Sendungen: Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht [1. Aufl.] 9783839411131

Die Beiträge des Bandes untersuchen das Geflecht aus Telegrammen, Postkarten und Briefen, Gedanken, Skizzen und Depesche

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German Pages 376 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Didididahdahdahdididit
Fred Forest, oder: Das dialogische Leben
Ketten, Ströme, Wellen
„Die Stimme als Gast“. Benjamins Sendungen
Schreibmaschinenströme. Max Benses Informationsästhetik
Kettenbriefe: π oder… Freud, Fließ, Schreber, Cohen, Dupin, Lacan, Markov…
Funken, Spulen, Verteiler
„Where voices and currents flow…“ Nikola Tesla und Telekommunikation
Stimmen senden. Versuch über das Wissen der Telefonvermittlung
„Aber bitte nur ein Ping!“ Maschinenfunken und Röhrensender nach 1900
Briefe, Pfeile, Fernsichten
Telepathie im TV? Das Zuschauerexperiment von 1968 in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive
Die mongolische Sendung und der Antichrist
„40 Kopeken für ein Paket“. Čechovs literarische Würdigung der Postboten
Blicke, Karten, Satelliten
Die Diskursanalysemaschine entfaltet
„Wir, die Marsmenschen!“
Quecksilber im Äther oder projektive Identifikation, das Radio und die Panik der Massen
Bilder, Filme, Sterne
Parallaxe als Programm: die „dialogische“ Sendung des Emir Kusturica
Künstlerische Botschaften aus der Lagune. Der sowjetrussische Pavillon auf der Biennale di Venezia 1990
Telegramme an die Front. Animationsfilm
Sender und Empfänger
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Sendungen: Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht [1. Aufl.]
 9783839411131

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Wladimir Velminski (Hg.) Sendungen

Wladimir Velminski (Hg.) Sendungen Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht

Gedruckt mit freundlicher Unerstützung durch das Instituts für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Eikones, dem Nationalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik« der Universität Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dmitri Dergatchev, Berlin Umschlagabbildung: Dmitri Dergatchev, Berlin Lektorat: Oliver Meckler, Berlin Korrektorat: Maria Hüren, Neukirchen-Vluyn Layout & Satz: Dmitri Dergatchev, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1113-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Wladimir Velminski Didididahdahdahdididit...........................................................9 Vilém Flusser Fred Forest, oder: Das dialogische Leben............................. 17 Ketten, Ströme, Wellen Wolfgang Hagen „Die Stimme als Gast“. Benjamins Sendungen..................... 25 Hans-Christian von Herrmann Schreibmaschinenströme. Max Benses Informationsästhetik.......................................... 51 Viktor Mazin Kettenbriefe: π oder… Freud, Fließ, Schreber, Cohen, Dupin, Lacan, Markov…........................................... 63 Funken, Spulen, Verteiler Ana Ofak „Where voices and currents flow…“ Nikola Tesla und Telekommunikation................................ 107 Sebastian Gießmann Stimmen senden. Versuch über das Wissen der Telefonvermittlung.............. 133 Robert Dennhardt „Aber bitte nur ein Ping!“ Maschinenfunken und Röhrensender nach 1900.............. 155

Briefe, Pfeile, Fernsichten Uwe Schellinger Telepathie im TV? Das Zuschauerexperiment von 1968 in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive........................ 167 Peter Berz Die mongolische Sendung und der Antichrist................... 191 Wladimir Velminski „40 Kopeken für ein Paket“. Čechovs literarische Würdigung der Postboten.................. 219 Blicke, Karten, Satelliten Philipp von Hilgers Die Diskursanalysemaschine entfaltet................................. 249 Gloria Meynen „Wir, die Marsmenschen!“.................................................... 265 Jan van Loh Quecksilber im Äther oder projektive Identifikation, das Radio und die Panik der Massen................................... 295 Bilder, Filme, Sterne Miranda Jakiša Parallaxe als Programm: die „dialogische“ Sendung des Emir Kusturica................... 325 Sandra Frimmel Künstlerische Botschaften aus der Lagune. Der sowjetrussische Pavillon auf der Biennale di Venezia 1990..................................................................... 341 Dmitri Dergatchev Telegramme an die Front. Animationsfilm......................... 357 Sender und Empfänger........................................................ 369

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Im Jahr 1929 sieht Aleksandr Beljaev die nahe Zukunft seiner Hauptstadt voraus: „Moskau ist eine Stadt des erhabenen Schweigens geworden.“1 Die literarischen Visionen eines der Begründer der sowjetischen wissenschaftlich-fantastischen Literatur knüpfen an die Verschmelzung von Wissenschaftsfiktionen teletechnischer Revolution mit den utopischen Machstrategien der damaligen Zeit.2 Die politische Um1 Beljaev, Aleksandr: Vlastelin mira. In: Ders.: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Moskau 1963, Bd. 4, 216. ����������������������������������������������������������������������� So weist Hans-Jörg Rheinberger darauf hin, dass die erzeugten Wissenssysteme nicht einfach von „Außen“ übertragen werden, sondern immer diskursive Prozesse erzeugen. Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Iterationen. Berlin 2005; ders.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001; ders. /Hagner, Michael/Wahrig-Schmidt, Bettina [Hg.]: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997. In diesem Zusammenhang verweist beispielsweise Reiner Matzker auf die „Dramaturgie des Medialen“, die in „fast allen Formen der Vermittlung und Übertragung“ angelegt ist. Matzker, Reiner: Ästhetik der Medialität. Zur Vermittlung von künstlerischen Welten und ästhetischen Theorien. Rheinbek bei Hamburg 2008, 18. Vgl. auch Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main 2008; ferner

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strukturierung der Ordnung braucht in dieser Vision keine Verbalisierung von Gedanken und die sprachlichen Zeichensysteme verlieren an Bedeutung. Das Denken des neuen Menschen mit geistreichem Sendungspotential soll sich demnach über die realwissenschaftlichen Experimente auf Alltag und Gesellschaft ausbreiten.3 Beljaevs Protagonisten berichten im Roman Der Weltbeherrscher (rus. Vlastelin mira, 1929), dass die Moskauer „fast gar nicht mehr miteinander reden“, seitdem sie gelernt haben, „Gedanken auszutauschen.“4 Zwar geht der Autor nicht darauf ein, welcher kommunizierenden Ordnung der Austausch von Gedanken sich bedient, deutlich wird jedoch, dass diese sich auf physikalische (in diesem Falle noch elektromagnetische) Größen und ihre Wechselsysteme beziehen, die als Gegenpol zur Sprachlichkeit agieren. Gerade in dem technischen Kommunikationsmodell, das Beljaev als Schriftsteller ausbreitet, kommt der Sendung eine gesonderte Bedeutung zu. Denn in der Möglichkeit eines solchen Dialogs wird eine Kopplung von Begebenheiten herauskristallisiert, die nicht nur einen unmittelbaren technischen Charakter vorweisen, sondern zugleich die Prozessualität technischer Ereignisse von Übertragung, Störung und Speicherung beherrschen, auf die Claude E. Shannon hingewiesen hat.5 Der „technisch bedeutungsvolle Aspekt“, so Shannon, beschränkt sich nur auf die Auswahl einer „tatsächlichen Nachricht aus einem Vorrat von möglichen Nachrichten“.6 auch der Sammelband Liebrand, Claudia/Schneider, Irmela [Hg.]: Medien in Medien. Köln 2002. 3 Vgl. Murašov, Jurij/Witte, Georg [Hg.]: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München 2003; Schwartz, Matthias/Velminski, Wladimir/Philipp, Torben [Hg.]: Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaft in Russland 18601960. Frankfurt am Main 2008. 4 Beljaev: Vlastelin mira, 216. 5 Shannon, Claude E.: Die Mathematische Theorie der Kommunikation. In: Ders./Weaver, Warren: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München 1976, 41-130. Shannons Kommunikationssystem beschränkt sich auf fünf Bestandteile: Nachrichtenquelle, Sender, Kanal, Empfänger, Nachrichtenziel (Abb. 1). 6 Ebd., 41 (kursiv im Original). Grundlegend hierfür sind die Studien von Friedrich Kittler. Ders.: Gleichschaltungen, Normen und Standards der elektronischen Kommunikation. In: Dencker, Klaus Peter [Hg.]: Interface I. Hamburg 1992; Lakanal und Soemmering: Von der optischen zur

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Nachrichtenquelle

Sender

Empfänger

Signal Nachricht

empfangenes Signal

Nachrichtenziel

Nachricht

Nachricht

Abb. 1: Schematisches Diagramm eines allgemeinen Kommunikationssystems nach Claude E. Shannon

Das Ausschlaggebende an Shannons Theorie ist, dass sie von der Berechenbarkeit der Sprache ausgeht und somit diese von den technischen Modellen der Übertragung nicht unterscheidet.7 Im Falle des Romans handelt es sich um einen Zugriff auf den Gedankenvorrat, der im Äther kursiert. Indem die Fiktionalisierung der Wissenschaft hier als reaktives Transportmedium der Wissensinhalte entfaltet wird, entstehen mediale Konturen, die neue Erkenntnisse transformieren.8 Die elektromagnetischen Wellen des Diskurses, die mit der elektrischen Telegrafie. In: Felderer, Brigitte [Hg.]: Wunschmaschine Welterfindung. Wien 1996; ferner auch ders.: Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986; ders.: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1987. 7 Shannons Theorie basiert auf den Markovprozessen, die der russische Mathematiker Andrej Markov am Anfang des 20. Jh. als eine neue Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt hat. Vgl. dazu Hilgers, Philipp von/Velminski, Wladimir: Andrej A. Markov. Berechenbare Künste. Mathematik, Poesie, Moderne. Berlin/Zürich 2007. 8 Allgemein hierzu Macho, Thomas/Wunschel, Anette [Hg.]: Science & Fiktion. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Literatur und Film. Frankfurt am Main 2004; Vogl, Joseph [Hg.]: Poetologien des Wissens um 1800. München 1999; Hülk, Walburga/Renner, Ursula [Hg.]: Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Würzburg 2005; Krause, Markus/Pethes, Nicolas [Hg.]: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005; Mayer, Andreas/Métraux, Alexandre [Hg.]: Kunstmaschinen. Spielräume des Sehens zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Frankfurt am Main 2005; Danneberg, Lutz/Vollhardt, Friedrich [Hg.]: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002; ferner auch Hagner, Michael [Hg.]: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main 2001.

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Erfindung des Radios verknüpft waren, weiteten sich auf die technisch-medialen Kulturtechniken aus und stellten für Forscher wie Künstler, Theoretiker wie Schriftsteller die Verwirklichung ihrer drahtlosen Fantasien dar.9 So verfasst beispielsweise Velimir Chlebnikov in der Zeit, in der er in der Russischen telegraphischen Agentur (ROSTA, in Pjatigorsk) arbeitet, seinen futuristischen Entwurf Radio der Zukunft (Radio buduščego, 1921), in dem er seinen Arbeitsplatz „mit dem Bewusstsein des Menschen, mit seinem Hirn“ vergleicht. ROSTA spricht er den „einheitlichen Willenspunkt des Volkes“ zu, der jedem Menschen „auf zahllosen Wegen und Strömen seinen Willen zusendet und ihm Stöße und Schläge versetzt“. Doch die Zukunft solcher Sendungen sieht Chlebnikov ganz anders: Das Radio der Zukunft – der wichtigste Raum der Erkenntnis – wird der Wissenschaft eine Fülle von Aufgaben eröffnen und die Menschheit zusammen führen. Neben der Radiohauptstation, diesem Schloss aus Eisen, um das Wolken aus Drähten wie Haare verstreut sind, werden wahrscheinlich ein Knochenpaar, ein Schädel und die bekannte Aufschrift „Achtung“ zu sehen sein, da die geringste Unterbrechung in der Arbeit des Radios die geistige Ohnmacht des ganzen Landes, den zeitweiligen Verlust seines Bewusstseins verursachen würde.10

Sendungen, die Chlebnikov „aus dem Mund der eisernen Trompete“ erschallen hört, beschränken sich nicht auf Tagesund Wetternachrichten, sein Radio der Zukunft „strahlt bunte Schatten über seine Apparate aus und lässt das ganze Land und jedes Dorf zu Besuchern einer Gemäldeausstellung der fernen Hauptstadt werden.“11 Auch Gerüche, Arzneien, Geschmacksempfindungen und Träume sollen mit elektromagnetischen Wellen verbreitet werden und „dem Radio noch größere Macht über das Bewusstsein des Landes verleihen“.12 Chlebnikovs Vision vom elektromagnetischen Aufheizen der Sinne und von bedingungsloser Ohnmacht interferiert mit 9 Vgl. hierzu Daniels, Dieter: Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet. München 2002. 10 Chlebnikov, Velimir: Werke: Prosa, Schriften, Briefe. Bd. 2, 270-275, hier 270. 11 Ebd., 274. 12 Ebd., 275.

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Abb. 2: Schaltplan eines Menschen nach Bernard Kažinskij im Roman von Aleksandr Beljaev

Marshall McLuhans Charakterisierung des Radios als „heißes Medium“, die er fast vierzig Jahre später in Understanding Media ausführen wird.13 Vor dem Hintergrund des wissenschaftlich-fantastischen Sendungspotentials gewinnt allerdings auch McLuhans These – „the Medium is the Message“, und dass Medien kennzeichnende „Ratios of Sense Perceptions“ erzeugen – an Intensität. Es sind eben diese radiophonen Anspielungen, die sich in Beljaevs Roman als eine Art Strahlenfelder ausbreiten und damit einen neuen Menschen deuten, dessen gesamtes Nervensystem das Analogon einer Radiostation ist: Teile des Gehirns spielen die Rolle eines Mikrofons und Detektors und Telefons; fibrillare Fäden der Neuronen haben an ihrem Ende eine Windung, die erstaunlich an eine drahtartige Spirale erinnert, hier haben sie also die Induktion. […] In unserem Körper haben wir sogar die RoundLampen – sie sind die Kolben des Herzens. Die Quelle der Herzenergie entspricht einem Akku und das periphere Nervensystem der Erdung.14

13 ������������������������������������������������������������������� McLuhan, Marshall: Die Magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden 1995 (zuerst 1964). Vgl. dazu auch eine kritische Re-Lektüre von McLuhans Medientheorie: Kerckhove, Derrick de/Leeker, Martina/ Schmidt, Kerstin [Hg.]: McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2008. 14 Beljaev: Vlastelin mira, 156.

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Beljaevs Protagonist, ein sowjetischer Elektrotechniker, berichtet auch anhand einer Skizze (Abb. 2), dass der menschliche „Körper einen komplexen elektrischen Apparat darstellt, eine ganze Radiostation, die in der Lage ist, elektromagnetische Schwingungen zu senden und zu empfangen.“15 Die Übertragung solcher experimenteller Anordnungen auf die Literatur lässt komplementäre Resonanzen unterschiedlichster Diskurse entstehen, vor deren Hintergrund die gewöhnliche Kommunikation überflüssig erscheint: „So sperrig und langsam scheint uns jetzt die alte Art und Weise zu reden!“, berichten die Helden des Romans. „Vielleicht werden wir mit der Zeit das Reden ganz verlernen. Bald werden die Post, der Telegraph und sogar das Radio ins Archiv gebracht.“16 Eine solche stumme Kommunikation ist (zum Glück) noch nicht Wirklichkeit geworden. Gelbe Fahrzeuge mit Briefen und Päckchen fahren nach wie vor durch unsere Straßen. Radiosendungen geistern immer noch durch die Lüfte. Und auch das gute alte Telegraphieren beschränkt sich nicht nur auf das Klopfen von drei mal kurz, drei mal lang, drei mal kurz, wie es seit 1908 untergehende Schiffe aussenden. Glaubt man dem Science-Fiction-Film Independence Day (1996), ist die telegraphische Kommunikation die einzige Möglichkeit, die den Menschen bleibt, um sich zu verbünden und eine gemeinsame Offensive gegen die Aliens auf der Erde zu starten. Das Geflecht aus Telegrammen, Postkarten und Briefen, Gedanken, Skizzen und Depechen sowie Radio- und Fernsehsendungen bildet die Hauptfigur des hier vorliegenden Bandes. Das Buch versammelt eine Reihe von Beiträgen, die unterschiedlichen Sendungsformen nachgehen und somit das Verhältnis von Kulturtechniken und Medialität diskutieren. Angesichts der historischen und fiktionalen Strukturen dieser Kommunikationsmodelle, werden in den Studien Spannungsfelder zwischen Kunst, Literatur und Wissenschaft geschaffen. Die Bilder des Animations- und Grafikkünstlers Dmitri Dergatchev begleiten die einzelnen Abschnitte des Bandes. 15 Ebd. 16 Ebd., 216.

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Am Ausgangspunkt der Vernetzung steht Vilém Flussers Aufsatz über das dialogische Leben.17 Der zum ersten Mal veröffentlichte Beitrag des Medienphilosophen bildet quasi als Sendemast kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Signale, wie sie in den folgenden Texten umgepolt, weitergeschaltet und verstärkt werden.

17 An dieser Stelle danke ich Christoph Oldach dafür, dass er mich auf den Text aufmerksam gemacht hat und dem Vilém Flusser-Archiv für das Ermöglichen dieser Veröffentlichung.

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Vilém Flusser Fred Forest, oder: Das dialogische Leben

Auf zwei grundlegende Arten können Menschen mit einander kommunizieren: diskursiv und dialogisch. Im Diskurs fließt die Botschaft eindeutig von einem Sender in Richtung von Empfängern. Im Dialog pendelt sie, und die Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger wird fraglich. Zwar kann man beim Telefon z.B. zwei Pole unterscheiden. Den Empfängerpol am Ohr und den Sendepol vor dem Mund. Aber die beiden Pole sind zu einem einzigen Medium zusammengeschweißt. Das Telefon ist wie eine Verschmelzung von Mikrofon und Radioapparat im Rundfunk, oder der Rundfunk ist wie ein Zerreißen des Telefons in seine beiden Pole. Eine nützliche Beschreibung des Unterschieds zwischen Dialog und Diskurs. Aber auch ein Hinweis auf unsere Lage. Die Technologie hinter dem Telefon ist der hinter dem Rundfunk nicht unähnlich. Daher kann der Grund für die gegenwärtige Übermacht der Diskurse nicht in der Technik liegen. Man muss ihn anderswo suchen. Der eindeutige Fluss der Botschaft im Diskurs hat eine spezifische Stimmung zur Folge. Die Botschaft wird weitergegeben (Tradition) und geht weiter (Fortschritt). Ganz anders ist die

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Vilém Flusser

dialogische Stimmung. Weder Tradition noch Fortschritt, sondern Verantwortung kennzeichnet Dialoge. Verantwortung soll hier die Möglichkeit einer unmittelbaren Antwort auf empfangene Botschaften heißen. Wobei die Betonung auf unmittelbar liegen soll. Auch der Diskurs erlaubt eine Antwort: man kann Briefe an Herausgeber schreiben oder Radiosender anrufen. Diese Antworten bedienen sich aber außen liegender Mittel. Sie sind mittelbar. Im Dialog ist eine Antwort innerhalb des dialogischen Mediums selbst möglich. Sie ist unmittelbar. Daher macht der Dialog die an ihm Beteiligten verantwortlich, selbst wenn sie nur zu antworten versuchen (kein einfaches Unterfangen). Nun ist Verantwortung im Sinn von Fähigkeit zu unmittelbarer Antwort, die politische Stellung. Die dialogischen Media, über die wir verfügen, sind im Verhältnis zu den diskursiven primitiver und wirkungsloser, weil die Besitzer der Media kein Interesse haben, Geld für unsere Antworten auf die von ihnen rundgefunkten Botschaften auszugeben. Uns verantwortlich zu machen. Für die Griechen war Dialog von Politik nicht zu trennen. Der Bürger der Polis bewohnte ein privates Haus (oiké), wo er Waren zwecks Austausch auf dem Markt erzeugte, und hinter dem seine Sklaven und Frauen seine Felder bebauten. Dies war die ökonomische Phase seines Lebens, und sie war durch Arbeit (ascholia) gekennzeichnet. War nun die Arbeit getan und die Ware fertig, begab sich der Bürger auf den Markt (agora), um sein Werk gegen andere auszutauschen. Dabei stellte sich der Wert (norma), des Werks heraus. Bei diesen Werken handelte es sich nicht nur um Schuhe und Töpfe, sondern auch um Meinungen (doxai). Der Tausch auf dem Markt war ein Dialog (Tausch von logoi). Man betrachtete ihn nicht als Arbeit, sondern als Muße (scholé). Und dies war die politische Phase des Lebens. In ihr stellten sich die Werte heraus -- wurden öffent1ich -- und erlaubten die Steuerung (kybernein) des öffentlichen Schiffes, der Republik. So hatte der Dialog drei Dimensionen: schollé = Schule als Muße, norma = Regel als Wert, und kybernein = regieren. Etwas moderner: der Dialog war die Schule für eine normative Kybernetik. Er war noch mehr. Denn wenn Schuster, Töpfer und Philosoph auf dem Markt zusammenkommen, dann stoßen verschiedene Kompetenzen aufeinander. Diese Kompetenzen

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Das dialogische Leben

vermengen sich nicht im Austausch, sondern sie rufen, sprungartig, eine ganz neue Kompetenz hervor, eine Synthese der vorher privat gewesenen Kompetenzen. Der Dialog wird, falls er gelingt, dialektisch. Also Quelle neuer Formen, Ursprung neuer Informationen. Das war es, was Sokrates auf dem Markt von Athen zu tun versuchte, und was alle Dialoge überall und immer zu tun versuchen. Daher war Demokratie für die Griechen die höchste Kunst: Herstellung neuer Information, poiesis. Es ist unsere Tragik, dass wir Poesie und Demokratie, Schöpfung und Politik nicht mehr zusammen denken können. Dass wir romantisch an einen Prozess in der Einsamkeit glauben, wenn wir von Poesie und Schöpfung sprechen. Dieser unser Irrtum ist Folge des totalitären Drucks, der auf uns seitens der al1gegenwärtigen Diskurse ausgeübt wird. Zwar ist es richtig, dass die im Dialog ausgearbeiteten Informationen in unseren privaten Gedächtnissen gelagert werden, um dort weiter bearbeitet zu werden. In einem Prozess, den Plato den inneren Dialog nannte. Aber es bleibt doch wahr, dass die Synthese die einzige Möglichkeit ist, Neues hervorzubringen. Denn ein Schaffen ex nihilo kann es nicht geben. Und die Synthese ist Dialog, ist Politik. Unsere Tragik ist, das in unserer totalitären Vermaßung vergessen zu haben. Wir sind daran, sterile, unpolitische Empfänger zu werden: verantwortungslose Wesen. Die verschiedenen Rundfunke haben alle unsere verbleibenden Dialoge, mit Ausnahme der Post und des Telefons, in private Ecken, in die oiké, vertrieben. Eine paradoxe Situation, denn Dialoge sind wesentlich öffentlich. Es bleibt uns im Grund nur der Dialog im Familien- und Freundeskreis, der Dialog in Laboratorien und Kunstausstellungen, und jener Dialog in verdünnter Luft, bei dem Regierungsentscheidungen getroffen werden. Der Familien-und-Freund-Dialog ist eine Karikatur: ein Pingpong von aus dem Rundfunk empfangenen Informationen, ohne Verantwortung und ohne Möglichkeit für eine Schöpfung. Der wissenschaftliche und künstlerische Dialog ist zwar weiterhin gewissermaßen verantwortlich und schöpferisch, aber immer geschlossener, denn er bedient sich hermetischer Kodes. Der Dialog der Entscheidungen ist geheim, sekret von Staatssekretären betrieben, und daher unpolitisch geworden. (Übrigens ist Entscheidung mit

