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German Pages 561 [564] Year 1999
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil Band 71
Rückkehr des Autors Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs Herausgegeben von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer Matias Martinez und Simone Winko
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
Redaktion des Bandes: Georg Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rückkehr des Autors : zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs / hrsg. von Fotis Jannidis ... Tübingen : Niemeyer, 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 71) ISBN 3-484-35071-1
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Vorwort
Der größere Teil der hier versammelten Beiträge wurde auf einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Tagung vom 7. bis 10. Oktober 1997 im Kloster Irsee vorgestellt und diskutiert. Cornel Zwierlein danken wir für seine vielfache Unterstützung. Die Tagung trug noch den Titel »Rückkehr des Autors?«. Die Erträge der Tagung und die Beiträge des vorliegenden Bandes veranlaßten uns, das Fragezeichen für den Buchtitel zu streichen. Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Einleitung FOTIS JANNIDIS / GERHARD LAUER / MATIAS MARTINEZ / SIMONE WlNKO: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven . I. Autor und Intention SIMONE WINKO: Einführung: Autor und Intention KARL EIBL: Der >Autor< als biologische Disposition AXEL BÜHLER: Autorabsicht und fiktionale Rede LUTZ DANNEBERG: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention WILLIE VAN PEER: Absicht und Abwehr. Intention und Interpretation. KLAUS WEIMAR: Doppelte Autorschaft WERNER STRUBE: Über verschiedene Arten, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat II. Autorkonzepte in der Literaturwissenschaft
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3 37 39 47 61 77 107 123 135 157
GERHARD LAUER: Einführung: Autorkonzepte in der Literaturwissenschaft 159 JOHN F. BURROWS: Computers and the Idea of Authorship 167 COLIN MARTINDALE: What Can Texts Tell Us About Authors and What Can Authors Tell Us About Texts? 183 GERHARD LAUER: Kafkas Autor. Der Tod des Autors und andere notwendige Funktionen des Autorkonzepts 209 EKATERINI KALERI: Werkimmanenz und Autor 235 SIGRID NIEBERLE: Rückkehr einer Scheinleiche? Ein erneuter Versuch über die Autorin 255
TOM KINDT/ HANS-HARALDMÜLLER: Der >implizite Auton. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs JÖRG SCHÖNERT: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich
273 289
III. Autor, Politik und Geschichte FOTIS JANNIDIS: Einführung: Der Autor in Gesellschaft und Geschichte THOMAS BEIN: Zum >Autor< im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik BERNHARD F. SCHOLZ: Alciato als emblematum pater et princeps. Zur Rekonstruktion des frühmodernen Autorbegriffs FOTIS JANNIDIS: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext
295 297 303 321 353
MARTHA WOODMANSEE / PETER JASZI: Die globale Dimension des Begriffs der >Autorschaft< SEÄN BURKE: The Politics of Authorship: Views from Everywhere and Nowhere IV. Autor und Medien
391 421 431
MATIAS MARTINEZ: Einführung: Autor und Medien
433
WERNER KAMP: Autorkonzepte in der Filmkritik MATIAS MARTINEZ: Autorschaft und Intertextualität CATHERINE M. SOUSSLOFF: The Aura of Power and Mystery that Surround the Artist JOHN SPITZER: Style and the Attribution of Musical Works SIMONE WINKO: Lost in hypertext? Autorkonzepte und neue Medien
441 465 481 495 511
Anschrift der Beiträger
535
Register
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Einleitung
FOTIS JANNIDIS / GERHARD LAUER / MATIAS MARTINEZ / SIMONE WINKO
Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern Historische Modelle und systematische Perspektiven
Wer sich beim Interpretieren literarischer Texte auf den Autor bezieht, findet in den gängigen Interpretationstheorien wenig methodischen Rückhalt. Im Gegenteil: Die Auffassung, der Autor sei für die Erklärung der Bedeutung seiner Texte relevant, wurde in den letzten Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen theoretischen Haltungen heraus in Zweifel gezogen. Bereits in den vierziger Jahren hatten die New Critics William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley den methodischen Vorwurf der intentional fallacy gegen all jene Interpreten erhoben, die sich auf Intentionen des Autors berufen hatten. In den fünfziger Jahren setzte sich in Deutschland mit Wolfgang Kayser die Einsicht durch, daß der Autor vom Erzähler prinzipiell zu unterscheiden sei. Wenig später löste Wayne C. Booths Textkonstrukt des implied author den realen Autor als maßgeblichen Leitbegriff der Interpretation ab. Der radikalste Angriff gegen den Autor wurde jedoch gegen Ende der sechziger Jahre in Frankreich unternommen. Roland Barthes proklamierte den »Tod des Autors«. Er ersetzte ihn durch das Konzept eines Schnittpunkts von Diskursen und knüpfte damit an Julia Kristevas Verabschiedung des Autors zugunsten einer universalen Intertextualität an. Zur selben Zeit überführte Michel Foucault die Instanz des individuellen Autors in eine auf die Epoche der Moderne begrenzte diskursive Funktion. 1 Vor dem Hintergrund dieser Positionen und ihrer aktuellen Fortführungen ist die Verwendung des Autorbegriffs bei der Interpretation literarischer Texte heute dem Vorwurf theoretischer Naivität ausgesetzt. Gleichzeitig ist der Autor in der Interpretationspraxis der Literaturwissenschaft weiterhin von großer Bedeutung. (Im außeruniversitären Umgang mit Literatur ist er ohnehin stets präsent geblieben.) Diese Diskrepanz mag hie und da in einer Ignoranz gegenüber vergangenen und aktuellen Theoriedebatten begründet sein oder in einer mangelnden Roland Barthes: La mort de l'auteur [1968]. Wiederabgedruckt in R. B.: (Euvres completes. Tome II: 1966-1973. Paris: Seuil 1994, S. 491-495; Julia Kristeva: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman [1967], unter dem Titel Le mot, le dialogue et le roman wiederabgedruckt in J. K.: . Recherches pour une s6manalyse. Paris: Seuil 1978, S. 82-112; Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? (1969), mit späteren Varianten und Ergänzungen wiederabgedruckt in M. F.: Dits et 6crits 1954-1988. Tome I: 1954-1969. Paris: Gallimard 1994, S. 789-821.
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Konsequenz, als richtig akzeptierte Theoriepostulate auch de facto für die eigenen Textlektüren zu berücksichtigen. Aber solche Erklärungen reichen nicht aus. Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion über den Autor zentralen Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Texten nicht gerecht wird. Die Praxis der Interpretation(en) literarischer Texte demonstriert vielmehr legitime, ja notwendige Verwendungsweisen des Autorbegriffs, die von der Theoriediskussion nicht angemessen wahrgenommen werden. Diese Verwendungsweisen lassen sich nicht nur historisch rekonstruieren. Sie können und sollten, so meinen wir, auch systematisch gerechtfertigt werden. Das ist ein wichtiges Anliegen unseres Bandes.2
Eine umfassende Darstellung der Geschichte des europäischen Autorbegriffs liegt bislang nicht vor. Um dennoch das Feld zu strukturieren, in dem sich die Diskussionen um den Autor in den letzten Jahrzehnten bewegen, wollen wir hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit die wichtigsten Modelle skizzieren, die den Autorbegriff seit der Antike maßgeblich geprägt haben. 1. Inspiration: Zu den frühesten ausführlichen Erörterungen der literarischen Autorschaft gehört Platons Ion. Im Zentrum dieses Dialoges steht das Modell des inspirierten Dichters, des poeta votes. Hier erscheint der Autor als unbewußtes Medium, das den Text zwar in einem materiellen Sinne hervorbringt. Ursprung und Geltungsanspruch des Textes liegen aber nicht in ihm, sondern in einer göttlichen Instanz, da nämlich »die Dichter nichts anderes sind als Mittler [hermenes] der Götter, Besessene dessen, von dem jeder einzelne gerade besessen ist« (534e).3 Die Vermittlung des göttlichen Dichterstoffes geschieht mit Hilfe des von den Musen eingegebenen Enthusiasmus. »Denn alle guten Ependichter singen nicht aufgrund eines Fachwissens [techne], sondern in göttlicher Begeisterung und Ergriffenheit alle diese schönen Dichtungen, und die Liederdichter, die guten, ebenso« (533e). Die dichterische Produktion Im englischsprachigen Raum ist die Debatte um den Autor bereits seit einigen Jahren wieder aufgenommen worden, vgl. zuletzt Maurice Biriotti / Nicola Miller (Hg.): What is an Author? Manchester: Manchester University Press 1993; Peter Jaszi / Martha Woodmansee (Hg.): The Construction of Authorship. Textual Appropriation in Law and Literature. Durham: Duke University Press 1994; Sean Burke (Hg.): Authorship - From Plato to the Postmodern. Edinburgh: Edinburgh University Press 1995; in Deutschland z.B. Felix Philipp Ingold / Werner Wunderlich (Hg.): Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1992; F. P. I. / W. W. (Hg.): Der Autor im Dialog. St. Gallen: UVK 1995; Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen Basel: Francke 1998; Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000. Platon: Ion. Griechisch / Deutsch. Übers, u. hg. von Hellmuth Flashar. Stuttgart: Reclam 1997, S. 19.
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ist keine Sache des Wissens, sondern der göttlich inspirierten Begeisterung. Sokrates vergleicht im Ion bekanntlich die Übertragung der poetischen Begeisterung von der Muse über den Autor, den Rhapsoden und Schauspieler bis hin zum Hörer mit einem magnetischen Stein, der Eisenringe anzieht und so magnetisiert, daß diese ihrerseits andere Ringe anziehen und so eine Kette aneinandergehefteter Ringe bilden. Dieser Vergleich beansprucht die Gültigkeit des Inspirationsmodells nicht nur für die Produktion, sondern ebenso auch für die Vermittlung und das Verstehen poetischer Texte. Hier ist der Autor kein privilegierter Interpret seines eigenen Textes. Und deshalb spielt auch für das angemessene Verstehen des Textes seine individuelle Intention keine Rolle. 2. Kompetenz'. Im Ion wird außer dem inspirierten poeta votes auch noch ein zweites Autorschaftsmodell angesprochen. Gemeint ist das in der Poetik des Aristoteles und in der rhetorischen Tradition favorisierte Modell vom Autor als kompetentem Kenner und Anwender von >technischem< Fachwissen, dem poeta faber. So wie ein Handwerker durch seine techne (ars) die entsprechenden Objekte hervorbringt, so zeichnet sich auch der poeta faber durch den kompetenten Gebrauch von Regeln aus. Im Ion wird dieses Modell von Sokrates allerdings ausdrücklich abgelehnt - »nicht kraft eines Fachwissens reden sie (i.e. die Dichter), sondern durch eine göttliche Kraft« (534c). 3. Autorität: Sowohl für das Inspirations- als auch für das Kompetenzmodell gilt, daß die Individualität des Autors zugunsten überindividueller Instanzen zurücktritt. In der mittelalterlichen Poetik setzt sich das fort. Die christlichen Kirchenväter und die christlich gedeuteten Klassiker der antiken Literatur werden zu einem Kanon maßgeblicher auctores zusammengeschlossen, mit deren Autorität jeder neue Autor den Geltungsanspruch seiner Texte im Sinne einer imitatio veteris zu legitimieren hat. In den Schemata der lateinischen Textkommentare ist zwar unter anderem auch eine Erklärung der inlentio auctoris vorgesehen; damit ist jedoch keine biographisch orientierte Rekonstruktion einer individuellen Autorabsicht gemeint, sondern die überindividuelle und ahistorische, didaktisch-erbauliche Wirkungsabsicht des Autors im Sinne der christlichen Lehre.4 4. Individualität: Auch das Interesse an der biographisch und historisch spezifischen Individualität des Autors hat eine lange Geschichte und reicht zurück bis in die griechische Antike. Unter Rückgriff auf die Ethik des Aristoteles haben dessen Schüler bereits im vierten vorchristlichen Jahrhundert die Biographik als systematische Gattung gepflegt.5 Ihr Interesse galt dabei dem Zusammenhang von Charakter und Werk und damit auch dem Zusammenhang von Zum Autormodell in der lateinischen Kommentartradition des Mittelalters vgl. Alastair J. Minnis: Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages. 2. Aufl. Philadelphia: Scholar Press 1988. Manfred Fuhrmann: Biographie. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 1. Stuttgart: Metzler 1964, Sp. 902-904.
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Autorschaft und Autorität. Das ist immer wieder nachgeahmt worden, so etwa in der Tradition der lateinischen Textkommentare, die seit dem 13. Jahrhundert die individuelle Person des Autors hinzugezogen haben, um den Geltungsanspruch des Textes zu bekräftigen. Das geschieht beispielsweise durch den Hinweis auf bereits erschienene, erfolgreiche Werke desselben Autors oder durch den Hinweis auf dessen moralische Lebensführung. In Biographien über literarische Autoren - einem Genre, das mit Boccaccios Dante-Vita Tratatello in laude di Dante (um 1360) beginnt - werden ebenfalls Eigenschaften literarischer Texte durch den Bezug auf die Biographie ihres Autors erklärt. Eine breite und poetologisch fundierte Bezugnahme auf den individuellen Autor fand aber erst im 18. Jahrhundert im Zuge der Auflösung der Regelpoetik statt. Für die deutsche Tradition war hier insbesondere die Genie-Poetik des Sturm und Drang bestimmend. So erklärte etwa Johann Gottfried Herder 1778, »man sollte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können«, denn »das Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften«.6 5. Stil: Die Künstlerviten der Renaissance, etwa Giorgio Vasaris Vite (1550), führen zudem auch einen stilistischen Individualitätsbegriff ein: Der große Künstler weicht auf signifikante Weise von der Tradition ab, indem er seine Werke mit einem unverwechselbaren Personalstil versieht. Das Gesamtwerk eines Autors oder Künstlers wird zudem als Bestandteil seiner Biographie verstanden und die Einzelwerke etwa als >Früh-< oder >Spätwerke< in einen narrativen, auf die Biographie des Autors bezogenen Erklärungszusammenhang eingebettet. Das Gesamtwerk eines Autors wird so nicht nur zum Ausdruck seiner Persönlichkeit, sondern auch zum Abbild seiner individuellen Entwicklung.7 Seine klassische Formulierung fand das stilistische Autormodell in dem Diktum des Comte de Buffon: »le style est l'homme meme«. Im Zusammenhang lautet die Passage aus Buffons Discours sur le style (1753): Les connaissances, les faits et les decouvertes s'enlevent aisement, se transported, et gagnent meme ä etre mis en oeuvre par des mains plus habiles. Ces choses sont hors de l'homme, le style est l'homme meme. Le style ne peut done ni s'enlever, ni se transporter, ni s'alterer: s'il est , noble, sublime, l'auteur sera ogalement admire dans tous les temps."
Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume. In: J. G. H.: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin: Weidmann 1892, S. 165-333. Hier: S. 208 f. Siehe Catherine M. Soussloff: The Absolute Artist. The Historiography of a Concept. Minneapolis: University of Minnesota Press 1997. Georges Louis Leclerc, Comte de Buffon: Discours sur le style. In: G. L. L.: Comte de Buffon: (Euvres philosophiques de Buffon. Texte etablie et presence par Jean Piveteau. Paris: Publications universitaires de France 1954, Bd. XLI/1, S. 500-504. Hier: S. 503.
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6. Intention: Eng mit der Beachtung der historisch-biographischen Individualität des Autors verknüpft ist der Rekurs auf die Intention des Autors als Verstehensnorm. Es scheint, daß die Autorintention ebenfalls erst im 18. Jahrhundert in größerem Umfang zum Bezugspunkt der Interpretation wurde. Begrifflich erfolgte dies im Rahmen der Aufklärungshermeneutik mit der Unterscheidung von >grammatischer< und >historischer< Interpretation. So schreibt etwa 1799 der Theologe und Orientalist Georg Lorenz Bauer: Die grammatische Interpretation [...] untersucht die Bedeutung einzelner Werke und ganzer Redensarten und Sätze; die historische Interpretation untersucht näher, was und wie viel ein Verfasser bey seinen Werken gedacht, welche Begriffe er genau damit verbunden und gewollt hat, daß andere die nämlichen Begriffe damit verbinden sollen.9
Wenige Jahre später machte dann Friedrich Daniel Schleiermacher diese Unterscheidung zum Ausgangspunkt seiner Hermeneutik. 7. Copyright: Neben der Individualität und der Intention des Autors etabliert sich im 18. Jahrhundert schließlich noch eine dritte Form von Autorschaft: das juristische Autormodell. Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten eine Vorstellung vom geistigen Eigentum gab,10 so gewinnt erst im 18. Jahrhundert dieses Modell an Bedeutung. Kennzeichnend für diese Konzeptualisierung des Autors ist die Auffassung, der Autor habe ein spezifisches Eigentumsrecht an seinem Text und damit verbunden auch ein einklagbares und mit Vergütungsansprüchen verbundenes Copyright. Rechtsgeschichtlich setzt sich dieses Modell zunächst in Großbritannien, dann auch in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland durch." Erst im 18. Jahrhundert ist damit das moderne Konzept von Autorschaft ausgebildet. Juristische, ökonomische und produktionsästhetische Vorstellungen sind hier zusammengeführt. Gerade am juristischen Modell läßt sich aber auch zeigen, daß die hier aufgelisteten Modelle nicht mehr als idealtypische Rekonstruktionen sein können. Ihre Georg Lorenz Bauer: Entwurf einer Hermenevtik des Alten und Neuen Testaments. Leipzig: Weygand 1799, S. 96. Zur Herausbildung einer autorbezogenen historischen Interpretation< in der Aufklärungshermeneutik vgl. Hendrik Birus: Zum Verhältnis von Hermeneutik und Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. In: Rainer Wimmer (Hg.): Sprachtheorie. Düsseldorf: Schwann 1987, S. 143-174, bes. S. 155ff. Norbert Brox: Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudoepigraphie. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1975. Für Großbritannien vgl. Mark Rose: Authors and Owners. The Invention of Copyright. Cambridge/Ma.: Harvard University Press, 1993; für Frankreich Carla Hesse: Publishing and Cultural Politics in Revolutionary Paris, 1789-1810. Berkeley: University of California Press 1991; für Deutschland Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a.: Schöningh 1981 und Gerhard Plumpe: Eigentum - Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 175-196.
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historisch konkreten Ausprägungen sind vielfältiger, ja oft widersprüchlicher, als es die heutige Theoriedebatte um den Autor erkennen läßt. So verlaufen in der Frühen Neuzeit die Herausbildung der Idee des geistigen Eigentums und ihre institutionelle Umsetzung nicht linear. Interesse an der juristischen Durchsetzung hatten zunächst die Stellen der Zensur, die begannen, Autoren und Verlagsnennungen vorzuschreiben,12 und dabei, wie etwa die kursächsische Generalverordnung von 1686, eine Vorstellung vom geistigen Eigentum entwickelten. Das Urheberrecht ist daher keineswegs eine >bürgerliche< Erfindung, wie in der Theoriedebatte des öfteren behauptet wird. Das bestätigt auch ein Blick nach Frankreich. Hier stand die Auffassung der Revolutionäre quer zu der des Ancien Regime, das dem Autor ein privilegiertes Verfügungsrecht über seinen Text eingeräumt hatte, so daß die Publikation anonymer, pseudonymer und clandestiner Literatur ihren Höhepunkt unter dem Ancien Regime erlebte.13 Zwischen 1789 und 1793 wurde dagegen intensiv darüber gestritten, ob dieses Privileg überhaupt beim individuellen Autor verbleiben sollte, da sein Werk doch Besitz der neu entstandenen Öffentlichkeit sein müsse. Das Revolutionsgesetz von 1793 folgt dieser antiabsolutistischen Rechtsauffassung und bestreitet dem Autor sein individuelles Verfügungsrecht. Damit war, wie Carla Hesse aufgezeigt hat, im Anfang der modernen rechtlichen Bestimmung des Autors ein ungeklärter Widerspruch angelegt: The author as a legal instrument for the regulation of knowledge was created by the absolutist monarchy in 1777, not by the liberal bourgeois democracy inaugurated in 1789. The author was created by a royal regime that exercised power through privilege rather than by a constitutional regime committed to ensuring the protection of the individual as a private property owner. The revolutionary legislation did redefine the author's »privilege« as property, but not as an absolute right. The intention and the result of this redefinition of the author's claim to his text as property was not to enhance the author's power to control or determine the uses and meanings of the text. In fact, it was quite the opposite.14
Die Entwicklung in Frankreich macht dabei nur besonders augenfällig, was sich auch in anderen Ländern wie Deutschland, England und den Vereinigten Staaten Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 452-457: »Die Durchsetzung des Urheberrechtsgedankens«. Paul Raabe: Pseudonyme und anonyme Schriften im 17. und 18. Jahrhundert. In: P. R. (Hg.): Der Zensur zum Trotz. Das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa. Weinheim: VCH 1991, S. 53-66; Franfois Moureau (Hg.): De bonne main. La communication manuscrite au siecle. Paris u.a.: Universitas 1993; Miguel Benitez: La Face cachee des Lumieres. Recherches sur les manuscrits philosophiques clandestins de Tage classique. Paris - Oxford: Fondation Voltaire 1996. Carla Hesse: Enlightenment Epistemology and the Laws of Authorship in Revolutionary France, 1777-1793. In: Representations 30 (1990), S. 109-137. Hier S. 130.
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beobachten läßt:15 Bis heute gilt in diesen Ländern die rechtliche Regelung, daß das Werk eines Autors nach einer definierten Frist wieder der Allgemeinheit zufällt. Diese Rechtsauffassung ist nur vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Entwicklung des modernen Autors begreifbar. Was hier an Widersprüchen für das juristische Modell angedeutet ist, ließe sich auch für die anderen Modelle aufzeigen.15 Die Gleichzeitigkeit konkurrierender Modelle des Autors hat in der Folgezeit die entstehenden Literaturwissenschaften nachhaltig geprägt. Als sich im 19. Jahrhundert die Philologien als eigenständige akademische Disziplinen auszubilden begannen, war der individuelle Autor mit seiner spezifischen Biographie, seinen Intentionen und seinen Eigentumsrechten nur ein Bezugspunkt unter mehreren im Umgang mit literarischen Texten. Der Autor im engen, das heißt vor allem biographischen Sinn ist kaum jemals die vorherrschende Verstehensnorm für wissenschaftliches Textverstehen gewesen. Ein Fach wie die Germanistik hat vielmehr aus seinen Gegenständen die Dichterbiographik als Genre der populären Literatur ausgegliedert. Bestimmend für die Konsolidierung der Germanistik des 19. Jahrhunderts wurden dagegen Theoreme, die unter Stichworten wie »Liedertheorie« oder »homerische Frage« im sogenannten »Nibelungenstreit« ihre Filiation zu romantischen Ideen kollektiver Autorschaft kaum verbergen können." Schon 1794 hatte Friedrich August Wolf in seinen Prolegomena ad Homerum die These entwickelt, daß sich die Odyssee und die Ilias »nicht eigentlich dem Dichtergenie des Mannes, dem wir sie gewöhnlich zuschreiben, sondern vielmehr der Kunstfertigkeit eines
Jane C. Ginzburg: A Tale of Two Copyrights. Literary Property in Revolutionary France and America. In: Carol Armbruster (Hg.): Publishing and Readership in Revolutionary France and America. A Symposium at the Library of Congress. Westport: Greenwood 1993, S. 95-114 und Catherine Ingrassia: Authorship, Commerce, and Gender in Early Eighteenth-Century England. A Culture of Paper Credit. Cambridge - New York - Melbourne: Cambridge University Press 1998. Ein vergleichbar widersprüchliches Bild ergibt sich beispielsweise auch, wenn man, statt den Vorgaben der Theoriedebatte zu folgen, die frühneuzeitliche Diskussion um die Autorschaft der fünf Bücher Moses ernst nimmt. Dann wird klar, daß die Behauptung, erst in der Neuzeit sei Autorschaft zu einer autoritären Größe aufgerückt, historisch falsch ist, weil es eine sehr viel ältere Tradition der Kritik an der Autorität der biblischen Bücher gibt, die nicht unwesentlich eine Kritik an der Autorschaft Moses als dem Verfasser des Pentateuch ist. Als sein schärfster Kritiker gilt Spinoza, und die Heftigkeit der Repliken auf ihn zeigt schon an, daß das Problem der autoritativen Autorschaft schon längst in der Frühen Neuzeit alles andere denn marginal war. Siehe auch den Beitrag von Lutz Danneberg in diesem Band und Peter T. van Rooden: Theology, Biblical Scholarship, and Rabbinical Studies in the Seventeenth Century. Leiden: Brill 1989. Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im »Nibelungenstreit«. Tübingen: Niemeyer 1990.
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gebildeten Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler verdanken«.18 Mehr als hundert Jahre später schrieb Heinrich Wölfflin in seinem einflußreichen Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: »neben den persönlichen Stil tritt der Stil der Schule, des Landes, der Rasse«.19 1931 bestimmte der Phänomenologe Roman Ingarden das literarische Kunstwerk in entschiedener Absetzung von einem biographischen Begriff des Autors: »Vor allem bleibt vollkommen außerhalb des literarischen Werkes der Autor selbst samt allen seinen Schicksalen, Erlebnissen und psychischen Zuständen«.20 Es sei die Sprache, die spreche, nicht der Autor, heißt es 1950 in Martin Heideggers vielzitiertem Aufsatz Die Sprache.21 Belegstellen dieser und ähnlicher Art lassen sich leicht vermehren, man denke nur an die Stilgeschichte, Kunst- oder Literatursoziolo-
gie." Gibt es also in der Fachgeschichte der literaturwissenschaftlichen Disziplinen einerseits eine gut etablierte Tradition der Autorkritik, so gibt es andererseits auch eine Reihe von autorzentrierten Konzepten. Carl Lachmanns Anspruch, die Textwerkstatt eines Autor rekonstruieren zu wollen,23 Wilhelm Diltheys Begriff des Erlebnisses,24 Friedrich Gundolfs Heroenbiographien,25 bestimmte Ansätze
2S
Friedrich August Wolf: Prolegomena zu Homer. Übersetzt von Hermann Muchau. Leipzig: Reclam 1908 [1794], S. 92. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München: H. Bruckmann S1921 [1915], S. 6. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Halle: Niemeyer 1931, S. 18 oder S. 19: »[...] so ändern all die Tatsachen nichts an dem primitiven und doch oft genug verkannten Faktum, daß der Autor und sein Werk zwei heterogene Gegenständlichkeiten bilden«. Martin Heidegger: Die Sprache. In: M. H.: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske 1971 [1950], S. 9-33. Vgl. Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 249ff. Lachmann verstand dies freilich als eine Leistung, die ebensoviel Urheberrecht genießen sollte, wie es dem Autor zugesprochen wird. Man vergleiche dazu die ironische Replik Lachmanns auf die Rechtsprechung, die Herausgebern und Kommentatoren das Urheberrecht an den von ihnen edierten Texten abspricht, Karl Lachmann: Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken. Eine Warnung für Herausgeber. In: K. L.: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie. Hg. von Karl Müllenhoff. Berlin: Reimer 1876, S. 558-576. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig: Teubner 1906; W. D.: Beiträge zum Studium der Individualität [1895/96]. In: W. D.: Gesammelte Schriften. Bd. 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Stuttgart - Göttingen: Teubner - Vandenhoeck und Ruprecht "1990, S. 241-316; W. D.: Die Selbstbiographie; Die Biographie. In: W. D.: Gesammelte Schriften. Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenshaften. Stuttgart - Göttingen: Teubner - Vandenhoeck und Ruprecht 7 1979, S. 199-202 und S. 246-251. Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin: Bondi 1916.
