastet die Rettungsdienste von einer Aufgabe, der diese aufgrund ihrer Überbeanspruchung ohnehin nicht nachkommen können, bringt sich damit aber auch in einen für sie untypischen Aufgabenbereich ein. Über die medizinische Versorgungslücke und unter dem Deckmantel der Patientenversorgung nimmt sie ihre ermittlungsbezogene Arbeit auf. Ein ÄLRD schildert dies sehr deutlich: ÄLRD (m, 60, Agroßstadt): Die Polizei hat ja mittlerweile ihre eigene PSNV. Die nennt sich zwar Patientenversorgung, aber eigentlich versorgt sie keine Patienten. Die Polizei ist der Meinung: Naja, die winken mal mit der Hand und dann kommt das DRK und stellt Bänke auf und die Malteser machen den warmen Tee und sie

163 Ich beziehe mich auf einen begleiteten Rettungseinsatz im Rahmen eines Verkehrsunfalls. Vgl. auch das Interview mit einem Rettungssanitäter in Saake (2003, S. 439f.).

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter [= die Polizei] vernehmen dann die Leute. Und am besten tun dann die Hilfsorganisationen und die Feuerwehren dann noch Daten erheben und die geben sie dann gleich rüber an die Polizei.

Hinter dem polizeilichen Engagement in der PSNV verbirgt sich ein für den LNA kaum verhohlenes ermittlungsbezogenes Interesse. Zu diesem Interesse gehört auch das Anlegen eines Personenregisters, in das die Daten von Verletzten und Betroffenen abgelegt werden. In vielen Städten übernimmt dies die Polizei. Die Registrierung verläuft in vielen Fällen über Durchschläge der Patientenanhängekarte (PAK), die von den Rettungskräften im Rahmen der Sichtung ausgefüllt wird. Der ÄLRD empört sich in dem Interview nicht nur über die polizeiliche PSNV, sondern auch darüber, dass die Rettungskräfte von der Polizei als Datenerheberinnen begriffen werden. Ein Polizist schildert das Problem hingegen aus verwaltungstechnischer und kriminalistischer Sicht: Polizist (m, 50, Bgroßstadt): Die Polizei erhält am Schadensort ein entsprechendes Durchschlagsblatt […], und genau das ist nämlich auch das Problemfeld: mit Engelszungen wird immer wieder bei allen Hilfsorganisationen und bei der Feuerwehr darum gebeten sauber zu schreiben, und klar und deutlich, vor allem durchdrückend zu schreiben. Das ist nämlich das große Problem, denn sonst können die Kolleginnen und Kollegen nichts lesen, und dann hilft das uns auch nicht weiter. Und Nachermitteln ist bei so einer komplexen Lage überhaupt nicht möglich. Das ist sehr, sehr schwer.

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Zusammenfassung und Ausblick: Vertrauen als Lösung?

In der Gefahrenabwehr wird unterschieden zwischen der technischen Rettung, welche die Feuerwehr übernimmt, und der medizinischen Rettung, mit der maßgeblich der Rettungsdienst betraut ist. Zwischen beiden Organisationen bzw. Modi der Notfallbearbeitung besteht ein grundsätzlicher Konflikt, der sich in einer vielstimmigen gegenseitigen Kritik äußert und einer mangelhaften Zusammenarbeit beider Seiten ausdrückt. Um diesen Sachverhalt soziologisch erklären zu können, wurden zwei Heuristiken in Anschlag gebracht. Zum einen wurde das unterschiedliche organisatorische Selbstverständnis von Feuerwehr und Rettungsdienst im Spiegel gesellschaftlicher Leistungsansprüche analysiert, zum anderen wurde der professionale Rettungsmodus, für den die Notärztin steht, von der organisierten Rettungsarbeit unterschieden. Rettungsdienste werden primär als medizinische Organisation begriffen, die für medizinische Notfälle zuständig sind. Dies deckt sich mit ihrem Selbstverständnis. Faktisch übernehmen Rettungsdienste jedoch noch eine Reihe von Aufgaben, die eher sozialarbeiterischen Charakter besitzen. Obgleich derartige Hilfs-

4 Zusammenfassung und Ausblick: Vertrauen als Lösung?

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einsätze aus Sicht der Organisation nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, da sie rettungsmedizinisch betrachtet unnötig sind, gehören sie seit jeher zum Arbeitsalltag von Rettungsdienstmitarbeitern dazu. Feuerwehren erinnern daran, dass die Arbeit von Rettungsdiensten häufig helfender Natur ist und grenzen ihre eigene Tätigkeit bewusst dagegen ab. Die Motivation des Feuerwehrmannes entspringe primär seinem Interesse an Technik, an Kameradschaft und an einem abwechslungsreichen Beruf und weniger dem Wunsch zu helfen. Wie auch für andere staatliche Institutionen typisch, steht die Feuerwehr bzw. die Branddirektion den Wertcodierungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder distanziert gegenüber und betont demgegenüber den eigenen Auftrag und die eigene Sachrationalität. Feuerwehren distanzieren sich nicht nur von ökonomischen, sondern auch von politischen Interessen, obgleich sie als Einrichtungen des politischen Systems gelten. Sicherheit besitzt für sie keinen politischen oder ökonomischen Wert, sondern stellt eine planbare technische Größe (safety) dar. Im urbanen Sicherheitsnetz besitzt die Feuerwehr eine dominante Position. Mit Feuerwehr und notärztlicher Profession treten sich zwei Modi der Notfallbearbeitung gegenüber. Während die medizinische Profession im Notfall eng an den situativen Kontext gebunden ist und sich der perakuten Erkrankung eines Patienten widmet, den es für das medizinische System anschlussfähig zu halten gilt, operiert die Feuerwehr von einem strategischen Zentrum (Einsatzleiter/Einsatzstab) aus. In diesem im Kern der Organisation ausdifferenzierten Subsystem wird ein Lagebild entworfen und der Rettungseinsatz geplant. Der strategische Kern der Feuerwehr ist im Einsatz von den unmittelbaren Einsatzbedingungen abgeschirmt und verfügt über geringen, idealerweise keinen operativen Kontakt zur Umwelt. Umgekehrt sind die operativen Einsatzkräfte am Rande der Organisation von Vorgehensfragen und planerischen Entscheidungen entlastet. Diese schematische, innerorganisationale Trennung in Hand- und Kopfarbeit überbrückt die Organisation mithilfe einer hierarchischen Führungsstruktur, einer für zivile Organisationen erstaunlich rigiden Gehorsamskultur und klaren Bewegungs-, Positionierungs- und Verhaltensvorgaben. Doch Feuerwehren sind nicht nur eine mechanische Organisation; vor allem pflegen sie ein idealisiertes Selbstbild der eigenen Organisation als rationale Maschine, die im Inneren einem präzisen Uhrwerk gleicht, und ihre äußere, natürliche Umwelt im Einsatz zu dominieren versucht, indem sie sie technisch bearbeitet und anpasst. Diesem Selbstbild entsprechend gilt die initiale Aufmerksamkeit zu Beginn eines Einsatzes zunächst der organisationalen Selbstfindung und Härtung. Nach dieser „Chaosphase“ entspricht die Organisation ihrem formalisierten Bilde und kann sich der Umweltbearbeitung widmen. Die organisationale Selbsttriviali-

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

sierung und Disziplinierung ist deswegen funktional, weil sie die hohe Irritierbarkeit der eigenen Organisation in einem dynamischen Umfeld abdunkelt. Andererseits birgt dieses vereinfachte Selbstbild die Gefahr, gegenüber Störungen, die an den Rändern der Organisation aufscheinen, unempfindlich zu bleiben. Es lassen sich daher durchaus Bemühungen erkennen, den Autonomiegrad der operativen Einheiten an der Grenze der Organisation zu stärken. Dieser sich in den letzten Jahrzehnten verstärkende Entwicklungsprozess will aber nicht als substanzieller Gesinnungswandel verstanden werden. Es ist auch schwer abschätzbar, in welchem Maße solch ein Wandel bereits auf die Einsatzpraxis durchgegriffen hat. Für die Feuerwehr ist technische Rationalität das Maß aller Dinge – sowohl im Rahmen ihrer vorsorgenden und vorbereitenden Tätigkeiten als auch im Einsatz. Anders als die strategische Entscheidungsarbeit im Zentrum der Feuerwehrorganisation, findet der notärztliche Entscheidungsprozess beim reinen Rettungsdiensteinsatz in unmittelbarer Ansehung der Situation und des Notfallpatienten statt. Zwischen Profession und Patient finden sich nur wenige organisationale Elemente, die beide voneinander distanzieren/entfremden. Die Kommunikation ist im Wesentlichen an der Anwesenheit der beteiligten Personen ausgerichtet und medizinisch orientiert. Es ist zwar durchaus möglich, dass die Notärztin bei einem Einsatz im Hintergrund bleibt und die Tätigkeit des zusätzlich anwesenden nichtärztlichen Rettungsdienstpersonals anleitet, überwacht und nur bei Bedarf interveniert, doch von einer abgeschlossenen Subsystembildung kann in diesem Fall nicht gesprochen werden. Zu eng sind Kommunikation und Handeln zwischen Profession und Assistenten aufeinander abgestimmt, als dass es der Bildung eigenständiger Systemeinheiten genügt. Ob medizinische oder formale Bedeutungsgehalte in der Kommunikation anwesender Rettungskräfte überwiegen, entscheidet sich grundsätzlich erst in der jeweiligen Situation. Tendenziell werden formal-hierarchische Bedeutungsmöglichkeiten weniger stark akzentuiert, wenn sich das nichtärztliche Personal aus Rettungskräften von Hilfsorganisationen rekrutiert. Diese stehen einem professionellen und medizinischen Selbstverständnis näher. Feuerwehrnahes Rettungsdienstpersonal dagegen sieht die Interaktion mit Notärztinnen eher hierarchisch und orientiert sich stärker an formalen Vorgaben. Beim notfallmedizinischen Einsatz radikalisiert sich der medizinische Zugriff auf den Patienten. Ähnlich wie die Chirurgin während einer OP (Hirschauer 1991), ist die Notärztin vor allem am Körper des Notfallpatienten interessiert, nicht an dessen Person. Dies ist am offensichtlichsten, wenn der Einsatz einem bewusstlosen Patienten gilt. In diesem Fall „betreut“ die Notärztin nicht den medizinischen Code in der Interaktion mit dem Patienten, sondern bearbeitet dessen Körper nach den Regeln medizinischer Kunst. Sie tut dies, wie gesellschaftlich unterstellt und rechtlich gefordert wird: im Sinne des Körpereigentümers.

4 Zusammenfassung und Ausblick: Vertrauen als Lösung?

227

Medizinisch betrachtet ist die primäre Aufgabe der Notärztin, den Notfallpatienten für das medizinische System anschlussfähig zu halten. In diesem Sinne stellt sich an jedem Einsatzort erneut die zentrale Frage, ob der Patient möglichst schnell in ein Krankenhaus verbracht (load and go-Devise) oder ob und wie weit der Patient zunächst vor Ort behandeln werden sollte (stay and play-Devise). Da sich diese Entscheidung kaum formalisieren lässt, obliegt sie letztlich der Notärztin. Spitzt man die Analyse auf einen Vergleich zwischen Notärztin und Einsatzleiter Feuerwehr zu, so ist festzustellen, dass beide Rollen über hohe Entscheidungsgewalt verfügen. Jenseits formaler Vorgaben sind sie es, die in ambivalenten und risikobehafteten Situationen mit der Aufgabe betraut sind, Entscheidungen zu kommunizieren und eine Richtung vorzugeben. Während beide derart die Funktion der Unsicherheitsabsorption erfüllen, ist ihr Umweltbezug doch gänzlich unterschiedlich geartet. Der Einsatzleiter ist in ein organisatorisches Arrangement eingebettet, das ihn von der Organisationsumwelt fernhält. Sie ist ihm nur als „Lage“ bekannt. Seine Entscheidungen instruieren verschiedene Stellen und Subsysteme in der internen Umwelt seiner Organisationen; erst diese wenden sich dann der technischen Bearbeitung der externen Umwelt, der „Gefahrenquelle“ zu. Kontakte zur sozialen Umwelt bestehen auch an der Grenze der Organisation kaum. Als Schnittstelle zu anderen, für den Einsatz wichtigen Organisationen dient dem Einsatzleiter der Einsatzstab und dort eingebundene „Verbindungspersonen“. Im Gegensatz zum Einsatzleiter der Feuerwehr erheben Notärztinnen die für ihre Entscheidungen wesentlichen Informationen häufig selbst. Nicht nur die Diagnose erfolgt unter Ansehung des Patienten, Notärztinnen beteiligen sich auch an dessen Behandlung. Sie helfen also die Entscheidung in die Praxis zu überführen. Eine operative Distanz zur Umwelt ist nicht zwingend; in der Regel entscheidet die Notärztin selbst, wieweit sie selbst tätig wird und eingreift. Hinzu kommt, dass sich die medizinisch relevante Umwelt im Notfalleinsatz auf die Gegenwart der Krankheit reduziert. Von Bedeutung ist der Körper des Patienten und ggf. weitere Information von Angehörigen oder aus Arztbriefen, die eine Diagnose erleichtern. Damit ist die Notärztin zwar ebenso wie die Feuerwehr mit der Erkundung und Bearbeitung der natürlichen Umwelt befasst, im Unterschied zur Feuerwehr blendet sie die soziale Umwelt an der Einsatzstelle aber nicht rigoros aus. Hinzu kommt, dass die Notärztin abseits des Notfalleinsatzes (z. B. während ihrer Arbeit im Krankenhaus) in regen Kontakt mit Patienten steht, die Feuerwehr hingegen kaserniert und damit weitgehend von der übrigen Gesellschaft abgekoppelt operiert.

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III Kooperation professioneller und organisierter Retter

MANV-Pläne und andere gemeinsam entwickelte Konzepte sollen die interorganisationale Kollaboration im Sinne eines möglichst optimalen Rettungsprozesses steuern. Die Koordination medizinischer und administrativ-planerischer Aspekte stellt hierbei eine zentrale Schwierigkeit dar, die vorwiegend durch zwei Sonderbeauftragte beseitigt werden soll, der Leitenden Notärztin (LNÄ) und dem OrgL. Als aneinander gebundenes Führungsduo vermitteln sie zwischen beiden Modi der Notfallbearbeitung und sind wesentlich mit der heiklen Aufgabe betraut, akute Bedürfnisse und planerische Aspekte aufeinander abzustimmen. Die verabschiedeten Konzepte legen Zuständigkeiten und Aufgabenprofile fest, geben aber keine konkreten Lösungen vor. Die Pläne beschreiben lediglich die Arena, in der solche im Einsatz gefasst werden können. Ggf. können sie die situative Entwicklung von Lösungen vereinfachen/erleichtern, aber auch verkomplizieren/erschweren – wie es anscheinend dann der Fall ist, wenn das Duo um eine zusätzliche Feuerwehrführungskraft erweitert wird (→ 3.1). Vieles scheint schließlich davon abzuhängen, wie bekannt sich die jeweiligen Entscheidungsträger sind. Wenige Interviewpartner ließen die positive Bedeutung persönlicher Bekanntheit unbetont. So werden gemeinsame Seminare, Lehrgänge, Ausflüge zu Gefahrenorten und Übungen nicht nur des Lernens wegen geschätzt – sondern vor allem deswegen, weil sich Führungskräfte der unterschiedlichen Organisationen kennenlernen und Vertrauen aufbauen können, das dann in Einsätzen genutzt werden kann. Insbesondere die Entwicklung gemeinsamer Einsatzkonzepte kann nicht nur als Prozess begriffen werden, an dessen Ende ein Plan verabschiedet wird, die gemeinsame Entwicklung ist auch als Zusammenkunft zu verstehen, die die Chance zum Aufbau interorganisationalen Vertrauens beinhaltet (aber auch das Risiko ihres Verlusts) (Vlaar 2006, S. 214f.). Dabei geht es weniger darum, in den Good Will oder die Integrität der anderen zu vertrauen, sondern um das Wissen der jeweiligen Kompetenz des anderen (Eberl 2012). Organisationales Vertrauen baut sich nicht dadurch auf, andere Mitglieder als Person, mit all ihren charakterlichen Schwächen und Vorzügen, zu kennen und „nehmen zu lernen“. Solange die Einsatzleitung von der Kompetenz und der Leistung der LNÄ überzeugt ist, wird sie ihr schlechtes Verhalten verzeihen (Jäger und Coffin 2014, S. 223f.). Sympathien und Abneigungen mögen die Bindungskräfte im Netz der Organisationen beeinflussen, für den Auf- oder Abbau von Vertrauen sind sie nicht zwingend. Eine letzte Interviewstelle verdeutlicht dies eindrücklich. ÄLRD (m, 60, Agroßstadt): Ich kenne fast alle Führungsdienste der Feuerwehr. Die wissen, mit mir können sie kein Schlittenfahren, ich versuche auch nicht mit denen Schlitten zu fahren; aber sie versuchen es auch bei mir nicht. Sie haben es immer Mal versucht und dann hat es eine blutige Nase gegeben und beim zweiten Mal haben es sie sich überlegt und gedacht: „Nee, nicht schon wieder eines auf die Nase.“ […] Es macht was aus, wenn Sie die Leute kennen. […] Das ist einfach

4 Zusammenfassung und Ausblick: Vertrauen als Lösung?

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eine andere Vertrauensbasis: die sehen, wie sie arbeiten, die sehen, dass sie sich kümmern, dann gibt es wenig Diskussionen. Die versuchen es halt, das ist klar, jeder testet immer Mal so, bis wie weit kann ich gehen, kann ich ihn vorführen, ist er noch jung, hat er noch wenig Erfahrung und dann macht man das [Vorführen] gerne. Aber das muss ich sagen, das ist eine reine Erfahrungssache und Zusammenarbeitssache.

Der LNA pflegt keinen emphatischen Vertrauensbegriff. Er reduziert Vertrauen auf die Erfahrung und Kompetenz einer Person. Es geht hier weniger um alltagsweltliche Vertrautheit (familiarity im Sinne von Luhmann 1988a) als vielmehr um ein Vertrauen (trust), auf das man sich bewusst einlässt und dessen Enttäuschungsrisiko der Vertrauende trägt (Apelt 1999, S. 11–16). Vertrauen ist in Organisationen eine Entscheidungsfrage, die für den Vertrauenden mit einem Risiko belastet ist. Wird es enttäuscht, erzeugt dies Folgekosten. Ist Vertrauen verloren gegangen, wird es zukünftig durch Kontrolle ersetzt und findet zunächst wenig Gelegenheit, wieder aufgebaut zu werden. Zugleich verweist die Interviewstelle auf die Schwierigkeit, Vertrauen dort aufzubauen, wo Macht im Spiel ist. Als „volldominante“ Organisation – so wurde die Feuerwehr durch einen anderen LNA bezeichnet – erschwert die Feuerwehr den Aufbau von Vertrauen. Durch ihre zentrale Position im städtischen Notfallnetz generiert sie Misstrauen bei Hilfsorganisationen und selbst unter Leitenden Notärztinnen. Zusammenarbeit zwischen den Organisationen und Akteuren kann Vertrauen auf- und Misstrauen abbauen, sie kann Misstrauen aber auch bestätigen.

IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung Das folgende Kapitel untersucht ein medizinisches Selektionsverfahren zu, das als Triage in die Geschichte eingegangen ist. Mit der Triage wird notfallmedizinische Rettung rationiert, zwischen schwerverletzten Patienten diskriminiert und die Rettungskräfte zum Therapieverzicht aufgefordert. Mehrere, plötzlich extreme Schmerzen erleidende oder jäh in Lebensgefahr schwebende Notfallpatienten, die als Einzelne üblicherweise absoluten Behandlungsvorrang gegenüber anderweitig Kranken genießen würden, konkurrieren nun miteinander um die zur Verfügung stehenden medizinischen Ressourcen. Damit entsteht eine Situation, die eine wahlweise Bevorzugung und folglich auch eine bewusste Benachteiligung provoziert. Dies ist für alle medizinischen Akteure auch deshalb sehr problematisch, weil es, anders als in anderen Bereichen des Gesundheitswesens, zum Anspruch und Selbstbild der Notfallmedizin gehört, im Notfall keinerlei Leistungsabstufung vorzunehmen (Kreß 2013, S. 23f.). Die Triage, ein durch und durch administratives Verfahren, steht quer zum medizinischen Aktualitätsbezug, der in der Notfallmedizin als Behandlungsdringlichkeit besonders deutlich hervortritt. Der Zwang zur organisierten Patientenselektion, zur Bestimmung von Dringlichkeiten und ihrer Hierarchisierung, verzögert das therapeutische Verfahren, um das es eigentlich geht. Obwohl das Ziel der Triage die Festlegung medizinischer Behandlungsprioritäten ist, ist sie selbst ein im Kern medizinfremdes Verfahren. Die Triage steht in Theorie wie Praxis vor mehreren Schwierigkeiten, die in diesem Kapitel behandelt werden. Ein erstes Problem gibt sich bereits in der notfallmedizinischen Sprachregelung in Deutschland zu erkennen, die den Leistungsverzicht im Notfall auf begrifflicher Ebene auslöscht. Während der Begriff Triage (von frz. tri: (aus-)sortieren) das allokative Vorgehen sehr genau als einen leistungsrationierenden Zuteilungsprozess charakterisiert und sich weltweit für die Patientenselektion und die Behandlungspriorisierung in Notfällen und Katastrophen durchgesetzt hat, hat sich in der deutschsprachigen Notfallmedizin der den Geschehensablauf verkürzende und bagatellisierende Fachterminus „Sichtung“ eingebürgert (Brech 2008, S. 67–69). Zwar finden sich auch sprachgeschichtliche Wurzeln des Begriffs, doch im Grunde spiegelt die gegen den gewohnten Gebrauch eingeführte offizielle Bezeichnung als „Sichtung“ den Unwillen wider, die grundsätzliche Möglichkeit tödlicher Rationierungsfolgen im Rettungsdienst anzuerkennen (→ 3.3). Was nicht sein soll (Selektion im Notfall mit Todesfolge), soll nicht als solches bezeichnet werden. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0_5

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Die Sprachregelung etabliert ein Tabu. Die notfallmedizinische Sichtung komme, so heißt es in Abgrenzung zur Triage, die ihren legitimen Platz allein in außergewöhnlichen Katastrophen und Kriegen habe, ohne letalen Behandlungsverzicht aus. Mit dieser Aussage wird unterstellt, dass lebensrettende medizinische Interventionen im Notfall niemals selektiv enttäuscht werden müssen. Der tödliche Behandlungsaufschub oder -verzicht widerstrebt dem Selbstverständnis der Notfallmedizin als kompetente und verlässliche Hilfe. Er ist in dieses Selbstbild nur mit zusätzlichem Erklärungsaufwand einzubetten. Wie das ganze System der Krankenbehandlung, so steht auch und gerade die Notfallmedizin vor der rein medizinisch gesehen unlösbaren Aufgabe, ihre steigenden, aber stets begrenzt bleibenden Leistungsmöglichkeiten verteilen und legitime Leistungsansprüche manchmal bitter enttäuschen zu müssen. Sie allein kann dieses Herausforderung nicht lösen, denn Rationierung und Triage sind kein medizinisch heilbares, sondern ein gesellschaftlich zu behandelndes Problem. In diesem Sinne ist dieses Kapitel als soziologischer Fachbeitrag zu verstehen, der seinen Teil zur Problembearbeitung beitragen möchte, indem er das Verfahren und seine gesellschaftliche Bedeutung (→ 1), seine organisationale Programmatik (→ 2) und seinen praktischen Vollzug (→ 3) hin beobachtet. Zusammen mit einer kurzen historischen Herleitung wird im ersten Teil erörtert, warum die Geburt der Triage nicht zufällig in den Umkreis der modernen Völkerschlachten fällt, in dem der Heeressanitätsdienst vor die bedrückende wie ihn gleichermaßen erdrückende Aufgabe gestellt wurde, hunderte verwunderter Bürgersoldaten zu versorgen (→ 1.1). Dabei wird deutlich, dass und warum die Rationierung medizinischer Ressourcen in Konflikt mit dem Gleichheitsideal moderner Gesellschaften gerät (→ 1.2) und wie es der Triage, begriffen als ein organisatorisches Selektionsprogramm, gelingt, dem modernen Gleichbehandlungsgrundsatz zu entsprechen, obschon sie ihn temporär suspendiert (→ 1.3 und → 1.4). Im zweiten Teil widme ich mich der Formalisierung und organisatorischen Einbettung von Triagekonzepten. Dafür wird zunächst dargelegt, inwiefern sich diese als Entscheidungsprogramme verstehen lassen. Danach wird anhand zweier Triageverfahren die ihnen inhärente Problematik erörtert. Als möglichst schnell und einfach zu handhabende Notfallinstrumente ertragen diese Sortiertools nur eine begrenzte Komplexität und leiden deswegen notorisch an mangelnder diagnostischer Tiefenschärfe (→ 2.1). Im Anschluss rücken dann die Triagisten selbst in den Fokus. Mit dem Personal der Triage stellt sich die Frage, inwiefern es einen Unterschied macht, wer triagiert: ob Notärztinnen, Rettungsassistenten oder Feuerwehrleute entscheiden (→ 2.2). Im dritten Teil geht es um die todbringenden Konsequenzen, für die die Triage heute fast schon synonym steht. Nach einer allgemeinen Einführung in Logik und Tragik „ethisch bitterer Entscheidungen“, die mit der Unausweichlichkeit

1 Triage und Gleichheit: gesellschaftliche Inklusion und organisierte Ungleichheit

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tödlicher Konsequenzen konfrontiert sind (→ 3.1), zeichne ich kurz die Argumentationslinien und den historischen Kontext der Triagediskussion der 1980er Jahre nach (→ 3.2). Dies führt hin zum nächsten Abschnitt, in welchem am Beispiel verschiedener Triagealgorithmen die Schwierigkeit vorgeführt wird, Todesurteile zu formalisieren. Beobachtbar ist denn eher auch eine begriffliche Kaschierung, konzeptionelle Verdrängung und letztlich eine Repersonalisierung letaler Entscheidungsprämissen (→ 3.3). Der nachfolgende Abschnitt zeigt, dass die Frage, wer sterben gelassen wird, nicht nur formale Konzepte herausfordert, sie verträgt sich auch nicht mit dem therapeutischen, um jedes Leben kämpfenden Handlungsauftrag der Notärztin. Ihre Umschulung zur Leitenden Notärztin zielt vor allem darauf ab, ihr medizinisches Heilinteresse hinter organisatorische Rationalitätserwägungen (wie die Triage) zurücktreten zu lassen (→ 3.4). Vor dem Hintergrund der vorgelegten Analysen wird abschließend gefragt, ob die skizzierten Probleme ein bewusstes Offenhalten der Entscheidung, wem geholfen wird und wem nicht, rechtfertigen. Angesichts der Intransparenz und Willkürgefahren von Notfalleinsätzen im Allgemeinen und Triagesituationen im Besonderen optiere ich für ihre kontinuierliche Beobachtung durch Dritte (→ 4).

1

Triage und Gleichheit: gesellschaftliche Inklusion und organisierte Ungleichheit

1.1

Die Geburt der Triage: Heeressanitätswesen und Bürgerarmee

Als Geburtsstunde der Triage gilt gemeinhin die Zeit der Napoleonischen Kriege (1792–1815).164 In diesen etablierte der von Napoleon 1812 zum Chefchirurg der französischen Armee ernannte Baron und Militärarzt Dominique Jean Larrey (1766–1842) ein Verfahren, das vorsah, diejenigen Verletzten vordringlich zu behandeln, die ohne medizinische Behandlung innerhalb der nächsten Stunden versterben würden. Larrey schreibt in seinen Chroniken dazu: I shall dispense with observations on those who were wounded at Jena: I shall merely state what was reported to me, that the most serious wounds could not be dressed until some time after the battle, either because the divisions of ambulance 164 Von einer groben selektiven Verletztenversorgung berichtet erstmals 1565 Leonhart Fronsperger. In seinen Aufzeichnungen heißt es, dass in der Heeres-Sanitäts-Verfassung Kaiser Maximilians (1493–1513) verfügt gewesen sei, verletzte, aber überlebensfähige Krieger vom Schlachtfeld zu bergen und zu behandeln (Fronsperger 1565, S. LXXVIII). Hier wird zwar zwischen überlebensfähigen und todgeweihten Verletzten unterschieden, unter ersteren wird aber nicht weiter differenziert, womit keine echte Triage vorliegt.

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung were at too great a distance or because the soldiers who were slightly wounded, and were able to walk, had entirely occupied the attention of the surgeons during the first day. The best plan that can be adopted in such emergencies, to prevent the evil consequences of leaving the soldiers who are severely wounded without assistance, is to place the ambulances as near as possible to the line of battle,* (* = The flying ambulance alone has the advantage of being able to follow the rapid movement of armies.) and to establish head-quarters, to which all the wounded, who require delicate operations, shall be collected to be operated on by the surgeon general, or by expert surgeons under his inspection. Those who are dangerously wounded should receive the first attention, without regard to rank or distinction. They who are injured in a less degree may wait until their brethren in arms, who are badly mutilated, have been operated on and dressed, otherwise the latter would not survive many hours; rarely, until the succeeding day. Besides, with a slight wound, it is easy to repair to the hospital of the first or second line, especially the officers, who generally have the means of transportation: finally, life is not endangered by such wounds (Larrey 1814. S. 122f.).

Der vielzitierte, selten aber in voller Länge wiedergegebene Textauszug, auf den ich in diesem Kapitel wiederholt Bezug nehme, verweist auf das prinzipielle Muster eines Verfahrens, das später als Triage bekannt wurde. Angesichts unzureichender medizinischer Ressourcen – im engeren Sinne sind darunter medizinisches Personal, Instrumente und Arzneien, im weiteren Sinne insbesondere Transportmöglichkeiten, die weitere Versorgungsressourcen erschließen, zu begreifen – müssen Patienten entsprechend ihrer Behandlungsdringlichkeit unterschieden werden. Der Versorgungsengpass führt zur Priorisierung nach Dringlichkeit. Die Sortierung von Patienten nach ihrer Behandlungsdringlichkeit verfügt in ihrer einfachsten Variante über drei Klassifikationsstufen. Neben Verletzten, die dann überleben können, wenn sie bevorzugt behandelt werden, stehen auf der einen Seite solche Verletzte, die auf eine Behandlung noch warten können ohne zu versterben, auf der anderen Seite finden sich moribunde Verletzte. Die Frage, inwieweit das Versterben von Letzteren noch abwendbar wäre, kommt erst später auf (→ 4.3). Über dieses Konzept hinaus beinhaltet Larreys Beschreibung eine detaillierte Anweisung, wie die Krankenbehandlung am Rande einer militärischen Schlacht organisiert werden soll. Um die untragbaren Konsequenzen einer zu späten Behandlung zu beheben, schlägt Larrey vor, den Sanitätsdienst zu reorganisieren. Er sah vor, die von ihm weiterentwickelten fliegenden Ambulanzen (frz. ambulance volante), bei denen es sich um kleine (Pferde)Karren handelte, auf denen Verwundete transportiert werden konnten (Hesse 1956, S. 9f.), näher an die Frontlinien heranzuführen, um Schwerverletzte möglichst rasch, noch während des Kampfes, abtransportieren und sie zügig ins ebenfalls mobile „fliegende Feldlazarett“ überweisen zu können. Der Wehrmediziner Ernst Rebentisch (2000, S. 32) sieht in

1 Triage und Gleichheit: gesellschaftliche Inklusion und organisierte Ungleichheit

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dieser infrastrukturellen Entwicklung ein zentrales Element, das die Sanitätsorganisation grundsätzlich veränderte. Allerdings versteht er – in Anlehnung an Larreys eigene Anmerkung, die oben (*) mitzitiert wurde – die fliegenden Ambulanzen vor allem als Transportmittel, mit dem auf die raumgreifenden und schnellen Feldzüge der grande armée reagiert wurde. Die sanitätsdienstliche Flexibilisierung ermöglichte es erstmals, an verwundeten Soldaten noch während der Schlacht, nicht erst danach, notwendige Amputationen und andere Operationen durchzuführen. Dies besaß den Vorteil, beim erneuten Aufbruch der französischen Revolutionsarmee viele Schwerverwundete bereits behandelt zu haben, die ansonsten noch nicht vital stabilisiert und deswegen noch nicht transportfähig gewesen wären. Mit den mobilitätsfördernden Maßnahmen trat der Sanitätsdienst näher an das blutige Geschehen heran und vermied nach der Schlacht vom mobilen Heereszug abgehängt zu werden oder die Überlebenschancen der noch unbehandelten Schwerverletzten zusätzlich zu strapazieren, indem man sie unversorgt mit auf Kriegsreise nahm. Die militärstrategischen Zwänge, die Larrey wie Rebentisch als Gründe für eine Veränderung der Heeressanitätsstruktur anführen, dürfen weitere Motive für eine beschleunigte Verletztenversorgung nicht vergessen lassen. Neben seiner Sorge, den Anschluss an die Armee und das Schlachtfeld zu verlieren, ist festzustellen, dass Zeit in Larreys Denken zu einem zentralen medizinischen Faktor, zu einer knappen Ressource wurde. Was durch Larreys Organisationsvorschlag durchscheint und an anderer Stelle von ihm explizit gemacht wird (Larrey 1812, S. 57f.), sind die ersten Grundzüge notfallmedizinischen Wissens, das zu dieser Zeit zwar noch auf die chirurgische Praxis beschränkt und noch keinen Anschluss an die klinische Forschung gefunden hatte,165 aber, wie Nurok betont, die Idee dringlichen Behandlungsbedarfs bereits auf drei Ebenen skizziert: Firstly, there was the question of providing medical treatment to the wounded as quickly as possible. Secondly, there was the question of the expediency of the surgical act, with Larrey being able to amputate unsalvageable limbs in a matter of seconds. Thirdly, there was a notion of pathological time – time to infection, with Larrey’s insistence on early treatment as prevention (Nurok 2003, S. 570f.; ferner: Nurok 2014a).