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Synthese, Schöpfung usw. identisch, siehe Theorie der Entscheidung.) Daher sind alle nicht entscheidenden Dialoge unecht. Und was Post und Telefon betrifft, so wird darüber später gesprochen werden. Also ist uns der Zutritt zu allen echten Dialogen versperrt, und wir haben daher vergessen, worum es sich dabei handelt. Diese unsere katastrophale Entpolitisierung (unserer so genannten Politiker eingeschlossen), scheint, wie gesagt, technische Gründe zu haben. Das Argument geht folgendermaßen: in kleinen Staaten wie Athen konnte jeder mit jedem dialogieren, aber in kolossalen Staaten wie den unseren ist das technisch nicht möglich. Auf dem Markt kann man dialogieren, nicht aber auf dem Supermarkt. Der Supermarkt ist nötigerweise ein Diskurs in Richtung von zahllosen Konsumenten. Diskurse hingegen, wie das Fernsehen, die Presse, die Plakate und Geschäftsauslagen, stehen Millionen offen. Das Argument ist eine Lüge im Interesse der Inhaber der Entscheidungen. Die Post und das Telefon beweisen, dass dialogische Netze den gleichen Millionen offen stehen können wie jene, welche Rundfunk empfangen. Nur besitzen wir keine solchen wirklich befriedigenden Netze. Durch diesen Mangel wird das Entstehen einer ganzen Reihe von neuen Informationen vermieden. Und dadurch werden die rundgefunkten Diskurse selbst immer ärmer, immer demagogischer. Je länger dieser Vorgang läuft, desto mehr versperren sich alle Möglichkeiten für Dialoge. Ein viziöser Zirkel. Unsere Entpolitisierung ist katastrophal, im Sinn von: sie erlaubt nur noch Revolutionen als Öffnung, also Katastrophen. Zwar können wir immer noch telefonieren und Briefe schreiben. Und tun dies auch in einem Maß, welches diese beiden Netze mit Zusammenbruch bedroht. Ein Beweis, dass in uns der Drang nach Dialog noch immer wach ist. Aber diese beiden Netze können diesen Drang nicht zufrieden stellen. Das Telefon ist nach dem linearen Kode der gesprochenen Sprache strukturiert, und die Post nach dem linearen Kode des Alphabets. Diese Netze erlauben nur den Austausch ganz spezifischer Botschaften. Dialogieren heißt aber nicht nur Botschaften tauschen, sondern auch einander anerkennen. Eben Synthese. Die Struktur der beiden verfügbaren Netze erlaubt nur Austausch (polemos), nicht aber Anerkennung

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Das dialogische Leben

(eros). Post und Telefon sind polemisch und können, allen unseren Versuchen zum Trotz, nie erotisch werden. Es sind frustrierende dialogische Netze. Andere Methoden des Dialogs müssen hergestellt werden, sollen wir dem drohenden technokratischen Totalitarismus von links und rechts entkommen. Man kann sie erahnen. Etwa die Wände in China und im Paris des Jahres 68. Keine sehr guten Modelle. Weder was Struktur betrifft, noch Technik, von der dialogierten Botschaft ganz zu schweigen. Oder etwa das Kabelfernsehen. Auch hier ist Verschiedenes einzuwenden. Oder etwa die Methoden der Gruppendynamik und des brain storming. Nicht sehr überzeugend. Man kann also, mit einigem guten Willen, verschiedene Ansätze sehen. Blasse Hoffnungsschimmer und dann eben die Möglichkeit, den Dialog mittels Animation, vor allem mittels Videotape, zu provozieren. Animation ist in diesem Fall ein ausgezeichneter Ausdruck: Wiederbelebung des agonisierenden Dialogs. Künstliche Atmung. Das ist, wenn ich ihn richtig verstehe, was Fred Forest sich bemüht, herzustellen. Entmassifizierung also. Repolitisierung. Wiedererweckung der schöpferischen Synthese. Nicht so sehr austauschen, sondern eher einander wiedererkennen und anerkennen. Nicht so sehr polemos wie eros. Leider aber, meiner Meinung nach, weniger aufrührend als rührend. Denn wie kann man hoffen, durch diese Wiederbelebungsversuche des Dialogs dem majestätischen Fortschritt des sich immer besser verästelnden und immer besser wirkenden Diskurses die Stirn zu bieten? Man kann es vielleicht nicht, aber man muss es. Unsere Zukunft ist nicht sehr rosig. Sollten die gegenwärtigen Tendenzen so weitergehen. Dann werden wir uns in Kürze in einem kosmischen Zirkus befinden. In einem Umkreis rundgefunkter demagogischer Botschaften Panem et circenses, wobei sich die Betonung immer mehr auf circenses verschieben wird. Wir stehen am Ursprung einer bisher ungeahnten totalitären Gesellschaft. Der Gesellschaft der wahrscheinlich hungernden Konsumenten. Etwas müssen wir doch dagegen machen können? Forest ist einer, der versucht, etwas zu machen. Man muss ihn anerkennen. Das heißt mit ihm dialogieren.

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Ketten, Ströme, Wellen

Wolfgang Hagen „Die Stimme als Gast“. Benjamins Sendungen Richtig von außen kann man nur begreifen, was man von innen kennt1 Walter Benjamin

In einem Brief vom 28. Februar 1933, an dessen Abend der Reichstag in Berlin brennen sollte, schrieb Walter Benjamin seinem alten Freund Gerhard Scholem über seine Radioarbeit: Was die weiteren Desiderate Deines Archivs betrifft, nämlich meine Rundfunkarbeiten, so ist es nicht einmal mir selbst gelungen, diese vollständig zu versammeln. Ich spreche von den Hörspielen, nicht den ungezählten Vorträgen, deren Reihe nun leider abgeschlossen sein wird und keinerlei Interesse außer dem verflossenen ökonomischen besitzt.2

Man weiß von Walter Benjamin, dass er über alles und jedes Inventar führte. Nicht umsonst war der versessene Sammler in diesen Tagen des frühen Jahres 1933 gebeten worden, eine Liste aller je gedruckten Publikationen von Georg Christoph Lichtenberg aufzustellen. Wen sonst hätte man fragen sollen? ���������������������������������������������������������������������� Walter Benjamin: Besuch im Messingwerk, zit. nach: Schiller-Lerg, Sabine: Walter Benjamin und der Rundfunk: Programmarbeit zwischen Theorie und Praxis. München 1984, 136. 2 Benjamin, Walter: Briefwechsel 1933-1940. Frankfurt am Main 1980, 40.

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Wolfgang Hagen

Doch über seine eigene Radioarbeit führte er keine Liste. Auch seine engen Freunde, Scholem z.B., stellten darüber nichts zusammen; ebenso wenig Theodor W. Adorno, der erste Herausgeber von Benjamins Werken. Und auch nicht der Adorno-Schüler Rolf Tiedemann, ab 1972 Herausgeber der Gesammelten Schriften. So blieb mehr als ein halbes Jahrhundert lang Benjamins fünfjährige Arbeit für das Radio nach Umfang und Inhalt weitgehend unklar. Benjamin selbst trägt einen Anteil daran. In seinen gelegentlichen Bemerkungen zu Scholem versucht er immer wieder, sein Engagement für das neue aurale Medium herunterzuspielen, ja fast zu verbergen, so als schäme er sich dafür: „Ich habe in Frankfurt zwei Radiovorträge gehalten und kann mich nun nach meiner Rückkehr mit etwas zweckdienlicheren Dingen befassen.“3 Zumindest scheint es so, als verkleinere er den Wert dieser Arbeiten ganz explizit. Heute wissen wir zumindest, auf welche zwei Vorträge sich seine Bemerkung bezog. Der erste, Pariser Köpfe 4 genannt, wurde am 23. Januar 1930 gesendet und entfaltet auf brillante Weise die literarischen Beziehungen zwischen Leon Daudet, Andre Gide und Emanuel Berl. Der zweite Vortrag, Gott in Frankreich, 5 handelt von einem damals frisch publizierten Werk Friedrich Sieburgs, dem Paris-Korrespondenten der Frankfurter Zeitung. Zwei eindrucksvolle, sorgfältig geschriebene Texte, fürs Radio gemacht.6 Gleichwohl versucht Benjamin Gerhard Scholem gegenüber stets den Eindruck zu erwecken, als ginge es bei alledem nur um Gelegenheitsarbeiten zum Broterwerb. Am 5. Februar 1931 beispielsweise: „In den nächsten 12 Tagen werde ich in Frankfurt sein, um 3 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. VII/2. Frankfurt am Main 1972, 583. 4 Benjamin: Band VII/1, 279ff. 5 Benjamin: Band VII/1, 287ff. ������������������������������������������������������������������������ „Ich bin nicht unzufrieden,“ fügt Benjamin hinzu, „daß mir im Organisatorischen, Technischen schon jetzt eine bestimmte Scheidung gelungen ist, indem ich fast nichts mehr von dem, was ich als Brotarbeit, sei es in Zeitschriften, sei es im Rundfunk, ansehen muß, niederschreibe sondern derartige Dinge einfach diktiere. Du begreifst, daß mir dies Verfahren sogar eine gewisse moralische Entlastung gibt, indem die Hand damit den edleren Körperteilen allmählich wieder zurückgewonnen wird.“ (Benjamin: Band VII/2, 583) Auch diese „moralische Entlastung“ insinuiert eine Herabminderung seiner Radioarbeit.

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Benjamins Sendungen

windige Rundfunkangelegenheiten durchzuführen.“7 Was er Scholem nicht erzählt: Im Februar 1931 kam es in der Tat zu schwierigen Verhandlungen im Frankfurter Radio, nämlich über die Übernahme seiner neu entwickelten „Hör-Modelle“, von denen das erste zuvor seine Premiere in der Berliner Funkstunde erfahren hatte. Aber insofern er das seinem Freund nicht erklärt, bleibt es dabei, dass alle seine Radioaktivitäten irgendwie „windig“ aussehen. Die folgenden Überlegungen sind deshalb nicht so sehr eine immanente Lektüre der Sendungen Walter Benjamins. Vielmehr geht es darum, Licht hinter diese seltsamen Tendenzen zur Selbst-Verkleinerung zu bringen, mit denen Benjamin seine Radioarbeit Freunden gegenüber so oft kommentiert hat. Was ist es, das Benjamin vor den Augen anderer verbergen will und in gewisser Weise sogar vor seinen eigenen? Als Benjamin seine erste Radiosendung machte, am 23. März 1927, war das Radio in Deutschland gerade dreieinhalb Jahre alt. Die intensivste Zeit seiner Radioarbeit begann zwei Jahre später, im Sommer 1929, und endete ziemlich abrupt im Februar 1933 aus offensichtlichen Gründen. Als er aufhören musste, hatte Walter Benjamin fast sechs Jahre lang an diesem neuen Medium mitgewirkt. Tatsächlich hätte er stolz sein können, einer seiner wenigen intellektuellen Pioniere gewesen zu sein. Warum war er es nicht? I. Schauen wir auf die Daten und Fakten. Ihre Zusammenstellung hat Sabine Schiller-Lerg besorgt, die in den frühen 1980er Jahren mit benjaminscher Genauigkeit seine Radiotexte zum Teil erstmalig den Archiven entrissen und klassifiziert hat.8 Schiller-Lerg kommt aus der Münsteraner Schule des großen Radiohistorikers Winfried B. Lerg, der in den 1970er Jahren buchstäblich im Alleingang die systematische Radiogeschichte in Deutschland begründet hat;9 und mit des������������������������������������������������������������������ Scholem, Gershom: Walter Benjamin -- die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main 1990, 208. 8 Schiller-Lerg: Walter Benjamin und der Rundfunk. 9 Lerg, Winfried B.: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland:

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Wolfgang Hagen

sen plötzlichem Tod 1985 diese Tradition auch fast schon wieder erloschen ist.10 Die Arbeit von Schiller-Lerg zu Benjamins Radioarbeit ist also auch zugleich ein ganz herausragendes Zeugnis einer inzwischen weitgehend verschollenen Wissenschaftstradition. Seither wissen wir: Die erste Sendung, die Benjamin für das Radio realisiert hat, fand zwei Wochen nach der Rückkehr von seiner legendären, zweimonatigen Reise nach Moskau und in die Sowjetunion statt. Benjamin sendete am 23. März 1927 von Viertel vor Acht bis Viertel nach Acht am Abend das erste Mal. „Junge Russische Dichter“ war sein Thema, angekündigt in der Südwest Rundfunk Zeitschrift drei Tage zuvor: Am vergangenen Donnerstag beschäftigte sich der Rundfunk zuerst mit der Darstellung sozialer und künstlerischer Verhältnisse im neuen Russland, die ein Moskauer Sonderbericht vermittelte. Diese Darstellung wird am Mittwoch dieser Woche durch einen Vortrag von Dr. Walter Benjamin ergänzt werden, der aus eigener Anschauung eine Übersicht über die neuesten Erscheinungen der sowjetischen Literatur, ihre Bedeutung und ihre Wirkung geben wird.11

Schiller-Lerg fand heraus, dass der benannte „exklusive Report“ (in Wahrheit die Verlesung eines Briefes) von Bernhard Reich stammte, einem Max Reinhardt Schüler, Dramatiker und Theater-Regisseur in Deutschland und Russland. Reich lebte in der Sowjetunion mit seiner Frau Asja Lacis, die, wie man weiß, Walter Benjamins große Liebe war. Die Winterreise zu Asja Lacis, während der er mit Asja und Bernhard (und mehr noch mit diesem) in einer Wohnung zusammenlebte, wurde zum Sujet seines berühmten Moskauer Tagebuchs.12 Das originale Radioskript, das darauf folgte, ist verloren. Aber vielleicht existiert es auch gar nicht als eine eigenständige Arbeit. Denn Benjamin hatte zwei Wochen vorher einen ArtiHerkunft und Entwicklung eines publizistischen Mittels. Frankfurt am Main 1965; ders.: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik. München 1980; ders./Steininge, Rolf [Hg.]: Rundfunk und Politik 1923 bis 1973: Beiträge zur Rundfunkforschung. Berlin 1975. 10 Vgl. Kutsch, Arnulf [Hg.]: Rundfunk im Wandel: Festschrift für Winfried B. Lerg. Beiträge zur Medienforschung. Berlin 1993. 11 Das Programm der Woche. In: S.R.Z., 3. Jg., Nr. 12, 20.3.1927, S. 2, zit. nach Schiller-Lerg: Walter Benjamin und der Rundfunk, 345. 12 Vgl. Benjamin: Band VI, 292ff.

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Benjamins Sendungen

14.08.1929 15.08.1929 04.09.1929 29.10.1929 31.10.1929 09.11.1929 23.11.1929 30.11.1929 07.12.1929 14.12.1929 15.12.1929 16.12.1929

Die Romane von Julien Green Kinderliteratur Vorlesung aus eigenen Werken Johann Peter Hebel Andre Gide Berliner Dialekt (Zum Thema Berlin) (Sagen und Abenteuer) Berliner Puppentheater (Zum Thema Berlin) Die Bücher von Thornton Wilder Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet

SWR SWR SWR SWR SWR BFst* BFst BFst BFst BFst SWR

Bücherstunde Vortrag Lesung Bücherstunde Vortrag Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Bücherstunde

SWR

Vortrag

Tab. 1: Walter Benjamin, Radiosendungen August bis Dezember 1929

kel unter der Überschrift Neue Dichtung in Russland in einem abgelegenen Amsterdamer Literaturmagazin13 veröffentlicht, herausgegeben von dem niederländischen Sozialisten und Anarchisten Arthur Lehnung, ein Magazin, jedenfalls unbekannt genug, um jedem Ärger wegen der Doppelpublikation aus dem Weg zu gehen. Man kann davon ausgehen, dass dieser Artikel textidentisch mit seiner ersten Radiosendung ist. Indem wir sein erstes Radioprogramm zu rekonstruieren versuchen, erhalten wir ein Beispiel dafür, wie intelligent und umsichtig Benjamin seine Arbeit organisiert. Zunächst, als dankbare Gegengabe, vermittelt er Bernhard Reich die Chance, im Deutschen Radio zu publizieren und damit natürlich auch ein wenig Geld zu verdienen. Reich, viel mehr als Asja, hatte Benjamin beträchtlich geholfen bei der Übersetzung von Zeitungsartikeln und mit Zugängen zu interessanten Theatern, Buchläden und Menschen in der Sowjetunion. Die Resultate werden – auch -- zum Gegenstand von Benjamins erster eigener Radiosendung. Und am Ende konnte er noch seiner geliebten Asja politisches Engagement vorweisen, indem er seinen Text in einem neuen sozialistischanarchistischen Magazin veröffentlichte. Benjamin war, wie man sieht, nicht einfach nur ein guter Autor, Kritiker, Beobachter, Essayist und Philosoph. Er war immer auch ein ebenso guter Netzwerker. Zwischen Benjamins erster und 13 „I 10 International Revue“

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Wolfgang Hagen

04.01.1930 23.01.1930 24.01.1930 01.02.1930 08.02.1930 15.02.1930 25.02.1930 07.03.1930 15.03.1930 22.03.1930 26.03.1930 28.03.1930 29.03.1930 05.04.1930 12.04.1930 14.04.1930 09.05.1930 11.05.1930 24.05.1930 22.06.1930 23.06.1930 24.06.1930 01.07.1930 12.07.1930 16.07.1930 20.09.1930 22.09.1930 23.09.1930 27.09.1930 02.10.1930 23.10.1930 08.11.1930 22.11.1930 23.11.1930 17.12.1930 29.12.1930 31.12.1930

(Zum Thema Berlin) Pariser Köpfe Gott in Frankreich. Ein Versuch. Von Friedrich Sieburg (Zum Thema Berlin) (Zum Thema Berlin) (Zum Thema Berlin) Das dämonische Berlin Ein Berliner Straßenjunge Berliner Spielzeugwanderung I Berliner Spielzeugwanderung II Parallelen I - E.T.A. Hoffmann und Oskar Panizza Christ. Reuters ‚Schelmuffsky‘ und Kortums ‚Jobsiade‘ Baugeschichte Berlins unter Friedrich Wilhelm I. Borsig Mietskasernen Theodor Hosemann Rezepte für Komödienschreiber Die Angestellten. von Siegfried Kracauer Besuch im Kupferwerk Erzählung der Woche Neues um Stefan George Bert Brecht Gang durch ein Messingwerk Gang durch ein Messingwerk Hexenprozesse Vom Leben der Autos Braunschweig, Myslowicz, Marseille Räuberbanden im alten Deutschland Wahre Geschichten von Hunden Räuberbanden im alten Deutschland Die Zigeuner Die Bootleggers Kaspar Hauser Alte und neue Graphologie Kaspar Hauser, ein berühmter Gefangener Karussell der Berufe Die Bootleggers oder die Alkoholschmuggler

BFst SWR

Jugendfunk Vortrag

SWR BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst

Bücherstunde Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

SWR

Vortrag

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Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Gespräch

SWR BFst BFst SWR SWR BFst BFst BFst BFst SWR SWR BFst BFst BFst BFst BFst SWR

Bücherstunde Jugendfunk Lesung Vortrag Vortrag Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Lesung Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Vortrag

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Jugendfunk Vortrag

SWR

Jugendfunk

Tab. 2: Walter Benjamin, Radiosendungen in 1930

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Benjamins Sendungen

16.01.1931 17.01.1931 30.01.1931 08.02.1931 11.02.1931 14.02.1931 22.03.1931 26.03.1931 28.03.1931 28.03.1931 27.04.1931 29.04.1931 09.05.1931 01.07.1931 01.07.1931 01.07.1931 03.07.1931 16.09.1931 18.09.1931 31.10.1931 05.11.1931

(unbekanntes Thema) Das Leben des Autos Dr. Faust Studio: Wie nehme ich meinen Chef? Theodor Neuhoff, der König von Korsika Der Erzzauberer Cagliostro Tag des Buches: Vom Manuskript zum 100.Tausend Hörmodell I: Gehaltserhöhung?! Wo denken Sie hin! Der Zauberkünstler Dr. Faust Das öffentliche Lokal, ein unerforschtes Milieu Ich packe meine Bibliothek aus Die Bastille, das alte französische Staatsgefängnis Von einer Italienreise: Neapel Wie die Zauberer es machen Hörmodell II: Frech wird der Junge auch noch?! Hörmodell II: Frech wird der Junge auch noch?! Chinesische Mauer; aus Franz Kafkas Nachlaß Wie die Tierbändiger es machen Der Untergang von Herculaneum und Pompeji Erdbeben von Lissabon Theaterbrand von Kanton 1845

BFst SWR BFst

Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

BFst

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Vortrag Vortrag

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Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

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Hörspiel

SWR

Hörspiel

SWR SWR

Bücherstunde Jugendfunk

BFst BFst BFst

Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

Tab. 3: Walter Benjamin, Radiosendungen in 1931

seiner nächsten Radiosendung liegen fast zweieinhalb Jahre. Im Jahre 1929 stand Benjamin zwölf Mal vor dem Mikrophon, sieben Mal in Frankfurt und fünf Mal in Berlin (vgl. Tab. 1). Das folgende Jahr, 1930, war Benjamins produktivstes Radiojahr: 37 Sendungen in zwölf Monaten (vgl. Tab. 2). Wenn man die Sommerpause im August einrechnet, dann zeigt die Übersicht in Tabelle 2, dass Benjamin 1930 fast jede Woche entweder in Berlin oder in Frankfurt jeweils mit einer mindestens halbstündigen Sendung vor dem Mikrophon stand, 23-mal in Berlin, 14-mal in Frankfurt.

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Wolfgang Hagen

03.01.1932 06.01.1932 19.01.1932 21.01.1932 03.02.1932 04.02.1932 16.02.1932 10.03.1932 23.03.1932 30.03.1932 16.05.1932 06.07.1932 09.09.1932

Funkspiele: Dichter nach Stichworten Das Erdbeben von Lissabon 1755 Auf der Spur alter Briefe Länder-Querschnitt III. Frankreich in seiner Kunst Theaterbrand in Kanton Die Eisenbahnkatastrophe von Firth of Tay Was die Deutschen lasen, während sie ihre Klassiker schrieben Radau um Kasperl Die Überschwemmung des Mississippi Die Eisenbahnkatastrophe von Firth of Tay Das kalte Herz Denksport Radau um Kasperl

SWR SWR SWR

Hörspiel Jugendfunk Vortrag

SWR SWR

Vortrag Jugendfunk

BFst

Jugendfunk

BFst SWR BFst

Hörspiel Hörspiel Jugendfunk

SWR SWR SWR WEPAG

Jugendfunk Hörspiel Jugendfunk Hörspiel

Tab. 4: Walter Benjamin, Radiosendungen in 1932

Nicht datierbar Nicht datierbar Nicht datierbar Nicht datierbar

Briefmarkenschwindel Wanderung durch die Mark Brandenburg Straßenhandel und Markt in Alt- und Neu-Berlin Ein sonderbarer Tag oder 30 Knacknüsse

BFst

Jugendfunk

BFst

Jugendfunk

BFst

Jugendfunk

BFst

Jugendfunk

Tab. 5: Walter Benjamin, Nicht datierbare Sendungen

Auch das Jahr 1931 zeigt eine Periode intensiver Radioarbeit. 21 Programme insgesamt, zwölf allein von Januar bis April, vier Sendungen allein im Juli (Vgl. Tab 3). Benjamins letztes Jahr intensiver Radioarbeit war 1932 (Vgl. Tab. 4). Er macht nur noch 13 Sendungen, und zwar alle im ersten Halbjahr. Der Grund dafür lag darin, dass im Sommer 1932 das System des Deutschen Radios geändert wurde. Ich komme darauf zurück. Diese Übersicht über 86 Sendungen zeigt schon auf den ersten Blick, dass Walter Benjamin alles andere als ein gelegentlicher Mitarbeiter des Deutschen Radios war. Er war ein Profi. Allein im Jahr 1931 wird er vermutlich 15 bis 20 Tausend

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Benjamins Sendungen

Nicht gesendet Lichtenberg BFst Angefangen Leben, Meinung und Taten des Hieronymus Jobs von Kortum Geplant Hörspiel über Spiritismus Geplant Kannst Du mir bis Donnerstag aushelfen? Geplant Hörmodell IV - VI

Hörspiel

Jugendsendung Hörspiel Hörmodell Hörspiel

Tab. 6: Walter Benjamin, Nicht gesendete und geplante Sendungen

04.09.1929 22.06.1930 22.09.1930 29.01.1933

Vorlesung aus eigenen Werken Erzählung der Woche Braunschweig, Myslowicz, Marseille Aus einer unveröffentlichten Skizzensammlung: „Berliner Kindheit um 1900“

SWR BFst

Lesung Lesung

SWR

Lesung

SWR

Lesung

Tab. 7: Walter Benjamin, Lesungen aus eigenen Werken

Reichsmark an Honoraren für seine Radioarbeit erhalten haben.14 Stellte man alle Radioskripts zusammen, würde sich ein großes zweibändiges Buch mit weit über tausend Seiten ergeben. An dieser Stelle können nicht alle Radiosendungen Benjamins im Detail diskutiert werden. Stattdessen will ich das Œuvre in bestimmte Kategorien gliedern, um wenigstens anzudeuten, welche Innovationen Benjamin für das Radio gemacht hat. Ich kann sie nicht einmal alle erörtern. Die erste Kategorie von Rundfunksendungen (Tab. 7) bilden die Lesungen aus eigenen literarischen Arbeiten Benjamins. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Im Weimarer Radio finden wir zahllose Sendungen mit Lesungen von Schriftstellern und Dichtern, von den Brüdern Mann über Brecht bis hin zu Benn, Döblin, Zweig und vielen anderen. Die zweite Kategorie von Radiosendungen (Tab. 8) bilden die Büchersendungen und Buchkritiken, die Benjamin vornehmlich in der Bücherstunde des Frankfurter Rundfunks realisiert hat, wo 14 Eine Reichsmark in den Jahren 1924-1936 entsprach etwa vier Euro an heutiger Kaufkraft.