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der Kunst- und Literaturpsychologie,26 sie wären hier zu nennen. Neuere Zugänge wie etwa Gender studies oder Cultural studies setzen ebenfalls vielfach ein Wissen über den Autor voraus - welchen Geschlechts er oder sie ist, welcher Herkunft - und handhaben den Autor entsprechend offensiv als Wertungsinstanz. Das alles spricht dafür, daß sich das Problem des Autors keineswegs so Ideologisch einsinnig entwickelt hat, wie es etwa Foucaults Rede behauptet hat. Die Geschichte des Autors ist nicht die von einer ungeregelten Autorschaft zu einer disziplinierten, von einer autorunabhängigen zu einer autorzentrierten Konzeption. Zutreffender dürfte eine Beschreibung erst dann sein, wenn sie berücksichtigt, daß es ein Set von Möglichkeiten der Konzeptionierung des Autors gibt, aus denen unter verschiedenen Bedingungen einzelne prämiert werden, ohne daß damit konfligierende Konzepte immer ganz ausgeschlossen wären.
Obwohl der Autor kaum jemals als einzig relevante Verstehensnorm literarischer Texte angesehen worden ist, kann das Mißtrauen gegenüber dem Autor als Interpretationskategorie, wie es heute mehr oder weniger als communis opinio in der Literaturwissenschaft vorzufinden ist, von einer recht kleinen Zahl von Kritiken hergeleitet werden, die in den letzten fünfzig Jahren vorgetragen wurden. Es scheint, daß vor allem vier Angriffe die Debatte der letzten Jahrzehnte bestimmt haben. Sie bilden keinen homogenen Diskussionszusammenhang. 1. Autorintention vs. Textbedeutung. An chronologisch erster Stelle ist William K. Wimsatts und Monroe C. Beardsleys 1946 veröffentlichter Aufsatz »The Intentional Fallacy« zu nennen. Darin verwahren sich die Autoren gegen eine Interpretationsmethode, die die Bedeutung eines literarischen Textes aus den Intentionen seines Autors abzuleiten oder in ihr zu begründen sucht. Warum, so fragen sie, sollte der Interpret versuchen herauszufinden, was der Autor sagen wollte? If the poet succeeded in doing it, then the poem itself shows what he was trying to do. And if the poet did not succeed, then the poem is not adequate evidence, and the critic must go outside the poem - for evidence of an intention that did not become effective in the poem.27
Nicht der Autor mit seiner historisch-biographischen Individualität und seinen Intentionen, sondern der literarische Text selbst (»the poem itself«) sei der einzig
27
Norbert Groeben: Literaturpsychologie. In: Heinz Ludwig Arnold / Volker Sinemus (Hg.): Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Bd. 1: Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1973, S. 388-396. William K. Wimsatt / Monroe C. Beardsley: The Intentional Fallacy, in: W. K. W.: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry. Lexington: University of Kentucky Press 1954, S. 3-18. Hier S. 4.
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legitime Bezugspunkt der Interpretation. Obwohl also der Autor der Urheber des Textes ist, sei dessen Bedeutung von seinem Ursprung unabhängig: »The poem is not the critic's own and not the author's (it is detached from the author at birth and goes about the world beyond his power to intend about it or control it). The poem belongs to the public«.2* Die Interpretation literarischer Texte dürfe deshalb auch nicht durch text-externe Evidenzen wie Eigenkommentare des Autors oder durch Bezug auf die biographischen Entstehungsumstände des Textes begründet werden, sondern allein durch textinterne Evidenzen (»internal evidence«): »through the semantics and syntax of a poem, through our habitual knowledge of the language, through grammars, dictionaries, and all the literature which is the source of dictionaries, in general through all that makes a language and culture«.29 2. Autor vs. Erzähler. Während Wimsatt und Beardsley vor allem einen auf die Intentionen des Autors bezogenen Umgang mit lyrischen Texten kritisiert haben, gelingt in den fünfziger Jahren Wolfgang Kayser anhand des neuzeitlichen Romans die Durchsetzung der Unterscheidung zwischen dem Autor und dem Erzähler fiktionaler Erzählwerke. In einer Reihe von Aufsätzen behandelt Kayser diese Unterscheidung, die schon 1910 Kate Friedemann in ihrem Buch Die Rolle des Erzählers in der Epik vorgenommen und die in ähnlicher Form, etwa zeitgleich mit Kayser, auch Kate Hamburger getroffen hat.30 »Ein Erzähler«, so schreibt Kayser, »ist in allen Werken der Erzählkunst da, im Epos wie im Märchen, in der Novelle wie in der Anekdote«.31 Aus dem Umstand, daß der Erzähler, im Unterschied zum Autor, seine Sätze mit Wahrheitsanspruch behauptet, folgert Kayser, »daß der Erzähler in aller Erzählkunst niemals der bekannte oder noch unbekannte Autor ist, sondern eine Rolle, die der Autor erfindet und einnimmt«. 32 Kaysers systematische Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler setzt den Autor als Bezugsbegriff der Interpretation allerdings - anders als es bei Wimsatt und Beardsley geschieht - keineswegs außer Kraft. Es ist eine verbreitete, aber unzutreffende Annahme, Kaysers Methode der sogenannten >werkimmanenten 2
* Ebd., S. 5.
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Ebd., S. 10; allerdings räumen Wimsatt und Beardsley an einer Stelle prekärerweise auch die Möglichkeit individueller Bedeutungsgehalte auf seilen des Autors ein, die durchaus Gegenstand der Textinterpretation sein können: »There is [...] an intermediate kind of evidence about the character of the author or about private or semiprivate meanings attached to words or topics by an author or by a coterie of which he is a member« (S. 10). Kate Hamburger: Die Logik der Dichtung. 2., stark veränderte Auflage. Stuttgart: Klett 1968. S. 11 Iff.: »Das Verschwinden des Aussagesubjekts und das Problem des >ErzählersAutor< verzichten kann, kaum aber auf die Funktion, die er in ihren Argumentationen innehat. Auch dies mag das Auseinandertreten von Theorie und Praxis erklären und als ein weiteres Argument für eine eingehendere Rekonstruktion und Prüfung der die Praxis leitenden Regeln genommen werden. Literaturtheorie Auch wenn eine »konsistente Theoriedebatte« um Autorkonzeptionen nach wie vor anzumahnen ist,49 finden die literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um deren Bestimmung und Relevanz für den Umgang mit Literatur doch meistens in Form theoretischer Debatten statt, deren oftmals fehlende Verbindung zur Praxis hier bereits konstatiert worden ist. Die Differenzen zwischen verschiedenen Positionen sind daher auch am prägnantesten zu erkennen, wenn man Literaturtheorien betrachtet. Neben rahmentheoretischen Unterschieden und Abweichungen im Literatur- und Textbegriff ist es die Einschätzung, welche Rolle der Autorinstanz für das Verstehen oder Interpretieren literarischer Texte zukomme, die diese Theorien charakterisiert. Literaturtheoretiker können zwar darauf verzichten, den Begriff >Autor< zu definieren, nicht aber darauf, ihn auf spezifische Weise zu verwenden. Um Autorkonzepte zu differenzieren, sind sie daraufhin zu untersuchen, in welchem theoretischen Rahmen sie begründet und damit auch inhaltlich bestimmt werden,50 und es ist nach ihren Funktionen in Bedeutungs- und Interpretationskonzeptionen zu fragen. Beides kann hier nur exemplarisch geschehen. Wie auch die oben skizzierten historischen Autormodelle zeigen, können Annahmen über den Autor auf mindestens zwei Arten begründet werden: Sie können zum einen als Bestandteil allgemeiner theoretischer Annahmen über
ff\
Dorothee Thum: Das Territorialitätsprinzip im Zeitalter des Internet. Zur Frage des auf Urheberrechtsverletzungen im Internet anwendbaren Rechts. In: Michael Bartsch / Bernd Lutterbeck (Hg.): Neues Recht für neue Medien. Karlsruhe: O. Schmidt 1998, S. 117-144. So Erich Kleinschmidt: Autorschaft (Anm. 2), S . U . Für das Beispiel hermeneutischer Autorkonzeptionen vgl. den Beitrag von Lutz Danneberg in diesem Band.
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die Funktionsweise von Sprache, Gesellschaft, Geschichte etc. auftreten. Diese Annahmen prägen die inhaltliche Füllung des Begriffs >Autorgar nicht< bis >zentral< reicht. In konstruktivistischen wie auch in dekonstruktivistischen Modellen wird der Autor aus der Menge bedeutungskonstituierender Instanzen ausgeschlossen: Bedeutung wird einem Text im Akt der Lektüre verliehen, indem Individuen (>Normalleser< oder Experten) Textelemente und Kontexte variabel fokussieren.54 Schreibt ein Autor seinem Text Bedeutung zu, so tut er dies nur als ein Leser und keineswegs als privilegierter Interpret. In allen anderen Modellen, in denen die Bedeutung eines Textes mit Bezug auf eine überindividuelle Instanz bestimmt wird, erhält der Autor zumindest eine Minimalfunktion. Dazu zwei Beispiele. In strukturalistischen Konzeptionen etwa wird davon ausgegangen, daß Bedeutung im Prozeß der Vgl. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung (Anm. 24). Etwa bei Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? (Anm. l). Zu den Implikationen der Autorkritik für den Anspruch zahlreicher poststrukturalistischer Literaturwissenschaftler, politisch-emanzipatorisch tätig zu sein, vgl. den Beitrag von Sean Burke in diesem Band. Zu einer konstruktivistischen Position vgl. etwa Gebhard Rusch: Autopoiesis, Literatur, Wissenschaft. Was die Kognitionstheorie für die Literaturwissenschaft besagt. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 374-400. Hier bes. S. 393-396. Zur dekonstruktivistischen Auffassung vgl. zusammenfassend Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek: Rowohlt 1988, S. 123-149.
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Text-Codierung unter anderem durch Differenzen im Sprachsystem entsteht; damit kann dem Autor als >Codierer< immerhin die Funktion zukommen, Konstitution von Bedeutung räum-zeitlich zu fixieren (Funktion 1). In derselben Funktion wird der empirische Autor in rezeptionsästhetischen Ansätzen verwendet, in denen es um die Rekonstruktion einer > angemessenen < Textbedeutung geht. Diese wird zwar, zum Beispiel bei Hans Robert Jauß, in erster Linie durch Textmerkmale, den »Erwartungshorizont« und andere leserbezogene Faktoren bestimmt, der Autorbezug dient aber (mindestens) zur Ausgrenzung historisch nicht adäquater Rezeptionsergebnisse.55 Eine weitergehende Funktion wird dem Autor in rezeptionsgeschichtlichen Modellen zugeschrieben, die ohne normative Auszeichnung bestimmter Konkretisationen die Bedeutung eines literarischen Textes als Summe aller Rezeptionszeugnisse bestimmen.56 Die bedeutungskonstitutive Leistung des Autors ist hier eine unter vielen. Seine Funktion ist bildlich gesprochen die, Bestandteil einer offenen Reihe von Bedeutungszuschreibungen zu sein (Funktion 2). Die zentrale Rolle dagegen spielt der Rekurs auf den Autor bekanntermaßen in autorintentionalistischen Bedeutungskonzeptionen, deren einfachste Variante besagt, daß die Bedeutung eines Textes die von seinem empirischen Autor beabsichtigte sei.57 Seine Funktion ist es hier, Bedeutung festzulegen (Funktion 3). Dieselbe Funktion, wenn auch mit anderer Begründung und abweichender Rekonstruktion, kommt dem empirischen Autor in literaturpsychologischen Modellen zu, nach denen ein Text das bedeute, was er >hinter dem Rücken< seines Autors ausdrücke.58 Wenn auch voraussetzungsgemäß die Bedeutung des Textes nicht die vom Autor gewollte sein kann, sind es doch seine >psychischen Mechanismen^ die bedeutungskonstitutiv wirken. Zu den komplexeren Varianten einer autorintentionalistischen Bedeutungskonzeption zählen darüber hinaus rezeptionsästhetische Ansätze, die, wie gesagt, dem empirischen Autor nur die minimale Funktion der historischen Fixierung zuerkennen. Eine abstrakt verstandene
So z.B. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, s. 144-207. Hier bes. S. 173-199. Vgl. dazu zusammenfassend und kritisch Hans-Harald Müller: Wissenschaftsgeschichte und Rezeptionsforschung. Ein kritischer Essay über den (vorerst) vorletzten Versuch, die Literaturwissenschaft von Grund auf neu zu gestalten. In: Jörg Schönen / Harro Segeberg (Hg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1988, S. 452-^79. Hier bes. S. 466f. Vgl. dazu genauer Lutz Danneberg / Hans-Harald Müller: Der >intentionale Fehlschluß< - ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften. Teil I und II. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XIV (1983), S. 103-137, 376-411. Eine Zusammenstellung von Beispielen findet sich bei Walter Schönau: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1991, S. 94-100.
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Autorinstanz jedoch, der >implizite< oder >abstrakte< Autor, fungiert hier ebenfalls als Bezugspunkt für die Rekonstruktion von Textbedeutung.59 Diese vorgängigen Bestimmungen legen Annahmen über Beschaffenheit, methodische Relevanz und Funktion des Autorbezugs für die Interpretation literarischer Texte fest. Solche Annahmen manifestieren sich zum Beispiel in der hermeneutischen Suchregel, daß historische Informationen zu Autor und Entstehungszeit oder >Parallelstellen< in anderen Texten des Autors einzubeziehen seien, um einen literarischen Text zu interpretieren. Die Autorintention stellt hier ein Rekonstruktionsziel dar, an das, durchaus auch kritisch, weitere Ziele angeschlossen werden können. In den Such- und Beziehungsregeln einer Interpretationskonzeption hat das Autorkonzept immer die Funktion, Kontexte zu selegieren (Funktion 4), und es kann die Funktion haben, diese Wahl zu legitimieren (Funktion 5). Dies ist naheliegenderweise nur dann der Fall, wenn >dem Autor< im Rahmen der jeweiligen Interpretationstheorie ein entsprechendes Gewicht zugeschrieben und/oder die Bedeutung eines Textes mit Bezug auf ihn bestimmt wird, wie etwa in hermeneutischen und manchen psychologischen, nicht aber in strukturalistischen oder diskursanalytischen Ansätzen. Entsprechend variieren auch die Auffassungen darüber, welchen argumentativen Stellenwert eine Bezugnahme auf den Autor haben kann: Sie kann dazu herangezogen werden, Interpretationshypothesen zu plausibilisieren oder nur zu illustrieren, oder sie kann eingesetzt werden, um Bedeutungszuschreibungen zu überprüfen (Funktion 6).60 In dieser letzten Variante bilden Autorkonzepte - um eine Formulierung Klaus Weimars aufzunehmen -6I ein fachspezifisches Äquivalent für die Validierungsstrategien anderer Disziplinen. Auch wenn zu den theoretischen Aspekten literaturwissenschaftlicher Verwendung des Autorkonzepts die meisten Forschungen vorliegen, sind noch viele Fragen nicht oder nicht befriedigend beantwortet; einigen haben sich die Beiträger dieses Bandes angenommen: So sind zum einen die Verwendungsweisen von Autorkonzepten in bestimmten Literatur- oder Interpretationstheorien62 und über die Grenzen einzelner Theorien hinweg63 zu sichten und zu analysieren. Dabei ist es wichtig, die verschiedenen theoretischen Positionen vergleichbar zu machen, indem häufig und abweichend verwendete zentrale Termini wie >Autorkonzept< und >Autorfunktion< begrifflich rekonstruiert und Vgl. dazu zusammenfassend Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. München: Fink 1977, S. 49-60 und 280f. Ein Beispiel für diese stärkste Variante ist Eric D. Hirsch: Validity in Interpretation. New Haven: Yale University Press 1967. In der Abschlußdiskussion der Tagung »Rückkehr des Autors?«, 7.-10. Oktober 1997 im Kloster Irsee. Für hermeneutische Theorien Lutz Danneberg, für die der Stilinterpretation zugrundeliegende Theorie Ekaterini Kaleri, beide in diesem Band. Im vorliegenden Band unternehmen dies Werner Strube und, für die feministischen Diskussionszusammenhänge, Sigrid Nieberle.
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expliziert werden.64 Zum anderen ist es der vieldiskutierte, aber noch nicht befriedigend geklärte Begriff der Autorintention in seinen verschieden weiten Varianten, dessen sachliche Diskussion ansteht.65 Nach wie vor offen ist etwa die Frage, welche Bedeutungskonzeptionen ein intentionalistisches Autorkonzept fordern und welche mit ihm unvereinbar sind. Eng mit dem Intentionalitätsproblem hängt die Frage zusammen, welche Bedeutung für Bestimmung und Verwendung des Autorkonzepts der fiktionale Status der meisten literarischen Texte hat.66 Und schließlich gilt es, Konzepte wie das des >impliziten Autors< oder des >lyrischen Ichs< zu untersuchen, da sie - häufig genug unreflektiert - als > Stellvertreter< des empirischen Autors im literarischen Text eingesetzt werden.67 Interpretation Welche Autorkonzepte in Interpretationen literarischer Texte verwendet und in welchen Funktionen sie dort eingesetzt werden, ist bislang kaum und schon gar nicht systematisch untersucht worden.6* Da nicht ohne weitere Prüfung davon auszugehen ist, daß die theoretischen Bestimmungen und Funktionalisierungen dieser Konzepte tatsächlich auch eins zu eins in die Praxis übertragen werden, muß umfangreiches Material an Literaturinterpretationen auf die verschiedenen Verwendungsweisen des Autorkonzepts hin ausgewertet werden. Die Ergebnisse werden zwar nur den disziplinären >Ist-Zustand< dokumentieren, zugleich aber erst die Grundlage liefern, auf der die Angemessenheit oder Unangemessenheit pauschaler Praxisschelten beurteilt werden kann. Um hier dennoch einen ersten Überblick zu versuchen, scheint es sinnvoll zu sein, verschiedene Typen literaturwissenschaftlicher Interpretationen nach ihren Zielen zu differenzieren69 und nach den jeweiligen Autorkonzepten so-
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In diesem Band z.B. bei Fotis Jannidis und Bernhard F. Scholz. Vgl. dazu die Beiträge in Sektion I dieses Bandes. Vgl. dazu den Beitrag von Axel Bühler in diesem Band. Vgl. dazu Tom Kindt / Hans-Harald Müller über die Kategorie des >impliziten Autors< und Jörg Schönen über den Begriff des lyrischen Ichsminimalen< Sinne gesehen: Er hat den Text produziert, und die Bezugnahme auf ihn dient zur historischen Fixierung der lexikalischen Kontextualisierung (Funktion 1). Seine >Intentionen< im Sinne von >Absichten< haben für die Interpretation keine Bedeutung. Dasselbe gilt für »stilbestimmende« Interpretationen, in denen die einem Text eigentümlichen lexikalischen und syntaktischen Besonderheiten und deren Funktionen rekonstruiert werden sollen." Über die Funktion der historischen Fixierung hinaus kann die Autorinstanz hier auch dazu herangezogen werden, den Vergleich mit anderen Texten (desselben Verfassers) zu legitimieren (Funktion 5), um Besonderheiten des einen Werks hervorzuheben. In einem dritten Interpretationstyp geht es, verbunden mit den verschiedensten inhaltlichen Fragestellungen, um eine Rekonstruktion der vom Text vorgegebenen Normen. Hier ist es das Konzept des >impliziten AutorsIntentionen< rekurriert werden, wenn diese in erster Linie als zeitspezifisch und weniger als individuell geprägt angesehen werden (Funktion 3).74 Der Bezug auf eine übergeordnete Größe - etwa die >Ideen< einer Zeit - wird hier als Korrektiv eingesetzt. Im Gegensatz dazu geht es in »psychologischen« Textinterpretationen um eine individuelle Größe, um explizite und besonders um >verdeckte Intentionem eines Autors. Um einen Text mit Bezug auf den psychischen Zustand des Autors zum Zeitpunkt des Verfassens interpretieren zu können, 73 gilt es als legitim, Äußerungen des AuZu diesem Typ der »strukturbestimmenden Textinterpretationen« vgl. ebd., S. 7175. 7 | Vgl. dazu ebd., S. 75-80. Vgl. dazu z.B. Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1976, S. 22 und 40. Nur behauptet sei hier, daß auch das Konzept des >impliziten Autors< mit einem solchen historischen Anliegen kompatibel ist. Zu den »literaturhistorischen Textinterpretationen« vgl. Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft (Anm. 68), S. 86-94. 73 Vgl. dazu ebd., S. 80-85.
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tors und Informationen über seine Verhaltensweisen zur Kontextualisierung einzubeziehen (Funktion 5). In >autorenphilologischen Interpretationen werden literarische Texte im Kontext eines Werkkomplexes oder des Gesamtwerks eines Autors gedeutet. Hier kann die Autorinstanz zum einen eingesetzt werden, um die Kontextualisierungsmöglichkeiten zu begrenzen beziehungsweise die Wahl der Kontexte zu begründen, zum Beispiel wenn nur Werke des Autors aus einer bestimmten Schaffensperiode oder nur explizite Referenztexte einbezogen werden (Funktion 5). Zum anderen kann sie dazu dienen, Interpretationen zu prüfen, indem Aussagen des Autors - seien es Selbstdeutungen oder vom Interpreten erst auf den Text bezogene Aussagen - zur Bestätigung oder Widerlegung eigener oder fremder Deutungshypothesen herangezogen werden (Funktion 6). Worin sich dieser Interpretationstyp von den bisher behandelten unterscheidet, sind weniger die Funktionen, welche die Bezugnahme auf die Autorinstanz erfüllen soll, als vielmehr die Menge und die Heterogenität des zugelassenen Textmaterials, dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, diese Funktionen zu erfüllen. Diese Kurzcharakteristiken treffen allerdings wohl nur auf interpretatorische Idealtypen zu. In der Praxis herrschen Mischformen und, so ist anzunehmen, Interpretationen vor, in denen aus pragmatischen Gründen autorbezogene Kontexte ad hoc einbezogen werden, weil sie - zum Beispiel aufgrund der Textlage - plausibel erscheinen, auch wenn sie von der impliziten Literaturtheorie her nicht oder zumindest nicht primär zu den legitimierten Informationseinheiten gehören.76 Daß man sich dabei in der Regel weniger an theoretischen Grundsätzen orientiert als vielmehr nach akuten Begründungsnotständen richtet, wird besonders deutlich, wenn man poststrukturalistische Interpretationen oder >Lektüren< 77 betrachtet, in denen der Autorbezug keine Rolle spielen dürfte: Hier werden dem theoretisch postulierten Verzicht auf den Autor zum Trotz in der Praxis dann doch des öfteren biographische und werkbezogene Informationen über den empirischen Autor funktionalisiert,7* und zwar wiederum zur historischen Fixierung und um die Wahl von Intertexten und Kontexten zu plausibilisieren.79 Vgl. dazu schon Gerhard Pasternack: Theoriebildung in der Literaturwissenschaft. Einführung in Grundfragen des Interpretationspluralismus. München: Fink 1975, S. 154 und öfter. Genauer gesagt: die textuell fixierten Ergebnisse professioneller Lektüren. Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Lauer in diesem Band. Als Beispiele vgl. die diskursgeschichtliche Kleist-Deutung Friedrich A. Kittlers: Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben von Chili«. München: Beck 1985, S. 24-38, oder, als ein Exempel >poststrukturalistischer AutorenphilologieIch-Origo< im Text. Die Bezugnahme auf die Äußerungen des empirischen Autors - seien es Aussagen oder Handlungen - dient dann dazu, Interpretationshypothesen zu belegen beziehungsweise zu plausibilisieren und die Vielzahl potentiell einbeziehbarer Kontexte zu begrenzen. Unser grober Überblick hat ergeben, daß Autorkonzepte in den Funktionen, die ihnen in Literaturtheorien zugeschrieben werden, auch die Interpretationspraxis bestimmen, wenn auch in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen. In welchen Funktionen Autorkonzepte darüber hinaus noch eingesetzt werden, müßte in den eingangs schon geforderten Interpretationsanalysen erst noch erarbeitet werden."0 Ebenfalls klärungsbedürftig ist das Verhältnis zwischen Autorbezug und Texteigenschaften: Aufweiche Textmerkmale wird Bezug genommen, um die Autorintention oder die Interpretationsinstanz des >impliziten Autors< zu rekonstruieren? Und welche dieser Bezugnahmen sind legitim oder auch nur plausibler als andere? Wenn zum Beispiel in einem literarischen Text systematisch von sprachlichen Normen abgewichen wird und dieser Normbruch als beabsichtigt rekonstruierbar ist, warum sollte ein Interpret dann darauf verzichten, diese Textmerkmale als potenziert bedeutungstragende in seine Deutung einzubeziehen und diese Operation über den Rekurs auf die Autorintention zu begründen?81 Darüber hinaus wäre der Begriff >Autor< im Kontext literaturwissenschaftlicher Interpretationen zu differenzieren. Es wäre jeweils anzugeben, ob man vom Autor als Urheber oder Schreiber eines Textes spricht oder von der aus dem Text erschlossenen Absicht, den Zielen, dem Anliegen des Autors.82 Die erste Verwendungsweise kommt, wie dargestellt, in allen Interpretationstypen vor und ist in der Regel unproblematisch, für die Interpretation aber auch nicht sehr ergiebig. Aussagen des zweiten Typs dagegen sind immer Konstruktionen des Lesers beziehungsweise Interpreten und lassen sich nicht im strengen Sinne prüfen, sind aber plausibilisierbar. Textkritik Die neugermanistische Editionsphilologie weist schon aufgrund der Anlage ihrer editorischen Langzeitprojekte, die im Fach zu den kostenintensivsten Vgl. dazu den Beitrag von Fotis Jannidis in diesem Band. Vgl. dazu das Mandel'stam-Beispiel bei Willie van Peer; andere empirisch nachweisbare >Markierungen< des Autors in seinem Text zeigt Colin Martindale auf, beide Beiträge in diesem Band. Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Weimar in diesem Band.
