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German Pages 202 Year 2015
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Heimat
GUNTHER GEBHARD, ÜLIVER GEISL ER, 5TEFFEN SCHRÖTER
Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts
[transcript]
(HG.)
Dieser Band wurde gedruckt mitfreundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung.
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld
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INHALT
Vorwort 7
Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung GUNTHER GEBHARD, OLIVER GEISLER, STEFFEN SCHRÖTER
9
Verortung der Erinnerung. Heimat und Raumerfahrung in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit ERTC PTLTZ
57
Jüdische Heimat nach dem Holocaust in Ungarn DOREEN ESCHTNGER
81
Heimat - die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung BERND HüPPAUF
109
>Ostalgie< und >Westalgie< als Ausdruck von Heimatsehnsüchten. Eine Reise in die Traumfabriken deutscher Filme ALEXANDRA LUDEWIG
141
Heimat, wo anders! - Über das Reisen in zwei fiktionalen Texten von Angela Krauß und Christian Kracht STEFFEN HENDEL
161
Formen des Beheimatens in der Heimatlosigkeit. Peter Handkes Erzählwelt und Heimat •um 2000< CHRISTIAN LUCKSCHEITER
179
Autorinnen und Autoren 197
VORWORT
Der vorliegende Band führt eine inhaltliche Auseinandersetzung fort, die im Rahmen des forum junge Wissenschaft unter dem Thema Heimat. Zwischen Lebenswelt und Inszenierung in Dresden an drei Tagen im November 2006, in Diskussionsrunden und Vorträgen, begonnen hatte. In diesem Zusammenhang sei der Robert Bosch Stiftung, dem Kunst- und Kulturverein riesa efau, Valentirr Steinhäuser, Claus Dethleff und allen Helfern sowie - nicht zuletzt - den Autorinnen und Autoren dieses Bandes und den weiteren Beiträgernzumforum gedankt; ohne die jeweilige Unterstützung wäre dieses.forum undenkbar gewesen. Schon während des.forum wurde, nicht zuletzt in der Spannung zwischen interdisziplinären Perspektiven, zwischen Wissenschaftsinteresse und eigenem Vorverständnis sowie zwischen Wissenschaftlern und dem Publikum vor Ort, einmal mehr deutlich, dass es sich bei Heimat um ein höchst umstrittenes wie streitbares Konzept handelt. Und dass weder ein .forum junge wissenschaß noch eine Aufsatzsammlung im Hinblick auf mögliche Zugänge und Themen Vollständigkeit beanspruchen können. Der Band versteht sich auch nicht als ein weiterer Versuch, Heimat zu definieren, sondern er versammelt aktuelle Studien aus Literatur-, Filmund Geschichtswissenschaft, die vor allem der Frage nachgehen, wo, wann und wie Heimat thematisiert und konzeptualisiert wurde und wird. Es wird also an einzelnen Lektüren und Überlegungen erprobt, was als eine historische Perspektive notwendiger Impuls für eine Beschäftigung mit Heimat sein könnte.
Dresden im Juli 2007 Gunther Gebhard, Oliver Geister, Ste.ffen Schröter
HEIMATDENKEN: KONJUNKTUREN UND KONTUREN. STATT EINER EINLEITUNG ÜUNTHER ÜEBHARD, OLIVER GEISLER, STEFFEN SCHRÖTER
»Heimat bedeutet fur verschiedene Leute Verschiedenes.« Alfred Schütz, Der Heimkehrer (1945)
Auf einen Begriff gebracht scheint >Heimat< nicht zu haben zu sein. Davon zeugen nicht zuletzt die unzählbaren, miteinander konkurrierenden Versuche, ihrer definitorisch habhaft zu werden, die sich durch die Jahrhunderte hindurch beobachten lassen. So arbeiten sich etwa im 20. Jahrhundert unzählige Autoren und Publikationen an dem Konzept >Heimat< ab und versuchen, es auf einen Begriff zu bringen. Und meist steuern diese Ansätze auf die Einsicht zu, dass Heimat ein Wort ist, das eine große Bedeutungsvielfalt in sich einschließt, mithin von Unschärfe oder Mehrdeutigkeit geprägt ist (exemplarisch dazu Bausinger 1984: 11; vgl. auch Hüppauf in diesem Band) und entsprechend eine potentiell unabschließbare Begriffsarbeit einfordert. Heimat kann in diesem Zusammenhang als Provokation der Begrifflichkeit verstanden werden, da das »Definitionsbegehren« (Blumenberg 2007: 37), welches als Movens der Thematisierung von Heimat zugrunde liegt, nie durch sprachliche Eindeutigkeit erfüllt werden kann. Hans Blumenberg hält in seinen Notaten zu einer Theorie der Unbegrifflichkeit als allgemeinen theoretischen Rahmen fest, was für die Frage nach der Bestimmung von Heimat geltend gemacht werden kann: Nämlich, dass das Undefinierbare nur allzu oft »aus der Notwendigkeit der Sache heraus« zu erklären ist, und er plädiert dafür, die »Unbegrifflichkeit« in den »Dienst des Begriffs« (ebd.: 51) zu nehmen. Hier wäre also eine Möglichkeit angelegt, dem Begriff beizukommen, wenn man seine definitorische Widerständigkeit produktiv anverwandelt. Insofern lässt sich bei Heimat weniger von einem Begriff- im Sinne von etwas klar und eindeutig zu Definierendem - sprechen;1 vielmehr ließe sich Heimat als Assoziationsgenerator begreifen? Diese Probleme fUhren dann beispielsweise dazu, dass eine der (wenigen, dafür aber immer wieder zitierten soziologischen) Studien zum Problem Heimat, Reiner Treinens Arbeit zu >symbolischer OrtsbezogenheitVerweigerung< von Heimat bedeutet aber nicht, dass man nicht eine Reihe von Deutungstraditionen rekonstruieren könnte, die jene Überschaubarkeit auf den Weg brächten, die das Konzept selbst nicht bereit zu stellen scheint. Raum, Zeit und Identität drängen sich angesichts der Deutungsgeschichte von Heimat als Vokabeln auf, die Dimensionen angeben, welche sich durch die verschiedensten Heimatkonzeptionen durchziehen und an die sich verschiedene Bestimmungen anlagern. So finden sich viele Herleitungen, die Heimat als Näheverhältnis von Mensch und Raum vorstellen, das Identifikation und Identität hervorbringt. Und zumeist ist diesem Konzept eine zeitliche Dimension- etwa durch Begriffe wie >GeburtKindheit< oder die Verlagerung der >Heimat< in die Zukunft - eingeschrieben. Heimat sei beispielsweise »der Ort, das Land, wo jemand daheim ist, d.i. sein Geburtsort, sein Vaterland« (Krünitz 1773ff., Bd. 22: 797); eine »Bezeichnung für den Geburtsort, auch für den Ort, wo jemand sein Heim, d.h. seine Wohnung, hat« (Meyers Konversationslexikon 1885ff.: 300); oder meint »das land oder auch nur de[n] Iandstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat« (Grinun 1854ff. Bd. 10: Sp. 864). Die Reihe ließe sich fortsetzen und würde doch immer die Denkfigur der menschlichen Gebundenheit an einen überschaubaren oder als überschaubar gedeuteten Raum fortschreiben. Beschrieben wird ein mehr oder weniger diffuses Zugehörigkeits- und Vertrautheitsgefühl zu einem begrenzten Territorium. Dieser Lebensraum stellt Routinen und Erwartbares bereit. Die sprachlichen Umkreisungen und zu Formeln erstarrten WendungenHeimat als >der Ort, wo jemand daheim ist< - deuten dann aber auf die im Untertitel eine >soziologische Untersuchung zum Heimatproblem< verspricht, aber schon auf der zweiten Seite davon Abstand nimmt, Heimat als sinnvoll operationalisierbare Begrifflichkeit nutzen und anstatt dessen »ohne Rekurs auf den Begriff >Heimat< einen allgemeineren Bezugsrahmen« (Treinen 1965: 74) entwickeln zu wollen. 2 Auffallend ist ferner, dass Heimatdenken in den seltensten Fällen ohne Emphase und Engagement auskommt. Man muss diese nicht zwangsläufig als ideologisch bezeichnen, obwohl sich doch ideologische Momente hin und wieder beobachten lassen. Das Movens zum Heimatdenken und der Grund für die häufig damit einhergehende Emphase liegt eher darin, dass das Konzept Befindlichkeiten hervorruft. Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist die im Vergleich zu anderer >HeimatHeimat< mit >Heimat< zu erklären. Die Deutungsgeschichte hält neben dem Dreiklang von Raum, Zeit und Identität noch ein Charakteristikum des Begriffs bzw. Konzepts >Heimat< bereit, auf das hinzuweisen ist, will man den Rahmen dafür abstecken, wie und unter welchen Bedingungen Heimat thematisiert wird und womöglich werden kann. Ein, vielleicht sogar der entscheidende Aspekt für eine Aufklärung über die grundsätzliche semantische Widerständigkeit von >Heimat< ließe sich in der Trias Verlust- DistanzierungReflexion fassen. »Der HERR der Gott des Himels, der mich von meines Vaters hause genomen hat vnd von meiner heimat ... « (1 Mose 24.7), übersetzt Luther und lässt >Heimat< prompt als etwas erscheinen, das dann erwähnenswert wird, wenn es verloren scheint. Wenn Bausinger (vgl. 1984: 12f.) davon spricht, Heimat sei jahrhundertelang mit dem Besitz von Haus und Hof verbunden gewesen, und in diesem Zusammenhang auf den schwäbischen Satz »Der Älteste kriegt die Heimat« - eben den Hof meinend - verweist, so ist auch hier zumindest implizit mit gesagt, dass die jüngeren Geschwister von einem Verlust betroffen waren. In diesem Sinne würde Heimat als etwas Bezeichnetes, mithin also die Rede von Heimat, überhaupt erst unter den Bedingungen ihres - zumindest drohenden - Verlustes plausibel. 3 Pointiert gesagt: »um über Heimat zu schreiben, muß sie schon verloren sein« (Kittler 1986: 153). Erst der geglaubte Verlust ermöglicht das entscheidende Moment der Distanz in dem Sinne, dass hier das unhinterfragte Nahverhältnis aufgelöst wird und damit überhaupt erst zum Thema werden und Reflexion evozieren kann. Reflexion bedeutet in diesem Kontext dreierlei. Zum einen handelt es sich bei den vielen Heimat-Thematisierungen um Reaktionen, die - geradezu wie ein Reflex einschnappend - immer dann auftreten, wenn eine der entscheidenden und folgenreichsten Erfindungen der Aufklärung, das selbstidentische Individuum oder kurz: das Subjekt, in Gefahr zu sein scheint. Zum zweiten hat man es mit kognitiven, denkerischen Bewegungen zu tun, so dass diese Reflexe oft in der Form subtiler Reflektionen auf die jeweilige Gegenwart, von Zeitdiagnosen auf höchstem Niveau erscheinen. Drittens lässt sich Reflexion, ganz im Sinne ihrer etymologischen Herleitung, als >Zurückwendung< bzw. >Zurückbiegung< 3
Selbstverständlich kann man Heimat auch als etwas Lebensweltliches, also als etwas, das unhinter- und unbefragt bleibt, konzipieren. So - nämlich im Sinne einer Ontologisierung von Heimat - hätte jede(r) eine solche; sie würde einer Bezeichnung - die schon ein erster Akt der Reflexion wäre nicht bedürfen. Wie alles Lebensweltliche bleibt auch diese >Heimat< sozial und womöglich auch kulturgeschichtlich weitestgehend folgenlos, solange es keinen Grund gibt, sie aus der Sphäre des Unbefragten und Unbezeichneteten herauszulösen. 11
GUNTHER GEBHARD, OLIVER GEISLER, STEFFEN SCHRÖTER
(von lat. re.flectere) fassen - und das, wie gezeigt werden soll, vor allem auf der Zeitdimension, im Sinne einer Rückwendung hin zur >guten alten ZeitHeimat< würde mithin als eine historische und dementsprechend zu historisierende Semantik begriffen, die ihre Plausibilität aus je spezifischen historischen Umständen gewinnt. Es könnte so - selbstverständlich ohne dass dies hier erschöpfend geschehen kann - eine Kulturgeschichte des Heimatdenkens geschrieben werden, bei der es sich um die Geschichte verschiedener Konzeptualisierungen im Horizont des Heimatverlusts handelt, deren Ursprünge sich meist in der christlichen und sicherlich auch antiken - man denke beispielsweise an das Motiv des Heimkehrers in der Odyssee - Tradition orten lassen, und die sich um 1800 unter den Bedingungen der beginnenden Moderne5 formieren und konzentrieren. Die Thematisierungsschübe der folgenden Jahrhunderte lassen sich als Konjunkturen fassen, die vor dem skizzierten Hintergrund des Krisen- und Verlustbegriffs >Heimat< und der vorausgehenden Differenz immer auch politische, soziale und kulturelle >Absichten< transportieren. >Heimat< fungiert in der jeweiligen Verwendung als Behältnis, das Ordnungsmodelle und Grenzziehungen, soziale und politische Utopien, Erinnerungen, Prognosen und Versprechen aufzunehmen und zu transportieren vermag; als »Ürientierungsvokabel« (Schmitz 1999: 233) ist sie vielfachen Aneignungen ausgesetzt. Die Thematisierungen von Heimat bringen, so betrachtet, jene Konzepte erst hervor, die sie zu reflektieren und definieren vorgeben. Die Rekonstruktion von Heimat-Konzeptionen 4 Dies ist ein Reflex, der sich immer wieder in Texten zur Heimat beobachten lässt: auch wenn die begriffliche Offenheit und Unschärfe konstatiert wird - sei es nun als Defizit oder als emphatisch gewürdigtes, >subversives< Potential- münden die meisten Überlegungen dann doch in einen lexikonartigen Absatz, der eine Definition bemüht. 5 Diese Formulierung ist selbstredend von der KoseHecksehen These der >Sattelzeit< zwischen 1770 und 1820 grundiert. 12
HEIMATDENKEN: KONJUNKTUREN UND KONTUREN
kann in einer historischen Meta-Perspektive etwa den jeweiligen Status des Fremden und des Eigenen ebenso zur Ansicht bringen wie das Verhältnis zu Fragen der Ökologie; politische Prozesse können verfolgt werden und Ordnungsbegriffe wie Nation, Europa und Globalität ließen sich immer auch von >Heimat< her denken. Heimat-Konzepte stellen in den Koordinaten von Raum, Zeit und Identität sowie im Horizont des Verlusts je eigene Strategien der Beheimatung bereit und lassen sich, so die den folgenden Ausführungen zugrundeliegende Überlegung, in Thematisierungsschübe und Konjunkturen fassen. Die Rede von >Konzepten< meint dabei nicht, dass es sich um als solche ausgewiesene handeln müsste. Romane, Gedichte, Essays, philosophische oder politische Schriften beispielsweise können >Heimat< verhandeln, und ihre Konzepte, Konzeptionen oder Konzeptualisierungen von Heimat sind den verschiedensten Texten eingeschrieben. Alle diese lassen sich als ordnende Erzählung und erzählte Ordnung lesen; dies heißt, sie fungieren nicht nur als »Indikatoren der von [ihnen] erfaßten Zusammenhänge«, sondern sind ebenso als »deren sie mitgestaltender Faktor zu untersuchen« (von Essen 2000: 22). Und der Begriff der Konjunkturen soll keineswegs zu der Annahme verleiten, dass in den Zeiten zwischen diesen das Thema >Heimat< verschwinden würde; als Topos ist dieses vielmehr seit ca. 200 Jahren kontinuierlich präsent. Konjunkturen meint hier vielmehr, dass Heimat unter historisch variablen Bedingungen auf verschiedene Weise in den Blick kommt. In diesem Sinne verstehen sich die folgenden Überlegungen, die einige6 - mithin keineswegs Vollständigkeit behauptend - dieser Konjunkturen in den Blick nehmen.