Dass Rebentisch dieser historisch neue Zeitbezug nicht ins Auge gefallen ist, mag daran liegen, dass die Dringlichkeit der medizinischen Therapie heute und 165 Zur allgemeinen Genese klinischen Wissens vgl. Foucault (1973). Dass die Bedeutung der Zeit nicht nur auf dem Schlachtfeld Beachtung findet, sondern auch die moderne Klinikverändert, darauf habe ich in → III.1.1 hingewiesen. Für eine übersichtliche historisch-soziologische Darstellung zur Beziehung von Chirurgie und universitärer Medizin, mithin von praktischer und theoretischer Medizin und zur Bedeutung für die ärztliche Profession vgl. Lachmund (1997, S. 194– 220).

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

besonders für einen der bekanntesten Wehrmediziner des 20. Jahrhunderts, eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit darstellt. Diese verdeckt ihre historischere Besonderheit. Fasst man die vorhergehende Überlegung nochmals zusammen, so lassen sich die medizintechnischen und organisatorischen Innovationen im Heeressanitätswesen als ein neues medizinisches Angebot verstehen, das noch durch weitere Fortschritte auf dem Gebiet der Chirurgie, vor allem im Bereich der Amputation, von Larrey ergänzt wird. All diese durch Larrey vorangetriebenen Entwicklungen begründeten den Ruhm des Barons, doch sie sind nur zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich, dass sich die Wehrmedizin nun mit einer Situation knapper Ressourcen arrangieren musste. Neben der erhöhten Leistungsfähigkeit ist es vor allem die hohe Nachfrage, die die Triage auf den Plan ruft. Wo sonst, wenn nicht im Kriege, finden sich derart viele Verwundete, die nach medizinischer Hilfe verlangen? Doch warum dann erst jetzt eine Triage, wo doch schon jeder vorherige Krieg mit einer hohen Zahl Schwerverletzter aufwarten konnte? Wieso findet sich so gut wie kein früherer historischer Beleg166 einer selektiven Verwundetenversorgung? Larrey weist in seiner Schrift auf eine für die moderne Triage charakteristische, aber kaum beachtete Prämisse hin, die der skizzierten Prozedur historisch zu Grunde liegt. Die moderne Triage basiert auf einem Gleichheitsgrundsatz, der es verbietet, einem Soldaten einen anderen Soldaten ‚willkürlich‘ vorzuziehen. Denn weder gesellschaftliche Stellung noch militärischer Rang dürfen dem Arzt nach Larrey als Erkennungsmerkmal dienen, welchen Soldaten er sich zuerst zuwenden soll. Vor der ersten Behandlung muss eine Besichtigung aller Verwundeten erfolgen. Die geforderte Indifferenz bzw. der radikale Egalitarismus zu Beginn der Triage ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn das Sortierverfahren schafft schnell Abhilfe, genau das ist seine Aufgabe. Durch die Wahl eines Sortierkriteriums – hier etwa: die medizinische Behandlungsdringlichkeit – wird das Patientenkollektiv durchdifferenziert. Ungleichheit erstreckt sich hier nicht entlang gesellschaftlicher oder militärischer Vorgaben, sondern wird zum exklusiven Resultat eines organisierten Klassifikationsverfahrens. Der Bürgersoldat, nicht der vormoderne Söldner, schreitet der Triage voran (Baker und Strosberg 1992, S. 114). Der egalitäre Beginn der Triage verweist auf ihre historische Bedeutung. In der Larrey’schen Form ist sie kein, wie es der Soziobiologe Garrett Hardin (1980, S. 58) annimmt, ahistorisches Konzept, welches seit jeher praktiziert wurde und in den modernen Völkerschlachten dann lediglich erstmals durch Larrey auf Papier gebracht und von ihm bewusst reflektiert wurde. Eher gilt, dass die Triage weder routinemäßig in der Kriegschirurgie eingesetzt

166 Vgl. Fn. 164.

1 Triage und Gleichheit: gesellschaftliche Inklusion und organisierte Ungleichheit

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noch zufällig auf den napoleonischen Schlachtfeldern erprobt wurde. In den modernen Völkerschlachten, welche treffender mit dem englischen Terminus als battles of nations zu bezeichnen sind, treten das erste Mal Bürgerarmeen auf, die für ihre Nation in den Kampf ziehen (Frevert 2004, S. 45f.). Zwar folgten viele Bürgersoldaten dem Ruf der Armee noch unfreiwillig, eher wurden ganze Jahrgänge zum Kriegsdienst eingezogen, doch die moderne Identifizierung von Bürger und Nation bildete ein wesentliches Rekrutierungsargument und ein zentrales, enthusiasmierendes Motivationselement (Eßbach 2014, S. 392-401 u. 529-543). Gleichzeitig schrieb sie den Gedanken der Gleichheit als politisches Grundprinzip fest (auch wenn „Gleichheit“ und „Nation“ zunächst auch rhetorische Werbemittel der politischen und militärischen Eliten gewesen sein mögen). Ein im Egalitarismus wurzelndes Verfahren der Verletztensortierung, das nicht mehr standesorientiert arbeitete, war die logische Konsequenz einer sich mit Bezug auf ihre Nation formierenden Bürgerarmee. Sowie mit dem Bürger patriotische Erregung, die Idee der Gleichheit als auch eine bis dato unvorstellbare Zahl an Menschen in die Armee einzogen, war nicht nur die militärische Führung vor völlig neue Aufgaben von Steuerung und Disziplin gestellt (Kaufmann 1996, S. 45–47), auch das Heeressanitätswesen sah sich angesichts der schieren Masse Gleicher neuen Regelungsansprüchen gegenüber. Im sanitätsmedizinischen Bereich stellte die Triage in diesem Moment ein alternativloses Verfahren dar. 1.2

Krankenbehandlung für alle: Inklusion in der funktional differenzierten Gesellschaft

Wohl wie keine andere vor ihr hebt die moderne Gesellschaft auf die Gleichheit ihrer Mitglieder ab. „Gleichheit“ lässt sich dabei einerseits als eine politische Idee verstehen, die den Umbau gesellschaftlicher Strukturen einfordert, sie lässt sich anderseits aber auch als Selbstbeschreibungsformel einer Gesellschaft begreifen, mit der diese einen vollzogenen Umbau semantisch rekonstruiert oder antizipiert.167 So ambivalent und variabel das Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur168 historisch auch sein mag, im Fall der medizinischen Versorgung des moder-

167 Vgl. Stichweh (2000), ferner: Luhmann und Schorr (1979, S. 233–237) sowie Luhmann (1980, S. 31). 168 Theorietechnisch ist das Bild zweier gegenüberliegender Ebenen schief und unsinnig. Sinn bildet das einzige Medium sozialer Systeme, insofern ist die Vorstellung von „harten sozialen Strukturen“ auf der einen Seite, von „weichen Ideen“ auf der anderen, missverständlich. Strukturen wie auch Semantiken liegen auf einer bzw. der Sinnebene. Treffender wäre davon zu sprechen, dass

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

nen Bürgerheeres durfte Gleichheit kein bloßes, noch einzulösendes Postulat bleiben, sondern musste als sozialstrukturelles Faktum anerkannt werden, dem praktisch Respekt zu zollen war. Denn wenn der Bürger schon aufs Schlachtfeld mit dem erklärten Ziel gezogen wurde, um die modernen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Welt zu bringen und zu verteidigen, dann konnte er dort, wo er seine Existenz für diese Werte opfern sollte, nicht mehr entsprechend einer als überkommen geltenden, wenn auch in vielen Gesellschaftsbereichen noch vitalen Ständeordnung medizinisch versorgt werden. Eine nun als willkürlich oder unlauter begriffene Bevorzugung und Therapie adliger Soldaten (meist höheren militärischen Ranges) hätte den ideellen Kriegszielen, für die der Bürger mit seinem Leben einstand, nicht mehr genügt; eine derartige Selektion wäre nicht mehr zeitgemäß gewesen (und trotzdem ist davon auszugehen, dass es sie noch lange gab). Der kapazitätsmäßig überforderte Heeressanitätsdienst war damit vor das Problem gestellt, Ungleichheit nicht mehr von der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung ableiten zu können, sondern einen neuen Ungleichheitsindikator entwerfen zu müssen, mit dessen Hilfe entschieden werden konnte, wer von den beschränkten Ressourcen unmittelbar profitieren und wer von ihnen zunächst ausgeschlossen bleiben sollte. Mit der Moderne stellt sich die Primärdifferenzierung169 der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung um und verläuft nun nicht mehr vertikal, sondern horizontal. Mit der Evolution nebeneinanderliegender, unabhängig voneinander operierender Funktionsbereiche verlieren die übereinander gelagerten und aufeinander verweisenden Strata (Schichten, Stände, Kasten) vormoderner Hochkulturen ihre erstrangige Bedeutung. Die Bevölkerung stratifizierter Gesellschaften differenziert sich primär über ihre Familien- und darüber vermittelte Standeszugehörigkeit. Inklusion erfolgt in eine und nur eine Schicht, die ihren Mitgliedern eine klar umrissene soziale Identität zur Verfügung stellt, Rechte und Pflichten zuweist, Zugangsmöglichkeiten festlegt und beschränkt. Mit der die ganze Person umfassenden Inklusion in eine Schicht korrespondiert eine breite Palette an Exklusionsfiguren: Exkommunizierte, Verbannte, Infame, Ehrlose, Verdammte, Stigmatisierte, Rechtlose, Repatriierte, Geächtete und viele mehr (Bohn 2008, S. 183f.). der Fokus auf soziale Strukturen und der auf Semantiken zwei unterschiedliche Beobachtungsformen sind. 169 Die drei anderen von Luhmann herausgearbeiteten Differenzierungsformen (segmentär, stratifikatorisch, Zentrum-Peripherie-Differenzierung) verschwinden in der modernen Gesellschaft genauso wenig, wie die übrigen Differenzierungsformen auch bereits in hochkulturellen Ständegesellschaften oder archaischen Gesellschaften vorgekommen sind. Was sich ändert ist allerdings ihre Bedeutung: Moderne Gesellschaften sind eben zuallererst funktional differenziert. Vgl. die Ausführungen in Schimank (1996, S. 152f.).

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Dieses Verhältnis kehrt sich im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft um. Zentrales Phänomen sind nun nicht mehr die vielfältigen Exklusionsformen, im Mittelpunkt stehen nun die multiplen Inklusionsmöglichkeiten, die die individuellen Teilhabechancen regulieren. In jedem Funktionsbereich kann die Person nun mit systemspezifischen Anliegen auftreten (Bommes 2001, S. 244). In jeder gesellschaftlichen Wertsphäre170 tritt das anspruchsberechtigte Subjekt damit als ein anderes auf: als politisches oder als Rechtssubjekt, als wirtschaftlicher Akteur, als Objekt oder Anbieter erzieherischer Praktiken usw. Moderne Inklusion erfolgt demnach nicht primär in eine Schicht, sondern in viele Funktionsbereiche. Der Gegensatz von stratifizierter und funktional differenzierter Gesellschaft pointiert sich schließlich in der Feststellung, dass es in letzterer nicht möglich ist, ausschließlich einem Funktionsbereich anzugehören.171 Niemand kann sich etwa ausschließlich als Konsument verstehen und rein wirtschaftlich existieren. Selbst „Prominente“ leben nicht nur für und „in“ den Massenmedien. Für die Medien mag die Krankheit des Stars Informationswert besitzen, aber das macht diesen nicht gesund. Als Kranker geht auch er zur Ärztin und wird von dieser als Patient behandelt. In der Moderne sind sich alle ausschließlich darin gleich, zumindest sollen alle sich darin gleich sein, dass sie Zugang zu jedem gesellschaftlichen Funktionsbereich besitzen und dort unter einen bestimmten Aspekt in Erscheinung treten (Luhmann 1994, S. 192). Eine radikale, vollständige Exklusion aus allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen ist unter den Bedingungen multipler Inklusion kaum noch denkbar. In der funktional differenzierten Gesellschaft besteht sie nur noch als vorgängiger Totalausschluss, der der vielseitigen Inklusion zu Grunde liegt. Denn so wie die differenzierten Exklusionspraktiken stratifizierter Gesellschaften vom Prinzip der vollständigen Schichtinklusion der Person ausgehen, beginnt die gesellschaftliche Inklusionskarriere in diverse Funktionsbereiche beim vollständig exkludierten Individuum. Der Archetyp des modernen Individuums wird heute als ein von allen sozialen Bindungen befreiter Einzelmensch gedacht (Bohn 2008, S. 184). Was semantisch in der Moderne als „Freiheit“ postuliert und gefeiert wird, entspricht der Gegebenheit, dass das moderne Individuum nirgends mehr als Ganzes inkludiert ist. Erst im Anschluss an dessen prinzipielle Ausgeschlossenheit ergeben sich die vielfältigen Einschlussmöglichkeiten funktionaler Differenzierung, offenbart sich dann Individualität als ein durch und durch modernes Phänomen (Hirschauer

170 So der an Weber (1972, S. 657f.) orientierte Begriff. Vgl. dazu Schimank (1996, S. 53–68). 171 Zum Phänomen der Hyperinklusion und seiner Exklusionsfolgen vgl. Göbel und Schmidt (1998, S. 111f.).

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2014, S. 177f.), erweist sich das Konzept der Karriere als biographischer Integrator. Als integrale Referenz der modernen Person firmiert allein der bloße organische Körper (Fuchs 2006, S. 22–27; → III.1.1). Inklusion in alle Funktionsbereiche der modernen Gesellschaft – das klingt im ersten Moment nach einem vollmundigen, letztlich aber uneinlösbaren Versprechen. Empirisch ist eindeutig festzustellen, dass Ungleichheit ein zentrales Merkmal westlicher Gesellschaften ist (Bommes 2001; Schimank 2007). Ungleiche Bildungs- und Arbeitsmarktchancen, ungleich verteilter Wohlstand, unterschiedlicher Zugang zu medizinischen Einrichtungen, ungleiche Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische Prozesse – diese und ähnliche Erscheinungen lassen sich schwerlich abstreiten Zugleich ist jedoch festzuhalten, dass diese moderne Ungleichheit immer zugleich auch als behebungsbedürftiger Mangel adressiert wird und ideelle „Gleichheit“ unbeeindruckt ihrer praktischen Umsetzungsschwierigkeiten als prinzipielles Merkmal und grundsätzlich zu verfolgendes Ziel moderner Gesellschaften firmiert. Dieser Umgang mit der eigenen Ungleichheit unterscheidet sich dramatisch von demjenigen, den stratifizierte Gesellschaften pflegen. Die moderne Gesellschaft hat trotz ihrer Fehlentwicklungen, die sie sich mit Blick auf die Gleichheit ihrer Mitglieder ständig selbst vor Augen führt und an die sie sich permanent erinnert, keine Schwierigkeit damit, weiterhin alle Personen als gleich inklusionsberechtigt zu verstehen. 1.3

Viele Patienten, knappe Hilfe: Kann die Medizin sich selbst rationieren?

Die Logik der Krankenbehandlung verfügt über wenige immanente Haltegebote. Ein erstes ist die Gesundheit. Dass ein Patient, der bei voller Gesundheit ist, nicht mehr geheilt werden muss, versteht sich auf Anhieb von selbst.172 Zweites, drittes und viertes Haltegebot medizinischer Therapie sind – mit wachsender Stillstellkraft – die Undiagnostizierbarkeit oder Unspezifizierbarkeit einer Krankheit, die Unheilbarkeit173 einer Krankheit (Parsons 1970, S. 27f.) und schließlich der festgestellte Tod (Luhmann 2005a, S. 186f.; Fuchs 2006, S. 34-38; Saake 2003, 172 Längst hat die Medizin ihr Handlungsfeld über akute und chronische Krankheiten hinaus auf zukünftige Erkrankungen hin ausgedehnt. So lässt sich selbst der gesunde Patient als von Krankheit bedroht verstehen. 173 Doch auch hier macht die Medizin heute nicht mehr grundsätzlich halt. Seit ein paar Jahrzehnten setzt die Palliativmedizin – eingebunden in eine die Medizin als solche transzendierende Philosophie des palliative care – hier ein. Die Frage ist, ob der medizinische Behandlungsauftrag in der Palliativmedizin verändert wird und nun nicht mehr nur die Patientengesundheit, sondern die Lebensqualität (des ganzen Menschen) zum Reflexionswert wird. Oder ob die Palliativmedizin nicht doch „nur“ genuin medizinische Aufgaben übernimmt, wenn es ihr um Symptom- und Schmerzlinderung geht. Medizinsoziologisch gibt es dazu bisher keine klärenden Einlassungen.

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S. 450-454). Darüber hinaus werden die Möglichkeiten rar, medizinische Kommunikation und Behandlung konfliktfrei abzubrechen. Selbst schwerwiegende Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie oder einer Operation werden nicht immer gegen die Lebensqualität des Patienten abgewogen und so ein Behandlungsverzicht geprüft. Ob beispielsweise die in Betracht gezogene Chemotherapie wirklich heilt oder zumindest einen Gewinn an Lebensqualität und Lebenslänge verspricht, erscheint für den operativen Vollzug des Krankenhauses nur von sekundärem Interesse. Wichtiger erscheint für die Ärzte, dass man überhaupt eine Therapie für das Problem der Krankheit anbieten kann (Vogd 2005, S. 238f.).

Die Eigendynamik systemischen Operierens lässt sich, wie schon Parsons für die Chirurgie feststellte, nur schwer durchbrechen oder umlenken. Im allgemeinen besteht [in Patt-Situationen, in denen Risiken und Chancen einer Operation gleich verteilt sind] eine ausgeprägte Neigung, die Operation vorzunehmen. Dazu ist der Chirurg nun einmal ausgebildet und er hat das Gefühl der Aktivität, der Nützlichkeit und der Leistungsfähigkeit, wenn er operiert. Bei ihren Sorgen und Belastungen ist es auch für den Patienten und seine Familie besonders schwer zu ertragen, untätig zuzusehen, wie sich die Dinge entwickeln (Parsons 1970, S. 43).

Medizinische Kommunikation lässt sich angesichts von Krankheit nur bedingt stillstellen. Über ihre „absoluten Grenzen“ (Parsons) hinaus kann Krankenbehandlung sich selbst kaum medizinische Grenzen setzen, die sie in ihrer Dynamik bremsen. Das Konzept Lebensqualität etwa muss erst in eine medizinisch verständliche Sprache rückübersetzt werden, z. B. in Lebensjahre mit hoher körperlicher Funktionsfähigkeit und Schmerzfreiheit – und selbst dann ist es für die Medizin schwierig für Tatenlosigkeit zu optieren, sodass die Entscheidung für oder gegen Nichtbehandlung in der Regel vollständig auf den Patienten abgeschoben wird. Mit Blick auf die Triage interessiert an dieser Stelle nicht das Phänomen der schwer abbremsbaren Therapiedynamik moderner Krankenbehandlung. Es wird hier vor allem skizziert, um deutlich zu machen, mit welchem Problem die Medizin beim Massenanfall von Verletzten (MANV) zu kämpfen hat. Wenn die Medizin bereits ein intrinsisches Problem damit hat, ihr eigenes Engagement in zweifelhaften Fällen, in denen über eine weitere Behandlung durchaus kritisch nachgedacht werden könnte, zu zügeln, wie soll sie dann mit Situationen umgehen können, in denen sie gute Heilungs- und Rettungsschancen selektiv verwehren muss? Kann es angesichts des notorischen Handlungszwangs der Medizin überhaupt ein medizinisches Kriterium geben, das es ihr erlaubt zu entscheiden, wem mehr kurative Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, wenn zwei Patienten gleich krank sind, aber aufgrund fehlender Ressourcen nur einem geholfen werden kann? Wie

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kann gerade eine auf Krankenbehandlung geeichte Medizin beurteilen, wer zunächst nicht behandelt wird? Wie sollte es gerade ihr möglich sein, Patienten vom Empfang therapeutischer Maßnahmen zurückzustellen, geschweige denn gänzlich aus dem medizinischen Leistungsbereich zu exkludieren? Die Antwort scheint zunächst so offensichtlich wie einfach: Die Medizin muss beim Massenanfall darauf ausgerichtet werden, möglichst viele Leben zu retten. Doch die Trivialität der Antwort täuscht. Sie täuscht ihre medizinische Provenienz durch ihren Verweis auf die Rettung von Leben nur vor. Es geht beim Massenanfall nämlich nicht – um einen Satz Foucaults zu verwenden – allein um die medizinische Aufgabe, „Leben zu machen“, sondern auch darum „sterben zu lassen“. Dies aber ist mit der medizinischen Handlungslogik unvereinbar. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Extrembeispiel selektiven Lebenrettens. Schon die Entscheidung, einige von ihren Schmerzen zu befreien, während man andere notgedrungen weiter ihrer Pein überlässt, ist rein medizinisch nicht zu rechtfertigen. Anhand welcher Kriterien auch? Wir werden auf das in der Ethik diskutierte Kriterium der „größtmöglichen Zahl Überlebender“ später zurückkommen (→ 3), uns aber zunächst die Problematik mikroallokativer Entscheidungen am Beispiel der frühen Triage verdeutlichen. Auf der gesellschaftlichen Makroebene scheint Allokation noch einfach zu regeln. Einigkeit besteht beispielsweise darüber, dass nicht allein medizinische Aspekte darüber entscheiden sollen, wie der Bundeshaushalt im Einzelnen aufgeteilt werden soll, sondern dass diese Entscheidung in den Aufgabenbereich der Politik fällt. Bei der jährlichen Budgetierung des Bundeshaushalts konkurrieren verschiedene gesellschaftliche Leistungsbereiche miteinander um vorhandene Mittel, die selbst in Zeiten überquellender Haushaltskassen stets zu knapp sind. Angesichts dieser immer schon vorhandenen Knappheit lässt sich auch unschwer ausmalen, zu wessen Gunsten sich Haushaltsmittel verschieben würden, wenn allein medizinische Interessen ihre Verteilung bestimmen würden. Auch auf der darunterliegenden Ebene des Gesundheitsressorts fällt die grundsätzliche Entscheidung über die weitere Mittelaufteilung in politische Hände und nicht in die einer Chirurgin, Internistin, Kardiologin, Neurologin oder Pädiaterin. Bei makro- und mesoallokativen Verfahren versteht es sich für uns von selbst, dass Verteilungsentscheidungen nicht in die ausschließliche Obhut einzelner Medizinerinnen fallen können, da dies zu einer nicht rechtfertigbaren einseitigen Bevorteilung des einen Bereichs und zur Benachteiligung von anderen führen würde. Politische Parlamente, Gremien und Kommissionen scheinen uns dagegen der richtige Ort für solche Verteilungsfragen zu sein (Schmidt 1998, S. 314f.). Bei mikroallokativen Zuteilungserfordernissen, bei denen es schließlich um die konkrete Gesundheit gegenwärtig zu versorgender Patienten geht, bröckelt diese Einsicht. Hier endlich sollen allein medizinische Erwägungen die Oberhand

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behalten (ebd., S. 315). Doch wie könnten diese medizinischen Kriterien im Einzelnen aussehen, wenn medizinische Krankenbehandlung nur darüber Auskunft geben kann, welche Krankheit vorliegt und wie diese zu therapieren ist? Anhand welcher medizinischen Kriterien sollte eine Ärztin entscheiden, welcher ihrer Patienten eine teure Therapie bekommt, wer das einzig verfügbare Spenderorgan erhält, wer gerettet wird – und wer nicht? Wie eine rein medizinische Selektion verfahren würde, zeigen historische Beispiele. In bedrückender Klarheit skizzieren militärärztliche Erfahrungsberichte die Selektionskriterien, an denen sich das Handeln der Ärzte auf bzw. neben dem Schlachtfeld orientierte. Losgelöst von einer schichtspezifisch verfahrenden Verletztensortierung, die noch dem „Körper des wichtigsten Patienten“ (Stichweh 2005, S. 16), der adeligen Oberschicht (die mit der militärischen Führung in der Regel zusammenfiel) galt, waren die medizinischen Akteure mit der sich ihnen stellenden Aufgabe zunächst nachweislich überfordert. „Bei den Massen, die heute ins Feld geführt werden“, so schreibt etwa der deutsche Arzt Ernst von Bergmann rückblickend, „ist ein Überblicken des Schlachtfeldes für den Arzt unmöglich“ (Buchholtz und Bergmann 1911, S. 270). Und: „Das Getümmel im Feldlazarett ist kaum geringer, als in der Schlacht: ein Knäuel von Stabsärzten und Schienen, Blessiertenträgern und Amputationsmessern. Alle schreien, verzweifeln, befehlen und laufen, packen an und lassen wieder fallen, laden auf und ab, bringen und verschütten die Wassereimer. Die Menge der Hilfesuchenden wächst mit jedem Augenblick“ (ebd.: 269). In dieser chaotischen Lage orientierte sich der Arzt bei der Patientenwahl an konventionellen und situativen Krankheitszeichen. Oft habe er, schreibt der russische Militärarzt Nikolai Pirogoff, gesehen, dass die angehenden Aerzte, durch Jammern und Hülferuf verleitet, sich menschenfreundlich zu denen wandten, die am meisten jammerten, um sie zu verbinden, oder dass sie aus Liebe zur Wissenschaft bei genauen Untersuchung eines ihnen interessant erscheinenden Falles verweilten, oder dass sie gar auf der Stelle an einigen Blessierten Amputationen und andere Operationen, die ihre Tätigkeit auf längere Zeit beanspruchten, vornahmen (Pirogov 1864, S. 34).

Auch von Bergmann stellt fest, dass es in erster Linie manifeste visuelle oder kommunikative Krankheitssignale waren, die für die ärztliche Patientenwahl ausschlaggebend waren: Wer am meisten schreit und sich selbst noch helfen kann, kommt zuerst fort [d. h. wird zuerst behandelt, N.E.] – das ist aber in der Regel nur ein leicht Getroffener. Denn dem die Kugel durch die Lungen drang, geht mit der Luft die Stimme aus; der durch den Leib geschossen wurde, liegt totenblaß und stumm da, jeden Augenblick der letzten Ohnmacht gegenwärtig (Buchholtz, Bergmann 1911, S. 269).

Schon Larrey hadert im anfangs vorgestellten Zitat damit, dass diejenigen Soldaten nach der Schlacht von Jena zuerst in Behandlung genommen würden, die

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noch mobil wären und ihre Verletzung vorführen und mitteilen könnten.174 Medizinische Zuwendung erfuhren demnach vielfach zunächst diejenigen, die ihren Krankheitsstatus eindeutig präsentieren und aktiv darstellen konnten. Im Ergebnis stellt sich eine spontane Behandlungsreihenfolge ein, first come, first served. Sobald sich Patienten mit manifesten Krankheitsmerkmalen und Heilungsbedürfnissen zum Arzt vordränge(l)n, greift die kurative Sorge des Arztes, treten Heilprogramme auf den Plan. Die Patientenwahl wird an das medizinische System herangetragen, das außer seiner konstitutiven Aufmerksamkeit hinsichtlich der akuten Präsenz einer Krankheit kein eigenes Selektionskriterium mitbringt. Eindeutige Krankheitssignale wie Blut, Wunden, Schmerzen, flehende Hilfeersuchen etc. dienen dem Mediziner als Orientierungspunkte. Zurückgelassen werden die, die es nicht schaffen, sich in die nun durch und durch exklusive Interaktion vorzuschieben. Die spezifische wie generalisierte Handlungslogik des Arztes etabliert eine situative Patientenwahl, mit der die sichtbar und hörbar Kranken behandlungspriorisiert werden. Medizinischer Code und Handlungsdrang schlagen unvermittelt auf die Interaktion durch. Die Profession schließt beide Systeme, auf der einen Seite das System der Krankenbehandlung, auf der anderen Seite die nur über geringfügige Distanz zur Nahumwelt verfügende Interaktion, miteinander kurz. Eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Überlebenschancen, wie sie heute erwartet wird, fand zu dieser Zeit oftmals nicht statt. Aufgrund ihrer situativen Einbettung firmiert die medizinische Selektivität fernab jeglicher Gerechtigkeitserwägungen. Erfahrene Wehrmediziner wie Larrey, Pirogoff und von Bergmann erkennen, dass der auf dem Schlachtfeld befindlich Arzt und mit ihm das medizinische Outcome an der medizinischen Primärorientierung leiden. „Wenn der Arzt in solchen Fällen sich nicht zur Hauptpflicht macht, zuerst rein administrativ und nicht rein ärztlich zu verfahren, so verliert er völlig den Kopf und die Kraft“ (Pirogov 1864, S. 34). Dem sich selbst erschöpfenden medizinischen Exzess wird zum Schutz vor sich selbst eine prinzipienlose Rationalität zur Seite gestellt. Organisatorische Vernunft beinhalte die Möglichkeit, medizinischen Handlungseifer zu steuern und in der Summe produktiver zu gestalten. „In meiner Überzeugung steht es daher fest, dass die gut geordnete Administration auf dem Schlachtfelde und dem Verbandplatze viel wichtiger und segensreicher ist, als die rein ärztliche Thätigkeit“ (ebd., S. 37). Beeindruckend pointiert wird die hier in Forderung stehende 174 Ein ähnliches Problem stellt sich noch heute dort, wo triagiert wird. Leichtverletzte, zunächst von einer Behandlung zurückgestellte Patienten, verlassen den Unglücksort nicht selten selbstständig und werden in einer naheliegenden Notaufnahme vorstellig – mit all den Konsequenzen, die dies für das nächstgelegene Krankenhaus hat (Quarantelli 1983, S. 71–73). Die erste Devise eines Krankenhauses für den Fall, dass sich ein größeres Schadensereignis in ihrer Umgebung zugetragen hat, lautet deswegen heute: Türen zu!

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Triage des Patientenkollektivs nicht als ein medizinisches Verfahren denn als organisatorische Lösung erkannt. Erst die seelenlose Organisation, die primär an den eigenen Entscheidungsvorgaben orientiert ist – und erst über diese Vorgaben an tendenziöse Funktionslogiken rückgekoppelt ist – bietet die Möglichkeiten Selektion zu planen. Als organisationales Entscheidungsprogramm leistet die Triage das, was medizinischen Programmen allein nicht gelingen kann: Sie diskriminiert situationsunabhängig zwischen Patienten, die für sie nicht primär Diagnose- und Therapieanlass, sondern Entscheidungsgelegenheiten sind. Sehen wir uns zum Beispiel die Triage Larreys näher an: Sie ist so ausgerichtet, dass sie am Ende das Überleben all derjenigen sichern soll, die prinzipiell überlebensfähig sind. Erst werden diejenigen behandelt, die in den nächsten Stunden ohne Behandlung versterben würden, dann werden diejenigen versorgt, bei denen dieses Risiko zunächst nicht bestand. Es geht bei der Triage also nicht um eine umfassende Genese und bestmögliche Versorgung des Patienten; die Sortierung wird mit der Absicht durchgeführt, jedem Verwundeten ein bestimmtes Leistungsminimum zuzusichern: „[S]urvival is the minimorum, it generates the standard ER [= Emergency Room], ICU [= Intensive Care Unit], and battlefield triage classification, e.g., a prioritization scheme designed to prevent preventable death even at the expense of other held goods“ (Baker und Strosberg 1992, S. 115). Die Triage respezifiziert nicht nur den Zweck sanitätsdienstlicher Organisation von allgemeiner Krankenversorgung auf Überlebenssicherung. Vor allem versucht sie die medizinische Krankenbehandlung mittels organisationaler Mittel auf ein minimales Leistungsziel zu reduzieren. Dies hat zum einen zur Folge, dass Moribunde, bei denen keine Chance auf Überleben besteht, von der Behandlung ausgeschlossen werden. Zum anderen werden nicht unmittelbar in Lebensgefahr schwebende Patienten ebenfalls zurückgestellt – und das ausdrücklich auch dann, wenn diese Maßnahme neben der Inkaufnahme verlängerter Schmerz- und Leiderfahrungen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgeschäden bei diesen Patienten führen wird, die bei einer Sofortbehandlung verhindert hätten werden können. Am Ende vermag diese spezielle Form der Triage – abweichende Varianten werden nachfolgend noch diskutiert – wenigstens zwei Sachen zu versprechen: Erstens, alle werden triagiert und, zweitens, alle Überlebensfähigen werden überleben. Die organisatorisch durchgesetzte Ungleichbehandlung zollt dem modernen Egalitarismus demnach doppelten Respekt. Zum einen wird eine Begutachtung aller Verwundeten organisiert, womit eine spontane Bevorzugung einiger weniger ausgeschlossen werden soll. Zum anderen installiert die Selektion zwar zeitweilig eine extreme Ungleichbehandlung und führt zur Verwehrung dringend erforderlicher medizinischer Leistungen, sie verfolgt dabei aber den Zweck, das Leben aller

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Abbildung IV.1: Triage als organisierte Raumordnung, Absonderung der Totgeweihten Quelle: Fischer 1868, S. 192.