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Unternehmungen zählen, eine große und kaum zu störende Nähe zum Autorkonzept auf, auch weil es in den meisten Fällen der Name eines Autors ist, der am Ende die Buchrücken ziert. Bis in die 1970er Jahre hat man im Fach die Aufgabe, einen gesicherten Text zu erstellen, als gelöst angesehen, »wenn eine dem Willen des Verfassers entsprechende oder eine diesem möglichst nahe kommende Wiedergabe des von ihm konzipierten Werkes erreicht ist.«83 Operationalisiert wurde die Ermittlung eines authentischen Textes, indem ein autorisierter Textzeuge zur Grundlage der Edition gewählt wurde oder - wenn ein solcher nicht überliefert war - aufgrund der Konstruktion eines Überlieferungsstammbaums, des Stemmas, ein Text konstituiert wurde, von dem man eine möglichst große Nähe zur Intention des Autors postulierte. In die Kritik geriet dann weniger die Orientierung an der Autorintention; vielmehr galten die einflußreichen Reflexionen insbesondere Scheibes und Zellers gerade der Frage, wie eine Konfundierung von Editorintention und Autorintention zu vermeiden sei. Zielpunkt ihrer Angriffe waren insbesondere die empathischen Verfahren der Ermittlung von Autorintention, in denen der Editor gleichsam >weißAutorintention< zu verdanken. Die Anfänge der neugermanistischen Editionsphilologie, insbesondere das Großprojekt der Weimarer Ausgabe der Werke Goethes, sind von der Auffassung bestimmt, daß der Editor der Testamentsvollstrecker des Autors sei, also dessen letzten Willen zu erfüllen habe. Gerechtfertigt wird diese Privilegierung des letzten Willens durch ein Bildungsmodell, das insbesondere den großen Autoren eine ständig sich steigernde Bildung und damit auch eine gewachsene Einsicht zuerkennt. Inzwischen wird die Aufgabe des Editors eher in seiner möglichst genauen Sicherung von historischen Dokumenten gesehen. Das führt unter anderem zu einer Bevorzugung des Erstdrucks (oder der entsprechenden Druckvorlage, wenn sie vorhanden ist), da sie die Intention des Autors bezeugt, die der Entstehung des Werks am nächsten liegt. Oder man faßt die verschiedenen Textzeugen als eine im Prinzip gleichwertige Reihe von autorisierten Fassungen auf, die der Editor als jeweils zeitgebundene Realisationen der Autorintention zu dokumentieren hat.** Diese Diskussion zeigt, daß nicht unwesentliche Aspekte des in Verruf geratenen Begriffs >Autorintention< weniger dem Begriff selbst zuzuschreiben sind als vielmehr seiner Verbindung mit anderen Konzepten, zum Beispiel dem der >Bildung< oder auch dem des >kongenialen< Editors. Mit der Ausrichtung auf die Intention des Autors alleine läßt sich nämlich weder die Bevorzugung eines Zeugen noch ein Weg zur Ermittlung des Gemeinten, zum Beispiel im Falle von Fehlschreibungen oder Abweichungen von der Sprachnorm, begründen. Ein weiteres Problemfeld der Editionsphilologie, das unter Bezug auf die Autorintention diskutiert wird, ist die Spannung zwischen dem Text als Kommunikationshandlung meist eines Autors und dem veröffentlichten Text samt seiner Wirkungsgeschichte als soziales Faktum. Häufig ist diese Differenz unproblematisch, entweder weil kein Autortext überliefert ist oder weil es keine nennenswerten Differenzen zwischen den beiden gibt. Problematischer ist dies im Falle der Zensur, da diese oft zu sehr greifbaren Abweichungen zwischen Autortext und veröffentlichtem Text führt und dies auch ein bezeichnendes Licht auf all die Texte wirft, die ebenfalls unter Zensurbedingungen veröffentlicht wurden, deren Autortext aber nicht mehr vorliegt. Mindestens ebenso problematisch wird dies im Falle von Texten, die vom Autor nicht mehr oder nicht so intendiert waren, aber in der Gestalt einer Fremdredaktion literarhistorische Bedeutsamkeit erlangt haben, wie dies im Falle der Aphorismensammlung Maximen und Reflexionen geschehen ist, die bekanntlich nicht von Goethe stammt, sondern erst durch die Arbeit ihres Herausgebers Max Hecker entVgl. Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio4(1990), S. 57-72.
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standen ist, oder auch der Romane Franz Kafkas, deren Textgestalt deutlich von ihrem ersten Herausgeber Max Brod bestimmt ist.87 Der Vorschlag, die Autortexte ganz zu vernachlässigen,*" ist in der editorischen Praxis nicht aufgegriffen worden, die auch in solchen Problemfällen - ebenso vereinfachend dem Autortext den Vorzug vor der wirksamgewordenen Gestalt gibt. Diskutiert und praktiziert werden aber inzwischen die neuen, auch ökonomisch interessanten Möglichkeiten elektronischer Publikation, die eine breitere Dokumentation der Textgenese und -Überlieferung gestattet. Etwas anders gestaltet sich die Diskussion in den Mittelalter-Philologien, die sich in den letzten 25 Jahren von den Prämissen einer Geniezeit-Ästhetik freigemacht und die Abhängigkeit der mittelalterlichen Texte von den ganz anderen Kommunikationsbedingungen ihrer Zeit herausgearbeitet haben. Insbesondere die Erstellung eines möglichst autornahen Texts mit eklektizistischen Verfahren wird inzwischen zugunsten einer Dokumentation der überlieferten Textvarianz abgelehnt. Nicht zuletzt die intensiv geführte Diskussion um die New Philology, die mit Bezug auf Foucault mediävistische Autorkonzepte radikal kritisiert hat, macht deutlich, daß eine Neukonzeption literarischer Kommunikation im Mittelalter einschließlich der Autorrolle zu einem offenen Problem des Faches geworden ist.*9 Textkommentierung Die Textkommentierung in Europa hat seit ihren frühen Anfängen in der Antike die Aufgabe, Texte oder Teile eines Textes, die unverständlich sein könnten, verständlich zu machen. Ursache der Unverständlichkeit ist meist der historische Abstand zur Entstehungszeit des Werkes und kann oft schon das gewandelte Wortverständnis und das Fehlen von Kontextwissen sein, zum Beispiel bei Anspielungen auf Personen oder Texte. In der neugermanistischen Editionsphilologie, die wiederholt das Fehlen einer Theorie des Kommentars beklagt hat,90 hat sich der Kommentar zu einem wesentlichen Instrument der autorbezogenen Historisierung von Texten entwickelt, wie nicht nur die Praxis
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Ein weiteres Beispiel sind berühmte Werke, die eigentlich Vorlesungsnachschriften sind, die sich beim Vergleich mit den überlieferten Originalmanuskripten oder dem Abgleich mit anderen Überlieferungen zumindest stellenweise als wenig getreu erweisen (Hegel, de Saussure). So Herbert Kraft: Geschichtlichkeit, nicht Vermächtnis - oder Authentizität statt Autorisation. In H.K.: Editionsphilologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 18-39. Vgl. zur Diskussion die Beiträge in: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft 116 (1997) und den Beitrag von Thomas Bein in diesem Band. Vgl. Hans Gerhard Senger: Der Kommentar als hermeneutisches Problem. In: editio 7 (1993), S. 63. Vgl. zur Diskussion des Kommentars auch die weiteren Beiträge in diesem Themenheft von editio.
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neuerer Editionen, sondern auch die fachinterne Reflexion zeigt:91 »Im Idealfall ist das Wissen des Autors zu rekonstruieren und der Verstehenshorizont seiner Zeit aufzuzeigen.«92 Diese Zielsetzung reflektiert sich auch im üblichen Aufbau von Kommentaren: In einem diskursiven Teil wird neben der Textkonstitution und den Varianten umfassend die Entstehung des Werks dokumentiert und ebenso die zeitgenössische Rezeption, zumeist mit der Beigabe von Autorbriefen und anderen Zeugnissen. Nicht selten ist ein eigener Abschnitt der Textdeutung gewidmet. Die jeweiligen Bände der Studienausgaben von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre belegen in ihrem Aufbau diesen Stand der Diskussion:93 »Entstehungsgeschichte« beziehungsweise »Goethe über Wilhelm Meisters Lehrjahre« heißen die jeweiligen Kapitel mit autorbezogenen Dokumentensammlungen zur Entstehungsgeschichte. Die »Wirkungsgeschichte« wird mit Stimmen der Zeitgenossen zum Werk dokumentiert. Interpretationskapitel (»Struktur und Gehalt« beziehungsweise »Einführung«) zeigen die spannungsvolle Nähe der Textsorte Kommentar zur Interpretation mit ihren oben diskutierten Funktionen von Autorkonzepten. Der Stellenkommentar, der den allgemeinen Kommentar in Editionen zumeist ergänzt, erläutert zumindest nicht mehr bekannte Wortbedeutungen wie auch Namen und klärt Anspielungen auf - wobei sich hier kein so weites Verständnis von >Intertextualität< durchgesetzt hat, wie Kristeva es postuliert, sondern Text- und Kontextbezüge wohl immer auf das mögliche Autorwissen bezogen werden, das oft zu diesem Zweck aus Lektürenotizen, Bibliotheksverzeichnissen usw. rekonstruiert wird."4 Häufig verweist der Stellenkommentar auch auf Parallelstellen in anderen Texten des Autors, wodurch die Beziehung des Textes zu seinem Urheber noch verstärkt wird. Problematisiert wird in der Diskussion neben Fragen nach Anlage, Umfang, Tiefe und Binnenstruktur des Kommentars auch das Verhältnis des Autorwissens zum Editorwissen: Der Editor kann Entwicklungen, die der Autor gesehen hat oder deren Anfang er vielleicht selbst ausgelöst hat, aus seiner Position weiter überblicken, dagegen muß die Rekonstruktion des Autorwissens stets bruchstückhaft bleiben und
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Exemplarisch: Winfried Woesler: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: editio7(1993),S. 18-35. Ebd., S. 20. Gemeint sind Band 5 der sogenannten Münchner Ausgabe und Band 1/9 der Frankfurter Ausgabe; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u.a. München: Hanser 1988; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Friedmar Apel u.a. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992. Vgl. dazu die Diskussion um die Verwendung des Intertextualitätsbegriffs für die Editorik bei Wolfram Groddeck: »Und das Wort hab1 ich vergessen«. Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine. In: Gunter Martens (Hg.): Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 1-10.
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steht immer im Verdacht, diese Bruchstücke willkürlich zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. Unbestritten ist aber die Notwendigkeit eines Bezugspunkts, der die Auswahl aus der Fülle des historischen Wissens lenkt, und diesen Bezugspunkt bieten das rekonstruierte Wissen des Autors und seine Intention. Formale Textanalyse Verfahren der formalen Textbeschreibung und -analyse wie Stilistik, Rhetorik und Metrik scheinen, da sie sich auf die Sprachoberfläche beziehen, zunächst nur insofern auf den Autor rekurrieren zu müssen, als sie eine Instanz brauchen, der die Textproduktion zuzurechnen ist. Doch schon bei der rhetorischen Analyse eines Phänomens wie der ironischen Rede kommt man ohne den weitergehenden Rekurs auf so etwas wie eine Sprecherintention nicht aus: Um Ironie identifizieren zu können, benötigt man den Bezug auf den Autor als Sprecher, der etwas >Eigentliches< meint, aber etwas anderes sagt.95 Darüber hinaus bietet aber bereits die scheinbar unproblematische Operation des Zuschreibens zu einer verursachenden Instanz Stoff für Kontroversen, wie etwa die Stilistik zeigt. Wem der >Stil< eines Textes zuzuschreiben sei, ist eine umstrittene Frage; dabei ist der empirische oder implizite Autor nur einer der Kandidaten.96 Für die textbezogene Devianzstilistik gilt Stil als Abweichung von einer außerhalb des Untersuchungstextes zu rekonstruierenden sprachlichen Norm, während für die leserbezogene Stilistik der Stil eines Textes aus der Leserreaktion auf die sprachlichen Eigenschaften resultiert.97 Nach Auffassung autorbezogener Stilistik dagegen entsteht Stil aus der bewußten oder unbewußten Wahl des Autors aus der Vielzahl der Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung, die das Sprachsystem vorgibt. Dabei sind, zumindest neueren Positionen zufolge, soziale und sprachliche Kontexte zu berücksichtigen. Diese Variante der Stilistik wird beispielsweise eingesetzt, um Verfasser anonym erschienener Texte zu ermitteln oder um den >Individualstil< eines Autors zu rekonstruieren, in dem sich seine Texte signifikant von denen anderer Autoren unterscheiden. Ein Vorteil dieses Einsatzes von Autorkonzepten im Unterschied etwa zu Konzepten der Autorintention - liegt darin, daß sich
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Vgl. dazu auch den Beitrag von Karl Eibl in diesem Band. Einen Überblick geben Bernhard Sowinski: Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart: Metzler 1991 und Bernd Spillner: Stilistik. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv 1996, S. 234-256. Vgl. dazu Michael Riffaterre: Criteria for Style Analysis. In: Word 15 (1959), S 154-174.
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Annahmen zu stilistischen Eigenheiten eines Autors im Einzelfall empirisch und mithilfe computergestützter Analysen überprüfen lassen.9* Literaturgeschichtsschreibung In Literaturgeschichten war der >Autor< unterhalb der Epocheneinheiten stets der wichtigste Begriff zur textsortenspezifischen Selektion, Wertung und Beschreibung von Texten. In traditionellen Darstellungen findet man bis in die 1980er Jahre eine Gliederung des Textes, die zwischen thematischen und autorbezogenen Einheiten" wechselt, mit einem deutlichen Übergewicht bei letzteren. Ein Blick in die aktuellen Geschichten der deutschen Literatur macht deutlich, daß diese Verwendungsweise durch neuere Modelle - erinnert sei hier besonders an die Diskussion um sozialgeschichtliche und die sie beerbenden systemtheoretischen Ansätze zur Erneuerung des Genres - nicht in Frage gestellt, sondern durch weitere Ordnungsbegriffe, insbesondere zur Gattungsund Mediengeschichte, ergänzt wird.100 Bis in die Gegenwart hinein kann man sagen, daß die meisten Literaturgeschichten Handlungskonzepte favorisieren: »Der Autor produziert ein Werk für Leser.«101 Autorennamen haben sich in Literaturgeschichten also behaupten können, obwohl es schon seit der Abkehr vom Positivismus die Forderung nach einer Literaturgeschichte ohne Namen gibt. Der Begriff des Autors findet sich in so zahlreichen Verwendungsweisen, daß seine Resistenz gegen Abschaffungen wohl in dieser Multifunktionalität ihre Ursache hat. Wesentlich hilft er die Spannung zwischen den zwei tragenden Pfeilern der meisten literarhistorischen Darstellungen zu überbrücken, die man mit ZmegaC die »Literaturgeschichte des Überlieferten«, also der im weiteren Sinne kanonisch gewordenen
Vgl. dazu die Beiträge von John F. Burrows und Colin Martindale sowie das Kapitel I in dem Beitrag von Willie van Peer, alle in diesem Band. Exemplarisch dafür Beispiele aus zwei Darstellungen zum 18. Jahrhundert: Gerhard Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. München: Francke 1976; Richard Newald: Von Klopstock bis zu Goethes Tod. München: Beck 61973 [1957]. Neben »Die Aufnahme der Antike« (Kaiser, S. 6.) oder »Kräfte des Beharrens und des Fortschritts« (de Boor, S. VII.) findet man in beiden Literaturgeschichten Kapitel zu »Wieland«, »Klopstock«, »Lessing«, meist auch nur mit dem Autornamen überschrieben. Typisch sind auch gattungs- oder sogar einzeltextbezogene Einteilungen. Eine Ausnahme ist Horst Albert Glaser: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. 10 Bde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980-1997. Die Bände weisen mit wenigen Ausnahmen eine rein textsortenbezogene Gliederung auf, bedürfen aber nach Aussage eines Bandherausgebers der Ergänzung durch eine konventionelle Literaturgeschichte; vgl. Band 4, S. 11. So Harro Müller in seinem Plädoyer für eine diskursanalytisch orientierte Literaturgeschichte: Einige Argumente für eine subjektdezentrierte Literaturgeschichtsschreibung. In: H. M.: Giftpfeile. Bielefeld: Aisthesis 1994, S. 10.
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Texte, und die »Literaturgeschichte des einst Gelesenen«,102 also der epochenspezifischen Leseerfolge, nennen kann. Für den ersten Aspekt der Literaturgeschichte ist stets eine wertende Auswahl notwendig, sei es auch nur im Nachvollzug der im Fach vorgenommenen Selektionen. Literaturwissenschaftliche Kanonisierung geschieht jedoch entlang von Gesamtoeuvre und Einzeltexten und wird insbesondere im ersten Fall über den Autornamen verhandelt.103 Zugleich ist es, insbesondere für den zweiten Aspekt der Literaturgeschichte, notwendig, das Unüberschaubare überschaubar zu machen, und diese Form der Komplexitätsreduktion geschieht ebenfalls zumeist entlang von Autorennamen, denen ein zumindest teilweise repräsentatives Leben oder Werk zugeschrieben wird."*4 Wertung und Repräsentation operieren mit einem Autornamen, der zu einer schwer durchschaubaren und von Einzelfall zu Einzelfall wechselnden Metonymie für eine bestimmte Menge von Texten geworden ist. Zumeist soll eine Gruppe von Textmerkmalen zur Abgrenzung dieser Textmenge, des >WerksInterpretation< bereits gesagt wurde.
102
Victor Zmegai: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 11/2. Königstein/Ts.: Athenäum 1980, S. VIII. Ähnlich Wilhelm Voßkamp: Theorien und Probleme gegenwärtiger Literaturgeschichtsschreibung. In: Frank Baasner (Hg.): Literaturgeschichtsschreibung in Italien und Deutschland. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 166. Vgl. Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur. Versuch einer Zusammenfassung. In: R. v. H. (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart - Weimar: Metzler 1998, S. 615. Peter Sprengel spricht von dem schon topischen Argument in den Vorworten von Literaturgeschichten, daß die jeweilige Selektion exemplarisch sei, vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München: Beck 1998, S. XIV. So exemplarisch in zwei neuen Darstellungen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: »Die zweite Darbietung [...] brachte Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, und damit wurde der größte Dramatiker seit Hebbel entdeckt« heißt es bei Roy C. Cowen: Naturalismus. In: Ehrhard Bahr (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur 3. Vom Realismus bis zur Gegenwartsliteratur. Tübingen - Basel: Francke 21998, S. 114. Die Begriffe »Position«, »Haltung« bei Jürgen Fohrmann: Lyrik. In: Edward Mclnnes / Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. Hansers Sozialgeschichte der Literatur. München: Hanser 1996, S. 404, 421 f. und 429.
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Literatursoziologie Ein vergleichsweise unproblematisches Verhältnis zum >Autor< zeigt die Literatursoziologie, da sie seit ihren Anfängen den empirischen Autor immer schon als durch die Gesellschaft bedingt gesehen hat und damit die Kritik herausfordernde Überlastung des Begriffs vermieden wurde. Für zahlreiche Aufgabenfelder der Literatursoziologie erweist sich der Autorbegriff daher auch als unproblematisch: Untersucht werden die soziale Herkunft von Autoren und ihre Haupt- und Nebenberufe; analysiert werden das finanzielle Einkommen von Schriftstellern, ihre soziale Stellung, ihr Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und nicht zuletzt die Entwicklung der Rechtsprechung zu Fragen des geistigen Eigentums sowie deren Abhängigkeit von allgemeineren Annahmen über die Autorschaft.106 Insbesondere dieser letzte Aspekt, das gesellschaftliche Bild vom Autor, das Autoren in der Selbstbeschreibung verwenden oder befehden,107 weist zwar in den letzten 150 Jahren zahlreiche Rückkoppelungen mit der Fachgeschichte auf, läßt sich aber ohne begriffliche Probleme untersuchen, da es stets um den Autorbegriff auf der Objektebene der Untersuchung geht und keine voraussetzungsvollen Annahmen auf der Metaebene gemacht werden müssen. Problematischer und auch viel umstrittener ist die Konzeptualisierung des Zusammenhangs zwischen literarischen Texten und Gesellschaft. Es besteht zwar weitgehend Einigkeit darüber, daß der >Autor< eine wichtige Rolle dabei spielt, aber ob er als »ein Strukturbündel aufgefaßt wird, das auf ästhetische, ideologische und soziologische Achsen bezogen werden kann«,108 ob er besser mit Bourdieus Habitus-Theorie oder Luhmanns Systemtheorie zu fassen ist, wird intensiv diskutiert, und die erklärungsrelevanten Aspekte des Begriffs >Autor< variieren stark in Abhängigkeit von den zugrundeliegenden Annahmen über Gesellschaft und Kommunikation. 109
106 107
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Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Martha Woodmansee und Peter Jaszi. Vgl. zum Selbstbild von Autoren Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart. Frankfurt/M.: Fischer 1992. Rolf Selbmann: Dichterberuf: Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. Zum Geniebegriffjochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985. Jürgen Link / Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum. München: Fink 1980, S. 356. Vgl. zusammenfassend Kapitel II in Andreas Dörner / Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994.
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Die Frage, wie der Begriff >Autor< in der Literaturwissenschaft sinnvoll verwendet werden kann, läßt sich, wie bereits oben gesagt, nur durch ein umfangreicheres Forschungsprogramm klären. Angesichts der unbestreitbaren Relevanz dieses Begriffs in nahezu allen Bereichen des Fachs, die unser knapper Überblick nur angedeutet hat, scheint diese Art von Grundlagenforschung durchaus notwendig. Die Beiträge des vorliegenden Bandes machen damit einen Anfang. Es wird deutlich, daß der Autorbegriff weder unreflektiert verwendet werden kann, wie oft in der traditionellen Literaturwissenschaft der Fall, noch pauschal zu verabschieden ist. Der Bezug zwischen Autor und Text ist solange als sinnvolle Analysekategorie anzuerkennen, bis das Gegenteil erwiesen ist und dieser Nachweis nicht mit den kaum konsensfähigen philosophischen Prämissen der autorkritischen Positionen belastet ist. Die Frage ist aber, wie man mit der Einsicht in den >konstruktiven< Status interpretativer Aussagen über den Autor umgeht, zu der auch schon die ältere Diskussion gekommen ist. Es scheint uns nicht fruchtbar zu sein, sie als Argument heranzuziehen, um solche Operationen aus dem Bereich des wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur zu verbannen, wie es zum Beispiel die wissenschaftstheoretisch orientierte Autorkritik der 70er Jahre getan hat, oder um sie mit der poststrukturalistischen Autorkritik für obsolet zu erklären. Beide Extrempositionen verzichten auf die erforderlichen Binnendifferenzierungen des Phänomens, das es zu erforschen gilt. Gerade um solche Differenzierungen geht es aber in der neuen Diskussion um die Verwendung von Autorkonzepten in der Literaturwissenschaft, wie sie in den USA Tradition hat und im vorliegenden Band für den deutschen Sprachraum versucht wird. Kennzeichnend für die meisten Beiträge dieses Bandes ist, daß die disziplinären Standards als solche erforscht und akzeptiert werden, ohne dabei wissenschaftliche Maßstäbe wie begriffliche Klarheit und argumentative Stringenz aufzugeben. Es geht um die genaue Rekonstruktion von Begriffen, die für die literaturwissenschaftliche Praxis grundlegend sind, um sich über die jeweilige Abhängigkeit der Begriffsverwendungen von Zusatzannahmen zu verständigen. Mit pragmatischen Argumenten soll die Blockade zwischen den beiden gegensätzlichen Positionen sowie zwischen Praxis und Theorie aufgelöst werden. Nicht zuletzt traditionelle Verwendungsweisen des Autorbegriffs müssen so auf den Prüfstand gebracht werden, dieses Mal nicht, um eine >Lizenz für alles< zu gewinnen, sondern um die Leistungen dieses Begriffs in der literaturwissenschaftlichen Arbeit von überholten Vorannahmen zu trennen. Dieses Vorhaben läßt sich allerdings nicht allein in textwissenschaftlichem Rahmen durchführen, vielmehr müssen die anderen Medien wie Musik, bildende Kunst oder Film einbezogen werden, in denen der Autorbegriff oder sein Pendant eine ebenso zentrale und vielfältige Rolle spielt wie in der Litera-
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turwissenschaft.110 Die Bestimmungen und Funktionen von Autorkonzepten in diesen Wissenschaften können die Folie bilden, um die Besonderheiten, aber auch verallgemeinerbare Eigenschaften des Begriffs erkennen zu können. Dies gilt aufgrund der Entwicklung elektronischer Hypertexte auch für die Textwissenschaften selbst, da durch das neue Medium bislang für selbstverständlich gehaltene Randbedingungen der Textproduktion, -distribution und -rezeption verändert und dadurch sichtbar wurden.1" Beim augenblicklichen Stand der Diskussion kann man Autorennamen nicht mehr >barbarisch< verwenden, wie Foucault es nennt."2 Ebensowenig kann man aber bereits die notwendige Einschränkung in der Verwendungsweise des Autorbegriffs präzise angeben: Das Nachfolgende kann also nicht mehr sein als die Wiederaufnahme eines Verfahrens, das schon abgeschlossen schien.
Vgl. dazu die Beiträge in Sektion IV dieses Bandes. Leider bleiben aber Lücken in unserem Band. Insbesondere bedauern wir, daß wir keine Beiträge zur Rolle des Autors in der Editionstheorie, der Mediengeschichte und der Literaturpsychologie aufnehmen konnten. Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? (Anm. l), S. 791.