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14.08.1929 29.10.1929 15.12.1929 24.01.1930 28.03.1930 11.05.1930 03.07.1931

Die Romane von Julien Green Johann Peter Hebel Die Bücher von Thornton Wilder Gott in Frankreich. Ein Versuch. Von Friedrich Sieburg Ingrimmiger Humor: Christ. Reuters ‚Schelmuffsky‘ und Kortums ‚Jobsiade‘ Die Angestellten. Aus dem neusten Deutschland. Von Siegfried Kracauer Beim Bau der Chinesischen Mauer, aus Franz Kafkas Nachlaß

SWR SWR SWR

Bücherstunde Bücherstunde Bücherstunde

SWR

Bücherstunde

SWR

Bücherstunde

SWR

Bücherstunde

SWR

Bücherstunde

Tab. 8: Walter Benjamin, Halbstündige Buchkritiken

15.08.1929 31.10.1929 16.12.1929 23.01.1930 26.03.1930 23.06.1930 24.06.1930 23.11.1930 29.12.1930 28.03.1931 27.04.1931 19.01.1932 21.01.1932 19.01.1933

Kinderliteratur Andre Gide Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet Pariser Köpfe Parallelen I - E.T.A. Hoffmann und Oskar Panizza Neues um Stefan George Bert Brecht Alte und neue Graphologie Karussell der Berufe Das öffentliche Lokal, ein unerforschtes Milieu Ich packe meine Bibliothek aus Auf der Spur alter Briefe Länder-Querschnitt III. Frankreich in seiner Kunst Von Seeräubern und Piraten

SWR SWR

Vortrag Vortrag

SWR SWR

Vortrag Vortrag

SWR SWR SWR SWR SWR

Vortrag Vortrag Vortrag Vortrag Vortrag

SWR SWR SWR

Vortrag Vortrag Vortrag

SWR SWR

Vortrag Vortrag

Tab. 9: Walter Benjamin, Vorträge

09.05.1930 22.03.1931

Rezepte für Komödienschreiber. Gespräch zwischen Wilhelm Speyer und Dr. Walter Benjamin. SWR Tag des Buches: Vom Manuskript zum 100.Tausend SWR Tab. 10: Walter Benjamin, Gespräche

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Gespräch Gespräch

Benjamins Sendungen

09.11.1929 23.11.1929 30.11.1929 07.12.1929 14.12.1929 04.01.1930 01.02.1930 08.02.1930 15.02.1930 25.02.1930 07.03.1930 15.03.1930 22.03.1930 29.03.1930 05.04.1930 12.04.1930 14.04.1930 24.05.1930 01.07.1930 12.07.1930 16.07.1930 23.09.1930 27.09.1930 02.10.1930 23.10.1930 08.11.1930 22.11.1930 17.12.1930 31.12.1930 16.01.1931 17.01.1931 30.01.1931 11.02.1931 14.02.1931 28.03.1931 29.04.1931 09.05.1931 01.07.1931

Berliner Dialekt (Zum Thema Berlin) (Sagen und Abenteuer) Berliner Puppentheater (Zum Thema Berlin) (Zum Thema Berlin) (Zum Thema Berlin) (Zum Thema Berlin) (Zum Thema Berlin) Das dämonische Berlin Ein Berliner Straßenjunge Berliner Spielzeugwanderung I Berliner Spielzeugwanderung II Baugeschichte Berlins unter Friedrich Wilhelm I. Borsig Mietskasernen Theodor Hosemann Besuch im Kupferwerk Gang durch ein Messingwerk Gang durch ein Messingwerk Hexenprozesse Räuberbanden im alten Deutschland Wahre Geschichten von Hunden Räuberbanden im alten Deutschland Die Zigeuner Die Bootleggers Kaspar Hauser Kaspar Hauser, ein berühmter Gefangener Die Bootleggers oder die amerikanischen Alkoholschmuggler (unbekanntes Thema) Das Leben des Autos Dr. Faust Theodor Neuhoff, der König von Korsika Der Erzzauberer Cagliostro Der Zauberkünstler Dr. Faust Die Bastille, das alte französische Staatsgefängnis Von einer Italienreise: Neapel Wie die Zauberer es machen

BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst

Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst BFst

Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

SWR BFst

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BFst BFst BFst BFst

Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

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Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

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Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

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Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

Tab. 11a: Walter Benjamin, Jugendfunksendungen

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16.09.1931 18.09.1931 31.10.1931 05.11.1931 06.01.1932 03.02.1932

Wie die Tierbändiger es machen Der Untergang von Herculaneum und Pompeji Erdbeben von Lissabon Theaterbrand von Kanton 1845 Das Erdbeben von Lissabon 1755 Theaterbrand in Kanton

SWR

Jugendfunk

BFst BFst BFst SWR SWR

Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk Jugendfunk

Tab. 11b: Walter Benjamin, Jugendfunksendungen

sein enger Schulfreund Ernst Schoen der verantwortliche Redakteur war. Die dritte Kategorie seiner Hörfunksendungen (Tab. 9) ist ebenfalls ein gängiges Format im Weimarer Radio, der Vortrag. Das Programm des frühen deutschen Radios war randvoll von allen möglichen Sorten solcher Vorträge. „Hier quatschen alle Universitätslehrer durch den Rundfunk“15, schreibt Benjamin an Scholem 1925, als er selbst noch nicht dabei ist. Dass die Vortragenden ihre Skripte selbst vortrugen, war üblich, so auch bei Walter Benjamin. Es hat sich dennoch keine Aufzeichnung mit Benjamins Stimme erhalten. Das mag damit zusammenhängen, dass keine seiner Sendungen, in denen er seine Texte vortrug, je auf Platte mitgeschnitten wurde. Dies wiederum wäre nur dann notwendig gewesen, wenn Benjamins Sendung zeitversetzt gesendet oder wiederholt worden wäre. Das aber wurden sie offenbar nicht. Die Übersicht ergibt, dass Benjamin von den 86 Sendungen, die er gemacht hat, mindestens 60 selbst gesprochen hat. Benjamins ekstatische Art des Vortrags (Kraft 1972), seine schöne volle Stimme (Zucker 1972) und seine Art, wie ein „Pokerspieler“ (Adorno 1970, 70) zu reden, sind Erinnerungsverweise, die das Fehlen einer akustischen Quelle besonders schmerzlich erscheinen lassen.16

Die vierte Kategorie (Tab. 10) ist ebenfalls schnell erläutert: Gespräche waren allerdings nicht oft im Weimarer Radio zu hören, schon deshalb, weil sie in der Regel nicht live gesendet werden durften und wenn, dann mit einer extensiven schrift15 Benjamin: Band IV/2, 1055. 16 Schiller-Lerg: Die Rundfunkarbeiten. In: Lindner, Burkhardt/Küpper, Thomas: Benjamin-Handbuch: Leben -- Werk -- Wirkung. Stuttgart 2006, 407.

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Benjamins Sendungen

lichen Vorbereitung, d.h. die Gesprächspartner lasen ihre jeweiligen Statements weitgehend ab. Abweichen vom vorher genehmigten Konzept durften sie jedenfalls nicht. So war es dann auch bei dem Gespräch zwischen Wilhelm Speyer und Walter Benjamin, dessen kurioses Manuskript sich teilweise erhalten hat.17 Benjamin und Speyer hatten zuvor u.a. an dessen Boulevard-Komödien zusammen gearbeitet. Diese Kategorie (Tab. 11a-b) enthält die wichtigsten Innovationen, die Benjamin für das Radio entwickelt hat. Es sind Sendungen gemacht für die so genannte Jugendstunde der Berliner Funkstunde. Dieses Format startete im Herbst 1929 als ein tägliches Format, der Frankfurter Rundfunk richtete erst ein Jahr später seine Jugendstunde ein. Auch dort war Benjamin ein regelmäßiger Mitarbeiter. Was die Form der Sendungen betrifft, so handelt es sich auch hier zunächst um Vorträge mit Benjamin als Sprecher eigener Texte. Aber an keiner anderen Stelle hat sich Benjamin in seinen Texten so direkt und unmittelbar an die Hörer gewandt. Nirgendwo sonst wird er in seinen Vorträgen so direkt. Der erste Satz aus Benjamins erstem Jugendprogramm aus dem November 1929 steht dafür programmatisch: „Also, ich will heute mit Euch über die Berliner Schnauze sprechen; die so genannte große Schnauze ist doch das erste, was allen einfällt, wenn man vom Berliner redet.“18 Drei neue Haltungen sind augenfällig. Zunächst – der Mann, der in seinen theoretischen Texten und Essays das Wort „Ich“ so gut wie nie verwendet, adressiert sich hier ganz gezielt in der ersten Person Singular. Dem entspricht die Adressierung des „Euch“. Sie kommt einem Duzen des Publikums gleich, das im Weimarer Radio bis dahin so gut wie ausgeschlossen war. Drittens – wann immer möglich, streut Benjamin eine scherzhafte Wendung in seinen Text ein, der, in einer entsprechenden gestischen Weise gesprochen, dem Publikum (also den Jugendlichen) suggeriert, dass der Vortragende zumindest für die gegebene Zeit eine Art Gemeinschaft mit seinen Hörern anbietet. Benjamin wäre nicht der, der er war, hätte er nicht auch theoretisch darüber nachgedacht, was er mit diesen neuen Diskurs17 Benjamin: Band VII/2, 610ff. 18 Benjamin: Berliner Dialekt. In: Ders.: Band VII/1, 68.

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formen seines Radio-Schreibens tat. In einem unveröffentlichten Text aus dem Jahre 1930 unter dem Titel Reflexionen zum Rundfunk heißt es: „Die Rundfunkhörer, im Gegensatz zu jedem andern Publikum, [empfangen] das Dargebotene bei sich zu Hause, die Stimme gewissermaßen als Gast.“19 Benjamin macht eine unüberprüfbare Annahme, aber vermutlich die beste, die man radiotheoretisch machen kann. Von seinen ersten Anfängen bis auf den heutigen Tag invadiert das Radio die intimsten Plätze des Privatlebens, Wohnzimmer, Küchen, Waschräume, Schlafzimmer. Das sind die Plätze, wo Stimmen (der vertrauten Menschen) in der Regel wichtiger sind als fremde oder formale Botschaften. Deshalb, sagt Benjamin, geht es im Radio vor allem um Stimme, Diktion, das Sprechen und die Rolle des Gastes: Es ist die Stimme, die Diktion, die Sprache - mit einem Wort die technische und formale Seite der Sache, die in so vielen Fällen die wissenswertesten Darlegungen dem Hörer unerträglich macht genau so wie sie, in einigen wenigen, ihn an die ihm entlegendsten fesseln kann. (Es gibt Sprecher, denen man sogar bei den Wettermeldungen zuhört.)20

Dieser inzwischen legendär gewordene Satz vom Radio-Wettermann ist ganz offensichtlich ein Resultat aus Benjamins eigenen auralen Erfahrungen. Deshalb gehen Benjamins Reflexionen auch tiefer: „Nie hat es noch ein wirkliches Kulturinstitut [Benjamin kennt den Begriff der „Medien“ in unserem Sinne typischerweise nicht;21 W.H.] gegeben, das sich als solches nicht durch das Sachverständnis beglaubigt hätte, das es kraft seiner Formen, seiner Technik im Publikum erweckt hätte.“22 Worauf Benjamin hier abzielt, wird ein halbes Jahrhundert später der „dynamisch-transaktionale“ Ansatz der Medienwirkung genannt (eine Theorie, die die Formate und Wirkungen eines Mediums als Ergebnis von Aushandlungen zwischen Produzenten und Rezipienten eines Mediums versteht).23 Benjamins Überlegungen zielen darauf, dass 19 Benjamin: Band IV/3, 1507. 20 Ebd. 21 Der Begriff Medien kommt erst in den 1950er Jahren in die wissenschaftliche Diskussion. 22 Benjamin: Band IV/3, 1507. 23 Vgl. die Zusammenfassung in: Früh, Werner: Medienwirkungen -- Das

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Benjamins Sendungen

dieses neue Medium, in dem er Sendungen fährt, noch keine erfolgreichen Formen gefunden hat als ein „beglaubigtes“ Ergebnis dessen, was es im Publikum „erweckt hätte“. Eine solche Beglaubigung wird die heutige Medienwirkungsforschung eine „Transaktion“ nennen. Kulturtechniken wie Drama oder Epos bekamen Benjamin zufolge immer schon ihre Form als Ergebnis von Aushandlungen mit einem Publikum, das über lange zeitliche Folgen respondiert. Im frühen Weimarer Radio jedoch, so Benjamin, bleibt dem Publikum einstweilen nur die Sabotage: „[…] noch heute, nach Jahre langer Praxis, [ist] das Publikum, völlig preisgegeben, unsachverständig in seinen kritischen Reaktionen mehr oder minder auf die Sabotage (das Abschalten) angewiesen geblieben.“24 Deshalb war es kein Zufall, dass Benjamin vor seinem jungen Publikum sprach wie ein Gast, und – reziprok – es behandelte und ansprach wie Gäste in seiner Sendung. Viele seiner erhaltenen Sendungsskripte zeigen diesen diskursiven Zug. Der Sprecher Benjamin übernahm gleichsam die Rolle eines host, wie wir ihn später im amerikanischen Radio kennenlernen werden und erst sehr viel später, als US-Import, im deutschen Nachkriegsrundfunk. Benjamin adressiert sich in seinen Jugendfunksendungen nicht nur zugleich als Wirt und als Gast, sondern reflektiert ebenso sehr auf die Situation seiner Performanz, auch indem er die technische Situation mit einbezieht, die im Radio gegeben ist: das Nicht-Sehen und das Nicht-Gesehen-Werden. Mit einem Wort: In seinen Jugendstunden – aber eben nur da – entwickelt Benjamin einen medialen Narrator neuen Typs. Er tut dies ohne revolutionäre Pose, auch nicht aufdringlich, aber von der Tendenz und der Zielrichtung her eindeutig. Zwischen 1929 und 1931 ist Benjamin deshalb wohl nicht umsonst ein unverzichtbarer und prägender Mitarbeiter des Berliner Jugendprogramms geworden; er hat sein Format wesentlich mit geprägt. Ich kann diese letzte Kategorie (Tab. 12) der Radioarbeit Benjamins nur streifen. Sie verdiente einen eigenen Aufsatz. Zentral sind hier die so genannten Hör-Modelle; ein Konzept, das Benjamin mit seinem Freund Ernst Schoen entwidynamisch-transaktionale Modell. Theorie und empirische Forschung. Opladen 1991. 24 Benjamin: Band IV/3, 1506.

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08.02.1931 26.03.1931 01.07.1931 01.07.1931 03.01.1932 16.02.1932 10.03.1932 16.05.1932 09.09.1932 o. D.

Studio: Wie nehme ich meinen Chef? Hörmodell I: Gehaltserhöhung?! Wo denken Sie hin! Hörmodell II: Frech wird der Junge auch noch?! Hörmodell II: Frech wird der Junge auch noch?! Funkspiele: Dichter nach Stichworten Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben Radau um Kasperl Das kalte Herz Radau um Kasperl Lichtenberg

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Tab. 12: Walter Benjamin, Hörspiele

ckelte. Man mag vermuten, dass diese Hörspiele von Brechts Lehrstück-Konzept beeinflusst waren. Ich würde dieser These nicht folgen. Z.B. Gehaltserhöhung?! Wo denken Sie hin! ist ein eher boulevardeskes Rollenspiel als ein „Lehrstück“ und hat sicherlich mehr zu tun mit Benjamins nachhaltigem Interesse an behavioristischen Theorien als mit Brecht. Es geht um zwei verschiedene „Aufstellungen“ eines Angestellten, der in zwei Versionen „modellhaft“ erprobt, wie man beim Chef am besten eine Gehaltserhöhung herausholen könnte. Wesentliches Element in diesem Format war allerdings eine Live-Diskussion nach der Sendung mit Hörerbeteiligung, möglichst junger Hörer. Und eben deshalb funktionierten die Hörmodelle offenbar nicht oder führten, wie Benjamin Scholem geschrieben hatte, zu einem „windigen“ Ergebnis. Den Grund für das Scheitern des Hör-Modelle-Projekts hatte Ernst Schoen (also sein Redakteur) seinem Freund in nüchternen Worten mitgeteilt: „Der Frankfurter Kulturbeirat hat in seiner letzten Sitzung […] erneut einen Beschluss bestätigt, der dem Verbot gleichkommt, Jugendliche vor dem Mikrophon erscheinen zu lassen.“25

25 Benjamin: Band IV/3, 1501.

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II. Benjamin war durch Ernst Schoen, seinen Jugendfreund aus frühen Studientagen, ins Radio gekommen. Schoen – zwei Jahre jünger als Benjamin – wuchs in einer bürgerlichen Berliner Familie auf. Früh erhielt er eine Klavierausbildung, unter anderem bei Ferrucio Busoni und bekam Kompositionsunterricht bei Edgar Varese, der dem hochbegabten jungen Mann die Grundlagen der Harmonielehre und der Schoenbergschen Zwölftontechnik beibrachte.26 Nach dem Ersten Weltkrieg war Schoen offenbar vom Radio stark affiziert worden, vielleicht auch deshalb, weil er mit den revolutionären Thesen aus Busonis Neuer Ästhetik der Tonkunst gut bekannt war. Busonis Vision einer Tonkunst, deren Komposition direkt aus Tonmaschinen generiert werden könne,27 wurde jedenfalls eine der Leitideen für Schoens Arbeit im Radio – so wie sie es auch für Kurt Weill wurde, der in den ersten fünf Jahren des frühen Weimarer Radios das Programm als Publizist intensiv begleitete.28 Ernst Schoen wurde der erste „Programmassistent“ der ersten Radiostation in Frankfurt am Main, die im Frühjahr 1924 ihren Betrieb aufnahm. Es wurde eine der innovativsten in Deutschland. Ihr Gründer und Leiter war Hans Flesch, ein Mediziner, der zugleich zutiefst mit der Künstler- und Avantgarde-Szene im Nachkriegs-Frankfurt verbunden war. Hans Flesch war beispielsweise Schwager Paul Hindemiths – beide hatten jeweils eine der Töchter von Hans Rottenberg geheiratet – einem Pionier der neuen Musik und Intendant der Frankfurter Oper. Jahre zuvor war Hindemiths spätere Frau schon einmal nahezu verlobt gewesen mit Ernst Schoen. So setzten sich, als das Radio in Frankfurt seinen Betrieb aufnahm, die Wahlverwandtschaften fort. Von Anfang an war hier Walter 26 Schiller-Lerg, Sabine/Soppe, August: Ernst Schoen (1894-1960). Eine biografische Skizze und die Geschichte seines Nachlasses, in: StRuG 20, 2/3, 1994, 79-88. 27 Vgl. Hagen, Wolfgang: Busoni’s Invention: Phantasmagoria and Errancies in Times of Medial Transition; Daniels, Dieter: Artists as Inventors, Inventors as Artistism. Ostfildern 2008, 86-107. 28 Vgl. das Kapitel „Absolute Radiokunst“ in: Hagen, Wolfgang: Das Radio: zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA. München 2005, 89ff.

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Benjamin nicht weit. Schon 1925, nach dem Scheitern seiner Habilitation (ebenfalls in Frankfurt), war Benjamin von seinem Freund angeboten worden, für die Programmzeitung des neuen Senders, die Südwestdeutsche Rundfunkzeitung, zu arbeiten. Aber damals hatte Benjamin andere Pläne. Allerdings: Auf welch wahrhaft „deutsche“ Weise das Radio in der Weimarer Republik organisiert war, muss den so offen gesinnten jungen Intellektuellen wie Flesch, Benjamin und Schoen in der Tat ziemlich ridikül und grotesk erschienen sein. Denn die technisch gegebenen Möglichkeiten des neuen Mediums wurden von Staats wegen rigoros eingeschränkt bis hin zu den absurdesten Formen der Zensur und Vorzensur. Das Weimarer Radio wurde von Beginn an kontrolliert durch so genannte „Überwachungsausschüsse“, die jeweils regional organisiert waren und das volle Recht hatten, die redaktionellen Planungen einzusehen und ggf. massiv zu intervenieren. Programme, die einen politisch aktuellen Inhalt hatten und die Positionen der republikanischen Parteien reflektierten, waren ohnehin untersagt. In einem völlig falsch verstandenen Kulturbegriff sollte der Rundfunk „überparteilich“ agieren. Parteipolitik musste aus den Programmen herausgehalten werden, das Radio hatte einen gleichsam absoluten „Kulturauftrag“. Die Unternehmung war – mit einem Wort – ein gründlicher Fehlstart. Um diese groteske Lage besser zu verstehen, sollte man sich erinnern, dass das Deutsche Radio nicht von tätigen und experimentellen Amateuren und Ingenieuren gegründet wurde wie in den USA. Es wurde vielmehr regelrecht gegen sie und ihre Entfaltungsinteressen eingerichtet. Denn wie in den USA war es auch in Deutschland so, dass im Weltkrieg Tausende von Soldaten in den Nachrichten-Divisionen gekämpft hatten und gut wussten, wie man mit diesem neuen Medium weiter würde produktiv umgehen können im zivilen Leben. In den USA führte das zu den bekannten chaotischen Umständen der Anfangsjahre des Radios zwischen 1920 und 1927. Und auch in Deutschland begann es mit einem gewissen Chaos, als sich viele der heimgekehrten Nachrichtensoldaten 1919 zunächst in den Soldatenräten versammelten. Dort bildete sich eine sog. „Zentralfunkleitung“ im November 1919, allerdings ohne dass sie je klare Ziele formuliert hätte. Der

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Spartakus-Bund, der politisch die Zentralfunkleitung dominierte, hatte keinerlei Idee für ein politisches Potential des neuen Mediums. Mit dem Versprechen, es werde eine militärisch unabhängige Organisation des Funkbereichs geben, ließen sie sich am Ende abspeisen. Dieser so genannte „Funkerspuk“29 von 1919 ließ sich also sehr einfach befrieden; Hauptakteur dieser Befriedung war der spätere Gründungsvater des Deutschen Rundfunks, Hans Bredow. Als Ingenieur und Repräsentant einer der größten Elektrokonzerne der Zeit (Telefunken) versprach er den erschöpften Nachrichtensoldaten gute Jobs in einem neuen Regierungsapparat für drahtlose Technologien, den Bredow tatsächlich dann auch unter Aufgabe seiner Industriejobs als Staatssekretär im Postministerium errichtete. 1923 kam es schließlich zur Lizenzierung von privat finanzierten Rundfunkanstalten (so wie des Südwestrundfunks in Frankfurt), die durch einen etwa 60-prozentigen Anteil an der staatlichen Rundfunkgebühr finanziert wurden. Eine tatsächliche Bedrohung der staatlichen Autoritäten durch revolutionäre Radioamateure hat es in Deutschland nie gegeben. Umso größer aber blieb die Furcht davor – bei Staatsbürokraten, aber auch bei Sozialdemokraten und den konservativen Parteien. Diese durch nichts begründete Furcht ist das, was man schon einen Radioeffekt nennen könnte, bevor es das Medium realiter überhaupt gab. Radio im Deutschland der frühen 1920er Jahre war Teil des unheimlichen Gefühls einer heraufziehenden Moderne, die – niemand hat das besser analysiert als Helmut Lethen30 – von Anfang an wie ein Schatten über der Weimarer Republik lag. Obwohl das Medium – wie alle Neuen Medien – vor allem die jungen Menschen begeisterte, verbreitete die Gesellschaft der Weimarer Republik in weiten Teilen überwiegend die Furcht vor möglichem „Funkerspuk“, was zu einer grotesken und reaktionären Zensierung des Mediums führte. Im Deutschland der Weimarer Jahre verlangten nur verschwindende Minder29 Näheres dazu in: Lerg, Winfried B.: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. Herkunft und Entwicklung eines publizistischen Mittels. Frankfurt am Main. 1970, 51ff. 30 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main 1994.