Überlebensfähigen zu sichern. Als ein Verfahren temporalisierter Rationierung verzeitlicht die Triage Behandlungsansprüche und verlagert Gleichheit in die Zukunft (Luhmann 1997, S. 626). Überlebenschancen sollen durch den selektiven medizinischen Eingriff so angeglichen werden, dass letztlich jeder überlebt. Dies führt weiterhin dazu, dass Todgeweihte, also Verwundete ohne Überlebenschance, schon zu Beginn aussortiert und „in besonders dazu eingerichtete Häuser [verbracht wurden], wo sie vorzüglich der Sorgfalt der barmherzigen Schwestern, des Priesters und der Feldscheere anempfohlen waren“ (Pirogov 1864, S. 37). Wie bereits ihre Bezeichnung als „Hoffnungslose“ aufzeigt, fallen diese Verletzten aus dem medizinischen Behandlungsfokus heraus. Palliativmedizinische Einrichtungen, wie sie in → Abbildung IV.1 in Form von Zelten oder Häusern zur Lagerung der hoffnungslos Verletzten auftauchen, halten die Türen für seelischen und pflegenden Beistand bereits offen. Der Ausdruck „Hoffnungslose“ mag anstößig klingen und von wenig Feingefühl zeugen (Domres et al. 2009, S. 237); die verletzte Person mag selbst durchaus noch Hoffnung hegen, hinsichtlich ihrer möglichen Rettung, eines guten Todes oder der Dinge, die danach kommen. Wenn aber Medizin und Organisation nun im Chor von „hoffnungslos Verletzten“ sprechen und

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diese speziellen Einrichtungen überantworten, dann tun sie dies mit Blick auf den numerischen Zweck, möglichst vielen ihr Überleben zu sichern. Vergleicht man dieses Ziel mit der vorherigen Planlosigkeit ärztlichen Handelns, kommt man nicht umhin, von einer neuen Logik zu sprechen, die sich im Sanitätsdienst Bahn bricht. 1.4

Organisation als Ungleichheitsgeneratorin und Leistungsbeschneiderin Mit Hilfe ihrer Organisationen lässt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit, die sie nicht negieren kann, scheitern. Luhmann 2000, S. 394

Was die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft nicht leisten können, so behauptet Luhmann im vorangestellten Zitat, das übernehmen Organisationen für sie. Dem Anspruch umfassender Inklusion, der Vollinklusion, wird im Kontext organisationaler Settings entgegengearbeitet. Die systemtheoretische Diskussion hat dabei vor allem einen bestimmten Modus organisationsvermittelnden Ausschlusses im Blick: die Organisationsnichtmitgliedschaft. Denn während Inklusion auf Ebene der Funktionssysteme den Normalfall darstellt bzw. darstellen soll, ist Nichtmitgliedschaft, betrachtet man die einzelne Organisation, die Regel. Organisationen besitzen normalerweise wesentlich mehr Nichtmitglieder als Mitglieder. Nachfolgend werde ich die an dieser Asymmetrie aufgehängten Exklusionsargumente für das medizinische System nachzeichnen, dann aber argumentieren, dass Organisationen weniger über ihre Mitgliedschaft von funktionalen Leistungsbezügen exkludieren denn mittels ihrer Programme über ungleiche Leistungsbezüge entscheiden. Erst ein solcher Blick erlaubt es, die Radikalität der Triage in ihrem exklusiven Ausmaß zu erfassen.175 Exklusion aus Funktionssystemen vollzieht sich, so eine gängige These (Luhmann 1994, S. 193; Nassehi und Nollmann 1999), vermittelt fehlender Organisationszugehörigkeit. In der Diskussion geht es dabei insbesondere um das Beispiel fehlender, auf Erwerbsbasis basierender Organisationsmitgliedschaft und damit einhergehender „Exklusionsverkettungen“ (Schimank 2007; Bommes 2001). Hinter diesen Begriff stehen vor allem Bemühungen um die systemtheoretische Integration des empirischen Befunds, dauerhafte Arbeitslosigkeit schränke die

175 Einen anderen Anschluss an die systemtheoretische Exklusionsforschung hat Cornelia Bohn (2008) gewählt. Sie führt die Analysen Foucaults (1976) und Goffmans (1977) zu totalen Institutionen weiter und spricht in diesem Zusammenhang von inkludierender Exklusion.

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Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe insgesamt ein. Als Folge von Langzeitarbeitslosigkeit sei oftmals nicht nur eine Exklusion aus der Erwerbswelt festzustellen, an diese schließe häufig eine Abtrennung von weiteren Leistungsansprüchen an, die an andere Funktionssysteme gestellt werden können. Neben dem auf die allgemeine Schulpflicht aufbauenden Bildungssystem gehört der Bereich medizinischer Leistungen dem ersten Eindruck nach, zumindest in Deutschland, zu einem der wenigen Bereiche, in dem sich Vollinklusion auch in der Mitgliedschaft in einer Organisation, der Krankenkasse, widerspiegelt. Hierzulande zählten die gesetzlichen Krankenkassen laut Angaben des Statistischen Bundesamtes 2013 69,9 Millionen Mitglieder, die privaten Krankenkassen kamen im gleichen Jahr auf rund 9 Millionen Beitragszahler. Bei einer Gesamtbevölkerung von 80,77 Millionen verfügen also gut 97,7 % über eine Beitragsmitgliedschaft. Trotzdem lässt sich gerade hier vermuten, dass Personen ohne Krankenkassenschutz und ohne sonstigen Anspruch auf Versorgung im Krankheitsfall176 der Zugang zu medizinischen Leistungen erschwert ist und sie auf persönliche Kontakte und parastaatliche Hilfenetze angewiesen sind. Das Bundesamt spricht für 2011 von 137000 Bürgern bzw. 0,2 % der Gesamtbevölkerung177, die ohne den direkten Weg über eine Krankenkassenmitgliedschaft Zugang zu medizinischen Leistungen suchen müssen. Krankenkassenpflichtige Beitragszahler entsprechen allerdings nur begrenzt dem Bild vom Organisationsmitglied, zu lose sind ihre Verhaltensbindungen an organisatorische Reglements. Diese ist im Großen und Ganzen auf die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen und das Mitführen der Krankenkassenkarte beschränkt. Hinzu kommt, und das ist ungleich bedeutender, dass die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse nicht freiwillig erfolgt: Kassenwechsel sind zwar erlaubt, ein gänzlicher Austritt nicht. Insofern ist fraglich, ob im strengeren organisationssoziologischen Sinne überhaupt von Mitgliedern und nicht eher von Klienten gesprochen werden muss. Für Mitglieder ist die selbstgefasste Beitrittsentscheidung, mit der 176 „Zu den Personen mit einem sonstigen Anspruch auf Krankenversorgung zählen beispielsweise Soldatinnen und Soldaten, Grundwehrdienst- und Zivildienstleistende, Beamtinnen und Beamte oder Richterinnen und Richter“ (Statistisches Bundesamt 2012, S. 670). Den Anteil der nicht durch den staatlichen Arbeitgeber getragenen Behandlungskosten können Richter und Beamte auch wahlweise privat tragen. Sie sind nicht verpflichtet Mitglied in einer privaten Krankenkasse zu sein. 177 Die Zahlen basieren auf den Mikrozensus 2011. Nach den erhobenen Daten besitzen 0,8 % der Selbstständigen und 0,8 % der Erwerbslosen keinen Versicherungsschutz. Zu den Zahlen muss allgemein angemerkt werden, dass sie nicht unbedingt sehr exakt sind, da Angaben aufgrund falsch verstandener Fragen oder fehlerhafter Einschätzung der eigenen Situation nicht zutreffen müssen. Laut telefonischer Auskunft fällt die Zahl der Personen ohne Krankenversicherung und ohne einen sonstigen Anspruch auf Krankenversorgung mutmaßlich geringer aus. Andererseits kann der Mikrozensus die Krankenversorgung aller nicht gemeldeten Personen nicht erfassen.

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sie versprechen, sich den organisatorischen Erwartungen zu unterwerfen, das zentrale Kriterium (Luhmann 1964). Betrachtet man als Organisationsmitglieder nur die medizinischen Leistungserbringer und die übrigen Angestellten medizinischer Organisationen, dann lässt sich ihre stärkere Inklusion in das medizinische System in dem einen oder anderem Punkt tatsächlich verfolgen. Denn einerseits kann unterstellt werden, dass Ärztinnen und Beschäftigte an Kliniken einen privilegierten Zugang zu medizinischen Leistungen haben. Zweitens stellen Katastrophenschützerinnen immer wieder die Frage, ob es im Falle medizinisch knapper Ressourcen nicht richtig sei, zunächst politische, medizinische und adminstrative Funktionsträger medizinisch zu behandeln. Im Blick haben sie dabei zum einen die Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Krisenfall sowie die nachhaltige Sicherstellung medizinischer Versorgung (vor allem im Rahmen gefährlicher Pandemien). Ärztinnen und ihre Helfer stellen im Katastrophenfall selbst eine knappe Ressource dar, vor deren Versiegen man sich mit ihrer bevorzugten Behandlung absichern könnte. Wäre es deshalb legitim, so hat Nagy 1984 (16f.) unter dem Eindruck eines drohenden Atomkriegs gefragt, wenn sich Ärztinnen nach einem nuklear geführten Krieg zunächst um ihre verletzten oder verstrahlten Kolleginnen kümmern würden? Sollten, so lässt sich die Frage generalisieren, Mitarbeiter medizinischer Institutionen im Rahmen einer Triage bevorzugt behandelt werden, weil ihr Funktionieren langfristig eine bessere Versorgung aller Bürgerinnen gewährleistet, kurzfristig aber vernachlässigte Hilfsbedürftige zusätzlichen Risiken aussetzt, die bis zum Tode reichen können? Die Fragen machen deutlich, dass über die Mitgliedschaft in einer Organisation sehr wohl Exklusions- oder Inklusionsentscheidungen verhandelt werden können. Eine andere Möglichkeit wie Organisationen gesellschaftliche Inklusionsansprüche konterkarieren, ist dagegen wesentlich bedeutender und knüpft an die Betrachtung der Triage als ein vornehmlich administratives Werkzeug an. Anders als Professionen sind Organisationen nicht einem Code verpflichtet, sondern allein formalen Verfahren verschrieben. Organisationen kommunizieren ausschließlich Entscheidungen und knüpfen dabei an bisher gefällte Entscheidungen an. Der Selbstbezug von Organisationssystemen ist demnach grundsätzlich anders gelagert als der von Funktionssystemen. Während Funktionssysteme sich in ihrer Operationsweise stets auf ihren Code rückbeziehen, bearbeiten Organisationen fortlaufend Entscheidungen mittels vorangegangener Entscheidungen. Für Funktionssysteme sind Organisationen deshalb nur „relevant, sofern diese in ihrem Kontext spezifische Anschlussmöglichkeiten der Kommunikation eröffnen oder einschränken“ (Tacke 2001a, S. 159). Et vice versa: auch für Organisationen reduziert sich die Bedeutung gesellschaftlicher Funktionslogiken auf den Beitrag, der ihnen im

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Rahmen ihrer Entscheidungen zufällt. Die Operationsweise von Organisationen und Funktionssystemen folgt einer jeweils spezifischen Eigenlogik, die unbeeindruckt, aber nicht unberührt von anderen von statten geht. Systeme irritieren sich permanent gegenseitig, zwingen andere Systeme zu einer wiederum selbstbezogenen Berücksichtigung fremdreferenzierter Ansprüche, Bewertungen und Erfordernisse.178 Ähnlich wie verschiedene Funktionssysteme ein Ereignis unterschiedlich erfassen, besitzen auch Organisationen einen spezifischen Blick auf die Dinge und sehen im Ereignis zunächst einen Entscheidungsanlass. Ein Ereignis kann also dem gleichzeitigen Zugriff zahlreicher Systeme unterliegen, wobei der (kommunikative) Zugriff eines Systems selbst wiederum ein Ereignis darstellt, auf das, sofern es ins Blickfeld gerät, erneut von allen Seiten zugegriffen werden kann. Auf diese Weise verschränken sich die Operationen selbstreferentieller Systeme und beeinflussen sich Systeme gleichzeitig gegenseitig.179 Die vorangestellten Überlegungen zur Autonomie als auch zur gegenseitigen Irritation von Funktionssystemen und Organisationen erhalten weitgehende Bedeutung, wenn man, wie es Pirogov getan hat, auf die organisationale Diskriminierungsfähigkeit abstellt, über die der auf dem Schlachtfeld alleingelassene Mediziner nicht verfügt. Organisationsprogramme wie die Triage stellen Entscheidungsprämissen dar, deren Nutzen zum einen darin liegt, über situative Besonderheiten hinweg gleichförmige Entscheidungen planen zu können. Die Selektionsentscheidungen sind damit nicht „wertfrei“, sie sind aber insofern neutral, da sie von den situativen Umständen entlastet erfolgen. Das Konzept prägt die Situation, nicht umgekehrt. Ungleichheit lässt sich mit Programmen planmäßig herstellen, funktionssystemische Leistungsberechtigungen selektiv entziehen, Inklusion gezielt aufschieben oder gänzlich verweigern. Mittels ihrer Organisationen gelingt modernen Gesellschaften damit tatsächlich das, was Funktionssystemen verwehrt bleibt: Sie lassen das Prinzip der Gleichheit scheitern. Aber anders als die systemtheoretische Diskussion es vermutet, besitzen sie diese Eigenschaft nicht primär aufgrund eines starken Privilegierungsgefälles zwischen Nichtmitgliedern und Mitgliedern, sondern aufgrund ihres grundsätzlichen Absehens von gegenwärtigen Motiven und Werten. Diese finden sich zwar fixiert und eingekapselt in den Entscheidungsprä-

178 Die qualitative Forschung steht vor der Schwierigkeit, dass Systeme permanent ineinander verschränkt sind und sich empirisch nur hinter einem Netz heterogener Querverbindungen rekonstruieren lassen. Vogd (2002) legt dies am Beispiel der ärztlichen Arbeit in Kliniken dar. Zur Methodologie vgl. Vogd (2011a). 179 Da die Systemtheorie davon ausgeht, dass kybernetische im Gegensatz zu mechanischen Systemen nicht erfolgreich von außen gesteuert werden können, spricht sie anstatt von Beeinflussung von Irritation.

2 Geplante Entscheidungen: die Triage als organisatorisches Programm

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missen der Organisation, dadurch verlieren sie aber ihre Volatilität und konkurrieren nicht mehr untereinander. Als entscheidungsbasiertes System bewertet die Organisation die Behandlungspriorität nicht anhand von Sympathien und Idealen, sondern indem es ein starres Verfahren zwischen die Bedürfnisse der Klienten und der medizinischen Leistung schiebt. Organisationale Programmatik soll die medizinische Ungleichbehandlung anleiten, indem die professionelle Funktion der Ärztin von medizinischen Programmen abgelöst wird und unter organisatorische Zwänge gestellt wird. Grundsatz der Triage ist es, von medizinischer Expertise zunächst nur soweit Gebrauch zu machen, wie sie nötig ist, um das Patientenkollektiv entlang vorgegebenen Kriterien zu rastern. Erst wenn über Behandlungsprioritäten entschieden wurde, darf die Ärztin ihrem Handlungsverlangen wieder nachgeben, soll Medizin wieder unirritiert von Verwaltungszwängen kommunizieren und praktizieren. Es sind durchaus Zweifel angebracht, ob die Ärztin in ihrem Tun durch organisationsprogrammatische Vorgaben gebremst werden kann. Doch diese Bedenken stellen wir zu Gunsten einer näheren Betrachtung von Triageprogrammen noch einen Moment zurück. Erst danach wenden wir uns ihnen ihnen zu (→ 3).

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Geplante Entscheidungen: die Triage als organisatorisches Programm

Organisationen strukturieren sich mithilfe ihrer Entscheidungsprämissen bewusst selbst. Drei Typen von Prämissen lassen sich dabei unterscheiden. Organisationen planen zukünftige Entscheidungen, indem sie darüber entscheiden, welches Personal geeignet ist, diese zu treffen, welche Befehlsketten, Dienstwege und Meldepflichten (Kommunikationsnetz) bestehen und eingehalten werden sollen, um bestimmte Entscheidungen zu fällen, und in welchen Fällen welche Verfahrensabläufe (Programme) gelten sollen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die genannten Entscheidungsprämissen werden als entschiedene Entscheidungsprämissen bezeichnet, da sie – anders als unentschiedene Entscheidungsprämissen (z. B. organisationskulturelle Werte oder kognitive Routinen) – bewusst verabschiedet wurden (Kühl 2011; Luhmann 2000, S. 225). Als vergangene Entscheidungen über Personal, Kommunikationswege und Verfahren prägen diese Entscheidungsprämissen künftige Entscheidungen weit über die jeweilige Situation hinaus, in der über sie entschieden wurde. Die Herzlosigkeit und Kälte, die vor allem bürokratischen Organisationen attestiert wird, rührt gerade daher, dass sich ihre Entscheidungen nicht am individuellen Bedürfnis eines Klienten ausrichten, sondern entlang festgelegter Vorgaben erfolgen. Organisationen planen ihre künftigen Entscheidungen, werden dadurch für sich

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

selbst und für andere zu berechenbaren Akteuren und absorbieren so Unsicherheit (Luhmann 2000, S. 230f.). Oder etwas anders gedreht: Organisationen verfolgen Ziele (Zukunft), indem sie ihren Betrieb (Gegenwart) an vergangenen Entscheidungen ausrichten. Derart eingerichtet gehen sie zur Besonderheit des Augenblicks auf Distanz. Die organisierte Patientenselektion und rationierte Vergabe von Ressourcen richtet sich nach Konzepten, die in zeitlicher Sicht vor dem konkreten Fall einer Mittelknappheit festgelegt wurden. Triagekonzepte sollen das lokale, mikroallokative Verfahren steuern und berechenbar machen. Dabei lassen sich zwei Programmtypen voneinander unterscheiden. Zweckprogramme legen organisatorische Ziele (auch Zwischenziele) fest, auf die hinzuarbeiten ist, bleiben in der Definition der einzusetzenden Mittel aber präzisionslos (→ II.2.2). Würde man die Triage als reines Zweckprogramm entwerfen, würde allein das Ziel vorgegeben sein, das Überleben möglichst aller Überlebensfähigen zu garantieren. Dies würde die Annahme voraussetzen, dieses Ziel könne am besten situativ erfüllt werden. Die Mittelverteilung würde dann im Einsatz vom festgelegten Ergebnis her entworfen: Die begrenzten Ressourcen wären „klug“ einzusetzen, sodass eine größtmögliche Zahl an Verletzten überlebt. Niemand geht jedoch heute noch davon aus, nach den Erfahrungen aus 200 Jahren Patientenselektion, dass eine flexibilisierte Triage sinnvoll und effizient umsetzbar sei. Der Zweck, das Überleben möglichst vieler Verletzter zu sichern, ist bei der Planung und Entwicklung von Triageprogrammen das handlungsleitende Motiv, beim Einsatz dieser Konzepte ist dieses Motiv dann aber verdeckt und nicht mehr direktiv. Triagekonzepte sind heute reine Konditionalprogramme (→ II.2.2). Sie verzichten auf jegliche Zweckprogrammierung. Es finden sich in den Programmen keine Formulierungen, die auf das Ziel der Triage hinweisen. Verfolg man den historischen Weg, den die Triageentwicklung zu den streng formalisierten Algorithmen der Gegenwart genommen hat, so ist zu erkennen, wie zweckprogrammierte Teile mehr und mehr verschwanden. Heutige Triagekonzepte sind nicht mehr Output-orientiert, sondern operieren rein Input-geleitet. Mit der Umstellung ging eine strikte Reglementierung des Sortierverfahrens einher, das bekannte Probleme behob und zugleich neue Schwierigkeiten auftauchen ließ. 2.1

Eine Frage der Form: zur begrenzten Komplexität von Triagekonzepten

Bis weit in die 1980er Jahre hinein finden sich nur vage Vorgaben und Vorgehensmodelle, wie im Rahmen der Triage sortiert werden solle. Häufig wurde betont,

2 Geplante Entscheidungen: die Triage als organisatorisches Programm

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handwerklich müsse sich die Ärztin bei der Triage „auf eine Diagnostik mit einfachsten Mitteln (Sehen, Fühlen, Hören = Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation) stützen. Das bedeutet in vielen Fällen ein Rückerinnern an Kenntnisse aus der chirurgischen oder allgemeinmedizinischen Propädeutik“ (Röding und Hagen 1987, S. 72). Daneben wurden der Ärztin grobe Faustregeln (Nagy 1984, S. 14) an die Hand gegeben, die ihr bei der Patienteneingruppierung helfen sollten. Lange ähnelten diese typologischen Vorgaben noch denen, die schon Pirogov machte. Dieser unterschied zwischen fünf Kategorien: Zu der ersten Kategorie, den „Hoffnungslosen“, zählte er solche, bei denen ein bedeutender Theil der Bauchwand mit Entblössung und Vorfall der Eingeweide oder die ganze untere Extremität mit einem Theil des Beckens, oder beide Extremitäten in dem Hüftgelenke durch eine Bombe oder Kanonenkugel abgerissen sind (Pirogov 1864, S. 53).

Da derartige Verletzungen angesichts des im 19. Jahrhundert medizinisch Möglichen als nicht überlebbar galten, wurde den Betroffenen eine medizinische Therapie versagt (Bleker 1987b, S. 215-220). In die zweite Triagegruppe fielen dann „alle bedeutenden Blutungen, traumatischer Torpor, Kopfwunden mit Bewusstlosigkeit verbunden, Athmungsbeschwerden in Folge des Druckes auf Respirationsorgane, Vorfall der Eingeweide, rasch auftretender mephitischer Brand einer Extremität etc.“ Die dritte Kategorie sollte wiederum solche Verletzten umfassen, die „nur präservativ-operative Hülfe verlangen“: Abreissung der Gliedmassen von grösserem Geschoss an Stellen, wo Amputation noch ausführbar ist, Streif- und Prellschüsse mit Zermalmung der Knochen und der Muskeln, mit und ohne Verletzung der Haut, klaffende Hieb-, Schnitt- und Lappenwunden (Pirogov 1864, S. 53).

Das Sortierverfahren war an einer groben Typologie von Verletzungsmustern orientiert. Es war zu großen Teilen der Erfahrung der Ärztin, ihrem medizinischen Wissen und ihren berufsmäßig geschulten Sinnen überlassen, wie sie zu der Entscheidung gelangte, mit welcher Dringlichkeit ein Patient zu behandeln sei. In der typologisch konzipierten Triage ließ sich sowohl der allgemeine Zweck der Triage noch erkennen: Sortiert wurde ausgehend von verschiedenen Behandlungsgruppen, mit deren Zuteilung über die weitere kurative Aufmerksamkeit entschieden wurde. Gleichzeitig war der Sortiervorgang selbst kaum festgelegt und der Weg zur Einteilung dem ärztlichen Können überlassen. Angesichts einer sehr groben, noch bis weit in die 1980er Jahre gängigen Zuordnung von Verletzungsmustern zu Kategorien überrascht es nicht, dass Kritiker mit den vage bleibenden Sortierrastern scharf ins Gericht gingen. Goltermann (1987) zeigt in einer Metastudie am Beispiel verschiedener in der katastrophen-

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

medizinischen Literatur diskutierter Verletzungsmuster, wie unterschiedlich Empfehlungen diverser Autoren zur Eingruppierung bestimmter Fälle ausfallen. Ein Beispiel sticht dabei in der Heterogenität der Bewertung besonders heraus. Während einige Mediziner empfehlen, einen Verletzten, der eine zweigradige Verbrennung von etwa 40 % der Körperoberfläche erlitten hat, zur Sofortbehandlung einzustufen (rote Kategorie), sprechen sich andere für eine Behandlungsstufe mit niedrigerer Priorität (gelbe Kategorie) aus. Dritte schlagen wiederum vor, eine derart schwerverletzte Person aufgrund ihrer hohen Ressourcenbeanspruchung bis auf weiteres nicht zu behandeln (blaue Kategorie) (ebd., S. 21-27; ferner: Augst 1987).

Abbildung IV.2: In den USA gebräuchliche Patientenanhängekarte (MT-137, Mettag™). Quelle: https://tacda.org/mettag-2/ (18.9.2019)

Goltermanns Studie demonstriert die Selbstverständlichkeit, mit der ein Klassifikationsschema (rot, gelb, grün, blau/schwarz) in den 1980ern in der Katastrophenmedizin verwendet wird (→ Abbildung IV.2). Das von der NATO eingesetzte vierstufige Ampelschema, das die Behandlungspriorität in abfallender Reihenfolge durch die Farben rot, gelb, grün und blau/schwarz markierte, hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als standardmäßige Triageklassifikation durchgesetzt (→ Tabelle IV.2). Wie für Standards üblich ist der Gebrauch der Klassifikation nicht vorgeschrieben oder zwingend (Brunsson und Jacobsson 2002, S. 12-

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15). Die Farbsystematik hat sich nicht wegen ihrer nachweisbaren verwaltungstechnischen Effektivität, ihrer medizinischen Zweckmäßigkeit oder wissenschaftlichen Güte durchgesetzt. Standards gewinnen ihre praktische Dominanz häufig allein aufgrund ihrer Verbreitung oder ihres Gebrauchs durch einen dominanten Akteur. Standards sollen vor allem Kooperation durch Kompatibilität ermöglichen. Einmal etabliert üben Standards einen sanften Zwang aus, sie weiter zu verwenden. Auch in Deutschland wird das vierfarbige Stufensystem mit dem Argument beibehalten, es fände international Anwendung (Sefrin et al. 2002). Doch es ist weniger die Eignung der Vierfarbensystematik, die von Goltermann kritisch gesehen wird. Es geht Goltermann vielmehr darum, die nur vermeintliche Eindeutigkeit von Triagekategorien herauszuarbeiten. Sein Vergleich zeigt, dass Kategoriengrenzen nur scheinbar exakt sind und bei näherem Hinschauen große Unstimmigkeit hinsichtlich der genauen Fallzuordnung herrscht. Die Unsicherheit lässt sich auch nicht, wie es andere Raster probieren, mit einer Residualkategorie für „sonstige“ oder „unbekannte Fälle“ auflösen (Bowker und Star 1999, S. 149f.), denn die Triage steht schlechterdings vor dem Problem, sich uneindeutige Fälle nicht leisten zu können. Jede Triage steht unter Entscheidungszwang. Nimmt man jedoch die schwerwiegenden Folgen dieser Klassifikationsunschärfen in den Blick, dann weisen sie eine hohe Problematik auf. Wenn schon in der Theorie keine Einstimmigkeit darüber herrscht, welche Kasuistik welcher Triagekategorie zugeordnet werden solle, wie kann dann in der Praxis von der Ärztin eine korrekte Diagnose und Einteilung unter Zeitdruck und chaotischen Verhältnissen erwartet werden? Eine Lösung kommt Anfang der 1980er Jahre in den USA in Sicht. In Kalifornien wird der erste Triagealgorithmus entwickelt, mit dem das Problem der unsicheren Zuteilung von Patienten zu Kategorien gelöst werden soll. Zusammen mit Bediensteten des New Port Beach Fire and Marine Departments entwickeln Mediziner des Hoag Hospitals von Newport Beach den Simple Triage and Rapid Treatment, kurz: STaRT-Algorithmus (→Abbildung IV.3). Sehr wahrscheinlich waren es geologische Forschungsergebnisse, die den historischen Anstoß zur Entwicklung des Algorithmus zu dieser Zeit und an diesem Ort gaben. Denn breit rezipierte Befunde nährten Befürchtungen, Kalifornien habe in regelmäßigen Abständen mit extremen Erdbeben zu rechnen, schlimmer noch, das nächste große Beben, the big one, sei statistisch betrachtet längst überfällig. Aufsatztitel wie Disaster Triage: START, then SAVE – a new method of dynamic triage for victims of a catastrophic earthquake (Benson et al. 1996) zeugen vom treibenden Impuls hinter der Triageentwicklung, der heute vielfach in Vergessenheit geraten ist. Me-

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Abbildung IV.3: Frühe Version des STaRT-Algorithmus von 2001 (Simple Triage and Rapid Treatment). Erstmals in ähnlicher Form 1983 publiziert und u.a. per Lehrvideo verbreitet. Quelle: http://citmt.org/Start/images/flowchart.jpg, graphische Überarbeitung d. N.E.

dizinisch blieben die Konsequenzen der Primärorientierung auf traumatische Verletzungen (und nicht auch auf toxikologische Erkrankungen oder Verbrennungsverletzungen) lange Zeit undiskutiert. Der STaRT-Algorithmus löste die bisherige Sortierung nach Verletzungsmustertypologien durch einen streng formalisierten mehrstufigen Sortierprozess ab. Entlang weniger, eindeutig zu beantwortender Fragen zu bestimmten Vitalparametern des Patienten führt das algorithmische Konditionalprogramm seine Anwenderin Schritt für Schritt hin zum korrekten Einstufungsergebnis. Jedes Messergebnis gibt an, was als nächstes zu tun ist. Atmet der Patient etwa mit einer Frequenz von mehr als 30 Zügen pro Minute, so muss er rot triagiert werden, liegt die Atemfrequenz darunter, muss ein weiterer Vitalparameter erhoben werden. Jeder Entscheidungszweig führt am Ende zu einer kategorischen Festlegung der Behandlungspriorität des Patienten. Algorithmen sind auf elementare Operationsschritte verkleinerte, vollständig determinierte (d. h. sie zeichnen sich durch ein strenges wenn-dann-Schema aus), allgemeine (d. h. sie sind auf eine Vielzahl von Fällen anwendbar), endliche Prozessabläufe (Krämer 1988, S. 159f.). Diese Eigenschaften begünstigt ihre Techni-

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sierbarkeit und Automation (Luhmann 1983b, S. 230f.). Durch ihre mathematische Natur eliminieren sie Mehrdeutigkeiten und befreien ihre Anwenderin so von der Verantwortung, eine Zuordnung zu vage definierten Kategorien selbstständig durchführen zu müssen. Sind Triagealgorithmen zur Hand, erübrigen sich situative Entscheidungen zum Status und Schicksal eines Patienten. Entscheidungswillkür wird durch rigide Entscheidungsvorgaben ersetzt. Ein englisches Lehrbuch für Paramedics erklärt seinen Leserinnen den Vorteil notfallmedizinischer Algorithmen wie folgt: The algorithm typically does not give wide latitude in decision making. By using a specific planned set of actions and decisions, the Paramedic, at the time of the emergency need only to perform the algorithm […]. One of the greatest advantages of algorithms is that the if-then decisions are made in advance. Instead of having the Paramedical consider the advantages and disadvantages of a particular intervention while managing a critically ill patient, other individuals – in calmer and less pressure circumstances – have already considered the literature and anecdotal experience and have formed a consensus decision on treatment (Beebe und Myers 2009, S. 380f.).