I. Autor und Intention
SIMONE WINKO Einführung: Autor und Intention
Wenn es in literaturwissenschaftlichen Theoriediskussionen um die Interpretationsrelevanz der Kategorie >Autor< geht, dann wird damit zumeist die >Autorintentiom thematisiert. Die Einschätzungen dieses Konzepts variieren mit den vorausgesetzten literatur- und interpretationstheoretischen Modellen und reichen von >theoretisch naiv< über >praktisch unumgänglich< bis zu >rational rekonstruierbarIntention< in mehreren Bedeutungen verwendet, von denen hier nur die zwei wichtigsten genannt werden sollen: Einem realen Autor zugeschrieben, kann der Begriff in einem engen Sinne auf einen psychischen Zustand - die bewußte Absicht eines Autors - bezogen werden; darüber hinaus kann er Interpretationskonstrukt bezeichnen, das in unterLutz Danneberg / Hans-Harald Müller: Der >intentionale Fehlschluß< - ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften. Teil I und II. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XIV (1983), S. 103-137, 376-^11. Prominentes Beispiel dafür ist Eric D. Hirsch: Validity in Interpretation. New Haven: Yale University Press 1967. So schon Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen: Niemeyer 1968.
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Simone Winko
schiedlichen Literaturtheorien unterschiedlich aufgefaßt werden kann, zum Beispiel als unter bestimmten Umständen mögliche, zumindest auf der Basis gegebener Informationen als > nicht unmöglich< rekonstruierbare Absicht des Autors. Die typischen Einwände gegen diese Positionen sind bekannt und seien hier nur knapp zusammengefaßt. Da Aussagen über die psychische Verfassung einer historischen Person spekulativ bleiben, wird der Rekurs auf die Autorintention als auf einen mentalen Zustand für theoretisch problematisch gehalten. Aber auch die Varianten der zweiten Begriffsverwendung wurden kritisiert. Da jeder Text, der als Beleg für die Autorintention in die Rekonstruktion einbezogen wird, seinerseits interpretiert werden muß, führt dieses Verfahren zu einer sich potenzierenden Interpretationsbedürftigkeit dessen, was als Autorintention ausgewiesen werden kann.4 Als problematisch gilt auch das >Vermischen< textinterner und -externer Daten: Die Interpretationshypothesen, die aus einer Strukturanalyse eines Textes aufgestellt worden sind, und die Hypothesen, die man aus der Interpretation textexterner Aussagen gewinnt, haben unterschiedlichen Status, so daß der Versuch, erstere mithilfe letzterer zu stützen, allenfalls Plausibilität herstellen, strenggenommen aber nicht als Geltungsprüfung akzeptiert werden kann.5 Praktische Probleme ergeben sich bei der Rekonstruktion der Autorintention. So hängt der Plausibilitätsgrad des rekonstruktiven Verfahrens von der Quellenlage ab. Aber auch bei guter Quellenlage wird die Aussagekraft der Dokumente von diversen Faktoren beeinflußt, sei es zum Beispiel von der Selbststilisierung des Autors oder seiner Furcht vor Zensur. Um die theoretischen Probleme des Ansatzes zu umgehen, ohne auf seine interpretationspraktischen Vorteile verzichten zu müssen, wurde zum einen die Intention dem literarischen Text zugeschrieben. Um diese >Textintention< zu erschließen, bedarf es einerseits einer genauen Struktur- und Formanalyse, andererseits kontextuellen Wissens über literarische und außerliterarische Normen und Konventionen der Entstehungszeit des Textes. Als Interpretationskonstrukt ähnelt die >Textintention< dem >impliziten AutorAutor< und ihre Nähe zur historischen Person nicht gebannt werden, da >Intention< sprachlich ein bewußtseinsfähiges Subjekt impliziert. Zum anderen wurde auf das allgemeiVgl. dazu bereits Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München: Fink 1977, S. 336f. In seiner radikalkonstruktivistischen Variante lautet der Einwand, daß ein zur Geltungsprüfung erforderlicher Vergleich zwischen der vom Autor intendierten und der vom Interpreten ermittelten Bedeutung nicht möglich ist. Vgl. dazu auch die Rekonstruktion dieser Position bei Axel Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien. Paderbom u.a.: Schöningh!995,S. 110 und 160. Vgl. dazu den Beitrag von Tom Kindt und Hans-Harald Müller in diesem Band.
Einführung: Autor und Intention
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nere, phänomenologisch geprägte Konzept der >Textintentionalität< rekumert. Der Begriff bezeichnet eine allen literarischen Texten immanente Eigenschaft, die je nach literaturtheoretischem und/oder philosophischem Standpunkt unterschiedlich bestimmt wird. Aus kommunikationstheoretischer Sicht zum Beispiel ergibt sich diese Intentionalität aus der Annahme, daß literarische Texte prinzipiell an - nicht notwendigerweise empirische - Adressaten gerichtet seien; aus sprachanalytischer Sicht ergibt sie sich durch die Sprechergebundenheit jeder Aussage. Sobald jedoch von diesem allgemeinen Konzept auf dessen Konkretisation im literarischen Text übergegangen, also nach Manifestationen von Intentionalität im Einzeltext gefragt wird, ergeben sich die oben skizzierten Probleme. Die Debatte um autorintentionalistische Ansätze wurde vornehmlich bis in die 1980er Jahre geführt. Zur Kritik von strukturalistischer und reflektiert hermeneutischer Seite kam die poststrukturalistische Grundsatzkritik hinzu, wie sie etwa Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit John Searle formuliert hat.7 Das Konzept der Sprecher- oder Autorintention wird als eine Strategie betrachtet, Bedeutungen zu beherrschen und unzulässig einzugrenzen. Die erkenntnistheoretisch begründete Infragestellung eines handlungsund zugleich intentionsmächtigen Subjekts entzieht den literaturwissenschaftlichen Modellen, die dieses Konzept verwenden, ihre Grundlage. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galt für viele das Argumentieren mit der Autorintention als überholt. Wieso soll die Debatte jetzt noch einmal aufgenommen werden? Die literaturwissenschaftliche Praxis zeigt, daß trotz der theoretischen Schwierigkeiten und trotz der teilweise vernichtenden Kritik an intentionalistischen Konzepten dennoch - wenn auch oftmals implizit - an ihnen festgehalten wird. Die Funktionen und Leistungen, die sie für den interpretierenden Umgang mit Texten erfüllen, müssen besonders wichtig sein. Bereits dieser Befund lohnt eine erneute Aufnahme der Diskussion. Dazu kommt, daß die Probleme autorintentionalistischer Argumentation, wie viele Probleme in der Literaturwissenschaft, zumindest in Deutschland8 nicht genau genug analysiert und vorschnell ad acta gelegt worden sind. So wurde ja auch die poststrukturalistische Verabschiedung des Konzepts nicht auf der Basis einer UntersuJacques Derrida: Limited Inc. In: Glyph 2 (1977), S. 162-254. - Die nicht weniger grundsätzliche, erkenntnistheoretisch begründete Kritik an autorintentionalistischen Positionen, die in den 80er Jahren von Vertretern der Empirischen Literaturwissenschaft vorgebracht worden ist, hat diese Breitenwirkung nicht erzielen können; wohl nicht zuletzt, weil die angebotene Alternative einer wissenschaftlichen >Beobachtung< der interpretierenden Teilnahme am Literatursystem weniger anschlußfähig für herkömmliche akademische Umgangsweisen mit literarischen Texten ist als die vermeintlich methodenfreie >Lektüremodebewußten< Fach herzustellen, ist an offene Fragen und noch nicht zuende gedachte Positionen anzuknüpfen. Die ältere Debatte war - ohne ihre Komplexität mindern zu wollen - geprägt von der Suche nach der einen gültigen Antwort, nach der Theorie >für alle FälleIntention< als die generell zu unterstellende kommunikative Absicht von Sprechern beziehungsweise Schreibern eine Rolle und bezieht Eibl den Begriff auf das allgemeine Phänomen der Verursachung einer Äußerung, so plädiert van Peer für eine engere Bedeutung im Sinne der historisch-konkreten Absicht eines Autors. Deutlich wird, daß die Begriffsbestimmungen von den Zielsetzungen der Verfasser mitgeprägt sind. Die neue Debatte präsentiert sich also >entspannter< als die ältere. Zugleich werden deren offen gebliebene Fragen unter neuen Perspektiven und unter Einbeziehung neuer Forschungen aufgenommen. Dabei geht es, wie die Beiträge zeigen, nicht um >interessante< Facetten des Problems, sondern um Erkenntnisse und Hinweise auf Forschungsdesiderata. Angesichts der Konstanz intentionalistischer Interpretationen in der literaturwissenschaftlichen Praxis liegt die Frage nahe, mit der Karl Eibl sich dem
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Problem der Autorintention nähert: Wie tief sitzt eigentlich die Tendenz, Handlungen einem Verursacher zuzuschreiben? Eibl nimmt eine biologische Perspektive ein und verläßt damit den üblichen Weg, die Funktionen des Intentionskonzepts literaturtheoretisch oder philosophisch zu klären oder zu begründen. Statt dessen untersucht er, welchem Typ von Erklärung diese Zuschreibung entspricht und welche Gründe für seine Langlebigkeit angeführt werden können. Wenn der Rekurs auf die Intention eines Verursachers einem kognitionsbiologisch als >genetische Disposition erklärbaren Verhaltenstypus entspricht, liegt die Annahme nahe, daß dieser Typus sich auch in differenzierten kulturellen Tätigkeiten wie wissenschaftlichen Operationen manifestiert. Damit ist keine Legitimation dieses Erklärungsansatzes beabsichtigt oder gewonnen, jedoch wird er als >wahrscheinlich< ausgewiesen. In bezug auf Literatur faßt Eibl das Arbeiten mit der Autorfunktion als erfolgreiche Strategie auf: Zum einen ist es notwendig, die Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem (in verschiedenen Hinsichten) einer Instanz zuzurechnen, zum anderen dient der Rekurs auf einen Autor der Kohärenzbildung in literarischen Texten. Ist es überhaupt eine wissenschaftlich relevante, das heißt Erkenntnisgewinn bringende Option, nach der Intention eines Autors zu suchen? Diese Frage nimmt Axel Bühler aus sprachphilosophischer Perspektive auf und plädiert dafür, die Ermittlung einer Autorintention in Alltags- wie in literaturwissenschaftlicher Kommunikation als ein Erkenntnisziel anzuerkennen. Dabei kommt es ihm weder auf die methodische Sicherung interpretativer Objektivität durch den Rekurs auf Autorintentionen noch auf die bedeutungstheoretische Fundierung des Konzepts an. In der Kontroverse, ob die Intention eines Sprechers als psychischer Zustand oder als verstehens- beziehungsweise interpretationsrelevantes Konstrukt aufzufassen sei, vertritt Bühler die erste Position. Dabei sind für seine Argumentation aber vor allem die primären Intentionen bei der Textproduktion, die kommunikativen Absichten, von Bedeutung. Die Erkenntnis von Sprecher- und damit auch Autorabsichten ermöglicht es unter anderem, Handlungen zu identifizieren und zu erklären. Unter Einbeziehung der Mimesis- beziehungsweise Fiktionalitätstheorien Kendell Waltons und Gregory Curries argumentiert Bühler dafür, daß diese für nicht-fiktionale Texte unproblematische Leistung ebenfalls für fiktionale Texte und den Umgang mit ihnen gilt. Lutz Danneberg behandelt die Frage nach Autorkonzept und -intention im Kontext des Beliebigkeitsproblems von Interpretationen. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach der Plausibilität autorkritischer Positionen und ihrer interpretationstheoretischen Alternativen. Diese sind, so Danneberg, nicht überzeugender oder problemfreier als die autorintentionalistischen. Anders ausgedrückt: Autorintentionalistische Bedeutungs- und Interpretationskonzeptionen haben gegenüber nicht-autorintentionalistischen Konzeptionen keinen theore-
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tischen oder methodologischen Nachteil auf zu weisen. Zwei Probleme stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. Zum einen die Frage, wie die Wahl einer autorintentionalistischen Bedeutungs- und Interpretationskonzeption zu begründen sei. Einen Text etwa als Artefakt und damit als intentional zu klassifizieren, ist für eine solche Begründung noch nicht hinreichend. Anhand modellhafter historischer Beispielfälle demonstriert Danneberg, daß die Annahmen, die zur Wahl einer autorintentionalistischen Interpretationskonzeption führen, sehr unterschiedlicher Art sein können und daß ihre Plausibilität historisch variabel ist. Zum anderen führt das Problem der Beliebigkeit von Interpretationen Danneberg zu einer methodologisch begründeten Bestimmung des Autorkonzepts. Als minimale Aufgabe, die dem Autorkonzept im Rahmen einer beliebigkeitsvermeidenden Interpretationskonzeption zukommt, faßt er die raumzeitliche Markierung eines Textes auf. Damit ist noch nichts über die Relevanz der Autorintention als Kontext der Interpretation gesagt; diese wäre im Rahmen einer entsprechenden Bedeutungs- und Interpretationskonzeption zu begründen. Auch für Willie van Peer läßt sich nicht kontextunabhängig klären, ob die Autorintention für das Interpretieren literarischer Texte relevant oder irrelevant sei. Auch ihm geht es nicht um eine literaturwissenschaftlich so beliebte Universaltheorie; vielmehr fordert er, Ergebnisse empirischer Untersuchungen für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung stärker zu berücksichtigen. Um Aussagen über die Interpretationsrelevanz des Intentionskonzepts machen zu können, müssen also prototypische Text- und Interpretationskonstellationen und die jeweilige Bedeutung der Autorintention in ihnen systematisch erforscht werden. Dabei faßt van Peer den Intentionsbegriff in einem historisch konkreten Sinne auf. Anhand zweier unterschiedlich gelagerter Beispielfälle demonstriert er, daß es einen Unterschied ausmacht, ob die Texte eines Autors gewissermaßen >an seinen Intentionen vorbei < rezipiert worden sind oder ob seine Absichten für das Verstehen seiner Texte von Bedeutung sind beziehungsweise waren. Darüber hinaus zeigt van Peer, daß es literarische Texte gibt, in denen der Autor deutliche Signale seiner Absicht setzt, zum Beispiel auffällig markierte Abweichungen von der Sprachkonvention; diese Hinweise nicht zu berücksichtigen, komme einer Selbstbeschränkung gleich. Die notorisch kontroverse Frage, wem die Interpretation eines Textes zuzurechnen sei, nimmt Klaus Weimar auf. Bezogen auf das Intentionsproblem lautet sie: Welche Rolle spielt der Autor als Textproduzent, spielen seine Absichten, Vorstellungen, Gedanken für das Verstehen und die Interpretation eines Textes? Nach Weimar wäre diese Frage ebenso wie der Autorbegriff zu differenzieren. >Autor< hat neben der in der Literaturwissenschaft dominierenden produktionsbezogenen Bedeutung - der Autor als Schreiber eines Textes eine in der Regel vernachlässigte rezeptionsbezogene Bedeutung, die mindestens ebenso wichtig ist. Der Rezipient, so Weimar, ist als Hervorbringer von
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Sprache und >Textwelt< Autor eines verstandenen Textes. Zwar ist die Übereinstimmung der vom Rezipienten hervorgebrachten >Textwelt< mit der des Produzenten beabsichtigt; es läßt aber nicht überprüfen, ob dieses Herstellen von Übereinstimmung im Einzelfall gelungen ist. Die >Textwelt< ist also durch eine »doppelte Autorschaft« gekennzeichnet: die tatsächliche des Rezipienten und die dem Produzenten zugeschriebene. Dessen Intentionen sind dem Leser beziehungsweise Interpreten nicht zugänglich; zugänglich ist allein das Resultat des Produktionsprozesses, die Schrift. Die Autor- oder Produzentenintention ist in diesem Ansatz in einem allgemeinen Sinne als Kommunikationsabsicht von Bedeutung für die Interpretation. Von einer wissenschaftsanalytischen Warte aus behandelt Werner Strube das Intentionsproblem. Er untersucht literaturtheoretische Konzeptionen, in denen die Formel »einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat« verwendet wird. Zugleich liefert er einen Beitrag zur terminologischen Klärung: In welchen Verwendungs- und Argumentationszusammenhängen ist es sinnvoll, von einem >Besser-Verstehen zu sprechen, in welchen nicht? Mit seinem bewährten differentialistischen Ansatz9 rekonstruiert Strube die Bedeutung der Formel vom > Besser-Verstehen< in verschiedenen Typen interpretationstheoretischer Argumentationen und zeigt, daß diese Bedeutung mit den Interpretationskonzeptionen, in deren Zusammenhang sie jeweils verwendet wird, variiert, daß die Formel also »systematisch mehrdeutig« ist. Die Formel kann der Sache nach sinnvoll verwendet werden, ihre sprachliche Fassung ist aber durchweg verunglückt, teilweise sogar unsinnig. Strube leistet damit einen Beitrag zu einem Aufgabenbereich, der in diesem Band mehrfach als Forschungsdesiderat ausgewiesen wird: zur Rekonstruktion tatsächlicher Verwendungsweisen des Autor- beziehungsweise des Intentionskonzepts. Sowohl theoretische Konzeptionen als auch literaturwissenschaftliche Interpretationen müßten zunächst einmal auf ihre Prämissen, Rahmenannahmen und Argumentationsstrategien hin analysiert und klassifiziert werden. Literaturkonzeptionen wären danach zu untersuchen, welcher systematische Status intentionalistischen Annahmen zukommt; Interpretationskonzeptionen unter anderem danach, als wie relevant Informationen über den Autor für die Deutung eines Textes jeweils eingestuft werden. Anhand einzelner Ansätze und umfassenderer Rahmentheorien zu klären wäre auch die bei Danneberg angesprochene Frage des Verhältnisses von Intentionsbegriff und Bedeutungskonzeption. Wie wird der Autor als eine bedeutungslimitierende oder -determinierende Instanz legitimiert, und unter welchen Bedingungen kann eine solche Legitimation plausibel sein? Hier könnte an Ergebnisse des oben zitierten
Vgl. Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation, Interpretation, Bewertung. Paderborn u.a.: Schöningh 1993.
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Beitrags von Danneberg und Müller angeknüpft werden.10 Kaum erforscht ist dagegen die literaturwissenschaftliche Praxis. Anstatt ihr pauschal theoretische Defizite oder Anachronismus zu unterstellen, wie es aus der Perspektive avantgardistischen Theorien gern getan wird, wäre es fruchtbarer, sie zunächst einmal zu analysieren. Das Material dazu liefern Textinterpretationen. Um zu gesicherten Aussagen über Relevanz und Leistungen des Intentionskonzepts für die Interpretationspraxis zu kommen, müßte mindestens vier Fragen nachgegangen werden: Ungeklärt ist nach wie vor, wie allgemein oder konkret gefaßt das Konzept jeweils verwendet wird. Zumindest in seiner allgemeinen Variante als Kommunikationsabsicht scheint es - um eine Hypothese aus dem Konsens der Beiträge zu bilden - eine theoretisch unproblematische Voraussetzung für Interpretationen darzustellen. Zu fragen wäre weiter, mit welchem argumentativen Stellenwert die Bezugnahme auf die Autorintention jeweils eingesetzt wird. Dabei ist anzunehmen, daß die historische Fixierung des Textes eine immer wieder abgerufene, >minimale< Leistung des Autorbezugs darstellt. Darüber hinaus müßte untersucht werden, aus welchem Typ von Information die Argumente gewonnen und unter welchen Bedingungen sie zur Bedeutungskonstitution oder zur Stützung von Bedeutungshypothesen herangezogen werden. Nachfolgenden Forschungen zum Thema >Autorintentiom wird es also stärker als bisher darum gehen müssen, den praktischen Ist-Zustand einer im Theoretischen wandlungsfreudigen Disziplin wahrzunehmen und auszuwerten.
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Vgl. dazu Lutz Danneberg / Hans-Harald Müller: Der >intentionale Fehlschluß< (Anm. 1), S. 376-380.
KARL EIBL
Der >Autor< als biologische Disposition
Ob es den Autor >gibtTod des Autors< wenigstens das Verdienst zukommen, daß sie die Aufmerksamkeit in diese Richtung lenkt. Die Frage, warum das Triviale trivial ist, läßt sich nicht nur damit beantworten, daß es tautologisch ist. Gewiß, wenn man den Text als Artefakt betrachtet, muß einer da (gewesen) sein, der ihn hergestellt hat. Aber nicht jede Tautologie geht in den Schatz der lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten ein. Dazu gehören noch andere plausibilisierende Momente, etwa die Unterstützung von Interessen, der Lustgewinn oder die Bewährung in der Praxis, die die betreffende Einsicht unentbehrlich oder unverdrängbar machen, historische Bedingungen, biologische Bedingungen. - Braucht man beim Wahrnehmen von und beim Nachdenken über Literatur eine begriffliche Einheit, die man in Kurzform den Autor nennen könnte? Die Schritte meiner Überlegungen werden wie folgt markiert: I. Der Ansatz: Biologische Begriffskritik II. Der Gedanke der Urheberschaft als biologische Disposition III. Der Urheber von sprachlichen Artefakten IV. Der Urheber der uneigentlichen Rede als Kohärenzfaktor V. Der Urheber als Individualität
I. Der Ansatz: Biologische Begriffskritik Ich will mich der Frage auf einem etwas ungewöhnlichen Weg nähern, auf dem Weg der biologischen Begriffskritik. Das Verfahren knüpft an bei einem Unternehmen, das vor ein paar Jahren unter dem Namen der evolutionären Erkenntnistheorie< auf den glücklichen Gedanken kam, daß all unsere >apriori-
Gewiß, die These geht auf keine Geringeren als Roland Barthes und Michel Foucault zurück, aber das ändert nichts daran, daß sie ihre Breitenwirkung als marktschreierische Parole erzielt hat.
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Karl Eibl
schen< Wahrnehmungs- und Denkschemata Produkte der evolutionären Auslese sind, und auf den unglücklichen, damit seien die Probleme der Erkenntnistheorie gelöst. Es lief in die transzendentale (Letzt-)Begründungsfalle und mußte sich sagen lassen, daß es das, was es begründen wolle, nämlich die Möglichkeit von Erkenntnis, bereits voraussetze und sich deshalb in einem vitiösen Zirkel bewege.2 So ähnlich hatte sich das schon einmal, vor gut hundert Jahren, unter der unmittelbaren Wirkung der Erkenntnisse Darwins abgespielt. Schade drum. Denn es wäre weit fruchtbarer, wenn man die Kognitionsbiologie nicht als Begründungsprogramm in Konkurrenz zur Philosophie, sondern als realwissenschaftliches Erklärungs- und Handlungsprogramm konzipierte. Ehe ich den Ansatz auf das Autorproblem anwende, will ich an wenigen Beispielen die Dimension eines solchen biologischen Erklärungsprogramms andeuten. Ob die Welt gesetzförmig geordnet ist, kann man bezweifeln. Physiker sagen uns, daß zumindest im Mikrobereich der Zufall eine große Rolle spielt. Bis das allerdings in den Größenbereich unserer Wahrnehmung kommt, hat sich alles wieder einigermaßen zu einer gewissen Regelmäßigkeit zusammenEinblick in die gegenwärtige Diskussion: Wilhelm Lütterfels (Hg.): Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, sowie: Eve-Marie Engels: Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolutionären Erkenntnistheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. Trotz des Titels fast eine Polemik Bernhard Irrgang: Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie. München - Basel: Reinhardt 1993. Standardwerke: Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. München: dtv 1973 (davor die Abhandlung: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie 15 (1941/42), S. 94-125); Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Hamburg: Hoffmann & Campe 1973; Gerhard Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Stuttgart: Hirzel 1975; Rupert Riedl: Biologie der Erkenntnis. Berlin - Hamburg: Parey 1980. Haupteinwand von philosophischer Seite: Die evolutionäre Erkenntnistheore löse »nicht die erkenntnistheoretische Grundfrage, wie Wahrheit möglich sei«. (Hans Michael Baumgartner: Die innere Unmöglichkeit einer evolutionären Erklärung der menschlichen Vernunft. In: Robert Spaemann / Peter Koslowski / Reinhard Löw (Hg.): Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis. Weinheim: Acta humanoria 1984, S. 55-71, S. 67.) Der philosophischen Erkenntnistheorie ist das meines Wissens allerdings auch noch nicht gelungen; aus irgendwelchen Gründen hat sie es aber gar nicht nötig. - Parallel und auf breiterer Basis läuft das Forschungsprogramm der >PsychobiologieAutor< als biologische Disposition
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gerauft.3 Notfalls helfen wir etwas nach: Wir erwarten, daß alles in der Welt regelmäßig zugeht (Wunder sind nur zu unseren Gunsten zugelassen). Diese Erwartung, daß alles in der Welt regelmäßig zugeht, beruht vermutlich auf ererbten Dispositionen, und ebenso die Fähigkeit, Regelmäßigkeitsannahmen zu bilden und anzuwenden. Wenn Wissen thesauriert werden soll, dann ist es sehr zweckmäßig, dazu Verallgemeinerungen des konditionalen (>kausalenbewirkt< y). Durch diese Grundannahme einer Wiederkehr des immer Gleichen, der Gleichförmigkeit und Konstanz aller Vorgänge, werden die möglichen Handlungsfelder berechenbar. Wir stochern mit der Stange im Nebel, und wenn wir auf etwas Festes stoßen, rufen wir versuchsweise: >Immer< (Vorgang der Induktion). So lange wir mit diesem >Immer< nicht scheitern, glauben wir daran, benutzen es für Prognosen und handeln danach. Selbst wenn dieses >Immer< durch Ausnahmen widerlegt ist und wir nur von einer höheren Wahrscheinlichkeit sprechen dürften, ist es für die Gesamtpopulation rationell, sich ohne Skrupel auf die Seite der höheren Wahrscheinlichkeit zu schlagen. Unser Weltbild ist also vermutlich mit einer angeborenen Tendenz, einem Vorurteil zum Determinismus ausgestattet. Und mit einem Vorurteil zum Funktionalismus, wenn nicht zur Teleologie; denn es ist ungemein überlebensfördernd, wenn man bei allen Dingen fragt, wofür sie gut sind.4 - Um die so gespeicherten Immer-wenn-dann-Annahmen im Einzelfall anwenden zu können, brauchen wir Applikationsregeln (Vorgang der Deduktion). Und damit die Deduktionen nicht in instrumentell wertlose Dilemmata führen (dieser Pilz ist giftig und genießbar), müssen diese Regeln Widersprüche ausschließen (zweiwertige Logik). So etwa sähe eine evolutionäre Erklärung der Logik aus. Darum muß die Logik jedoch kein richtiges Abbild der Weltstruktur sein. Unser Hirn produziert auch Muster, wo gar keine sind. Die Logik der Widerspruchsfreiheit ist allerdings recht gut bewährt, und man wird sie deshalb nicht ohne Not aufgeben (>Dialektiken sind hier anderer Auffassung). Andere vermutlich evolutionär verankerte Denkstrukturen sind jedenfalls von weit geringerem Bewährtheitsgrad. Kausalität etwa wäre als eine angeborene und für die meisten Alltagszwecke brauchbare Raffungsmethode anzusehen, die aber bei anspruchsvolleren Erklärungen in die Irre führt. Oder der Raum: Ein schon beinahe klassisch gewordenes Anwendungsbeispiel lautet: >Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe - und gehört daher nicht zu unseren Urahnen.< Aber diese Ich verwende dieses saloppe Wort bewußt: Der Vorgang kann als einer der wechselseitigen Selektion begriffen werden, bei dem nur das zueinander Passende in wahrnehmbare Größenordnungen gerät. Merkwürdigerweise werden von der >evolutionären Erkenntnistheorie< immer nur Positionen der Kritik der reinen Vernunft herangezogen, nicht solche der Kritik der Urteilskraft, die hier wohl mindestens ebenso einschlägig wäre.