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heiten nach einem freien, unorganisierten und weitgehend unregulierten Zugang zu der neuen drahtlosen Welt, wie es hingegen eine beträchtliche Mehrheit, nämlich die große Organisation der Radioamateure in den USA im Konflikt mit der Navy getan hatte. Die US-Navy wollte 1919 per Kongressbeschluss das Radio in staatliche Regulierung übernehmen; die Lobby der Radioamateure (unterstützt durch Teile der Elektroindustrie) obsiegte. Forderungen vergleichbarer Art gab es vereinzelt nur in den deutschen Arbeiterradiovereinen, die aber ihrerseits durch revolutionäre oder linke Ordnungsvorstellungen stark beeinflusst waren.31 Amateuristischer Pragmatismus war jedenfalls nichts, was in der deutschen, und wohl auch nichts, was in der europäischen frühen Radiogeschichte anzutreffen war. In Europa dominant waren die imperialen Semantiken der Elektrizität, in Sonderheit die Vorstellung vom Äther als Träger von aller Materie und allem Sein, sogar von Geist und Gedanken.32 Lange bevor es institutionell eingeführt wurde, war das Paradigma des Radios überfrachtet mit metaphysischen Aufladungen. Als das Medium dann in der Welt war, brachen sich diese selbst schon medialen Effekte Bahn in psychotischer Furcht und grundlosen Ängsten, mit denen sich ein Politikverbot und die Vorzensur gut, weil in tiefster Irrationalität, legitimieren ließen. Vielleicht hatte Benjamins ein wenig schamhaft anmutende Verringerung seiner Radioarbeit tatsächlich mit dieser Lage des Mediums zu tun. Für das Weimarer Radio zu arbeiten, trug tatsächlich beschämende Züge. Hans Bredow hatte am Anfang erhebliche Schwierigkeiten gehabt, das Militär und die Parteien zur Einrichtung eines zivilen Radiosystems überhaupt zu bewegen. Zudem gelang es keineswegs sofort, Investoren und Unternehmer zum Aufbau der neun geplanten Rundfunkanstalten zu finden. Erst drei Monate nach dem offiziellen Radio-Programmstart im Oktober 1923 gründeten im Dezember fünf private Gesellschafter in Frankfurt die Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG. Damit wurde nach Berlin und Leipzig erst die dritte regio31 Vgl. Dahl, Peter: Arbeitersender und Volksempfänger. Proletarische Radio-Bewegung und bürgerlicher Rundfunk bis 1945. Frankfurt am Main 1978. 32 Vgl. Hagen: Das Radio.

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nale Funkgesellschaft mit täglichen Rundfunksendungen tätig. Wie erwähnt, übernahm der künstlerisch orientierte Röntgenassistenzarzt Dr. Hans Flesch mit 27 Jahren die Leitung des neuen Unternehmens. Bredow stand mit den Gründungen der Regionalgesellschaften sichtbar unter einem gewissen Druck. Als ehemaliger technischer Direktor der Telefunken-Gesellschaft wusste er sehr genau, dass nur eine flächendeckende Verbreitung von Radiogeräten in der deutschen Bevölkerung die Radioindustrie voran und die Produktion von Radioröhren auf einen internationalen Level bringen würde. Um dieses Ziel zu erreichen, musste bei der Einrichtung des neuen Mediums das Innenministerium aus dem Spiel bleiben, denn in diesem Fall hätte er selbst die Kontrolle über die Entwicklung verloren. Um als Staatssekretär im Postministerium nicht nur die formale, sondern auch die inhaltliche Kontrolle zu behalten, mussten die Inhalte der Sendungen des neuen Mediums auf dem denkbar niedrigsten politischen Level gehalten werden. Aus diesem Grund prägte Hans Bredow für das Weimarer Radio die unglückselige Parole vom Radio als einem Kulturinstrument. Wurde der Rundfunk als Instrument der Politik betrachtet, so war das Reichsministerium des Innern federführend. Wurde er aber als Kulturinstrument angesehen, dann gab es überhaupt keine zuständige Reichsstelle, da die Kulturfragen zum Bereich der Kultusministerien der einzelnen Länder gehörten. Der Gedanke, den Rundfunk einer ganzen Anzahl von Ressorts zu überlassen, schreckte mich aber schon deshalb ab, weil dies zu unübersehbaren Verzögerungen und zu einer unheilvollen Verzettelung geführt hätte.33

Im Ergebnis erhielten jetzt allerdings automatisch so gut wie jede regionale Lehrervereinigung und alle Verbände der Philologen ihren festen Platz im Programm, eingeschlossen die Chorgemeinschaften, Erziehungsvereine jeder Couleur, die Gilde der Universitätsprofessoren und der kirchlichen Prediger. Abgesehen von der einen oder anderen Fußball-Reportage, die ganz zaghaft ab 1927 ihren Einzug ins Programm hielten, existierte das journalistische Reportage-Konzept im 33 Bredow, Hans: Im Banne der Ätherwellen. Band II -- Funk im Ersten Weltkriege, Entstehung des Rundfunks. Stuttgart 1956, 172.

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Weimarer Radio so gut wie nicht, schon gar nicht live. Ob ein Politiker auf dem Trottoir erschossen wurde, Straßenkämpfe die Städte erschütterten oder Brände im Grunewald ausgebrochen waren – das Radio berichtete darüber bestenfalls nur am Rande. III. Im August 1929 wurde Hans Flesch Intendant der Berliner Funkstunde. Mag sein, dass dies der Anlass für jenes Gespräch zur Zukunft des Radios war, das Walter Benjamin mit Ernst Schoen (der jetzt Chef in Frankfurt geworden war) führte und in der Literarischen Welt veröffentlichte -- übrigens eine der ganz wenigen Thematisierungen des Radios in dieser von Ernst Rowohlt und Willy Haas herausgegebenen Wochenzeitschrift. In diesem Gespräch mit Ernst Schoen entfalten beide eine bittere Kritik am Radiosystem; zugleich ist auffällig, wie behutsam und vorsichtig sie ihre Worte wählen. Im Rückblick auf die Anfänge sagt Schoen: So muss auch unser Frankfurter Unternehmen aus einem Ungenügen, und zwar aus einer Opposition gegen das erfasst werden, was ursprünglich die Programmgestaltung des Rundfunks bestimmte. Das war, kurz gesagt, die Kultur mit einem haushohen K. Man glaubte im Rundfunk das Instrument eines riesenhaften Volksbildungsbetriebs in der Hand zu halten. Vortragszyklen, Unterrichtskurse, groß aufgezogene didaktische Veranstaltungen aller Art setzten ein und endeten mit einem Fiasko. Und was zeigte sich? Der Hörer will Unterhaltung.34

Nach fünf Jahren Erfahrung ist deutlich: Das System des Weimarer Radios, das Kulturinstrument mit großem K, ist gescheitert. An seine Stelle muss ein anderes treten, wie Benjamin – vorsichtig, aber auch deutlich genug – andeutet. Änderung zu erwirken sei „nur möglich mit einer Politisierung, die ohne den chimärischen Ehrgeiz staatsbürgerlicher Erziehung den Zeitcharakter so bestimmt, wie ehemals der ‚Chat Noir‘ und die ‚Elf Scharfrichter‘ es getan haben.“35 – Chat Noir? Es ist nicht einmal sicher, ob jeder damalige Leser der Litera34 Benjamin: Band IV/1, 548. 35 Ebd., 549.

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Abb. 1: Théophile-Alexandre Steinlen: Le Chat Noir.

rischen Welt von 1929 die Anspielung verstanden hat: Weltberühmt allein schon das von Théophile-Alexandre Steinlen gemalte Plakat (Abb. 1) dieses 1881 gegründeten Kabaretts. Der unbezähmbare Freiheitsdrang und zugleich das Unheimliche der schwarzen Katze werden hier zur eindringlichen Metapher. Sie steht für die Leidenschaft des Künstlertums; Steinlens Farben assoziieren zudem das explizit Anarchistisch-Politische in den Farben Schwarz und Rot. Das Chat Noir mit seinem Gründer Rodolphe Salis ist nichts weniger als die Urstätte des politischen Kabaretts. Salis, meistens in Uniform auftretend, über und über behängt mit Orden und sonstiger Persiflage-Staffage, proklamierte beispielsweise: „Wir werden politische Ereignisse persiflieren, die Menschheit belehren, ihr ihre Dummheit vorhalten, dem Mucker die schlechte Laune abgewöhnen, dem Philister die Sonnenseite des Lebens zeigen...“36 Rodolphe Salis vom Chat Noir, oder seine Nachahmer wie Ernst von Wolzogen im Überbrettl oder eben Frank Wedekind in dem Münchner Kabarett der Elf Scharfrichter, also die schärfste intellektuell-literarische Spitze der politischen Satire in Europa um 1900, -- das ist es, was Walter Benjamin 1929 als Orientierung für eine Reform des Deutschen Rundfunks empfiehlt. 36 Hoesch, Rudolf: Kabarett von gestern und heute. Berlin 1967, 19.

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Hans Flesch, der Ernst Schoen ins Radio geholt hatte und damit indirekt auch Walter Benjamin, wurde, wie angedeutet, 1929 Intendant in Berlin und damit Chef der einflussreichsten Rundfunkanstalt der Weimarer Republik. Dass zeitgleich auch Walter Benjamin zum regelmäßigen Mitarbeiter der Funkstunde avancierte, ist nicht verwunderlich. Kongruent waren die Politiken des Chefs und seines Mitarbeiters Benjamin allemal. Zwar richtete Flesch keine Kabarett-Sendung vom Schlage Chat Noir ein, was weder formal noch inhaltlich möglich gewesen wäre. Aber eine „Politisierung“ des Rundfunks unternahm er schon. Er etablierte eine ZeitfunkAbteilung; plante Direktübertragungen aus dem Parlament und aus Gerichtssälen; richtete überall in der Stadt Übertragungsstellen ein; begründete eine wöchentliche Sendung mit O-Tönen und Reportagen von wichtigen Ereignissen der Woche – Rückblick auf Schallplatten genannt, mit der sich Flesch eindeutig zur Integration des Aufzeichnungsmediums Schallplatte in den regulären Rundfunkbetrieb bekannte, was bis dahin eher verpönt war; brachte verstärkt Live-Debatten ins Programm und – intensivierte das Jugendprogramm. „Ab Oktober kommt die Jugendstunde täglich: Wolf Zucker, Lisa Tetzner, Alfred Döblin, Walter Benjamin gehören zu ihren Mitarbeitern.“37 Walter Benjamins Arbeit im Rundfunk war Teil des Reformwerks, das Hans Flesch mit Amtsantritt Ende 1929 in Berlin einleitete. Benjamins Anteil lag vielleicht nicht im Zentrum dieser Reformarbeit, aber im nun täglich gewordenen Zielgruppenprogramm für jugendliche Hörer auch nicht an der Peripherie. Gang durch ein Messingwerk, Wahre Geschichten von Hunden, Borsig (das große Lokomotivenwerk), Mietskasernen, Das Leben des Autos, Wie die Tierbändiger es machen – diese Themen sind weit von traditioneller Literatur entfernt und nahe bei dem, was man zeitgenössische kulturelle Narrationen nennen könnte, dargeboten in einem modernen Host-Format des authentischen Erzählers in erster Person Singular. Allerdings: Die Zeit der Flesch-Reformen des Deutschen Hörfunks währte nicht lange. Sie rief vielmehr bei den Gegnern der Republik eine massive Reaktion auf den Plan. Alles, was Flesch 37 Weil, Marianne: Hans Flesch -- Rundfunkintendant in Berlin. In: Rundfunk und Geschichte, 22, 1996, 223-243, 227.

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eingerichtet hatte, wurde im Sommer 1932 wieder einkassiert durch die so genannte „Rundfunkreform“ des NSDAP-Mitglieds Ministerialrat Erich Scholz, dem Rundfunkreferenten des Innenministeriums. Es folgte die faktische Enteignung der privaten Rundfunkanstalten, die Verstaatlichung des Rundfunks und, bereits am 12. August 1932, die sofortige Entlassung Hans Fleschs.38 Damit verlor auch Benjamin sein Betätigungsfeld, und zwar sowohl in Berlin als auch, mit einer gewissen Verzögerung, in Frankfurt. So wundert es nicht, dass Benjamins letzte Radiosendung in einem ganz alten Format stattfand. Eine schlichte Lesung – ohne „Ich“s und „Euch“s – einiger Passagen aus seinem (nie zu Ende gebrachten) „work in progress“ Berliner Kindheit um 1900, am 29. Januar 1933 im Frankfurter Radio. Am nächsten Tag erlebte das Deutsche Radio seine erste ganz und gar live vollzogene Reportage eines aktuellen politischen Ereignisses, veranstaltet gegen alle Verordnungen und Vorschriften und unter Bruch aller Zensurautoritäten der Überwachungsausschüsse (aber folgenlos geduldet): Die Fackelprozession der siegreichen SA und SS-Verbände am Abend der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichkanzler. Diese Reportage wurde auch mitgeschnitten, so dass wir sie heute noch hören können. Ironie oder nicht, das Letzte, was wir über Benjamins Radioarbeit aus seinem eigenen Werk erfahren, ist eine ‚Reportage‘ ganz anderer Art, nämlich der Bericht von seiner allerersten Radiosendung. Es handelt sich um eine sehr späte, bereits unter Pseudonym veröffentlichte Kolumne aus der Frankfurter Zeitung vom 6. Dezember 1934: Auf die Minute („von Detlef Holz“). Benjamin berichtet von einem Zwischenfall, der ihm widerfuhr, als er seine erste Bücherschau live vor dem Mikrophon präsentierte. Er habe immer wieder nervös auf die Radiouhr geschaut, bis ihm der Zeigerstand deutlich machte, dass er zum Ende kommen müsse. Er überschlug ein paar Manuskriptseiten, sprach die Schlusszeilen und die Verabschiedung und – Schweigen. „Noch volle vier Minuten bis vierzig! Was ich vorhin im Fluge erfaßt hatte, mußte der Stand des Sekundenzeigers gewesen sein!“39 38 Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, 446f. 39 Benjamin: Band IV/2, 763.

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Er hatte zu früh Schluss gemacht: In dieser, der Technik und dem durch sie herrschenden Menschen bestimmten Kammer, überkam mich ein neuer Schauer, der doch dem ältesten, den wir kennen, verwandt war. Ich lieh mir selbst mein Ohr, dem nun auf einmal nichts als das eigene Schweigen entgegentönte. Das aber erkannte ich als das des Todes, der mich eben jetzt in tausend Ohren und in tausend Stuben zugleich hinraffte. [...] Eine unbeschreibliche Angst überkam mich und gleich darauf eine wilde Entschlossenheit. Retten, was noch zu retten ist, sagte ich zu mir selbst, riß aus der Manteltasche das Manuskript, nahm unter den übergangenen Blättern das erste beste und begann mit einer Stimme, die mein Herzklopfen mir zu übertönen schien, vorzulesen.40

So geht es bis zum tatsächlichen Ende der Sendung. Am nächsten Tag, so Benjamin abschließend, trifft er einen Freund, der ihn gehört hatte. „‚Es war sehr nett‘, sagte er. ‚Nur hapert es eben immer mit den Empfängern. Meiner hat wieder eine Minute vollkommen ausgesetzt.‘“41 Diese episodische Schilderung, in der Benjamin sich selbst „ein Ohr lieh“. um in das Schweigen seines eigenen Todes in den Ohren Tausender hineinzuhören (was für eine Umkehrung des „Gast“-Status einer sich empfehlenden Stimme!), mag als Allegorie für seine Radioarbeit im Ganzen stehen. Am Ende erkennt er es als ein Werk, über das er lieber schweigt, um damit das Schweigen tausender Ohren in tausend Radiowohnzimmern zu quittieren. In der Tat, Benjamin fühlte sich offenbar nicht wohl in all den Jahren, in denen er für das Deutsche Radio arbeitete. Aber nicht deshalb, weil er es nicht kannte; noch weil er es nicht mochte; sondern weil er dieses Radio nicht ändern konnte.

40 Benjamin: Band IV/2, 763. 41 Ebd.

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… ein Gang über Genuas Via Venti Settembre, unter den Kolonnaden der kleinen Läden, Schuhe, Süßigkeiten, Dessus, Schuhe, Süßigkeiten, Dessus und dann auf einmal die Fenster Olivettis, Turins Posaune, die „Lettera 22“, leuchtend mit der roten Taste rechts, dem Blickfang, dem Handfang, Verlockung, Modell aller Plakate von Toulouse bis Savignac, reinste Präsentation der Maschinenwelt, kleine Type, schlanke Zeile, Reizstelle für Information und Kommunikation.1

Eine Technisierung des Denkens mit den Mitteln der Literatur und der Informationstheorie kann man nennen, was sich in Max Benses Schriften zwischen 1950 und 1960 vollzieht. Werkgeschichtlich ist dieser Zeitraum als Umbau einer Literaturmetaphysik in eine Texttheorie zu beschreiben, wofür vor allem die in den Jahren 1954-60 in vier Bänden erschienene Aesthetica steht. Ihr innerer Aufbau ist weniger eine Folge von Kapiteln als vielmehr eine Zusammenstellung kürzerer essayistischer Texte. Wie schon in den dreißiger und vierziger Jahren wird Benses Schreiben darin von einem großen Lektürepensum gespeist, an dessen Verarbeitung es den Leser teilhaben lässt. Ziel des fast atemlosen Durchgangs durch 1 Bense, Max: Rom – Genua. In: Augenblick 2 (1956), Heft 1, 7.

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zahlreiche aktuelle Publikationen ist die Herausbildung einer philosophischen Sprache, die sich auf dem Stand einer durch mathematische Wissenschaft und Technik geprägten Welt bewegt. Das Vokabular oder die Bibliothek dieser Sprache führt dementsprechend Bücher aus den Bereichen Literatur, Poetik, Kunsttheorie, Philosophie, Physik, Informationstheorie, Linguistik und Semiotik zusammen. Claude E. Shannons „A mathematical theory of communication“ von 1948 wird bereits in der Aesthetica I, die 1954 mit dem Untertitel Metaphysische Beobachtungen am Schönen erscheint, erwähnt, rückt aber erst im folgenden Band in die Position eines maßgeblichen Grundlagentextes. Zuvor ist es vor allem die zeitgenössische Literatur, die es ermöglichen soll, der „lückenlosen Determination“ der Technik eine philosophische Antwort entgegenzusetzen. Definiert wird sie in „bemerkenswerter technologischer Terminologie“, Arno Schmidt und Gottfried Benn zitierend, als „Aussage, als eine Form des Discours, gelockert und verdichtet, ‚dehydriert‘ und ‚destilliert‘.“2 Es gehe darum, so Bense in Anknüpfung an Walter Benjamin, „eine technologische Auffassung dessen“ zu entwickeln, „was wir ‚darstellen‘ nennen“, um sie der „technologische[n] Auffassung des Denkens“, die „Mathematik und Logik ineinander überführt hat“3 und aus der auch die elektronischen Rechenmaschinen hervorgegangen sind, zur Seite zu stellen. Mit der Aesthetica II, die von Bense 1956 unter dem Titel Aesthetische Information publiziert wird, verwandelt sich die literarisch inspirierte „Zeichenästhetik“ des ersten Bandes in eine vor allem an Shannon orientierte „Informationsästhetik“.4 Die Informationstheorie begreift Nachrichten jeglicher Art als Zufallsfolgen in der Zeit, die sich durch Anwendung der in der Thermodynamik des 19. Jahrhunderts zur physikalischen Beschreibung von Gasen entwickelten Wahrscheinlichkeitsmathematik (im Maß der Unordnung oder Entropie) einer quantifizierenden Analyse unterziehen lassen. Dem ent2 Bense, Max: Aesthetica. Einführung in die neue Ästhetik. Baden-Baden 1982, 118. 3 Bense, Max: Literaturmetaphysik. Der Schriftsteller in der technischen Welt. In: Ders. Ausgewählte Schriften. Bd. 3. hg. v. Elisadeth Walther. Stuttgart 1998, 178. 4 Bense: Aesthetica, 123.

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spricht bei Shannon eine methodische Beschränkung auf die messbare Physikalität (das Signal) des Nachrichtenverkehrs, und das heißt ein Absehen von aller Semantik. Insofern die Quantifizierung von Information sich auf den Grad von Freiheit bzw. Zwang bezieht, mit dem eine Nachricht aus einer Menge möglicher Nachrichten ausgewählt werden kann, ist die Grundsituation dieser Theorie eine binäre Entscheidung. Dabei gilt, dass der Wert der Information mit dem Grad der Unvorhersehbarkeit einer Nachricht steigt. Was alle Kommunikation nach Shannon somit auszeichnet, ist nicht das, was sie sagt, sondern die kontingente Faktizität, dass sie etwas sagt bzw. nicht sagt. Gegenüber Shannons nachrichtentechnischen Interessen verlagert Benses ästhetische Lektüre oder Anwendung der Informationstheorie den Akzent auf die dort eingeklammerte Ebene der Semantik, verbunden mit dem Ziehen einer „Grenzlinie zwischen vergangener und moderner, ontologischer und semantischer, zwischen klassischer und nichtklassischer Einstellung“.5 „In der klassischen Ästhetik“, so Bense, gibt es an und für sich Gegebenes, das schön ist: Mond, Sonne, Wind, Rose, Duft, ein Gefühl usw. In der modernen Ästhetik werden Dinge erst schön durch das Zeichen, das man für sie findet, durch den Ton, den Vers, das Bild, die Metapher, durch Anordnungen, Rhythmen, Metriken, Perspektiven, d. h. also: in der klassischen Ästhetik bezieht sich der Ausdruck ‚schön‘ (oder ‚nicht-schön‘) auf Gegenstände, hat also eine ontische Bedeutung, in der nichtklassischen, modernen Ästhetik aber bezieht sich der Ausdruck auf Zeichen und Zeichenreihen (mathematischer, kategorischer, explikativer und funktioneller Art), hat also eine semantische Bedeutung.6

Das heißt einmal, dass Ästhetik bei Bense sehr viel mehr ist als eine Theorie der Kunst. Sie zielt nämlich auf eine universelle Theorie des Zeichengebrauchs in der technischen Welt, dessen ‚denaturierenden‘, künstlichen Charakter sie herauszustellen sucht. Zum anderen führt die Frage der Semantik den Menschen wieder als Bezugspunkt ein, dessen existentielle Lage nunmehr informationsästhetisch reformuliert wird: [A]lle physikalischen Zustandsänderungen verlaufen im Mittel so, dass 5 Ebd., 125. 6 Ebd., 139.