>Heimatlos im Heimatlichen< Ein möglicher Auftakt der Konzeptualisierung um 1800 steht im Kontext eines modernen Raumdiskurses und den Fragen nach Nation, 7 Europa 6
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Nicht eingegangen wird beispielsweise auf die Zeit des so genannten Dritten Reiches; nur am Rande berührt werden die Thematisierungen der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, die von der Vertriebenen- und Flüchtlingsdebatte geprägt waren. Im 18. Jahrhundert ist der >HeimatNationgeboren werdenEingeborenEingeborene(r)Heimat< zu gleichsam internalisierenden oder abstrahierenden Konzeptualisierungen führen. In diesem Horizont der Verschiebungen von »Heimat als zunächst objektiver, rechtlicher Kategorie« zu einem »reflexiv-gebrochenen [ . ..], problematisierenden, ästhetisierenden und fo1klorisierenden Bezugs auf Heimat« (Lipp 1997: 57) steht beispielsweise das Hölderlinsche Schreiben über und in der Heimat, das im Folgendem exemplarisch diskutiert werden soll. »Wann drängt es einen dazu, über >Heimat< zu schreiben? Wenn man sich an ihr reibt? Wenn sie einem zu eng wird, zu aufdringlich? Wenn man dabei ist, sie zu verlieren, oder nachdem man sie verloren hat?« (Gömer 2007) Allen diesen Fragen, die Rüdiger Gömer im Zuge einer Lektüre von Hölderlins Gedicht Die Heimat formuliert, liegt eine Dringlichkeit zu Grunde, die sich einstellt, wenn die unhinterfragte und scheinbar unhinterfragbare Einheit von Person und Umwelt prekär wird. Der Status von Heimat im Leben und Werk Hölderlins kann - in aller gebotenen Skizzenhaftigkeit- deren vielfältige Verwendungsweisen und Konnotationen lesbar machen. Orte werden bei Hölderlin nicht selten als Orte des Ankommens und Beheimatens imaginiert; in ihnen lassen sich Freundschaften auffinden, sie sind Schauplatz intakter familiärer Gerrealogien und stellen ideale Formen der Zugehörigkeit vor. Und es handelt sich um Landschaften und Räume des Vertrauten und Erwarteten. Ein Blick auf die Biographie des Autors muss dann aber wie eine Intervention gegen diese idealen Orte der Beheimatung wirken, wodurch etwa Stuttgart als »Fürstin der Heimath!« (Hölderlin STA, II,l: 88) von der adligen Überhöhung in die bürgerlichen Niedenmgen zurückgeworfen wird. Die Gedichte benennen eher eine Sehnsucht, als dass sie Reflexe auf die Lebenswirklichkeit Hölderlins sind. Die Ortsbegehungen des Dichters sind meist utopisch eingefärbt und können als ein Verweis auf ein »eigenes soziales Defizit« (Martini 1988: 214) gelesen werden. Heimat ist in diesem Fall beauf-
Adler 2000) vernachlässigt. Um 1800- als >klassischer< Schwellenzeit- erfahren dann die Begriffe bzw. Konzepte >Heimat< und >Nation< verschiedene Neubewertungen, die einerseits beide Konzepte endgültig kurzschließen oder aber mit Heimat etwas benennen, was die Dimensionen der Nation >Unterschreitetheimatlich< versehen, sondern die literarische Topographie Hölderlins trägt auch der zeittypischen Sehnsucht nach der Ferne und Faszination des Unheimatlich-Fremden Rechnung. Inszenieren zahlreiche Texte ein stabiles, gleichsam unhinterfragbares Näheverhältnis zwischen Mensch und Heimwelt, so bedeutet jenes für Hölderlins Werk so zentrale Motiv des Wanderns (vgl. dazu ausführlich Motte) 1998) eine Aufhebung oder zumindest Störung dieser Einheit. »Komm! ins Offene« (Hölderlin STA II, 1: 84) ist hierfür programmatischer Aufruf zum topographischen Exzess. Sowohl autobiographisch verbürgt als auch innerhalb der literarischen Topographie Hölderlins gibt es heimatliche Räume; aber immer wieder wird die Beheimatung versprechende Einheit von Person und Raum aufgekündigt, da Heimat eine Enge vorstellt, die quer zu der Hölderlinschen Offenheit- »offen, dem Geiste gemäß« (ebd.)steht. In dieser Spannung sind Hölderlins Lebensentwürfe ebenso aufgehoben wie die poetischen Verhandlungen. Es zeigt sich eine Bewegung, die zwischen Anziehung und Abstoßung oszilliert, und die als Grundmotiv heimatlicher Ambivalenz identifiziert werden kann. 8 Hölderlins Texte scheinen darin aufs engste mit der allgemeinen Schwellensituation um 1800 in Verbindung zu stehen. Heimat fungiert, vor allem in den poetisch-lebensweltlichen Entwürfen der Romantiker als »Wunschkategorie des Elementaren« (Schmitz 1999: 230). »>Wo gehn wir denn hin?< - >Immer nach Hause«< (Novalis 2001: 164) - in dieser Formel wird deutlich, wie sehr hierbei reale Orte und Vorstellungen paradiesischer Fluchtpunkte ineinander geschoben sind. Ein Blick auf die Geschichte, sei sie gesellschaftspolitisch, ökonomisch, kulturell oder sozial perspektiviert, zeigt, dass der kleine, überschaubare Raum des Erwartbaren und Vertrauten um 1800 zunehmend prekär erscheint. Oder anders gesagt: durch das emphatische, sowohl vertikale wie horizontale Ausgreifen in den Raum wird der eigene Lebensraum in eine Konkurrenzsituation zu anderen Räumen gedrängt. In alle Himmelsrichtungen machen sich »Aufschreibsysteme unter Segeln« (Bexte 1997: 139) auf, die Grenzen des Unbekannten hinauszuschieben und den Raum des Fremden in Form von Karten, Reisetexten, ethnographischen Sammlungen und ökonomischer Erschließung in die eigene kulturelle Ordnung einzuverleiben. Hierin ließe sich ein Auslöser flir die Heimatkonjunktur
8 Prägnant fasst Fritz Martini (1988: 214) diese Ambivalenz Hölderlins in der Formulierung »heimatlos[ ... ] im Heimatlichen«. 15
GUNTHER GEBHARD, OLIVER GEISLER, STEFFEN SCHRÖTER
um 1800 finden. 9 Hölderlins Thematisierung von Heimat ist, beispielhaft für die Signatur der Zeit, ohne die gesteigerte Mobilität des Menschen um 1800, unabhängig davon, ob sie emphatisch ausgerufen oder als bedrohlich erfahren wurde, nicht zu denken. Raumexpansion und Verunsicherung des eigenen Territoriums greifen ineinander. Hölderlin beschreibt in seinen Gedichten Entdeckerfiguren und Schiffsreisende (z.B. Kolumbus, Vasco da Gama), die gewissermaßen professionell transitorisch agieren und denen das Weggehen und Heimkehren »zur Gewohnheit geworden ist.« (Görner 2007) Deren erntereiche Rücldcehr gleicht einem Triumph: »Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom,/ Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat« (Hölderlin STA, 1,1: 251). Im Gegensatz dazu stehen die Formen der Rückkehr bei Hölderlin selbst, die nur allzu oft einer Kapitulation gleichen oder in den Texten allenfalls als Wunsch artikuliert werden können: »Wohl möcht' auch ich zur Heimat wieder;/ Aber was hab' ich, wie Laid, geerndtet?- « (ebd.) In zahlreichen Gedichten sind die Momente der Rückkehr als Szenen der Verunsicherung und Ungewissheit ob eines gelingenden Ankommens geschildert. Die »[v]erehrte[n] sichre[n] Grenzen« (Hölderlin STA, II,1: 19) sind alles andere als gewiss: »ach! gebt ihr mir, Ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich/ Komme, die Ruhe noch Einmal wieder?« (ebd.: 251), heißt es in Die Heimat in der Fassung von 1798. In der Vokabel >Heimat< sind Strategien der Verortung und Entgrenzungseiltwürfe zusammengedrängt. Und Hölderlins Orten wird eine Ambivalenz und Gleichzeitigkeit von Beheimatung und Raumdurchquerung eingeschrieben. 10 Hölderlins Heimatdenken mündet in der Zeit um 1800 in ein- um es unserer Zeit gemäß auszudrücken - poetologisch-kulturpolitisches >GroßprojektKreuzung der Kulturennatürlicher< Lebensräume gegenüber dem industriellen Fortschritt und allgemein dem, was man unter dem Begriff >Moderne< versammelt. 10 Für diese Verschränkung steht bei Hölderlin sicherlich in besonderem Maße der Fluss. Paradigmatisch sind die fluiden Konnotationen in dem Gedicht Der Nekar (Hölderlin STA 11, 1: 17f.) gestaltet. Der Fluss ist dabei einerseits Element einer vertrauten Umgebung und zentrales Zeichen in den lyrischen Heimatlandschaften, andererseits aber auch Chiffre der Feme und der Öffuung des Raums. 11 Diese prägnante Formulierung findet sich in einem Text von Hansjörg Bay (2003). Inspiriert sind die dortigen Überlegungen von Jürgen Links (1999)
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HEIMATDENKEN: KONJUNKTUREN UND KONTUREN
(insbesondere der Brief vom 4. Dezember 1801; vgl. Hölderlin STA, VI: 425-428) und den poetologischen Ausführungen zu seinen SophoklesÜbersetzungen ausgebreiteten Annahme einer grundlegenden Differenz, einer Alterität zwischen einer süd-östlichen Kultur, nämlich der der (antiken) Griechen, und einer nord-westlichen Kultur, der der Hesperier. 12 Das Verhältnis zwischen Griechen und Hesperiern ist dabei zunächst durchaus antinomisch gedacht; so werden den Griechen diametral differente Eigenschaften zugeschrieben als den Hesperiern. Allerdings haben, so beobachtet Hölderlin, die Griechen ihre charakterlichen Dispositionen durch eine Vermischung mit den Eigenschaften der Anderen in ihrer Potentialität gesteigert: so wurde das >orientalische Feuer< der Griechen mit dem >nüchternen Maß< der Hesperier angereichert. Diese Vermischung, so erklärt Hölderlin, habe zu der eigentümlichen Kulturblüte der (antiken) Griechen geführt, denn das Eigene sei durch den Akt der Vermischung mit dem bzw. der Aneignung des Fremden aus dem NaturhaftDumpfen gehoben und reflexiv angeeignet worden. Ein ähnliches (nur unter umgekehrten Voraussetztrogen ansetzendes) Unterfangen zielt Hölderlin in der Zeit um 1800 auch für den hesperischen Raum an. 13 Poetisch umgesetzt wird es in den fast schon episch anmutenden >vaterländischen GesängenHeimat< sind dabei enggeflihrt; denn »Unfreundlich ist und schwer zu gewinnen/ Die Verschlossene, der ich entkommen, die Mutter« (Hölderlin STA, li, 1: 141), heißt es in Der Rhein. Mit Helmut Motte! (1998: 145) formuliert, geht es in der Hölderlinschen Dichtung um 1800 um die »Gewinnung des Eigenen im Durchgang durch das Fremde«. Man muss sich erst von der »Mutter«, der Heimat lösen, um diese aufschließen, erschließen zu können. Im Fremden lernt man das Eigene kennen, wird das Eigene sichtbar und kann so auf die Stufe der Reflexivität erhoben werden. Man lebt durch die Erfahrung des Fremden nicht mehr bloß in der Heimat, sondern vielmehr mit der Heimat. >Heimat< wird mithin durch die Kreuzung der Kulturen flir das Fremde geöffHölderlin-Rousseau-Studie, die das kulturrevolutionäre Potential Hölderlins auszuloten sucht. 12 Hölderlin fasst unter >Hesperien< im engeren Sinne den deutschfranzösischen Kulturraum; mitunter wird aber auch allgemein das >AbendlandGoldenen Zeitalter< nahelegen). Zum anderen- und eng damit verbunden- kann Aufbruch auch im Sinne eines Aufbrechens oder Öffnens des Heimatlichen verstanden werden. Gemeinsam ist den Texten und dem Denken der Zeit eine Weitung des Horizontes, der auch Heimat nicht unberührt lässt. Durch die räumlichen und zeitlichen Bewegungen werden das Fremde und das Eigene vermengt. Heimat wird damit ihrer Natürlichkeit beraubt, wird dadurch aber, so konnte man bei Hölderlin sehen, erst sichtbar und kann reflexiv, handelnd und kommunikativ, angeeignet werden; Heimat ersteht somit auf einer anderen Stufe neu.