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differenzierte Raumvorstellung ist wahrscheinlich dafür mitverantwortlich, daß wir auch begriffliche Strukturen immer wieder räumlich konzipieren und der so entstehenden Scheinplausibilität möglicherweise eine Fülle von Irrtümern verdanken. Wir denken in Ober- und Untersätzen, haben Hinter- und Nebengedanken, nehmen Begriffsplateaus wahr, jonglieren fortwährend mit allerlei Ebenen, die es angeblich zu unterscheiden gilt. Und als alte Baumbewohner brauchen wir natürlich trotz aller Sprünge - sichere Grundlagen, eine Basis, ein Fundament. Doch was sich bewährt hat, als wir von Ast zu Ast sprangen, muß nicht unbedingt unserem gegenwärtigen Wissens- und Problemstand entsprechen. Der kritische Umgang mit solchen angeborenen Dispositionen ist möglicherweise eines der zentralen Probleme der Menschheit überhaupt, und er wird unter verschiedenen Titeln und mit unterschiedlichen Methoden bereits betrieben, allerdings mit einem starken Gewicht auf der emotiven Seite. Deshalb mein Vorschlag des Programms einer biologischen Begriffskritik, mit der die kognitiven Dispositionen stärker zu betonen wären. Es geht dabei also nicht um die alte Standardfrage, wie der Mensch im Naturzustand beschaffen war; den Menschen im Naturzustand gab es nie. Sondern es geht um Kritik im Sinne der Unterscheidung von Dispositionen, die zum Teil hochbewährt sind, von solchen, die nicht mehr dem sonstigen Problem- und Wissensstand entsprechen und deshalb unter stärkere kulturelle Beobachtung genommen werden sollten. Es wäre bei Unternehmungen der biologischen Begriffskritik immer in zwei Schritten zu operieren: 1. Zunächst ist zu plausibüisieren, daß und wie die in Frage stehenden Denkund Verhaltensweisen durch die Evolution prämiiert und damit genetisch gefestigt wurden. Das Ergebnis solcher genetischer Festigung ist aber nicht als Zwang oder fertiges >Programm' zu deuten, sondern als Disposition, die nur durch kulturelle Selektion und Konditionierung überhaupt real werden kann.5
Angesichts der Vielzahl von populären Mißverständnissen hinsichtlich des biologischen Ansatzes ist vielleicht doch noch ein allgemeines Wort nützlich: Es ist Unsinn, irgendwelche Naturzustände des homo sapiens zu konstruieren. Die Hominisation hat unter Kulturbedingungen und in positiver Ruckkopplung mit Kultur stattgefunden, das heißt Kulturfähigkeit war ein wichtiger Selektionsfaktor bei der Hominisation. Ohne Kultur ist der Mensch nicht nur, wie Arnold Gehlen meinte, ein Mängelwesen, sondern ein orientierungsloses Reflexbündel, ein Nichts. Was die biologische Ausstattung liefert, sind Dispositionen - die Disposition, den Nächsten zu lieben oder ihn umzubringen, je nach kultureller Konditionierung des Verhaltens und Definition der Situation. Gerade deshalb meine ich, daß die biologischen Dispositionen der Gattung und der Umgang mit ihnen ein Gegenstand der Kulturwissenschaften sein sollten. Die Biologen, die uns mit Festreden zur Biologie der 10 Gebote oder flotten Sprüchen über den nackten Affen beschenken, lassen wir besser nicht damit allein.
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2. Auf der zweiten Stufe wäre sodann nach den historischen Bedingungen zu fragen, unter denen diese Dispositionen durch Konditionierung abgerufen beziehungsweise modifiziert oder problematisiert wurden.
II. Der Gedanke der Urheberschaft als biologische Disposition Selbst Evolutionsbiologen, die es nun wirklich besser wissen müßten, operieren oft mit intentionalem oder Ideologischem Vokabular. Da hat der große Fisch seine Zähne entwickelt, um die kleinen Fische fressen zu können. Der Löwe tötet die Jungen des Vorgängers, um sein Erbgut zu verbreiten, und die Löwinnen sind ihm nicht böse drum, weil sie ihr eigenes Erbgut an das des neuen Paschas knüpfen wollen. Kommt hinzu die Rede vom bewunderungswürdigen >Baumeister< Evolution - ich würde mir keine Hundehütte bauen lassen von einem Architekten, der so viel Zeit braucht, so viel dem Zufall überläßt und so viel Ausschuß produziert. Das sind redensartliche Gewohnheiten, mehr nicht, aber sie sind vielleicht ein Indiz, daß wir bei unserer begrifflichen Ordnung der Welt neben einem logischen, einem raumzeitlichen und einem kausalen Vorurteil auch ein intentionales Vorurteil verwenden. Und wie denn auch nicht! Daß es nützlich ist, wenn man Handlungen und Zustände auf Personen bezieht, leuchtet schon intuitiv ein. Derlei hilft, die Welt berechenbar zu machen, indem es nicht nur wiederkehrende Situationen herzustellen erlaubt, in denen bekannte Handlungsrezepturen angewandt werden können (siehe oben zur >InduktionZurechnungsfähigkeit< der Delinquenten, wie man das früher nannte. Daß heute von >Schuldfähigkeit< gesprochen wird, ändert nichts daran, daß es sich hier um eine recht kühne Konstruktion handelt, die man besser nicht hinterfragt, wenn man nichts Besseres zu bieten hat. Genug, das Verfahren ist erfolgreich, und ob es >wahr< ist, wird damit zu einer Frage zweiten Ranges. Man muß sich für eine solche Einschätzung allerdings an einen strikt evolutionsbiologischen Begriff von Erfolg halten: Es geht letztlich um Erfolg bei der Weitergabe der Gene, auch auf der Basis fortpflanzungsfördernder Irrtümer. Wenn zum Beispiel ein Lebewesen geradezu zwanghaft immer wieder bestimmte Situationen aufsucht, die Streß verursachen und anschließend Frust und Ärger und kaum überschaubare Folgelasten, so wird dieses wenig rationale Verhalten gleichwohl genetisch prämiert und gefestigt, wenn es sich um ein fortpflanzungsförderndes Verhalten handelt (ich denke natürlich an manche Spinnen und an den Lachs, bei dem das Unternehmen sogar zum individuellen Tod führt). - Auch die Zurechnung von Handlungen und Zuständen auf Personen ist jedenfalls immer dann ein
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erfolgverheißendes Verfahren, wenn man keine anderen beeinflußbaren Ursachen kennt. Ein Milieu kann man nicht einsperren, und es verändern zu wollen ist zwar ehrenwert, aber für den jeweiligen Augenblick immer ein allenfalls mittelfristig aussichtsreiches Unternehmen. Wenn man eine Krankheit dem Wirken einer Person zuschrieb und diese Person deshalb eliminierte, war das zwar ungerecht, aber bei manchen Infektionskrankheiten war das durchaus sichtbar erfolgreich, während Fehlgriffe für die Überlebenden kaum falsifizierende, geschweige denn fortpflanzungsbehindernde Folgen hatten. Insoweit ist auch das Verbrennen von Hexen eine >erfolgreiche< Strategie, solange es einen nicht selbst trifft. Es gibt da also eine gewisse statistische Asymmetrie, und zwar nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv: In der Regel spricht die Gesamtrechnung eher für den Aberglauben als für die Skepsis. Ernst Topitsch6 hat eine ganze Klasse von, wie er sie nennt, >intentionalen< (oder >technomorphenAutor< als biologische Disposition
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III. Der Urheber von sprachlichen Artefakten Wenn man voraussetzt, daß die biologische Evolution des Menschen immer schon in positiver Rückkopplung mit Kultur stattgefunden hat, dann erscheint es sehr wahrscheinlich, daß auch die kommunikative Funktion personaler Zurechnung als Disposition verankert ist. Immer wieder einmal geht die Meldung durch die Medien, daß es gelungen sei, einem Affen die Menschensprache beizubringen, oder daß ein solcher sich im Spiegel erkannt habe, mithin Bewußtsein besitze.7 Das mag sein; gerade wenn man die Gattung evolutionsbiologisch sieht, wird man es sogar für völlig selbstverständlich halten, daß da nicht irgend etwas plötzlich >da< war. Eine andere Frage ist, wie weit aus dem Zusammenwirken von vielem, was auch anderswo zu finden ist, Neues >emergiertSprache< reden kann und nicht Dressurmechanismen annehmen muß, können mit dieser Sprache außerhalb des Labors nichts anfangen, benutzen die entsprechende Anlage in ihrer natürlichen Lebenswelt nicht (wahrscheinlicher: sie benutzen sie für etwas anderes, das wir noch nicht durchschaut haben, weil wir andauernd nur auf >Sprache< achten). Ein entscheidender Faktor für die Bedeutung des Absichtsträgers bei der sprachlichen Kommunikation scheint mir die Arbitrarität der Sprachzeichen zu sein. Spätestens hier sind wir beim Verknüpfungspunkt von biologischer Disposition und kultureller Konditionierung. Sprachliche Universalien können wir als biologische Dispositionen auffassen, aber sichtbar und wirklich werden diese Dispositionen oder Universalien erst im Gebrauch einer arbiträren kulturellen Einzelsprache. Es hat den Anschein, daß der intentionale Verursacher bei der tierischen Kommunikation eine, vorsichtig gesagt, geringe Rolle spielt. Das sagenhafte Personengedächtnis des Elefanten, der angeblich keine Kränkung vergißt, bezieht sich nach Auskunft der Verhaltensforscher nicht auf das Wiedererkennen eines Bösewichts, dem man es heimzahlen will, sondern auf das Wiedererkennen einer Ursache von Schmerzen, die man meidet oder präventiv beseitigt. Personale Zurechnung muß nicht unbedingt die intentionale Form des >Dieser will mir Gutes, jener will mir Böses< annehmen; es genügt schon die Speicherung guter und schlechter Erfahrungen, um jemanden zu meiden oder zu suchen, wie man einen bestimmten Platz meidet oder sucht. Daß der Bäcker das Brot bäckt, ist unproblematisch, wenngleich man natürlich auch hier mit Intentionen rechnen kann - der Bäcker will ein Brot backen, hat die Vision, Hierzu zusammenfassend Marian Tamp Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. Viele >Entdekkungen< auf diesem Sektor verdanken sich allerdings einem recht vagen Bewußtseins-Begriff: Man muß ihn nur weit genug fassen, dann hat auch die Primel Bewußtsein.
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den Entwurf eines Brotes . Wenn er damit aber dem Feind Signale gibt oder der Kundin eine Liebeserklärung macht, wird das Brot zum Zeichen. Die Arbitrarität der Sprachzeichen schafft hier eine neue Situation. Sie setzt bei jedem Kommunikationsakt bereits voraus, daß den Zeichen Bedeutungen zugewiesen wurde und daß demnach der Sprecher eine solche Zuweisung vorgenommen, zumindest aktualisiert hat. Gewiß sind Sprachzeichen überindividuelle Diskurselemente, können durch entsprechende kulturelle Einbettung sogar ein hohes Maß an Quasi-Natürlichkeit erhalten. Der Baum heißt dann Baum, weil er ein Baum >istWos hot a gsogt? Und wos hot a gmoant?< Für Angehörige der nördlicheren Völkerschaften: >Was hat er/sie gesagt? Und was hat er/sie gemeint?wirklich< Gemeinte angesiedelt werden. Das ist der Zusammenhang, der mich vermuten läßt, daß nicht nur die allgemeine Zuschreibung von Ereignissen oder Zuständen an Urheber, sondern in verstärktem Maße auch die Unterstellung einer in Sprache oder allgemeiner: Zeichen objektivierten Intention eine phylogenetisch disponierte Größe ist. Und zwar im Zusammenhang mit einem Ensemble weiterer solcher Größen.
Vgl. etwa die - wie das ganze Buch - geschickt, aber nicht eben skrupulös operierende Titelei von Volker Sommer: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. München: dtv 1994.
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IV. Der Urheber der uneigentlichen Rede als Kohärenzfaktor Damit habe ich mich schon in den Bereich der Dichtung hineingeschlichen und in den der Historic. Poesie ist seit jeher die Domäne uneigentlicher Rede.9 Auch in ihrer einfachsten Form ist sie geprägt von der Differenz des Gesagten und des Gemeinten und braucht daher eine Instanz, mit der diese Differenz verrechnet werden kann. Das muß kein >Autor< als individuelle Person sein. Wichtig ist nur die Funktion einer Redeorigo,10 die wir meistens an einen Autor binden. Es sind aber in unterschiedlichen historischen und medialen Kontexten auch unterschiedliche funktionale Äquivalente möglich. Im Kino der Regisseur oder der Hauptdarsteller, im Groschenheft und Fernsehen der Serienheld, im Epos der Sänger, dem die Muse oder die Überlieferung >alte Märe< zugetragen hat. Kein Wunder, daß in den Stücken der Wanderbühnen gerade der Prinzipal häufig die > lustige Person < spielte, in deren Medium das Bühnengeschehen sich darbot. All dies und noch mehr sind Masken und Konkretionen der Origofunktion der Rede. Gerade im dichterischen Werk besitzt diese Funktion besondere Bedeutung. Das dichterische Werk ist, wenn man es mit anderen Arten der Rede vergleicht, ständig vom Zerfall bedroht. Wie immer man Dichtung definiert: Sie hat Defizite sowohl des referentiellen Halts in der Wirklichkeit als auch der logischen Konsistenz zu kompensieren - und tut das in den Fällen des Gelingens so erfolgreich, daß es Dutzende von Generationen zu überdauern vermag. Wenn man die Mittel, die für diese Kompensation eingesetzt werden, mit etwas verfremdendem Blick betrachtet, dann fällt das hohe Maß an Bedenkenlosigkeit auf, mit dem hier die Mittel der sprachlichen Kommunikation zweckentfremdet werden. Der Gleichlaut der letzten Silbe oder der letzten beiden Silben von Wörtern - ein völlig zufälliges Moment, das mit der Zeichenhaftigkeit der Sprache schlechterdings nichts zu tun hat - wird als Reim zum Bindungsmittel verwendet. Die Wortbetonungen, in gewissen regelmäßigen Mustern angeordnet, ergeben den Vers. Beides zusammen ergibt Lautgebilde, die selbst dann zusammenhalten, wenn man keinen Sinn in ihnen erkennen kann - so infantil, daß sie dem Lallen des Säuglings nahekommen. Die Bezeichnung >uneigentliche Rede< wird neuerdings von einigen angeblich antimetaphysischen Dogmatikem für illegitim erklärt, weil sie eine eigentliche Rede< (in der Art von Gott gesetzter >wirklicher< Bedeutungen) vorausssetze, die es nicht gibt. Aber wenn man erkannt hat, daß es keine >eigentlichen< Bedeutungen gibt, sollte man sie auch dem Gebrauch des Wort >eigentlich< nicht unterstellen. Es geht vielmehr um die pragmatische Unterscheidung, ob man z.B. mit dem Wort Schinken < ein geräuchertes Stück Schweinefleisch oder ein Gemälde bezeichnet. Oder etwas feiner: Ob >Prachtwetter< auf südlichen Sonnenschein oder, ironisch, auf nördlichen Schneeregen referiert. Anwendung von Karl Bühlers Kategorie der Hier-Jetzt-Ich-Origo schon bei Kate Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Klett 1957 01994).
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Und hat es dann nicht etwas für sich, auch andere Elemente des literarischen Werkes, die der Alltagskommunikation näher liegen, auf ihre Funktion als Bindungs-, Stabilisierungs-, Kohärenzmittel zu befragen? Zum Beispiel den Plot, die Fabel mit >Anfang, Mitte und EndeAussage< oder >Bedeutung< eines literarischen Werkes. Selbst wo wir es mit Dichtungen zu tun haben, die nach dem Selbstverständnis der Verfasser einen expliziten > moralischen Satz< transportieren sollen, wird man diese Dichtungen kaum auf einen solchen Satz reduzieren wollen, um dessentwillen der ganze Aufwand getrieben worden wäre. Versuchsweise sollte man das Verhältnis umkehren: Hat nicht die >Lehre< oder >Aussage< den Zweck, das labile Gebilde zu stabilisieren, zu verschnüren? Dann aber wird auch deutlich, daß die Autorfunktion im Falle des literarischen Textes primär eine Verschnürungsfunktion ist. Sie gehört wie der Reim, der Vers und die Fabel zu den Kohärenzmitteln, die ein Zerfallen des Textes verhindern, auch wenn er aus seiner ursprünglichen Kommunikationssituation gelöst wird. Mit dem empirischen Autor hat das wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen Bestandteil des >TextesErzähler< aber wer erzählt den Erzähler?). Wenn man die >Aussage< zum bloßen Element der Bindung und Strukturierung des Artefakts erklärt, und ebenso den Autor, dann treten die >natürliche< Rezeption und die >aufgeklärte< auseinander. Die natürliche Rezeption ist immer darauf aus, hinter der uneigentlichen Rede das Eigentliche zu finden, eine eigentliche Information und einen eigentlichen Informator. Schon die einfache Beobachtung des unbefangenen Umgangs mit Literatur lehrt dies. Die Frage nach Goethes italienischem Liebesleben wird schnell wichtiger als die nach dem ästhetischen Gehalt der Römischen Elegien. Und auch die Beobachtung anspruchsvoller Diskurse über Literatur zeigt Fragen wie: Hat Goethe an die Erst nach dem Kolloquium bekam ich Slavoj Zizek: Die Pest der Phantasmen. Hg. v. Peter Engelmann, übers, v. Andreas Hofbauer. Wien: Passagen 1997, in die Hand. Sein Begriff der >Herren-Signifikanten< weist - wenngleich in allzu munter assoziierendem Kontext - in eine ähnliche Richtung.
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Apokatastasis geglaubt oder nicht? Hat er beim Gedicht Der Bräutigam an Lili Schönemann oder Charlotte von Stein oder Ulrike von Levetzow oder wen sonst gedacht? Welche Botschaft können wir dem Faust entnehmen? Alle diese Fragen folgen dem Schema: Was hat er gesagt? Und was hat er gemeint?, brauchen deshalb eine Redeorigo. Sie sind nicht etwa illegitim, sind auch nicht dichtungsfremd, sondern sie gehören zum Spiel Literatur, sind unentbehrlich beim Decodieren auch des anspruchsvollsten dichterischen Textes, wirken konstituierend mit beim Leseakt. Etwa wie der Hunger mitwirkte bei der Rezeption der Kirschen des Zeuxis oder wie unsere sexuellen Dispositionen mitwirken bei der Lektüre auch der keuschesten Liebesgeschichte. Sie gehören mit zu den biologischen Dispositionen, deren Abrufung uns im ästhetischen Vergnügen in folgenlose Erregung (>Spannungnur< ein Diskurs-Agent, so hätte er das als Lob genommen, denn das hätte bedeutet, daß er sich auf seine ars verstand. Natürlich gab es große Autornamen, die großen Vorbilder, bei Homer angefangen. Der herausragende Autor war aber nicht der originelle Autor, sondern derjenige, der die Kunstregeln am besten beherrschte und verkörperte. Sein Besonderes war die Reinheit der Verkörperung des Allgemeinen, seine Individualität war, mit Niklas Luhmann zu sprechen, Individualität durch Steigerung.13 Hierzu Karl Eibl: Strukturierte Nichtwelten. Zur Biologie der Poesie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 18 (1993), S. 1-36. Für die folgenden Überlegungen besonders einschlägig Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. Frankfurt/M: Suhrkamp 1989, S. 149-258. In spezieller historischer Ap-
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Das ändert sich im 18. Jahrhundert, und zwar ändert es sich auf eine höchst verwirrende und paradoxe Weise. Ein besonders signifikantes Beispiel ist die Ironie. Nach dem Mißverständnis und der Lüge ist sie der dritte Bereich der Differenz von Gesagtem und Gemeintem, der die Instanz eines Autors fordert, dem man die >eigentliche< Absicht zuschreiben kann. Diese Intention war bis zur >Sattelzeit< rhetorische Wirkungsabsicht, Ironie war ein Stilmittel, der Redner sagte erkennbar das Gegenteil von dem, was er meinte, so daß die rahmende Gesamtabsicht nie ernsthaft zu bezweifeln war. Wenn jedoch, um erneut Luhmann heranzuziehen, Individualität sich durch Exklusion konstituiert, wenn also alle gesellschaftlichen Rollen, Handlungs- und Sprecherrollen, den Status des Uneigentlichen zugesprochen erhalten, dann wird die rhetorische Grundkonstellation dramatisiert und radikalisiert und in eine neue Konstellation umgedeutet. Aus dem gelegentlich verwendeten Stilmittel der uneigentlichen Rede wird eine Lebenskonzeption uneigentlichen Rollenhandelns in heterogenen Subsystemen, deren keines mehr die Person als ganze integrieren kann.14 Und damit wird auch die Position des Autors aus dem Kommunikationsakt gleichsam zurückverlagert ins Existentielle: Das Individuum ist ein ineffabile, das in seiner Besonderheit in keinem allgemeinen, normativen Kontext mehr aufgehen kann, sondern sich grundsätzlich in Außenstellung zu allen Normen befindet. Der Exklusions-Individualität entspricht eine Exklusion der Autor-Position, die erst unter dieser Voraussetzung überhaupt zum eigens zu bedenkenden Problem wird. Die Autor-Position wird damit immens wichtig - und zugleich unzugänglich. Das ist die Grundkonstellation seit gut 200 Jahren, seit dem Sturm und Drang." Die Geschichte der Poetik seit dieser Zeit ließe sich schreiben als Geschichte des Versuchs, das Paradox des Autors aufzulösen oder aus ihm wieder herauszukommen an sichereres Land. Solches scheinbar sicheres Land war plikation: Marianne Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, Götz von Berlichingen und Clavigo. Tübingen: Niemeyer 1995. Geradezu populär wurde die Empfehlung der Ironie, die Richard Rorty gibt: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M: Suhrkamp 1992. Er argumentiert allerdings ganz unhistorisch, bekommt damit auch die historischen Bedingungen und die Problemreferenz seines eigenen Standortes nicht in den Blick. Noch ist ungenügend geklärt, weshalb es nur in Deutschland den Sturm und Drang gab, obwohl die zu beobachtenden großen Umstellungen gesamteuropäischer Art sind. Hier ist etwas ruckartig als Generationen-Rebellion erfolgt, was in anderen Ländern weniger scharfe, eventuell durch andere Ereignisketten abgeschliffene Kanten aufweist. In der Deutungsgeschichte ist der Sturm und Drang dann durch die beiden konträren Deutschheitsthesen: Beginn des Zusichselbstkommens des deutschen Geistes beziehungsweise Kompensation der deutschen misere, in einen angeblichen deutschen Sonderweg hineinprovinzialisiert worden. Das wäre zu revidieren.
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zum Beispiel der Volksgeist als Autor. Der sang Volkslieder und Heldendichtungen, nur: Das war lange her, heute konnte man derlei nur noch in seinen Überresten zusammensammeln. Der wichtigste von Anfang an und dann immer wieder unternommene Versuch dürfte der sein, das Generische auf neue Weise aus der Individualität wiederzugewinnen: Es ist die Geniekonzeption, die nach der hier vertretenen Auffassung bereits ein Antwortversuch auf das Paradox des Autors in der Moderne war." Denn in den gleichsam offiziellen Genielehren des 18. Jahrhunderts ist Genie ja keineswegs durch seine Eigenart, seine Besonderheit oder sein Abweichlertum gekennzeichnet. Das Genie ist bei Shaftesbury und Young wie bei Kant durch intuitive Natur- und Regelkonformität ausgezeichnet, nicht etwa durch Außenstellung, und dieser Punkt der intuitiven oder seherischen Rückbindung ans Allgemeine (oder Transzendentale) wird dann immer wieder zur Versöhnung von Individualität und Allgemeingültigkeit herangezogen, schließt die Exklusionsindividualität versöhnlerisch an das alte Muster der Individualität durch Steigerung an. Gerade daß dieser Versuch unangemessen ist, schafft die Möglichkeit, ihn immer wieder neu vorzunehmen. Das also wäre in aller Kürze die Situation: Unsere genetischen Dispositionen lassen uns zu jeder Äußerung einen suchen, der sie getan und mit ihr etwas gemeint/beabsichtigt hat. In der Alltagskommunikation ist das eine hochbewährte Methode. Sie funktioniert aber nur deshalb, weil Alltagskommunikation weitgehend automatisiert das Individuelle konsequent durch den Filter des Allgemeinen gehen läßt. Die Person, die etwas sagt, ist als Individuum reduzierbar auf eine gleichsam physikalische Einheit, die als konkreter Anwendungsfall eines Allgemeinen gelten will und mitteilt, unter welches Allgemeine sie subsumiert zu werden beabsichtigt. Die Unterstellung einer Origo ist auch bei der Sinnkonstitution im Prozeß der Wahrnehmung von literarischen Kunstwerken eine erfolgreiche Strategie. Der >Autor< gehört zu den genetisch verankerten Dispositionen, die beim ästhetischen Spiel in Bewegung versetzt werden, und kann dabei als Bindungsfaktor für die gefährdete Kohärenz des literarischen Textes herangezogen werden. Eine neue Bedeutung erhält die Sprecherposition unter den Bedingungen der modernen Exklusionsindividualität. Exklusionsbewußtsein kann hier durch ironische Distanzierungsgesten zur Geltung gebracht werden. Sie lehnt sich damit weiterhin an das Allgemeine als den festen Rahmen an, hebt sich von ihm aber durch einzelne Negations- und Distanzierungsakte ab. Gerade in Kommunikationen dieser Art ist der Rekurs auf einen intentionalen Verursacher unentbehrlich, weil die Distanzierungsakte nur auf diese Weise als solche verrechnet werden können. (Ohne Einen grundlegenden neuen Blick auf die gesellschaftsgeschichtliche Funktion der Genieästhetik findet man bei Marianne Willems: Wider die Kompensationsthese. Zur Funktion der Genieästhetik der >Sturm-und-Drang-BewegungAutor< wäre die ironische Rede nur Unsinn.) Wo aber die Exklusionsindividualität Anspruch auf >eigentliche< Rede und damit auf Allgemeinheit erhebt, gerät sie mit sich selbst in Widerspruch. Aber das geht dann schon ein Stück über die Literatur hinaus.