Gerade im Notfall, wenn für die Gesundheit und das Leben des Patienten folgenreiche Entscheidungen getroffen werden müssen, für die Entscheidungsfindung aber kaum Zeit zur Verfügung steht, werden Algorithmen als äußerst hilfreiche Konzepte zur Entscheidungsunterstützung begrüßt (Sefrin 2002, S. 620f.; Peters et al. 2007). Da die am Einsatzort zu leistende Entscheidungsarbeit in wesentlichen Punkten bereits im Vorfeld geleistet wurde, werden Handlungsunsicherheiten reduziert, können praktische Rettungsbemühungen unmittelbar eingeleitet werden. Klare Entscheidungsprämissen steuern das operative Vorgehen. Hinzu kommt, dass, sollte es im Nachhinein zu Zweifeln an der Vorgehensweise und zu einem juristischen Verfahren kommen, sich darauf berufen werden kann, man habe entlang eines medizinisch vorgegebenen Konzepts gearbeitet – wenn überhaupt, dann seien es dessen Entwicklerinnen oder diejenigen, die über seinen Einsatz entschieden haben, die sich kritische Fragen gefallen lassen müssten. Die Verlagerung der Verantwortung durch formale Verfahren zeigt vor allem eins: Echte Entscheidungen werden unter der Regie von Konditionalprogrammen nicht mehr gefällt. Algorithmen reduzieren die kreative Problemlösungsfähigkeit ihrer Anwender oder, so der Vorwurf, löschen sie ganz aus. „Derjenige, der ein algorithmisiertes Problem löst, wird zum ‚Rechenknecht‘, der das Problem um so besser lösen wird, je sklavischer er sich an die Anweisung hält: Das Problem wird nicht be-arbeitet, sondern ab-gearbeitet“ (Krämer 1988, S. 159). Bei der Anwendung von Algorithmen geht es nicht mehr um das Abwägen von Alternativen, sondern um fehlerfreie Ausführung und Umsetzung von Vorgaben. Die einzige echte

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Abbildung IV.4: Das Problem angemessener Komplexität. Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an Weick 1995 (S. 55).

(und daher auch riskante) Entscheidung, die mit Algorithmen einzieht, ist die, dem Programm nicht zu folgen. Der grundsätzliche Vorteil notfallmedizinischer Algorithmen wird heute kaum mehr bestritten, auch wenn gerade im Rettungsdienst betont wird, Erfahrungswerte seien mindestens ebenso wichtig wie algorithmisches Wissen. Triagealgorithmen unterscheiden sich jedoch in einem ganz besonderen Punkt von gewöhnlichen Notfallalgorithmen. Anders als diese sind Triagealgorithmen nicht auf das Vorgehen bei einem bestimmten medizinischen Notfalltyp, z. B. bei einem reanimationspflichtigen Patienten, ausgelegt. Sie zielen, genau umgekehrt, nicht auf einen typischen Einzelfall, sondern auf den Massenfall und erheben den Anspruch, alle Patienten, unabhängig von ihrer spezifischen Verletzung, kategorisieren zu können. Mit diesem Selbstanspruch stehen Triagealgorithmen vor dem gleichen Problem, das auch andere formale Modelle beschäftigt, die die Wirklichkeit abbilden, ordnen und daran anknüpfend soziales Handeln steuern wollen. Die Schwierigkeit, vor der solche Modelle stehen, lässt sich anhand des Ziffernblatts einer Uhr darstellen, wie es Weick (1995, S. 55f.) in Anlehnung an Thorngates (1976) Postulat angemessener Komplexität entworfen hat. Mit ihm lässt sich veranschaulichen, dass theoretische Gebilde immer vor dem Problem stehen, entweder ihre Einfachheit, ihren Allgemeingültigkeitsanspruch oder ihren Genauigkeitsgrad zu Gunsten der zwei übrigen Eigenschaften preisgeben zu müssen. Das (zweidimensionale) Ziffernblatt (→Abbildung IV.4) verbildlicht die Unmöglichkeit allen drei Dimensionen gleichmäßig gerecht werden zu können. Je mehr sich ein Modell

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einer oder zwei Eigenschaften zuwendet, hier veranschaulicht in der Position des Zeigers, desto weiter entfernt es sich von der dritten Dimension. Als Notfallkonzepte kämpfen Triagealgorithmen vor allem mit dem Problem nicht genau genug zu sein. Als Instrumente, die unter extremen Zeitdruck zum Einsatz kommen sollen, unterliegen Triagekonzepte, wie so viele andere Notfalltechniken, dem Anspruch, einfach zu (handhaben zu) sein. Gleichzeitig sollen sie bei jedem Massenanfall einsetzbar und auf möglichst viele Patienten übertragbar sein und sind deswegen sehr allgemein konzipiert. Ihrem allgemeinen und einfachen Design fällt die Genauigkeit zum Opfer. Ein typisches Beispiel dafür bilden Verletzte, die an einer Hirnblutung leiden. Die Verletzung wird in der Regel nicht erkannt und bleibt damit unbeachtet (Untertriage). Umgekehrt ist auch bekannt, dass Algorithmen wie STaRT Verletzte häufig zu hoch einstufen (Übertriage). Im Gegensatz zu den einfachen, allgemeinen, aber eben ungenau bleibenden Triagealgorithmen stehen Scoring Verfahren, die exakter arbeiten, aber auch komplexer und deswegen schwieriger anzuwenden sind. Gängige Triagealgorithmen leiden unter einer geringen Klassifikationstiefe. Ihnen wird vorgeworfen zu undifferenziert zu sein: Vier oder fünf Triagekategorien würden nicht als Dringlichkeitsstufen ausreichen, eine hochauflösende Abstufung zwischen prioritär zu behandelnden Patienten sei erforderlich (Navin und Waddell 2004, S. 6). Zudem sei die Systematik von Algorithmen zu statisch und könne nicht den Einsatzbedingungen angepasst werden. Scoring Verfahren wie die Sacco Triage Method (STM) greifen zwar ebenso wie einige Algorithmen auf verschiedene Vitalparametern und neurologische Messungen zurück, bepunkten diese aber und erfassen sie dadurch genauer (Sacco et al. 2007). Anstatt über zweiseitige wenn-dann Anweisungen zu einem Einstufungsergebnis zu gelangen, bewertet die STM drei Parameter (Atemrate, Pulsschlagrate, motorische Reaktion) in einer fünfstufigen Skala mit 0 bis 4 Punkten (→ Tabelle IV.1). Tabelle IV.1: Sacco Triage Method: Punkteberechnung (Version aus Navin und Waddell 2004, S. 8, Übersetzung N.E.)

Wertkodierung

0

1

2

R (Atemzüge / 15 Sek.)

0

1 oder 2

9 oder mehr 7 oder 8

3-6

P 0 (Herzschläge / 15 Sek.)

1 – 10

11 – 15

16 – 30

M (motorische Reaktion)

Extension/ ungezielte gezielte Flexion Schmerzab- Schmerzabwehr wehr

Keine Reaktion

3

Mehr als 30

4

befolgt Aufforderungen

260

IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Die Bewertung der motorischen Reaktion ist leicht modifiziert der Glasgow Coma Scale, einer Skala zur Einschätzung von Bewusstseinsstörungen, entnommen. Die gemessenen Werte werden in Punkte umgerechnet und dann summiert. Den Höchstwert von 12 Punkten erhält zum Beispiel ein Patient, der innerhalb einer Viertelminute fünfmal atmet, dessen Pulsschlag in dieser Zeit zwanzigmal tastbar ist und der in der Lage ist, einfachen Aufforderungen („Schauen Sie mich mal an!“) Folge zu leisten. Mit der nach einem seiner Entwickler benannten Triagemethode wird für jeden Patienten ein Wert zwischen 0 und 12 berechnet. Eine niedrigere Score ist gleichbedeutend mit einer schwerwiegenderen Verletzung und einer geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten. So stehen 12 Punkte für eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 98 %, 11 Punkte bedeuten 97 %, bei 10 Punkten liegt sie bei 92 %, im niedrigen Punktebereich gleichen 3 Punkte einer Überlebenswahrscheinlichkeit von 27 %, 2 Punkte bedeuten 17 %, 1 Punkt bedeutet 11 % und schließlich wird für Patienten mit 0 Punkten nur noch von einer Überlebenswahrscheinlichkeit von 5 % ausgegangen. Mit dem hinter der STM stehenden mathematischen Modell kann zudem die Veränderung der Überlebenswahrscheinlichkeit im Zeitverlauf prognostiziert werden. Die STM wirbt damit, die Behandlungsreihenfolge dank der 13 Kategorien zum einen genauer, zum anderen in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Ressourcen festlegen zu können. Je nach zur Verfügung stehenden Therapieund Transportkapazitäten können die Gruppen zu größeren zusammengefasst und entschieden werden, was mit welcher Gruppe zunächst geschieht. So kann etwa angesichts der Versorgungslage beschlossen werden, Patienten mit einer Punktsumme von 3, 4 oder 5 vital zu stabilisieren und diese dann vor allen anderen in eine Klinik abzutransportieren, dagegen Patienten mit einem Wert zwischen 6 und 10 zwischenzeitlich vor Ort zu behandelt und Patienten mit einem Wert von unter 3 Punkten (zunächst) medizinisch aufzugeben. Es ist ersichtlich, dass mit der größeren Genauigkeit der Skalierung zum einen die Komplexität des Verfahrens zunimmt, zum anderen aber auch die Anschlussoperationen entscheidungsintensiver werden. Obgleich die STM angibt als einziges Triageverfahren evidenzbasiert180 180 Evidenzbasiert bedeutet hier, dass das Triageverfahren anhand der Fälle aus einem Traumaregister auf seine Tauglichkeit überprüft wurde. Eine Kontrolle durch Evaluation bei einem echten MANV-Einsatz fand bisher nicht statt. Die Problematik von Traumaregistern und der notfallmedizinischen Traumaforschung insgesamt skizziert ein Interviewpartner im Zusammenhang mit der Frage, wie genau die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Notfallpatienten überhaupt angegeben werden kann. Interviewer: Lässt sich denn überhaupt medizinisch immer genau einschätzen, wie hoch die Überlebenschance eines Patienten ist. Vieles sieht man ja überhaupt nicht.

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zu sein, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, und obgleich Studien zeigen konnten, dass die Methode den herkömmlichen, sich im Gebrauch befindlichen Algorithmen weit überlegen ist, hat sie sich bisher nicht gegen diese durchsetzen können. „Currently, the STM is the only empirically derived triage method […]. There are no published reports using the STM or addressing its real-world applicability“ (Jenkins et al. 2008, S. 6). Der seltene Gebrauch der STM ist ihrer höheren Komplexität geschuldet. Die STM wird als ein Verfahren betrachtet, das computergestützt erfolgen muss. Auch Entwickler des STaRT-Algorithmus anerkennen die hohe statistische Sensitivität und Spezifizität der STM, bewerten das Verfahren aber als „overly complex and impractical“ (Kahn et al. 2009, S. 426). Obwohl Vertreter der STM Anwendungsschwierigkeit herunterspielen,181 kann das Scoring Verfahren bis heute nicht mit Algorithmen konkurrieren.182

ÄLRD: Also, es gibt manche Sachen, die kann ich sofort. Wenn einer spritzend blutet, dann muss ich sofort etwas machen. Bei allen anderen sehe ich es nicht. Da lernen wir; da ist die Notfallmedizin noch ganz am Anfang, weil wir in den letzten Jahren zu wenig geguckt haben, was aus den Patienten wird. Da kommen immer wieder erstaunliche Ergebnisse raus. Es gibt eine Arbeit zur Vermeidbarkeit von Traumafällen, die in Kooperation mit Traumatologen und mit der Gerichtsmedizin gemacht wurde. Letztere hat sich alle eingelieferten Fälle angeschaut. Bei den Obduktionen sind nicht wenige Fälle aufgetaucht, wo man sagen muss, da hätte man wahrscheinlich mehr machen können. I: Was heißt Vermeidbarkeit von Traumafällen, dass die versterben, oder? ÄLRD: Ja. Die haben sich alle Traumatoten anguckt. Es gibt in der Notfallmedizin viel zu wenig populationsbasierte Forschung. Die Klinik sagt: „Ich schaue mir alle Polytraumen an, die bei mir zur Tür reinkommen“, die DGU sagt: „Wir gucken uns alle Traumen über ein Register an.“ Es ist was Neues, wenn man sich die anguckt, die in der Rechtsmedizin landen. Da wurde festgestellt, dass ein paar Tote dabei waren, die laut Expertenmeinung vielleicht noch überleben hätten können, wenn der Notarzt die richtigen Maßnahmen ergriffen hätte, wenn er Diagnosen nicht übersehen hätte oder sowas. Wir haben in der Notfallmedizin zu wenig den Outcome betrachtet oder haben nur auf die Überlebenden geschaut. […] Erst jetzt kommt das mehr und mehr, weil die Notaufnahmen besser werden: die Enddiagnose der Notaufnahme sagt dann: „Ja, da habt ihr das und das übersehen.“ 181 Auch kann die Berechnung mittels der Sacco Triage Method mithilfe eines tragbaren Handcomputers geschehen (Navin und Waddell 2004, S. 8f.) wie es auch bei Triagealgorithmen vorgenommen wird (Ellebrecht et al. 2013b; Ellebrecht und Kaufmann 2014). 182 Ein Interviewpartner wies darauf hin, dass die Kategorien des STaRT-Algorithmus an einem Scoring-System orientiert sind. In einem Wikipediaartikel zur Revised Trauma Score (RTS) wird auf eine solche Beziehung ebenfalls hingewiesen (allerdings ohne eine nähere Referenz): „The Revised Trauma Score is made up of a three categories: Glasgow Coma Scale, Systolic blood pressure, and respiratory rate. The score range is 0-12. In START triage, a patient with an RTS score of 12 is labeled delayed, 11 is urgent, and 10-3 is immediate. Those who have an RTS below 3 are declared dead and should not receive certain care because they are highly unlikely to survive without a significant amount of resources“ (Version vom 7. 3. 2015). Zeitlich kann dies durchaus passen, da die Trauma Score 1981 – die Revised Trauma Score dann 1989 – publiziert wurde, also etwa in dem Zeitraum, in dem auch der STaRT-Algorithmus entwickelt worden ist. Möglich

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Der jeweilige Vorteil der beiden Verfahren – Einfachheit auf der einen, Genauigkeit auf der anderen Seite – verweist auf das zentrale Dilemma notfallmedizinischer Programme. Die organisatorische Rationalität notfallmedizinischer Verfahren steht immer am Scheideweg zwischen ihrem theoretischen Können und ihrem operativen Vollzug. Das sehen auch die Entwickler des STaRT-Algorithmus so. Seine Verbesserung müsse stets an beiden Polen ansetzen. Zukünftige Entwicklungen hätten die Fragen zu adressieren, „how paramedics choose to assign patients to triage categories, why they deviate from the algorithm, and whether specific components of START and other systems may require revision“ (Kahn et al. 2010, S. 580). 2.2

Wer triagiert? Das Personal als Entscheidungsprämisse

Der letzte Abschnitt endete mit dem Hinweis, Triageprogramme, egal wie gut sie in der Theorie seien, hätten sich stets in der Praxis zu bewähren. Als ein wesentliches Kriterium für ihre operative Tauglichkeit wurde in Anlehnung an Weick und unter Verweis auf die spezifischen Erfordernisse bei Notfalleinsätzen ihr einfache Handhabbarkeit genannt. Dieses Kriterium berücksichtigt ausschließlich Eigenschaften des formalen Programms und lässt die Frage, wer es ausführt, außer Acht. Im Folgenden möchte ich anhand einiger empirischer Daten zeigen, dass durchaus berücksichtigt werden sollte, welches Personal das Programm ausführt. Im Zentrum meiner Analyse steht dabei die empirische Beobachtung, dass es einen Unterschied macht, ob Rettungsassistenten der Feuerwehr oder Rettungsassistenten einer Hilfsorganisation mithilfe eines Algorithmus triagieren. Da sich die Daten auf eine Studie beziehen, die in Deutschland durchgeführt wurde, wird zunächst skizziert, welche strukturellen Veränderungen im Rettungswesen hierzulande mit der Einführung von Triagealgorithmen in Verbindung stehen. In deutschen Rettungsdienstlehrbüchern finden Triagealgorithmen erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts, knapp 20 Jahre nachdem die ersten Ablaufkonzepte in den USA entwickelt worden waren, und dann auch zunächst nur zögernd Eingang (Crespin und Neff 2000, S. 110-115). In einer Umfrage geben nur 26,1 % von 1534 befragten Rettungsassistenten an, in ihrer Ausbildung Sichtungsalgorithmen kennengelernt zu haben, von 485 Notärzten sind es 35,4 % (Ellebrecht 2013, S. 372). Obgleich anzunehmen ist, dass sich die Ausbildungsinhalte in den letzten Jahren diesbezüglich verändert haben, besaßen Sichtungsalgorithmen lange nicht ist auch, dass die RTS rückblickend herangezogen wird, um den Algorithmus wissenschaftlich bzw. statistisch zu rechtfertigen. Die im Wikipediaartikel angegebenen Werte lassen sich jedenfalls – soweit ich das beurteilen kann – nicht eindeutig aus dem STaRT-Algorithmus ableiten.

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den Stellenwert, der ihnen in bereits in den USA zufiel. Neben allgemeinen Transferverzögerungsgründen, wie etwa der Sprachbarriere, sind für diese Verzögerung in erster Linie die unterschiedlichen Strukturen des amerikanischen und des deutschen Rettungsdienstes (Nurok 2001) sowie die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung der Ärzteschaft in den USA und in Deutschland verantwortlich (Schützeichel 2007, S. 551-554). Die fehlende Beschäftigung mit Triagealgorithmen in Deutschland ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Triage hierzulande lange Zeit als originär ärztliche Aufgabe begriffen wurde, bei der nichtärztliche Rettungskräfte assistieren (→ Abbildung IV.5). Als ärztliche Tätigkeit widerstand die Triage lange Zeit ihrer strengen Formalisierung und Konditionalisierung; die diagnostische Arbeit im Rahmen der Patienteneinstufung wurde als eine Kernkompetenz der Ärztin verstanden. Nur sie sei in der Lage, die sensorisch und kommunikativ erhobenen Daten mit Erfahrungswerten zusammenzubringen, ein mentales Modell zu bilden und davon ausgehend Entscheidungen zu treffen. Diese professionelle Inferenz- oder Entscheidungsarbeit (→ III.1.2) kann als „sophisticated process of forming, weighing up and testing hypotheses to determine the underlying causes, events or actions that lead to undesirable effects“ (Büscher et al. 2010, S. 1) begriffen werden. Diese „ärztliche Kunst“ sieht sich seit den 1970er Jahren zusehends wissenschaftlichen Rationalisierungsbestrebungen und klinischen Standardisierungsbemühungen gegenüber, die die Sonderstellung der ärztlichen Profession in der Medizin auflösen und zu ihrem Bedeutungsverlust (zugunsten von Organisation) geführt haben (Stichweh 1996, S. 50; Berg 1995, 1997; Timmermans und Berg 2003; Vogd 2002, 2005). Im Übergang von Faustregeln zu Algorithmen vollzieht sich ein Bruch, der die ärztliche Autonomie betrifft (Moskop und Iserson 2007b, S. 283). Die oben von Goltermann kritisierten, die ärztliche Triage orientierenden Faustregeln sind nicht als wissenschaftliche Vorläufer zu verstehen, die dann durch medizinisch weiterentwickelte Algorithmen abgelöst wurden. Die Faustregeln fixieren ein professionelles Selbstverständnis, das die ärztliche Tätigkeit als hochgradig komplex, autonom und deswegen nicht durch formale Verfahren und Techniken substituierbar begreift.183 Gerade für den präklinischen Bereich werden die Vorteile eines notarztgeprägten Rettungsdienstes gegenüber einem reinen Paramedic-System darin gesehen, dass Notärztinnen über umfangreiches Wissen verfügen, welches „zu

183 Dies beweist gerade auch der einzige und weitgehend unbekannte Triagealgorithmus für Ärzte, der in Deutschland entwickelt wurde (Bubser 1991). Dieser konkretisiert zwar das diagnostische Vorgehen dadurch, dass aufgelistet wird, was der Arzt alles zu beachten habe, stellt aber keine Entscheidungshilfen für die Priorisierung parat.

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

einem eigenständigen Vorgehen bei Patienten, die in ihrem Beschwerdebild ‚nicht Algorithmen entsprechen‘“ (Gorgaß et al. 2007, S. 19) befähige.184 Ihre Kompetenz erlaube es der Ärztin ungewöhnliche oder seltene Muster zu entdecken, die beim blinden Einsatz von Algorithmen übersehen würden. Dieses zentrale Argument für einen notarztbasierten Rettungsdienst verliert im Rahmen der Verletztensortierung nun seine Bedeutung. Triagealgorithmen setzten sich in Deutschland auf breiter Front erst mit der Erkenntnis durch, dass nicht nur Notärztinnen, sondern auch Rettungsassistenten (später dann Notfallsanitäter) Patienten eingruppieren können bzw. können sollten. Dies ist eine junge Entwicklung. Noch 2006 wurde in der Triage primär eine „spezifisch ärztliche Aufgabe“ gesehen, „da sie eine besondere Form der Ausübung der Heilkunde ist, um in kürzest möglicher Zeit eine Diagnose zu stellen und therapeutische Entscheidungen zu treffen“ (Rebentisch 2006, S. 23). Doch vor allem angesichts struktureller Gründe – im operativen Rettungsdienst sind zum einen wesentlich weniger Notärztinnen als Rettungsassistenten und Notfallsanitäter verfügbar, manche sprechen von einem Verhältnis von 1:10 (Peters et al. 2006), zum anderen trifft nichtärztliches Personal in der Regel früher am Einsatzort ein und muss deswegen mit der Dringlichkeitsklassifikation beginnen – konstatierte 2009 auch die Bundesärztekammer, die Sichtung sei zwar „eine ausgesprochen schwierige und besonders verantwortungsvolle ärztliche Aufgabe“, eine „individuelle Zustandsbeurteilung eines jeden einzelnen Betroffenen sowie eine erste medizinische Gesamt-Lagebeurteilung“ (Bundesärztekammer 2009) müsse zu Beginn eines Rettungseinsatzes jedoch auch von nichtärztlichem RettungsdienstFachpersonal durchgeführt werden können. Für dieses Verfahren wurde der Begriff Vorsichtung185 gewählt (→ Abbildung IV.5, unten). An diese habe dann die ärztliche Sichtung anzuschließen. Triagealgorithmen wurden in Deutschland dann zum Thema, als sich die Ansicht durchzusetzen begann, die Sichtung müsse Aufgabe von Rettungsassistenten sein. Erst der Zwang zur Delegation einer vormals ärztlichen Tätigkeit machte Algorithmen interessant. Denn um Verfahren oder Kompetenzen auf rangniedrigeres Personal zu delegieren, bieten sich Konditionalprogramme an. Da diese nicht über Wege oder Mittel disponieren lassen, um ein Ziel zu erreichen, benötigt ihre Durchführung weniger Kontrolle (Luhmann 1983b, S. 233). Gleichzeitig wurde in Deutschland der Sonderweg beschritten, den Gesamtprozess der Sichtung so zu konzipieren, dass auf die Triage des Rettungsassistenten noch eine ärztliche Sichtung zu folgen habe. Die herausgehobene Position der Notärztin im deutschen Ret-

184 Vgl. zur Geschichte der notärztlichen Profession Kessel (2014). 185 In der Wehrmedizin spricht bereits Wachsmuth et al. (1980, S. 331) von einer „Vor-Sichtung“.

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tungsdienst wurde nun formal darüber gesichert, dass die konditionalprogrammierte Triage ausdrücklich als vorläufige Einstufung definiert wurde und der Notärztin die Aufgabe zufiel, diese Vorsichtung mittels einer formlosen (im Sinne einer freien) Nachsichtung zu kontrollieren. Dem Vorsichtungsalgorithmus wurde damit ein Zweckprogramm übergestülpt, mit dem die Verantwortung für eine richtige Einstufung und die Folgen einer falschen Sichtung weiterhin in ärztlichen Hände liegt (Luhmann 2000, S. 274). Es wird dem Prinzip gefolgt, dass Delegation nicht von der Verantwortlichkeit befreie, schon allein um die standespolitische Bedeutung zu sichern (Luhmann 1964, S. 181). Angemerkt werden muss, dass die Stellungnahme der Bundesärztekammer offenlässt, wo die nachfolgende ärztliche Triage erfolgen soll: noch am Einsatzort durch eine Notärztin, oder erst, wie im weitgehend notarztfreien System der USA, in der Notaufnahme. Vergleichende empirische Untersuchungen zur Qualität der Triage von Notärzten und der von Rettungsassistenten liegen derzeit nicht vor. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass viele Länder nicht mit einem notarztgestützten Rettungssystem arbeiten und sich die Frage dort nicht stellt. Die wenigen Untersuchungen, die es zur Triage durch nichtärztliche Einsatzkräfte gibt, unterstreichen, dass die Verwendung von Triagealgorithmen die Sortierleistung insgesamt positiv beeinflusst.186 Viele dieser experimentellen Untersuchungen betonen aber auch, dass es trotz der Algorithmen zu falschen Einstufungen käme. Unterschiedliche Gründe – Anwendungsfehler, Umsetzungsprobleme, bewusste Nichtbefolgung – können die Abweichungen erklären helfen.187 Letzteres – die bewusste Nichtdurchführung des Programms – war ein wesentlicher Fehlergrund auf einer Übung, bei der Rettungsassistenten aus verschiedenen Organisationen mehr als 500 Patienten triagierten. Die Entscheidung, den Algorithmus in einigen oder allen Fälle gegen die explizite Anweisung nicht anzuwenden, trafen hier vor allem Rettungsassistenten, die nicht bei einer Berufsfeuerwehr angestellt waren (Ellebrecht und Latasch 2012). Während Rettungsassistenten der Feuerwehr im Durchschnitt eine Fehlerquote von 12,3 % aufwiesen, kamen ihre Kollegen der Hilfsorganisationen auf einen Fehlerdurchschnitt von 38,5 % (bei großen Abweichungen im Einzelnen). Hätten sich die Übenden streng an den im Vorfeld erlernten Triagealgorithmus gehalten, der ihnen auch auf einem mitgeführten Handcomputer zur Verfügung stand (→ Abbildung IV.5), hätte die Fehlerquote gegen Null tendieren müssen. Frappierend war zudem die per Fragebogen im Nachgang der Übung

186 Wobei jüngste Untersuchungen nun betonen, rettungsdienstliche Erfahrung sei den Algorithmen gar überlegen: Hart et al. (2018). 187 Eine aktuelle, diesem Thema gewidmete Studie (Ellebrecht 2019a) konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden.

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Abbildung IV.5, oben: Notärztliche Triage/Sichtung: Ein Notarzt (rechts am Bildrand) untersucht einen Patienten. Er wird von drei nichtärztlichen Rettungskräften unterstützt: die erste (von rechts nach links) notiert die Diagnose des Arztes und den Sichtungsstatus auf eine Verletztenanhängekarte, die zweite misst den Blutdruck, die dritte trägt den Sichtungsstatus jedes untersuchten Verletzten in eine Übersichtsliste ein. Unten: Sichtung durch Rettungsassistenten mittels eines Handcomputers: Die Rettungsassistenten folgen Triagealgorithmen, um die Sichtung/Triage durchzuführen. Auf dem Bild wird der Sichtungsstatus in einen gelben Handcomputer eingegeben. Üblicherweise wird eine Patientenanhängekarte (PAK) verwendet Quelle: Eigene Fotos.

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erhobene Aussage, dass viele Rettungsassistenten die eigene Sortierleistung tendenziell richtig einschätzen konnten, ohne vorher über die eigene Fehlerquote in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Einsatzkräfte waren sich durchaus bewusst, ob sie formal korrekt triagiert hatten oder ob sie vom offiziellen Vorgehen abgewichen waren. Anders als Notärztinnen sind Rettungsassistenten enger in eine Rettungsorganisation eingebunden und damit wesentlich stärker darauf geeicht, organisationalen Reglements zu folgen. Doch die an die Mitgliedschaft gebundene Verpflichtung zur Einhaltung formaler Vorgaben unterscheidet sich nachweisbar, wie das Beispiel Triagealgorithmeneinsatz belegt. Feuerwehr-Rettungsassistenten konnten im Mittel nicht nur eine geringere Fehlerquote vorweisen, sie gaben auch häufiger an, auf den Algorithmus zurückgegriffen zu haben. In der Folge erwogen rückblickend nur wenige Feuerwehrleute, den Status eines von ihnen eingestuften Patienten zu ändern; dagegen spielten sechs von insgesamt acht Rettungsassistenten der Hilfsorganisationen nach der Übung mit dem Gedanken, einen oder mehrere durch sie eingestufte Verletzte im Nachhinein noch umtriagieren zu wollen. Obgleich die Fallzahl der Studie klein war, lassen sich die Ergebnisse gut als Belege unterschiedlicher organisationskultureller Prägungen deuten. Unter „Organisationskultur“ werden hier unentscheidbare Entscheidungsprämissen einer Organisation verstanden (Luhmann 2000, S. 240-249). Entscheidung werden demnach nicht nur entlang formaler Vorgaben gefasst, sondern können sich auch auf informelle Werte einer Organisation beziehen. Auch sie beeinflussen aktuelle Entscheidungen maßgeblich, anders aber als formale Programmstrukturen ist die Organisationskultur keine entschiedene Entscheidungsprämisse, sondern eine historisch durchaus mit und „am“ formalisierten Regelwerk mitgewachsene Struktur, die gleichwohl nie offiziell in Kraft gesetzt wurde. Letzteres lässt sich anhand des unterschiedlichen Erfahrungshaushaltes der beiden Rettungsassistentengruppen exemplarisch skizzieren. Rettungsassistenten der Feuerwehr sind in der Regel selbst Feuerwehrbedienstete und verstehen sich primär als solche. Als Feuerwehrmänner und -frauen sind sie Mitglieder einer kasernierten Gemeinschaft mit einer im Einsatz strenghierarchischen, stark funktionsteiligen Operationsstruktur, wie sie außerhalb militärischer Einrichtungen selten anzutreffen ist (→ III.2.2). Feuerwehrfrauen und männer sind es gewohnt, Aufgaben zu erbringen, die für sich allein genommen unbedeutend oder sogar unzweckmäßig scheinen, aber in Kombination mit anderen und von anderen Einsatzkräften erbrachten Leistungen einen erfolgreichen Einsatz garantieren. Feuerwehrkräfte begründeten die unterschiedlichen Ergebnisse die Triageübung denn auch damit, dass die disziplinierte Aufgabenerfüllung gerade mit Blick auf Großeinsätzen stets betont und geübt werde.

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Rettungsassistenten, die bei den Hilfsorganisationen beschäftigt sind, entwickeln dagegen ein anderes Arbeitsverständnis. Rettungsdiensteinsätze basieren personell, anders als die der Feuerwehr, auf der zweiköpfigen Crew des Rettungswagens. Rettungsdienstmitarbeiter ohne Feuerwehrheimat kennen ausschließlich die vierhändige Teamarbeit am Einsatzort, bei der sie relativ autonom entscheiden müssen. Bei Unsicherheiten oder Maßnahmen, die ihre Kompetenz überschreiten, müssen sie notärztliche Unterstützung nachfordern (→ III.1.2). Sie sind es also deutlich stärker als Einsatzkräfte der Feuerwehr gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein, auch verlangt ihre Arbeit häufig medizinische Einschätzungen. Die hohe Entscheidungskompetenz spitzt sich gerade in der Frage zu, ob ein medizinischer Notfall noch in eigener Verantwortung bearbeitet werden kann oder ob ärztliche Hilfe vonnöten ist. Rettungsassistenten der Hilfsorganisationen tendieren zu einem professionellen Selbstverständnis. Personalentscheidungen sind demnach gleichzeitig auch Entscheidungen über Entscheidungsprämissen. Für die Triagepraxis macht es einen Unterschied, ob die Leiterin eines Rettungsdienstbezirks ausschließlich Notärztinnen für die Triage vorsieht, allein Rettungsassistenten der Hilfsorganisationen mit dieser Aufgabe betraut oder nur Feuerwehrleute in Frage kommen. Auch wenn sich kein Rettungsdienstleiter die Frage in dieser ausschließlichen Art stellt, so gibt uns ihre theoretische Konstruktion an dieser Stelle die Einsicht, dass es eben einen Unterschied macht, welches Personal mit der Ausführung der Triage betraut wird. Personal ist demnach selbst eine entschiedene Entscheidungsprämisse. Je nach Personalwahl kann mit unterschiedlichen Resultaten bei den Einstufungsergebnissen gerechnet werden: Hochgradig gehorsames Personal wie das der Feuerwehr wird wesentlich strenger entlang der algorithmischen Vorgaben arbeiten und entscheiden, Rettungsassistenten von Hilfsorganisationen werden sich mehr Entscheidungsfreiheit einräumen und von den formalen Vorgaben ggf. abweichen. Notärzte werden wiederum ihrer professionellen Diagnosekompetenz vertrauen und die in ihren Augen unterkomplexen Konzepte möglicherweise gänzlich verwerfen.