Zwischen Öffnung und SchließungHeimaträume im 19. Jahrhundert Mit offenen Räumen als Faszinosum oder Bedrohung, mit heimatlichen Räumen als Sehnsuchtsorten, Erinnerungen, aber immer auch Beschränkung und mit einem dritten Raum, der Entgrenzung oder Verortung temporär gestattet und den Rahmen für ein selten konfliktfreies Aufeinandertreffen beider Raum- und Lebensentwürfe bietet, sind Verhandlungsweisen von Heimat benannt, die sich im 19. Jahrhundert u.a. in Romanen und Erzählungen verfolgen lassen. Ein kursorischer Blick auf zwei sowohl in ihrer Zeit wie auch wirkungsgeschichtlich überaus prominente Autoren - Gottfried Keller und Wilhelm Raabe - und deren Texte mag dies andeuten. Der Begüm von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, einem Text, in dem Bildungs- und Heimatroman unauflöslich verbunden sind, ist von minutiösen Schilderungen des heimatlichen Landschaftsraums und des Dorfes geprägt; es finden sich, gewissermaßen als heimatlicher Textrahmen, Elemente der Bindung: der Ort, die Familie und der Sozialverband des Dorfes. Heimat ist aber nicht nur Idyll, sondern auch räumlicher
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Ausdruck von Enge, Erwartungsdruck und der Forderung, etwas aus sich machen zu müssen. Dem gegenüber steht ein stets als fremd vorgestellter, aber gleichermaßen Neugierde weckender Außenraum: »die Neugierde, die Hoffnung, Lebens- und Wanderslust hatten ihn [Heinrich Lee; Anm. von uns] mächtig angewandelt.« (Keller 1996: 24) Durch einen Fluss war die heimatliche Gegend immer schon mit der Feme verbunden und so der Bildungsgang Heinrichs topographisch vorbereitet. Der Aufbruch Heinrichs aus der Schweiz in das fremde Ausland, nach Deutschland, bedeutet aber keine Auflösung des Herkunftsraumes im Offenen; ständige Rückblicke durchziehen den Text, deren Aufgabe es ist, den Wanderer tückzuversichem und die Rückkehr am Ende des Textes von Beginn an als verinnerlichte Bilder präsent zu halten. In der Erzählung Pankraz der Schmoller deutet sich dann an, was in der zweiten Fassung des Grünen Heinrich ebenfalls gestaltet wird: die Erfahrungen der Fremde stellen Kompetenzen bereit, die nach der Rückkehr zur Anwendung kommen sollen. Pankraz verlässt Seldwyla, aber nur bis in den Hauptort des Kantons, um dort »mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen ein dem Land nützlicher Mann zu sein und zu bleiben.« (Keller 1989: 68) Ganz ähnlich Heinrich Lee in der zweiten Fassung des Romans: zurückgekehrt in die Sphäre des Vertrauten übernimmt er einen Posten im öffentlichen Dienst und vollzieht somit auf institutioneller Ebene eine Verschränkung der Sphären Heimat und Fremde. Heimat wird aber nicht immer mit den Anforderungen der Modeme vermittelt, sondern vielfach im Zuge von Nationalisierungsdiskursen im 19. Jahrhundert mit existentiellen Bedrohungsszenarien aufgeladen und identitätspolitisch funktionalisiert. Entlang einer zunehmend radikalisierten Trennlinie von Eigenem und Fremdem wird Heimat immer wieder zu einer Verteidigungsvokabel für Areale des Eigenen. »Heimat und Heimatideologie« (Lipp 1997: 53) gehen im 19. Jahrhundert eine Verbindung ein, die sich bis heute immer wieder auffinden lässt: als »Leistungsund Ordnungsgefüge« ebenso wie in den Dimensionen »des Normativen, des Werthaften und der Bewertung« (ebd.: 52f.) soll mit Hilfe des Konzepts >Heimat< Zugehörigkeit und Ausgrenzung geregelt werden. Wenngleich sein Spätwerk eine in vielfacher Hinsicht revidierte und modifizierte Position aufweist, so kann doch Wilhelm Raabes früher Roman Der Hungerpastor (1864) jene Raumlogiken und Exklusionsstrategien vorstellen, für die >Heimat< immer wieder ein dienstbares Konzept bedeutete und deren Macht und Wirkmächtigkeit vor allem in der »Dichotomisierung der Verhältnisse« (Reuter 2002: 204) - der Bestimmung
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von Norm und Abweichung - anzusiedeln ist. Raabes Roman hat an diesem Ordnungsdiskurs teil und entfaltet eine fatale Wirkungsgeschichte. 15 Seine Geschichte der beiden Jungen, dem Deutschen Hans Unwirrsch und dem Juden Moses Freudenstein, ist die Geschichte einer sukzessiven Abgrenzung des Eigenen und Ausgrenzung des Anderen und der Aufkündigung einer deutsch-jüdischen Symbiose, wie sie etwa flir die urbane Salonkultur um 1800 behauptet werden könnte. Auf diese Vorstellung einer Symbiose scheint der Text auch zu rekurrieren, wenn er seinen Ausgang in einer größtmöglichen raum-zeitlichen Verschränkung nimmt: beide werden nahezu zur gleichen Zeit und nur eine Straßenbreite von einander entfernt geboren. Von Geburt an zielt der Text dann aber auf einen wertenden Vergleich der beiden Jungen und entwirft eine Konkurrenzsituation, innerhalb derer Lebensentwürfe und Raumkonzepte verhandelt werden. Dem erhaltenden, auf Tradition gründenden Lebensweg Hans Unwirrschs wird ein zerstörender, bindungsloser Hunger gegenüber gestellt. Moses Freudensteins sozial-ökonomische Karriere gründet, so die Logik des Textes, auf dem Abbruch von Gerrealogien und der Aufkündigung von Tradition und Bindw1g. So wechselt er schließlich auch, nach einer Taufe, seinen Namen zu Theophile Stein und entledigt sich seiner früheren Identität (vgl. Raabe 1961: 232). Auch wenn eine detaillierte Lektüre des Romans im Einzelnen flir die Frage nach Identitätspolitik im 19. Jahrhundert ertragreich sein könnte, sei hier der Blick auf den Fluchtpunkt der Konkurrenzinszenierung gerichtet. Hans Unwirrsch fühlt bei einer Wiederbegegnung mit Freudenstein/Stein »was der Haß sei; er haßte die schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur, die sich einst Moses Freudenstein nannte[ ... ].« (ebd.: 265) Der Haß richtet sich dabei vor allem aufjene >Anfechtungen< der Modeme, die im Laufe des Textes der jüdischen Figur eingeschrieben werden. Freudenstein/Stein lebt in Paris, dem Sinnbild von Offenheit, Kosmopolitismus und ästhetischer Modernität im 19. Jahrhundert. Zudem wird Moses als Hegelianer - also >Liberaler< - geschildert, und er verkörpert einen Relativismus, der jegliche identitätspolitischen Programme zu unterlaufen scheint: »Moses Freudenstein stand natürlich dem deutschen Vaterland ebenso objektiv gegenüber wie allem andem, worüber sich reden ließ.« ( ebd.: 121) Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit seinem Schulfreund formiert sich Hans Unwirrschs Diagnose seiner Zeit. »Die Welt war zu einem Durcheinander geworden, in dem es keinen Halt mehr gab.« (ebd.: 411)
15 Als frühes Zeugnis sei auf einen Artikel in der Deutschen Landeszeitung vom 25.2.1881 mit dem Titel Mit dem Hungerpastor im Antisemitismuskamp/verwiesen. Belege dazu bei Fuld (1993: 297).
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Der Roman ist Mitschrift einer »tiefgreifende[n] Orientierungskrise« (Plumpe 1996: 25), die schließlich in einem Stabilität versprechenden Konzept aufgefangen wird. Es wird zuletzt mit Unwirrschs Pfarrstelle in Grunzenow an der Ostsee ein Ort vorgestellt, der in seiner Überschaubarkeit nahezu paradigmatisch für eine »Immunisierungsstrategie« (Hannig 1984: 131, zit. n. Kömer 1997: 20) gegenüber der Haltlosigkeit der Modeme steht und der wiederholt als Heimat apostrophiert ist. Es handelt sich um einen Ort bürgerlicher Selbstlimitierung, der die oftmals neidvollen Blicke Hans Unwirrschs auf die Aufstiegsgeschichte Freudensteins in Form eines Heimat- und Identitätskonzepts der Beschränkung kompensiert w1d das Gegenprogramm zu den kulturkritischen Diagnosen des Erzählers bedeutet. Die als entgrenzt und unstrukturiert wahrgenommene modeme Welt lässt sich durch die von Raabes Text vollzogenen Dichotomisienmgen in »Räume des Vertrauten, Gewohnten und Normalen, die innerhalb der Grenzen liegen, und in Fremdes, Ungewohntes und Außer-Ordentliches im >Draußenich verortetstellvertretend< bekämpft oder diszipliniert werden können.« (Surynt 2004: 40) Schließlich wird die Figur selbst aus dem Text verbannt und im Akt des Erzählens für tot erklärt. Vor dem Hintergrund einer Selbst-Disziplinierung und -Definition des bürgerlichen Subjekts werden symbolische Orte - Lager - textlich konstruiert, die sich als »Abweichungsheterotopien« beschreiben lassen: »In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm.« (Foucault 1998: 40) In diese Randräume ausgelagert, kann jener >abweichende Andere< gar ausgelöscht werden; es sind die destruktiven Potentiale von ldentitätspolitik, die im Hungerpastor zur Ansicht gelangen. >Heimat< stellt in diesem Zusammenhang ein Konzept dar, dass Identität behauptet bzw. verspricht, dass aber seine Wirkmächtigkeit erst aus der Abgrenzung ex negativo entwickelt. Es gehört zu den
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zynischen Paradoxien der Geschichte, dass der Andere, Fremde benötigt wird, um das Eigene zu konstituieren; und weil man ihn benötigt, wird er ausgelagert, verwaltet und vernichtet. Mit Keller und Raabe zeigen sich zwei mögliche Konzeptualisierungen von >Heimat< im 19. Jahrhundert. Auf der einen Seite lässt sich mit Keller eine Denkungsart von Heimat beobachten, die ähnlich wie bei Hölderlin eher auf Politiken der Vermischung und Vermengung des Eigenen und des Fremden zielt. >Heimat< ist hier als veränderlicher und zu verändernder, mithin also offener Raum gedacht, der Impulse aus der Fremde aufnehmen kann. Auf der anderen Seite zeigt sich bei Raabe ein Heimatdenken, das gerade in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zunehmend an Dominanz gewinnt: ein Heimatdenken, das sich verstärkt antinomisch geriert und das mit Politiken der Exklusion einhergeht. Heimat wird als Schutzraum bzw. als zu schützender Raum gedacht, der statisch ist und von jeglicher >Verunreinigung< durch das Andere freizuhalten ist.
Um 1900: Heimat in Bewegung In der Zeit um die Jahrhundertwende kann man eine erste große - im Sinne eines konzertierten Ringens um >Heimat< -Konjunktur von Heimatkonzepten und -denken ausmachen (vgl. dazu z.B. Bausinger 1984: 17ff.). Sie ist eingebettet in eine Vielzahl von Bewegungen (zu denken ist hier beispielsweise an die Lebensreformbewegung, die Jugendbewegung oder die Sozialhygienebewegung), die um das Fin de Sieeie herum durch die Modernisierung verloren geglaubte, verloren gegangene bzw. verloren gehende Werte und Anschauungen akzentuieren und damit gleichzeitig auch einer Rekonzeptualisierung unterziehen. Diese Bewegungen wenden sich gegen die abstrahierenden und universalisierenden Tendenzen der Modernisierung- die u.a. Georg Simmel (1994) in der Philosophie des Geldes 16 herausarbeitet - und stellen dem >Geist< der Moderne scheinbar inkommensurable Konzepte wie Leben/ 7 Natur oder Körper/Leib entgegen, von denen ausgehend alternative Formen des menschlichen Zusammenlebens formuliert werden. 16 Bei Simme1 ist es vor allem das Geld, aber auch der Intellekt, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Gestaltung, die Formung und den Rhythmus des menschlichen Zusammenlebens haben. 17 Zu überlegen ist freilich, ob die benannten Konzepte tatsächlich mit der Modeme inkompatibel sind. Wolfgang Eßbach hat eine Sentenz Plessners aus Die Stufen des Organischen und der Mensch aufgreifend beispielsweise >Leben< als Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts zu fassen versucht; vgl. Eßbach 2004: 19-22.