AXEL BÜHLER Autorabsicht und fiktionale Rede1
Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie sollten - so denke ich - sich nicht auf die Beschreibung der Erkenntnispraxis des Alltags und der Wissenschaften sowie der dort eingesetzten Methoden beschränken. Sie sollten darüber hinaus Zielsetzungen von Erkenntnispraktiken und wissenschaftlichen Tätigkeiten diskutieren und untersuchen, wie Methoden der alltäglichen und der wissenschaftlichen Erkenntnispraxis auf verschiedene, möglicherweise auch alternative Erkenntnisziele bezogen werden können. In diesem Sinne sollten Diskussionen über die Rolle der Autorabsicht beim Alltagsverstehen und bei Interpretationstätigkeiten innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften auch als Diskussionen über eine Zielsetzung der Erkenntnis geführt werden. Und zwar geht es dann um das Problem, ob es ein wichtiges Ziel des Erkennens sowohl im Alltag wie auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften sein soll, die Absichten, die eine Person mit der Hervorbringung einer mündlichen Äußerung oder eines schriftlichen Textes verbindet, herauszufinden. Im folgenden will ich dieses Problem abhandeln, nicht jedoch in seiner ganzen Allgemeinheit, sondern allein hinsichtlich eines Aspekts. Ich werde mich hier auf Erkenntnisziele beim alltäglichen Umgang und bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit literarischen, und hier wiederum mit fiktionalen Texten2 konzentrieren. Es geht um folgende Frage: Welche Rolle sollen die Absichten von Autoren beim alltäglichen und beim literaturwissenschaftlichen Umgang mit der fiktionalen Literatur spielen? Ich will die Position, daß die Absichten von Autoren Erkenntnisziel und Untersuchungsgegenstand auch beim Studium fiktionaler Rede sein sollen, näher darlegen und einige Argumente für sie anführen. Im ersten Teil meines Beitrags will ich ganz allgemein auf das Ziel der Ermittlung von Absichten eingehen, insofern sie bei der Produktion vor allem auch von nicht-fiktionalen Texten eine Rolle spielen. Im zweiten Teil diskutiere ich Absichten, die für die Produktion fiktionaler Texte spezifisch sind. Im dritten Teil betrachte ich Aspekte unseres Umgangs mit fiktionaler Literatur sowohl im Alltag wie auch in den Literaturwissenschaften - und untersuche, Ich danke Werner Strube für seine hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. Dank auch an Matias Martinez für seine Hinweise. - Zitate aus der englischsprachigen Literatur habe ich selbst ins Deutsche übersetzt. Den Unterschied zwischen den Begriffen >Literatur< und >Fiktion< will ich hier nicht thematisieren. Zu meiner Verwendung des Ausdrucks >fiktional< siehe Abschnitt II.
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inwiefern sie auf das Ziel der Ermittlung von Autorabsichten bezogen werden können.
I. Ermittlung von Autorabsichten als Erkenntnisziel Mir geht es hier um eine Zielsetzung von Erkenntnis, und zwar um die Zielsetzung, die Absichten von Autoren herauszufinden, die sie mit der Hervorbringung mündlicher und schriftlicher Äußerungen verbinden, und ich will für diese Zielsetzung werben. Dabei sollte klar sein, daß die Feststellung von Autorintentionen nur eine Zielsetzung der Erkenntnis bei der Beschäftigung mit Texten ist, eine unter anderen. Andere Ziele sind etwa das der Erklärung, warum ein Autor bestimmte Äußerungsintentionen hatte, oder das der Feststellung der konventionellen Bedeutung von Ausdrücken, die der Autor verwendet. Diese Zielsetzungen will ich hier nicht thematisieren. Man hat die wichtige Rolle von Autorabsichten auch mit andersartigen Behauptungen verknüpft, für die ich hier nicht argumentiere. So wird gelegentlich die Auffassung vertreten, daß die Bezugnahme auf Absichten die Objektivität geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsresultate sichere. Die Absichten des Autors dienten als Beurteilungsmaßstab, der eine Entscheidung zwischen konkurrierenden Interpretationen ermögliche und so einen wissenschaftlichen Konsens erzeugen könne. Nach dieser Auffassung, die ich hier nicht weiter kommentieren will, dienen Autorenintentionen vor allem zur methodischen Absicherung von Forschungsergebnissen. Nach einer anderen Auffassung ist bei der Beschäftigung mit Texten die Bezugnahme auf die Autorintention nötig, um die >Bedeutung< eines Textes zu ermitteln. Diese Konzeption operiert offenbar mit einem sehr undifferenzierten Bedeutungsbegriff und ist deswegen sehr unspezifisch. Weitere Differenzierungen des Bedeutungsbegriffs mögen der Konzeption konkreteren Gehalt geben, was hier jedoch unterbleiben soll. Denn mir geht es im folgenden vor allem um eine Zielsetzung für Erkenntnisprozesse, weder um eine Methode zum Herbeiführen von Objektivität bei Erkenntnisprozessen noch auch um eine Einbettung des Begriffs der Autorintention in die Bedeutungstheorie. Wie kann man für eine Zielsetzung argumentieren beziehungsweise für sie werben? Zum einen dadurch, daß man sie weiter präzisiert und so mit Gehalt anreichert. Zweitens sollte die Möglichkeit mindestens annäherungsweiser Zielerreichung nachgewiesen werden. (Denn es ist nicht sinnvoll, ein Ziel anzustreben, das nicht einmal näherungsweise erreicht werden kann.) Drittens kann man Argumente kritisieren, die eventuelle negative Konsequenzen der Zielverfolgung aufweisen sollen, beziehungsweise man kann selber Gründe für die Verfolgung des Zieles vorbringen. Viertens kann man versuchen zu zeigen, daß viele aus anderen Gründen als sinnvoll erscheinende Tätigkeiten
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bereits die Verfolgung des propagierten Ziels involvieren. Im folgenden möchte ich für die Zielsetzung, Absichten von Autoren herauszubekommen, werben, und zwar mit Bemerkungen, die sich den vier erläuterten Argumentationsweisen zuordnen lassen. Zuerst gehe ich etwas ausführlicher auf die Präzisierung der Zielsetzung ein, sodann - nur ganz knapp - auf die anderen drei Argumentations weisen.3 Zunächst einige Bemerkungen zur Präzisierung der Zielsetzung. (A) Absichten sind Bestandteile von Handlungsplänen, die unser Verhalten koordinieren. Die Pläne selbst können als komplexe Absichten betrachtet werden.4 Innerhalb solcher Pläne gibt es übergeordnete, untergeordnete und nebengeordnete Absichten. Absichten können bewußt sein, müssen es aber nicht. So sind viele untergeordnete Absichten in routinisierten Plänen nicht bewußt. Was für Absichten im allgemeinen angenommen wird, soll auch für diejenigen Absichten gelten, die mit der Hervorbringung eines Textes verbunden werden können, da das Hervorbringen eines Textes ja eine Handlung ist. (B) Ich nehme an, daß Absichten, die mit der Hervorbringung von Texten verbunden sind, psychische Ereignisse sind beziehungsweise psychische Zustände. Viele Autoren, die durchaus willens sind, Absichten eine wichtige Rolle bei der Interpretation zuzugestehen, distanzieren sich von diesem Standpunkt.5 So schreibt etwa Michael Baxandall in seinem ausgezeichneten Buch The Patterns of Intention bezüglich der Absichten, die Werken der bildenden Kunst zugrundeliegen: Die Absicht, auf die ich verpflichtet bin, ist kein wirklicher, besonderer psychischer Zustand oder sogar eine historische Menge geistiger Zustände [...] Sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung rationalen menschlichen Handelns [...] ich könnte den Ausdruck >Absicht< ausdehnen wollen auf die Rationalität der Institution oder des
Ausführlichere Diskussionen hierzu finden sich in Axel Bühler: Der Hermeneutische Intentionalismus als Konzeption von den Zielen der Interpretation. In: Ethik und Sozialwissenschaften 4 (1993), S. 511-518; A.B.: Replik: >Jetzt verstehe ich meine Absichten bessere In: Ethik und Sozialwissenschaften 4 (1993), S. 574-585; A.B.: Hermeneutischer Intentionalismus und die Interpretation philosophischer Texte. In: Logos N.F. 2 (1995) S. 1-18. Zur Rolle von Absichten in Handlungsplänen siehe Michael E. Bratman: Intentions, Plans, and Practical Reason. Cambridge /Mass. - London: Harvard University Press 1987. Reinhard Brandt: Interpreten, Zeichen und Autoren. In: Ethik und Sozialwissenschaften 4 (1993), S. 521-522, und Gottfried Gabriel: Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte. In: G.G.: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart: Metzler 1991, S. 147-160, betrachten die Unterstellung von Autorenabsichten nur als methodische Setzung, als eine Bedingung der Möglichkeit von Interpretation. Diese Position diskutiere ich in Axel Bühler: Replik (Anm. 3).
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Axel Bühler Verhaltens, das zu der Disposition führte: Sie mag nicht im Geist der Person aktiv gewesen sein zu der Zeit, als sie den besonderen Gegenstand herstellte.
Offenbar meint Baxandall, daß eine Erklärung menschlichen Handelns, die dies als Resultat rationaler Überlegungen ausweist, keine psychologische Erklärung ist, die Handeln aus geistigen Ereignissen herleitet. Eine Absicht, auf die eine Rationalerklärung rekurriert, sei deswegen kein wirkliches psychisches Vorkommnis. Ich frage mich aber, welchen Zweck eine Rationalerklärung noch erfüllen könnte, wenn es zusätzlich zu ihr auch eine psychologische Erklärung gäbe, die wirkliche geistige Zustände involviert. Wenn es eine solche psychologische Erklärung gibt, erweist sich dann eine Rationalerklärung nicht als überflüssig? Sollten wir deshalb eine Rationalerklärung nicht besser als eine Erklärung auffassen, die wirkliche psychische Zustände als erklärende Faktoren annimmt? Und sollten deswegen Absichten eben doch als wirkliche psychische Zustände gelten, die bei der Hervorbringung von Handlungen eine wesentliche Rolle spielen? (C) Einige Arten von Absichten, die mit der Hervorbringung von Texten verbunden werden können, möchte ich im folgenden unterscheiden. Besonders wichtig sind kommunikative Absichten. Sie betreffen Wirkungen, die der Autor vermittels des Textes auf sein Publikum ausüben will. Bei vielen Arten von Texten geht es dem Autor hauptsächlich darum, Leser und Hörer zur Übernahme von Überzeugungen zu bewegen, etwa wenn der Autor Behauptungen macht oder Begründungen durchführt. Andere Arten kommunikativer Absichten sind etwa die, jemanden zu etwas aufzufordern, oder die, jemanden vor etwas zu warnen. (D) Offensichtlich verfolgen Autoren mit der Abfassung von Texten auch andere Absichten als bloß kommunikative. Von der kommunikativen Absicht sind sekundäre Absichten zu unterscheiden, die mit der kommunikativen Absicht verbunden sein können und die eventuell auch realisiert werden, wenn die kommunikative Absicht realisiert wird.7 Der Prüfling bei einer Prüfung verfaßt seine Klausurarbeit mit der kommunikativen Absicht, die prüfende Person wissen zu lassen, daß er über Kenntnisse in einem Fachgebiet verfügt. Außerdem hat er die Absicht, mit dem Verfassen der Klausurarbeit die Prüfung zu bestehen; und diese Absicht ist eine sekundäre Absicht. (E) Bei der Durchführung einer kommunikativen Handlung muß der Autor bestimmte Mittel einsetzen. Zum einen konventionelle Mittel, etwa Ausdrücke, die konventionell eine bestimmte Bedeutung haben, oder Ausdrucksweise und Gestaltungsart, die den Text aufgrund von geltenden Konventionen etwa zu einer bestimmten Gattung zugehörig machen. Andere Mittel für die Durchführung einer kommunikativen Handlung sind Michael Baxandall: The Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures. New Haven - London: Yale University Press 1985, S. 42. Siehe Rudi Keller: Verstehen wir, was ein Sprecher meint, oder was ein Ausdruck bedeutet? Zu einer Hermeneutik des Handelns. In: Klaus Baumgärtner (Hg.): Sprachliches Handeln. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977, S. 1-27.
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nicht konventionell So ist die Lautstärke meines Warnrufs an eine Person in der Ferne kein konventionelles Kommunikationsmittel. Ich setze sie aber aufgrund meiner Absicht und meiner Einsicht in physikalische Zusammenhänge ein. Ähnlich mag in einem bestimmten Fall die Anordnung der Textinhalte nicht konventionell geregelt sein, sondern sie wird vom Autor zur Erreichung etwa besonderer Nachdrücklichkeit eingesetzt. Der Einsatz solcher Mittel ist durch Absichten eigener Art bedingt. Von der kommunikativen Absicht und von eventuellen sekundären Absichten sind also innerhalb von Handlungsplänen Absichten des Mitteleinsatzes zu unterscheiden. Sie betreffen die Mittel, die für die Realisierung einer kommunikativen Absicht eingesetzt werden sollen. (F) Sehr viele Texte sind nicht an spezifische Adressaten gerichtet (so Zeitungsartikel, Bücher und so weiter). Wir können dennoch sagen, daß sie mit kommunikativen Absichten verbunden sind und daß ihre Abfassung also kommunikatives Handeln ist. Die kommunikative Absicht ist in diesem Fall nicht von der Art: >Die - spezielle - Adressatin soll die Wirkung w zeigenWenn jemand diesen Text läse, dann sollte er Wirkung w zeigenfictivefictionalfiktional< und >fiktiv< nichts hinsichtlich der Wahrheit beziehungsweise Falschheit der Sätze beziehungsweise Inhalte präjudizieren soll, die als >fiktional< beziehungsweise als >fiktiv< eingestuft werden. Solche Sätze beziehungsweise Inhalte müssen nicht falsch, sie können auch wahr sein. Ob die Sätze wahr oder falsch sind, spielt bei der fiktionalen Kommunikation aber keine Rolle. Offenbar kann man ja einem Ereignis gegenüber, das sich tatsächlich zugetragen hat, die Einstellung des Sotun-als-ob einnehmen, so etwa wenn eine Reiseschriftstellerin in eindrücklicher Weise einen Sonnenuntergang beschreibt. In welcher Beziehung steht die Auffassung Curries, fiktionale Rede bestehe im Äußern von Aufforderungen zum So-tun-als-ob, zu der häufig vertretenen Theorie, fiktionale Rede bestehe aus vorgeblichen Behauptungshandlungen?16 Beide Auffassungen stimmen darin überein, daß es Autoren fiktionaler Rede, wenn sie fiktionale Äußerungen machen, nicht darum geht, Behauptungen aufzustellen. Nach der Theorie, fiktionale Rede bestehe aus vorgeblichen Behauptungshandlungen, führt der Autor aber keine eigentliche kommunikative Handlung durch, wenn er fiktionale Rede vorbringt. Die Theorie unterläßt es nämlich zu spezifizieren, welche Art von Wirkung der Autor fiktionaler Rede bei seinem Publikum erzielen will. Demgegenüber will nach der hier vertretenen Theorie der Autor in bestimmter Weise auf andere einwirken, führt also kommunikative Handlungen eigener Art durch, nämlich solche, andere zur Einstellung des So-tun-als-ob gegenüber den Inhalten der fiktionalen Rede aufzufordern. Die Theorie postuliert also, daß fiktionale Rede eine eigene Art von Sprechakt ist, und daß dies deshalb der Fall ist, weil fiktionale Rede mit einer eigenen Art kommunikativer Absicht verbunden ist. Nun sind sprechakttheoretische Betrachtungen fiktionaler Rede in der Literatur nicht unwidersprochen geblieben. So meint etwa Felix Martinez-Bonati, solche Theorien seien witzlos. Fiktionale Rede sei keine spezielle Art von Sprechakt, »sondern vielmehr im Bereich des Vorgestellten die Reproduktion aller Arten von Sprechakten, die im wirklichen Leben vorkommen«.17 Die sprachlichen Zeichen, die der Autor verwendet, seien nicht Teile eines Sprechakts des Autors, sondern Teile bloß vorgestellter Sprechakte: »Sie sind (wirkliche) ikonische Zeichen, die vorgestellte fiktive Zeichen darstellen, die
Diese Auffassung (die in der angelsächsischen Literatur sogenannte >pretense theorynatürliche< makrophysikalische Gestalt als Rest seiner artifiziellen, die es in ihrem intendierten Zeichenbestand zu rekonstruieren gilt, oder als ein bestehendes natürliches Zeichen. Selbstverständlich ist ein Artefakt nicht immer ein intentionaler Gegenstand im engeren Sinne, und schon gar nicht ist klar, welches die jeweiligen Intentionen sind, die zu seinem Entstehen beigetragen haben. Wichtiger jedoch ist die allgemeine Frage nach der Abhängigkeit von Eigenschaften, die einem Text zugesprochen werden können, von solchen, die ihm kontextuell zukommen. Im vorliegenden Fall ist es die, ob bei der Zuschreibung von Eigenschaften an einen Gegenstand diejenigen Eigenschaften bewahrt werden müssen, die ihm per definitionem zukommen (also ein artifizieller, intentionaler Gegenstand zu sein). Solange sich nicht angeben läßt, vor welchen (plausiblen) Hintergrundannahmen eine positive Antwort auf diese Frage akzeptabel ist, liegt auch keine Begründung für die Wahl einer autorintentionalen Interpretationskonzeption vor. Die Aufgabe fällt keineswegs leichter, wenn man So jedenfalls der Befund bei John Matthews Manly, ebd., S. 353. Dort heißt es: »To me, the scattered patches of >shorthand signs< with which Professor Newbold operated seem merely the result of the caction of time on the ink of the written characters.The correct conclusion undoubtedly is that the >microscopic shorthand signs< have, as such, no objective existence, but are the creations of Professor Newbold's imagination«. Vgl. William F. Friedman / Elizabeth S. Friedman: The Shakespearian Ciphers Examined. An Analysis of Cryptographic Systems Used as Evidence That Some Author Other Than William Shakespeare Wrote the Plays Commonly Attributed to Him. Cambridge: Cambridge University Press 1957. Die Geschichte ist nicht ohne Pointe, denn das Anagramm lautet: »I put no trust in anagrammatic acrostic cyphers, for they are of little real value - a waste - and may prove nothing. - Finis«. Die Auflösung dieses Anagramms findet sich erst bei Curt A. Zimansky: William F. Friedman and the Voynich Manuscript. In: Philological Quarterly 49 (1970), S. 433-442. Aufgeschlüsselt lautet es (S. 438): »The Voynich MSS was an early attempt to construct an artificial or universal language of the a priori type. - Friedman«. William F. Friedman hat bis zu seinem Tode keine Ausarbeitung der Lösungsidee veröffentlicht.
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die generelle Behauptung eingeschränkt auf Texte und ihre Interpretation begründen will. Texte erhalten einen intentionalen Charakter zugesprochen, indem sie in einen Kontext gestellt werden, der im Blick auf ihre Entstehungsgeschichte eine Verknüpfung mit >Intentionen< erlaubt. Doch selbst dann, wenn Texte in diesem Sinne als intentionale Artefakte aufgefaßt werden, ist noch keine Empfehlung für ein autorintentionales Interpretationskonzept gewonnen, nicht einmal eine Auszeichnung gegenüber irgendeiner Art und Weise ihrer Interpretation. Der Grund ist einfach. Eine solche Klassifikation als Empfehlung aufzufassen, bietet noch nicht die Verbindung zu einer bestimmten Interpretationskonzeption, unter deren Anleitung ein Text zu interpretieren ist, sondern stellt zunächst nur die Anleitung zur Sortierung von Gegenständen dar - etwa als Gegenstände, die interpretationswürdig sind. Doch muß das nicht heißen, daß die zur Klassifikation dienenden Eigenschaften, die ihn etwa interpretationswürdig erscheinen lassen, immer auch interpretationsre/evan/ sein müssen.13 Gibt es Klassifikationen der legitimen Gegenstände des Interpretierens anhand von Eigenschaften, die zugleich interpretationsrelevant sind? Die Antwort auf diese Frage lautet, daß es solche Klassifikationen nicht nur gibt, sondern Aa&jede Klassifikation von Gegenständen als interpretationswürdig interpretationsrelevant sein kann. Aber das heißt eben auch, daß dies alleingenommen nicht so sein muß. Wenn einem Text eine Bedeutung zugewiesen wird, dann setzt das lediglich voraus, daß irgendwelche seiner Eigenschaften im Hinblick auf diese Interpretation als interpretationsrelevant gelten. Eigenschaften eines interpretationswürdigen Gegenstandes sind interpretationsrelevant, wenn auf sie zurückgegriffen wird, um einem Text eine Bedeutung zu- oder abzusprechen. Hierzu muß eine Verbindung - sie mag noch so inZwei besondere Beispiele seien hier nur erwähnt: Das ist zunächst mittels Computerprogramm generierte >Literatur< - hierzu den Beitrag von Simone Winko in diesem Band; sodann geoffenbarte Texte, die einen (letztlich) nichtmenschlichen Ursprung besitzen. Auch wenn in der langen Geschichte der hermeneutica sacra zunehmend die >profanen< Aspekte geoffenbarter Texte stärker in den Blick genommen wurden, verlaßt gleichwohl jede Hermeneutik für alle diejenigen, die am besonderen Charakter dieser Texte festhalten, den Prüfstand, wenn sie den Offenbarungscharakter leugnet oder ignoriert, und sie erscheint als unzureichender Ersatz, wenn sie als allgemeine Hermeneutik immer wieder um historisch kontingente Bereichsannahmen angereichert werden muß, um als Spezialhermeneutik dieser Texte zu gelten. Mit aller Klarheit spricht August Boeckh das Problem an, wenn er die Unterscheidung zwischen einer hermeneutica sacra und profana anhand einer Alternative zurückweist: Entweder sei ein »heiliges Buch« ein »menschliches Buch«, dann gelte die hermeneutica, oder es sei ein »göttliches Buch«, so sei es kein Gegenstand der hermeneutica, denn dieses Buch sei »über alle Hermeneutik erhaben« vgl. August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hg. v. Ernst Bratuschek [ED 1877]. 2. Aufl, besorgt von Rudolf Klussmann. Leipzig: Teubner 1886, S. 80.