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Hans-Christian von Herrmann sie die Wahrscheinlichkeit des Zustandes vergrößern (M. Planck), während offensichtlich die ästhetischen Zustandsänderungen, also die künstlerische Produktion, die zu einem Kunstwerk führt, sich so abspielen, daß die Wahrscheinlichkeit des Zustandes verringert wird. Dem Begriff der thermodynamischen Wahrscheinlichkeit als der Wahrscheinlichkeit, ‚mit der in jedem sich selbst überlassenen Falle Ordnung in Unordnung übergeht‘, also die erzwungene Verteilung in die gleichmäßige Verteilung, entspricht der Begriff der ästhetischen Unwahrscheinlichkeit als der Unwahrscheinlichkeit, mit der in einem nicht sich selbst überlassenen Falle (sondern durch die aktive künstlerische Produktion) Unordnung in Ordnung übergeht, also gleichmäßige Verteilung in erzwungene Verteilung.7

Der Gebrauch von Zeichen ist somit ganz allgemein als Herstellung künstlicher Ordnungen, „hervorgegangen aus Auswahlen“8, bestimmt, und der Ästhetik kommt die Aufgabe zu, diesen schöpferischen Prozess an Kunstwerken freizulegen, da er in der technischen Welt zunächst nur hier sichtbar wird. Ausgehend von den kybernetischen Maschinen, die „die Struktur der Information“ besitzen und „echte Ergebnisse der intelligiblen Sphäre realisieren, Zeichen des Gebrauchs verwirklichen, Schalter, Relais, Steuerungen, Signale, Kontakte, Funktionen usw.“, vermag die Informationsästhetik ganz allgemein an den Artefakten der städtischen „Plakatwelt“ und der industriellen „Serienwelt“ deren „kommunikative“ „Beschaffenheit“ herauszuheben, und das heißt „die Gebrauchsfunktion und die ästhetische Funktion“.9 Die sich darin abzeichnenden Konturen einer Theorie des Produktund Graphikdesigns sind vor dem Hintergrund von Benses Tätigkeit als Gastprofessor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) zu sehen. Nachdem er am 6. März 1952 auf Einladung von Inge Scholl an der Ulmer Volkshochschule einen Vortrag über Technik, Tradition und Revolution gehalten und dabei Max Bill und Otl Aicher kennengelernt hatte, lud man ihn auch an die gerade in Gründung befindliche Hochschule ein. Im Sommer 1953 bot er als Vorlesung Die Lehre vom Schönen und von der Seinsart der Kunstwerke an; es folgte eine Einführung in die Philosophie, in die Semantik und in die Ky7 Ebd., 147. 8 Ebd., 210. 9 Ebd., 154f.

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bernetik. Als die Zeitschrift Werk und Zeit 1956 die an der HfG veranstaltete schweizerisch-deutsche Werkbundtagung dokumentierte, war Benses „Kunst in künstlicher Welt“ der einzig ungekürzt wiedergegebene Vortrag. Zu den in den folgenden Jahren von Bense in Ulm neben seinen Vorlesungen verfolgten Vorhaben gehörte der Aufbau einer eigenen Abteilung für Information. Die Eröffnung erfolgte 1955 und wurde spektakulär begleitet von einem Vortrag Norbert Wieners, der auf Einladung Benses sowohl in Ulm als auch in Stuttgart sprach. Ein „experimenteller Lehrplan“, der eine literarische und journalistische Schreibausbildung auf der Basis der Informationstheorie entwirft, datiert von 1956. Die Lehrveranstaltungen der ersten Jahre wurden außer von Bense von Eugen Gomringer, Albrecht Fabri, Käte Hamburger, Gert Kalow, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Elisabeth Walther bestritten. Größerer Erfolg sollte der Informationsabteilung neben den Abteilungen für Produktform und Visuelle Gestaltung (später: Visuelle Kommunikation) allerdings aufgrund geringer Studentenzahlen nicht beschieden sein. Bense zog sich im März 1958 wieder aus Ulm zurück, nachdem im Jahr zuvor Max Bill, dem er freundschaftlich verbunden war, die Hochschule verlassen hatte, nach langen und heftigen Streitigkeiten innerhalb des Kollegiums um die Frage der Fortführung der Bauhaustradition. Ihren wichtigsten literarischen und künstlerischen Verbündeten fand Benses Aesthetica in der konkreten Poesie und Malerei der fünfziger Jahre, wie sie in Ulm durch Eugen Gomringer und Max Bill vertreten waren. Gegenüber der Kunst des Informel bzw. des Tachismus hingegen blieb Bense zunächst distanziert, musste seine anthropologisch fundierte Ästhetik hier doch an ihre Grenzen stoßen. Dies zeigt sich besonders deutlich gegenüber den Zeichnungen von Henri Michaux, die, in den Begriffen der Informationsästhetik gesprochen, als Realisation von Zuständen hoher Entropie erscheinen. Was dabei zu verschwinden droht, ist die fundamentale Differenz zwischen Natur und Kunst, Physik und Semantik, Signal und Zeichen, über der die Informationsästhetik Mitte der fünfziger Jahre operiert. Denn „die Grundmodelle physikalischer Prozesse, Brownsche Molekularbewegung und atoma-

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re Explosion“, weisen „nicht zufällig, sondern prinzipiell fast die gleiche Struktur auf wie die „‚taches‘ und ‚mouvements‘“, die die Kunst Michaux’ charakterisieren, so dass man hier „den Kunstprozeß in einen Naturprozeß übergehen“ sieht.10 In ganz besonderer Weise gilt dies für Michaux’ Meskalinexperimente, mit denen er 1954 begann und deren Protokolle er später publizierte. „Dies ist eine Forschungsreise. Mit Hilfe von Wörtern, Zeichen und Zeichnungen. Erforscht wird das Meskalin“11, beginnt sein 1956 unter dem Titel Misérable Miracle (dt. Unseliges Wunder) veröffentlichter Experimentalbericht, der auch die jeweils eingenommene Meskalindosis vermerkt. Benses starkes Interesse an diesen Selbstversuchen belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass er, gemeinsam mit Elisabeth Walther, Michaux aus Deutschland mit dem dort leicht erhältlichen, in Frankreich hingegen verbotenen Halluzinogen versorgte. Ein ganz im Stil eines ärztlichen Rezepts gehaltener Brief Michaux’ an Bense vom 18. Juni 1955 gibt im Gegenzug eine genaue Anleitung zur oralen Einnahme von LSD, das seit 1949 von der Baseler Sandoz AG unter dem Namen Delysid vertrieben wurde. Dem folgt unter Punkt 2) der bibliographische Hinweis auf einen Bericht des peruanischen Neuropsychiaters Carlos Gutiérrez-Noriega über die Wirkungen eines aus dem Kaktus Opuntia cylindrica gewonnenen, dem Meskalin verwandten Alkaloids.12 Der durch informelle Kunst und Drogen bewirkte Einbruch einer rauschenden Physis in das Gebiet des Bewusstseins lässt aus informationsästhetischer Sicht „nur noch physikalische ‚Realzeichen‘, Signale“ übrig.13 Bense spricht daraufhin von „Rückzug“, was die scharfe Trennung oder „Auseinandersetzung zwischen dem physikalischen und dem ästhetischen

10 Ebd.,183f. 11 Die Meskalinzeichnungen von Henri Michaux (1954-1959/1966-1969). Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum. Köln 1998, 53. 12 Vgl. Büscher, Barbara/Herrmann, Hans-Christian von/Hoffmann, Christoph [Hg.]: Ästhetik als Programm. Max Bense/Daten und Streuungen. Berlin 2004, 101; vgl. auch Gutiérrez-Noriega, Carlos/Cruz, Guillermo: Pscicosis experimental producida por Opuntia Cylindrica. In: Revista de Neuro-Psiquiatria 11 (1948), Nr. 2, 155-170 u. 313f. 13 Bense: Aesthetica, 147.

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Weltprozeß“ betrifft.14 Der Ausblick, der sich nämlich von der Kunst Michaux’ aus eröffnet, ist ein ästhetischer Raum, der nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen beherrscht wird. „Es handelt sich“, schreibt Bense 1956, im ganzen gesehen um eine Kunstproduktion, in der random-Elemente, wie sie in der kybernetischen Technik zur Konstruktion von Maschinen verwendet werden, die annähernd die Bewusstseinsfunktion willkürlicher Entscheidung reproduzieren, vorkommen; also um random-Kunst, deren Theorie zwangsläufig einen hohen Grad von Verwicklung besitzt. Es ist jedoch leicht einzusehen, daß gerade diese random-Kunst noch eine zukünftige Chance für Kunst überhaupt vermittelt, denn sie deutet die Möglichkeit an, jenseits von Gegenständen und Formen, außerhalb der Nachahmung und Abstraktion noch einmal jene ungleichmäßigen Verteilungen, jene unwahrscheinlichen Zustände zu verwirklichen, die wir ästhetische Strukturen nennen; die klassische künstlerische Freiheit wird gewissermaßen in den Prozeß der Hervorbringung von Kunst hineingenommen.15

Diesen Schritt zu einer maschinisierten Kunst zu vollziehen, die den Menschen nicht mehr existentiell voraussetzt, sondern in sich aufnimmt oder simuliert, sollte Bense seinen Stuttgarter Schülern überlassen.16 Er selbst hingegen antwortete auf die neue Herausforderung mit einer Zuspitzung der Aesthetica zu einer Texttheorie, die er 1960 unter dem Titel Programmierung des Schönen publizierte. Für diese Texttheorie, die die scharfe Entgegensetzung von physikalischem und ästhetischem Prozess zurücknimmt, gilt, dass sie „praktisch einen idealen Text mit den gleichen statistischen Mitteln beschreibt wie die Thermodynamik ein ideales Gas“. In einer solchen „idealen Physik der Texte“ geht Benses Ästhetik in Distanz zur Literaturmetaphysik, die an ihrem Anfang gestanden hatte. „Text“, so heißt es nun unter den veränderten theoretischen Bedingungen, verrät stärker als Literatur die ästhetische Kategorizität der Realisation im Bau und im Gebrauch der Sprache: er verrät sie in der Mitführung dunkler sprachlicher Zufallselemente, die sich der grammatischen und 14 Ebd., 182. 15 Ebd., 184. 16 Vgl. Herrmann, Christian von: Künstliche Kunst. Abstraktion als Mimesis. In: Prekäre Bilder. [Hg.]: Thorsten Bothe und Robert Suter. München 2009.

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Hans-Christian von Herrmann logischen Determination entziehen und deren Präparation unter Umständen zu den Reizen gehört, die man artistisch nur einem Bereich von Zeichen abgewinnen kann.

Damit direkt verbunden ist die Ersetzung des Ausdrucks Schöpfung durch den Ausdruck statistische Innovation, d. h. durch eine Realisation, die ihr Dasein und ihre Wahrnehmbarkeit einer Auswürfelung, einer Selektion von Häufigkeiten verdankt. Man tritt nicht aus dem Nichts in das Sein, sondern aus einer Unordnung hoher Entropie in eine Ordnung hoher Information.17

Die statistisch begründete (Text-)Ästhetik Benses konnte sich einmal direkt auf Shannon, zum anderen aber auch auf die Untersuchungen des deutschen Atomphysikers Wilhelm Fucks berufen. Shannons informationstheoretische Überlegungen zur Sprache als Zufallsprozess nehmen wiederum auf den russischen Mathematiker Andrej A. Markov und seine 1913 publizierten statistischen Untersuchungen an den ersten 20.000 Buchstaben von Aleksandr Puškins Versepos Eugen Onegin Bezug. Als ‚Markovprozess‘ oder ‚Markovkette‘ erscheint bei ihm „der spezielle Fall eines stochastischen Prozesses, in dem Wahrscheinlichkeiten von den vorhergehenden Ereignissen abhängig sind“.18 Daran anknüpfend entwickelte Fucks ein mathematisches Verfahren der Stilanalyse, das die Analogie zur Vorgehensweise der statistischen Mechanik und der Thermodynamik stark betonte.19 Dass sein Aufsatz On mathematical analysis of style 1952 in der von Francis Galton mitbegründeten Zeitschrift Biometrika erschien, macht dabei die epistemologischen Folgen dieser Metaphorisierung deutlich. Was hier mit statistischen Mitteln geschieht, ist eine Vermessung des lebendigen Menschen, insofern er spricht und schreibt. Die solchermaßen quantifizierte Sprache ist eine kontingente Spur, die dadurch Unterscheidbarkeit erlangt, dass sie auf das ungeordnete Reservoir von Elementen (den Code) bezogen wird, auf das jeder Sprecher oder Schreiber zugreift. Welche 17 Bense, Max: Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik (aesthetica 4). Baden-Baden 1960, 55. 18 Shannon, Claude E./Weaver, Warren: Mathematische Grundlagen der Kommunikationstheorie. München, Wien 1976, 21. 19 Vgl. Fucks, Wilhelm: On mathematical analysis of style. In: Biometrica 39 (1952), 122.

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Elemente dabei gezählt werden (Buchstaben, Silben, Wörter usw.), ist letztlich irrelevant. Wichtig ist allein die Erfassung der Häufigkeit bestimmter Elementkombinationen. „Wir denken uns“, so Fucks 1955, den Sprechfluß als eine Funktion der Zeit, die aus diskreten Elementen (etwa den Silben) aufgebaut ist. Jedem Element kommt ein bestimmtes Zeitintervall zu. Der Sprechfluß stellt uns also eine abzählbare Menge von Elementen dar, die in der Zeit t eindimensional geordnet ist. Jedem Element geben wir eine Nummer k. Zu jedem k gehört dann der Wert des Arguments t und ein Zeitintervall Δ. Wir können unsere Gedanken aussprechen und das Gedachte oder Gesprochene fixieren, sei es in der Schrift, sei es auf Grammophonplatten oder magnetisierten Bändern oder sonstwie. In jedem Falle soll im folgenden die Abfolge der Gedanken, nur gedacht oder gesprochen oder geschrieben oder sonstwie festgehalten, der Text genannt werden.20

Die thermodynamische oder quantenmechanische Theorie der Sprache beginnt im Zustand des Rauschens, aus dem sie sich nach dem Vorbild der Informationstheorie und des Barons von Münchhausen am eigenen Schopf der Statistik herauszieht. Von älteren statistischen Erhebungen, wie sie nicht nur Markov, sondern etwa auch der Stenograph Friedrich Wilhelm Kaeding durchführte, dessen Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache 1897 erschien, unterscheidet sich das an Shannon anschließende Verfahren von Fucks durch die Einführung der Zeitachse, die das Zählen von Elementen im Dienste einer mathematischen Strukturanalyse in ein biometrisches Spurenlesen verwandelt. Statt das Wesen des Menschen (im Unterschied zum Tier) zu begründen, wird die Sprache damit zur ‚zeichengebenden Meldung‘ (Heidegger), die ihr Modell in der logischen Befehlssprache der Rechenmaschinen hat. Nur ein einziges Mal hat Bense diese statistisch-maschinelle Verfassung der Sprache selbst durch den Einsatz eines Computers exemplifiziert: in dem 1968 gemeinsam mit Ludwig Harig verfassten Hörspiel Monolog der Terry Jo.21 Es handelt 20 Ebd.: Mathematische Analyse von Sprachelementen, Sprachstil und Sprachen (=Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen, Heft 34a). Köln, Opladen 1955, 19. 21 Vgl. Bense, Max (zus. Mit Ludwig Harig): Der Monolog der Terry Jo. In: Schöning, Klaus [Hg.]: Neues Hörspiel. Texte/Partituren. Frankfurt am Main 1969, 57-91.

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von einem Mädchen, das als einzige Überlebende eines Unglücks, dem auf einer Kreuzfahrt ihre Familie zum Opfer fällt, bewusstlos am Strand aufgefunden wird. Ihr Monolog im Krankenhaus beginnt mit einer computergenerierten und von einem Vocoder (im Ulmer Forschungsinstitut AEG-Telefunken) akustisch umgesetzten Buchstabenkette im Zustand gleichmäßiger Verteilung, die im weiteren Verlauf eine immer stärkere Strukturierung erfährt. Auf der Ebene der Hörspielhandlung bedeutet diese durch Markovketten ansteigender Ordnung bewirkte Abnahme der Entropie die langsame Wiederkehr des Bewusstseins, wodurch aber ebenso wenig wie durch die dazwischenmontierten Aussagen der polizeilich befragten Zeugen eine sichere Rekonstruktion des traumatischen Geschehens ermöglicht wird. Ob es sich um einen Unfall oder aber um ein Verbrechen handelt, bleibt offen. Alles, was darüber gesagt werden kann, ist eine Schichtung von „Zeichen, Zeichen von Zeichen, Zeichen von Zeichen von Zeichen“.22 Diese in sich abgeschlossene ‚Eigenrealität der Zeichen‘ hat Bense in den sechziger Jahren zunehmend im Rückgriff auf Charles S. Peirce und seine Unterscheidung von Zeichenmittel (M), Objektbezug (O) und Interpretant (I) analysiert und schließlich, veranlasst durch eine Plastik Max Bills, als „fundamentales, universales und reales Zeichenband“ veranschaulicht, das sich topologisch wie das einseitige, endlos in sich zurücklaufende Band des Astronomen August Ferdinand Möbius verhält.23 Sowohl in seiner informationsästhetischen als auch in seiner semiotischen Fassung kreist Benses Denken um die Frage der Künstlichkeit der Zeichen und ihrer Verknüpfung, wobei dem Prozess des Sprechens und Schreibens stets eine Leitfunktion zukommt. Unfähig etwas zu hören und zu sehen, das mir verständlich und unterscheidbar wäre, folge ich nur noch der Linie der Wörter, die ich zu mir selbst spreche oder nur denke. Ich erprobe die Rettung der Wörter in Sätzen und versuche darin zu überleben, indem ich die Sachverhalte, an die ich mich erinnere, aus den Sätzen der Wörter übernehme, die ich noch sprechen und schreiben kann. Doch ergibt sich stets der gleiche 22 Bense: Aesthetica, 211. 23 Bense, Max: Die Eigenrealität der Zeichen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Elisabeth Walther. Baden-Baden 1992, 54.

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Abb. 1: Rückkopplungs- und Senderschaltung Endpunkt, den ich erfahre, die Erkenntnis, sich nur als ein verbliebenes Gespenst aus weit zurückliegender Zeit wahrzunehmen und zu verstehen. Ich lebe offenbar in einem Haus mit vielen nach innen nachgebenden Wänden und mit vielen Schaufenstern, die nach außen blicken, vor denen jedoch nichts geschieht, es sei denn dies, daß vergangene Schlupfwinkel von Gedanken plötzlich erhellt werden und wie Erinnerungen Gestalt annehmen. Wie Maschinenströme, deren Phasenunterschied zwischen Denken und Klopfen nach und nach immer kleiner wird. Es gibt die Schreibmaschine, gewiß, aber ich nähe meine Wörter zu Sätzen, dicht an dicht, und die Vorstellungen, die sie verbinden, sind feine Fäden der Vorhersage verspäteter Erinnerungen an meine Marneschlachten, die mich jetzt irritieren.24

So liest man in einem postum erschienenen Fragment Benses, das den Schreibprozess als kybernetischen Regelkreis zwischen einem Ich und einer Schreibmaschine zugleich thematisiert und präsentiert: eine recherche du temps perdu, die sich dem „Skineffekt der Bedeutungen“ überlässt, der die auf das Papier gestreute „statistische Textmaterialität wie mit einer Haut“25 überzieht.

24 Bense, Max: Der Mann, an den ich denke. Ein Fragment (=edition rot, Bd. 53), Stuttgart 1991, 16. 25 Bense: Aesthetica, 294.

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Viktor Mazin Kettenbriefe: π oder … Freud, Fließ, Schreber, Cohen, Dupin, Lacan, Markov… π: Zahl und Buchstabe Es wird völlig am Platz sein, nicht über den Mathematiker Andrej A. Markov zu sprechen. Nicht über Markov zu sprechen, sondern über seinen missionarischen Platz. Über jenen Platz, den er einstmals im Text Lacans innehatte. Um den Platz jenes Platzes zu verstehen, wird es nötig sein, eine ganze Reihe topographischer Umplatzierungen vorzunehmen. Wie ist es dazu gekommen, dass der Psychoanalytiker Lacan den für ihn grundlegendsten Begriff der symbolischen Ordnung einführte, indem er sich eines Textes von Poe, Edgar Allan Poe, über den Detektiv Dupin bediente, und den Petersburger Mathematiker Markov erwähnte? Dupin und Markov – Glieder einer Kette? Wenn die Verbindung der Psychoanalyse mit der Literatur nicht den geringsten Zweifel hervorruft (was schon verdächtig ist), so rufen die Beziehungen zur Mathematik (auf den ersten Blick) deutliches Befremden hervor. Was kann es zwischen einer Disziplin mit einem unbestimmten, unbestimmbaren Status und der strengen, exakten Wissenschaft an Gemeinsamkeiten geben? Und dennoch gibt

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Viktor Mazin

es gewisse Plätze, an denen die Psychoanalyse und die Mathematik sich treffen. Diese Plätze des Aufeinandertreffens kann man völlig zu Recht mit dem griechischen Buchstaben π bezeichnen. Und zwar deswegen, weil dieser Buchstabe nicht nur ein Buchstabe ist. π ist sowohl Zahl als auch Buchstabe. Mehr noch, in ihm ist sowohl der Zufall als auch die Unbestimmtheit enthalten. In ihm ist Unberechenbarkeit und unendliche Teilbarkeit. In ihm ist Wiederholbarkeit. In ihm ist Rhythmus, Periodizität. Die Periodizität ist einer jener Plätze, an denen sich die Geschichte der Grundlagen der Psychoanalyse entfaltet. Psychoanalytische Thesen sind in der Periodizität zu Hause. Die Periodizität ist der Platz des Aufeinandertreffens zwischen Freud und Fließ. Die Fließ-Freud Perioden: π Gerade in der Polemik mit dem Berliner Forscher Wilhelm Fließ hat Sigmund Freud seine zukünftige Disziplin herausgebildet. Fließ war besessen von Zahlen, Perioden, Zyklen, Wiederholungen. Er war überzeugt davon, dass die Ereignisse des Lebens von Periodizität bestimmt sind. Zum bekannten 28tägigen Zyklus der Frau fügt Fließ den 23-tägigen des Mannes hinzu. Im Laufe mehrerer Jahre verfolgt Freud mit großem Interesse die Theorien von Fließ und folgt ihnen sogar. Er ist begeistert von der Idee einer männlichen Menopause („[…] die männliche Menopause hat mich riesig gefreut […]“)1: Er verfolgt die Periodizität seiner eigenen Angstneurose und versteht sie auf der Grundlage eines physiologischen Periodenmodells. Am ersten März des Jahres 1896 teilt Freud seinem zukünftigen Berliner Freund mit: Die Perioden stellen für die Angstneurosen ein physiologisches Vorbild dar. („Meine Angstneurose getraue ich mich erst jetzt zu verstehen, die Periode als ihr physiologisches Vorbild, […]“2). Er berechnet das Datum seines Todes durch Migräne auf der Basis der Theorie der kritischen Tage des 23-tägigen Zyklus. Er beobachtet 1 Freud, Sigmund: Briefe an Willhelm Fließ 1887-1904, Frankfurt am Main 1986, 184. 2 Ebd., 183.

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Kettenbriefe

die Schaffensperioden seines Sohnes, beobachtet, an genau welchem Tag Martin Gedichte schreibt. Im Hinblick auf den Platz des Aufeinandertreffens Freuds mit den Perioden von Fließ ist ein Brief vom 6. Dezember 18963 besonders bemerkenswert. In diesem Brief legt Freud die Theorie des Gedächtnisses dar, die er im Laufe seines gesamten Lebens immer wieder revidieren wird. Er arbeitet an jener Annahme, dass der psychische Mechanismus*4 mittels Stratifikation in Erscheinung tritt: „[D]as Material, in Form von Gedächtnisspuren repräsentiert, unterliegt von Zeit zu Zeit in Abhängigkeit von neuen Umständen der Umordnung* und der Umschrift*.“5 Das Gedächtnis bildet eine Vielzahl von Niederschriften. Anders gesagt: Das Ereignis wird mehrere Male niedergeschrieben, mindestens drei Mal, aber möglicherweise auch öfter. Die Niederschriften* sind mit ihren Neuronenträgern* verbunden. Dabei gilt es, die Beziehungen zwischen den einzelnen Neuronen nicht topisch zu verstehen! Freud zeichnet ein Schema der Herkunft des Signals im psychischen Apparat.6 Er zeichnet ein vollkommen kybernetisches Schema. W --- WzI --- UbII SIR - > IRS -> SRI -> ISR -> RIS ...) führt. Diese Oszillation im seelischen Apparat des monadischen Subjekts kann, als Gefühl des Herzflimmerns, der Atemnot und des Schweißausbruches in den blinden, vom Großhirn abgekoppelten Körper symbolisch eingetragen, durch gesprochene Worte nicht rückgängig gemacht, und nur durch ziellose Flucht vor dem imaginären Verfolger besänftigt werden: Orson Welles’ Nachwort auf das soeben Gesendete ging zwar über den Sender, blieb jedoch ungehört. Die panische Flucht der Massen vor den äußeren inneren, sprich imaginären Ungeheuern, in ein körperloses Außen projiziert und von der Vielheit der blind fliehenden Herde multipliziert, blieb ausweglos. Erst die Zerstreuung und die gebetsmühlenartige Wiederholung in zwei unterschiedlichen medialen Registern – dem Symbolischen (der Presse) und dem Realen (dem Radio) – es habe sich um eine Fiktion gehandelt, gab, gemeinsam mit der Benennung eines Schuldigen, nach der erschöpften Nachtruhe, jedem individuellen Subjekt seinen je eigenen Glauben an den Spuk als Spuk zurück.