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Im Kontext dieser Gegenbewegungen 18 ist auch die zunehmende Thematisierung von Heimat z.B. in der Heimatkunstbewegung zu situieren. Sie wendet sich gegen den »demokratisierende[n] nivellierende[n] atomisierende[n] Geist des Jahrhunderts« (Langbehn 1922: 45). Diese Formel, die sich in dem äußerst einflussreichen Buch Rembrandt als Erzieher von Julius Langbehn findet, das 1890 zum ersten Mal anonym nur mit der scheinbar lakonischen Sentenz Von einem Deutschen versehen - erschien und in der Folge eine außergewöhnlich hohe Anzahl von Auflagen erlebte, steht stellvertretend für ein Denken, das um 1900 ubiquitär war. 19 Langbehn richtet sich mit dieser Charakterisierung des 19. Jahrhunderts insbesondere gegen den wissenschaftlichen Geist, der vom >wirklichen< Leben enthoben eine Orientierungsfunktion für dieses bekommen habe. Allerdings sei das Potential des wissenschaftlichen Geistes, Orientienmg zu geben, überaus prekär und problematisch, da das wissenschaftliche Denken auf Spezialisierung beruhe und sich vor allem mit Einzelproblemen auseinandersetze. Problematisch ist entsprechend, dass dem Denken damit die vereinheitlichende, synthetisierende Funktion abhanden komme. In völkerpsychologischer, größtenteils gar ausgesprochen völkischer und >Blut und Boden< getränkter Manier argumentiert Langbehn, dass die Deutschen ein >Kunstvolk< seien, das sich aber seiner Wurzeln entfremdet habe und wieder zu diesen finden müsse; denn Deutschland sei »voll von wirklichen und geistigen Brillenträgern« (ebd.). Aufschlussreich für die Heimatdiskussion ist Langbehns Blick auf die Künste. Hier lässt sich die argumentative Bewegung gegen die Moderne deutlich ablesen. Zunächst formuliert er im Sinne eines Zugeständnisses an den Wandel der Zeiten: »Die moderne Zeit hat moderne Bedürfuisse und braucht eine moderne Kunst. Eine moderne Kunst aber kann nur gedeihen, wenn sie zugleich in sich das Gegengewicht des 18 Auf die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in den Stoßrichtungen dieser Bewegungen wurde in der Forschung hinlänglich aufmerksam gemacht. Vgl. beispielsweise. zum durchaus spannungsvollen Verhältnis zwischen Heimatbewegung und Jugendbewegung Reulecke 1991. 19 Wenngleich dieses Denken keinesfalls neuartig ist. Man muss sich nur Kar! Mannheims wissenssoziologische Analyse des konservativen Denkens vor Augen führen, um ähnlich gelagerte Charakterisierungen (hier aber) des liberalen Denkens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von Seiten konservativer Denker anzutreffen. Auch diese wandten sich gegen den naturrechtliehen Geist der Gleichheit und Vereinheitlichung, der in der Prägung des 19. Jahrhunderts als >demokratisierend< und >nivellierend< anklingt. Vgl. zum konservativen Denken Mannheim 2003. Und auch nach dem Fin de Sieeie werden >DemokratisierungNivellierung< und >Atomisierung< wichtige Schlagworte der Kulturkritik bleiben. Vgl. nur Ortega y Gasset 1957 und Gehlen 1959.
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Bleibenden, Festen, Notwendigen, Angeborenen, Ewigen trägt.« (ebd.: 89) 20 Worin das Moderne bestehen könnte, bleibt aber unklar. Worin das >Gegengewicht< besteht, wird demgegenüber dargelegt: Der Künstler habe sich seiner lokalen Verwurzlung zu besinnen, er müsse diese annehmen und seine Kunst von dieser Wurzel aus zu entfalten suchen. Damit zielt Langbehn auf eine Diversifiziemng der Künste, die die Voraussetzung einer wirklichen nationalen Kunst, also einer deutschen Kunst sei: »Den Volkscharakter muß man in seiner lebendigen Fauna, nicht in seinen Versteinerungen studieren. Die irrende Seele der Deutschen, welche sich künstlerischjetzt in allen Erd- und Himmelsgegenden umhertreibt, muß sich wieder an den heimatlichen Boden binden; der holsteinische Maler soll holsteinisch, der thüringische thüringisch, der bayrische bayrisch malen: durch und durch, innerlich und äußerlich, gegenständlich wie geistig.« (ebd.) Damit ist nichts über eine Ablehnung modernistischer Maltechniken gesagt. Und auch ist keiner Rückwendung zur >alten< holsteinischen oder thüringischen Kunst das Wort geredet. Vielmehr zielen diese Ausflihrungen auf einen künstlerischen Blick, der im Heimatlichen verwurzelt ist, der vom Heimatlichen ausgehend künstlerisch schöpferisch sein soll. Einige Zeilen nach der zitierten Passage legt Langbehn seine Stellung gegenüber dem Impressionismus dar: es gehe nicht so sehr darum, den Impressionismus zu verdammen; vielmehr liege in dieser Kunstströmung gar eine Chance zur Erneuerung der >rechtenTheorie des Schönen< zu formulieren. Das Schöne bildet sich bei Baudetaire aus zwei Elementen: einem >ewigen, unveränderlichen< und einem >relativen, bedingtenSchollekleine Welt< geschildert, die von den Verwerfungen der >großen Welt< größtenteils geschützt ist- auch wenn in vielen dieser Texte gerade der Konflikt zwischen dem alteingesessenen Leben auf dem Lande und den modernen Realitäten thematisiert wird. Die dörfliche Heimat wird als überschaubarer und scheinbar der Zeit enthobener Raum23 konzipiert, der als lebbare (traditionelle) Alternative zur Großstadt mit ihren Verwerfungen wie Dekadenz bzw. Kulturverfall, Wirklichkeitsverlust, Kontingenz des Lebens, Erschütterung von Erwartungssicherheiten etc. erscheint. Die Heimatkunst, die sich in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts zu formieren beginnt, erfahrt in der Zeit um 1900 eine Verstetigung und Verfestigung ihres Kommunikationszusammenhangs, der die Rede von einer Bewegung als berechtigt erscheinen lässt. 1900 wird die Zeitschrift 21 Vgl. für den intellektualistischen Charakter des Großstadtlebens Simmel 1995: 117, passim. 22 Paradigmatisch eingefangen in der Parole >Los von BerlinDürerbundHeimat bewahrenHeimatschutzHeimatbund NiedersachsenBayrische Verein für Volkskunst und VolkskundeHeimatbund MecklenburgBund[es] HeimatschutzTraditionWandelHeimatschutzdeutschen Heimatheimatlose< (Groß-)Stadtmensch als kranker, degenerierter Mensch gekennzeichnet, der einer Erneuerung eher abträglich ist28 Die Gesundung wird vom kärglichen Leben auf dem Lande erhofft, das als heimatverwurzelt gefasst wird. Damit einher geht eine heimatliche Politik gegenüber dem Fremden, die vor allem auf Exklusion und auf >Reinigung< beruht. Das oder der Fremde, beispielsweise das national Andere und/oder der unter anderen Bedingungen lebende, der eine differente territoriale Herkunft aufweisende Mensch wird aus den Heimatkonzepten ausgeschlossen. Denn gerade er trägt das Andere in die vermeintlich >heile Welt< und macht sie so für als pathologisch aufgefasste Veränderungen anfällig. Gerade auf die Gefahren der Ver-Anderung, der Entfremdung durch das Eindringen des Anderen und Differenten bzw. auf ihre realen Effekte für das heimatliche Leben reagieren sowohl Heimatkunst als auch Heimatschutz. Heimat ist einerseits ein Schützenswertes Gut, sofern sie noch nicht von den modernen Verwerfungen heimgesucht wurde, und zu erneuernder lebensweltlicher Nahraum, wenn sie der Ver-Anderung schon anheimgefallen ist. Die Semantik des Pathologischen, derer sich die Vordenker des Heimatlichen um 1900 bedienen, ist dabei orientiert an einer insbesondere in Deutschland folgenschweren Antinomie, die ihre Popularisierung zu Beginn der 1920er Jahre mit Spenglers Untergang des Abendlandes erfuhr: der Antinomie von >Zivilisation< und >Kulturc 29 Zivilisation wird als das
28 Vgl. für die pathologischen Implikationen der Überlegungen bei Barteis oder Ludwig Ganghofer Greverus 1979: 66f. und allgemein zur Unterscheidung >gesund< vs. >krank< im Kontext der Heimatbewegten Rossbacher 1975: 52-56. 29 Für eine sozialgeschichtliche Analyse der Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur und für eine Analyse der nationalen lmplikationen dieser Antinomie vgl. Elias 1998: insb. 89-131. Ähnlich einflussreich- und dies gerade im Kontext der modemisierungskritischen Bewegungen - ist die Gegenüberstellung von >Gemeinschaft< und >GesellschaftStandleitung< der Feldpostbriefe, noch als räumlich-zeitliche Brücke »von Alltag zu Alltag« (ebd.: 53) imaginiert werden, so tritt im Verlauf des Krieges eine - vielfach dokumentierte - unüberbrückbare Kluft zwischen Front und Heimat zu Tage. Einen Bruch erfahrt die intakte Verbindung zwischen Front und Heimat durch die (eigenen) körperlichen Erfahrungen und Anschauungen von Gewalt. Im Lazarett schließlich überlagert die apokalyptische Wirklichkeit des Krieges jene Heimatbilder des Erzählbeginns: >»KriegPest ... Tod ... Teufel ... Not ... < In riesiger Größe tanzten die Buchstaben dieser Worte ihre Reigen, bis sie sich zur Linie fügten. Alle Begriffe des Grauens, die ihm vertraut waren, zogen nun vor ihm daher, Ding geworden, tanzten um ihn, tanzten ... Ja, wo tanzten sie denn? War das nicht die Wiese, vor dem väterlichen Hause und dort ... stand dort nicht Hanne, die alte Wirtschafterin[ ... ].« (ebd.: 58) Mit der Kriegserfahrung Edgars, die weniger Fiebertraum denn »Wirklichkeit« ist (ebd.: 59), wird die eingangs beschworene Verbindung und Brücke zurück zum heimatlichen Alltag abgetragen und der Krieg als alle Lebensbereiche überformende Kraft gedeutet. Die Kriegsgewalt führt Erfahrungen herbei und beschwöt1 Bilder herauf, die an die Grenzen der Sprache führen und nicht mehr einfachhin in etablierte Erzählmuster übersetzt werden können. Edgar wird schließlich ort- und heimatlos, und der Text entwickelt damit eine treffende Diagnose der Krisis der Beheimatung durch den Krieg; weder >Heimat< noch >Front< können den Kriegsgeschädigten aufnehmen. Das heimatliche Dorf ist vom Krieg zerstört; der väterliche Hof
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ein »Gerippe aus Holz und Stein« (ebd.: 63); den Vater findet er nur noch begraben wieder und mit seiner Verlobten Lotte ist auch der letzte Rest Heimatlichkeit verloren gegangen. In Berlin, wohin er sich auf dem Weg zurück zur Front begeben hatte, empfindet er »ein schmerzliches Befremden« (ebd. 70) angesichts des zivilen Alltags der Stadt und eine »bürgerliche Zukunft erschien ihm völlig unfaßlich.« (ebd.: 78) Die Novelle beschreibt die vielfach konstatierte Dichotomisierung zweier Lebensformen, der eine Sehnsucht nach dem Schützengraben folgt, und die das Heimatbild des Erzählbeginns signifikant verkehrt: »Vor seinen Augen aber erstand dann oft die Not der Schützengräben in stürmischen Regennächten und die stöhnende Not der kleinen Lazarettkirche. Er verstand das freie, friedlich-behagliche Leben nicht mehr. >Zweierlei Menschen sind wir, Krieger und Daheimgebliebene.»Ich bin ja heimatlos ... territorialen MenschenHeimat-Bewegung< zwischen »Anarchismus und Vegetariertum, Anti-Atom-Bewegung und Landkommune, Teestube und Trödelladen« (ebd.: 135) in den Blick nimmt. Auffallend ist die - schon im Titel anklingende - bellizistische Semantik: »Rückeroberung von Heimat« sei das Ziel dieses »Kreuzzuges zurück in die Innerlichkeit« (ebd.). Diese neuerliche >Aneignung< des Heimat-Begriffs wurde schon in der Rundfunkdiskussion Anfang der 70er Jahre propagiert. In seinem Fazit am Ende der Diskussion verweist Mitscherlieh auf die Einigkeit zwischen den Beteiligten hinsichtlich der Verabschiedung eines alten, statischen, an einen festen Ort der Geburt oder Jugend gebundenen Heimatbegriffs; diese Heimat sei »historisch vergangen« (Mitscherlich!Kalow 197 1: 54), woraus die Forderung nach einem neuen Heimatbegriff entsteht: »Wir haben ihn neu zu definieren!« (ebd.: 27) lautet Grass' emphatischer Ausruf, der breite Zustimmung emtet.46 Neu an diesem Heimatbegriff-und dies ist der zweite Aspekt- ist vor allem die Betonung der Aktivität. Heimat soll nicht mehr das sein, was man - passiv - durch Sozialisation erfahren hat; das >emanzipatorische< Heimat-Konzept setzt vielmehr auf eine aktive Gestaltung der jeweiligen Um-, Nah- oder Lebenswelt Ein solcher selbstgestalteter und entsprechend auch angeeigneter Raum - ein Verfahren, für das Bürgerund Stadtteilinitiativen oder Umweltverbände stehen- soll dem »Subjekt Mensch« die Möglichkeit eröffnen, »Identität, Sicherheit und stimulierende Aktivität zu erfahren, d.h. territoriale Satisfaktion zu gewinnen« (Greverus 1979: 17). Auch die Debatten der 70er Jahre lassen sich als moderne- oder modemisierungskritische identifizieren. Im Gegensatz zu den Zwanziger Jahren lässt sich von einer analytischen wie begrifflichen Abkühlung sprechen, jedoch kann man - auf einer etwas abstrakteren Ebene - eine Reihe der bekannten Denkfiguren wieder auftauchen sehen: hinter dem >territorialen Imperativ< mag man das (auch schon bei Spranger anthropologisch gedachte) Problem der Verwurzelung erkennen, die Frage der
46 In der gesamten Debatte ist es vor allem das Mitglied der gemeinhin als konservativ etikettierten Partei CDU, nämlich Norbert Blüm, der >Heimat< ganz allgemein eher reserviert gegenübersteht und vielmehr auf den Gewinn an Freiheitschancen verweist, die mit dem »Verlust der Heimat, [dem] Entschwinden all der Gefühle, die damit verbunden waren« (Mitscherlich/Kalow I971: 25), verknüpft sind.