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direkt sein - zwischen seiner Bedeutung und dem, was eine Eigenschaft dieses Textes ist, angenommen werden. Die Annahmen, die jeweils gewählt werden und die diese Verbindung tragen, nenne ich im weiteren >Bedeutungs- und Interpretationskonzeption< - die Unterschiede zwischen beiden werden später deutlich. Man kann das Ergebnis weiter zuspitzen und fragen, ob nicht Klassifikationen von Texten, die sie nicht allein als interpretationswürdig, sondern als interpretations/egt/i/n auszeichnen, per deflnitionem interpretationsre/evanf sind. Eigenschaften, die einen Gegenstand interpretationslegitim machen, sind solche, die bedeutungstragend sind. Das heißt: Nach der gewählten Bedeutungskonzeption handelt es sich um die Eigenschaften, die vorausgesetzt sind, damit der Gegenstand überhaupt eine Bedeutung besitzen kann - >Bedeutung< dabei in dem Sinne, wie dies die jeweilige Bedeutungskonzeption festlegt. Zwar impliziert (per definitionem) eine Klassifikation von Gegenständen anhand von Eigenschaften als interpretationslegitim, daß diese Eigenschaften auch interpretationsrelevant sind, dennoch ist damit nichts für die Empfehlung einer autorintentionalen Bedeutungs- und Interpretationskonzeption gewonnen. Man kann Texte als intentionale Artefakte auffassen und man kann eine Bedeutungskonzeption wählen, derzufolge das eine bedeutungstragende Eigenschaft ist (oder sich mit solchen verknüpfen läßt), gleichwohl liefert das keine Auszeichnung einer Bedeutungs- und Interpretationskonzeption. Auch hier ist der Grund einfach; denn Auszeichnung wie Verknüpfung sind mit der gewählten Bedeutungskonzeption bereits gegeben. Zusammengefaßt besagt das Ergebnis der Überlegungen, daß die Auszeichnung oder Empfehlung einer autorintentionalistischen Bedeutungs- und Interpretationskonzeption aufgrund der Klassifikation von Texten als intentionale Artefakte zu schwach oder aber zu stark ist, in beiden Fällen also unzureichend. Die Erörterung dieses Beispiels stellt nur eine erste Möglichkeit dar, um die Rolle von Hintergrundannahmen bei der Argumentation für oder gegen eine bestimmte Art und Weise der Interpretation von Texten aufzuzeigen. Hinzuzufügen ist unter anderem die Unterscheidung zwischen interpretationsre/evanten und interpretauonsdifferenzierenden Eigenschaften eines Textes: Das Wissen darum, daß ein Text beispielsweise ein literarisches Kunstwerk ist, und die Anerkennung dieses Wissens als relevant für die Interpretation bedeuten noch nicht, daß irgendein Merkmal des Textes, das ihn zu einem literarischen Kunstwerk macht, auch bei der Entscheidung zwischen zwei Interpretationen dieses Textes eine Rolle spielen muß, also in diesem Sinne interpretationsdifferenzierend ist. Jeder Text besitzt eine nicht begrenzbare Anzahl von (kontextuellen und nichtkontextuellen) Eigenschaften. Die Bedeutungs- und Interpretationskonzeption legt fest, welche zu den bedeutungstragenden Eigenschaften gehören und welche nicht bedeutungstragend, aber gleichwohl interpretations-
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relevant sind. Bei jeder Interpretation bleiben zudem auch Eigenschaften des Textes als interpretationsirre/evani unberücksichtigt. Doch ein solcher Ausschluß ist immer hypothetisch und kann in keiner Bedeutungs- und Interpreationskonzeption definitiv vorgeschrieben sein. Der Grund liegt darin, daß der Ausschluß auf einer weitreichenden Unterstellung beruht: Bestimmte Eigenschaften könnten im Hinblick auf eine gewählte Bedeutungs- und Interpretationskonzeption niemals mittels zusätzlicher Annahmen in einer Weise verknüpft werden, daß sie an Schlüssen auf Eigenschaften beteiligt sind, die als bedeutungstragend ausgezeichnet werden - aber mehr noch: Wenn eine Bedeutungs- und Interpretationskonzeption gewählt wird, dann legt das auch nicht definitiv fest, welcher Kontext eines Textes in keiner Hinsicht eine Rolle für die Interpretation spielen kann. Eine Bedeutungs- und Interpretationskonzeption zeichnet, aber schließt nicht aus (bei der Bedeutungszuweisung ist es eher umgekehrt). Inwieweit es Verknüpfungen von Eigenschaften gibt, die bei der Interpretation eines Textes nach einer bestimmten Bedeutungs- und Interpretationskonzeption herangezogen werden, wird durch diese nicht festgelegt; es hängt vielmehr davon ab, was als plausible >empirische< Beschreibungen von Texten und Kontexten Anerkennung findet. Um die nachfolgenden Überlegungen zur autorintentionalen Interpretationskonzeption über die angeführten Hintergrundannahmen hinaus zu entfalten, will ich ihnen >Modelle< zugrunde legen. Zwar sind sie aus historischen Kontexten extrahiert, doch geht es mir nicht vordringlich um die Geschichte der Hermeneutik: Sie erlauben Vereinfachungen und können vor allem mit einem Minimum an historischer Rekonstruktion dargeboten werden. Ich will mit ihrer Hilfe zu zeigen versuchen, in welchen Konstellationen und vor welchen Hintergrundannahmen eine autorintentionale Interpretationskonzeption als mehr oder weniger attraktiv erscheint - und das schließt ein, daß es recht unterschiedliche Konzeptionen dieser Art gegeben hat und daß den Kritikern durchweg ein jeweils besonderes Bild dieser Konzeption zum Angriffspunkt wird.14 Als Einsatz dient mir eine in vielfacher Hinsicht prägende autorintentionale Konstellation: die Heilige Schrift als Gottes Wort. Sie bietet sich als Ausgangspunkt an, weil sie zunächst sehr einfach ist und dennoch zahlreiche Probleme komplizierterer Konstellationen anzusprechen erlaubt. Um Gottes Wort zu erkennen (seine >IntentionWillenBuch Künstler< causa efficiens sei.23 Diese Begrifflichkeit findet dann auch für die Auslegung
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Vgl. auch den Beitrag von Bernhard F.Scholz in diesem Band. Vgl. z.B. Thomas von Aquin: Summa Theologica [1266-73], I-II, 18, 4 ad 2, oder Robert Grosseteste: Commentarius in Posteriorum Analyticomm Libros [1220/30]. Introduzione e testo critico di Pietro Rossi. Firenze: Olschki 1981, II, 2, S. 330. Vgl. z.B. Pierre Abaelard: Dialectica [1117]. First complete edition of the Parisian manuscript with an introduction by L.M. de Rijk. Second revised edition. Assen: van Gorcum (1956) 1970, tract. Ill, lib. II, S. 414: »Causas autem quatuor Boetius computat, efficientem scilicet, maerialem, formalem, finalem«. Vgl. Lucius Aeneus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Hg. v. Manfred Rosenbach. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, Bd.III, Ep.65/7-8, S. 541. Im Unterschied zu anderen Briefen, gehörte der 65. Brief zu denjenigen, die auch im frühen Mittelalter bekannt waren, vgl. Leighton D. Reynolds: The Medieval Tradition of Seneca's Letters. Oxford: Oxford University Press 1965. - Die fünf Platon zugeschriebenen causae in dem Seneca-Brief finden sich indes nicht bei ihm; sie gehen wohl zurück auf den Timaeus-Kommentai des Chalcidius. Hierzu mit weiteren Hinweisen u.a. Paul Klopsen: Einführung in die Dichtungslehre des lateinischen Mittelalters. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S.48ff. Hierzu auch Richard William Hunt: The Introductions to the >Artes< in the Twelfth Century. In: Studia Mediaevalia in Honorem [...] Raymundi Josephi Martin. Brugis Flandrorum: »De Tempel« o.J. [1948], S. 85-112, insb. S. 107ff., ferner Alastair J. Minnis: The Influence of Academic Prologues on the Prologues and Literary Attitudes of Late-Medieval English Writers. In: Medieval Studies 43 (1981), S. 342-383, insb. S. 350ff., sowie überhaupt für das Mittelalter A. J. M.: Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages. London: Scolar Press 1984, auch A. J. M.: >Authorial Intention< and >Literal Sense< in the Exegetical Theories of Richard Fitzralph and John Wyclif: An Essay in the Medieval History of Biblical Hermeneutics. In: Proceedings of the Royal Irish Academy 75 (1975), S. 1-31. Zu den accessus philosophorum, die zwischen 1230 und 1240 an der Pariser Artistenfakultät verfaßt wurden, vgl. Claude Lafleur: Quatre introductions a la philosophic au Xllf siecle. Montreal - Paris: Institut d'Etudes Modievales 1988, S. 184ff; zum Schema der neuplatonischen Kommentatoren Ilsetraut Hadot: Les introductions aux commentaires exögetiques chez les auteurs nooplatoniciens et les auteurs chrotiens. In: Michel Tardieu (Hg.): Les regies de interpolation. Paris: Edition du Cerf 1987, S. 99-122. Vgl. Alanus: De Fide Catholica Contra Haereticos [...] Liber Quatuor. In: Opera Omnia. Paris: Migne 1855 (= PL 210), Sp.305-428. Hier Sp.311A. Alanus weist
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der Heiligen Schrift Übernahme: Für das Neue Testament zuerst wohl bei Hugo von St. Cher (Hugo Cardinalis) in seinem Werk Postillae in totam Bibliam zwischen 1230 und 123 ;24 für das Alte Testament vermutlich bei Guerric von Saint-Quentin ein wenig später.25 Auf der Grundlage des vierfachen Kausalschemas erfolgen dann die Identifizierungen: Der Autor als causa efficiens, Themen und Quellen als causa materialis, causa formalis ist als forma tractandi die Vorgehensweise des Autors und als forma traciatus die Gestalt der Schrift, causa ßnalis ist schließlich der Zweck des Werkes, der sich im Rezipienten erfüllt (oder auch nicht). Causa efficiens undfinalis gelten hierbei häufig als äußere (extresecus), materialis und formalis als innere Ursachen (intresecus).26 Doch das ist nur der Anfang einer Fülle von Begriffsdistinktionen, die zur Beschreibung von kontextuellen und nichtkontextuellen Eigenschaften eines Textes im Rahmen dieses Modells geboten werden. Im Blick auf meine Überlegungen, zu denen mir dieses Modell dienen soll, sind indes nur wenige Züge von Interesse. Ein effektiver Ursache-Wirkungs-Zusammenhang kann komplex sein, und so ist es auch im Falle der Heiligen Schrift. Unterschieden wird
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hier darauf hin, daß der Künstler vergehen könne, während sein Werk bleibe: »Alia est causa efficiens, alia formalis. Efficiens causa est, quae movet et operatur ad hoc ut res sit; ut artifex est causa efficiens opens sui, illudque movet, et operatur ad hoc ut sit; nee tarnen sequitur, quod si aliquid praedicatur de artifice, quod etiam de ejus opere vel contra. Contingit enim opus esse diuturnum, et non artificem«. Er zitiert dort (Sp. 332C und 334B) »Aphorismi de essentia summae bonitatis« (= Über de causis). Zum liber de causis auch Cristina d'Ancona Costa: Recherches sur le über de causis. Paris: Vrin 1995. - Bereits Konrad von Hirsau verwendet anstelle von utilitas den Ausdruck causa finalis, vgl. K.v.H.: Dialogus super auctores [1124/25]. In: Robert B. C. Huygens (Hg.): Accessus ad auctores. Bernard d'Utrecht, Conrad d'Hirsau [...]. Edition critique entiörement revue et augmented. Leiden: Brill 1970, S. 71-131. Hier S. 78, Z. 221. Zum Dialogus super auctores allgemein Terence O. Tumberg: Conrad of Hirsau and His Approach to the Auctores. In: Medievalia et Humanistica N.S. 15 (1987), S. 65-94. Vgl. Alastair J.Minnis: The Influence (Anm. 21), S. 353; zu Hugos Postillen femer Beryl Smalley: The Gospels in the Paris Schools in the late 12th and early 13th Centuries. Peter the Chanter, Hugh of St. Cher, Alexander of Hales, John of La Rochelle (Teil II). In: Franciscan Studies 40 (1980), S. 298-369. Hier S. 298-316. Vgl. Beryl Smalley: A Commentary on Isaias by Guerric of St. Quentin, O.P. In: Miscellanea Giovanni Mercati. Vol. II: Letteratura Medieovale. Cittä del Vaticano: Bibl. apostolica Vaticana 1946, S. 383-397. »Causa formalis huius scientie est forma et forma tractatus. Forma tractandi est modus agendi qui est principaliter definitivus, divisivus, probativus, improbativus et exemplorum suppositivus; forma tractatus est forma rei tradite que consistit in seperatione librorum et capitulorum et ordine eorundum« - aus Jordans des Sachsen Kommentar Priscanus minor ca. 1220, zit. nach Jan Pinborg: Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter. Münster: Aschendorff 1967, S. 25f.
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zwischen causa efficiens mediata und immediata.21 Die Schrift gilt als zweifach verursacht: die causa prima sive principalis ist Gott, die causa secunda sive Instrumentalis bilden die biblischen Schriftsteller.28 In diesem Konzept der mehrfachen Autorschaft ist eines der entscheidenden Momente des Modells zu sehen. Vorgeprägt sind hier Fragen, die sich im Falle multipler Autorschaft stellen - etwa wenn Autorschaft als Kontrollierbarkeit der Textproduktion aufgefaßt wird.29 Auch hierbei handelt es sich um ein altes Problem, wenn man bedenkt, daß die alten Autoren wie Origenes oder Ambrosius diktiert haben und daß - insbesondere, nachdem im Mittelalter das Wissen um tachygraphische Zeichen, ja sogar teilweise die Kursivschrift verlorengegangen ist diese Diktate keineswegs wörtlich waren und nur selten eine correctio standfand. Vom Heiligen Thomas heißt es, er hätte mehreren Sekretären zugleich diktiert, und der Heilige Bonaventura unterscheidet vier Arten, Verfasser eines Textes zu sein: Schreiber (scriptor), Kompilator, Kommentator und Autor (auctor).30 Bereits das Konstrukt doppelter Autorschaft eröffnet verschiedene Möglichkeiten der erweiterten Kontextbildung für die Interpretation. Bei der Ausgangskonstellation >Gott - Schrift< ist die Schrift durch das Autorkonstrukt unvergleichbar; im Blick auf Gott als ihrem Urheber ist sie das auch noch weiterhin, nicht indes im Hinblick auf ihre menschlichen Verfasser. Über diese sekundären Autoren bietet sich eine Vielzahl textueller und nichttextueller Kontexte für die Interpretation des Textes an. Das Konzept der doppelten oder mehrfachen Autorschaft bildet zudem die Grundlage für eine berühmte Maxime, die sich im Rahmen der autorintentionalen Interpretationskonzeption ausgebildet hat. Es ist die des Besserverstehens (eines Textes beziehungsweise eines Autors). Mit der Akkommodation des primären Autors,
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Abgesehen von der Unterscheidung zwischen Bewegungs- und Seinsursächlichkeit - hierzu Etienne Gilson: Notes pour l'histoire de la cause efficiente. In: Archives d'histoire doctrinale et littoraire du moyen äge 37 (1962), S. 7-31, femer William Dunphy: Peter of Auvergne and the Twofold Efficient Cause. In: Mediaeval Studies 28 (1966), S. 1-21, sowie W. D.: Albeit and the Five Causes. In: Archives d'histoire doctrinale et littfirarire du moyen age 41 (1966), S. 7-21, auch W. D.: Two Texts of Peter of Auvergne on a Twofold Efficient Cause. In: Mediaeval Studies 26 (1964), S. 287-301. So heißt es z.B. bei Thomas: Summa Theologica, II-II, q. 173, a. 4, resp., zu den Propheten: »Sciendum tarnen quod quia mens prophetae est instrumentum deficiens, ut dictum est [...] >etiam veri prophetae non omnia cognoscunt quae in eomm visis, aut verbis, aut etiam factis Spiritus Sanctus intendit.GeistIdeenMentalitäten< und so weiter), auf die nicht weiter eingegangen zu werden braucht. Nicht weniger wichtig als die Aufspaltung des Autors ist eine zweite Pointe des causa-effectus-Mode\\s. Dieses Modell liefert die Grundlage für eine Theorie des Textverstehens, bei der das Verstehen der Heiligen Schrift nurmehr ein spezieller Fall ist. Zugleich verändert sich dabei das Autorkonstrukt: Es muß nicht mehr auf die autorisierende Rolle des Autors zurückgegriffen werden - mehr noch: in der hermeneutica generalis (im Unterschied zur hermeneutica specialis wie hermeneutica sacra) wird sie vollkommen aufgegeben. Die Erkenntnis der Wahrheit im Text und die wahre Erkenntnis (der Bedeutung) des Textes werden voneinander getrennt, zugleich aber mit der Vorstellung verknüpft, Texte seien wert, interpretiert zu werden, auch wenn das erste nicht gegeben ist.32 Wenn das erste, also die vorgängige Wahrheit des Textes, zum Spezialfall erklärt wird, dann scheint die zentrale Rolle des Autors für die allgemeinen Fälle wesentlich geschmälert zu sein. Ob das in der Hierzu Lutz Danneberg: Gegen die Beliebigkeit der Interpretation - zum Nutzen der Literatur. Vortrag auf dem Kongreß Fremdheit und Vertrautheit. Hermeneutik im europäischen Kontext, erscheint in den Tagungsakten. Hierzu Lutz Danneberg: Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 253-316, sowie L. D.: Logik und Hermeneutik, Philosophie und Theologie im 17. Jahrhundert: Johann Claubergs Logica vetus & nova im historischen Kontext. Zur Entwicklung der Auslegungslehren vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, [demnächst] Tübingen.
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Tat so gesehen wird, hängt nicht zuletzt von philosophischen Überzeugungen ab. Der Autor wird in sein, wenn auch verändertes Recht gesetzt - trotz des Verlustes seiner autorisierenden (wahrheitstiftenden) Kraft - durch eine für bestimmte Zeiten überaus plausible Hintergrundannahme: Eine Wirkung sei erst dann vollkommen begriffen, wenn man ihre Wirkursache und alles übrige erkennt, was zu ihrer Hervorbringung beiträgt. Nun ist aber der Autor die Wirkursache der Rede, und auch die übrigen Nebenumstände tragen zu ihrer Hervorbringung bei." Das Vorgehen der Textinterpretation, also der Vorgang der Ermittlung der Bedeutung eines Textes, wird hierbei als die Umkehrung des Prozesses seiner Entstehung begriffen. Das, was dem Entstehungsprozeß zufolge das letzte ist, wird im Verstehensprozeß das erste - ebenso wie man sich das beim Naturerkennen dachte. Nach dem causa-effectus-Mode\\ erscheint die Interpretation der Natur und die Interpretation von Texten als ein relativ einheitlicher Vorgang; und so sind nach diesem Modell oftmals Probleme der Interpretation sowohl solche des Umgangs mit der Natur als auch solche des Umgangs mit Texten.34 Die Unterscheidung zwischen Hauptursache und Nebenumständen (circumstantiae) führt zu einem weiteren Moment, das sich in diesem Modell darbietet. Da nie Sicherheit besteht, alle Nebenumstände berücksichtigt zu haben, verbleibt immer auch ein Rest an Ungewißheit; die Interpretation bleibt letztlich immer unsicher, ist nur wahrscheinlich.33 Doch die Skepsis reicht noch weiter. Für causae-effectus-Beziehungen war die Einsicht geläufig, daß der definitive Schluß von den effectus auf die causa ein non sequitur ist. Das heißt: Über den Text und die Nebenumstände allein läßt sich kein alternativloser Schluß auf die Absicht des Autors und damit auf die Bedeutung des Textes ziehen.36 Die InterSo heißt es im hermeneutischen Part bei Johannes Clauberg: Logica vetus & nova, Modum inveniendae ac tradendae veritatis, genesi simul & Analysi, facili methodo exhibens [1658]. In: J. C.: Opera Omnia Philosophica [...]. Amstelodami 1691 (ND Hildesheim: Olms 1968), S. 765-910. Hier: pars tertia, cap. II, § 12, S. 846: »Cur ad verum orationis sensum eruendum prodest notitia authoris, materiae, scopi, loci & temporis, similiumque circumstantiarum, cüm haec omnia extra orationum posita esse videantur? Resp. Quia turn demum perfect^ cognoscitur effectus, Cüm causa ejus efficiens, & omnia ad eum efficiendum concurrentia intelliguntur. Jam verb author est causa efficiens orationis suae, atque ad hunc effectum producendum reliquae circumstantiae concurrunt«. Vgl. Lutz Danneberg: Zur Historiographie des hermeneutischen Zirkels: fake und fiction eines Behauptungsdiskurses. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (1995), S.611-624. Vgl. Lutz Danneberg: Probabllitas hermeneutica. Zu einem Aspekt der Interpretations-Methodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 8 (1993), S. 27-48, sowie L.D.: Baumgartens biblische Hermeneutik. In: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt/M.: Klostermann 1994, S. 88-157. Vgl. Lutz Danneberg: Erfahrung und Theorie als Problem moderner Wissenschaftsphilosophie in historischer Perspektive. In: Jürg Freudiger / Andreas Graeser / Klaus
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pretationen sind nicht nur wahrscheinlich, sondern mehrere gleichwahrscheinliche sind (immer) möglich. Sofern der Autor nicht als autorisierend aufgefaßt wird, der seinem Text Wahrheit oder Geltung verleiht, braucht hier kein sonderliches Problem für die autorintentionale Interpretationskonzeption zu liegen. Zum Problem wird es dann, wenn in den Texten Wahrheit gefunden werden soll: Zwar gibt es in den Texten die Wahrheit, doch können wir uns ihrer (interpretierend) niemals vergewissern. Um die Möglichkeiten alternativer Interpretationen weiter zu beschränken, die der Hiat beim Erschließen der Ursache aus der Wirkung eröffnet, lassen sich zwei Strategien unterscheiden: Die erste zielt auf ein Wissen über die >Ursachen< (den Autor), das gewiß ist, jedoch auf anderen Quellen als den Effekten beruht; die andere akzeptiert spezielle hypothetische Annahmen über den Autor und versucht damit das Autorkonstrukt entsprechend zu gestalten. Auf die verschiedenen Ansätze, in denen den Interpreten besondere Fähigkeiten oder Einsichten zuerkannt werden, mit deren Hilfe sie diese Kluft zu überspringen vermögen, will ich nicht eingehen, sondern allein auf die zweite Strategie, die sich auf den Autor richtet. Grundsätzlich können Annahmen, die zur Bildung des Autorkonstrukts dienen, unterschiedliche Statuszuschreibungen erfahren. Mitunter werden einige von ihnen als Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens überhaupt angesehen; oft indes nur als Definitionen oder als hypothetische Annahmen, die bei der Ermittlung der relevanten Daten für das Verstehen des Textes durch diese (grundsätzlich) außer Kraft gesetzt werden können. Das bedeutet zum Beispiel auch, daß der Text selbst dann noch >verstanden< werden kann - ihm also im Rahmen der entsprechenden Bedeutungs- und Interpretationskonzeption gleichwohl eine Bedeutung zugeschrieben werden kann -, wenn der empirisch gegebene Autor das Autorkonstrukt nicht (oder nur in bestimmten Teilen) erfüllt. Diese Autorkonstrukte des zweiten Modells variieren. In ihnen treffen verschiedene Vorstellungen zusammen, die mit dem Interpretieren von Texten verbunden werden: Das reicht von den Gründen, die es wert erscheinen lassen, Texten überhaupt mit einem gewissen Aufwand Bedeutungen zuzuweisen, bis zu Ansichten, die das zwischenmenschliche Zusammenleben betreffen. Solche Autorkonstrukte lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten sortieren und zusammenfassen. Ich greife eine Gruppe von Konstrukten heraus, um auf weitere Aspekte ihrer Bildung im Rahmen einer autorintentionalen Interpretationskonzeption zu kommen. Eine grundlegende Annahme dieser Gruppe von Konstrukten ist, daß ein Autor sich den von ihm gewollten Lesern (seinen Adressaten) verständlich machen will. Der Text wird damit in einen Handlungskontext eingebettet, und unter der Annahme von Zweck-Mittel-Rationalität läßt sich dann annehmen, der Autor habe zu bestimmten Mitteln gemäß eiPetrus (Hg.): Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts.
München: Beck 1996, S. 12-41.
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ner gegebenen Situation gegriffen. Vereinfacht funktioniert eine Interpretation des Textes dann wie folgt: Die unbegrenzten Möglichkeiten, die bestehen, wenn keine Restriktionen für die Bedeutungszuweisung an einen Text vorgesehen sind, werden auf diejenigen eingeschränkt, die dem Autor unter den Voraussetzungen des Handlungsmodells (in einer gegebenen Situation) als zurechenbar gelten. In diesem Fall beruht das Hilfsmittel, um die Kluft zwischen Autorintention (Ursache) und der Bedeutung des Textes (Effekt) zu überbrücken, auf einer Zweck-Mittel-Annahme. Das entstehende Problem bezieht sich auf die zu treffenden Vorkehrungen, damit genau diese Annahme des Autorkonstrukts mit (unabhängigen) Befunden in Konflikt treten kann, so daß sich die Unterstellung einer bestimmten Zweck-Mittel-Beziehung gegebenenfalls auch korrigieren läßt. Doch handelt es sich auch hier um ein Problem, das bei Textinterpretationen grundsätzlich anfällt, wenn man bei ihnen die (situative) Beliebigkeit der Bedeutungszuweisung zu vermeiden sucht. Mit der Ablösung des Autors als Garant der Wahrheit seines Textes verliert sich auch die besondere Stellung der interpretatio authentlca. Der Autor besitzt vielleicht einen privilegierten Zugang zu seinen mentalen Zuständen, aber keinen zu der Bedeutung des Textes, der in öffentlicher und gemeinsamer Interpretation erfolgt. Das schließt nicht aus, daß es zahlreiche Autorkonstrukte gibt, die dem Autor dafür in anderer Hinsicht einen besonderen Status einräumen. Statt der Privilegierung des Autors bei der Interpretation seines Textes wird er nun dem Interpreten durch ihre gemeinsame Bindung an die Regeln der Interpretation gleichgestellt. Im Zuge dessen erfährt die interpretatio authentica eine entsprechend ausgerichtete Umdeutung. Aus ihr wird die Rechtfertigung einer textuellen beziehungsweise intertextuellen Relation: Das Berücksichtigen von (vorhandenen) Parallelstellen (im Text oder Werk eines Autors) erhält seine Rechtfertigung, indem sie als Selbstkommentierung (als interpretatio authentica) begriffen werden. Wenn das Autorkonstrukt auf Vorstellungen beruht, die das menschliche Zusammenleben betreffen, dann können einige seiner Annahmen beipielsweise juristischen Charakter besitzen; das heißt: Mittels des Autorkonstruktes werden bestimmte juristische Normen auf das Interpretieren von Texten übertragen. Die Konstellationen, in denen eine solche Übertragung als plausibel erscheint, sind vielfältig. Im vorliegenden Zusammenhang soll jedoch nur ein Moment herausgegriffen werden. Eine solche Übertragung gilt für Texte, bei denen nicht vorab angenommen wird, daß sie wahr sind (beziehungsweise Wahrheiten enthalten). Autoren solcher Texte bedürfen (in zahlreichen gesellschaftlichen Situationen) des Schutzes. So kann eine Regel, die aus einem vergleichbaren Autorkonstrukt gewonnen wird, beispielsweise festhalten: Von zwei Interpretationen desselben Textes, die aufgrund der Verbindung von Text und Autor letzterem bestimmte Intentionen (Aufassungen) zuschreiben und die im Hinblick auf die Befunde gleichwahrscheinlich sind, ist die zu wählen, die
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den Autor in geringere Konflikte mit sanktionsfähigen Auffassungen bringt." Doch nicht nur der Autor, auch der Interpret kann im Rahmen eines solchen Autorkonstruktes als schutzbedürftig erscheinen. Ein Exempel mag verdeutlichen, wie unter juristischen Gesichtspunkten das Konzept öffentlicher Bedeutung aufgefaßt wurde. Thomas Hobbes geht explizit von der erwähnten Annahme des Autorkonstrukts aus, daß der Autor verstanden werden will: »Forasmuch as whoever Speakern to another, intendeth thereby to make him understand what he saith; [...]«. Dann folgert er eine Unterstellung: »It is therefore always to be supposed, that he which intendeth not to deceive, alloweth the private interpretation of his speech to him to whom it is addressed«.38 Hobbes macht hier keine Aussage über die Natur des Menschen (des Autors), etwa in der Hinsicht, daß ein solcher nicht täuschen wolle. Bei Hobbes handelt es sich vielmehr um die folgende Aussage: Wenn (ein bestimmtes Autorkonstrukt gilt und) jemand kommuniziert (also einen Text verfaßt) und er nicht täuschen will, dann akzeptiert er das Recht des Adressaten (ohne explizit seine Einwilligung geben zu müssen), seinen Text nach einem bestimmten Autorkonstrukt zu interpretieren.39 Das juristische Exempel, das hier Übertragung findet, ist das eines Versprechens, bei dem der >Autor< im nachhinein die Qualität seiner Äußerung als Versprechen leugnet oder den Verpflichtungsgehalt des Versprechens durch Ausdeutung verändert. Mit Hobbes' (juristischem) persona-Begnff zeichnet sich eine Differenzierung im Rahmen von Autorkonstrukten ab, die allein schon den Blick dafür zu öffnen vermag, daß der Autor unter sehr unterschiedlichen Beziehungen konstruiert werden kann."0 Nicht zuletzt für die juristische Inanspruchnahme des Autors Vgl. Lutz Danneberg: Die Auslegungslehre (Anm. 32), S. 312ff. Thomas F. Hobbes: The Elements of Law, Natural and Politic. Edited with a Preface and Critical Notes by. F. Tönnies. To which are subjoined selected extracts from unprmted MSS of Thomas Hobbes. Cambridge: University Press 1928, chap. , §10 · Die wichtigen Überlegungen Hobbes' zur Interpretation (auch der Heiligen Schrift) haben offenbar nur geringe Aufmerksamkeit gefunden und dann oftmals unzureichende (in zahlreichen Momenten steht Hobbes - entgegen der Ansicht seiner Interpreten - fest in der Tradition der herkömmlichen hermeneutica sacra), vgl. u.a. David Johnston: The Rhetoric of Leviathan. Thomas Hobbes and the Politics of Cultural Transformation. Princeton: Princeton University Press 1986, insb. S. 137-142; J. P. Osier: L'Hermoneutique de Hobbes et de Spinoza. In: Studia Spinozana 3 (1987), S. 319-347; James Fair: Atomes of Scripture: Hobbes and the Politics of Biblical Interpretation. In: Mary G. Dietz (Hg.): Thomas Hobbes and Political Theory. Lawrence: University Press of Kansas 1990, S. 172-196. In diesem Zusammenhang kann ich nur allgemein auf Hobbes' person-Btgriff hinweisen, den er im Kapitel über representation in seinem Leviathan darlegt, vgl. Thomas F. Hobbes: Leviathan Or The Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. Reprinted from the Edition of 1651. With an Essay by the late W. G. Pogson Smith. Oxford: Clarendon Press (1909) 1958, part I, chap. XVI: Of persons, Authors and Things Personated; dabei identifiziert Hobbes person
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etwa im Rahmen von Zensurgesetzen oder aber auch von CopyrightRegelungen ist eine Unterscheidung wie die zwischen person, individual und subject erforderlich, und sich dem >modernen< oder >postmodernen< Autorverständnis anzuvertrauen, ist hier wie aber auch in anderen Bereichen der Garant für Fehldeutungen.41 Wie determiniert auch immer die Beziehung zwischen dem Text und der causa samt den circumstantiae, die ihn mit seiner Bedeutung produzieren, aussehen mag: Bei der Anwendung dieses Schemas auf die Textinterpretation gibt es - wie bereits angedeutet - ein grundsätzliches Problem. Es besteht immer eine Lücke in der Verbindung von causa und effectus, und zwar wegen der gemeinhin angenommenen Arbitrarität des Zeichens. Im Blick auf die Natur bewahrte sich lange Zeit die Vorstellung eines durchgehenden und determinierten (notwendigen) Zusammenhangs zwischen causae und effectus - welche Probleme sich auch immer bei der wissenschaftlichen Erkundung dieser Zusammenhänge gestellt haben. Wenn man im Bereich der Natur über das vollständige Wissen hinsichtlich der Ursachen und der Umstände verfügt, dann -
nicht mit >human beingAuthors In: Eighteenth-Century Studies 17 (1984), S. 425-448, oder Mark Rose: The Author as Proprietor: Donaldson v. Beckett and the Genealogy of Modem Authorship. In: Representations 23 (1988), S. 51-85; problematisch auch Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderbom u.a.: Schöningh 1981, sowie Carla Hesse: Enlightenment Epistomology and the Laws of Authorship in Revolutionary France, 1777-1793. In: Representations 30 (1990), S. 109-137; schließlich hierzu David Saunders: Authorship and Copyright. London - New York: Routledge 1992, Kap. 4, S. 106-121, und Kap. 9, S. 212-234. Sehr erhellend und bin in die Antike zurückreichend Pamela O. Long: Invention, Authorship, »Intellectual Property«, and the Origin of Patents. Notes Toward a Conceptual History. In: Technology and Culture 23 (1991), S. 846-884.