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Sterben lassen oder heilen? Triage als „ethisch bitteres Handeln“

3.1

„Abwartende Behandlung“: Folgen medizinischen Fortschritts

Bis hierhin wurde die Triage beispielhaft an der von Larrey entworfenen und dann von Pirogov weiterentwickelten Form beschrieben. In diesen beiden Varianten stellt die Triage ein ethisch, wenn auch nicht einwandfreies, so doch weitgehend unproblematisches Handeln dar. Pirogovs Triage hatte die Rettung all derjenigen

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Verletzten im Sinn, die zu seiner Zeit als grundsätzlich überlebensfähig galten. Sterben gelassen wurden allein moribunde Patienten, die nach dem Stand der Medizin todgeweiht waren, also eine infauste (lat.: ungünstige, unglückliche) Prognose besaßen. Schon unter diesen „Hoffnungslosen“ können im 19. Jahrhundert Fälle gewesen sein, bei denen diese Prognose nicht eindeutig zu stellen war und bei denen die Eingruppierung weniger aufgrund ihrer konkreten Verletzung und mehr infolge des situativen Ressourcenmangels erfolgte. Schon zu dieser Zeit wird es einzelne Patienten gegeben haben, bei denen therapeutisch Mögliches unterlassen wurde, weil eine Konzentration der verfügbaren Ressourcen auf sie angesichts der Zahl weiterer Behandlungsbedürftiger unvernünftig erschien. Allein, als medizinethisches Problem artikuliert sich die todbringende Selektion erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert entsteht eine in der Wahrnehmung vieler Beobachter zunehmend breiter werdende Kluft zwischen dem medizinisch Möglichem und dem tatsächlich Machbarem. Dem steigenden medizinischen Leistungsvermögen steht, insbesondere an seiner Entwicklungsspitze, eine gewaltige Nachfrage gegenüber. Die gegenwärtig verfügbaren Kapazitäten neuer Behandlungsmethoden halten nicht mit der Therapienachfrage Schritt. Vor diesem Hintergrund treten Rationierungserfordernisse allseits zu Tage. Medizinsoziologen sehen gar eine „Veralltäglichung der Triage“ (Schmidt 1996) im Gesundheitswesen um sich greifen. Der wachsende Zwang, über die Verteilung knapper therapeutischer Mittel disponieren zu müssen, wird zusätzlich noch durch ein steigendes Anspruchsverhalten erhöht. In letzterem sieht Luhmann (1983a) ein Resultat funktionaler Differenzierung. In ihrem Verlauf verabsolutieren die Funktionssysteme ihre Weltsicht derart lautstark, dass an ihre stimmgewaltigen Verheißungen Erwartungshaltungen, Ansprüche und Hoffnungen anschließen, die dann laufend enttäuscht werden. Der medizinische Fortschritt hat auch in der Unfallchirurgie, Akut- und Notfallmedizin nicht Halt gemacht. Neben denen das öffentliche Bild der Notfallmedizin prägenden Rettungsverfahren – von der Herz-Lungen-Massage über die Vergabe von Adrenalin und Antihistaminika beim anaphylaktischen Schock bis hin zum Luftröhrenschnitt (Koniotomie) – sind die Behandlungsmöglichkeiten schwerer innerer Blutungen, von Brandverletzungen und Vergiftungen im 20. Jahrhundert enorm angestiegen. Schon für das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg stellt Johanna Bleker eine dramatische Veränderung des medizinisch Möglichen fest: An der Frage, ob und unter welchen Bedingungen es vertretbar sei, die Bauchverletzten nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu versorgen, wurden die neuartigen Probleme der Medizin im Krieg besonders deutlich. Die Bauchverletzten zählten früher zur Kategorie der Hoffnungslosen. Die moderne Medizin war im Stande,

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung auch diese Verwundeten erfolgreich zu behandeln. Doch dem standen die Kriegsverhältnisse im Wege (Bleker 1987b, S. 219).

Dies stellte die Kriegschirurgie vor ein bis dato kaum gekanntes (und kaum beachtetes) Problem. Auf einmal waren Ärzte damit konfrontiert, sich für die lebensrettende Behandlung einiger überlebensfähiger Patienten entscheiden und andere im Zuge dessen aufgeben zu müssen. Wurde davor noch relativ scharf zwischen rettbaren und unrettbaren Patienten differenziert, verquickte sich nun die Prognose der einen zunehmend mit der der anderen. Sterben lassen und Leben machen konnte nicht mehr separat gedacht werden, sondern bedingte einander. Die Überlebenschance des einen wurde zum Todesrisiko des anderen. Neben der Weiterentwicklung notfallmedizinischer Therapieverfahren muss unterstrichen werden, dass es vor allem auch die raschen Alarmierungsmöglichkeiten, die verringerte Ankunftszeit und die damit verbundenen, die ganze Vielfalt klinischer Therapieverfahren in Kürze erschließenden Transportmöglichkeiten sind (Moskop und Iserson 2007a, S. 277f.), die Sanitäts- und Rettungskräfte heute vor eine gänzlich andere Situation als noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellen. So geben in einer Umfrage mehr als die Hälfte präklinisch tätiger Rettungskräfte an, bereits Erfahrungen mit Einsätzen gemacht zu haben, in denen entschieden werden musste, welchem Patienten zu Lasten anderen zunächst geholfen werden sollte (Ellebrecht 2013). Bei diesen Patientenselektionen wird es sich nicht ausschließlich um tödliche Allokationsentscheidungen gehandelt haben – doch auch solche werden, und zwar im mit steigenden Eingriffsmöglichkeiten zunehmenden Maße, darunter sein. In den fachlichen Sprachregelungen schlägt sich diese Praxis unterschiedlich nieder. Die World Medical Association (2006) spricht von Patienten „beyond emergency care“, lässt mit dieser Formulierung aber offen, ob diese sich auch jenseits der Grenze des medizinisch Möglichen oder nur des lokal Machbaren befinden. Unterstrichen wird hingegen allseits, dass eine Versorgung dieser Patienten „unvernünftig“ (Hardin 1980, S. 57; Rosetti 1980, S. 25) sei, da der für ihre Rettung einzukalkulierende Mittelverbrauch bei anderen Patienten in zweierlei Hinsicht besser aufgehoben sei. Das Argument ist entweder, dass mittels der für einen Patienten „beyond emergency care“ verwendeten Ressourcen das Leben von mindestens zwei Verletzten gerettet werden könnte (Argument der größeren Zahl). Etwas anders gelagert ist die Begründung, die medizinischen Ressourcen, die ein Patient „beyond emergency care“ beanspruche, wären besser bei einem Patienten einzusetzen, dessen Rettungswahrscheinlichkeit dadurch höher sei (Argument der besseren Prognose). Beide Begründungen schließen letztlich an die schon durch Larrey postulierte Maximierungslogik an. Neu ist aber nun, dass das Ziel, möglichst viele Leben zu retten, nicht nur zu Lasten der Versorgung schwerverletzter,

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aber nicht unmittelbar rettungsbedürftiger Patienten geht, sondern dass neben den per se „Hoffnungslosen“ auch medizinisch gesehen „hoffnungsvolle“ Patienten vorzeitig aufgegeben werden. Nicht nur Todgeweihte werden medizinisch aufgegeben, auch a) Patienten, durch deren Behandlungsverzicht eine größere Zahl anderer Patienten gerettet werden kann sowie b) Patienten mit unsicheren oder nur im Vergleich schlechteren Überlebenschancen werden sterben gelassen. In der Triageklassifikation zeigt sich die Praxis, auch prinzipiell rettbare Patienten nun von einer medizinischen Therapie ausschließen zu müssen, im Aufkommen neuer Kategorienbezeichnungen. In der Wehrmedizin wird nun nicht mehr nur von Hoffnungslosen oder tödlich verletzten gesprochen, stattdessen finden weichere Begriffe Verwendung. Man spricht nun von „kritisch Verwundeten“ (Bundesminister der Verteidigung 1961, S. 170) oder von Fällen „mit schlechter Prognose“ (ebd., S. 338) die „außer den zur Verfügung stehenden Sedativa normalerweise keine Behandlung“ (ebd.) bekommen. Später wird ihnen eine „abwartende Behandlung“ verordnet. Der Begriff „abwartende Behandlung“ findet in diesem Zusammenhang bis heute Verwendung und ist eine in der Medizin durchaus übliche Bezeichnung für das therapeutische Nichtstun. Im Klinischen Wörterbuch von 1927 wird sie als Behandlungsform definiert, „die sich auf Regelung der Diät und der hygienischen Verhältnisse beschränkt und erst bei besonderer Indikation eingreift“ (Dornblüth 1927, Art. Exspektative Behandlung). Das Wörterbuch hat dabei sicher nicht zuerst an schwerverletzte Patienten gedacht. Das Nichtstun der „abwartenden Behandlung“ wird erst dann aufgegeben, wenn sich der Patientenzustand verändert. Mit einer Behandlung kann der so klassifizierte Schwerstverletzte demnach erst rechnen, wenn sich seine Überlebenschancen zum Positiven hin verändert haben (was nicht allein von seinem medizinischen Zustand abhängig ist, sondern auch von neu eintreffenden Behandlungsmöglichkeiten). In der farblichen Codierung erhält diese Triagekategorie in der Regel die Farbe Blau. Obgleich blau klassifizierte Patienten „abwartend“ behandelt werden und dies begrifflich zunächst noch der Logik einer zeitlichen Dringlichkeitsreihung zu entsprechen scheint, bricht die Kategorie mit dem Warteschlangenprinzip. Sie steht außerhalb von ihr. Obwohl der Therapieentscheid zur „abwartenden Behandlung“ noch mit dem Gedanken einer zukünftigen Situation spielt, in der sich die medizinische Mangellage entspannt hat oder sich die Überlebenschancen des Patienten wider Erwarten verbessert haben und deshalb nun doch eine bevorzugte Behandlung stattfinden könne, bezeichnet das Prädikat „abwartend“ im Grunde nicht eine bestimmte Position in der Warteschlange, sondern verweist auf einen prioritätslosen Zustand bloßen Wartens, bis zum Schluss.

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Selektionsverfahren, mit deren Hilfe Wenige zu Gunsten des Überlebens Mehrerer sterben gelassen werden, bedeuten stets, vor allem für die auf Heilung verpflichtete medizinische Profession, ein „ethisch bitteres Handeln“ (Mayer 1987). „Die Triage erfordert Festlegung von Prioritäten zugunsten der voraussichtlich ‚Rettbaren‘. […] Die Notwendigkeit der Selektion bleibt in der Katastrophenmedizin die ethisch bitterste Begleiterscheinung ärztlichen Handelns“ (Rosetti 1980, S. 25). Moderne Gesellschaften verfügen über kein hinreichendes Argument, dass die präfinale Exklusion einiger zu Gunsten des Wohlergehens der Mehrheit unbezweifelbar rechtfertigt. Entscheidungen derartiger Natur tragen immer tragische Züge, sind immer tragic choices (Calabresi und Bobbitt 1978). Obgleich häufig angeführt wird, ein besseres outcome rechtfertige das Verfahren, hinterlässt die Fokussierung auf ein rein zahlenmäßiges Maximum, das sich vom individuellen Leben jedes Einzelnen radikal abwendet, einen bitteren Nachgeschmack. In diesem Zusammenhang haben ethische Reflexionen grundsätzlich in Frage gestellt, ob Maximierungslogiken die Triage überhaupt zu rechtfertigen vermögen. Im Anschluss daran argumentiert etwa Weyma Lübbe (2006), dass es nicht die faktische Zahl Überlebender sei, die die Triage zu einer legitimen Technik mache, sondern dass es das in ihr enthaltene statistische Versprechen einer verringerten Todeswahrscheinlichkeit sei. Allein der Umstand, dass heute niemand vorhersagen könne, wer genau bei einem zukünftigen Unglück aufgrund seiner Prognose von einer ressourcenintensiven Behandlung zurückgestellt werde, und sich deshalb jeder von uns gegenwärtig eher als Gewinner einer Maximierungsstrategie begreifen könne, verleihe der Triage ihre Legitimität. Dank der probabilistischen Ratio erhöht die zukünftige Exklusion anonymer Schwerverletzter gegenwärtig für jeden von uns die statistische Wahrscheinlichkeit, bei einem kommenden Unglück zu überleben. Die Legitimität der Triage wurzele in einem gesellschaftlichen ex-ante-Konsens (Taurek 1977, S. 312f.; Lübbe 2002, S. 109). Der ex-ante-Konsens erklärt, warum die notfallmedizinische Triage öffentlich keine bedeutende Aufmerksamkeit erfährt.188 Im Unterschied zu anderen tragischen Selektionsverfahren, die die Verteilung medizinischer Güter regeln, bietet die Triage ein Maximierungsverfahren an, dessen Leidtragende aktuell namenlos, und dessen Profiteure zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheinbar alle sind. Die probabilistische Fiktion (Elena Esposito) lässt jeden als Gewinner erscheinen. Die Grenzen eines solchen Verfahrens und Konsenses lassen sich dennoch schnell erkennen. Rechnerische Maximierungsziele werden dort sehr schnell fragwürdig, wo anonyme Opfer zu bekannten Personen werden, Gesichter erhalten und Namen besitzen (Lübbe 2004). Sind nicht nur die Profiteure bekannt, sondern muss man 188 Mit Ausnahme ihrer Diskussion in den 1980er Jahren. Doch wie wir sehen werden, war diese in erster Linie eine Auseinandersetzung um etwaige Atomkriegsvorbereitungen.

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auch den Opfern ins Auge blicken, dann werden tödliche Selektionsverfahren sehr viel intensiver problematisiert und erfahren eher öffentliche Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den anonymen Verletzten, die Gegenstand einer notfallmedizinischen Triage sind, lässt sich ein individuell bekannter Patient, der, um ein Beispiel zu geben, für sein Überleben auf zwei Spenderorgane angewiesen ist, nicht ohne weiteres zurücksetzen. Allein weil mit den beiden von ihm beanspruchten Organen zwei andere Patientenleben anstatt bloß ein, sein Leben gerettet werden könnte, kann nicht begründet werden, ihn von einer Empfängerwarteliste zu streichen oder nachrangig zu behandeln (Lübbe 2006). Leben lassen sich nicht ohne weiteres numerisch gegeneinander aufrechnen. Nur für den speziellen Fall künftiger Katastrophen, deren Opfer jetzt noch nicht bekannt sind, lässt sich ein ex ante Konsens unterstellen. In zugespitzter Form kann die ganze Dramatik allokativer Verfahren dort beobachtet werden, wo a) die konkurrierenden Patienten bereits vor der Zuteilungsentscheidung bekannt sind und b) ein maximaler Nutzen überhaupt nicht erzielt werden kann. Die Tragik der Entscheidung, wem ein rares medizinisches Gut zu geben und wem es zu verwehren ist, präsentiert sich in diesen Fällen in zutiefst unglücklicher Reinform. In beiden Fällen zeigt sich außerdem, dass medizinische oder statistische Kriterien nicht zwingend Akzeptanz finden müssen oder gar selbst unentschieden sind, wer zu bevorzugen und wer zu benachteiligen ist. In der Geschichte medizinischer Rationierung stellt die Regelung zur Vergabe von Plätzen an Dialysegeräten, die im Jahrzehnt ihrer Einführung nur äußerst begrenzt zur Verfügung standen, den paradigmatischen Fall dar, der erstmals die Schwierigkeiten ungeschminkt offenlegte, ein gerechtes Verteilungsmuster zu finden. So stand man in den 1960er Jahren in Seattle vor dem Problem, dass selbst nachdem eine medizinische Vorauswahl geeigneter Patienten getroffen worden war, weiterhin zu viele potenzielle Dialysekandidaten einem zu geringen Platzangebot gegenüberstanden. Für die letzte Entscheidung wurde dann ein mehrheitlich mit medizinischen Laien besetztes Gremium zur Patientenauswahl eingesetzt. Das später in Anspielung auf seine existenzielle Entscheidungsbefugnis als Seattle God Committee bezeichnete Gremium setzte sich aus Personen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen zusammen. Neben einem Chirurgen bestand es bei seiner Gründung aus einem Priester, einem Rechtsanwalt, einer Hausfrau, einem Bankangestellten, einem Gewerkschaftsfunktionär und einem Regierungsbeamten – womit augenscheinlich versucht wurde, unterschiedliche Gesellschaftsbereiche zu repräsentieren. Letztlich führte die Zusammensetzung jedoch dazu, dass die präferierten Kandidaten dem bürgerlichen Idealbild stark ähnelten. Ausgewählt wurden Kandidaten, deren Biographie und soziale Stellung mit den herrschenden amerikanischen Werten der Zeit in Einklang standen: „The preferred candidate

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was a person who had demonstrated achievement through hard work and success at his job, who went to church, joined groups, and was actively involved in community affairs“ (Fox und Swazey 2002, S. 232). Kaum überraschend, dass eine derartige Bevorzugung unmittelbar Anlass zur Kritik gab. Allerdings, so wird rückblickend bemerkt, ist es einfach Allokationsverfahren pauschal zu kritisieren, wenn kein Zwang besteht, ein besseres vorgeben zu müssen: Dialyses programs have experimented with a number of other selection procedures in an attempt to avoid the ambiguities and ethical problems in the use of psychological and social criteria. These include the ability to pay as the sole nonmedical factor; a first come, first-served policy; and lottery or random selection. Each such stratagem, as their proponents themselves acknowledge, has its defects; none are perfect equitable, impartial methods for allocating chronic dialyses (ebd., S. 255).

Wie das Beispiel zeigt, nimmt die Patientenauswahl umso tragischere Formen an, je geringer die Maximierungspotenziale sind und je klarer ist, um wen es sich bei denen von der Therapie Ausgeschlossenen handelt oder handeln wird. Fällt die medizinische Prognose als allokativer Orientierungsrahmen weg und sind die Leittragenden bekannt, versuchen es Organisationen mit anderen Entscheidungsprogrammen. Aber weder marktökonomische Distributionsverfahren, noch Laiengremien, noch solche Programme, die die Entscheidung dem situativen Zufall (first come, first served; Lotterie) überlassen, können das Legitimitätsproblem gänzlich ausräumen. Verfahren zur Ressourcenallokation haben, insbesondere dann, wenn sie den Tod Gleichberechtigter – und als diese werden in der modernen Gesellschaft prinzipiell alle angesehen – zur Folge haben, keine Chance, allgemein als gerecht gelten zu können, auch wenn sie hingenommen werden. Ethisch einwandfreie Entscheidungskriterien gibt es nicht mehr. Ethik kann dieses moralische Problem nur noch reflektieren, nicht aber lösen. 3.2

Katastrophenmedizin und Atomkrieg: die Triagediskussion in den 1980ern

In den 1980er Jahren erfuhr die Triage fast ein ganzes Jahrzehnt einen Grad an öffentlicher Aufmerksamkeit, der ihr in diesem Umfang in der BRD später nie wieder zu teil werden sollte.189 Auslöser der Debatte um ihr Für und Wider bildete eine Mitteilung der Bundesregierung, in der die Absicht geäußert wurde, mittels einer Gesetzesinitiative „die Gesundheitsvorsorge für einen Verteidigungsfall in 189 Historiographisch wird die Debatte von Brech (2008, S. 61–67) und Molitor (2013) aufgearbeitet und verortet. Bleker (1987a, 1987b, 1989) hat die historischen Wurzeln der Triage zeitlich parallel zur Debatte in den 1980ern aufgearbeitet, was ihre Parteinahme erklärt.

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normalen Friedenszeiten zu planen und vorzubereiten“ (Bundesregierung 1979, S. 1). Obwohl in der Mitteilung nicht konkret genannt, fürchteten viele Ärzte, dass das geplante „Gesundheitssicherstellungsgesetz“ sie zur Teilnahme an Fortbildungen im Fach Katastrophenmedizin verpflichten würde und die Inhalte dieser jungen Randdisziplin ins medizinische Curriculum einwandern könnten. Der Widerstand gegen das geplante Gesetz organisierte sich dabei hauptsächlich über und im Umfeld des deutschen Ablegers der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), dessen Mutterorganisation 1986 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Folgenden argumentiere ich, dass die herausragende Rolle der IPPNW kein Zufall war. Im historischen Rückblick wird die Triage häufig als Kernpunkt der Debatte gewürdigt, es ging m. E. jedoch vielmehr um die tiefergehende Frage, ob es richtig und verantwortbar sei, sich auf die Folgen eines nuklear geführten Krieges planerisch einzulassen. Erst vor dem Hintergrund der Frage, wie sich im Sinne einer verantwortlichen Zukunftspolitik aufzustellen sei, rückte dann die Triage als organisatorisches Instrument der Verletztensortierung in den Fokus. Doch selbst dann noch, wenn die Triage unbeeindruckt von künftigen Atomkriegsszenarien diskutiert wurde, haftete ihr ein weiterer Makel an, der eine sachliche Diskussion über ihren konzeptionellen Aufbau kaum zuließ. Denn zunächst wollten viele Zeitgenossen geklärt wissen, ob die Triage aufgrund ihrer wehrmedizinischen Herkunft und kriegstaktischen Kompromittierung im zivilen Bereich überhaupt Anwendung finden könne. Erst hinter diesen zwei Diskursschichten kam dann das Problem tödlicher Entscheidungen zum Vorschein, für das auch die heutige Notfallmedizin bisher keine einvernehmliche Lösung entwickelt hat und das häufig verdrängt wird. Zu diesem Problem dann im Anschluss an dieses Kapitel. Das geplante „Gesundheitssicherstellungsgesetz“ galt vielen als Beleg für die Absicht, die Ärzteschafft umfassend in katastrophenmedizinischen Verfahrens- und Denkweisen zu schulen und so die zivile Gesundheitsversorgung auf die zu erwartenden Folgen eines Atomkriegs einzustellen. Die Gegner derartiger Planungen vertraten die Ansicht, Vorkehrungen für den nuklearen Day After würden die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs erhöhen. Die Kontroverse schloss damit an eine zwei Jahrzehnte zuvor begonnene Debatte an, die die Studien Herman Kahns ausgelöst hatten. Der für die RAND Corporation (Research and Development), einem regierungsnahen amerikanischen Think Tank arbeitende Stratege vertrat darin die Position, dass ein Atomkrieg grundsätzlich führbar und sich deshalb auf einen solchen ernsthaft vorzubereiten sei. Die bloße Verfügung über Atomwaffen stellte in dieser Logik nur die waffentechnische Mindestanforderung für eine Atomkriegsteilnahme dar, genauso wichtig sei jedoch die umfassende Einrichtung

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der gesamten Nation in der Weise, dass feindliche Nuklearangriffe möglichst gut verkraftet werden könnten. Argumentativ wurden solche Vorkehrungen auf zwei Ebenen verteidigt. Im Sinne eines planerischen Realismus wurde darauf hingewiesen, dass eine halbherzige Vorbereitung die Möglichkeit eines tatsächlichen Überlebens, geschweige denn eines Sieges verringern würde. Im Sinne politischer Authentizität würden wiederum nur umfassende Kriegsvorbereitung dem Feind glaubhaft versichern, dass man für einen nuklear geführten Krieg gerüstet sei und diesen im Eventualfall auch führen werde (Stichwort Zweitschlagskapazität) (Pias 2009). Gegner dieser paradoxen Abschreckungsstrategie – paradox deshalb, da sie in den Augen ihrer Befürworter den Atomkrieg umso effektiver verhinderte, je glaubhafter sie die eigene Entschlossenheit zum Führen eines solchen unter Beweis stellte – waren dagegen der Ansicht, dass die umfassende Vorbereitung auf einen Atomkrieg die Wahrscheinlichkeit eines solchen letztlich immer erhöhe. Gleiches wurde seitens derjenigen Ärzte vorgebracht, die sich in der deutschen Triagedebatte gegen eine Weiterbildung in Katastrophenmedizin sperrten: Die Antwort der Mediziner auf die Atomkriegsgefahr kann nur darin bestehen, vorbeugend tätig zu werden, also mit allen Mitteln für die Verhinderung des Krieges einzutreten. Katastrophenmedizin zu betreiben ist jedoch Kriegsvorbereitung, das genaue Gegenteil von Vorbeugung. Eine vorbeugende Haltung dem Atomkrieg gegenüber verpflichtet zum Widerstand gegen die Katastrophenmedizin, zu ihrer Verhinderung, zur persönlichen Verweigerung (Der Spiegel 1983).

Eine präventive Politik, die sich darauf vorbereitete, die Folgen eines nuklear geführten Krieges zu lindern, war in den Augen ihrer ärztlichen Kritiker ein groteskes Unterfangen, da sie das Unglück, welches sie zu vermeiden suche, selbst mitverursache. Die Ansicht wurde noch durch den Umstand bestärkt, dass die große Mehrheit der führenden Katastrophenmediziner militärischen Einrichtungen Nahe stand und oftmals als Wehrmediziner tätig war (Goltermann 1987, S. 48). Diese Gruppe würde den „Wahngedanken des führbaren Atomkrieges weiter aufrecht erhalten“ (Pfeiffer 1983, S. 104) wollen. Vor diesem Hintergrund wurde das neue Fach Katastrophenmedizin als ein durchschaubarer Versuch zur Bildung einer institutionellen Brücke zwischen zwei Bereichen – Wehrmedizin und ziviler Notfallmedizin – wahrgenommen, über die kriegsmedizinische Techniken und Wissen in die zivile Ordnung einfließen sollten. Dem Begriff der Katastrophe falle dabei eine vermittelnde bzw. verschleiernde Funktion zu, indem er zwei einstmals voneinander getrennte Bereiche verbinde: „Die Idee der ‚Verpackung‘ ist dem Zivilschutz entliehen: Verwischen der Grenzen zwischen zivilen Katastrophen im Frieden einerseits und dem Krieg andererseits. Alles ist ‚Katastrophe‘: der Waldbrand, das Chemieunglück, der Atomkrieg“ (ebd., S. 104). „[D]ie bundesdeutsche Katastrophenmedizin“, so heißt es an anderer Stelle schlicht, „rekapituliert Wehrmedizin unter anderem Namen“ (ebd., S. 106).

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Vielen Kritikern ging es in der Debatte weniger um die Triage, sondern – um es mit Titel und Untertitel eines Sammelbandes mit Beiträgen zur Triagedebatte zu sagen – um die vorsorgliche „Mobilmachung für die Heimatfront“ und eine „Militarisierung des Gesundheitswesens“ (Uhlenbrock 1983). Die Triage war in diesem Zusammenhang vor allem Symbol einer Zukunftspolitik, die über das „Undenkbare“, den Atomkrieg, nachdachte und diesen damit in den Bereich des Möglichen vorschob. Unverantwortlich war weniger die Triage, sondern der ihre Proliferation antreibende Wille, sich auf einen Krieg mit zahllosen zivilen Opfern gedanklich wie planerisch einzulassen. Die kritische Ärzteschaft widersetzte sich, wie viele andere Zeitgenossen auch, der Ansicht, dass Kriege unvermeidbare Katastrophen seien, die sich, ganz im Sinne einer Logik unausbleiblicher Unfälle (Dombrowsky 2005, S. 87), nicht mit letzter Sicherheit verhindern ließen. Ganz im Gegensatz zu Naturkatastrophen seien Kriege gerade nicht auf unkalkulierbare, externe Ereignisse zurückführbar; als Gegenstand politischer Entscheidungen unterliege ihr Ausbruch und Verlauf beeinflussbarer Größen. Einen Schritt weiter ging ein zweites Argument, das mit Blick auf einen möglichen Atomkrieg von zahlreichen Wissenschaftlern und Ärzten vorgebracht wurde, und das im Laufe der Debatte immer mehr in den Vordergrund gerückt wurde. Danach sei die Hoffnung, nach einem nuklear geführten Krieg überhaupt noch von dem Bestehen einer organisierten medizinischen Hilfe ausgehen zu können, grundsätzlich illusorisch. „Wir werden euch nicht helfen können!“, so der Titel einer 1983 veröffentlichten Schrift (Bastian und Armbruster-Heyer 1983), stieg zum politischen Leitsatz der kritischen Ärzteschaft empor. Mit medizinischer Hilfe könne in und nach einem Atomkrieg nicht mehr gerechnet werden. Das statistische Ziel der Triage, eine möglichst hohe Zahl von Personen qua Todweihung einiger Verletzter zu retten, erfuhr in der Debatte geringere Aufmerksamkeit als aus heutiger Sicht zunächst zu vermuten wäre. Wenn das der Triage zu Grunde liegende Maximierungsprinzip verhandelt wurde, dann vielfach nur dessen Vereinnahmung durch militärstrategische Überlegungen. Die Empörung war groß, dass die Sanitätsmedizin, und mit ihr die Behandlungsauswahl verwundeter Soldaten, im Krieg militärischen Zielen untergeordnet werde könne. Das Eindringen militärstrategischer Überlegungen bestätigte den Eindruck, die Triage gehorche militärischen Erwägungen. Vor allem das dem NATO-Handbuch „Die dringliche Kriegschirurgie“ (Bundesminister der Verteidigung 1961) entnommene Zitat, das primäre Ziel des Sanitätsdienstes müsse „die Behandlung möglichst vieler Verwundeter mit guter Überlebenschance und zu erwartender Dienstfähigkeit“ (ebd., S. 171; vgl. Bleker 1987b, S. 230; Pfeiffer 1983, S. 101) sein, findet sich in vielen kritischen Äußerungen so oder paraphrasiert wieder. Von einer Triage mit militärstrategischer Ausrichtung, die primär an der schnellstmöglichen

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Genese möglichst vieler einsatzbereiter Soldaten interessiert sei und diesem Ziel den Gleichheitsgrundsatz opfere, wurde sich unter Betonung des ärztlichen Selbstverständnisses scharf distanziert.190 3.3

Tödliche Kategorie: zur problematischen Formalisierung letaler Entscheidungen

Der Bundesärztekammer ging es im Verlauf der Debatte immer mehr um die Wahrung professionsständischer Einheit und um die Sicherung ihres Vertretungsmo-

190 Historisch hat vor allem Johanna Bleker zu zeigen versucht, dass die Wehrmedizin sich im Laufe der Zeit militärstrategischen Zielen unterordnen musste und diese Unterordnung auch in der Triage deutlich durchscheine. „Durch die Fortschritte, die die Medizin seitdem gemacht hatte, war ihre Möglichkeit Leben zu erhalten unvergleichlich viel größer geworden; aber zugleich war ein Gegensatz zwischen medizinischer Notwendigkeit und militärischen Zwängen entstanden, der vorher nicht existiert hatte. [ ...] In diesem ausweglosen Dilemma, das die Situation der modernen Medizin im Krieg charakterisiert, konnten sich die militärischen Prioritäten ungehindert durchsetzen“ (Bleker 1987b, S. 220). Diese insbesondere mit Blick auf das NATO-Handbuch „Die dringliche Kriegschirurgie“ getroffene Einschätzung, militärische Prioritäten hätten sich in der wehrmedizinischen Triage ungehindert durchsetzen können, lässt sich allerdings nicht teilen. Bei näherem Hinschauen offenbaren zahlreiche Formulierungen im NATO-Handbuch gerade den permanenten Kampf zweier konkurrierender Zwecke. So wird einerseits einleitend auf die Besonderheit der Kriegschirurgie hingewiesen, die darin liege, „daß sich im Gegensatz zur üblichen ärztlichen Handlungsweise die Sorge für den einzelnen zwangsläufig den militärischen Erfordernissen unterordnen muß, wenn die taktische Lage dies verlangt“ (Bundesminister der Verteidigung 1961, S. 13). Und das kann natürlich neben kriegsbedingten und kriegstaktischen Behandlungseinschränkungen auch die Priorisierung von schnell wieder einsatzfähigen, kampftauglichen Soldaten bedeuten, ein Vorgehen, das logischerweise zu Lasten der Schwerverletzten geht. An zahlreichen anderen Stellen heißt es dagegen aber wiederkehrend, dass die Triage das primäre Ziel zu verfolgen habe, möglichst viele Leben zu retten: „Jeder muss sich darüber klarwerden, daß der Erfolg des gesamten ärztlichen Handelns während der ersten kritischen Phase an der Zahl der Überlebenden und nicht an der Zahl der gut ausgeführten Operationen gemessen wird“ (ebd., S. 339). Beide Zwecksetzungen konfligieren miteinander. Ihre Widersprüchlichkeit durchzieht das gesamte Handbuch. Auf manchen Seiten stehen beide Zwecke zwar scheinbar friedlich, letztendlich aber unversöhnlich direkt nebeneinander: Des Kriegschirurgs „militärische Aufgabe ist, möglichst viele Patienten mit kleineren Verletzungen dienstfähig zu ihrem augenblicklichen oder ständigen Einsatz zurückzuschicken. Er muss sich auf die Behandlung derjenigen konzentrieren, die voraussichtlich überleben werden, und er bleibt damit beim Ziel der Wehrmedizin ‚zur rechten Zeit und am rechten Platz das Beste für möglichst viele zu tun‘“ (ebd., S. 39). Auch das oben bereits abgedruckte Zitat, das in den 1980ern häufig angeführt wurde, um die Kompromittierung der wehrmedizinischen Triage zu belegen, verweist, liest man es im Kontext, auf diesen ungelösten Widerspruch: „Jedoch ist die Rettung möglichst vieler Leben das Leitmotiv der gesamten ärztlichen Versorgung bei der Behandlung bei Massenanfällen. Dieses Ziel kann nur durch Beschränkung der Erstversorgung auf möglichst einfache Maßnahmen und die Behandlung möglichst vieler Verwundeter mit guter Überlebenschance und zu erwartender Dienstfähigkeit erreicht werden“ (ebd., S. 171).