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Sinnüberdachung der Existenz setzt sich in dem (nun auch begrifflich auf diesen Punkt gebrachten) Thema der Identität fort, und ebenso wenig fehlt das Moment der Anonymität der Großstadt. Gewandelt haben sich die politischen Implikationen: die Volksgemeinschaft ist desavouiert, aber die Landkommune oder die Stadtteilinitiative kontinuieren das Motiv des gemeinschaftlichen Lebens. Ersetzt ist der Telos der Rückgewinnung einer Totalität durch die Zielrichtung der emanzipatorischen Aneignung. Geändert haben sich ebenso die Problemhorizonte. Zwar könnte man wohl, auch wenn beispielsweise die Grünen auf diese Ahnenschaft kaum Wert legen, die Heimatschutzbewegung und ihr verwandte Initiativen als Vorläufer neuerer Umweltschutzbewegungen ausmachen; die Bedrohung der Umwelt als gesamtgesellschaftlich relevante Problemlage aber wird erst in den 70er Jahren akut. Mit all diesen Verschiebungen geht ein grundsätzlicher Wandel des Gestus einher. Heimatbewegungen -in welcher Form auch immer- verstehen sich beinahe durchweg nun endgültig nicht mehr als antimodeme, sondern als kompensatorische, die als negativ oder gar pathologisch gedachten Folgen der Moderne mildernde. Selbstverständlich ist dabei, dass auch hier Grundunterscheidungen- wie eben positiv/negativ, gesund/pathologisch oder auch Zivilisation!Kultul7- vorausgesetzt werden müssen. Ausgangspunkt der hier vorliegenden Ausführungen, um das bis hierhin Gesagte kurz zusammenzuführen, war die Überlegung, dass sich die Trias von Raum, Zeit und Identität sowie die von Verlust, Distanzierung und Reflexion als prägende Koordinaten beschreiben lassen, an denen spätestens seit 1800 Heimatkonzeptualisierungen orientiert sind. Überblickt man die verschiedenen Konjunkturen, so drängen sich zwei Ergänzungen auf. Zum einen könnte man sagen, dass sich Heimatdenken in den letzten 200 Jahren zwischen zwei Polen bewegt: nämlich zwischen Offenheit und Geschlossenheit oder - mit dem Akzent auf die Prozessualität - zwischen Öffnung und Schließung. Während, wie der kursorische Durchgang durch einige Konzeptualisierungen zeigte, bis weit ins 19. Jahrhundert eine Faszination für das Offene zu verzeichnen ist, neigte sich das Denken von Heimat in der Zeit von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eher exklusiveren bzw. explizit exkludierenden Konzeptionen zu - mit teilweise katastrophalen Folgen. Seit ca. 1970 - bei aller gebotenen Vorsicht, die mit solchen Tendenz47 So spricht der Soziologe Wolfgang Lipp 1986 davon, dass die Heimatbewegungen weniger Pfade aus der Modeme seien, sondern diese vielmehr »erst mrbar«< (Lipp 1986: 343) machen würden. »Die >Zivilisation< zu >kultivierenHeimatstahlharten Gehäuse< zielt >Heimat< auf einen Handlungsraum und - sicherlich ebenso wichtig - Verantwortungsraum, in dem der Mensch >die Fäden noch selber in der Hand hältemanzipatorischen< Heimatbegriff8 machte, ist eine neuerliche Transformation (gleichwohl unter Mitführung von Denktraditionen) des Heimatdenkens erst seit den 1990er Jahren auszumachen. Diese Transformation ist angeschoben von einer Reihe von globalen, aber auch nationalen Phänomenen. Für die deutsche Heimatdiskussion ist dabei freilich in erster Linie an die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990 zu denken. Angeschoben von dieser politischen und nationalen Entwicklung mit einem Wiederaufblühen oder fast schon Wuchern des Patriotismus und des Stolzes auf das eigene Land - mit insbesondere in den 1990er Jahren teilweise dramatischen Folgen für die Migranten- ist auch die Frage nach der >deutschen Heimat< oder >Deutschland als Heimat< wieder akut geworden. In einer ganzen Reihe von literarischen und kinematographischen Versuchen, lassen sich Thematisierungen dieser Topoi beobachten.49 Verknüpft mit der deutschen Wiedervereinigung war auch die Problemtage der Integration der beiden deutschen >Bevölkerungen< in ein ge48 Ein weiteres Phänomen wurde beginnend mit den 70er Jahren einer Thematisierung unterzogen: die Frage nach dem Umgang mit den ehemaligen Gastarbeitern, also den Migranten, die es vorzogen, nicht in ihre >Heimat< zurückzukehren, sondern in Deutschland ihr Glück und eine neue Heimat zu suchen. So macht es beispielsweise Bausinger (1984: 25) zu einem Kriterium ftir die Lebbarkeit und Fortschrittlichkeit eines Heimatbegriffs, inwiefern dieser in der Lage ist, Migranten zu integrieren. Hier ist also eine Art Wende in der Politik gegenüber dem Fremden zu verzeichnen; nicht mehr wird, wie seit den 1890er Jahren geschehen, das und der Fremde unter allen Umständen aus dem heimatlichen Bannkreis herauszuhalten versucht; statt dessen gilt gerade eine integrative Politik als fortschrittlich und wegweisend für Heimat. 49 Um nur einige Beispiele zu nennen: Roger Willemsen Deutschlandreise (2002), Ralph Giordano Deutschlandreise. AufZeichnungen aus einer schwierigen Heimat (1998), Christian Graf von Krockow Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema (1992), Marion Gräfin Dönhoff Kindheit in Ostpreußen (1998), Edgar Reitz Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende (1989-2000) (2004).
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samtdeutsches Staatswesen. Schon die Begrifflichkeit des Beitritts wie auch die der >Fünf Neuen Länder< schien das Verhältnis der Nachgeordnetheit alles Ostdeutschen zu verdeutlichen. Ostalgie - mit der sich Alexandra Ludewig in diesem Band ausführlich beschäftigt - wurde dann zum Medium eines >>neuen historischen Selbstverständnisses«, um »das eigene Leben vor totaler Entwertung zu schützen« (Rehberg 2006: 225). Die Wiederentdeckung der DDR als Heimat rekurriert kaum noch auf den räumlichen Aspekt; Heimat wird vielmehr als post-hoc-Fiktion einer vergangeneu Zeit konstruiert und ist in hohem Maße - denkt man an das Interesse für die verschiedensten DDR-Konsumgüter: von Rondo-Kaffee und Schlagersüßtafel bis zu Trabitreffen - objektvermittelt Auch hier stellt sich Heimat als Kompensationsraum gegen eine als problematisch empfundene (neue) Wirklichkeit dar. Die zweite >Großproblematik< ließe sich mit dem Wort >GlobalisierungWeltgesellschaft< fassen. Dieses zwar wesentlich ältere Phänomen50 stellt sich in den 1990er Jahren (nicht zuletzt durch das Ende des Kalten Krieges und den vermeintlich alternativlos erscheinenden Siegeszug des Kapitalismus) mit einer vehementen Dringlichkeit. Die weltweite Vernetzung wirft dabei die Frage nach dem Verhältnis des Globalen und des Lokalen auf, die ein genuines Problem von Heimatdenken ist. 51 Ein weiteres Problem ließe sich in der verschärften Forderung nach Mobilität und Flexibilität der Akteure sehen. Ein Konzept, wie das der >NomadizitätHybriditätKreolisierung< etc., die im Rahmen der Postcolonial-Studies ausgearbeitet worden sind, stellen das Heimatdenken vor konzeptuelle Schwierigkeiten. 50 So sprechen einige Ökonomen eher von einer zweiten Globalisierungswelle seit den 1970er Jahren, während die erste in der Zeit von 1820 bis zum Ersten Weltkrieg zu situieren sei; vgl. bspw. Lindert/Williamson (2001: 8). Ferner ist zu denken an die Überlegungen von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Vgl. z.B. die Formulierungen: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete.« (Marx/Engels 1953: 527) Oder: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« (ebd.: 529) Mit Kolumbus' Entdeckung der >neuen Welt< 1492 setzt auch für Immanuel Wallerstein die Entwicklung des >modern world-system< ein; vgl. bspw. Wallerstein (1991 ). 51 Roland Robertson (1998) hat die Überschneidung von Globalisierungstendenzen und lokalen Bezügen bekanntlich in den Begriff der >Glokalisierung< gefasst.
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Denn Heimatdenken verblieb trotz der Versuche, einen >emanzipatorischen< Heimatbegriff zu entwickeln, in einem eher traditionellen Rahmen von Identitätsbildung und Orts- oder ZeitbezogenheiL Eben dieser Aufbruch des Heimatdenkens in eher postmoderne und poststrukturalistische Theorie->Gefilde< macht aber die gegenwärtigen Versuche, Heimat zu denken, so spannend. 52 Raumbezüge und territoriale Bindungen im 18. Jahrhundert, also zu einer Zeit, als das Wort >Heimat< noch in erster Linie mit Haus- und Hofbesitz konnotiert war (s.o.), nimmt ERTC PTLTZ in den Blick. Reise und Rückkehr, die (auch konkret körperliche) Erfahrung von Orten und nicht zuletzt der erzählerische Akt der Zusammenfügung dieser zu Räumen bilden den Leitfaden des Beitrages, der grundsätzliche Muster der Orientierung im Raum herausarbeitet: zum einen als ein Handeln im Raum, durch das Räume des Eigenen und Fremden erfahren und erlaufen werden. Und zum anderen durch Erinnerung an Räume, mit deren Hilfe eine identitätsstiftende Verortung der Menschen nachvollzogen werden kann. So wird ersichtlich, dass auch vor der begrifflichen Bündelung in einem >modernen< Begriff von Heimat Raumbezüge identitätskonstituierenden Charakter hatten. Der Frage nach einer ungarisch-jüdischen Heimat, vor allem im Horizont von deren gewalttätiger Aufkündigung in der Shoah, geht DOREEN ESCHTNGER nach. Dabei wird zunächst das Verhältnis von Ungarn und Juden skizziert, dass, so zeigt der Beitrag, immer schon eine spannungsund konfliktreiche Begegnung verschiedener Identitätsentwürfe bedeutete. Auf der Grundlage von Interviews mit Überlebenden der Shoah wird die Bedeutung und der Status einer ursprünglichen Heimat >Ungarn< nach dem Überleben, von den USA, Israel und Ungarn aus gesehen, eindrucksvoll lesbar.
52 Anzumerken ist freilich, dass auch eher traditionelle Konzeptualisierungen von Heimat zu beobachten sind. Nur ein Beispiel ist der Essay von Christoph Türcke (2006). Exemplarisch zeigt sich die Arbeit mit traditionellen Kategorien, wie Ort, Identität, Geborgenheit, in Türckes Versuch einer >ersten Annäherung< an das Konzept: »Heimat ist die erste Umgebung, der Menschen nach ihrer Geburt anwachsen.« (ebd.: 10) Späterhin kommt Türcke in einer reichlich blumigen und anthropologisierenden Sprache zur These einer konstitutiven Heimatlosigkeit des Menschen. Die >erste Heimatanwächst< Ersatz bzw. nur >zweite HeimatOstalgie< und >Westalgie< lauten die Vokabeln, entlang derer eine Reihe neuerer Filme auf ihre Heimat (re-) konstruierenden Erzähl- und Bildprogramme hin befragt werden. Der Beitrag wirft dabei nicht nur anband exemplarischer Rekonstruktionen einen analytischen Blick auf die differenten bildhaften wie symbolischen Weltdeutungen und Lebensauslegungen >ostalgischer< wie >westalgischer< Filme, sondern fragt darüber hinaus nach den möglichen Funktionen der Kirrernatographien flir ein zu vereinendes Deutschland. BERND HüPPAUF untersucht die wiedergekehrte Heimat nach 1990. In einem historischen Durchgang durch die Begriffs- und Verwendungsgeschichte werden zunächst jene Konzepte rekonstruiert, in denen Heimat wiederkehren könnte. Dabei wird in dem Beitrag eine Trennlinie gezogen zwischen Traditionen der Vereindeutigung und deren fatalen Wirkungen, für die Heimat auch steht, und jenen Arten, Heimat zu denken, die den Begriff in der Schwebe halten und begriffliche Unschärfe gleichsam in das Zentrum von Heimatkonzepten rücken. In der Wiederkehr einer solchen, >offenen< Heimat ortet Bernd Hüppauf Potentiale, das Globale und das Lokale gleichermaßen zu denken und zu leben. Die Frage, weshalb in der deutschen Gegenwartsliteratur so gern gereist wird, bildet den Ausgangspunkt des Beitrages von STEFFEN HENDEL. Zwei jüngere Erzähltexte - Die Überfliegerin von Angela Krauß und Faserland von Christian Kracht - nähern sich Heimat aus der Bewegung heraus. Steffen Rendei fragt in seiner Lektüre nach der Bedeutung des Reisens in den Romanen: wird durch Reise Heimat umkreist und eingekreist, ohne eigens thematisiert zu werden, oder handelt es sich letztlich doch um Abstoßbewegungen, die sich der Anziehungskraft heimatlicher Orte widersetzen? Deutlich wird, dass >HeimatUm 2000SalonsRevolution der Vorstellungsarten< und kulturelle Differenz bei Hölderlin«. In: kultuRRevolution, Nr. 45/46, S. 140-146. Becher, Johannes R. (1929): »Unsere Front«. In: Die Linkskurve 1, s. 1-3. Bertaux, Pierre (1989): Hölderlin und die Französische Revolution [1969], Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bexte, Peter (1997): »Fluchtlinien. Die Mythen des Horizonts oder das Fazit der Perspektiven«. In: Kunstforum, Bd. 136, S. 138-147. Bienek, Horst (1984): Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas, München! Wien: Hanser. Blumenberg, Hans (2007): Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß (hg. von Anselm Haverkamp), Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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VERORTUNG DER ERINNERUNG. HEIMAT UND RAUMERFAHRUNG IN SELBSTZEUGNISSEN DER FRÜHEN NEUZEIT
ERTC PTLTZ