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Bilder, Filme, Sterne

Miranda Jakiša Parallaxe als Programm: die „dialogische“ Sendung des Emir Kusturica

„Moderne Nationen“, so Peter Sloterdijk in seiner 1997 in Berlin gehaltenen Rede Der starke Grund zusammen zu sein, „sind Erregungsgemeinschaften, „hysteroide Stressgemeinschaften“, die sich durch telekommunikativ, zuerst mehr schriftlich, dann mehr audiovisuell erzeugten SynchronStress in Form halten.“ Ihm zufolge sind moderne Nationen nicht das, was traditionelle Historiker vorgeben, daß sie seien, nämlich geschichtliche Begründungs- und Herkunftsgemeinschaften; sie sind vielmehr und von Grund auf psycho-politische Suggestionskörper, die den Charakter von artifiziellen Stressgemeinschaften haben. Sie sind somit von radikal autoplastischer Natur, denn sie existieren nur in dem Maß, wie sie sich selbst erregen, und sie erregen sich nur in dem Maß, wie sie sich selbst ihren Grund, zu sein, in machtvollen fiktiven Erzählungen und autosuggestiv stressierenden Meldungen vorsagen.1

Sloterdijk greift hier die zum Gemeinplatz gewordene Einsicht Benedict Andersons über die Konstruiertheit der Nati1 Sloterdijk, Peter: Der starke Grund zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes, Frankfurt am Main 1998, 42 und 44f.

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on als imagined community auf, geht jedoch davon aus, dass die „horizontale Kameradschaft“2 – der Nationalismusforschung zufolge Konstituens nationaler Gefüge – nur noch durch „Selbsterregungsstress“ und „hysterisierende und panikinduzierende Energien“3 suggeriert und aufrecht erhalten werden kann. Das Konzept der Nation, das seine Karriere auf diskursive Vermittlung (von Tradition) und performative Herstellung (von Gemeinschaft) zugleich baute, hat seine besten Zeiten also überlebt. Homi Bhabha spricht in diesem Zusammenhang von der Ambivalenz des pädagogischen und performativen Diskurses, die Nation ins Leben zu rufen wie zugleich auch zu untergraben zu vermögen.4 Der bosnische Regisseur Emir Kusturica ist als historische Person wie auch mit seiner ‚Kunst‘ zum Teil solchen kollektiverregenden Diskurses (im Sloterdijk’schen Sinne) zu Serbien geworden, die sich im Kontext der Krise des Nationalstaatlichen lesen lässt. Der in Bosnien geborene und heute abwechselnd in Paris und Serbien lebende Filmemacher geriet zunächst – die Ambivalenz des Nationalen an die Oberfläche treibend – mit dem Film Underground nach der Verleihung der Goldenen Palme in Cannes 1995 in die Kritik. Die Vorwürfe, Kusturica habe mit Underground in serbisch-nationalistischen Diensten gestanden und das politische Verhalten Serbiens unter dem Mantel der Jugoslavien-Nostalgie generalamnestiert, verstricken Kusturicas Schaffen in außerkünstlerische Debatten. Aussichtslos versucht Kusturica, sich mit öffentlichen GegenStatements und dem Verweis auf künstlerische Lizenzen zu rehabilitieren. Schließlich lässt er sich resigniert sogar zur Aussage hinreißen, er werde nie wieder einen Film drehen. Der ‚Fall Kusturica‘ setzt in der um ihn geführten Polemik eben jene Energien frei, die Sloterdijk als hysterisierend umschreibt. Kusturica (und auch sein Film) sind dabei nicht Agenten, nicht Sender von Botschaften in der Kommunika2 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York 1983, 16. 3 Sloterdijk: Der starke Grund, 42-44. ��������������������������������������������������������������������� Bhabha, Homi: DissemiNation. Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation. In: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 207-253.

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Parallaxe als Programm

tion der Stressgemeinschaft, sie sind vielmehr Spielbälle der „rundgefunkten Diskurse“, die in neuem Totalitarismus, so Vilém Flusser, Terror ausüben.5 Flusser, der mit seiner Kritik der neuen Kommunikation natürlich keine Medienschelte im Sinn hat, macht deutlich, dass nicht die Technik als solche die Möglichkeiten der Auseinandersetzung im öffentlichen Raum einschränke, sondern der diskursive Charakter der einseitig gerichteten Kommunikation. Der eindeutige Fluss der Botschaft im Diskurs hat eine spezifische Stimmung zur Folge. Die Botschaft wird weitergegeben, (Tradition), und geht weiter, (Fortschritt). Ganz anders die dialogische Stimmung. Weder Tradition, noch Fortschritt, sondern Verantwortung kennzeichnet Dialoge. Verantwortung soll hier die Möglichkeit einer unmittelbaren Antwort auf empfangene Botschaften heißen.6

Emir Kusturica, der sich zunächst inmitten einer im Flusser’schen Sinne diskursiven Botschaft wiederfand, auf die Antwort nur sehr mittelbar möglich ist, hat – so möchte ich zeigen – ein ‚Gesamtkunstwerk‘ mit sich selbst im Kreuzungspunkt der unterschiedlichen Erscheinungsformen geschaffen, das eine „Wiederbelebung des agonisierenden Dialogs“7 unternimmt, wenn nicht erzwingt. Zunächst einmal zurück zu den Erscheinungsformen des Kusturica-Universums 8 und damit den Botschaften Emir Kusturicas. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut ist eine der treibenden Kräfte in der stressierenden (Hetz-)Kampagne, die auf den Film Underground folgt. Er bezichtigt Kusturica 1995 in Le Monde unter dem Titel L’imposture Kusturica des Verrats an der Heimat und schreibt, der Teufel selbst habe Bosnien nicht schlimmer beleidigen können.9 Der montenegrinische Journalist (und Cousin des Tito-Weggefährten, dann Dissidenten Milovan Đilas) Stanko Cerović stimmt da�������������������������������������������������������������������������� Vgl. dazu in diesem Band: Flusser, Vilém: Fred Forest, oder: Das dialogische Leben, 14. 6 Ebd., 11. 7 Ebd. 15. 8 So der Untertitel der Internetseiten kustupedia, the online encyclopedia on the universe of Emir Kusturica, http://www.kustu.com (3. April 2009). 9 Siehe Le Monde, 2. Juni 1995, 16.

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rin ein, wenn er wiederholt der internationalen Öffentlichkeit die ‚richtige‘ Interpretation zu Underground erläutert. Sie und in ihrer Nachfolge zahlreiche andere Kommentatoren nehmen in einer regen Zeitungs- und Fernsehdebatte Anstoß an der als Verherrlichung Serbiens begriffenen Haltung des Films, der – während Krieg in Bosnien herrscht – ausgerechnet in Beograd von einem Bosnier gedreht wurde.10 Auch die Darstellung einzelner historischer Ereignisse im Film wird als serbophile Zumutung gedeutet. Unter anderem lässt Kusturica in Underground in einem fingiertem Schwarzweiß-Dokumentarfilm die Einwohner Zagrebs und Ljubljanas, somit Kroaten und Slowenen, die nationalsozialistischen Truppen in den 1940er Jahren mit begeistertem Jubel empfangen, während der Serbe Marko (eine deutliche Anspielung auf den mythischen serbischen Helden Kraljević Marko) und der Montenegriner Crni („der Schwarze“, dessen Name für die Zugehörigkeit zur Crna Gora, also Montenegro, steht) im Film für den NOB, den antifaschistischen Widerstand, und für Gesamtjugoslavien stehen.11 Solche wenig originellen Anspielungen auf historische Verstrickungen und Problemlagen Jugoslaviens, mit denen Kusturica das Funktionieren des Nationalen über Selbsterregungsstress vorführt – Sloterdijk hat in eben diesem Autostressierenden die Todeskrämpfe der bürgerlichen Nation erkannt – rufen paradoxerweise selbst einen hysterisierten inter-nationalistischen Chor auf den Plan. Der Zeitschrift Novo sagt Kusturica im Frühjahr 1999, knappe 10 Die bulgarische Filmwissenschaftlerin Dina Iordanova hat die Debatten um Kusturica in ihren Studien: Cinema of Flames. Balkan Film, Culture and Media, London 2001, und Emir Kusturica, London 2002, exzellent dokumentiert. Siehe zu Underground auch Gocić, Goran: The Cinema of Emir Kusturica. Notes from the Underground, London 2001, der Kusturica als Regisseur der Marginalisierten und der Outcasts versteht und sich mit dieser Deutung der internationalen Filmkritik entgegenstellt. 11 Auf der Webseite www.kusto.com finden sich Hinweise, wie Underground zu verstehen sei. Dort findet sich auch die Erklärung der historischen Vorbilder Crnis und Markos: Milan (sic! – eigentlich Aleksandar) Ranković und Sreten Zujović, Titos Weggefährten im ‚antifaschistischen Partisanenkampf‘, Mitglieder der kommunistischen Partei Jugoslaviens und führende Politiker der unmittelbaren Nachkriegszeit. Für die Sichtung und die Kommentare zum Film unter dem Gesichtspunkt ihrer historischen Faktizität danke ich Ulf Brunnbauer vom Südost-Institut in Regensburg.

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Parallaxe als Programm

Abb. 1: Astronomische Parallaxe, Distanzmessung mit dem Erdradius als Basislinie

vier Jahre nach den ersten Attacken auf den Film und seine Person, es bedürfe für die Betrachtung seiner Heimat eines „wandernden Blickpunkts“ und fügt hinzu: „Man muss selber eine Parallaxe sein, um die Welt auf dem Balkan wirklich wahrzunehmen.“12 Kusturicas Selbstbeschreibungsbegriff der Parallaxe zielt auf das Dreieck zwischen Kunstwerk, Künstlerperson und Bezugsrealität und stellt – angesichts der vielschichtigen und widersprüchlichen Aktionen und Reaktionen Kusturicas in der Folge der Underground-Kritik – vielleicht auch den geeignetsten Begriff zur Annäherung an das Gesamtphänomen Kusturica dar.13 Der geometrische Terminus Parallaxe, den Emir Kusturica bemüht, bezeichnet die scheinbare Verschiebung des beobachteten Objekts bei Änderung des Beobachterstandpunkts (Abb. 1). Der Unterschied, den Aristarch von Samos, Entdecker der Parallaxe, ca. 250 v. Chr. zwischen der von Alexandria und der vom griechischen Balkan aus gesehenen Sonnenfinsternis bemerkte, lässt sich durch Fixierung des eigenen Daumens und das Schließen eines Auges nachstellen. Das fixierte Objekt erscheint beim Wechsel des geschlossenen Auges vor einem verschobenen Hintergrund, bleibt dabei aber 12 Siehe Interview mit Emir Kusturica. In: Novo. Politik, Gesellschaft, Wissenschaft. Analysen für Zukunftsdenker 39 (1999), 47. 13 Auch Slavoj Žižek subsumiert später – möglicherweise inspiriert von Kusturica – das Verhältnis von Kunst und Politik unter den Begriff der Parallaxe. Er vergleicht den unauflösbaren, paradoxal anmutenden Zusammenhang beider mit der Möbiusschleife aus der Topologie, vgl. Žižek, Slavoj: Parallaxe, Frankfurt am Main 2009, 9.

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selbstverständlich dasselbe. Das Dreieck zwischen den zwei Standpunkten und dem Gegenstand der Betrachtung lässt mit simplen trigonometrischen Methoden zu, Seitenlängen zu bestimmen, wenn Winkel bekannt sind – und umgekehrt. Kusturica hat mit seinen Filmen, mit der Inszenierung seiner Person und mit Aktionen, die den Rahmen der Kunst verlassen, nicht nur die parallaktische Verschiebung von Standpunkten zum Programm gemacht, sondern dabei auch parallaktische Verfahren und metaphorische Vermessungen zwischen Beobachter und Objekt zu exemplarischer Perfektion geführt. Seine in Bewegung befindlichen Ansichten auf die kulturelle Mitte oszillieren auf den ersten Blick zwischen eingenommener künstlerischer Distanz und serbischem Nationalismus, dem sie mitunter zum Verwechseln ähnlich werden. Auf den zweiten Blick jedoch sind sie Antworten; Sendungen, Emissionen, die Verantwortung (im Flusser’schen Sinne) innerhalb eines für alle zugänglichen und von Kusturica erst ins Leben gerufenen dialogischen Raums übernehmen. Ein solcher Raum, in dem dialogisches Antworten möglich – und vorgesehen – ist, bedeutet für Flusser die Möglichkeit zur Verantwortung als „politische Stellung“.14 Für die Griechen, schreibt Flusser, war Dialog nicht von Politik zu trennen; sie tauschten auf dem Markt nicht nur Waren, sondern eben auch doxai (Meinungen). Kusturica erschafft ein den Austauschmarkt inszenierendes Forum aus den Elementen Film, Filmfestival und Ethnodorf, die ich im Folgenden vorstellen werde. In diese Sequenz: Film – Filmfest – Filmdorf gebracht, wird der sukzessive Übergang der ‚Medien‘ ineinander und jener von der künstlerischen Einzelsendung zum dialogischen Emissionsumfeld simultaner und sich überkreuzender, „politische Stellung“ ins Bild setzender Sendungen sichtbar. Dass dieser Übergang auch die Grenze zwischen diegetischer und außerdiegetischer Botschaft markiert, ist dabei wesentlich. Medium: Film In Kusturicas letztem Balkan-Film Zavet (dt. Versprich es mir!) von 2007 – um mit einem Dialog eröffnenden Film zu begin14 Flusser: Das dialogische Leben, 12.

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nen – hängt in einer der ersten Einstellungen das Portrait des jugoslavischen Literatur-Nobelpreisträgers Ivo Andrić anstelle des Staatspräsidenten in einem Klassenzimmer in Serbien, in dem der einzige verbliebene Schüler im Dorf gerade Russisch-Unterricht erhält. Emir Kusturica spielt hier auf die notorische Russlandaffinität Serbiens und auf Andrićs Status als jugoslavischer Nationaldichter an. Beide Anspielungen verweisen auf Serbien als ideologisches Zentrum des jugoslavischen Sozialismus. Der Autor Andrić als nationale Autorität an der Wand stellt zugleich eine provokative Anspielung auf die um dessen Werk und Person geführte Debatte der 1990er dar, die Andrić von eben jenem nationalem Sockel stieß, auf den er im Film wieder gestellt wird. Ivo-Andrić-Denkmäler wurden im Vorfeld und während der jugoslavischen Kriege gestürzt und dekapitiert. Der Vorwurf, Andrić stelle insbesondere die (südslavischen) Moslems bei seinen Beschreibungen Bosniens abwertend dar, kulminierte zuletzt in der Forderung, ihn posthum als Kriegsverbrecher und Demagogen vor das Haager Tribunal zu stellen.15 Kusturica provoziert mit der Anspielung auf Ivo Andrić im Film Zavet und zwar durch beide Interpretationen, für die Andrić zeitgenössisch stehen kann. Sowohl seine Deutung als sozialistisch-gesamtjugoslavischer, integrativer Nationaldichter (Portrait im Klassenzimmer) als auch der Verweis auf die Absurdität der nationalistisch überreizten Debatten in Fernsehsendungen und der Tagespresse, die Andrićs Erwähnung evoziert, fordern die kulturelle(n) Mitte(n) – sie haben sich nach den jugoslawischen Kriegen vervielfältigt – heraus. Der Film Zavet verweist mit der Anspielung auf die AndrićDebatte auf Kusturicas eigene Rezeption, die den Regisseur ebenfalls im Kreuzfeuer postjugoslavischer Kritik stehend mit historisch-physischer Präsenz bei der Betrachtung des Filmes 15 Muhidin Pasić, Vorsitzender eines Kulturvereins aus Tuzla, bezichtigte in einem Interview mit der bosnischen Tageszeitung Dnevni Avaz am 20. August 1999 Ivo Andrić des „Genozids an den Bosnjaken“ (genocid nad Bošnjacima). Der Kulturverein setzte sich damals dafür ein, eine nach Ivo Andrić benannte Straße in Tuzla umzubenennen. Dieser Initiative gingen die Attacken gegen Denkmäler sowie die literaturkritische und rückwirkende Diffamierung Andrićs voraus. Vgl. dazu Rizvić, Muhsin: Bosanski muslimani u Andrićevu svijetu, Sarajevo 1996 und den Sammelband: Maglajlić, Munib: Andrić i Bošnjaci. Zbornik radeva, Tuzla 2000.

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sichtbar macht. Schon bei dieser Evokation der Folie des aktuellen kulturellen Hintergrundes findet eine parallaktische Verschiebung zwischen dem ersten, einem primären Beobachterstandpunkt des Publikums (weniger im Sinne Luhmanns als im Sinne einer naiven Beobachterposition), hin zum Standpunkt eines Filmpublikums, das Kusturicas Film aus Warte der Polemiken in der außerfilmischen nachjugoslavischen Gegenwart betrachtet, statt. Die Vermessung des Abstands wird nicht nur erzwungen, auch wird die Identität des beobachteten Objekts evident. Kusturicas Botschaft funktioniert hier über die kulturelle Parallaxe. Der Vorwurf des Kulturverrats selbst wiederum, der Kusturica 1995 in der beschriebenen Weise trifft, steht in einer balkanischen Tradition, die der internen Kritik eine kulturelle Rahmung gibt, auch wenn diese selbst dadurch kaum stichhaltig wird. Von Vuk Branković (dem Mythos zufolge Lazars Verräter auf dem Amselfeld) bis Dubravka Ugrešić (deren Weigerung, ‚kroatisch zu werden‘, im Exil endete) durchzieht Verrat, somit die Kritik, antizipierte, voraussetzbare Loyalität nicht aufgebracht zu haben, die Geschichte und Literatur des in Rede stehenden Kulturraums. Dass eine internationale Kritik in den stressierenden, „selbsterregenden Chor“16 mit einstimmt, ist wohl ebenso sehr der Ausbeute des Balkan als Gegenfolie eines erst durch ihn lichten Europa17 geschuldet, die während der jugoslavischen Kriegsjahre ein neues historisches Hoch erreicht, wie eben der Grenzwertigkeit der Grenzüberschreitungen. Nicht nur die erwähnten prekären Inhalte des Films Underground, sondern auch außerdiegetische Momente, wie die Anwesenheit des Kriegsverbrechers Arkan18 bei der Beograder Premiere, bringen die um Kustu16 Sloterdijk: Der starke Grund, 41. 17 Frei paraphrasiert nach Todorova, Maria: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt 1999. 18 Unter dem Spitznamen Arkan führte Željko Ražnatović die paramilitärische, serbische Freiwilligen-Gruppe Arkanovi tigrovi (dt. Arkans Tiger) in Kroatien und Bosnien und Hercegovina an. Dem bereits in den 70er Jahren international gesuchten Verbrecher werden zahlreiche Morde, sogar Massaker in den Jugoslavienkriegen zur Last gelegt. Nach kurzer politischer Karriere im serbischen Parlament wurde er 2000 in Beograd erschossen. Kusturica könnte zur Zeit der Premiere von Underground an der äußerst kontroversen und in Serbien populären Gestalt neben seiner

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rica geführte Polemik in Gang. Kusturica sendet somit bereits zur Zeit der Underground-Entstehung bewusst provokante und widersprüchliche Signale aus. Medium: Filmfestival Seit Januar 2008 veranstaltet Kusturica das Küstendorf Film Festival, dessen erster Jury – eine erneute Provokation – Peter Handke vorsaß19 und zu dem als Ehrengast der russische Regisseur und Schauspieler Nikita Michalkov, Sohn des Verfassers der sowjetischen und der russischen Nationalhymne, geladen war. Nicht nur ist Michalkov ein Freund Vladimir Putins, auch seine politischen Ansichten (etwa über die serbischen Ansprüche auf Kosova) und sein vehementer Einsatz für die orthodoxe Kirche gaben Anlass zu Kontroversen. Teil der Botschaft besteht offensichtlich aus ihrer Ausschmückung mit widersprüchlichen und kontroversen Gestalten, denen eine proserbische Haltung unterstellt wird. Medienwirksam hat Kusturica sogar angekündigt, einen Film über Eduard Limonov, den Skandalautor und Gründer der National-Bolschewistischen Partei in Russland, zu drehen und mit dieser Parteinahme für einen politisch gänzlich unkorrekten Grenzgänger – Olga Matich hat ihn treffend als „moral immoralist“ und „unceremonious taboo-breaker“20 bezeichnet – seine Kritiker erneut herausgefordert. Limonov ist in den nachjugoslavischen Staaten vor allem bekannt durch sein Treffen mit Radovan Karadžić in den Bergen um Sarajevo 1992. Im Laufe seines berüchtigten Besuchs bei den Četniks, dessen Empörung erregende Mitschnitte die BBC ausstrahlte, durfte Limonov (der, einer Waffe angesichtig, vor laufender Kamera Verstrickung in die Kriege interessiert haben, dass er 1995 unter großer Medienaufmerksamkeit die Turbofolk-Sängerin Ceca heiratete. Als Ehepaar stehen Ceca und Arkan für einen aggressiven ‚Serbismus‘. 19 Zur Debatte um Peter Handke vgl. Deupmann, Christoph: Die Unmöglichkeit des Dritten. Peter Handke, die Jugoslawienkriege und die Rolle der deutschsprachigen Schriftsteller. In: Zeithistorische Forschungen 5. Jg (2008), H. 1, 87-109. 20 Matich, Olga: The Moral Immoralist: Edward Limonov’s Ėto ja – Ėdička. In: The Slavic and East European Journal 30.4 (1986), 526-540, hier 526.