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nopols (Molitor 2013). In Zuge dessen wurde auch ihre Position zur Triage uneindeutiger und die Ärztekammer rückte von ihrem vormaligen Schulterschluss mit den Befürwortern einer Ausbildung in Katastrophenmedizin etwas ab. Noch 1982 war davon jedoch wenig zu spüren. Auf einer Tagung ging der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, auf die „perversen Vorwürfe“ ein, welche die Katastrophenmedizin mit einer gedanklichen Kriegsvorbereitung in Verbindung bringen wollten. Wer die Triage als „unärztlich“ ablehne, der zeige damit, daß er ein wesentliches Grundprinzip aller Notfallmedizin nicht begriffen habe: Schon bei einem heutzutage ziemlich „normalen“ Verkehrsunfall mit nur drei Verletzten müsse der Arzt eine Sichtung nach der Behandlungsbedürftigkeit, also eine Triage, vornehmen. Die ethische Verpflichtung des Arztes liege gerade darin, auf jeden Notfall und jede Katastrophe vorbereitet zu sein. Nicht das Üben der Triage, sondern das Nichtvorbereitetsein wäre unärztlich und inhuman (ohne Autor 1982, S. 19).

Obgleich die historische Debatte um Sinn und Zweck der Katastrophenmedizin in erster Linie als medizinpolitischer Ableger der Friedensbewegung, als Fortsetzung der Diskussion um die Führbarkeit eines Atomkriegs und als Widerstand gegen das Verwischen von zivilem und militärischem Bereich betrachtet werden muss, wird in ihrem Gefolge auch die Triage zum Gegenstand von Auseinandersetzungen. Vielfach wird dabei, wie im Zitat Vilmars erkennbar, jeder Zweifel an der Triage mit dem Argument auszuräumen versucht, jede Notärztin habe schon im zivilen Bereich, etwa „bei einem heutzutage ziemlich ‚normalen‘ Verkehrsunfall mit drei Verletzten“, eine Priorisierung der Patienten nach Behandlungsdringlichkeit durchzuführen. Eine Triage, so der abgeklärte Einwand, sei demnach nicht ausschließliches Instrument der Wehrmedizin und auch nicht mit dieser in irgendeiner Form artverwandt. Seit jeher käme sie auch in der Notfallmedizin zum Einsatz. Viele Notfallmedizinerinnen wandten sich jedoch gegen diese Festlegung. Sie verstanden unter der Triage nicht die allgemeine Vergabe von Behandlungsprioritäten. Als das charakteristische und namensgebende Merkmal der Triage galt ihnen vielmehr das Prinzip, bestimmte Schwerverletzten zu Gunsten der Behandlung anderer von einer medizinischen Versorgung auszuschließen – und dabei auch den Tod eines Patienten bewusst in Kauf zu nehmen. Während die Sichtung, wie das notfallmedizinische Pendant zur katastrophenmedizinischen Triage nun immer häufiger genannt wurde, ohne eine blaue Triagekategorie auskäme und neben bereits toten Patienten allein zwischen vordringlich zu behandelnden Verletzten und solchen, deren Behandlung noch aufgeschoben werden könne, unterscheide, würde allein die wehr- oder katastrophenmedizinische Triage Patienten kennen, die angesichts der Umstände von einer möglicherweise lebensrettenden Therapie ausgeschlossen würden. Außerhalb von Kriegen und Katastrophen

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könne die Patientenpriorisierung aber auf eine tödliche Ausschlusskategorie verzichten. „Maximalisten“191, eine pejorative Bezeichnung für Triagebefürworter, würden verkennen, dass die medizinische Versorgung der Schwerverletzten bisher immer gewährleistet werden konnte. Eine blaue Triagekategorie, in Anlehnung an die NATO-Klassifikation häufig auch als „Triagekategorie IV" bezeichnet, sei in Friedenszeiten „sinnlos und gefährlich“ (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges 1985, S. 33), denn mit ihr würde eine todbringende Selektion formal ermöglicht, die in der Praxis nicht notwendig sei. Einige Medizinerinnen vertraten gar die Ansicht, „daß eine Kategorie T4 (Hoffnungslose) bei zivilen Katastrophen nicht akzeptabel und nicht notwendig ist. […] Das bewährte Prinzip der ‚Notfallmedizinischen Sichtung‘ kann eine Triage auch im Katastrophenfall ersetzen. Gut organisierte Notfallmedizin macht Katastrophenmedizin überflüssig!“ (Goltermann 1987, S. 53; Herv. N.E.). Mit dem Abflauen der öffentlichen Diskussion um die Bedeutung des Faches Katastrophenmedizin Ende der 1980er Jahre beschränkte sich die Auseinandersetzung um die „blaue Kategorie“ nun auf die medizinische Fachwelt und deren Organe. 1997 veröffentlichte die Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND) eine Empfehlung, die eine Sichtungsklassifikation vorschlug, in der explizit auf eine blaue Triagekategorie IV verzichtet wurde. Die Empfehlung bezog sich allerdings ausdrücklich auf Schadensfälle unterhalb der Katastrophenschwelle (→ Tabelle IV.2). Wie schon ein Jahrzehnt zuvor galt das Argument, eine Triagekategorie IV sei im notfallmedizinischen Handlungsbereich überflüssig, da selbst bei Großunfällen auf eine weitgehend intakte und hochentwickelte rettungsmedizinische Infrastruktur vertraut werden könne, die eine individualmedizinische Betreuung „in relativ kurzer Zeit für alle Notfallpatienten“ (Hunold et al. 1997) ermögliche. Obgleich mithilfe des Infrastrukturbezugs versucht wurde, den Zuständigkeitsbereich von Notfall- und Katastrophenmedizin grundsätzlich voneinander abzugrenzen und damit Sichtung und Triage voneinander zu trennen und unterschiedlichen, klar umrissenen Anwendungsgebieten zuzuweisen, so bleibt eine eindeutige Trennung doch nicht möglich. Mit dem Infrastrukturverweis findet Notfallmedizin nun so lange statt, wie der Ressourcenmangel nicht als katastrophal bewertet wird. Das schließt jedoch weiterhin nicht aus, dass auch unter als normal geltenden Rettungsbedingungen triagiert werden muss. Es verschieben sich nur die Relationen. Die tragische Wahl zwischen dutzenden Katastrophenopfern, die sämtlich bei Nichthilfe in wenigen Stunden sterben werden, ist nicht weniger dramatisch als diejenige zwischen zwei Unfallopfern, die beide nur noch

191 Verwendet wurde der Begriff 2014 von einem Interviewpartner.

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wenige Minuten zu leben haben, sofern ihnen nicht sofort geholfen wird. Katastrophenmedizinische Triage und notfallmedizinische Sichtung unterscheiden sich demnach nicht qualitativ: Beide lassen Rettungsbedürftige sterben. Für letztere gilt dies für eine längere Zeitspanne, für erstere nur – wie es im letzten Zitat hieß – für eine „relativ kurze Zeit“. Doch der Hinweis, katastrophale Versorgungsbedingungen würden viel eher zur tragischen Patientenselektion nötigen, ist nicht nur ein relatives Argument, er ist auch im Kern fragwürdig. Denn es ist ja gerade die hochentwickelte, vollständig intakte und optimal genutzte Rettungsinfrastruktur, die tragische Entscheidungen, bei denen zwischen der Rettung zweier rettbarer Patienten gewählt werden muss, provoziert (Ellebrecht 2013). Wie für den gesamten medizinischen Komplex so gilt auch für den Rettungsdienst: je umfassender die Rettungsfähigkeiten, vor allem: Je höher die Eingriffsgeschwindigkeit, desto häufiger stehen die Leistungserbringer vor der Qual, zu wählen, wem zuerst geholfen und wem zunächst eine möglicherweise rettende Hilfe verwehrt wird (zu einer weiteren Situation „ethisch bitteren Handelns“ → III.1.3). Sechs Jahre später wurde die von der BAND vorgeschlagene Fassung bei einer Konsensuskonferenz von Notfall- und Katastrophenmedizinern und weiteren Experten bekräftigt. Eine Triagekategorie IV wurde hier zwar wieder in die Klassifikation aufgenommen, ihr Gebrauch aber ausschließlich für solche Situationen reserviert, in denen Patientinnen „aufgrund ihrer Schädigung keine Überlebenschancen unter den besonderen Bedingungen einer Katastrophe und den aktuell zur Verfügung stehenden Versorgungsmöglichkeiten haben“ (Sefrin et al. 2003, S. A 2057; → Tabelle IV.2). Das Wiederauftauchen einer solchen Kategorie provozierte zwar teils noch erboste Reaktion (Baumeier 2003), wiederholte aber im Grunde nur die BAND-Empfehlung von 1997. Liege ein Schadensereignis unterhalb der Katastrophenschwelle, sollte auf die Verwendung der Kategorie IV weiterhin verzichtet werden, oberhalb der Schwelle könne sie angewandt werden. Die eigentliche Distinktionsproblematik, die in der Begründung zur von der BAND empfohlenen Klassifikation bereits auftauchte, trat im veröffentlichen Konsens nun an anderer Stelle, dafür aber umso deutlicher hervor.

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Tabelle IV.2: In Deutschland gebräuchliche Triage- bzw. Sichtungsstufen*

Gruppe (Farbe) I (rot) II (gelb)

III (grün) IV (blau) (V) (schwarz)

Triage Wehr- und Katastrophenmedizin

Sichtung Notfallmedizin (BAND** 1997)

Behandlungspriorität Vitale Bedrohung [Dringliche Sofortbehandlung] Dringliche Behand- Schwer verletzt/erkrankt lung [Zunächst nicht vital gefährdet, aufgeschobene Behandlung] Wartefälle Leicht verletzt/erkrankt [Spätere Behandlung] Schwerstverletzte ohne Überlebenschance

-

Tote

Triage / Sichtung Konsensuskonferenz 2002 Akute, vitale Bedrohung [Sofortbehandlung] Schwer verletzt/erkrankt [Dringende Behandlung]

Leicht verletzt/erkrankt [Spätere (ambulante) Behandlung] Ohne Überlebenschance [Betreuende (abwartende) Behandlung]*** Tote [Registrierung]

* Zu den Inhalten vgl. Stratmann (2002), Sefrin et al. (2003); für die BAND** vgl. Hunold et al. (1997). ** BAND: Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands e.V. *** Wird nur im Katastrophenfall angewandt.

Mit der beschlossenen Aufnahme der blauen Kategorie und ihrer gleichzeitigen Reservierung für den Katastrophenfall kam die Frage auf, in welche Kategorie tote Patienten einsortiert werden. Bisher sei es „teils geübte Praxis, dass in der Sichtungskategorie IV einerseits noch Lebende, andererseits Tote eingeordnet wurden“. Mit dem konsentierten Beschluss, die „blaue“ Kategorie IV nun ausschließlich in Katastrophen einzusetzen und aufgrund des nachvollziehbaren Zweifels, „dass eine derartige Zusammenfassung zweier medizinischer Zustände in einer Gruppe mit den daraus resultierenden therapeutischen Konsequenzen nicht möglich ist“, „wurde eine weitere Kategorie für Tote eingeführt, das heißt für Betroffene, bei denen zum Zeitpunkt der Sichtung ein Ausfall der Vitalfunktionen festgestellt wurde“ (Sefrin et al. 2003, S. A 2057f.). Anders als in der BAND-Erläuterung zeigt sich das Problem tödlicher Entscheidungen hier nicht im Kontext der blauen Kategorie, sondern am Beispiel der Klassifikation von Toten. Das klingt zunächst absurd, denn Tote können nicht Leidtragende tödlicher Entscheidungen sein. Doch das Argument, tote Patienten könnten Rettungskräften noch tödliche Entscheidungen abverlangen, gewinnt an Plausibilität, wenn Tod nicht als unstrittiges natürliches Phänomen, sondern als

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eine in vielen Fällen von gesellschaftlichen Deutungsmustern abhängige und umstrittene Zuschreibung begriffen wird (Seale 1998). Die Frage, wann ein Patient tot ist, wird nicht nur in der rettungsdienstlichen Praxis unterschiedlich beantwortet (Sudnow 1967; Timmermans 1999), ihre theoretische Klärung stellt auch eine wissenschaftliche Herausforderung dar, die alles andere als trivial ist. Zwar gibt es medizinisch betrachtet eine Reihe von Kriterien, die eindeutig auf den Tod einer Person schließen lassen – neben den so genannten mit dem Leben nicht zu vereinbarenden Verletzungen wie die Trennung des Kopfs vom Rumpf sind dies Totenflecken, Totenstarre und Leichenfäulnis –, die Schwierigkeit dieser Merkmale liegt jedoch darin, dass die drei letztgenannten erst geraume Zeit nach dem Tod auftreten. Zum Zeitpunkt des Todes sind Totenflecken und Totenstarre noch nicht ausgebildet, Leichenfäulnis tritt sehr viel später auf. Und überhaupt ist die Rede von einem exakten Todeszeitpunkt heute hinfällig geworden; eher erfolgt der Tod in verschiedenen teils reversiblen Stadien, deren Schwellen historisch wie biopolitisch umstritten sind (→ III.1.4). Vor der Phase des biologischen Tods, in dem die Zellaktivität stark abnimmt, was sich später im Auftreten der oben genannten sicheren Todeszeichen zu erkennen gibt,192 kommt es zum Hirntod, der, obgleich bei weitem nicht unumstritten (Jox 2014), in Medizin und Recht weithin als Marke für den Tod des Individuums genommen wird. Und noch vor dem Hirntod durchläuft das sterbende Individuum eine Phase, in der vom klinischen Tod einer Person gesprochen wird. Insbesondere zu Beginn dieser Phase besteht noch die Chance Wiederbelebungsmaßnahmen erfolgreich durchzuführen. Der klinische Tod einer Person ist demnach umkehrbar. An dieser Stelle geht es nicht darum, den Weg in die breite, bereits angedeutete Diskussion um den Hirntod und die daran anhängigen Fragen einzuschlagen, wann der Mensch rechtlich und medizinisch als Tod gelten könne. Diese Diskussion erübrigt sich hier, da die Konsensuskonferenz für die Klassifikation der Toten nicht auf das Konzept des Hirntods, sondern auf das des klinischen Tods zurückgreift! Unter rechtlichen Gesichtspunkten betrachtet, sind die als tot Deklarierten somit nicht zwingend tot. Während der Ausfall von Vitalfunktionen im Rettungsdienst normalerweise das sofortige Ergreifen von Wiederbelebungsmaßnahmen anzeigt, plädiert das Fachgremium mit seiner Definition dafür, ihren Ausfall als Todeszeichen zu werten. Diese Redefinition ist gleichbedeutend mit einer Vorverschiebung des Todeszeitpunkts im Falle eines Massenanfalls von Verletzten, der wohlgemerkt unterhalb der Katastrophenschwelle angesiedelt ist. Die Todesdefi-

192 Da nach einer mit dem Leben nicht zu vereinbarenden Verletzung noch Zellaktivitäten vorhanden sein können, hängt dieses sichere Todeszeichen nicht unmittelbar mit dem biologischen Tod einer Person zusammen.

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nition ist vor allem deswegen erstaunlich, weil in der medizinischen Grundausbildung besonderer Wert auf den Hinweis gelegt wird, „unsichere Todeszeichen“ dürften niemals, auch nicht in Addition, als hinreichender Todesbeleg dienen. Als unsicheres Todeszeichen gilt unter anderem der Ausfall von Vitalfunktionen, zu denen Atmung und Kreislauf (arterieller Puls und arterieller Blutdruck) sowie manchmal auch die Körpertemperatur gezählt werden (Schneider et al. 2010, S. 10).193 Entgegen dem ersten Eindruck stellt die eigenwillige Redefinition des Gremiums nicht eine absonderliche Empfehlung dar, sondern vollzieht eine Praxis nach, zu der gebräuchliche Triagekonzepte bereits seit Jahrzehnten anleiten. Schon der erste, Anfang der 1980er Jahre entwickelte Algorithmus START (Simple Triage and Rapid Treatment) wies seine Anwenderinnen an, nichtatmende Patienten als „verstorben“ (deceased) zu klassifizieren und mit einer schwarzen Markierung zu versehen. Auf eine Anweisung zum Ergreifen umfassender Reanimationsbemühungen verzichtete das Handlungsschema; die Rettungsmaßnahmen beschränkten sich auf einen kurzen Handgriff, mit dem der Kopf des Patienten überstreckt (sogenanntes Head tilt and chin lift-Manöver) und einer möglichen Atemwegsbehinderung entgegenwirkt werden soll. Setzte in der Folge die Atmung des Patienten nicht selbstständig wieder ein (Spontanatmung), galt er als tot. Diese Vorgabe ist in einer vom U.S. Department of Health & Human Services (2013) adaptierten Version verändert worden. Zwar wird hier (→ „Position Airway“ in Abbildung IV.6) farblich weiterhin eine schwarze Kategorie dargestellt, diese wird jedoch nicht mehr mit dem Titel „verstorben“ deklariert, sondern mit dem Begriff „expectant“ („abwartend“) belegt. In der Legende verweist die Behörde zudem darauf, dass die Triagekategorie Patienten gelte, deren Leben aufgrund der Verletzungsschwere nicht mehr gerettet werden und/oder die angesichts der Versorgungslage nicht behandelt werden können. Über den Umgang mit toten Patienten finden sich keine Informationen. Die gleiche Position im Algorithmus wird demnach unterschiedlich beschrieben – einmal als deceased, einmal als expectant –, was allerdings am Ablauf des Entscheidungsbaums nichts ändert. Weiterhin sieht auch die adaptierte Variante vor, an Personen mit fehlender Atmung bis auf die Kopfüberstreckung keine weiteren lebensrettenden Maßnahmen vorzunehmen. Trotz dieser zwangsläufig tödlichen Entscheidung zur Nichtbehandlung verzichtet das Department auf eine den Tod des Patienten vorwegnehmende Deklaration.

193 Daneben gelten als unsichere Todeszeichen: Atemstillstand, Pulslosigkeit, fehlende Reflexe, schlaffer Muskeltonus, Blässe der Haut, Abkühlung des Körpers, weite und lichtstarre Pupillen.

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Abbildung IV.6: START-Adaption des U.S.-amerikanischen Gesundheitsministeriums. Quelle: U.S. National Library of Medicine, U.S. Department of Health & Human Services, Office of the Assistant Secretary for Preparedness and Response 2013

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In Deutschland hat die in medizinischen Fachkreisen weithin wahrgenommene Empfehlung der Konsensuskonferenz zu unterschiedlichen Veränderungen von Sichtungskonzepten und Triagealgorithmen geführt, wobei gerade der vorgeschriebene Umgang mit nichtatmenden, reanimationspflichtigen Patienten immer wieder reformuliert wurde.194 Am deutlichsten spiegelt dies ein seit 2005 im Umfeld von Münchner Notfallmedizinern entwickelter Triagealgorithmus namens mSTaRT wider, der sich als modifizierte Variante des in Kalifornien entwickelten, oben bereits behandelten Konzepts versteht. Seit seiner ersten Version ist der Umgang mit reanimationspflichtigen Patienten zweimal maßgeblich verändert worden. Der Vorläufer (Beck et al. 2005, S. 470 u. 472) und die erste Version sind dabei ausdrücklich bemüht, den Empfehlungen der Konsensuskonferenz Rechnung zu tragen. Der Vorläufer (→Abbildung IV.7), für deren Erarbeitung sich ne-

Abbildung IV.7: Vorläufer des mSTaRT-Algorithmus Quelle: Beck et al. 2005, S. 472.

ben den vier Autoren auch die 28-köpfige Arbeitsgemeinschaft Notfallmedizin der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) verantwortlich zeichnet, empfiehlt Tote bzw. tödlich verwundete Patienten in eine schwarze Triagekategorie V zusammenzufassen und ihnen „keine Behandlung“ zukommen zu lassen. Entgegen dem Gedanken der Konsensuskonferenz sind es demnach nicht Patienten, bei denen ein Ausfall der Vitalfunktionen zu beklagen ist, die hier schwarz triagiert werden, sondern solche, die tot sind bzw. die ihre Verletzung nicht überleben werden. Dies ist umso verwirrender, da die Hinzunahme der schwarzen Kategorie gerade mit Verweis auf die Empfehlung der Konsensuskonferenz begründet wird: „Eine zusätzliche, 5. Sichtungskategorie für Tote trägt der Forderung der europäischen Konsensuskonferenz Rechnung, Tote und noch lebende Patienten, die aufgrund ihrer Schädigung aber keine Überlebenschancen haben, einer eigenen als der bisher üblichen 4 Gruppen zuzuordnen“ (ebd., S. 470). Seitens der Mediziner wurde nicht berücksichtigt, dass die Konsensuskonferenz als Kriterium für die neue Kategorie den Ausfall der Vitalfunktionen des Patienten bestimmt hatte. Diese Patienten sollten schwarz klassifiziert werden, der Algorithmus führte sie

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Abbildung IV. 8: Erste Variante des mSTaRT-Algorithmus Quelle: Kanz et al. 2006, S. 266.

jedoch der blauen Kategorie IV mit „abwartender Behandlung“ zu. Damit war die eigentlich für Katastrophen reservierte Kategorie nun wieder für reanimationspflichtige Notfallpatienten mit fehlendem Puls oder trotz Atemwegskontrolle fehlender Spontanatmung geöffnet. Leitend war dabei offensichtlich der Gedanke, dass nicht allgemein gesagt werden kann, ob reanimationspflichtige Patienten tödlich verletzt sind. In der ersten offiziellen Version des Algorithmus (→ Abbildung IV.8) wurde diese Konzeption wiederum verworfen und die Vorgaben der Konsensuskonferenz umgesetzt. Die blaue Triagekategorie war nun explizit und ausschließlich im Falle „langfristig limitierter Ressourcen“ (Kanz et al. 2006, S. 266) einzusetzen, was eine weichere Umschreibung des Katastrophenfalls darstellt (vgl. auch Paul et al. 2009, S. 24). Patienten mit fehlender Spontanatmung fielen nun, nach erfolglosem Atemwegsmanagement, in die Gruppe der Toten – ebenso wie Tote und tödlich Verletzte. Damit waren zum einen die Vorschläge der Konsensuskonferenz im Detail umgesetzt, zum anderen behandelte der Algorithmus diese Patienten nun wiederum wie sein kalifornisches Vorbild STaRT. Neu hinzu kam die Vorgabe, dass schwarz klassifizierte Patienten nicht sofort als verstorben gelten sollten, sondern ihr Tod durch einen „Arzt (EKG)“ festgestellt werden solle. Erst danach würde auf jegliche Therapieform verzichtet. Dass die ärztliche Todesfeststellung qua Elektrokardiogramm als ein Vorgang von eher formaler Natur gesehen wurde, darauf deutet die im Diagramm fehlende Option einer erneuten Behandlung hin.

194 Inwieweit die konzeptuellen Veränderungen tatsächlich auf die rettungsdienstliche Praxis beim MANV einwirken, kann hier nicht verifiziert werden. M. E. ist die Durchschlagkraft konzeptueller Änderungen an dieser Stelle begrenzt. Vgl. dazu das letzte Unterkapitel zur Entscheidungspraxis.

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Abbildung IV.9: Zweite Variante des mSTaRT-Algorithmus Quelle: Hiereth et al. 2013, S. 628.

In der zuletzt publizierten Version des Algorithmus (Hiereth et al. 2013) hat sich der (formale) Umgang mit reanimationspflichtigen Patienten erneut grundsätzlich verändert. Während der Vorläufer solche Patienten blau, die erste offizielle Version diese schwarz eingruppierte, plädiert die aktuelle Version nun für ihre Aufnahme in die rote Kategorie I, aus der sich eine Behandlung mit höchster Priorität ergibt (→Abbildung IV.9). Dieser Schritt wird nicht weiter begründet, von anderen Notfallmedizinern aber begrüßt (Dittmar et al. 2013, S. 257). Von diesen heißt es erläuternd, dass die Veränderung nicht darauf abziele, nun jeden apnoeischen Patienten intensiv zu behandeln. Die Einstufung in die höchste Dringlichkeitskategorie solle vielmehr garantieren, dass eine ärztliche Untersuchung des Patienten unmittelbar nach Ablauf der Triagephase stattfinde; im Gegensatz zur schwarzen Eingruppierung, die diesen Patienten jede Chance auf Rettung nehme. Unabhängig vom Algorithmus obliege es nun dem ärztlichen Urteil, wie mit dem Patienten weiter verfahren werde. Fraglich bleibt, ob beim reanimationspflichtigen Patient nach der Sichtungsphase noch Chancen bestehen, gerettet zu werden oder ob er nicht auch hier bereits verstorben ist. Mit seiner Klassifikation als „rot“ wird dies formal offengehalten, eine Unterbringung in die blaue oder schwarze Kategorie nimmt den Ausgang dagegen vorweg. Ob damit aber das letzte Wort gesprochen ist, scheint fraglich. Letztlich verdeutlicht sein Wandern durch verschiedene Kategorien die Schwierigkeit, tödliche Entscheidungen zu formalisieren und einem Algorithmus zu überlassen. Die derzeit letzte Version des Algorithmus geht daher dazu über, die tragische Entscheidung wiederum zu personalisieren und nicht formal zu setzen. Es konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche Varianten des STaRT-Algorithmus auf Patienten mit fehlender Atmung unterschiedlich reagieren. Weitere Behandlungsvorschläge kommen hinzu, sobald der Algorithmus zwischen Kindern und Erwachsenen differenziert. Für apnoeische Kinder empfiehlt etwa die pädiatrisch ausgerichtete Version von STaRT neben dem Atemwegsmanagement

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auch eine Pulskontrolle und die Gabe von fünf Beatmungshüben (U.S. Departments of Health & Human Services 2011); andere Algorithmen empfehlen zwei Hübe (Lerner et al. 2010). Die sich ändernden, diversen Empfehlungen, wie mit Patienten mit Atemstillstand bei einem Massenanfall von Verletzten zu verfahren sei bzw. wie diese einzugruppieren seien, zeigen deutlich, dass sich nicht nur die katastrophenmedizinische Triage, sondern auch die notfallmedizinische Sichtung in der problematischen Situation befindet, Patienten von einer Therapie auszuschließen und dies für den Patienten tödliche Konsequenzen hat. Solche tragischen Entscheidungssituationen werden mit hochentwickelten Rettungsdienststrukturen eher zu- als abnehmen. 3.4

Das notärztliche Dilemma: Patientenselektion zwischen situativen, professionellen und formalen Handlungsvorgaben

Zu Beginn dieses Kapitels habe ich mich mit den Problemen befasst, die die Entwicklung der Triage historisch angestoßen und begleitet haben. Das grundlegende Problem, für das die organisierte Triage die Lösung zu sein versucht, ist die ineffektive Patientenselektion. Bevor Sortierverfahren eingeführt wurden, erfolgte die Behandlungsauswahl anhand manifester situativer Bedürftigkeitsmerkmale und war nicht zuletzt von der Expressivität und Überzeugungskraft des Verwundeten abhängig; ein geordnetes, geplantes Vorgehen gab es nicht. Kriegschirurgen wie Larrey und Pirogoff etablierten daraufhin ein organisatorisches Klassifikationsverfahren zur Dringlichkeitspriorisierung, welches später als Triage bekannt wurde. Jedoch konnten die verschiedenen Triageverfahren, die seitdem entwickelt wurden, eine ‚spontane‘ Selektion niemals vollständig verhindern. In der Praxis ist zu beobachten, dass sich das situative und das formale Verfahren überlagern und miteinander konkurrieren. Selbst dann, wenn Algorithmen geschult werden und im Einsatz auf Karten abgelesen werden können, neigen Rettungskräfte stark dazu, nicht allein die formalen Kriterien über die Einstufung entscheiden zu lassen, sondern der eigenen Wahrnehmung und Überzeugung großen Anteil bei der Bewertung der Behandlungspriorität einzuräumen.195 Die Folge ist eine erhebliche Übertriage. Viele Patienten werden deutlich höher eingestuft als dies die etablier-

195 Publikationen mit Ergebnissen aus zwei zu diesem Thema durchgeführten Studien erscheinen dieses Jahr.

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ten Konzepte vorsehen. Die Triage kann ihr Versprechen, denjenigen Hilfe zukommen zu lassen, die es am nötigsten haben, nur zum Teil einlösen.196 Es kann argumentiert werden, eine Tendenz zur Übertriage sei einer Tendenz zur Untertriage, bei der die Behandlungspriorität eines Patienten nicht über-, sondern unterbewertet wird, vorzuziehen. Eine ärztliche Nachsichtung der im ersten Durchgang durch nichtärztliches Sanitätspersonal priorisierten Patienten könne später die zu hoch klassifizierten Patienten zurückstufen. Die Frage ist, ob das Problem damit nur verschoben wird. Eine erneute Sichtung kostet zum einen Zeit, zum anderen ist nicht gesagt, ob die Einstufungsfehler von ärztlicher Seite behoben werden oder ob diese sie reproduzieren. Die Datenlage hierzu ist mager.197 Hinzu kommt, dass eine ärztliche Nachsichtung in Ländern ohne notarztbasierten Rettungsdienst erst in der Notaufnahme, nicht schon am Unglücksort, erfolgen wird (Kahn et al. 2009). Daneben zeigt sich, dass insbesondere die ärztliche Profession mit der Triage ein weiteres Problem hat. Dies möchte ich im Folgenden erläutern. Die situative Einbindung der Rettungskraft, die ihr das Sehen und Hören heftiger Erregung und Schmerzen ermöglicht und die durch ihre Anwesenheit für die Verletzten als mögliche Helferin adressierbar wird, erschwert es, allein die formalen Konzepte sprechen zu lassen. Daneben besteht noch ein zweiter Handlungskonflikt, der vor allem die anwesenden Ärztinnen und weniger die nichtärztlichen Rettungskräfte beschäftigt. Schon Pirogovs Ausführungen lassen ein Bewusstsein dafür erkennen, dass ärztliche und organisationale Rationalität sich entgegenstehen. Noch über 100 Jahre nach Pirogov betonen Katastrophenmediziner, dass der „Zwang zur Indikation nach Prioritäten und besserer Überlebenschance […] eine beträchtliche Umstellung im Denken und Handeln des Chirurgen“ (Lanz 1979, S. 93) verlangt. „Bei Übungen und Einsätzen hat sich immer wieder gezeigt, in welchen Konflikt Ärzte bei der Sichtung zur Sofortbehandlung geraten. Ihr medizinisches Handlungsverlangen steht dem Konzept einer ersten schnellen Sichtung zur Überblicksgewinnung und Festlegung von Behandlungs- bzw. Transportpriorität häufig im Wege“ (Peters et al. 2006, S. 343). Dieser sich hier offenbarende Interessenkonflikt wird von einigen als „[p]ersönliche Unzulänglichkeiten und Qualitätsmängel sowie fehlende Anpassungsfähigkeit einzelner Notärzte“ (Sefrin

196 Ein anschließendes Problem ist, wie streng die Einsatzkräfte sich schließlich an die vergebenen Behandlungsprioritäten halten. Eine unserer Auswertungen bei einer großen MANV-Übung mit 250 Verletzten konnte deutlich zeigen, dass der Abtransport „roter“ und „gelber“ Patienten nicht – wie zu erwarten gewesen wäre – nacheinander, sondern durchmischt erfolgte. Mit einer noch herzustellenden Transportstabilisierung der roten Patienten waren die Zahlen nicht zu erklären. Vgl. Kaufmann et al. (2015, S. 260). 197 Vgl. aber die Schilderung in Fn. 201.

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et al. 2007, S. 44) individualisiert und als strukturelles Problem verkannt. Statistische Erhebungen zeigen aber deutlich, dass der Impuls, umgehend heilend tätig zu werden, nicht eine Besonderheit vereinzelter Ärztinnen ist (Ellebrecht 2013, S. 375). So geben in einer Umfrage unter 282 Notärztinnen und Notärzten 56,3 % an, dass es ihnen schwer fallen würde, in der Sichtungsphase auf eine individualmedizinische Versorgung zu verzichten (→ Tabelle IV.3) Der mit dem ärztlichen Handlungsverlangen verknüpfte Konflikt ähnelt nur auf den ersten Blick dem medizinischen Selektionsproblem, das historisch erst zur Entwicklung der Triage führte. Der genannten Kritik geht es nicht um eine willkürliche, ungeplante Patientenwahl, vielmehr ist es der ungebremste Übergang von diagnostischer zu therapeutischer Tätigkeit, der hier bemängelt wird. Zwei Handlungsregime konkurrieren um die Gunst der Notärztin: das medizinische Diagnose-Behandlung-Schema und das Sortier- und Rationierungsprogramm der Organisation, die Triage. Während die professionelle Routine verlangt, an die Diagnose einer akuten Erkrankung eine Behandlung anzuschließen, erwartet die Organisation, dass der Patient nach der Diagnose nicht behandelt, sondern dass er eingruppiert, dann aber verlassen wird und die Ärztin zum nächsten Patienten überwechselt, um nun diesen zu triagieren. Das formale Verfahren entkoppelt die Diagnose von der Therapie und halbiert so das medizinische Handlungsprogramm. Ein Feuerwehrbeamter bringt das Problem aus Sicht organisationaler Rationalität auf den Punkt: Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt): Ich sag mal, wenn die [Notärzte] zu einem Notfall kommen und da liegen drei [Verletzte] auf der Straße, dann sucht sich der [Notarzt] den raus, der auch schwerverletzt ist und dieser wird maximal versorgt, ja, bis das der dann im RTW operiert wird, ja, und nach den anderen beiden wird gar nicht geguckt. Das ist natürlich Mist.