Heimatbegriffe vor 1800 »Je länger ich hier bin, Bruder! desto mehr glaube ich in meinem Vaterlande zu sein. Die Sitten der hiesigen Einwohner, ihre Lebensart, ihre Gebärden, Vergnügungen, der Ton, ihrer Gesellschaften, kurz, alles versetzt mich nach Haus.« (Riesbeck 1976: 294) Diesen Zeilen, in denen sich Ende des 18. Jahrhunderts ein Besucher aus Frankreich in Dresden an sein Vaterland erinnert fühlt, ist aus mehreren Gründen mit Skepsis zu begegnen. Zum Ersten: der Autor ist kein Franzose, sondern der deutsche Reisende Johann Kaspar Riesbeck, der sich der zeitgenössischen Mode bedient hat, aus der Sicht eines Fremden das eigene Land zu begutachten. Zum Zweiten: Bei dem Text handelt es sich um einen Reisebericht, mithin auch um eine literarische Gattung, bei deren Bearbeitung und Verwendung als historischer Quelle auf die Topoi und typischen Erzählmuster geachtet werden muss (vgl. Harbsmeier 1982). Zum Dritten: Von Vaterland ist hier die Rede, nicht von Heimat, was beispielhaft verdeutlichen soll, dass die Vormodeme sehr wohl ein Verständnis von Heimat hatte, den Quellen aber der Begriff selbst nicht selbstverständlich ist (siehe dazu Gotthard 2003). Während man den ersten Punkt als eine Strategie der Authentifizierung und der Bedeutung des >fremden Blicks< deuten kann und der topische Aufbau der Reiseliteratur dmchaus zu berücksichtigen ist, ist Vorsicht geboten, wenn man nur dann von Heimat sprechen wollte, wenn der Begriff explizit in den Quellen auftaucht. Ich möchte das Quellenproblem noch ein wenig vertiefen: Eine Autobiographie von 1506, das Odeporicon des vielgereisten Benediktiners Johannes Butzbach, weist zahlreiche Belegstellen für Heimat, Heimatstadt, Heimreise etc. auf. So gelangte Butzbach »glücklich nach Nüm-
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berg, und während ich mich für die an mir vollbrachte Wohltat der Heimfahrt bedankte, fand ich daselbst Fuhrleute aus unserer Heimatstadt. Um das Fest des heiligen Johannes des Täufers kehrte ich so in die Heimat zurück« (Butzbach 1991: 245). Diese positivistische Zählweise ignoriert aber, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Lateinischen handelt. >Aus unserer Heimatstadt< heißt im Original >de nostra civitatein die Heimat< >ad patriamHeim-Weh< bestimmt als »ein heftiges Verlangen nach seinem Vaterlande, nach seiner Heimath; welches in manchen Fällen in eine körperliche Krankheit, in Melancholie und Abzehrung ausartet«. Weiter heißt es, dass die »Liebe zum Vaterlande, welche allen Menschen eigen ist, [ ... ] eine Art der Leidenschaft, welche man die Heimsucht oder das Heimweh zu nennen pflegt«, verursacht. »Diese reitzende Sehnsucht zieht Leuten, welche sich eine Zeit lang in der Fremde aufhalten, eine Art der Krankheit sowohl des Gemüthes, als auch des Leibes zu, welche am fügliebsten durch eine baldige Rückkehr geheilet werden kann.« (Krünitz, Bd. 22, 1781: 773) Da man glaubte, diese Krankheit vor allem bei den Schweizern feststellen zu können, die bei diesen mitunter sogar durch ein Lied, das an die Heimat erinnere, ausgelöst werde, war das Heimweh schnell als >Schweizer Krankheit< erkannt. Doch war es keine Eigenart eines Bergvolkes, die hier beschrieben wird, sondern eine emotionale Disposition, die jedem Menschen zugeschrieben wird. Weiter heißt es: »Die Liebe zum Vaterland ist nichts anderes, als eine innerliche Zuneigung zu dem Bande der Gesellschaft, in welcher man geboren ist, und einen großen Theil seiner Jahre von Kindheit an zugebracht hat. Diese Neigung wird gleichsam mit der Muttermilch eingeflößet, so, daß aus diesem Grunde so gar ein elender Grönländer und dürftiger Lappländer sich einbildet, seine Nation sey die älteste, die freyeste, die glückseligste, und sein Vaterland ein irdisches Paradies.« (ebd.: 777) Nimmt man den leicht abwertenden Ton heraus, der bereits eine Wertigkeit der Nationen andeutet, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts in die
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VERORTUNG DER ERINNERUNG
Geburt des militanten Nationalismus führt, dann bleibt zumindest nicht mehr offen, was unter Vaterland zu verstehen wäre, wenn es auf eine Ebene mit Nation gestellt wird. Die Vorstellung des Reiches, dann des Vaterlandes und letztlich der Nation als Einheit wird bereits früher vollzogen: Ein langer Prozess während der Frühen Neuzeit, in dem sich über die Sinneinheiten von Sprache, Kultur und Gesellschaft ein Innen bildet und ein Außen. Bereits um 1500 kann man von einer Aufwertung des Nationsbegriffs sprechen; >GermaniaTeutschland< zu denken, und eine rege geführte Debatte in den 1760er Jahren spricht von Nationalgeist (vgl. Blitz 2000). Dies sind Bausteine, die im 19. Jahrhundert in eine erfolgreiche Konstruktion der Nation münden (vgl. Hobsbawm 1990). Das Heimweh als Liebe zum Vaterland zu verstehen, ist allerdings keine deutsche Besonderheit. Auch die Deutung von Heimweh als pathologisches Verhalten findet sich in anderen großen Nachschlagewerkenwie der französischen Encyclopedie. Dort ist ein Eintrag verzeichnet mit der französisierten Form von Heimweh. >Hemve< wird wie folgt definiert: »HEMVE, sub. masc. (Medecine.) c'est ainsi qu'on nomme en quelques endroits, ce que nous appellons par periphrase la maladie du pays. Ce violent desir de retourner chez soi, dit tres-bien l'abbe du Bos, n'est autre chose qu'un instinct de Ia nature, qui nous avertit que l'air ou nous nous trouvons, n'est pas aussi convenable a notre temperament que l'air natal, pour lequel nous soupirons, & que nous envisageons secretement comme le remede a notre mal-aise & anotre ennui.« (Encyclopedie 1967: 129; Herv. E.P.) Die Krankheit des Landes, wie sie hier heißt, ist in ihrem sehrnerzhaften Verlangen, zu sich zurückzukehren, nichts anderes als ein natürlicher Instinkt. Zeigen sollten diese enzyklopädischen Ausführungen, wie die Begriffe Heimat, Heimweh und Vaterland auf einander verweisen. Wer Heimat sagte, musste an der Epochenschwelle zur Modeme über Vaterland nachdenken. Und wenn heute in politischen Debatten mehr oder minder unglücklich von Vaterland die Rede ist, dann liegen in der Zeit, aus der diese Texte stanunen, die Anfange für dessen inhaltliche Füllung und Gleichsetzung mit den geographischen und politischen Grenzen eines Nationalstaates. Dieser aber war selten die Bezugsgröße, die sich Reiseschriftsteller vor 1800 bewusst oder unbewusst wählten, wenn sie an ihr Vaterland dachten, wenn sie von patria oder terra nostra sprachen
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oder ein Gefühl von Heimweh artikulierten. Nach diesen Andersartigkeiten möchte ich in der Folge fragen, um die Heimaten (und mir scheint der Wechsel in den Plural angebracht) in der Vormodeme nicht als fixierbare und verallgemeinerbare Größen darzustellen. Statt dessen wäre die Frage zu stellen, welche je eigenen territorialen Bindungen vorgestellt wurden. Das hieße: individuelle mental maps zu rekonstruieren, anstatt historischen Entitäten aufzusitzen, die vermeintlich transhistorischen Charakter haben. Grundsätzlich erscheint der von Axel Gotthard vorgeschlagene Zugriff auf dieses Problemfeld als besonders viel versprechend. Gotthard stellt die entscheidende Frage: »Welche Bedeutung hatte die Verortung in einem bestimmten Raum für das Selbstverständnis des frühneuzeitlichen Menschen und seine Orientierung in der Welt, für seine Identität?« (Gotthard 2005: 26) und weist gleichzeitig darauf hin, dass neben Bürgerbüchern oder Universitätsmatrikeln, die Herkunftsangaben liefern, Verhörprotokolle und Reiseberichte eine Möglichkeit bieten, Auskunft über die Selbstverortung der frühneuzeitlichen Menschen im Raum zu erhalten (vgl. ebd.: 34-36). Die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie bestehen in der Feststellung, dass die Zugehörigkeit zu subnationalen Raumgrößen (bzw. deren Zuschreibung) überwiegt, Ortschaften in Reichsterritorien verortet werden, Landschaften in Reiseaufzeichnungen (siehe dazu auch Grosser 2001) kaum zu finden sind und politische Raumeinheiten, wie es die Reichsterritorien sind, im großen und ganzen keine »identitätsstiftende historische Tiefendimension« (ebd.: 48) erhalten, so dass die Raumwahrnehmung, die aus den Texten hervorgeht, als punktuell bezeichnet werden kann. 1 Sinnvoll erscheint es somit, den angenommenen engen Konnex von Heimatverständnis zu dessen räumlichen und geographischen Kondensat aufzunehmen und nach Mustern in den Darstellungen zu suchen, die Orientierungen, Verortungen sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen thematisieren. Dementsprechend werden im Folgenden Muster der Orientierung im Raum vorgestellt, wie sie sich in Selbstzeugnissen finden lassen. Um die unterschiedlichen Konkretionen von Heimat zu untersuchen, sind die beiden Fragen nach den >raumbezogenen Identitäten< (Weichhardt 1990)
Diese Ergebnisse sind mit Sicherheit noch zu verfeinem und auf einer noch breiteren Quellenbasis zu verifizieren, denn wir haben es nicht nur mit (gebrochenen, bruchstückhaften) Erinnerungen zu tun, sondern im Falle der Selbstzeugnisse mit Quellen, die eine Überlieferungsabsicht haben und zudem eine ausgeprägte Gattungstypik und ein Repertoire an Erzählmustern aufweisen.
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und den vorgenommenen Verortungen zu beantworten. Als prägnant für die Differenzierung der räumlichen Selbstverortung schienen dabei die relationalen Bestimmungen Innen und Außen wie auch Nähe und Distanz, die einen Raum jeweils anders konstituieren. Ein drittes Muster besteht in den konkrete Verortungen von Region und Stadt. Diese drei Muster möchte ich in der Folge kurz getrennt umreißen, um sie dann in der Deutung eines der bekanntesten Selbstzeugnisse des 18. Jahrhunderts, der Autobiographie Ulrich Bräkers, zusammenzuführen.
Innen und Außen Es ist zunächst einmal auffällig, dass die Reflexion über das, was Heimat bedeuten soll, immer wieder angestoßen wird durch diejenigen, die sich nicht in ihrer Heimat befinden. Immer wieder aufs Neue erprobten die Stadt- und Landesverweise das Verhältnis von Innen und Außen. Diese waren in der Strafpraxis äußerst flexibel, sowohl was die zeitliche Bemessung als auch die räumliche Dimension anbelangt. Eine Grenze wurde dem Delinquenten dennoch gesetzt, hinter die er verwiesen wurde (vgl. Schwerhoff 2006). Es gibt aber keinen Ort, der das Gegenstück zur Heimat bildet. Er findet seinen Ausdruck vielmehr im Heimatverlust, der das Aufgeben und Verlassen des heimatlichen Ortes beinhaltet. In der Frühen Neuzeit gibt es für diesen Zustand die Bezeichnung >Elend< (vgl. Blickle 1998: 132f.). Laut Deutschem Wörterbuch ist die >>Urbedeutung dieses schönen, vom heimweh eingegebnen wortes [.. .], das wohnen im ausland, in der fremde, und das lat. exsul, exsilium, gleichsam extra solum stehen ihm nahe« (Grimm, Bd. 3, Sp. 406). Extra solum, also außerhalb des Landes zu sein, ist die geographische Komponente dieses Heimatverlustes, begleitet von der Bedeutung, die die Moderne diesem Wort zumisst: das Elend als das erbätmliche und armselige Leben, in das der Stadt- oder Landesverwiesene geschickt wurde. Ausland und Inland bilden somit einen Antagonismus, der nicht nur auf Landkarten nachzuvollziehen ist, sondern eine geradezu körperliche Erfahrung sein konnte. In der Doppelwertigkeit dieses Nichtortes, der Elend heißt, liegt ex negativo die Essenz des Heimatbegriffes der Vormoderne. Die Etymologie der Worte Heim und Heimat bestärkt diese Ambiguität. Zum einen weist >Heim< ganz klar auf die Heimstatt, so wie es im Alt- und Mittelhochdeutschen die Konnotation von Haus hatte, also dem physischen, festen, markierbaren Ort. Das althochdeutsche heimote/heimoti hatte eine theologische Bedeutung und diente der Bezeichnung des Jenseits und des Himmelreichs, um dann ab 1200 eine stärker weltliche Bedeutung zu erfahren. »Die Sehn-
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sucht nach der heim6ti war also ursprünglich die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, nach Jenseits und Erlösung aus dem irdischen Jammertal. Erst später wurde aus der himmlischen heim6ti die irdische Heimat.« (Leuschner 2003: 18) Diese etymologischen Herleitungen mögen plausibel machen, watum dem deutschen Wort Heimat neben der Bezeichnung und der Zugehörigkeit zu einem Ort auch die Sehnsucht und die Verklärung eingeschrieben sind. Es könnte aber eine Wortspielerei bleiben, wenn sich nicht zahlreiche Belege finden ließen, die die Bedeutung des Innen-Außen-Verhältnisses bestätigten. Innen und Außen sind dabei als Verweisungszusammenhänge zu verstehen und nur im Verhältnis zueinander sowie über eine symbolisch generierte und oftmals - aber nicht notwendigerweise - physisch markierte Schwelle erkennbar. Prekär bleibt diese, da die Schwelle durchlässig ist, wie es besonders plastisch wird an den genannten Landesverweisungen. So kehrt ein großer Teil (die Zahlen differieren je nach Gebiet) in das >verbotene< Territorium zurück (Schwerhoff 2006: 50f.). Neben der Hoffnung der Rückkehrer, die Durchsetzungsfähigkeit des Verweises im Speziellen und der Policeyordnungen im Allgemeinen erfolgreich auf die Probe stellen zu können, spielt ein anderer Faktor flir die Wahrscheinlichkeit des Erfolges der Rücld(ehr eine nicht geringe Rolle: Dort, wo viele Fremde sind, fällt der einzelne Fremde nicht auf. Die dauerhafte Präsenz von Minderheiten und Zuwanderern in einer Stadt, flir die festgestellt werden konnte, dass »die Muttersprache eine wesentliche Rolle bei der Zuweisung von Herkunftsbezeichnungen« spielte (Schwanke 2005: 115), flihrte auch dazu, dass sich »in der Stadt moderne Interaktionsmuster« herausbilden konnten, »die nicht mehr mittels einer Unterscheidung von Einheimischen und Fremden überzeugend reguliert werden können«, so dass andere Unterscheidungskriterien wie bekannt/ unbekannt und persönlich/unpersönlich wichtiger werden (Stichweh 2001: 25; vgl. Kleinspehn 1989).