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schwärmt: „ah, a mighty weapon!“) eine Maschinengewehrsalve in die belagerte Stadt Sarajevo feuern. Neben diversen derartigen Ankündigungen geplanter Filmprojekte, die provokante Beteiligungen in Aussicht stellen (laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.04.2008 hat Kusturicas zugesagt, einen Cartoon über das Steuerparadies San Marino zu realisieren), steht vor allem das Küstendorf Film Festival, das in Kusturicas selbst erbautem Ethnodorf (etnoselo) stattfindet, für den fließenden Übergang zwischen Film und außerdiegetischer Realität bei Kusturica. Dieses Küstendorf Film Festival, ein Nachwuchswettbewerb in Absetzung vom Mainstream-Kino, wurde 2008 mit der orthodoxen Beerdigung des Hollywood-Films Die Hard eröffnet. In HappeningManier werden in einem Mitschnitt, der auf den Internetseiten des Festivals in einer offiziellen Version verfügbar ist, Filmrollen zu Grabe getragen. Emir Kusturica, ausgestattet mit Baustellenhelm, begleitet gemeinsam mit einer trauernden Gemeinde, die aus serbischen ‚Mafiosi‘ (Sonnenbrille, überdimensionierte Goldkette), zahlreichen weinenden jungen Frauen sowie weiteren Festivalgästen besteht (unter ihnen der lachende Michalkov), den Sarg. Dieser wiederum wird von einem Schauspieler-Bischof „Stevan Steve Nenadić von der Dabar-Chicago-Massachusetts-Diözese“ (so die Untertitelung im Filmmitschnitt) unter den Worten: „Gott, verzeihe Bruce Willis alle begangenen Sünden...“ (Oprosti, bože, Vilisu Brusu, za sva sagrešenja koje je počinio...) beigesetzt. Die inszenierte Beerdigung, bei der mit ‚westlichen’ Vorstellungen von orthodoxen Trauerritualen und Affektausdrücken gespielt wird, markiert erneut den Grenzgang von Schauspiel und Echtheit; auch erstickt das Hauptverfahren der Übererfüllung, wie die Tatsache, dass Ort des Happenings ein paradoxes Filmkulissen-Ethnodorf ist, jede Authentizitätsidee im Keim, während zugleich das kulturelle Umfeld und damit Serbien als Folie erhalten bleibt. Medium: Küstendorf Das private Ethnodorf Küstendorf (der Ortsname ist nach Kusturicas Spitznamen Kusta gebildet), das Austragungsort

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des Festivals wie der Beisetzung ist, hat Kusturica im serbischbosnischen Grenzgebiet Mokra Gora – an der Drehstätte zu Život je udo (dt. Das Leben ist ein Wunder 2004) – erbauen lassen. Zeitweise wohnt er selbst dort und unterhält ein eigenes Haus für seine Familie. Das freilichtmuseumsartige Dorf ist inzwischen beliebtes Reiseziel serbischer Touristen, die es liebevoll Ethnodorf (etnoselo) und Holzstadt (Drvengrad) nennen und bereitwillig für seine Besichtigung Eintritt bezahlen. Küstendorf (sprich: Kustendorf) besteht aus originalen serbischen Holzhäusern, die Kusturica teilweise sogar an ihren Ursprungsstätten hat ab- und 1:1 wieder aufbauen lassen, weiterhin aus einer nach russischem Vorbild gestalteten orthodoxen Kirche, Gaststätten (die nach Andrićs Romanen oder nach Figuren daraus benannt sind: das Restaurant Prokleta avlija, das Restaurant Lotika, das Café Kod Ćorkana), einem Souvenirshop mit Waren serbisch-ruralen Charakters und weiteren sich in dieses Bild fügenden Ethnoaccessoires wie traditionellen Lattenzäunen, handbemalten Holzschildern und technisch überholten Strommasten. Gleichzeitig sind die 4-Sterne-Hotel-Zimmer des Dorfes, die Gästen (online vorab einsehbar) zur Verfügung stehen, mit WLAN ausgestattet. Die modischen Serbo-Artikel, die angeboten werden, lassen sich ebenfalls nicht unter dem Label rückwärtsgewandter Authentizität verkaufen; unter ihnen finden sich etwa Gummistiefel mit Häkelbesatz, die wie die Internetzugang gewährenden Zimmer in Bauernhäusern die Bruchlinie zwischen globalisierter Moderne und zurückgebliebenem Balkan an die Oberfläche treiben.21 In Küstendorf steht ein zur Stretchlimousine umgebauter Trabi (ein Filmrequisit) auf dem zentralen Platz unter dem Glockenturm der Kirche und kommentiert den Umbruch nach 1989/91, der in Beziehung zur Re-Orthodoxisierung Serbiens gesetzt wird. Die Hauptstraße durch Küstendorf, von der alle anderen abzweigen, trägt den Namen Ivo Andrićs, Seitenstraßen sind benannt nach dem argentinischen Fußballer Diego Maradona (über den, als seelenverwandten Provokateur verstanden, Kusturica in Cannes im Mai 2008 den Dokumentar21 Sein Ethnodorf versteht Kusturica als ein gegen die Globalisierung gesetztes Zeichen, wofür das Dorf 2005 mit dem Philippe Rotthier European Prize for Architecture for town and city reconstruction ausgezeichnet wurde.

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film Maradona erstaufgeführt hat), nach Che Guevara, nach dem jugoslavischen Komiker Čkalja, nach dem Sänger von The Clash, Joe Strummer, dem serbischen Tennisspieler Novak Đoković sowie nach den Regisseuren Fellini und Bergman und weiteren. Küstendorf, eine der Touristenattraktionen im heutigen Serbien, ist mit Begleittexten und Photogalerien, die Einblick in das Dorf und in das Interieur der Häuser erlauben, im Internet vertreten und von überall her einsehbar oder in der Sprache des Netzes: besuchbar.22 In Serbien selbst scheint die Wahrnehmung des Dorfes als die serbische Tradition und Kultur glorifizierendes Museum dominant, das sich der internationalen Ächtung Serbiens entgegensetzt. Doch nicht nur mit dem Ethno-Aktivismus, der die Rezeption Küstendorfs dominiert, mit der Faszination für und der Arbeit Kusturicas mit den Konzepten Kulisse und Dreh, mit der Einbindung serbophiler und mehr oder weniger kontroverser Künstlerpersonen in das Kusturica-Universum und mit Übergriffen der Filme in die Betrachterrealität23 verwischen sich bei Kusturica die Grenzen zwischen Kunst 22 Vgl. http://www. kustendorf.com (3. April 2009). 23 Der Film Zavet etwa hat eine außerfilmische Dimension: Auf einer in Serbien und Bosnien im Handel erhältlichen DVD-Version ist als erste Tonspur russisch mit serbischen Untertiteln voreingestellt. Will man Kusturicas Film auf serbisch, sprich im Original hören, muss man im Sprachmenü die Option Englisch wählen! Die produktionstechnischen Bedingungen und der Einfluss des Regisseurs auf die DVD-Herstellung lassen sich freilich schwer verlässlich recherchieren und müssen daher (auch wegen der großen Zahl an Raubkopien, die im postjugoslavischen Handel zu finden sind) unter Vorbehalt gedeutet werden. Tut man dies allerdings doch, so befördert diese Voreinstellung der DVD inhaltliche Aussagen des Films, etwa die ironisch auf den Plan gerufene Nähe zu Russland, durch einen materiellen Einbruch in die Realität der Betrachter, die im Wohnzimmer parallaktisch konfrontiert bzw. standpunktverschoben werden. Für eine solche auf den verfremdenden Effekt ausgerichtete Deutung spricht vielleicht auch, dass der Film selbst nicht in den serbischen Kinos lief. Kusturica bestand im Sommer 2007 kurz vor der geplanten Premiere überraschend darauf, ihn nur in seinem eigenen unterirdischen Kino Андерграунд (=Underground in lautorientierter kyrillischer Umschrift) in Küstendorf zu zeigen. Dort ist der Film seit August 2007 unter von Kusturica vorhergesehenen und beeinflussbaren Bedingungen zu sehen, Kusturica hat seine Entscheidung offiziell mit der mangelnden Bild- und Tonqualität serbischer Kinoausstattungen begründet.

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und Nicht-Kunst auf dem Feld des Serbonationalismus. Im Februar 2008 trat Kusturica an der Seite des serbischen Premiers Vojislav Koštunica bei einer Kundgebung Kosovo je Srbija (dt. Kosovo ist Serbien) in Beograd mit einer flammenden Rede auf, die – wie Photos aus der serbischen Tagespresse dokumentieren – dazu führte, dass Tausende der Zuhörer vor die amerikanische Botschaft zogen, um dort US-Flaggen öffentlich zu verbrennen.24 Bereits 2005 erregte er mit seiner ‚Konversion‘ zur serbischen Orthodoxie Aufsehen in der Öffentlichkeit. Unter beifälligen Kommentaren der serbischen Polit- und Religionselite (die Kusturica zu diversen Anlässen gemeinsam vor die Fernsehkameras oder in Festsäle zu bringen vermag!) ließ sich Emir Kusturica unter Hinweis auf die vermeintlich ursprüngliche Herkunft aller bosnischen Muslime im berühmten Monastir Savina bei Herceg Novi zum Nemanja Kusturica taufen. Da diese historisch fragwürdige Genealogie der Bosniaken eine große Rolle in der Legitimation der jugoslavischen Kriege spielte, wurde Kusturicas Aktion, Geschichte auf solche Weise performativ (eine Form des reenactments?) zu leben, als grenzwertige Provokation verstanden, die Mindeststandards kultureller und religiöser Rücksichtnahmen unterschreitet. Die Konversion indes, bei der er seinen muslimischen Namen Emir (arab.: der Fürst, der Prinz) gegen den orthodoxen Nemanja (vermeintlich, wenn auch etymologisch falsch: der Habenichts) tauschte, ist von Bruchlinien durchkreuzt, denn mit ihr reicht die Provokation des Religionswechsels in eine soziale Dimension. Zudem fand Kusturicas Konversion am Tag des Heiligen Georgs statt, ein sprichwörtlich synkretistischer Feiertag auf dem Balkan: Đurđevdan (23. April bzw. 6. Mai nach dem gregorianischen Kalender) ist nicht nur ein orthodoxer Feiertag (in Serbien und Montenegro wie auch in Bulgarien), der Tag wird auch in Kroatien unter den Katholiken als Frühlingsfest mit Feu24 Kusturica, der wesentlich von der Bewegung des Neuen Primitivismus (novi primitivizam), der die jugoslawische Populärkultur der 1980er Jahre dominierte, beeinflusst ist, spricht nach wie vor erkennbar ‚bosnisch‘. Der Neue Primitivismus kokettierte mit der Zurückgebliebenheit Sarajevos und insbesondere mit dem Dialekt seiner Bewohner, der die Rückständigkeit auf einen populärkulturell wieder erkennbaren Punkt brachte. Es stellt ein Kuriosum des Phänomens Kusturica dar, dass er in dieser Sprechweise als ‚serbisch-nationalistisch‘ ernst genommen wird.

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erwerk und Blumen gefeiert. Vor allem aber ist der Tag des Heiligen Georg der wichtigste Feiertag der Roma, den Kusturica auch in seinen häufig im Romani-Milieu angesiedelten Filmen (Time of the Gypsies 1988; Schwarze Katze, weißer Kater 1998) in Szene setzt und der als vorchristlich-heidnischer, integrativer Feiertag gilt. Auch hier wird es bei näherer Betrachtung schwer, Kusturica simplen Ethno-Nationalismus zu unterstellen – auch wenn seine Aktionen zweifelsohne die Limits breiterer Akzeptanz herausfordern. Im Gegensatz zur Antike, in der provocatio ein Recht auf Einspruch bezeichnet, taucht der Begriff der Provokation in der heutigen Rechtsprechung – bezeichnend für seine gegenwärtige Bewertung – nur noch als Herausforderung einer Straftat auf. Provokation wird danach beurteilt, ob der Provokateur (als agent provocateur) seinen „Schadensvermeidungswillen“25 glaubhaft machen kann, oder ob er die Durchführung der provozierten Straftat billigend in Kauf nimmt. Diese Frage ist in der Übertragung auf Kusturicas Gratwanderung zwischen serbischem Nationalismus und künstlerischer Übererfüllung (Slavoj Žižek) schwer zu beantworten. Im Schnittpunkt von Ethno-Begeisterung, Egomanie und Provokationszwang inszeniert sich Kusturica inmitten eines selbstgeschaffenen Serbo-Universums, dessen Elemente um seine Person und um Serbien als Stressgemeinschaft arrangiert werden. Sloterdijk formuliert in der eingangs zitierten Rede zugespitzt, die Existenz jeder Nation hänge von „invasiven und infektiösen autoplastischen Kommunikationen ab, die den Zwang, zu sein und eine Rolle zu spielen, über eine ganze Population verhängen.“26 Kusturicas zum Gesamtkunstwerk inszenierter ‚Turbo-Serbismus‘ setzt diesen Zwang, dem keiner sich zu entziehen vermag, expressiv übererfüllend um. Flusser, um das Problem der diskursiven und dialogischen Kommunikation noch einmal aufzunehmen, glaubt in der Videokunst Fred Forests den Versuch zu erkennen, „mittels Animation“ Dialog zu provozieren, die dem Vorgehen Kusturicas ähnlich sein mag. Flusser schreibt: 25 Der juristische Fachbegriff wird hier zitiert nach Mitsch, Wolfgang: Straflose Provokation strafbarer Taten. Eine Studie zu Grund und Grenzen der Straffreiheit des agent provocateur. Lübeck 1986, 37. 26 Sloterdijk: Der starke Grund, 41.

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Parallaxe als Programm Künstliche Atmung. Das ist, wenn ich ihn richtig verstehe, was Fred Forest sich bemüht, herzustellen. Entmassifizierung also. Re-politisierung. Wiedererweckung der schoepferischen Synthese. Nicht so sehr austauschen, sondern eher einander wiedererkennen und anerkennen.27

Mit etwas Wohlwollen betrachtet, versucht Kusturica, „[u]ns [wieder] verantwortlich zu machen“28 für den „Äther der Gemeinsamkeit, in dem die Träume, die Ressentiments, die Traumatismen und die Hoffnungen der Millionen schwingen.“29

27 Flusser: Das dialogische Leben, 15. 28 Ebd. 12. 29 Sloterdijk: Der starke Grund, 28f.

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Sandra Frimmel Künstlerische Botschaften aus der Lagune. Der sowjetrussische Pavillon auf der Biennale di Venezia 1990 zwischen Modernisierungsbestrebungen und Kulturkolonialismus

[W]enn ich dem Bewusstsein eines Anderen verständlich sein möchte, dann muss ich mich diesem Bewusstsein entsprechend präsentieren, d.h. ich muss der vorgefertigten Meinung des Anderen entsprechen, muss das [...] sagen, was der Andere zu hören erwartet [...]. Eine Nation zu ‚repräsentieren‘ bedeutet, den Mythos über diese Nation adäquat zu formulieren [...].1

Oleg Kireev, russischer Kurator, Kritiker und politischer Aktivist, formuliert prägnant die Voraussetzungen für eine ‚geglückte‘ nationale Repräsentation. Diese war für Russland infolge der Perestrojka von großer Aktualität, da es sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion laut Boris Groys neu erfinden musste.2 Ebenso wie der Staat befand sich auch die russische Gegenwartskunst in den 1990er Jahren in einer schwierigen Konsolidierungsphase. Der Künstlerverband hatte Mitte der 1980er Jahre den Auftrag erhalten, „Moskau bis 1 Kireev, Oleg: Reprezentacija. In: Moscow Art Magazine 23/1999, 14. 2 Vgl. Groys, Boris: Die Erfindung Russlands. München 1995, 7.

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zum Jahre 2000 künstlerisch zu einer modernen Weltstadt umzubauen [und] Kunst von Weltniveau“3 zu produzieren. Als eine der ersten und bis heute meist beachteten (Re-)Präsentationsplattformen für diese neu zu erschaffende aktuelle sowjetische Kunst diente zu Beginn der 1990er Jahre der russische Nationenpavillon auf der Biennale di Venezia. Diese älteste unter einer mittlerweile unüberschaubaren Vielzahl an internationalen Biennalen für zeitgenössische Kunst zeichnet sich durch das Prinzip der nationalen Pavillons aus, denen die Funktion künstlerischer Botschaften zukommt. Infolge der politischen und auch künstlerischen Umbruchsituation und der daraus resultierenden Neuorientierung markiert die Ausstellung von 1990 – Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg – einen nachdrücklichen Wandel in der Bedeutung, die dem Nationenpavillon als internationaler künstlerischer Kommunikationsplattform nach Jahrzehnten der Vernachlässigung während der Sowjetzeit beigemessen wurde. Ihre Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte verspricht daher aufschlussreiche Einblicke in ein sich wandelndes sowjetrussisches künstlerisches Sendungsbewusstsein. Anhand dieser Ausstellung soll beispielhaft analysiert werden, welche Veränderungen und damit verbundenen Schwierigkeiten die institutionellen Umstrukturierungsprozesse von staatlicher Reglementierung zu markt- und publikumswirksamen Strategien aufwarfen und wie sie sich in der Ausstellungspraxis niederschlugen. Der nationalen Repräsentation kommt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu. Der Pavillon als Rezeptionsort der Ausstellung, in der sich das nationale Sendungsbewusstsein manifestiert, dient hierbei als Übertragungskanal. An diesem Platz treffen die mannigfaltigen Faktoren, die zur Entstehung des Ausstellungsprojektes führten, auf ein internationales Kunstpublikum. Dessen Mitglieder interpretieren jeweils aus ihrem spezifischen Kontext heraus die Werkpräsentation, oder besser noch: die künstlerischen Botschaften vor dem Hintergrund der Aufgabe der nationalen Repräsentation. Botschaften dieser Art sind nicht ������������������������������������������������������������������ Eimermacher, Karl: Zur Frage der Evolution von Kunst und Kunstbetrieb während der Perestrojka (1985-1991) in Moskau. In: Peters, JochenUlrich [Hg.]: Enttabuisierung. Essays zur russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien 1996, 45-70, 51.

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als etwas einseitiges oder gar eindeutiges zu verstehen, sondern vielmehr als etwas, das zwischen ihrem Sender, dem Künstler – aber auch den Kuratoren und Organisatoren – und ihrem Empfänger, dem Rezipienten, vermittelt durch die Ausstellung in einem steten Dialog existiert.4 Von hervorgehobenem Interesse ist daher, welchen Stellenwert staatliche Entscheidungsträger, Ausstellungsmacher und Künstler dem Aspekt der nationalen Repräsentation und seiner Vermittlung durch die Kunst beimaßen, bzw. wie sie diese zu realisieren versuchten. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt der folgenden Betrachtungen weniger auf der Analyse der präsentierten Werke, sondern vielmehr auf den strukturellen und organisatorischen Prozessen, die zur Wahl des Ausstellungsprojektes geführt haben. Ein Blick in Rezensionen aus der Fachpresse5 soll die Betrachtungen dieses künstlerisch-nationalen Sendungsprozesses abrunden. Er verspricht Auskunft über das Verhältnis zwischen ausgesendeten künstlerischen Botschaften und ihrer Interpretation. Igor Zabel, slowenischer Autor und Kurator, formulierte es folgendermaßen: [U]m einen Dialog zwischen der Welt des ‚Anderen‘ (des Westens) und (seinen) ‚Anderen‘ zu verwirklichen, sind die Prozeduren der ‚Interpretation‘ und der ‚Erklärung‘ unerlässlich. Dennoch [...] wird jedes beliebige Produkt einer Kultur als ihr ‚Repräsentant‘ verstanden, als Träger ihrer ‚Identität‘. Im Endeffekt wird den Künstlern unabhängig von ihren persönlichen Bestrebungen die Funktion des ‚Repräsentierens‘ jener geheimnisvollen Ecken des Planeten zugeschrieben, aus denen sie stammen.6

Russland und die Biennale di Venezia – ein historischer Rückblick In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts regte die Leitung der Biennale di Venezia jene Staaten, deren Künstler seit ihrer Gründung 1895 regelmäßig in Venedig vertreten waren, dazu an, nationale Pavillons in den Giardini Publici zu erbauen. 4 Siehe hierzu Bal, Mieke/Bryson, Norman: Semiotics and Art History. In: Art Bulletin 73/2, Juni 1991, 174-208. 5 Als Beispiele dienen Rezensionen aus der deutschen Fachpresse. 6 Zabel, Igor: My i drugie. In: Moscow Art Magazine 22/1998, 27-35, 28.

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Nach dem Vorbild der Nationenpavillons auf den Weltausstellungen sollten diese ein Bild der Kunst- und Kulturauffassung des jeweiligen Landes vermitteln.7 Die Stadt Venedig stellte kostenlos das Bauland zur Verfügung; für den Bau und den Unterhalt der Gebäude sowie für die Organisation der Ausstellungen sollten die betreffenden Länder selbst aufkommen. Die Leitung der Biennale di Venezia sah hierin zum einen die Möglichkeit, Organisationskosten einzusparen, zum anderen hoffte man auf einen künstlerischen Wettstreit der Länder untereinander, der die Qualität der Ausstellungen dauerhaft sichern sollte.8 Die nationalen Pavillons in Venedig fungierten somit wie auch schon die landestypischen Bauten, die auf den Weltausstellungen als architektonische Botschaften ihrer Nation dienen sollten,9 als künstlerische Botschaften. Sie symbolisierten und symbolisieren den Stellenwert der Kunst ihres Landes im internationalen Vergleich. Heute wird das Prinzip der nationalen Repräsentation zwar oft als anachronistisches Relikt aus dem europäischen Nationalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritisiert, doch wird es dessen ungeachtet von einem Großteil der Ausstellungsmacher weiterhin befolgt. Künstler, die in den Nationenpavillons ausstellen, sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, ein repräsentatives Bild der Kunst des jeweiligen Landes wiederzugeben sowie zu vermitteln und werden unweigerlich zu künstlerischen Botschaftern ihres Herkunftslandes. Dies schafft ungewohnte Zwänge, aber auch eine besondere Wahrnehmung der Arbeiten und ihrer Bedeutung. Russland verfügte zu Beginn der 1990er Jahre als einziger ehemaliger Sowjetstaat noch über einen nationalen Pavillon (Abb. 1). Dieser war 1914 als einer der ersten von Aleksej Ščusev, dem Architekten des Lenin-Mausoleums in Moskau, in altrussischem Stil erbaut worden. In Zeiten des Kalten Krieges waren die dort ausgestellten Werke beim 7 Das System der nationalen Ausstellungspavillons findet sich zum ersten Mal auf der Weltausstellung 1876 in Philadelphia. Vgl. Friebe, Wolfgang: Vom Kristallpalast zum Sonnenturm. Eine Kulturgeschichte der Weltausstellungen. Leipzig 1983, 50f. 8 Vgl. DiMartino, Enzo: La Biennale di Venezia: 1895-1995. Cento anni di arte i cultura. Mailand 1995, 27f. 9 Vgl. Friebe: Vom Kristallpalast zum Sonnenturm, 50f.