Eindrücklich zeigt sich das ärztliche Dilemma vor allem vor dem Hintergrund des im vorhergehenden Kapitel diskutierten Reanimationsverzichts. 21,3 % der befragten Notärzte geben an, bei einem hypothetischen Massenanfall nicht dem Grundsatz folgen zu können, während der Sichtungsphase auf die Durchführung von Wiederbelebungsmaßnahmen zu verzichten (→ Tabelle IV.3). Diese Werte decken sich mit der Erfahrung von Expertinnen: denn erfahrungsgemäß ist der Notarzt mit notfallmedizinischen Standards in der Individualtherapie bestens vertraut, jedoch – weil kaum geübt, nie angewendet und einsatzunerprobt – aus verständlichen Gründen mit der Lage ,Massenmedizin‘ überfordert. Oft genug hat hier die Erfahrung gelehrt, daß notwendig einzusetzende Versorgungsstrategien [= Triage] für viele in maximalem Therapiemanagement für einen – zumeist Reanimationspflichtigen – enden (Neff 2000, S. 82).

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Der Reanimationsverzicht stellt in der Regel das paradigmatische Beispiel dar, wenn die Handlungsproblematik in der Sichtungsphase diskutiert wird. Die unterschiedlichen Sichtungskonzepte sind sich grundsätzlich einig, welche Behandlungsmaßnahmen während der Triage durchgeführt werden dürfen und welche zu unterlassen sind. Als therapeutische Sofortmaßnahme werden in der Sortierphase lediglich das Stoppen spritzender Blutungen sowie das Halsüberstrecken zu gelassen (bei Kinder mit Atemstillstand auch das Geben von wenigen Beatmungshüben). Im Gegensatz zu einer effektiven, häufig auf längere Zeit hin angelegten Herz-Lungen-Massage binden diese schnell durchzuführenden Maßnahmen kaum dauerhaft personelle Ressourcen, erhöhen aber die Überlebenschance der betreffenden Patienten wesentlich. Dennoch scheint gerade die Reanimation diejenige therapeutische Form zu sein, von der Notärztinnen in der Sichtungsphase häufig nicht ablassen können. Tabelle IV.3: Umfrage zur Sichtung unter (Leitenden) Notärztinnen und Notärzten

Notärztinnen und Leitende NotärztinNotärzte nen und Notärzte (in %) (in %) Fällt der Verzicht auf in- Trifft (eher) zu dividualmedizinische Trifft (eher) nicht zu Versorgung schwer?a

Würden Sie während der Trifft (eher) zu Sichtungsphase beginnen Trifft (eher) nicht zu zu reanimieren?b

56,3

26

43,6

74,1

n = 282

n = 185

21,3

10,8

78,6

89,2

n = 281

n = 185

a

Die exakte Frage lautete: „Studien haben gezeigt, dass es Notärzten während der Sichtungsphase schwerfällt, auf eine individualmedizinische Versorgung der Verletzten zunächst zu verzichten. Inwieweit trifft dies auch auf Sie zu?“ b

Hier lautete die Frage: „Es kann beobachtet werden, dass Notärzte in der Sichtungsphase häufig nicht dem Grundsatz folgen, keine Reanimation durchzuführen. Inwieweit trifft dies auch auf Sie zu?“

Entscheidungstheoretisch kann an dieser Stelle zunächst gefragt werden, ob dieses unterlassene Unterlassen tatsächlich ein auf die Notärztin begrenztes, oder nicht doch ein allgemeines Phänomen ist.198 Im Sinne der Überlegungen von Herbert Simon zur begrenzten Rationalität (bounded rationality) kann argumentiert 198 Ich verdanke diesen Einwand Stefanie Büchner.

3 Sterben lassen oder heilen? Triage als „ethisch bitteres Handeln“

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werden, dass die Wahl zwischen individualmedizinischer Reanimation und administrativer Rationierung der Entscheidung zwischen einer zufriedenstellenden Handlungsoption und einer optimalen Handlungsvariante entspricht. Erstere wird als Satisficing-Strategie bezeichnet, die vor allem den situativen Bedürfnissen Rechnung trägt, letztere als Maximizing-Strategie, die eine optimale Lösung sucht (March und Simon 1958, S. 140f.). Geht man nun davon aus, dass Akteure sich regelmäßig nicht für die optimale, sondern für die situativ genügende Alternative entscheiden, dann wäre die Entscheidung, einem reanimationspflichtigen Patienten entsprechend zu behandeln nicht zwingend eine spezifisch notärztliche, sondern eine allgemein gängige Handlungsweise. Die optimale Lösung, zu der die Triage anleiten will, wird nicht weiterverfolgt, da es in der konkreten Situation, in der ein reanimationspflichtiger Patient vor den eigenen Füßen liegt, zufriedenstellend ist, diesen zu behandeln. Das konkrete Bedürfnis überwiegt das abstrakte Optimum. Es spricht jedoch vieles dafür, dass es insbesondere Notärztinnen schwerfällt, sich in solchen Situationen von diesem Handlungsmuster zu lösen – selbst wenn formale Regelungen ihnen gegenteiliges vorschreiben. Dabei muss man nicht so weit gehen, dem Ärztestand ein professionsgenuines Gewissen zu attestieren, das es seinen Inhaberinnen nicht erlaube, sich der therapeutischen Sorge um den Einzelnen zu entziehen. Der Rekurs auf eine solche „‚Ideologie‘ des Berufsstandes“ (Parsons 1970, S. 15) läuft schnell Gefahr in eine Verklärung der ärztlichen Profession umzuschlagen. Schaltet man theorietechnisch vom habituellen Gewissen auf situative Erwartungszusammenhänge um, umgeht man die Schwierigkeiten, die eine Festlegung auf achtenswerte Eigenschaften mit sich bringt. Es sind dann eher in der Ärztin-Patienten-Beziehung verankerte Verhaltenserwartungen und weniger ein ständisch inkorporiertes Verantwortungsbewusstsein, die im Konflikt zu formalen Vorgaben geraten. Wie kaum eine ihrer ärztlichen Kolleginnen erfährt die im Rettungsdienst tätige Notärztin die Hilfeerwartung im Notfall unmittelbar und dramatisch zugespitzt. Beim präklinischen Notfall stellt die Notärztin nicht selten die letzte Hoffnung dar (Weber 2010, S. 31-47). Gerade die Reanimation ist in vielen Fällen das letzte Mittel, um einen Patienten zu retten; und Notärztinnen und Rettungsassistenten gelten als geschulte Fachkräfte, die nicht nur in ihrer Durchführung erfahren sind, sondern die noch über ergänzende medizinische und technische Hilfsmittel (Adrenalin, Defibrillator etc.) verfügen. Zwar gelingt eine Wiederbelebung selten – und noch seltener weist der Wiederbelebte danach keine bleibenden neurologischen Schäden auf –, doch in wenigen, aber eindrucksvollen Fällen erfahren Rettungskräfte die Herz-Lungen-Massage als eine wirkmächtige, lebensrettende

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

Technik, die in ihren Händen liegt. Derartige Erlebnisse werden von Rettungskräften als euphorische Situation beschrieben und stellen eine zentrale Motivation dar, im Rettungsdienst tätig zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung und Erwartung ist es plausibel zu vermuten, dass es medizinischen Rettungskräften schwerer als Laienhelfern fällt, auf eine Reanimation zu verzichten – auch wenn es sich um einen Massenanfall von Verletzten handelt. Diagnose und Therapie sind an dieser Stelle kaum zu entkoppeln. Selbst wenn die erlebten Erfolge der Rettungskräfte unberücksichtigt gelassen werden, kann allein schon die internalisierte Erwartungshaltung, etwas tun zu müssen, erklären, warum Rettungskräfte im Notfall nur mit Mühe vom Durchführen der Herz-Lungen-Massage Abstand nehmen können. In der Interaktion mit Patienten, Angehörigen und Dritten bauen sich Erwartungen auf, die einen frühzeitigen Behandlungsabbruch oder gar eine Therapieverweigerung unwahrscheinlich machen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum muss so getan werden, als ob eine Behandlung noch Aussicht auf Erfolg hat. Vor diesem Hintergrund erhält auch Timmermans (1999, S. 91-100) These zusätzliches Gewicht, noch die aussichtsloseste Reanimation ließe als Ritual verstehen, mit dem Rettungskräfte Handlungskompetenz demonstrieren und so noch im Angesicht des sicheren Todes für kurze Zeit Hoffnung stiften. Notärztinnen finden sich beim Massenanfall im Spannungsfeld organisationaler und interaktionaler Erwartungen, welche beide an ihre Rolle als professionelle Helferin angedockt sind. Aus der soziologischen Distanz heraus betrachtet, sind die zahlreichen Hinweise, viele Notärztinnen würden formalen Vorschriften zum Trotz dem medizinischen Diagnose-Therapie-Programm folgen, medizinisch handeln und therapeutische Maßnahmen einleiten, kein überraschender Befund. Früh hat die soziologische Forschung sich mit den Spannungen beschäftigt, die in Organisationen, die Professionen beherbergen, auftreten (Klatetzki und Tacke 2005). Auch die Krankenhausforschung hat wiederholt herausgearbeitet, wie sich die professionelle Eigenlogik organisatorischen Übergriffen widersetzt und entzieht.199 In diesem Sinne könnte man den notärztlichen Handlungskonflikt als soziologische Normalität abtun. Dagegen möchte ich an dieser Stelle seine Besonderheit hervorheben, die im alltäglichen Rettungsdienst weitgehend unsichtbar bleibt, beim Management eines Massenanfalls von Verletzten aber besonders eindrücklich wird. 199 „Ärzte können beispielsweise in ihren Interaktionen in Distanz zu den Zielen ihrer Organisation gehen, etwa in dem sie in informeller Kommunikation den ärztlichen Auftrag gegenüber den Entscheidungen des Managements hochhalten oder in stiller Allianz mit den Patienten bestimmte Diagnosen und Therapien simulieren, um anderes für notwendig Erachtetes finanziert zu bekommen“ (Vogd 2005, S. 251).

3 Sterben lassen oder heilen? Triage als „ethisch bitteres Handeln“

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Wie in → III.3 gezeigt erweist sich die Eingliederung von Notärztinnen in die temporäre und federführend von der Feuerwehr geleitete Einsatzorganisation beim Massenanfall als konfliktbehaftet. Notärztinnen wird oftmals unterstellt, jenseits formaler Regeln „freizulaufen“, Feuerwehren dagegen ein strenger administrativer Gehorsam bescheinigt. Der soziologische Sonderfall Notärztin resultiert nun daraus, dass diese ihre medizinische Leistungserbringung im täglichen Rettungsdienst im Grunde selten mit organisatorischen Rationalitätserwägungen in Einklang bringen muss. Als disziplinäre Spezialistin der medizinischen Profession für plötzliche lebensbedrohliche Situationen ist sie von formalen Restriktionen weitgehend befreit – auch das Recht spricht ihr ein hohes Maß an Handlungsfreiheit zu. Unter den Vorzeichen eines Massenanfalls ändert sich dies jedoch grundlegend. Administrative Überlegungen konkurrieren nun mit der medizinischen Leistungserbringung. Gerade in der Sichtungsphase hat die Notärztin auf ein die Versorgung optimierendes und rationierendes Programm umzuschalten, das ihr ihren gewöhnlich kaum reglementierten Handlungsfreiraum begrenzt. Um den organisatorischen Anforderungen beim Massenanfall gerecht werden zu können, können sich Notärztinnen zur Leitenden Notärztin (LNÄ) fortbilden.200 Die zusätzliche Qualifikation beabsichtigt die professionelle Handlungsautonomie der Notärztin einzuhegen und ihre Augen für administrative Erfordernisse jenseits der Krankenbehandlung zu weiten. Dass sich mit der Umschulung von Medizinerinnen zu Einsatzmanagerinnen neue Strukturen ausbilden, die organisatorische Rationalität dort aufwachsen lassen, wo vorher professionelle Krankenbehandlung zu erwarten gewesen wäre, dies belegen die Ergebnisse der oben dargestellten Umfrage (→ Tabelle IV.3). Sowohl die unterschiedliche Bewertung des Verzichts auf eine individualmedizinische Versorgung der Patienten in der Sichtungsphase (26 % der LNÄ gaben im Gegensatz zu 56,6 % ihrer Kolleginnen ohne Zusatzausbildung an, dass ihnen dieser schwerfalle) als auch die deutliche höhere Bereitschaft, Reanimationsbemühungen in dieser Phase zu unterlassen, zeugen von einer erfolgreichen Vermittlung organisationaler Denkart. Man kann dies als erfolgreiche Deprofessionalisierung verstehen. Damit ist nicht gemeint, die Notärztin verliere mit ihrer zusätzlichen Qualifikation ihre medizinische Kompetenz, wohl aber, dass sie formalen Regelungen nun den Vorzug vor medizinischen Leistungserwägungen gibt und zur „administrative [wo]man“ (March und Simon 1958,

200 Vgl. dazu ausführlich → III.3.2. Hin und wieder gibt es auch die Idee, eine reine Sichtungsärztin auszubilden.

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

S. 137) wird.201 Anstatt von Deprofessionalisierung ließe sich auch von Disziplinierung sprechen. Beide Begriffe beschreiben einen Prozess, an dessen Ende die Ärztin aus ihrer Vermittlungsposition zwischen medizinischen Programmen und interaktionalen Anforderungen entrückt und dem organisatorischen Regime verpflichtet ist. Das Vorschieben verwaltungstechnischer Grundsätze vor die medizinische Therapie wurde in der frühen Katastrophenmedizin begrifflich gerne als besondere medizinische Handlung gefasst. Die Triage sei eben nicht Individualmedizin, sondern „Kollektivmedizin“ oder „Massenmedizin“. Die Begriffe verdecken, dass die Triage keine andere oder besondere Medizin ist. In ihnen verarbeitet sich ein ärztliches Unbehagen, welches den Gewohnheitsbruch weiterhin als medizinische Praxis begreiflich machen will. Doch das, was hier als „Kollektivmedizin“ betitelt wird, ist eine um organisatorische Erfordernisse zurückgestutzte und um ihre therapeutische Hälfte kupierte Medizin. 4

Entscheidungen im Nebel: Praxis zwischen Gerechtigkeit, Programm und Willkür Die Beobachtung durch die Dritten setzt der Willkür ihre Schranken und begrüßt sie dort, wo sie willkommen ist. Baecker 2009, S. 36

Am Ende eines Interviews, das ich mit dem Ärztlichen Leiter eines Rettungsdienstbezirks (ÄLRD) führte, ging es um die Problematik der „blauen Kategorie“. Ich fragte den Notarzt, wie er zu dem oben verhandelten Vorschlag (→ 3.3) stehe, die blaue Kategorie aufzugeben, und stattdessen reanimationspflichtige Patienten gleich in eine schwarze Kategorie (Tote) fallen zu lassen, oder, alternativ, auf beide Kategorie zu verzichten und diese Patienten mit in die rote Kategorie aufzunehmen.

201 Bei der Triage durch LNÄ ist noch ein weiter Effekt zu beobachten. So gaben mehrere Notärztinnen einer LNÄ-Gruppe an, Patienten, die den formalen Vorgaben nach „grün“ (Sichtungskategorie III) einzustufen seien, bei denen sie sich aber unsicher wären, ob dies tatsächlich die richtige Kategorie sei, „gelb“ (Sichtungskategorie II) einzuordnen. Diese ganz bewusste Übertriage begründeten sie damit, dass der Zustand grün kategorisierter Patienten nicht zeitnah erneut durch eine Notärztin überprüft werde. Gelb kategorisierte Patienten dagegen würden noch einmal durch eine Ärztin besichtigt und könnten auch dann noch als „grün“ entlassen werden. Streng genommen entspricht ein solches Vorgehen nicht der Idee der Patiententriage. Die Notärztinnen der LNÄ-Gruppe nutzten das Triageprogramm nicht streng nach formaler Gebrauchsanweisung, sondern eigneten es sich professionell an.

4 Entscheidungen im Nebel: Praxis zwischen Gerechtigkeit, Programmatik, Willkür 297 ÄLRD (m, 45, Bgroßstadt): An der Einsatzstelle gibt es für mich entweder rot oder sie sind wirklich tot, also nicht irgendwie kategorisiert. Der Diskurs [um den Umgang mit reanimationspflichtigen Patienten] ist wichtig, die Auseinandersetzung ist extrem wichtig, aber in der Praxis: Erstmal gibt es die Fallzahl gar nicht her. Und selbst wenn es solche Ereignisse gibt, auch dann spielt es eine doch sehr untergeordnete Rolle. Alle Großschadensereignisse haben letztendlich gezeigt, dass dann, am Schluss, die einen sind eben tot und die anderen überleben es. Wie viele da am Schluss… also, sie kriegen es ja auch danach nicht raus. Bei 9/11 oder sowas gibt es keinen Menschen, der sagt, so und so viele hätten überleben können, wenn man ihnen… und so weiter, ja, das ist… Man kann es ja gar nicht ermitteln, weil jemand, der den Überblick hat, der hat ja schon automatisch einen Fehler gemacht, weil er hätte ja steuernd eingreifen können. Es ist halt nicht in letzter Konsequenz alles planbar und ableistbar. Das ist schon die Schwierigkeit: Auf der einen Seite Algorithmen vorzugeben, aber auf der anderen Seite die Einsatzkräfte nicht, ich sage mal, dumm zu machen, in dem man sagt: „Du musst Dich an den Algorithmus halten!“ Sondern das Denken, dieses Abweichen vom Algorithmus, muss genauso gut funktionieren.

Weitgehend deckungsgleich mit meinen Ausführungen in diesem Kapitel betrachtet auch der Ärztliche Leiter die Triage in diesem Interviewausschnitt auf mehreren Ebenen. Er erkennt ihre gesellschaftliche Dimension in der Debatte über schwierige Grenzfälle und sieht in den formalen Vorgaben eine eigene organisatorische Rationalität. Den meisten Raum nimmt in seiner Darstellung jedoch das letztlich entscheidende situative Vorgehen ein. Hier hält er eine Kategorisierung von Toten für überflüssig. In der Praxis gibt es für ihn nur rote Patienten, die als solche kategorisiert werden, und solche, „die wirklich tot [sind], also nicht irgendwie kategorisiert“ werden. Die Praxis hat ihr eigenes Gesetz, das auf den Vorgang der Kategorisierung verzichtet: tot ist tot. Zum Abschluss möchte ich diese drei Ebenen noch einmal grundsätzlich abhandeln und die Problematik der Triage skizzieren. Auf der Ebene der Gesellschaft wirft die Triage Gleichheits- und Gerechtigkeitsfragen auf. Weder Recht noch Politik geben letztlich klare Verhaltensstandards vor und überlassen die Entscheidungsfindung, da es sich ja scheinbar um ein medizinisches Problem handelt, dem Ärztestand. Die Medizin gilt als geeignete Instanz um zu beurteilen, wer sterben gelassen wird, um möglichst viele zu retten – ist sie doch täglich damit beschäftigt, Leben zu retten. Im Rahmen der Notfallund Katastrophenmedizin übt sie diese Befugnis bis heute wie selbstverständlich aus. Doch ist das gerechtfertigt? Medizin ist darauf spezialisiert Kranken eine passende Behandlung zukommen zu lassen, es ist jedoch nicht ihre gesellschaftliche Funktion zu entscheiden, welcher Patient im Zweifelsfall zu retten ist, wenn dieser mit anderen um Rettung konkurriert. Die Entscheidung kann nach medizinischen Kriterien erfolgen, muss sie aber nicht. Die medizinische Entscheidungshoheit

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IV Triage: Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung

bleibt auch deshalb unwidersprochen, weil sie einen gesellschaftlichen Konsens hinter sich weiß, der beim Massenanfall möglichst viele Leben gerettet wissen will (→ 3.1). Aber dieser angenommene Konsens ist insofern trügerisch, da er nur vor der praktizierten Triage besteht und im Moment ihrer Anwendung zerbricht. Die Unglücklichen, die bei einem Massenanfall anwesend sind, selbst verletzt sind oder schwer verletzte Angehörige bei sich haben, werden diese Vereinbarung nicht mehr mittragen. Wenn es also tragische Entscheidungen sind, die im Rahmen einer Triage gefällt werden müssen, darf die Entwicklung von Triagealgorithmen dann allein Notfall- und Katastrophenmedizinerinnen überlassen werden? Der ex ante Konsens, die Anzahl der Überlebenden zu maximieren, wird von der Medizin in Leitlinien und Sortierkonzepte übersetzt. Verschiedene Triageverfahren konkurrieren heute miteinander. Sie alle stehen vor dem uneinlösbaren Anspruch, eine möglichst hohe diagnostische Genauigkeit aufzuweisen und gleichzeitig möglichst einfach und schnell durchführbar zu sein. Tatsächlich lässt sich bisher nicht nachweisen, welches Verfahren in der Praxis am geeignetsten ist, welches am genauesten und welches am besten zu handhaben ist (→ 2.1). Ein zweites Problem ist, dass erst nach der Sortierphase Behandlungsmaßnahmen lanciert werden sollen. Von dieser Regel gibt es zwar wenige Ausnahmen (Kopfüberstrecken bei fehlender Atmung, Stoppen spritzender Blutungen, kurze Beatmung von Kindern, stabile Seitenlage), allerdings wird das Ergreifen von Wiederbelebungsmaßnahmen beim reanimationspflichtigen Patienten von keinem Verfahren empfohlen. Damit besteht zwar für diesen Fall ein Nichtbehandlungskonsens, dieser führt aber zu der Frage, wie diese Patienten eingestuft werden sollen, was wiederum von verschiedenen Verfahren, teilweise auch von verschiedenen Versionen eines Verfahrens, deutlich unterschiedlich beantwortet (→ 3.3). Rot, blau oder schwarz, über die richtige Einstufung des reanimationspflichtigen Patienten herrscht Uneinigkeit. Schließlich stellt sich auf der organisatorischen Ebene noch die Frage, wer triagieren soll und darf. Wie dann letztlich an der Einsatzstelle entschieden wird, lässt sich kaum vorhersagen und im Nachhinein überprüfen. Zum einen ist bekannt, dass die Behandlungspriorität vieler Verletzter trotz anderweitiger Vorgaben oft zu hoch eingestuft wird (Übertriage). Zum anderen werden die Rettungskräfte durchaus ermuntert, von den Vorgaben abzuweichen. Es ist gängige Überzeugung, das zeigt auch der obige Interviewausschnitt, dass Triagealgorithmen aufgrund ihrer Allgemeinheit an die konkrete Situation angepasst und im Zweifelsfall über ihre Vorgaben hinweggegangen werden muss. Rücksichtslose formale Gefolgschaft sei gefährlich, die Möglichkeit vom Plan abzuweichen, müsse erhalten bleiben. Die Verteilung begrenzter medizinischer Ressourcen darf ärztlichen Vertreterinnen nicht blind überlassen werden, darüber sind sich die meisten Autorinnen

4 Entscheidungen im Nebel: Praxis zwischen Gerechtigkeit, Programmatik, Willkür 299

heute einig. Gerade mikroallokative Entscheidungen sollten streng nach festgelegten Verfahren erfolgen (Schmidt 1998), deren Entwicklung bestimmte Kriterien erfüllen müsse (Scheunemann und White 2011, S. 1629). Willkürgefahren sollen dadurch gezähmt und kontrolliert werden. Gleichzeitig wird aber Ärztinnen im Notfall ein kaum noch zu steigerndes Maß an Entscheidungsfreiheit eingeräumt, darauf vertrauend, dass diese im besten Sinne ihrer Patienten handeln. Beim Massenanfall von Verletzten handelt es sich jedoch um eine besondere Situation, in der Patienten um ärztliche Behandlung konkurrieren; die Ärztin befindet sich damit in einer für sie ungewohnten Situation. Hinzu kommt, dass sich kaum überblicken lässt, welches Vorgehen tatsächlich die meisten Leben retten wird und wohl auch rückblickend nicht geklärt werden kann, was richtig, was besser gewesen wäre. War es richtig, vom Algorithmus abzuweichen? Hätte anders abgewichen werden müssen? Oder wäre es besser gewesen, sich streng nach dem vorgegebenen Verfahren zu richten? Weder lässt sich für alle Eventualitäten vorplanen, weder kann in der Situation mit Sicherheit gesagt werden, welches Vorgehen optimal ist, noch kann rückblickend rekonstruiert werden, wie es verlaufen wäre, wenn anders entschieden worden wäre. Es bleibt undurchschaubar, wo Fehler gemacht wurden. Eine diesbezügliche Evaluation, so der interviewte Notarzt, könne daher rückblickend nicht stattfinden. „Bei 9/11 gibt es keinen Menschen, der sagt, so und so viele hätten überleben können.“ Zwei Beobachtungen fallen an dieser Stelle zusammen. Zum einen zeigt sich die geballte notärztliche Entscheidungsmacht. In letzter Instanz entscheiden Notärztinnen selbst, wie eingestuft wird, wer tot ist und wer nicht. Ihren Entscheidungen fällt eine bemerkenswerte Realitätskraft zu: Im Extremfall kann nicht mehr gesagt werden, was zuerst war, der Tod oder die Entscheidung zum Tode. Entweder hat die Entscheidung nur das Faktum bestätigt oder aber aus ihr resultiert der Tod. Nicht nur die Entscheidungsfindung hat es hier mit einer Situation der Unentscheidbarkeit zu tun, auch rückblickend bleibt unentscheidbar, ob richtig entschieden wurde, ob die Entscheidung überhaupt Wirkung entfaltete. Erneut stellt sich die Frage, wie weit Notärztinnen diese „eigentümliche Souveränität“ (Dombrowsky 1989, S. 68) zugestanden und wie weit die Ärztinnen auf die Einhaltung formaler Verfahren verpflichten werden sollen, um ein möglichst transparentes Vorgehen zu garantieren. Die zweite Beobachtung ist grundsätzlicher Natur und reicht über den Massenanfall hinaus. Notfälle sind überwiegend intransparente Ereignisse. Man hört sie nicht kommen, man kennt sich in ihnen nicht aus, man erinnert nicht mehr genau, was in ihnen wann genau geschah. Diese Intransparenz von Notfällen färbt auf die mit ihnen befassten Rettungseinsätze ab. Schon kleine Notfalleinsätze ste-

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hen vor dem Problem mangelnder Einsehbarkeit und somit auch: ihrer nachträglichen Evaluierbarkeit. Dies liegt zum einen daran, dass oftmals schwer nachzuvollziehen ist, was tatsächlich bemerkt und beachtet hätte werden können und müssen. Zum anderen ist die Genauigkeit von Einsatzdokumentation, Qualitätsmanagement und Evaluation von den Akteuren abhängig, die die zu untersuchenden und zu verbessernden Einsätze erbringen. Und schließlich, drittens, ist es moralisch (nicht nur rechtlich) heikel, denjenigen kritisch auf die Finger zu schauen, denen die gute Absicht unterstellt werden muss, Leben retten zu wollen. Es verkehrt Selbstverständlichkeiten, wenn die Gefahr im Notfall von den Rettern ausgegangen sein soll. Diese drei Schwierigkeiten hüllen im Notfall getroffene Entscheidungen in einen Nebel, den es in Zukunft zu lichten gilt. Dafür bedarf es informierter Beobachterinnen, die Einsätze begleiten und über das dortige Geschehen berichten können. Allein schon ihre Präsenz lichtet den Nebel und setzt der Willkür Schranken.

Resümee

Über Jahrtausende waren Notfälle solche Situationen, in denen Rettung, wenn überhaupt, dann in erster Linie von der eigenen Gruppe, den Nächsten, erwartet werden konnte. In der modernen Gesellschaft hat sich dies fundamental verschoben. Zum einen sind heute oftmals fremde Personen in der Nähe, die eingreifen könnten. „Erste Hilfe“ wurde in dieser Arbeit entsprechend vorgestellt als eine neue Form der Nothilfe, die nicht auf das handwerkliche Erlernen und Anwenden einfacher medizinischer Rettungstechniken reduziert werden kann. Die Ausbildung der Bevölkerung in lebensrettenden Maßnahmen ist Ausdruck eines gesellschaftspolitischen Konsenses, der sich in die moralische Verbindlichkeit eines jeden Einzelnen verlängert hat, Fremden in Not zu Hilfe zu eilen. Zum anderen haben die Einrichtung, der stetige Ausbau und die steigende Leistungsfähigkeit von Rettungsorganisationen die Rettungschancen in Notfällen dramatisch erhöht. Wiederum sind es hier fremde Andere, die helfend eingreifen, diesmal jedoch nicht zufällig Anwesende, sondern in Rufbereitschaft befindliche Abwesende, deren Hilfeleistung auf einer beruflichen, weniger auf einer moralischen Pflicht beruht. Diese neue Konstellation wirft die Frage auf, inwieweit sich mit ihr auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Notfällen und der Umgang mit Risiken verändert hat. Haben die neuen Interventionsmöglichkeiten den Blick auf Situationen, in denen die Betroffenen nach wie vor ungewollt, überrascht und unvorbereitet einer Gefahr ausgesetzt sind, verändert? Aus Sicht der Moderne stellen die neuen Möglichkeiten einen Fortschritt gegenüber vormodernen Zeiten dar. Denn wo früher kein Gedanke darauf verwendet werden konnte, ob es noch möglich sei, den Lauf der Dinge aufzuhalten, umzukehren oder zu ändern, wo einst jegliche Hoffnung auf Rettung bereits versiegt war und allein ein Stoßgebet letzte Rettungschancen wahrte, dort verspricht heute ein dichtes Netz aus zahlreichen Organisationen den Glauben auf ein halbwegs gutes Ende aufrecht halten zu dürfen. Vieles, was früher als hoffnungsloser Fall galt, präsentiert sich heute als Notfall, in dem Intervention noch möglich ist. Entsprechend ist festzustellen, dass mit der Bereitstellung organisierter Rettung unser Blick auf Unglücke zuversichtlicher gestimmt wurde. Diese These findet ihre Bestätigung in der Wahrnehmung von Rettungsorganisationen, die eine wachsende „Blaulicht-“ oder „Vollkaskomentalität“ in der Bevölkerung beobachten. Gemeint ist damit ein überzogenes Anspruchsverhalten, das sich einerseits in der Erwartung eines „full service“ selbst bei undramatischen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0_6

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Resümee

Vorfällen zeige, sich andererseits aber auch in einem veränderten Risikoverhalten ausdrücke. Wenn Rettung immer umfassender zur Verfügung steht und selbst in hochalpinem Gelände und auf Hoher See damit gerechnet werden darf, im Falle drohender Gefahr auf Rettung durch gut ausgebildete, gut ausgerüstete und auf ihren Einsatz wartende Einsatzkräfte hoffen zu können, bleibt dies nicht ohne Folgen für eigene Risikoabwägungen. Die Gewissheit, in der Not mit organisierter Rettung rechnen zu können, kann heute in die eigene Risikokalkulation einbezogen werden. Es kann mehr gewagt werden, wenn Rettung erwartbar wird. Die an solchen Folgen anknüpfende Gesellschaftskritik, die maßgeblich von Rettungsorganisationen vorgetragen wird, liegt so gesehen ihr eigener Erfolg zu Grunde. Mit ihrer steigenden Leistungsfähigkeit erzeugen sie in ihrer Umwelt einen wachsenden Bedarf. Die Arbeit fragte danach, ob Rettungsorganisationen aufgrund der Tatsache, dass sie auf die Bewältigung von Notfällen ausgelegt sind, über besondere Eigenschaften verfügen. Um diese Frage zu beantworten, beschäftigte sie sich erst eingehend damit, wie Notfälle soziologisch zu fassen sind, sowie auch damit, was Notfälle für die sie bearbeitenden Organisationen bedeuten und wie sie diese bearbeiten. Im Folgenden fasse ich zentrale Einsichten dieser Arbeit zusammen und stelle dabei einige Antworten auf diese Frage vor. Als Interaktion sind Notfälle soziologisch vor allem hinsichtlich ihrer Synchronisierungsleistung erstaunlich. Der Vorgang nimmt seinen Anfang im spezifisch unspezifischen Hilferuf. Zumindest in der modernen Gesellschaft ist jede Person, die einen Hilferuf vernimmt, unabhängig davon, wer der Rufende und wer sie selbst ‚ist‘ oder mit was sie aktuell beschäftigt ist, dazu aufgefordert, sich als Adressatin und potenzielle Helferin zu verstehen und auf das Hilfeersuchen zu antworten. Der Ruf nach ‚Erster Hilfe‘ ist so gesehen Kommunikation, die auf die Herstellung von Anwesenheit unter Fremden abzielt. Anders als andere Kontaktierungsformen muss der Hilferuf dafür weder den richtigen Zeitpunkt abwarten noch den richtigen Ort wählen und muss auch nicht eine bestimmte Person oder Personengruppe adressieren. Unter gewöhnlichen Umständen (z. B. in der Fußgängerzone) ist es erlaubt Äußerungen und Regungen fremder Personen zu übersehen oder zu überhören. Mit dem Hilferuf wird dagegen die Moral der Ersten Hilfe aufgerufen, die es missbilligt, dem Ruf des Fremden kein Gehör zu schenken – in einigen Ländern ist ein solches Unterlassen auch rechtlich sanktioniert. Als kritisches Ereignis schaltet der Notfall periphere Interaktionen zusammen und zentriert die Wahrnehmung.