Nähe und Distanz Der Reisende, oder allgemeiner der Mensch in Bewegung, kann sich selbst im Verhältnis zur Welt mit Hilfe der Begriffe Nähe und Distanz positionieren, die ebenso wie Innen und Außen Ausdruck menschlicher Territorialität sind (vgl. Hall 1969). Das heißt: nicht nur der Körper, sondern auch das Netz der Sozialbeziehungen bildet einen Raum. Sowohl Nähe als auch Distanz können Ausdrücke eines Gefühls sein oder Beschreibungen flir messbare Entfernungen. Wenn flir die Modeme gelten
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soll, dass Raum nicht mehr als reine Erfahrung von einem Ort zu einem anderen erfahren bzw. dargestellt wird, sich vielmehr als ein Netz intersubjektiver Relationen darstellt (vgl. Flusser 1991), dann liegt hier die Differenz zu den Reisebeschreibungen der Vormoderne, die ausgiebig Entfernungen und die Mühen der Reise thematisieren. Unter >Reise< ist hier zunächst allgemein das >Unterwegssein< zu verstehen, das ein Ausdruck der Mobilität vergangeuer Jahrhunderte war. Unterschieden werden müssen zum einen die Formen unfreiwilliger Mobilität, wie sie bei Klein- und Wanderhändlern, Vaganten, fahrenden Schauspieltruppen und Bettlern notwendig war, die kaum schriftliche Zeugnisse über ihre Wanderschaft abgelegt haben (vgl. Scribner 1998). Zum anderen sind vor allem Reisen überliefert, die dem Zwecke der Bildung und der »Erweiterung des eigenen Gesichtskreises« (Blanke 1997: 398) dienten. Wenn für die moderne Gesellschaft mit hoher Mobilität und adäquaten Transportmitteln gilt, dass »auch entfernteste Räume im Prinzip ohne körperliche Bewegung erreichbar sind« (Konau 1977: 159), dann spiegelt dem gegenüber die häufige und bloße Auflistung von Wegstrecken, wie sie uns in zahlreichen Reisebeschreibungen der Frühen Neuzeit begegnet, die Bedeutung der körperlichen Erfahrung beim Durchmessen und Durchqueren des Raumes. Benannt werden die Ankunftsorte, Gasthöfe, die Dauer der Reisen. Eingebunden werden darin Erinnerungen einzelner Erlebnisse vor Ort oder Schilderungen örtlicher Besonderheiten und Merkwürdigkeiten in ihrem ursprünglichen Sinne als >des Merkens würdigReisen< machten, durchaus vorbereitet und hatten eine »Vorstellung von den bevorstehenden Strapazen und Unwägbarkeiten, die dadurch einen Gutteil ihrer Schrecken verloren« (Gräf/Pröve 2001: 252). Frühneuzeitliche Reisende schafften 3-7 kmlh und legten 40 bis 90 Kilometer pro Tag zurück.
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Diese Distanzerfahrungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Suche nach der Wahrnehmung von Räumen in der Vormodeme (vgl. Osterhammel 1989). Wenn Heimat etwas mit Erfahrung zu tun hat, und das heißt auch: mit Erfahrbarkeiten, dann wird damit verständlich, dass die Dominanz der Kleinräumlichkeit, wie sie Gotthard feststellt, in Berichten vom Vaterland zu Beginn der Frühen Neuzeit mit der Möglichkeit zusammenfallt, den Raum, den man als Vaterland bezeichnen kann, in irgendeiner Form tatsächlich zu erfahren.
Grenzen und Räume Die Frühe Neuzeit und vor allem das Alte Reich war voller Grenzen: freie Reichsstädte, Kurfürstentümer, Königreiche, Grafschaften, Herzogtümer usw. bildeten ein von Grenzen durchzogenes Reich, das der Staatsrechtier Samuel Pufendorf monstro simile, einem Ungeheuer ähnlich sah. Ebenso häufig waren Grenzkonflikte; und die zahlreichen Grenzregulierungsverträge des 18. Jahrhunderts würden ein eigenes Kapitel bilden. Aus dem 17. Jahrhundert ist eine große Anzahl gelehrter Traktate über das Thema Grenze überliefert (siehe Scattola 1997). So ist es nicht verwunderlich, dass Reisende, die zwangsläufig mit diesen Grenzen konfrontiert worden sind, ihre >Grenzerfahrungen< in ihren Berichten festgehalten haben. Angesichts der massiven Präsenz von Grenzen fällt es aber auf, dass die Übertritte in ein anderes Territorium oder einen anderen Staat nur selten in den Texten Anlass für längere Ausführungen geben? Viel häufiger tauchen in den Berichten dagegen Stadttore auf, an denen kontrolliert und protokolliert wurde, wer die Stadt betrat. So genoss der Reisende Joachim Christoph Friedrich Schulz in den 1780er Jahren zunächst die Aussicht auf Dresden, bevor er durch das Weiße Thor geht: »Ich mußte Namen, Ort wo ich her kam, und die Dauer meines Aufenthaltes sagen, und noch dazu einen Zettel (was im Preußischen nicht der Fall ist) nehmen, auf welchem der Gasthof benannt war, wo ich zu Iogiren gedachte.« ([Anonym] Schulz 1786: 143) 160 Jahre früher beschreibt ein anderer Bericht, wie der Reisende die norditalienische Stadt Susa nur passieren will und dennoch ausgangs der Stadt nach Geld untersucht wird, »denn wenn jemand mehr Geld bei sich hatte, als einzuführen erlaubt war, wurde es zugunsten des Landesfürsten oder des Stadtrates konfisziert« (Coryate 1970: 70). In den letzten Jahren ist in der Geschichtswissenschaft verstärkt zur Konstitution symbolischer Grenzen und der symbolischen Wirkung von 2 Interessant scheint dabei, dass die Einzeichnung von Territorialgrenzen in Karten erst im 17. Jahrhundert üblich wird.
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Grenzen gearbeitet worden (siehe z.B. Sahtins 1989; SchmaleiStauber 1998; Ellis/Esser 2006). Grenzumgänge waren z.B. eine rituelle Form, bei der eine große Anzahl von Bürgern einer Stadt beteiligt war und bei der das Gebiet und nicht selten strittiges Land abgeschritten und somit als Besitz markiert wurde. Während Grenzsteine entfernt oder verrückt werden konnten, wurde so das Wissen um die >richtige< Grenze des eigenen Territoriums tradiert. Durch performative Akte wie das Geleit, das sich von einer Schutz- in eine Ehrenfunktion wandelte und bei dem der Landesherr »gerade bei außergewöhnlichen Anlässen wie Fürstenbesuchen [... ]einen besonderen Nachweis fur seine superioritas territorialis« erbrachte, konnte und musste das Herrschaftsgebiet aktualisiert und visibilisiert werden (Krischer 2006: 142).3 In einem frühen Reisebericht von 1608 beschreibt der Engländer Themas Coryate, dem wir auch obige Anmerkung aus Susa verdanken, wie er am Fest des heiligen Erzengels Michaels in die katholische Stadt Köln kommt und eine Prozession beobachtet, bei der weniger das weltliche Territorium der Reichsstadt als dessen geistige Einflussphäre umrissen wird. Die Prozessionszüge gingen »zu einer kleinen Kapelle am linken Rheinufer, etwa eine Meile stromaufwärts von Köln«, wo, »wie man sagt, der Leib des heiligen Matemus beerdigt« wurde, »der ein Schüler des heiligen Petrus war und der erste, der in der Stadt Köln und in manchen anderen Städten und Städtchen in diesen Provinzen die Menschen vom Heidentum zum Christentum bekehrte« (Coryate 1970: 320). Interessant ist an Coryates Beobachtung, dass der Schrein leer ist und die Gebeine in Trier liegen sollen. Ohne auf den Reliquienkult näher eingehen zu wollen, ist eines hier entscheidend: die Verehrung des Ortes, zu der die raumgreifende Geste der Prozession gehört, die in einer Zeit ausgeprägter konfessioneller Grenzen eine symbolische Besetzung des virtuellen Raums der eigenen Glaubensgemeinschaft war. Diese Form der nicht-linearen, aber allerorten sichtbaren oder spürbaren Grenze war eine Erfahrung von größerer Prägekraft als die territoriale Zugehörigkeit (vgl. Fran9ois 1991). Nur langsam kam es während der Frühen Neuzeit zu einer »Verdichtung des Grenzsaums zur Demarkationslinie« (Gotthard 2003: 44). Die Fremde konnte geographisch im konfessionalisierten Deutschland in sehr geringer Distanz zur heimatlichen Stadt liegen. »Dabei machte er [der Reisende; E.P.] die befreiende Erfahrung, daß es jenseits der vielen politisch und religiös unterschiedenen Räume, denen die meisten seiner Zeitgenossen verhaftet blieben, einen einheitlichen und 3
Bekanntlich hat daraufbereits Georg Simmel hingewiesen: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.deutschen Heimat< ließe sich folglich nur schreiben, wenn man ihr die anachronistische Blendfolie der späteren Nationalstaatswerdung auferlegte. Nichtsdestotrotz transportieren Kosmographien, Erdkunden und Apodemiken auch Stereotype, die bei einem Reisenden, der mit der Literatur vertraut ist, auch Erwartungen hervorrufen, diese vorzufinden. Aber erst mit der Territorialisierung von Herrschaft, der Verdichtung und Professionalisierung des Reiseverkehrs, der topographischen Erfassung des Raumes und der vermittelten Kommunikation über Zeitung, Periodika, Buchwesen und Briefverkehr wird Raum-Wissen auch ohne Raum-Erfahrung möglich. Heimat ist einerseits das lebensweltlich Unhinterfragte, das Vertraute, der reale Ort, bleibt andererseits eine Projektion, mit dem Herkunftsort als fixer Variable. Sobald es aber sowohl möglich als auch denkbar wurde, die Imagination dieses Vertrauten auszudehnen auf einen Raum, zu dem keine körperlichen Bindungen bestehen, konnte sich erst in einem überregionalen sozialen Kommunikationsprozess (vgl. Schneider 2006; Bebringer 2006) so etwas wie ein überlokales Heimatverständnis entwickeln. Die These ist also, dass im Laufe der Frühen Neuzeit - und spürbar und diskursiv nachvollziehbar -, am Beginn der Modeme, die räumlichen Bezugsgrößen von Heimat sich ausdehnen, so dass Vaterland mit dem Nationalstaat in eins gesetzt werden konnte. Die Zeit ab 1750 bis ca. 1850 wird in der Geschichtswissenschaft mitunter als >Sattelzeit< (Koselleck) bezeichnet. Gemeint ist damit, dass sich in diesem Zeitraum die Begriffe gebildet haben, die die Modeme mit Bedeutung aufgeladen haben. Ab 1750 setzte
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die >Zeit der Singularisierungen< ein. Es wäre zu fragen, ob Heimat ebenso dieser Singularisierungstendenz unterlegen ist. Und auch heute - so wäre von der anderen Seite her zu fragen - scheint Heimat die semantische Singularisierung eher zu unterwandern und offen zu sein in ihrer Bedeutung. Die lokalen - die vermeintlich typisch frühneuzeitlichen kleinräumlichen Bezüge sind damit nicht gänzlich verloren gegangen.
Erfahrungsräume eines gelehrten Bauern »Wie viel wusste ein gewöhnlicher Bauer des 18. Jahrhunderts schon über das, was außerhalb seines Dorfes geschah?« (Tewocht 2000: 15) Mit der Autobiographie Ulrich Bräkers4 liegt ein populares Selbstzeugnis eines Bauern vor, der durchaus Interesse am Geschehen außerhalb seines Dorfes hatte und diese Welt immer wieder erkundete.5 Um die Erfahrungsräume aufzudecken, die Bräker durchdringt, schlägt der Geograph Jean-Luc Piveteau vor, dessen Erinnerungen und den Raum als zirkulär ineinander verschränkt zu betrachten. Ich möchte die Anregung aufgreifen und mich seines Modells von sieben >coquilles< (Kreisen, >MuschelnReise< 1756 zurückkehrt, kann man zum Kreis der Nachbarschaft (Ia coquille du voisinage) zusammenfassen; dazu zählen die Gemeinde Wattwil und die nähere Umgebung. Dieser wird erweitert durch den Kreis der Region (la coquille de Ia nigion) (vgl. Müller 1985: 25). Denn Bräker unternimmt bis ins hohe Alter kleinere Reisen in die Umgebung, häufig in den nächst größeren Ort Lichtensteig oder nach St. Gallen (vgl. dazu Rolliger et al. 1985). Besonderes Augenmerk möchte ich auf die coquilles d'au-dela de Ia n!gion lenken, da hierzu die oben angesprochene Reise und Begegnungen mit dem städtischen Leben und damit das Heraustreten aus dem bäuerlichen Lebenskreis zu zählen sind. 7 Als 18jähriger verlässt er das Elternhaus, das ihn nicht ernähren kann, und verdingt sich als Knecht bei einem preußischen Offizier, der ihn schließlich 1756 in den beginnenden Siebenjährigen Krieg schickt. Unerfahren und mit einer geringen Bildung ausgestattet erfährt er bei seinen Fußmärschen von sieben bis zehn Stunden täglich die Größe und Weite des Landes. Für ihn selbst wächst mit der »immer weitere[n] Entfernung vom Vaterland« - und seiner Geliebten - das Heimatgefühl (Bräker 1999: 99). War der natürliche Grenzraum der Schweizer Alpen Bräkers räumliche Initialprägung, kann man hier- episodisch verdichtet in der Autobiographie - von der Erweiterung seines Horizontes sprechen, während gleichzeitig das Toggenburg als Heimat und in diesem Sinne als gefühlter Raum, präsent bleibt. Das Toggenburg als Region bleibt Bräkers Heimat. Als er sich auf seinem Weg in die Armee der jungen und rasant wachsenden Metropole im märkischen Sand nähert, erlebt er die Verwirrung, die die Weite des Raumes hervorrufen kann: Man zeigt ihm »die Türme von Berlin« noch bevor er »nach Spandan kam«. Er schlussfolgert, dass sie in einer Stunde Berlin erreichen werden, »wie erstaunt' ich darum, als es hieß, wir gelangten erst morgens hin« (ebd.: 101 ). Diese Bemerkung liefert einen Hinweis auf die Diskrepanz von objektiver, also mit konkreten Entfernungsangaben messbarer, und subjektiv empfundener Entfernung. Bräker nimmt die Stadt bereits von weitem wahr. Die >Türme von Berlin< vermitteln ihm den täuschenden Eindruck von Nähe, der die Wirkung der Großstadt bereits ankündigt. Bräkers Erwartung an das, was fur ihn Stadt bedeutet, wird dadurch noch verstärkt. Die Entfernung misst er zeitlich. Dabei wird deutlich, dass »Nähe und Distanz, die einen Raum verschieden gestaffelt umgren-
6 Das Toggenburg (bei Bräker Tockenburg) ist die Bezeichnung für eine Region am Fluss Thur und gehört heute zum Kanton St. Gallen. 7 Als mentale Erfahrungsräume können neben seiner grundlegenden sozialen Prägung als Kleinbauer seine schriftstellerische Tätigkeit und die damit verbundene soziale Vemetzung mit gelehrten Kreisen gefasst werden.