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Abb. 1: Der russische Pavillon in den Giardini Publici, Archiv National Center for Contemporary Arts, Moskau

vornehmlich westlichen Publikum der Biennale meist auf Unverständnis gestoßen, auch wenn der liberalere Teil der staatlich sanktionierten Kunst zu sehen war. Künstler wie Dmitrij Bisti, Aleksandr Dejneka, Vladimir Favorskij, Sergej Gerasimov, Aristarch Lentulov, Vera Muchina, Georgij Nizkij, Aleksej Pachomov, Kuz’ma Petrov-Vodkin, Georgij Pimenov, Arkadij Plastov, Viktor Popkov, Tair Salachov, Valentin Sidorov, Aleksandr Tyšler und Dmitrij Žilinskij sollten die Aufgabe erfüllen, einerseits einer vollständigen Isolation der sowjetischen Kunst zu entgehen, sich andererseits aber nicht zu sehr in einen westlich geprägten Kontext einzugliedern. „Die ideologische Führung strebte nie nach Integration, sondern stand immer der internationalen Kultur entgegen,“10 wie es Vladimir Gorjainov, seit Anfang der 1960er Jahre drei Jahrzehnte lang Kommissar und Kurator des sowjetischen Nationenpavillons in Personalunion, ausdrückte. So kam es, dass im sowjetischen Pavillon Kunstwerke gezeigt wurden, die in der Sowjetunion selbst nur selten zu sehen waren, da sie nicht als linientreue Bilder des Sozialistischen Realismus galten, die aber auch in Venedig nicht besonders hoch geschätzt wurden, weil sie in Form und Inhalt international nicht kompati10 Gorjainov, Vladimir, im Interview mit Sandra Frimmel. Moskau 14.11.2002. Archiv Sandra Frimmel. (Gorjainov 2002)

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bel waren. Mehr noch: Der Wille zur Kommunikation fehlte. Infolge der Auflösung der Sowjetunion suchten sich zahlreiche ehemalige Sowjetstaaten – inklusive Russland – im prestigeträchtigen Kunstbetrieb auf dieser internationalen Plattform neu zu positionieren und zu repräsentieren. Der in Venedig gepflegte künstlerische Nationalismus entsprach nach Jahren der anschwellenden Kritik wieder dem Zeitgeist. Mit der Perestrojka waren alle Institutionen sowie die gesamte Kultur der Sowjetzeit unglaubwürdig geworden oder wurden zumindest als unzeitgemäß empfunden.11 Die Situation der Kunst zu Beginn der 1990er Jahre war geprägt von einem schwierig zu bewältigenden Übergang von alten, ehemals sämtliche Bereiche der Kultur dominierenden staatlichen Strukturen hin zu finanzieller und ideeller Selbstverwaltung der neu entstandenen privaten Initiativen. Um vor diesem Hintergrund als Nationalstaat Anerkennung zu erhalten, zog das sowjetische Russland unter dem Einfluss der Perestrojka (wieder) den Kunstbereich heran. Der sowjetrussische Pavillon 1990 – „Cola Meets Wodka“12 Auf der Biennale di Venezia 1990 sollte im sowjetrussischen Pavillon ein „Durchbruch in eine andere Kunst“13 stattfinden. Vladimir Gorjainov präsentierte die Ausstellung Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg mit Werken junger Moskauer Künstler, der Gründer der Pervaja galereja (dt. Ersten Galerie)14 11 Vgl. Groys: Die Erfindung Russlands, 7. 12 Hübl, Michael: Werkstoff Welt. Die Biennale und ihre Materialien. In: Kunstforum International 109/1990, 263-269, 268. 13 Gorjainov 2002. 14 Zu den Gründern der Pervaja galereja, einer der ersten privaten Kunstgalerien in Moskau, gehörten Ajdan Salachova, Evgenij Mitta und Aleksandr Jakut. Sie wurde 1988 als unabhängige Galerie, der ein Restaurant angeschlossen war, eröffnet. Die Gründung eines solchen Kooperativs, dem es erlaubt war, Kunsthandel zu betreiben, war durch einen staatlichen Erlass vom Dezember 1988 möglich geworden. Die Galerie war allerdings weniger auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet – zu Beginn der 1990er Jahre war es nicht möglich, in Russland von einem einträglichen Kunstmarkt zu sprechen – sondern eher als Treffpunkt und Ort des Austausches gedacht. Kunstwerke wurden gegen Rubel verkauft; das Restau-

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Ajdan Salachova, Andrej Jachnin, Aleksandr Jakut, Evgenij Mitta, Sergej Volkov und Guram Abramišvili. Ihnen zur Seite stand einer der bedeutendsten Vertreter der amerikanischen Pop Art: Robert Rauschenberg. Dieser radikale Schritt, eine deutliche Abkehr von Gorjainovs bisherigem Ausstellungsprogramm der sowjetischen Modernisten und einer verhältnismäßig liberalen Richtung der staatstreuen Kunst, diente dem Ziel, dem Modernisierungswillen des Sowjetstaates unter Michail Gorbačev gerecht zu werden. Eine neue Künstlergeneration sollte die Sowjetunion als zeitgenössischen, modernisierungswilligen Staat, der offen ist für einen nicht nur künstlerischen internationalen Dialog, repräsentieren. Die offiziell anerkannten Künstler eigneten sich hierfür nicht mehr, denn ihre Formensprache hatte auf internationaler Ebene keinen positiven Widerhall gefunden, war nicht verständlich. Gorjainov entschied sich ebenfalls gegen eine Ausstellung der inoffiziellen Künstler, obwohl diesen seit der Moskauer Sotheby’s Auktion 1988 – der ersten Auktion inoffizieller Kunst überhaupt – international große Aufmerksamkeit zuteil wurde. Doch dies hätte bedeutet, die Sowjetunion symbolisch der Unterwanderung durch ihre Kritiker und somit der Auflösung preiszugeben. Gemäß der veränderten Politik der Ideologischen Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei sah sich Gorjainov vor die Aufgabe gestellt, eine künstlerische Nachfolgegeneration zu präsentieren, an der jedoch bis zu diesem Zeitpunkt seitens der parteiinternen Stellen kein Interesse bestanden hatte. Auf seiner Suche nach zeitgenössischen sowjetischen Künstlern wurde er schließlich unter den Kindern der parteikonformen Künstler, deren Wurzeln zwar noch in der offiziellen Kultur lagen, die sich jedoch bereits stärker international orientierten, fündig. Seit 1988 wurden in Moskau im CDCh (dt. Zentrales Haus des Künstlers) Einzelausstellungen bekannter westlicher Künstler rant hatte die Erlaubnis, ‚harte Währung‘, also US-Dollar, anzunehmen. Die Galerie bestand bis 1992. Vgl. Salachova, Ajdan, im Interview mit Sandra Frimmel. Moskau 27.11.2002. Archiv Sandra Frimmel (Salachova 2002); vgl. Eimermacher, Karl/Barabanov, Evgenij: Die sowjetische bildende Kunst vor und während der Perestrojka. In: Eimermacher, Karl/ Kretzschmar, Dirk/Waschik, Klaus [Hg.]: Russland, wohin eilst Du? Perestrojka und Kultur, Bd. 1 und 2. Dortmund 1996, 495-554, 535.

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gezeigt, darunter Günther Uecker (1988), Francis Bacon und Robert Rauschenberg (beide 1989). Anlässlich seiner Ausstellung machte Rauschenberg die Bekanntschaft von Ajdan Salachova – Künstlerin, Tochter eines der ranghöchsten Funktionäre des Moskauer Künstlerverbandes und heute eine der führenden Galeristinn Russlands: Als Rauschenberg nach Moskau kam, lernten wir uns im Atelier von [Zurab] Cereteli kennen. Dort gab es ihm zu Ehren ein Abendessen, und als ich die Gelegenheit hatte mit ihm zu sprechen bat ich ihn, ein Bild für mich zu malen. Er stimmte zu und schenkte mir sogar dieses Bild, ein Gemälde, 1 x 0,8 m, das wir anschließend auf jener Ausstellung zeigten, die wir uns sofort ausgedacht haben: Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg. Gerade erst hatte seine Einzelausstellung im CDCh stattgefunden, und nun hing Rauschenbergs Arbeit auch in einer Gruppenausstellung junger russischer Künstler.15

An der Ausstellung Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg in der Pervaja galereja – die zweite Ausstellung der Galerie bisher – nahmen über 20 Künstler teil, deren Werke als Reaktion auf Rauschenbergs Gemälde, sein Geschenk an Salachova, geschaffen worden waren. Da sie zeitgleich zu den Vorbereitungen der Biennale di Venezia gezeigt wurde, stieß Gorjainov, seiner neuen Order des Zentralkomitees folgend, auf diese Schau junger sowjetischer Künstler. Als wir die Ausstellung auf der Biennale vorbereiteten, hatte der Zerfall der Sowjetunion bereits begonnen. Eine Gruppe junger Künstler – Ajdan Salachova, Ženja Mitta, Aleksandr Jakut und andere – hatte bereits die erste Galerie Moskaus gegründet. Ajdan als Tochter des Sekretärs des Künstlerverbandes [...] hatte Rauschenberg bereits kennen gelernt. Also schlug ich vor, auf meiner letzten Biennale – man hatte mir angeboten, den Posten des Kommissars weiterhin zu bekleiden, doch ich wollte nicht mehr – eine Ausstellung der Pervaja galereja zu organisieren. Dort sollten die jungen Künstler ausgestellt werden und mit ihnen Rauschenberg.16

Die Entscheidung, einen der bekanntesten amerikanischen Künstler – den Staatsangehörigen eines Landes, das während des Kalten Krieges der ärgste Feind der Sowjetunion gewesen war – nun im sowjetischrussischen Pavillon auszustellen, barg Konfliktpotential. Den Modernisierungsbestrebungen 15 Salachova 2002. 16 Gorjainov 2002.

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der Sowjetunion entsprechend sah Gorjainov jedoch gerade in dieser ungewöhnlichen Kombination eines Us-amerikanischen Altmeisters und international völlig unbekannter sowjetrussischer Künstler eine bisher ungekannte Chance zur „juxtaposition of different cultures and generations“.17 Die Möglichkeit, dass plötzlich russische und amerikanische Künstler gemeinsam auf einer Ausstellung gezeigt werden können, kam völlig unerwartet. Doch in den Statuten der Biennale ist nicht festgelegt, dass in den Pavillons ausschließlich Künstler der entsprechenden Nationalität gezeigt werden dürfen. [...] Ständig sprachen wir von Integration, und nun wurde es konkret. Wir zeigten in Moskau und auf der Biennale einen amerikanischen und junge russische Künstler [...]. All das, der Amerikaner und die jungen Russen, sorgte für eine völlig neue soziopolitische Situation.18

Ursprünglich sollte die Ausstellung aus der Pervaja galereja in leicht veränderter Form nach Venedig übernommen werden, doch die improvisierten Werke hätten nicht dem sowjetrussischen Repräsentationsbedürfnis auf der künstlerischen Nationenschau genügt. Daher wandte sich Salachova mit der Bitte an Rauschenberg, ein größeres, „standesgemäßeres“ Gemälde zu schaffen: Ich habe Robert angerufen und ihm erzählt, dass der Kommissar des russischen Pavillons dieses Projekt im russischen, genauer natürlich im sowjetischen Pavillon ausstellen möchte. Selbstverständlich hätte es keinen Sinn gemacht, das kleine Gemälde, das in zwei Stunden gemalt worden war, auszustellen. Ich fragte ihn also, ob er denn nicht etwas speziell dafür malen könne? Er sagte ja. Das Gespräch war tatsächlich so simpel.19

Rauschenbergs unkomplizierte Zustimmung ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er nach seiner Teilnahme an der Biennale di Venezia im Us-amerikanischen Pavillon 1964 hiermit nochmals die Möglichkeit erhielt, in hervorgehobener Position auf diesem künstlerischen Großereignis vertreten zu sein. Zudem wurde er als künstlerischer Übervater präsentiert, wie Gorjainov unterstreicht, denn „die Idee [des Projektes] bestand darin, dass junge Künstler, die 17 Gorjainov, Vladimir. In: 44. Esposizione Internazionale d’Arte. Venedig 1990, 230. 18 Gorjainov 2002. 19 Salachova 2002.

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Abb. 2: Pavillon der UdSSR 1990, Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg, Robert Rauschenberg, Orrery (Borealis), 1990 (links), Aleksandr Jakut, Dialogue with Malevich, 1989 (rechts)

sich mit Rauschenberg treffen und seine Bilder sehen, zum gleichen Thema ihre eigenen Arbeiten entwerfen sollten.“20 Der „Meister“ Rauschenberg habe die jungen russischen Künstler sozusagen „trainiert“.21 Wie auch Rauschenberg überarbeiteten die jungen sowjetrussischen Künstler ihre Werke, so dass in Venedig um Rauschenbergs an zentraler Stelle gehängtes, neu geschaffenes monumentales Werk Orrery (Borealis) (Abb. 2, links) die Arbeiten Private Collection und Fog von Guram Abramišvili, Romance von Aleksandr Jachnin, Dialogue with Malevich von Aleksandr Jakut (Abb. 2, rechts), The Devouring of the Red Horse, The First Step in Art und A Jump from Paradise von Evgenij Mitta (Abb. 3), Visual Stimulation und Ba-gua von Ajdan Salachova, Better to See Once..., Eyes sowie There Will Be No More Sunsets von Sergej Volkov gruppiert waren.22 Rauschenberg hatte die Künstler 20 Gorjainov 2002. 21 Ebd. 22 Vgl. Gorjainov 1990, 230. Guram Abramišvili (* 1966 in Moskau): Private Collection, 1990, Fotografie, Öl auf Leinwand, 6-teilig, je 105 x 73 cm; Fog, 1990, Siebdruck, Öl auf Leinwand, 2 x 2 m; Aleksandr Jachnin (* 1966 in Moskau): Romance, 1989, Öl auf Leinwand, 6-teilig, je 1,2 x 1 m; Aleksandr Jakut (* 1956 in Moskau): Dialogue with Malevich, 1989, Öl auf Leinwand, 10-teilig, je

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Abb. 3: Pavillon der UdSSR 1990, Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg, Evgenij Mitta, The Devouring of the Red Horse, 1989 (links), The First Step in Art, 1989 (rechts)

der Pervaja galereja dazu animiert, sich auf die im Westen geschätzte russische Avantgarde zu beziehen, und sie hatten sich danach gerichtet. Aleksandr Jakut – heute ähnlich wie Ajdan Salachova ein bekannter Moskauer Galerist – präsentierte beispielsweise mit Farbe überschüttete Malevič-Kreuze à la Rauschenberg (Dialogue with Malevich). Aus Ajdan Salachovas Sicht war diese Künstlerauswahl „völlig richtig, denn wie hätte man sonst zu dieser Zeit ein internationales Publikum anziehen sollen?“23 Auch Gorjainov begründete im Katalog der Biennale di Venezia sein Konzept, das bereits durch die Ausstellung Rauschenberg to Us, We to Rauschen1,6 x 1,2 m; Evgenij Mitta (* 1963 in Moskau): The Devouring of the Red Horse, 1989, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m; The First Step in Art, 1989, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m; A Jump from Paradise, 1989, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m; Ajdan Salachova (* 1964 in Baku, Aserbaidschan): Visual Stimulation, 1989, Öl auf Leinwand, Polyptichon, 2 x 6 m; Ba-gua, 1989, Öl auf Leinwand, 2 x 3 m; Sergej Volkov (* 1956 in Kazan, Tatarstan): Better to See Once..., 1989, Öl auf Leinwand, Polyptichon, 2 x 6 m; Eyes, 1989, Öl auf Leinwand, 1,2 x 2 m; There Will Be No More Sunsets, 1989, Öl auf Leinwand, 1,2 x 2 m; Robert Rauschenberg (* 1925 in Port Arthur, Texas): Orrery (Borealis), 1990, Blechblasinstrument auf Messingtafeln, 246 x 460 x 58,5 cm. 23 Salachova 2002.

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berg vorgegeben war, mit einer geistigen und historischen Verbundenheit der teilnehmenden Künstler untereinander. But most importantly – the same freedom in the choice of means, the same absence of respect for traditions and authority! And such an acknowledged teacher, Rauschenberg, without thinking, agrees to participate in an exhibition with the artists of the First Gallery. He even made a painting and presented it to his colleagues in Moscow.24

Er sah „A ball of dialogues! A dialogue of generations.“25 Doch diese Euphorie währte nicht lange. Ungeachtet der ungekannten kuratorischen und künstlerischen Freiheiten musste sich Gorjainov das Scheitern seines Auftrags, eine sowjetische Gegenwartskunst beinah aus dem Nichts zu erschaffen und sie darüber hinaus international öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, eingestehen: Das war ein Durchbruch in eine andere Kunst. [...] Dennoch reagierte das Publikum 1990 nicht mit besonderer Begeisterung, denn es schien, als habe man das alles früher schon einmal gesehen. Zu Sowjetzeiten wurde zumindest gekichert und gelacht angesichts dessen, was im russischen Pavillon gezeigt wurde, weil die Kunst so völlig ungewohnt war. Aber auch 1990 gab es keine Offenbarung.26

Ähnliche Ansichten vertrat auch die Fachpresse, die den Beigeschmack des amerikanischen Kulturkolonialismus und die Einführung der modernisierten sowjetrussischen Kunst gleich einem Kind an der Hand des ehemaligen Klassenfeindes deutlich kritisierte. Im Kunstforum International war zu lesen: Die Not: Im Osten bedrängt sie als negative Perspektive den Künstler. An den Malern, die im Pavillon der UdSSR ausstellen, ist sie wohl fürs erste vorbeigegangen – dank ‚Uncle Bob‘. Denn Robert Rauschenberg hat einige junge Leute aus dem Programm der Moskauer Pervaja galereja unter seine Fittiche genommen, die nun in Venedig als Inbegriff des neuen Russland vorgestellt wurden. Sich selbst gönnte Rauschenberg eine Geste künstlerischer Entwicklungshilfe in Gestalt einer Schenkung [...]. Gülden ist der Hintergrund des echten Rauschenberg, der jetzt im ideellen Mittelpunkt des sowjetischen Pavillons hängt [...]. Die Absicht 24 Gorjainov 1990, 231. 25 Ebd. 26 Gorjainov 2002.

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Künstlerische Botschaften aus der Lagune ist edel: ‚It’s designed for peace and interchange‘, erklärt Rauschenberg und lässt es sich doch nicht nehmen, den Beweis für seinen persönlichen Einsatz in der Manier des großen Bruders zu inszenieren, der es sich einfach erlauben kann, großzügig mit Dollarbündeln zu fächeln: ‚I pay for the whole thing, you can check my pockets‘.27

Auch die Zeitschrift Art bewertete die Zusammenführung der so gegensätzlichen Künstler mit Vorsicht. Und die Sowjetunion riskiert diesmal die ganz große Geste. Sie öffnet ihren Pavillon jungen Moskauern, die 1988 mit dem amerikanischen Star Robert Rauschenberg Kontakt aufgenommen hatten. Sie befolgten seinen Rat, bei der eigenen Avantgarde eines Kasimir Malewitsch anzuknüpfen und fügten nun ihren respektablen Versuchen ein großes Bild ihres Entwicklungshelfers hinzu.28

Wie diese Pressestimmen verdeutlichen, lässt sich der Beigeschmack des amerikanischen Kulturkolonialismus nicht leugnen: Eine junge, möglicherweise noch nicht genügend gereifte und zudem aus den offiziellen Reihen des staatlichen Kunstbetriebs gespeiste Künstlergeneration, die das erneuerte Sowjetrussland repräsentieren sollte, war dazu angehalten, künstlerische Einigkeit mit dem jahrzehntelangen Erzfeind zu demonstrieren, sich von ihm inspirieren und belehren zu lassen. Mythos und Wirklichkeit Die staatlich angeordnete Produktion von „Kunst von Weltniveau“29 hatte der zu modernisierenden sowjetrussischen Kunst 1990 weniger zu einem „Durchbruch“ verholfen, sondern vielmehr zu einer Unterordnung unter ein amerikanisch geprägtes Kunstverständnis geführt. Damit wurde zwar ein Bild der sich neu definierenden Nation vermittelt, aber weniger idealtypisch als von den Auftraggebern gewünscht. Die sowjetrussischen Künstler sagten, „was der Andere zu hören erwartet“: Auf Rauschenbergs Anregung hin hatten sie 27 Hübl: Werkstoff Welt, 269. 28 Nemeczek, Alfred: Amerika verkauft sich am besten. In: Art. Das Kunstmagazin 7/1990, 35-37, 37. 29 Eimermacher: Zur Frage der Evolution, 51.

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versucht, an die Traditionen der russischen Avantgarde anzuknüpfen, deren Formensprache und Inhalt einem westlichen Publikum bekannt und verständlich waren. Doch noch waren sie nicht in der Lage, „den Mythos über [ihre] Nation adäquat zu formulieren“ – ein Mythos, der durch die Perestrojka ins Wanken geraten war und durch sie neue Formen annehmen sollte. Sie stellten sich in den Schatten eines „großen Bruders“, ihres „Entwicklungshelfers“ Robert Rauschenberg, der im Rahmen dieser Ausstellung eher die Verbreitung seines eigenen Mythos betrieb. Ein grundlegendes Manko der Umstrukturierung des sowjetrussischen Kulturbetriebs, das auch in den Folgejahren eine Rolle spielen sollte, scheint hier bereits auf: die unbesehene Übernahme westlicher Vorbilder ohne Anpassung an die lokale Situation. Begreift man den Auftrag der nationalen künstlerischen Repräsentation jedoch unmittelbar als Wiedergabe des – wie auch immer gearteten – State of the Arts des jeweiligen Landes, so hat das Projekt seine Aufgabe erfüllt, obwohl die Werke keine künstlerische Offenbarung bereit hielten, denn in ihm spiegelte sich deutlich die Umbruchsituation in der Sowjetunion wider: die Auflösung alter Strukturen, die Suche nach neuen Wegen, die Unmöglichkeit, binnen kürzester Zeit Anschluss an das internationale (Kunst-)Geschehen zu finden, der Versuch, an historische Vorbilder anzuknüpfen und sich gleichzeitig nach vorn zu orientieren. Bemerkenswert an der Entstehungsgeschichte der Ausstellung Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg ist das ausdrückliche, vor 1990 nicht vorhandene Repräsentations- und Sendungsbewusstsein, das Sendungsbedürfnis vor allem der Organisatoren, aber auch der Künstler. Dieses ist wohl – wie sich bereits 1990 ankündigte – infolge des Wiedererstarkens von Diskursen des Nationalen zu sehen, die aus der territorialen und politischen Destabilisierung resultierten. Nationale Repräsentation wurde im Laufe der 1990er Jahre zu einer zentralen Aufgabe auch der Kunst. Dies hat seine Ursache nicht zuletzt in der seit der Perestrojka grundlegend veränderten politischen Situation, in deren Zuge eine prestigeträchtige Plattform wie der Nationenpavillon auf der Biennale di Venezia dankbar genutzt wurde, um die russische aktuelle Kunst kontinuierlich in einen internationalen Diskurs zu integrie-

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ren. Den Beginn machte das Projekt Rauschenberg to Us, We to Rauschenberg, das jahrzehntelang verschlossene künstlerische Kommunikationskanäle wieder öffnete und dauerhaft durchlässig machte.

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Peter Berz studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Promotion (08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, 2002) und Habilitation (Programm und Umgebung. Zwölf Studien zur historischen Medientheorie, 2008) in Kultur- und Medienwissenschaft. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Differenz von technischen Systemen und Lebewesen, die Wissens- und Mediengeschichte dieser Differenz, wie sie sich besonders in nicht-darwinistischen Biologien und Naturphilosophien darstellt. Robert Dennhardt studierte Kulturwissenschaft, Philosophie und Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. 20042007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik in der (Forschergruppe Bild-Schrift-Zahl). 2008 Promotion zum Dr. phil. mit der Dissertation Die FlipflopLegende und das Digitale. Eine Vorgeschichte des Digitalcomputers vom Unterbrecherkontakt zur Röhrenelektronik 1837 – 1945. Dmitri Dergatchev studierte Jura und Kommunikationsdesign in Kasan’ und Berlin. Entwickelt Animations- und Grafikarbeiten für Filmproduktionen. Lebt und arbeitet in Berlin. Vilém Flusser war Medienphilosoph, dessen zentrales Forschungsthema der Kommunikation gewidmet war. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theorie der Schrift, der Fotografie und der Medien. Sandra Frimmel ist Ausstellungsassistentin im Kunstmuseum Lichtenstein in Vaduz. Sie befasst sich mit zeitgenössischer russischer Kunst, wobei ihr besonderes Interesse der Schnittstelle zwischen künstlerischen und gesellschaftlichen Prozessen gilt. Sie ist als freie Mitarbeiterin für die taz, das Moscow Art Magazine und Artchronika tätig. Sebastian Gießmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor Studium von Kultur-, Medien- und Theaterwissenschaft in Leipzig, Berlin und Toronto. Forschungsschwerpunkte zur Netzwerkgeschichte, Epistemologie der Übertragungsmedien, Bewegungskulturen, Geschichte der

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Druckverfahren, Bildtheorie des Diagramms und zeitgenössischem politischen Film. Wolfgang Hagen ist Privatdozent für Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und Leiter der Abteilungen Kultur und Musik im Deutschlandradio Kultur. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie des Computers, des Radios, der digitalen Bildlichkeit und der Medien. Miranda Jakiša ist seit 2008 Juniorprofessorin für Süd- und Ostslawische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2006-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin und assoziierte Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung im Projekt Topographie pluraler Kulturen Europas. Forscht und publiziert zur Konstruktion Bosniens in literarischen Texten, zur oralen Epiktradition des Balkans, zu Freund- und Feindschaftslogiken in der serbischen, kroatischen und bosnischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Hans-Christian von Herrmann ist seit 2008 Akademischer Rat an der Universität Jena. Er studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Von 1996-2000 war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, danach Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Literaturforschung. 2004-2008 vertrat er die Hochschuldozentur für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorien digitaler Medien an der Universität Jena. Philipp von Hilgers ist Assistent am Seminar für Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Kulturwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Kommunikationswissenschaft in Berlin. 2001-2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mitglied des Hermann-von-Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik, Berlin, im Projekt Bild-Schrift-Zahl. 2006-2008 Postdoctoral Research Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

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Jan van Loh studierte Psychologie an der Freien Universität Berlin und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Kulturwissenschaften. Seine dramatischen Arbeiten wurden in Zürich und Berlin aufgeführt. Viktor Mazin ist Leiter des Museums der Träume Freuds in St. Petersburg und Professor für Psychoanalyse an der St. Petersburger Universität. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Psychoanalyse. Gloria Meynen ist seit Juni 2006 Assistentin im Modul 3 Zeit im Bild des NFS Bildkritik der Universität Basel, 2000–2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschergruppe BildSchrift-Zahl am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin; 1997–2000 Mitglied des Graduiertenkollegs Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ana Ofak studierte Kulturwissenschaft und Soziologie in Berlin, Potsdam und Irvine. Von 2003-2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Berlin. Seit 2008 Stipendiatin am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien an der Bauhaus Universität in Weimar. Uwe Schellinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene. Studium der Geschichtswissenschaft und Theologie in Freiburg i. Br., 1997-1998 Stipendiat der „Kulturstiftung Offenburg“. Wladimir Velminski ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2003–2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik ebd.

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Kultur- und Medientheorie Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Dezember 2009, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

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Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 September 2009, ca. 546 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4

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Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juni 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)

Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008) und Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de