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Dem allgemeinen Nothilfegebot entspricht ein strenges Täuschungs- und Modulationsverbot. Notfälle sind ernste Situationen, mit und in denen man nicht spielen, scherzen oder kokettieren darf. Weder Betroffenen noch Helfern ist es erlaubt, Verhaltensausdrücke zu manipulieren. Mit der Ausnahme vielleicht, dass Verletzte und Angehörige belogen werden dürfen, wenn dies der Rettung dienlich ist. Doch das ist eine für Notfälle geradezu typische, den Ernst der Situation fest im Blick habende Ausnahmeregelung. Gleichzeitig verzeiht der Notfall viele Ausfälle. Er gilt als außergewöhnliche Situation. Sei es die Verzweiflung und Verwirrtheit der Betroffenen, die Hysterie und Überforderung der Angehörigen, sei es die Unerfahrenheit und Planlosigkeit des Erstretters oder das Erstarren des Nichthelfers – Anwesende können hoffen, dass ihrem unzweckmäßigen Verhalten später gegenüber Nachsicht walten gelassen und ihnen die Außerordentlichkeit der Situation zu Gute gehalten wird. Während Scham, Bedauern und Schuldgefühle beim hilflosen Helfer dominieren, wird der Notfall von anderen als Entschuldigungsgrund persönlichen ‚Fehlverhaltens‘ anerkannt. Man war an seine Grenzen gestoßen, vor Schreck wie gelähmt, nicht mehr Herr seiner selbst. Neben dieser Exkulpationslehre säumt den Notfall noch eine weitere, mit ersterer durchaus in Widerstreit stehende Persönlichkeitslehre. Sie besagt, dass im Notfallverhalten elementare Wesenszüge einer Person zu erkennen sind. Ihr zur Folge offenbare sich in der Extremsituation der wahre Charakter, bereinigt noch um jeden kulturellen Überzug und frei von jeglicher, im Alltag stabilen Maskerade. Auf der Ebene gesellschaftlicher Funktionssysteme beurteilt das Recht, inwieweit eine Handlung im Notfall unrecht- oder rechtmäßig war. Die moralische Ächtung nichteingreifenden Verhaltens findet in einigen Staaten im Paragrafen zur Unterlassenen Hilfeleistung ihr rechtliches Pendant, andere Staaten stellen es ihren Bürgern und Bürgerinnen hingegen rechtlich frei, ob sie eingreifen wollen. Wissenschaftlich ist hingegen umstritten, ob rechtliche Sanktionsdrohungen bzw. ob das rechtlich fixierte Solidaritätsgebot zur Hilfeleistung stärker ermutigt als allein das moralische Gebot. Für die Sozialpsychologie ist Nichthilfe unter bestimmten Bedingungen jedenfalls eher der Regelfall, der wissenschaftlich zudem gut erklärbar ist. Auch alte Rechtslehren sahen im Notfallhandeln natürliche Gesetzmäßigkeiten an die Oberfläche treten. Analog zur Idee, der Notfall offenbare den wahren Charakter einer Person, folgt die Rechtslehre dem Gedanken, dringliche Not verdränge die üblicherweise herrschende juridische Ordnung. Die Erlaubnis zum Bruch gewöhnlich geltender Regeln gründe im fundamentalen Wirklichkeitscharakter der Situation selbst. Von derartigen Naturrechtslehren wollte sich das posi-

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tive, vom Prinzip der Willensfreiheit ausgehende Recht lösen. Mit der Entschuldigung schlug das moderne Recht daher – zumindest in Deutschland – einen neuen Weg ein. Bestimmte, den legalen Rahmen überschreitende Notstandshandlungen blieben weiterhin rechtswidrig, von einer Bestrafung des Täters wurde aber abgesehen; die rechtswidrige Tat werde de facto bewusst vollzogen, aber dies geschehe schuldlos. Tat und Schuld werden voneinander getrennt bewertet. Doch auch diese Lösung hat das alte Notrecht nicht vollständig verschwinden lassen. Das bundesdeutsche Strafrecht differenziert zwischen einem entschuldigenden und einem rechtfertigenden Notstand. Liegt letzterer vor, wird die Strafbarkeit einer unter gewöhnlichen Umständen strafbaren Tat aufgehoben, sofern sie ein gebotenes Maß nicht überschritten hat (Güterabwägung). Die Rechtfertigung schreibt damit die Idee eines Notrechts fort, das es gestattet, Recht zu brechen. Jedoch wird das Notrecht um ein neues Verfahren ergänzt und ‚modernisiert‘: die Abwägung wird hier erstmals als ein zentrales juristisches Urteilsverfahren in das Recht eingeführt. Einige Jahrzehnte verhandelten Juristen den Gedanken, den zu erlaubenden Rechtsübertritt über eine mangelnde Attributionsfähigkeit der im Notfall begangenen Tat zu legalisieren. Der Täter sollte demnach straffrei bleiben, weil er im Notfall willenlos handelte; seine Handlung sei ihm also nicht intentional zurechenbar. Der Entwurf des entschuldigenden Notstands räumte mit dieser Sichtweise schließlich auf. Ohne auf ein urtümliches Notrecht zurückzugreifen, gewährt er Straffreiheit, obwohl er die Handlung als absichtsvolle und d. h. strafbare Tat anrechnet. Doch ist die juristische Frage nach der Zurechnungsfähigkeit einer Person in Notfällen mit der Differenzierung in entschuldigenden und rechtfertigenden Notstand damit nicht bedeutungslos geworden, sie stellt sich heute lediglich an anderer Stelle. Von der Beurteilung seiner Zurechnungsfähigkeit hängt heute ab, ob eine Situation gegen den Willen des Betroffenen als Notfall definiert und er entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch gerettet werden darf. Um medizinische oder andere Rettungsmaßnahmen gegebenenfalls gewaltsam (politisch-exekutiv) durchzusetzen, muss die Handlungsfähigkeit des Betroffenen zunächst entlang der rechtlichen Unterscheidung von unzurechenbar/zurechenbar bewertet werden. Für den legalen Einsatz von Gewalt gegen den, zugleich jedoch auch im Sinne des Kranken bedarf es der Feststellung mangelnder Zurechnungsfähigkeit. Die Notärztin wird in einem solchen Moment zu einer Figur, in deren Handeln sich rechtliche, politisch-exekutive und medizinische Anforderungen wechselseitig bedingen und auslösen. Es gehört zur zentralen Charakteristik von Notfällen, dass ihre Ausrufung und das Ergreifen außergewöhnlicher Maßnahmen rasch und am konkreten Fall entschieden werden muss und dabei neben moralischen Zwängen auch rechtliche, politische, medizinische und helfende Ansprüche auf ihre jeweilige Anerkennung

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drängen. Für die Entscheidungen über, in und die Bearbeitung von Notfällen verfügt die moderne Gesellschaft über professionelle und organisierte Retter. Da Notfälle ihr Auftreten in aller Regel nicht ankündigen, mit ihrem Auftritt dann jedoch die Notwendigkeit schneller Entscheidungen besteht, ist die Gesellschaft zwar darum bemüht, zivile Rettungskompetenzen zu stärken und Rettungstechniken öffentlich für jedermann vorzuhalten, damit rasch in den unglücklichen Lauf der Dinge eingegriffen werden kann. Doch diese Breitenbildung steht bis heute in Spannung zur Bearbeitung von Notfällen durch auf sie spezialisierte Retter. Auf sie soll und kann nicht verzichtet werden, Ersthelferinnen werden im Zuge des Eintreffens von Rettungskräften schnell als überflüssig und störend empfunden – wobei anzumerken ist, dass tradierte Auffassungen zum Stellenwert von Bystandern und ungebundener Helferinnen derzeit stark im Wandel ist. Professionelle und organisierte Retter bearbeiten Notfall täglich, für sie ist Rettung Routine. Rettungsorganisationen greifen im Notfall auf Handlungsschemata und Ressourcen zurück, die sie vor und nach jedem Einsatz aufbauen und erneuern. Ihre ständige Bereitschaft und Einsatzerfahrung erlaubt es ihnen, in Situationen ruhig aufzutreten und erfolgreich zu handeln, die für andere Personen existenziell und herausfordernd sind. Gleichzeitig stellen sich mit ihrer Routine Gewöhnungseffekte ein, so dass Rettungsorganisationen sich einerseits ermahnen, der außergewöhnlichen Bedeutung, die das Ereignis weiterhin für andere – Betroffene, Angehörige – besitzt, nicht gegenüber indifferent zu werden („abzustumpfen“), andererseits gegenüber Abweichungen und Fehlern aufmerksam zu bleiben. Takt- und Achtsamkeitsprobleme sind typische Routinefolgen, vor denen die Einsatzkräfte von Rettungsorganisationen stehen. Gerade für das Personal von Rettungsdiensten wird dies zur Herausforderung, denn je routinierter sie arbeiten, desto mehr müssen sie in ihre Achtsamkeit und Empathie investieren. Feuerwehren grenzen sich dagegen als Organisationen stark von ihrer sozialen Umwelt ab, sei es durch ihre Kasernierung, sei es durch ihre technische Rationalität, strenge Hierarchie, Gehorsamskultur und Binnenorientierung im Einsatz. Taktgefühl ist vom rationalen Held und der Maschine Feuerwehr kaum zu erwarten – und wird auch kaum eingefordert. Organisationsroutinen (Programme) bringen eine neue Sichtweise in den Notfall ein. Rettungsdienstalgorithmen oder auch Standard-Einsatz-Regeln der Feuerwehr abstrahieren vom besonderen Fall und führen damit eine gewisse Indifferenz gegenüber seiner Besonderheit in den Einsatz ein. Doch Rettungsorganisationen richten ihre Rettungsarbeit nicht nur an vorgefertigten Konzepten aus, oft fertigen sie ihre Pläne erst im Einsatz an und verfügen dafür über entsprechende Einrichtungen. Das strategische Zentrum der Feuerwehr ist der Einsatzleiter, der

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je nach Lage von einem mehrköpfigen und stark arbeitsteiligen Einsatzstab unterstützt werden kann. Die Rationalität dieses organisatorischen Kerns bewegt sich dabei in auffallender Distanz zum konkreten Leid vor Ort: aggregierte Informationen und verdichtete Lagebilder bilden die Entscheidungsgrundlage, während technische Aspekte der Durchführung, allgemeine Zielvorgaben, mögliche Risiken und denkbare Entwicklungen in die Planung miteinbezogen und gegeneinander abgewogen werden. Feuerwehren kennzeichnet, dass sie im Notfalleinsatz, wenn das Gegenwärtige die Aufmerksamkeit der Anwesenden in Besitz nimmt und zum sofortigen Handeln drängt, weiterhin Zukünftiges, Mögliches und Abwesendes berücksichtigen. Organisationale Rationalität und situativer Appell stehen nebeneinander in eigentümlichem Kontrast. Auch in anderen Organisationen laufen beiden Zeitorientierungen nebeneinander her, jedoch lässt sich ihr zwangsläufiges Inkontakttreten häufig einfacher harmonisieren. Jede Organisation kennt die parallele Anforderung, auf ihrer operativen Seite laufende und sich aktuell ergebende Aufgaben bearbeiten zu müssen, sich andererseits aber auch auf kommende Ereignisse vorbereiten und auf mögliche Risiken einstellen zu müssen. Im Rahmen von Rettungseinsätzen werden Notfallorganisationen wie kaum eine andere Organisation durch die gleichzeitige Orientierung an beiden Zeithorizonten herausgefordert. Es ist diese Konkurrenz zwischen und diese Verschachtelung von planerischen und operativen Elementen, auf die Rettungsorganisationen aufmerksam machen und auf deren Aufeinandertreffen und In-Vereinbarung-Bringen zukünftige Untersuchungen auch in anderen Organisationen blicken können. Der strategische Kern der Organisation Feuerwehr ist im Einsatz vor externen Umweltirritationen geschützt, indem er von der Außenwelt räumlich-architektonisch wie auch sozial abgeschottet wird. Planerische Rationalität kann sich entfalten, weil der Führungskopf auf Distanz zum Einsatzgeschehen gehalten wird: sein Platz ist im Leitwagen, von wo aus er „von hinten“, mittels der ihm unterstellten Führungskräfte führt. Doch selbst die operativen Einsatzkräfte der Feuerwehr, die sich am Rande der Organisation befinden, können nur eingeschränkt als solche organisatorischen Grenzstellen begriffen werden, die beständig mit der Umwelt in Kontakt stehen, mit ihr interagieren und von den situativen Bedingungen vor Ort stärker affiziert werden als der organisationale Kern. Die Primärorientierung der operativen Einheiten gilt der Organisation und ihren Entscheidungen. Als dem eigenen Verständnis nach hochgradig maschinelle Organisation kommuniziert die Feuerwehr mit ihrer Umwelt vornehmlich auf technischem Wege, von der sozialen Umwelt nimmt sie im Einsatz kaum Notiz. Ihrem Selbstverständnis nach ist es weniger die Einsatzorganisation, die sich den Gegebenheiten anzupassen hat (ob-

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gleich sich von außen natürlich durchaus zahlreiche Anpassungsprozesse beobachten lassen), die dominante Perspektive ist vielmehr umgekehrt. Die Umwelt wird so lange instrumentell bearbeitet und verändert, bis sie den eigenen Zielen und Vorstellungen gemäß verändert wurde. Die technisch-administrative Arbeitsweise der Organisation Feuerwehr und das medizinische Handeln sind füreinander befremdlich. Einsatzleiter und Notärztin haben zwar gemein, dass sie im Notfall über hohe Entscheidungsfreiheit verfügen, doch während ersterer aus der Mitte der Organisation heraus operiert und diese im Sinne des Einsatzziels lenkt, ist das Handeln der Notärztin im Regelfall an der Gesundheit bzw. dem Überleben eines Patienten ausgerichtet, mit dem bzw. mit dessen Körper sie sich zu diesem Zwecke direkt befasst. Es unterscheiden sich sowohl Problemfokus (hier die Lage, dort der Patient) als auch Einsatzinvolvierung (hier hochgradig arbeitsteiliger Situationsbezug mitsamt einer strengen Trennung von Kopf- und Handarbeit, dort diagnostische und therapeutische Intervention zusammen mit dem Personal des Rettungsdienstes). Beiden Seiten geht es im Extremfall natürlich darum, Menschenleben zu retten, aber die Art und Weise, wie sie dies tun, unterscheidet sich eklatant. Während die Feuerwehr Personen rettet, indem sie deren Befreiung aus einem Gefahrenbereich organisiert und technisch ermöglicht (und die befreiten Betroffenen dann an den Rettungsdienst übergibt), rettet die medizinische Profession den Patienten, indem sie seine lebensnotwendigen biologischen Prozesse untersucht, sie (gegebenenfalls selbstständig) stabilisiert und ihn möglichst schnell in ein Krankenhaus transportiert. Als Entscheidungsinstanz befindet sie sich, im Gegensatz zum Einsatzleiter, in direkten Kontakt mit der Einsatzumwelt. Anders als für die Organisation, ist Rettung für sie kein abstrakter Zweck, sondern ein konkretes Problem. Bei Großeinsätzen, in denen technische und medizinische Rettung eng miteinander kooperieren müssen, führen nicht nur der unterschiedliche Problemfokus und der ungleiche Involvierungsgrad zu Schwierigkeiten. Erschwert wird eine konfliktfreie Arbeitsbeziehung auch durch das unterschiedliche organisationskulturelle Selbstverständnis von Rettungsdiensten und Feuerwehren, das bei ersteren eher eine eigenständige Problembearbeitung begünstigt (die durch die jüngste Entwicklung und den Einsatz von Rettungsdienstalgorithmen wiederum eingeschränkt wird), bei letzteren dagegen durch eine Befehls- und Gehorsamskultur geprägt ist, die dort als ein unverzichtbares Element organisierter Rettung begriffen wird. Mithilfe von MANV-Plänen wird die Arbeit verschiedener Feuerwehren und Rettungsdienste bei Großeinsätzen aufeinander abgestimmt. Die Schnittstelle zwischen technischer und medizinischer Rettung wird dabei vom Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL) und einer Leitenden Notärztin (LNÄ) besetzt. Die Untersuchung zeigte, dass allein die Einführung dieser Funktionsträger das

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Schnittstellenproblem noch nicht zu lösen vermag, sondern dass sowohl die formale Ausgestaltung im MANV-Konzept, welche regional sehr unterschiedlich ausfällt, als auch die Berücksichtigung organisationskultureller Dispositionen darüber entscheiden, inwiefern es gelingt, die interorganisationale Kooperation zu harmonisieren. Während der OrgL damit konfrontiert ist, Einsatzkräfte unterschiedlicher Organisationen zu führen, steht die LNÄ vor der Aufgabe, medizinisches Handlungsverlangen und administrative Erfordernisse miteinander zu vermitteln – zwischen professionellen Akteuren und Einsatzleitung, aber auch im Rahmen der eigenen Selbstführung. Die Arbeit hat gezeigt, dass die Spannungen zwischen technischer und medizinischer Rettung aus der Differenz von Organisation und Profession her verständlich gemacht werden können. Es fällt dann auf, dass sich die bereits erwähnte unterschiedliche Zeitorientierung auch entlang dieser Differenz beobachten lässt, wenngleich sie nicht mit dieser zusammenfällt. Weiterhin ist es relativ einmalig, dass Notärztinnen häufig nicht Mitglieder der Rettungsdienste sind, die Profession also nicht von einer Organisation beherbergt wird, wie es in Krankenhäusern, Gerichten, Kirchen, Schulen usw. der Fall ist. Auch das Verknüpfen von technischer und medizinischer Rettung bei Großschadenslagen durch die Besetzung von Schnittstellen durch dafür ausgebildete Funktionsträger ist in dieser Form einmalig; das Verhältnis von professioneller und administrativer Logik ist in der organisierten Rettung ein besonderes. Notfallorganisationen besitzen Leistungsgrenzen, doch wo genau diese liegen, ist nicht eindeutig zu sagen. Die Grenze kann dort gesehen werden, wo die Organisation ihren gewöhnlichen Leistungsumfang aufgrund mangelnder Ressourcen bzw. eines hohen plötzlichen Bedarfs einschränken oder zeitlich aufschieben muss. Der externe Notfall schlägt dann bis auf die Organisation durch, die ihre Zweckverfolgung bedroht sieht. Zum fremdreferenzierten Notfall gesellt sich dann der eigene. Nicht nur der zu Rettende ist dann in Gefahr, auch die organisierte Rettung ist es. Zugleich ist jedoch zu beobachten, dass alle Notfallorganisationen sich im Laufe ihrer historischen Entwicklung auf solche Extremsituationen einzustellen beginnen und Konzepte entwickeln, die es ihnen erlauben, auch auf Momente ihrer Überbeanspruchung vorbereitet zu sein. Der große Lehrmeister ist hier die erfahrene Katastrophe (in Deutschland: Ramstein 1988), aber auch der vorgestellte Albtraum, der an einem konkreten Ereignis aufgehängt wird – wie etwa die Anschlagszenarien im Vorfeld der WM 2006. Beides, Katastrophen wie Szenarien, katalysiert strukturelle Umbrüche und Erweiterungen. Die weltweite Verbreitung, Differenzierung und Implementierung von MANV-Plänen und Triagealgorithmen sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass ein Mangel an Ressourcen für

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Rettungsorganisationen kein Grund ist, oder sein soll, überfordert zu sein. Vielmehr gehört es zur DNA dieser Organisationen, sich über die eigenen Leistungsgrenzen hinwegzusetzen.

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Zitierte Interviews Die Auflistung beinhaltet allein die in dieser Arbeit zitierten Interviews. Das Alter wird aus Gründen der Anonymisierung teilweise leicht abweichend angegeben. In wenigen Fällen, in denen es nicht bekannt war, wurde es geschätzt.

Einsatzleiter Feuerwehr (m, 39, Agroßstadt), Interview geführt im Februar 2012, 20 Minuten RA (m, 22, tätig in Ldorf), Abitur, Gruppenführer einer Feuerwehr; Interview geführt in 2012, 80 Minuten RA (m, 29, tätig in Bstadt), Mittlere Reife, Leitstellendisponent, Stellvertretender Feuerwehrkommandant in Gdorf, Interview geführt in 2012, 56 Minuten RA (m, 30, tätig in Bstadt), Abitur, Interview geführt in 2012, 92 Minuten RA (w, 28, tätig in Bstadt), Medizinstudentin, Interview geführt im August 2012, 75 Minuten RA (m, 26, tätig in Bstadt), Medizinstudent, Interview geführt im September 2012, 26 Minuten Notarzt (m, 36, tätig in Bstadt), Interview geführt im Oktober 2012, 63 Minuten RA (m, 57, tätig in Lstadt), Studium, Leitungsfunktion, Interview geführt im Oktober 2012, 55 Minuten RA (w, 31, tätig in Kdorf), Mittlere Reife, Interview geführt im November 2012, 48 Minuten RA (m, 32, tätig in Hdorf), Abitur, Rettungswachenleiter und Dozent, Interview geführt im November 2012, zwei Interviews von insgesamt 51 Minuten (erstes Interview durch Alarmierung nach 17 Minuten beendet) ÄLRD (m, 45, Bgroßstadt), Interview geführt im Dezember 2013, 120 Minuten Polizist (m, 50, Bgroßstadt), Interview geführt im Dezember 2013, 87 Minuten ÄLRD (m, 60, Agroßstadt), Interview geführt im Mai 2014, 67 Minuten LNA (m, 55, Bgroßstadt), Interview geführt im Dezember 2013, 58 Minuten © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0

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OrgL (m, 43, Agroßstadt), Leitungsfunktion in einer Hilfsorganisation, Ausbildung zum OrgL, Interview geführt im Juni 2014, 115 Minuten Einsatzleiter Feuerwehr (m, 50, Agroßstadt), verschiedene Leitungsfunktionen, Interview geführt im Juni 2014, 80 Minuten Feuerwehrmann (22, Dgroßstadt), zugleich Rettungsassistenten, Interview geführt im Mai 2015, 11 Minuten

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Anhang

Interviewleitfaden I: Rettungskräfte: zwischen Routine und Ausnahme 1. Scene Management I : Der Notfall Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie zu einem Notfall fahren? -

Vorbereitungen Einsatzverlauf Erster Überblick Unerwünschte Einsätze Definition Notfall Notfall als Routine

- Wie verschaffen Sie sich einen Überblick am Notfallort? Worauf achten Sie als erstes? - Zu welchen Einsätzen fahren Sie denn ungerne? - Was macht für Sie eigentlich einen echten Notfall-Einsatz aus? - Wann werden Notfallsituationen für Sie zur Normalität?

2. Scene Management II: Entscheidungen, Verantwortung, Hierarchie Erzählen Sie doch mal von den Situationen in einem Einsatz, wo Sie wichtige Entscheidungen treffen müssen! - Routine und Improvisation - Zusammenarbeit… o mit der Feuerwehr o mit Notärzten o mit Rettungssanitätern o zwischen Rettungsassistenten - Entscheidungen im Team - NA-Hierarchie/ Befehle/ Fremdurteile

- Wann handeln Sie aus dem Bauch heraus u. wann halten Sie sich strikt an Algorithmen? - Mit welchen Notärzten/innen arbeiten Sie gern/nicht gerne zusammen? - Was macht denn eine gute Zusammenarbeit am Einsatzort für Sie aus? - Inwiefern stören oder helfen andere Einsatzkräfte vor Ort, z. B. der Feuerwehr oder der Polizei? - Wie treffen Sie denn in Ihrem Rettungsteam Entscheidungen? (Mögl. Anschlussfrage: Und wer trägt dann die Verantwortung?) - Wann fällt es Ihnen schwer eine Entscheidung von einem/einer NA zu akzeptieren? 3. Regelungsunsicherheiten

Wo fehlen denn Ihrer Meinung nach klare Regeln für Ihre Arbeit als Rettungsassistent in Notfalleinsätzen? - rechtliche Grauzonen - (Straf-)Rechtliches Nachspiel - Notkompetenz - Rechtsunsicherheit

- Wie gehen Sie mit rechtlichen Grauzonen um? - Umfragen haben gezeigt, dass sehr viele Rettungsassistenten meinen, bei Notfalleinsätzen häufig mit einem Bein im Gefängnis zu stehen. Wie erleben Sie das? - Was sagen Sie eigentlich zum Thema Notkompetenz? - Wann sind Sie sich in Notfalleinsätzen denn nicht mehr völlig sicher, was Sie tun dürfen und was nicht?

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Ellebrecht, Organisierte Rettung, Organisationssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30162-0

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Anhang

4. Soziale Grenzsituationen Was sind so Szenen oder Situationen, mit denen es schwierig ist umzugehen? - Tabus und Nacktheit / Körperlichkeit - Umgang mit Tod - Fremde Erwartungs-haltung an den „Retter“

- Wie gehen Sie denn mit Situationen um, die für andere beschämend sind? - Wie gehen Sie denn damit um, wenn Sie bei einem Notfalleinsatz nicht mehr helfen konnten? - Wie gehen Sie denn in diesen Situationen mit Angehörigen um, die gehofft haben, dass Sie noch helfen können? 5. Fremdbild/Selbstbild

Was meinen Sie, wie denken andere über Ihren Beruf? - Medien - Freunde/Freundinnen - Bekannte - Selbstbild/Identität

- Was sagen Sie zur Darstellung von Rettungsassistenten in Film und Fernsehen? - Wie sehen denn ihre Freunde ihren Beruf? - Wie reagieren denn Bekannte, wenn Sie Ihnen erzählen, dass Sie RA sind? - Wie haben Sie sich denn durch Ihren Beruf verändert? 6. Professionalisierung

Was macht denn für Sie einen guten Rettungsassistenten aus? - Idealbild/Kompetenzen/ Professionsbildung - Medizinische Qualifikation/Notarztersatz

- Was fehlt denn den meisten Rettungsassistenten oftmals? - Schildern Sie doch mal die drei für Sie wichtigsten Kompetenzen eines Rettungsassistenten? - Es gibt Stimmen, die sagen, dass wir in Deutschland kein Notarzt-System brauchen. Wie stehen Sie dazu? (falls Rückfrage: Wie zum Beispiel in den USA, dort gibt es nur Paramedics, also Rettungsassistenten, im Rettungsdienst, und kaum Notärzte.)

Anhang

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Interviewleitfaden II: Interorganisationale Zusammenarbeit bei Großeinsätzen 1. Einstiegsblock - Eigene Funktion und Perspektive - Jüngste historische Entwicklung / Brüche

- Schildern Sie mir bitte zu Beginn, was Ihre Rolle und Aufgabe hier in [Großstadt X] im Bereich der Notfall- und Katastrophenplanung sind? - Können Sie mir kurz skizzieren, was sich, etwa seit den 1990ern, im Bereich der Notfallplanung und des Katastrophenschutzes hinsichtlich ihres Aufgabengebietes grundsätzlich verändert hat? 2. MANV-Plan

Kommen wir zum MANV-Plan. Schildern Sie mir bitte, wie die Entwicklung des MANVPlans in den letzten Jahren konkret verlaufen ist? - Etappen - Beteiligte Organisationen - Alte Konflikte, neue Probleme - Auswirkungen auf die eigene Organisation

- Was ist aus Ihrer Sicht als [Funktion/Rolle] das primäre Ziel eines MANV-Plans? - Was war Ihnen bei der MANV-Plan Entwickl. bes. wichtig? - Welche Probleme werden durch den Plan beseitigt? - Wie hilft der MANV-Plan Ihrer Organisation/Behörde, wenn es tatsächlich zu einem MANV kommt? - Was für Erfahrungen haben Sie während der Entwicklung des Plans angetrieben?

3. Interorganisationale Planung; Abstimmungsprozess

- Autorisierung - Auswirkungen

- Wie verlief der Abstimmungsprozess mit den anderen beteiligten Organisationen? (Beschreiben Sie mir doch bitte anhand eines Beispiels, wie sie in Zusammenarbeit mit anderen Beteiligten etwas im MANV-Plan festgelegt haben.) - Welche gegensätzlichen Interessen treffen bei der MANV-PlanEntwicklung aufeinander? - Welche Schwierigkeiten sind bei der MANV-Plan-Entwicklung aufgetaucht? (Mit welchen haben Sie gerechnet, von welchen wurden Sie überrascht?) - Wie sind einzelne Abschnitte abgestimmt worden, wie vollzieht sich die Konsensfindung bei bestimmten Problemen? Beispiel? - Welche Erfahrungen aus dem Einsatzalltag und von Großeinsätzen sind in den Plan miteingeflossen? - Hat sich die gemeinsame Erarbeitung des MANV-Plans auf die Beziehung der Organisationen untereinander ausgewirkt? - Wie wird ein MANV-Plan verabschiedet? (Prozess beschreiben?) - Wie verändert der MANV-Plan die Zusammenarbeit unter den verschiedenen Organisationen und Behörden?

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Anhang

4. Schnittstellen zwischen technischer und medizinischer Rettung: LNA und OLRD Ein MANV-Plan kann im Kern als Ineinanderführung dreier Konzepte verstanden werden: eines Alarmierungsplans, der Dienstvorschrift 100 und eines Sichtungskonzepts. Worin liegt die Herausforderung, wenn man diese drei Konzepte miteinander verbinden will? - Herausforderungen des LNAs - Eigenlogik medizinischer und technischer Rettung - Befehlskommunikation, Funkmedien - Einsatzkonflikte

- Organisationszugehörigkeit des OLRD

- Neben dem OLRD stellt der LNA die Verbindungsfigur zwischen technischer und medizinischer Rettung dar. Schildern Sie mir doch bitte einmal, vor welche grundsätzlichen Probleme der LNA dabei gestellt ist. - Wie ist das in Ihrem MANV-Plan geregelt? Gab es darüber viele Diskussionen? - Ein ÄLRD hat mir einmal von dem Satz eines Feuerwehrmannes erzählt, der lautet: „Größter Fehler bei einem MANV: dem LNA ein Funkgerät in die Hand zu drücken.“ Können Sie mir erklären, auf was der Spruch anspielt, wenn gesagt wird, es sei ein großer Fehler? o Können Sie mir die Funktion und die Bedeutung des Funkgeräts für die Feuerwehr erläutern? o Welche Folgen hat es, dass der Rettungsdienst nicht über Funkgeräte bei einem Großeinsatz verfügt? o Woran liegt es, dass es zwischen FW und RD/Notärzten immer wieder zu Sticheleien kommt? - Was halten Sie von dem Vorhaben, welches in einigen Bundesländern diskutiert wird, als OLRD nur noch Rettungsassistenten der Berufsfeuerwehren zuzulassen? 5. Notfallpläne in der Praxis

Bei MANV-Konzepten handelt es sich ja um festgeschriebene und gemeinsam verabschiedete Pläne. Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach, dass sich alle im Ernstfall an die vereinbarten Abmachungen halten? - Abweichung von formalen Konzepten - Untauglichkeit formaler Konzepte - Vertrauen

 

- Können Sie sich Situationen vorstellen oder haben Sie welche erfahren, in denen MANV-Pläne, oder allgemeiner: Notfallpläne sinnvoller Weise nicht eingehalten wurden oder nicht eingehalten werden sollten? - Gibt es Ihrer Meinung nach Handlungsbereiche in einem Notfall, bei einem MANV, die nicht formal regelbar sind oder nicht geregelt werden sollten? - Welche Rolle spielen persönliche Bekanntschaften zwischen Führungskräften verschiedener Organisationen bei Großeinsätzen? - Welche Rolle spielt Vertrauen zwischen den Organisationen bei einem großen MANV-Einsatz? Können Sie Beispiele nennen?