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zen«, erfahrbar werden durch die Zeit, »kraft derer unmittelbare Nähe oder vermittelte Distanz jeweils erschlossen oder überbrückt werden können« (Koselleck 2000: 90). Die Auflistung der Wegstrecken ist ein immer wiederkehrendes Moment, eine sprachlich begrenzte Möglichkeit, die Bedeutung zun1 Ausdruck zu bringen, die dem Weg selbst zugemessen wurde. Hans Blumenberg stellt zu diesem Problemverhältnis der sprachlichen Begrenzung fest: »Jede Distanz - sei es die eines Tages oder die eines Tagesmarsches von einem Dorf zum anderen- fugt den nackten Feststellbarkeiten einen Bedarf an Auslegung hinzu; Mangel an Auslegung manifestiert sich in der niedersten aller Formen, der der Aufzählung.« (Blumenberg 1998: 95) Und in der Tat finden sich in Autobiographien, die ebenfalls einen hohen Anteil an Reiseerfahrungen schildern, wie in Reiseberichten Auflistungen von Orten, die durchquert wurden und mehr als Wegmarke denn als Erinnerungsorte fungieren. Einzelne Orte werden mit Personen verknüpft oder mit Anekdoten. Ähnliche Wege werden wiederholt aufgelistet. Der Weg selbst wird damit zum Ereignis, erhält durch seine Nennung Bedeutung. Eine Einteilung der Reiseroute konnte sich nach Stationen richten oder nach Objekten wie »Fahrzeuge[n], Gebäude[n], Schloßanlagen, Städte[n], Dörfer[n], Bauerngehöfte[n], Hinrichtungsstätten, Tempel[n], Poststationen, Gasthäuser[n] u.a.m.« (Wuthenow 1980: 140) Die Berichte zeigen, dass Reisen und Unterwegssein noch nicht die Verkürzung auf Start- und Zielort bedeutete (vgl. Virilio 1998); der Weg selbst machte Eindruck, schrieb sich in den Körper ein und zeichnete ihn. Vielgereiste klagten über brüchiges Schuhwerk, abgetragene Kleider, und auch das Reisen mit der Kutsche entbehrte über längere Strecken der Bequemlichkeit (vgl. Brilli 1997). Bräkers »erste Tagesreise ging über sieben Stunden weit bis ins Städtgen Ebingen, meist über schlechte Wege durch Kot und Schnee« (Bräker 1999: 99). Am dritten Tag fängt Bräker an, »die Beschwerlichkeiten der Reise zu fühlen; schon hatt' ich Schwielen an den Füßen und war mir' s sonst sterbensübel.« Selbst der Bauemwagen, der ihn für eine kurze Strecke mitnimmt, ist aufgrund des schlechten Zustands der Wege keine Erleichterung. Durch »das gewaltige Schütteln dieses Fuhrwerks [ ... ] ward's mir schwarz und blau vor den Augen«. Schließlich muss er konstatieren, dass er seinen Lebtag »nicht mehr eine so lange Reise antreten« wolle. Die Reisestrapazen schränkten zweifellos die Wahrnehmung ein, was Bräker durchaus selbst bewusst ist: »Meist erst nachts langten wir müd und schläfrig an, und morgens früh mußten wir wieder
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fort. Wer wollte da etwas recht sehen und beobachten können.« (ebd.: 100)8 Die physische Erfahrung der Mobilität und nicht deren bloße Faktizität musste schlichtweg eine Auswirkung auf den einfachen Menschen haben. Nur unter den Bedingungen dieser Beschränkung konnte er sich aktiv einen Raum erschließen, und damit auch dessen räumliches Verständnis und die denkbare Größe seiner Heimat. Die Beschreibungen legen es nahe, die Raumerfahrung unter dem Aspekt ihrer subjektiven Lesbarkeit zu untersuchen. Die Teile der Stadt, ihre Linien, Quartiere, Zentren «procurent au voyageur, en un panorama, le plaisir du lisible: un dechiffrement qui comble son besoin de localisation« (Urbain 1993: 139). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass auch der prinzipiell messbare Raum keine absolute Größe war. Erst durch Benutzung und Begehung wird er für die Autoren sichtbar, letztlich im erzählerischen Akt erst hergestellt, der die einzelnen Orte zu einem Raum fügt. In Schaffhausen wird Bräker von seinem Herrn frisch eingekleidet: »ein hübsch bordierter Hut, samtene Halsbinde, ein grüner Frack, weißtücherne Weste und Hosen, neue Stiefel, nebst zwei Paar Schuhen« (Bräker 1999: 83). Er erhält die Anweisung: »wenn du die Stadt auf und ab gehst, musst du hübsch gravitätisch marschieren - - den Kopf recht in die Höhe, den Hut ein wenig aufs eine Ohr.« Mit einem Kürassierdegen an der Seite geht er durch Schaffhausen und schildert die veränderte Wahrnehmung: »Als ich so das erstemal über die Straße ging, war's mir, als ob ganz Schafthausen mein wäre.« Selbst im Haus begegnete man ihm »wie einem Herrn« (ebd.). Dieser Vorgang der Aneignung nichtstandesgemäßer Symbolik verändert das Auftreten des eigentlich Fremden. Und die Überwindung der geographischen Grenze seiner Heimat geht mit der Überwindung der damit verbundenen Selbstverortung des Bauernsohnes in der Gesellschaft einher. Bei Ulrich Bräker lässt sich somit eine sukzessive Ausdehnung des Erfahrungsradius konstatieren. Im Vergleich mit Vertrautem konstatiert er die Größe der Stadt und in ihrer Totalität deren Nichterfassbarkeit. Im Verlauf der Jahre 1755/56 lernt er mit Schaffhausen, Rottweil, Straßburg und Berlin zunehmend größere Städte kennen und er wird, nachdem er wieder im Toggenburg ist, bis ins hohe Alter immer wieder kleine Reisen machen (vgl. dazu Bürgi 2004: 124f.). Selbst für den Bauern Bräker dienen die Erfahrungen der Reise nicht zur Verklärung der bäuerlichen Heimat, auch wenn ein Heimatgefühl zum Tragen kommt. Die Rückkehr ins Toggenburg liest sich letztlich eher als Vertrautheitssuche und Kon8
Von der Entdeckung der Landschaft, wie sie für das ausgehende 18. Jahrhundert festgestellt wird, kann hier somit keine Rede sein. Siehe dazu Cosgrove (2004) und Grosser (2001).
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gruenz von personaler, biographischer Identität mit dem geographischen Raum seiner Heimat. 9
Fazit: Die Verortung der Erinnerung Mit den vorgestellten analytischen Orientierungsmustern und dem Beispiel Ulrich Bräkers an der Hand, möchte ich es wagen, Schlussfolgerungen zu ziehen, die autobiographische Schriften nicht nur als historische Quelle sinnvoll erscheinen lassen, sondern auch auf den Titel des Aufsatzes zielen. In der Geschichte haben sich Menschen zu bestimmten oder unbestimmten Räumen zugehörig geflihlt, die topographischer oder immaterieller Gestalt sein können. Zu einfach wäre es, die Grenze zwischen Moderne und Vormoderne vor allem darin zu sehen, dass die Menschen vorindustrieller Gesellschaften sich durch eine Gebundenheit an ein kleinräumiges Territorium auszeichneten. Die Frage nach der Frage, auf die Heimat die Antwort ist, geht dort ins Leere, wo sie mit Erwartungen verbunden ist, auf den Begriff selbst zu stoßen. Heimat als Antwort auf die Frage nach der Identität dagegen lässt offen, welcher Gestalt die Räume dieser Identität waren, wie sie vorgestellt und wie sie hergestellt wurden. Nicht zu lösen ist dieses Problem, ohne sich den Erfahrungen der Menschen selbst zu widmen, also einen Blick auf die individuellen Wahrnehmungen zu richten, wo wir es mit zu disparaten Wissensstrukturen über die eigene Region, ein Territorium, die Nation zu tun haben, als dass sie in diesen auf Vereinfachung und Übersichtlichkeit zielenden Begriffen angemessen aufgehoben wären. Die Erfahrungen sprechen vor allem von Orientierungen, von Grenzen und Erinnerungen an das, was vielleicht zu etwas wie Heimat werden konnte. Edward Said spricht zwar von der »universale[n] Praxis, in der Vorstellung einen vertrauten Raum zu benennen, welcher der >Unsereihre< ist« (zitiert nach Gregory 1995: 383). Und dennoch gilt: Heimat ist nichts überzeitlich Determiniertes. Sie verweist auf einen jeweils unterschiedlichen Erfahrungsraum und individuell ausgeprägte Raumerfahrungen. Diese waren in der Frühen Neuzeit durchaus anders geartet. Zugehörigkeit konnte etwas topographisch Erfassbares sein, d.h. eine Raumgröße vorstellen, die ein physisches Korrelat hatte: Beispiele dafür sind das Territorium, der Reichskreis, die Stadt, die Region. Was sich
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Allerdings nicht in Form von Schäferdichtung und idealisierter Aufladung des ländlichen Lebens.
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erst langsam entwickelte war ein Abstraktum, das an die Nation oder einen Kulturraum rückgebunden werden konnte. Die »Etablierung kartographischer Raumwahmehmung« (Dörk 2004: 144; vgl. dazu auch Cosgrove 2001 sowie Klein 2001), die Erwartungsproduktion durch Reiseführer und Reiseberichte und die erhöhte soziale Mobilität bei gleichzeitigem Ausbau der Informations- und Kommunikationsnetze waren Faktoren, die dazu beitrugen, das Raumempfinden der Vormodeme zu verändern. Autobiographien und Reiseberichte gewinnen an diesem Punkt ihre Berechtigung als Ergänzung und Korrektiv .10 Sie ermöglichen es, den subjektiven Sinn der Raumwahmelunung zu beleuchten, die dem jeweiligen Verständnis von Heimat zugrunde liegt. Dieser Quellenzugriff rückt den zeitgenössischen Betrachter in den Mittelpunkt. Dabei trägt das »Wissen um die jeweilige räumliche Codierung als Teil des >sozialen Sinns< der Akteure« dazu bei, die Komplexität von Kommunikationsvorgängen zu visibilisieren (Füssel!Rüther 2004: 13). Die Darstellung einzelner Verhaltensmuster und nur sequentieller Aufnahmen von der Fremde bilden fiir uns weniger einen Spiegel der tatsächlichen Wahrnehmung zur >Tatzeit< bzw. der erzählten Zeit. Aber: wir können Aussagen treffen über die Grenzen der dargestellten Wahrnehmung (Erzählzeit), denn in der Erinnerung »verschmelzen Objekte und Menschen mit ihren Lokalisierungen an konkreten Orten zu einzelnen Elementen« (Löw 2001: 199). Die Wahrnehmung des Raumes, die an konkreten Orten feststellbar wird, zeichnet sich nicht allein durch die sinnliche Aufnahme aus. Sie tritt dort in der Darstellung zutage, wo sie zu gestalthaften Strukturen und begrifflichen Denotationen organisiert wird (vgl. Hartmann 2005). In Berichten von Reisen (Reiseberichte, Reisetagebücher, Autobiographien Reisender) häufen sich aneinander gereihte Partialeindrücke neben ausführlichen Schilderungen persönlicher Erlebnisse. Die Beschreibungssysteme - nicht nur in elaborierten Reiseberichten - erscheinen dabei kontingent: absolute Systeme (Maßeinheiten) werden ebenso verwendet wie intrinsische (vom beobachteten Gegenstand aus) und relative (vom Beobachter aus gesehen), und nicht zuletzt sind sie abhängig von der Art der Quelle und der Intention der Darstellung. Die Grundfigur der Bewegung ist aber allen eingeschrieben. Und die Statik des Raumes, die von einer topographischen Erfassung der Stadt insinuiert wird, löst sich auf in der Bewegung des Beobachters (vgl. Baecker 1990: 81). Erinnerung ist dabei bereits Teil des originären Raumerlebnisses: Betritt man 10 Zu den bürgerlichen Reisebeschreibungen, bei denen uns »bei aller sozialkritischen Rhetorik ein weitgehend immer gleicher Beschreibungskanon begegnet«, siehe Sadowsky (1998: 123). 72
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eine Stadt, so entsteht der Raum »stufenweise im erinnernden, schauenden und fühlenden Erleben« (Schirmacher 1988: 253). Ebenso ist Erinnerung der Ausdruck jeder uns vorliegenden Quelle. Die Maßgaben Vorn/Hinten, Oben/Unten, Rechts/Links können Teil der Schilderung sein, der Sinnraum ist mit den mathematischen Größen allein aber nicht zu erfassen, weder für den auctor der Quelle noch den Historiker. Raum und Erinnerung müssen demzufolge in einem engen Verhältnis gedacht werden: »Une relation circulaire associe memoire et espace: la memoire semiotise l'espace et l'espace stabilise la memoire.« (Piveteau 2004: 191) Diese zirkuläre Verbindung ist sowohl den physischen Erinnerungsorten eingeschrieben als auch Teil jener ars memorativa, die aus >imagines< besteht, »der Kodifizierung von Gedächtnisinhalten in prägnanten Bildformeln, und >lociGrand Tour