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so ließe sich folgern - könne man notwendig auch die Effekte ableiten oder prognostizieren, und verfügt man über eine hinreichende Kenntnis der Umstände und des Effektes, so ließe sich die Ursache erschließen. Das gilt allerdings nur unter einer gewichtigen reservatio menlalis: Gottes potentia absoluta bleibt ausgeklammert.42 Angenommen die Kenntnis aller Verknüpfungen sei verfügbar, die es erlauben, sprachliche Ausdrücke einer Sprache (vollständig) mit >Bedeutung< zu verbinden, und eine (hinreichende) Kenntnis der Umstände sei gegeben, so ließe sich mit dem gleichen Geltungsanspruch, den diese Verknüpfungen besitzen, einem vorliegenden Text eine Bedeutung zuweisen. Wie unrealistisch solche Voraussetzungen auch sein mögen, wichtiger ist, daß auch das nur unter einer weiteren Voraussetzung möglich ist: Die potentia absoluta des Autors, die ihm aufgrund der Arbitrarität des Zeichens zukommt, wird stillgestellt.43 Das aber heißt, einen Rahmen für die potentia ordinata des Autors zu konstruieren, und genau das ist eine (weitere) Leistung, die Autorkonstrukte erbringen sollen. Die Unzugänglichkeit des Autors (und seiner Intention) liegt mithin in seiner potentia absoluta, die ihm durch die Arbitrarität des Zeichens zuwächst. Das, was Problematisierungen der Textinterpretation in jüngerer Zeit (wieder) entdecken - und damit finde ich zu meiner Ausgangsthese zurück -, ist nicht mehr und nicht weniger als die Unlösbarkeit des Interpretationsproblems. Wie in anderen Fällen ist die Unlösbarkeit auch dieZur Konzeption der potentia absoluta und ordinata Gottes vgl. u.a. Klaus Bannach: Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei William von Ockham. Wiesbaden: Steiner 1975; Francis Oakley: Omnipotence, Covenant, and Order. Ithaca: Cornell University Press 1984; Luca Bianchi: Omnipotenza Divina e ordine del mondo fra XIII e XIV secolo. In: Medioevo [Padua] 10 (1984), S. 105-153; Leonard A. Kennedy: The Fifteenth Century and Divine Absolute Power. In: Vivarium 27 (1989), S. 125-152; William J. Courtenay: Capacity and Volition: A History of the Distinctions of Absolute and Ordained Power. Bergamo: Lubrina 1990; Tamar Rudavsky (Hg.): Divine Omniscience and Omnipotence in the Middle Ages. Dordrecht u.a.: Reidel 1985; Angela Vettese (Hg.): Sopra la volta del mondo. Omnipotenza e potenza assoluta di Dio tra medioevo e etä modema. Bergamo: Lubrina 1986; zur Rolle fat potentia absoluta in der >neuen Philosophie< des 17. Jahrhunderts etwa bei Descartes und den Cartesianern oder bei Robert Boyle gibt es eine umfangreiche Literatur, vgl. u.a. James E. McGuire: Boyle's Conception of Nature. In: Journal of the History of Ideas 33 (1972), S. 523-542, auch Rainer Specht: Naturgesetz und Bindung Gottes. In: Jan P. Beckmann et al. (Hg.): Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen. Hamburg: Meiner 1987, S. 409-423. Daß dies dann sogar im Hinblick auf Gott selbst geschieht, belegt Johann Lorenz Schmidt, der Übersetzer der Wertheimer Bibel, in seiner Auseinandersetzung mit Hermann Samuel Reimarus über die Gewißheit der Interpretation. Selbst Gottes Allmacht gelinge es nicht, »daß das Wort Sonne fuer sich selbst den Begriff eines Baumes in mir erwecken solle [...]«, vgl. J. L. S.: Antwort des Uebersetzers auf die Anmerkungen eines Unbekannten [1736]. In: Historische Nachrichten von der bekanten und veruffenenen sogenannten Wertheimischen Bibel, und was mit derselben vor eine eigentliche Bewandnis habe [...]. Erfurt: Nonne 1737, S. 437-442, hier S. 438; dazu auch Lutz Danneberg, Probabilitas hermeneutica (Anm. 35), S. 33f.
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ses Problems relativiert auf die Anforderungen, die an seine Lösung gerichtet werden. Daher erscheint die Aussage nur auf den ersten Blick als paradox, daß es nicht darum geht, das Interpretationsproblem zu lösen, sondern darum, die Konditionen zu ermitteln, unter denen ein >unlösbares< Problem lösbar ist. Das schließt ein, die Unlösbarkeit dieses Problems nicht zu wollen, und es gibt keine Bedingungen seiner Lösbarkeit, die auf uneingeschränkte zeitliche oder räumliche Plausibilität hoffen können. Mit dem bei der Interpretation gewählten Autorkonstrukt werden dem Produzenten eines Textes Eigenschaften unterstellt, die dazu dienen können, Beschränkungen für die unbeschränkte Möglichkeit der Zuweisung von Bedeutung an gegebene Texte zu formulieren. Geschieht das in der Weise, daß das Autorkonstrukt den Autor eines Textes (einer Äußerung) in einem sozialen Umfeld ansiedelt, so ermöglicht dies unter Umständen eine juristische oder ethische Begründung für die Wahl einer bestimmten Bedeutungs- und Interpretationskonzeption. Das Problem der Beliebigkeit der Interpretation verwandelt sich auf diesem Wege in ein juristisches oder ethisches Problem, und seine Lösung wird dann in diesem Rahmen gesucht und formuliert. Die Plausibilität, die eine solche Lösung erlangt, hängt von verschiedenen Bedingungen ab, nicht zuletzt von der Anerkennung des entsprechenden Rahmens. Die Bereitschaft, einen solchen Rahmen zu akzeptieren, erfährt Einschränkung allein schon im Zuge der zunehmenden Differenzierung der (gesellschaftlichen) Konstellationen, in denen >verstehend< mit Texten umgegangen wird und in denen bestimmte >Zwecke< mit diesem Umgang verknüpft werden. Die Wahl von Konzeptionen der Interpretation relativiert sich damit auf bestimmte gesellschaftliche Sektoren, in denen spezielle Lösungen des Interpretationsproblems gesucht werden und dann zur Anwendung kommen sollen. Der universitär institutionalisierte Umgang mit Literatur ist ein solcher Sektor. Inwieweit hier mittlerweile indes die Inhomogenität in dem Umfang zugenommen hat, daß nur geringe Motivationen für Lösungen des Interpretationsproblems bestehen, will ich unerörtert lassen. Wie auch immer die Mechanismen und die Zielsetzungen der öffentlichen Finanzierung des universitären Umgangs mit Literatur aussehen: Solange vorausgesetzt wird, daß die im geförderten Bereich vorgelegten Produkte nicht beliebig sind, setzt das Kriterien ihrer Ungleichbehandlung voraus - und das wiederum, daß das Interpretationsproblem als lösbar gilt: unter welchen Voraussetzungen auch immer. Mit meiner kleinen Modellgeschichte habe ich deutlich zu machen versucht, wie unterschiedlich Autorkonstrukte angelegt und gestaltet sind, wie vielfältig die Hintergrundannahmen aussehen, die für die Wahl einer autorintentionalen Bedeutungs- und Interpretationskonzeption ausschlaggebend sein können, und wie vergänglich ihre Plausibilität im zeitlichen Horizont sein kann. >Autor< und >Autorintention< waren und sind keine einigermaßen fixierten Begriffe, und allein das schon läßt zweifeln, inwieweit die nicht selten mit
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Vehemenz und Verve vorgetragene Kritik von beachtlicher Reichweite ist. Es bleibt die Beliebigkeit der Interpretation, die zum Problem allerdings erst dann wird, wenn man sie vermeiden will: Doch wenn es ein Problem wird, dann sind vor ihm alle Konzeptionen der Bedeutungszuweisung und alle Interpretationen gleich. Wie aber läßt sich die Beliebigkeit der Interpretation vermeiden? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Die Möglichkeit, auf die ich mich beschränke, ist ein methodologisches Konzept des Autors und der Autorkonzeption, und sie muß an der gegebenen Stelle knapp und kann nur schematisch sein.44 Die Interpretation eines Textes, also die Zuweisung von Bedeutung, besteht immer darin, ihn mit etwas zu verknüpfen. >Text< bezeichnet hier nicht mehr als den Gegenstand, dem man eine Bedeutung zuweisen will (das kann ein Einzeltext oder eine Textpassage sein, muß es aber nicht). Die Bedeutungskonzeption legt fest, was als Bedeutung gelten soll. Sie verbindet damit den Text mit einem (primären) mehr oder weniger genau umrissenen Kontext. Um welche Art von Entitäten es sich bei diesem primären Kontext handelt, in welcher Weise es sie überhaupt gibt, wie sie sich von anderen Entitäten oder Zuständen abgrenzen lassen, ist für jede Bedeutungskonzeption eine Frage. Der als primär ausgezeichnete Kontext des Textes wird (in der Regel) nicht in direkter Weise zugänglich sein, zumindest nicht in der Weise wie die makrophysikalischen Eigenschaften des Textereignisses, das es zu interpretieren gilt. Sieht man einmal von dem jeweils zu interpretierenden Text ab, so besitzen jeweils zwei beliebige zu interpretierende Texte denselben Kontext. Das kann man auch so ausdrücken, daß sie paarweise kontextgleich sind. Wenn man Bedeutung mit Kontext identifizieren würde, hieße daß, das Texte paarweise bedeutungsgleich sind und damit als Texte, die Gegenstand der Interpretation werden, paarweise dasselbe bedeuten.45 Es gibt keinen in irgendeinem spezifischen Sinne natürlichen Kontext für einen zu interpretierenden Text, der diese Kontextfülle beschränkt; ein Text läßt sich grundsätzlich mit allem verbinden, was dem Interpreten einfallen mag. Eine Voraussetzung dafür, daß nicht alles als gleichrelevant für die Bedeutungszuweisung an einen Text zählt, besteht darin, daß dieser umfassende Kontext gegliedert wird. Soll für die Bedeutungszuweisung an einen Text argumentiert werden, so setzt das voraus, daß nicht alles das, was sich in dem paarweise gemeinsaVgl. Lutz Danneberg: Hermeneutiken: Bedeutung und Methodologie. Berlin (in Vorbereitung); sowie L. D.: Interpretation: Kontextbildung und Kontextverwendung. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 9 (1990), S. 89-130, und L. D.: Philosophische und methodische Hermeneutik (Anm. 7). Das heißt nicht, daß zwei Texte entsprechend einer gewählten Bedeutungskonzeption nicht bedeutungsgleich sein können beziehungsweise sein sollen; es heißt, daß dies nicht bei allen Texten, die zum Gegenstand der Interpretation gemacht werden, aufgrund fehlender vorgängiger Gliederung ihres Kontextes der Fall sein soll.
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men Kontext aller Texte befindet, in gleicher Weise für die Interpretation des jeweiligen Textes relevant ist. Das ist gleichbedeutend mit der Forderung, daß der jeden Text zunächst umfassende Kontext zumindest partiell durch die Unterscheidung von Kontextsegmenten sowie die Bestimmung ihrer Beziehungen untereinander individualisiert wird. Segmente aus dem umfassenden Kontext als homogen auszugrenzen und verschiedene von ihnen in bestimmter Weise miteinander zu verknüpfen, erfordert identifizierende und verknüpfende Annahmen, die immer kontingent und veränderlich bleiben. Das, was im Blick auf die Bedeutungskonzeption nicht kontingent, mithin der primäre Kontext ist, bildet den Fluchtpunkt, an dem sich die Interpretation, das Bilden weiterer Kontexte, ausrichtet. Mit diesem Kontext ist der Text über die Bedeutungskonzeption per definitionem verbunden. Um in der bildlichen Darstellung zu bleiben: Den Text als Gegenstand der Bedeutungszuweisung und seinen über Definition zugewiesenen primären Kontext umlagern entsprechend der kontingenten Annahmen in größerer oder geringerer Entfernung weitere Segmente des umfassenden Kontextes: Bestimmt und aufeinander bezogen werden sie durch die Interpretationskonzeption. Diese (>zugänglicherenAutoren< im Zusammenhang mit der Interpretation von Texten. Die postum veröffentlichten Briefe eines Schriftstellers in irgendeinem Kontext mit einem seiner Werke zu nutzen, ist zunächst einmal nicht naheliegender als den Brief irgendeines anderen Autors heranzuziehen. Ja, grundsätzlich könnte der Interpret zu dem Text, den er interpretieren will, selbst einen Text produzieren und diesen dann als Kontext für seine Interpretation wählen. Mithin wird schon in der Wahl der Briefe eines bestimmten Autors
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ein, wenn auch vielleicht nicht sonderlich explizites Autorkonstrukt angenommen. Doch muß das keineswegs heißen, daß die so verfahrenden Interpreten schon deshalb gleichsam verborgene Anhänger des autorintentionalen Interpretierens seien, daß bei ihnen ein >Selbstwiderspruch< vorliege oder daß dies auf die >Unhintergehbarkeit< der Autorintention bei der Interpretation deute. Auch hier kann es sich um nicht mehr als ein entproblematisiertes Wissen handeln, und nichts verbietet, eine m'c/ifautorintentionale Bedeutungskonzeption zu wählen und unter den Kontextsegmenten auch die Autorintention zuzulassen (nur eben nicht als primären Kontext). Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß solchen Interpreten mitunter nicht klar ist, wann etwas für sie als Argument für eine Bedeutungszuweisung gilt und wann nicht. Eine auf den ersten Blick eigentümliche Beobachtung will ich anschließen, die zu der minimalen Aufgabe führt, die ein Autorkonzept zu erfüllen hat. Jedes Ereignis ist nach unserem Verständnis ein historisches Ereignis, weil es ein Ende hat; es ist, insofern wir es in irgendeiner Weise als abgeschlossen sehen, historisch. Das heißt offenkundig nicht, daß es von dem, was historisch entstanden ist, nichts mehr gibt, das den unaufhörlichen Ereignisstrom überdauert hat - etwa eine Erstausgabe als makrophysikalisches Objekt. Das geschieht bekanntlich nicht allein Büchern, doch bei vielen Dingen in unserer Welt auch nicht: Gedanken, mentale Zustände, die Bläuerkonfiguration eines Baumes und so weiter. Wenn man hier und heute eine Erstausgabe eines literarischen Werkes in der Hand hat, dann ist das auch ein Ereignis hier und heute und wird morgen vielleicht ein historisches Ereignis sein. Selbstverständlich hat man in dem Augenblick nicht das historische Ereignis, das die Erstausgabe darstellt, in der Hand gehabt. Als materiales Objekt ist ein Text raum-zeitlich transportierbar, ohne spezifische Eigenschaften zu verlieren. Wenn es dem Text im Alter tatsächlich irgendwann an der physischen Konsistenz gebricht, so bietet sich die Möglichkeit, sein Leben durch einen, bestimmte makrophysikalische Eigenschaften bewahrenden Nachdruck zu erneuern. Das heißt: Kein Text ist von einer historischen Situation, seinem Entstehungskontext, hinsichtlich der Fortsetzung seiner Existenz abhängig. Es heißt aber auch, daß ein Text sehr unterschiedliche Bedeutungen bei gleichbleibenden physikalischen Eigenschaften annehmen kann, nämlich dann, wenn die Situation, in der er sich jeweils befindet, eine Rolle bei der Bedeutungszuweisung spielt (diese also in bestimmter Weise kontextsensitiv aufgefaßt wird). Wenn die Erstausgabe eines Werkes heute gelesen wird, dann ist das mithin ein anderes historisches Ereignis als die Lektüre, die derselbe Text, gemeint als derselbe physikalische Gegenstand, vor vielleicht hundert Jahren erfahren hat. Und wenn in den beiden Situationen jeweils unterschiedlich interpretiert wird, dann hat er wenn auch nur relational - beide Eigenschaften. Das erlaubt nun, die minimale Bestimmung oder Aufgabe des Autorkonzepts anzugeben. Sie besteht in nicht mehr als darin, dem zu interpretierenden
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Text eine raum-zeitliche Markierung zu geben; wenn man so will, den ersten Schritt zu tun, um in ihm ein historisches Ereignis zu sehen. Der im Text wiedergebene Name des Autors wäre die einzige unzweifelhafte direkte außertextuelle Referenz des Textes (neben der Angabe des Druckortes, der Jahreszahl, des Verlagsnamens und so weiter), wenn es nicht Pseudonyme und Fälschungen gebe. Alles andere sind Elemente eines mehr oder weniger üppig ausgestalteten Autorkonstrukts; selbst die Autorintention wird mit dieser Markierung des Textes keineswegs zwangsläufig als relevanter oder sogar primärer Kontext angenommen. Selbstverständlich ist das erst der Anfang des Aufbaus einer Bedeutungs- und Interpretationskonzeption, die versucht, die Beliebigkeit der Interpretation zu vermeiden, und bei der es grundsätzlich nicht eine einzige geben wird, die dieses Ziel erreicht und sich zugleich in der Bestimmung der Kontextsegmente unterscheidet.46 Ihren Abschluß finden meine Überlegungen mit einer Vermutung, weshalb dem Autor bei der Interpretation gegenwärtig in so verblüffender Übereinstimmung ein so schlechter Ruf zuteil wird. Den Autor als wahrheitsgarantierende Autorität aufzugeben, geht einher damit, die Texte nicht nach Maßgabe ihrer Wahrheit zu interpretieren. Bleibt der Autor dennoch im Interpretationsgeschäft berücksichtigt, so auf den ersten Blick allein in der Funktion, welche die Texte auf eine bestimmte Situation bezieht und - wenn man so will - relativiert.47 Nur zu erwähnen brauche ich die zahlreichen Versuche, ein Autorkonstrukt für spezifische Autoren - etwa literarische - zu entwerfen, das ihren Texten irgend etwas von dem Glanz der Zeitlosigkeit bewahrt oder verleiht. Wird diesen oder vergleichbaren Konzepten die Plausibilität verweigert, so erscheint das Autorkonstrukt nurmehr als Garant für die Relativierung des Textes. Die Skepsis, die dem Autor entgegengebracht wird, hat oftmals weniger etwas mit den Problemen zu tun, die eine autorintentionale Interpretationskonzeption zu gewärtigen hat (und die sind wie bei anderen nicht gering), sondern sie befördert einen besonderen Zweck: die Rettung der Autorität der Texte. Vielleicht ist das Ausdruck des verlorenen Vertrauens in argumentative Standards und der Befürchtung, die eigene Auffassung werde in der Pluralität und Vielstimmigkeit des beliebigen Widerstreits unsichtbar. An die Stelle der Argumentation für bestimmte Ansichten tritt der Versuch, durch die Verlage46
Nur erwähnt soll hier sein, daß das Autorkonzept für eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Begriffen und intertextuellen Relationen wichtig ist, u.a. für den des Einflusses, vgl. Lutz Danneberg: [Art.] Einfluß. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin - New York: de Gruyter 1997,8.424-^28. In der hermeneutica sacra läßt sich sehr genau die Entwicklung nachzeichnen, die im Zuge des zunehmenden Gewichts eintritt, das den menschlichen Verfassern und ihren Kontexten eingeräumt wird: Sie beruht auf dem Konflikt zwischen der Historisierung der Offenbarung (durch ihre menschliche Kontextualisierung) und dem überhistorischen Geltungsanspruch ihrer Aussage.
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rung in die eminenten Texte großer Namen den eigenen Ansichten noch Visibilität und Standing zu verschaffen. Vielleicht gibt es Argumente für die Autorität von Autoren, vielleicht auch für Autoren, die in solcher Weise interpretieren; für die von Texten sind mir keine bekannt.48 Die umstrittene Autorität des Autors verwandelt sich so zur erschlichenen Selbstautorisierung des Interpretenkonstrukts.
So erschütternd wie amüsant ist es zu sehen, wie diejenigen, die vieles, wenn nicht alles vom >Autor< bei ihrer Textbetrachtung aufgegeben haben, betroffen sind, wenn es um >ihren Autor< geht - in der Tat dann um den Autor als wahrheitsautorisierend -, da dieser >arme Kerl< irgendwann und irgendwelche Text verfaßt hat, die für seine Jünger wenig Akzeptables beinhalten und durch die dann auch die Autorität der vom selben Autor so geliebten Texte als bedroht erscheint - um es ausgleichend zu verteilen: Man kann an Jünger Paul de Mans, Martin Heideggers oder Gottlob Freges denken. - Ein anderer wichtiger Punkt ist der der Fälschung. Das ist ein wichtiger literaturwissenschaftlicher Begriff, doch ist es irrig, ihn in einem direkten Zusammenhang mit der ästhetischen Bewertung des entsprechenden Textes zu sehen bei Thomas Chatterton war es immer schon anders und das hat ihm auch ein reiches literarisches Nachleben beschehrt; ähnliches scheint sich mittlerweile auch für Macpherson und seinen Ossian einzustellen, zu dem es bereits bei Hans Hecht: James Macphersons Ossiandichtung. In: Germanisch-Romanische Monatshefte 10 (1922), S. 220-237, heißt (S. 237): »Wir werden gut daran tun, wenn wir Macphersons durchaus fragwürdige Erscheinung übersehen und den notorischen Fälscher über den Dichter vergessen, dessen Werk nicht schlackenlos, aber um Vieles stärker und eindrucksvoller war, wie die Persönlichkeit seines Schöpfers. Vgl. jüngst Howard Gaskill: >Ossian< Macpherson: Towards a Rehabilitation. In: Comparative Criticism 8 (1986), S. 113-146; H. G.: German Ossianism: A Reappraisal? In: German Life and Letters 42 (1988/89), S. 329-341; sowie H. G. (Hg.): Ossian Revisited. Edinburgh: Edinburgh University Press 1991. Bemerkenswert ist, wenn der Erwartungswille gegenüber liebgewordnenen Authentizitäten zur Lese-Unfähigkeit führt und wenn dann Textbeobachtungen im Zuge der neuen Vorurteile als >hermeneutische Hybris< denunziert werden, zu einem Beispiel Peter Gilgen: Dichter der Bombe. Ein Schwindel mit Hiroschima-Poesie und die >Asian StudiesFortschritt< für überholt hält. Was dabei ausgeklammert bleibt, ist jedoch die kritische Überprüfung solcher Innovationen. Wenn diese überhaupt stattfindet, dann nur nachdem sich das Gefühl herausgebildet hat, die Idee sei inzwischen abgelagert und in ihren methodischen Möglichkeiten erschöpft. Daß man neue Ideen kritiklos hinnimmt und sie anschließend bis zum Überdruß in Textauslegungen anwendet, um sie letztendlich los zu werden zugunsten wieder neuer (und wieder unüberprüfter) Ideen, ist für die neuere Literaturwissenschaft genau so prägend, wie ihr Unvermögen, sich über ihren Objektbereich und die ihm angemessene Methodologie zu einigen. Zwar könnte man behaupten, daß die Phasen der als innovativ eingeschätzten Ideen »nicht in völlig irrationalen, unerklärlichen Schüben erfolgen: daß sie vielmehr Antworten auf veränderte Problemsituationen sind«.2 Das mag sein. Aber es bleibt trotzdem eine für den Beteiligten undurchsichtige Situation, in der kaum Forschung geplant werden kann noch etwas von den komplexen fachinternen Wechselprozessen verstanden wird, die eine Disziplin tatsächlich bestimmen. Nicht zuletzt geht innerhalb eines solchen Prozesses viel Zeit und Tatkraft verloren, ohne damit wenigstens neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Die episodische Struktur der Themen, mit denen sich die gegenwärtige Literaturwissenschaft beschäftigt, erzeugt für die beteiligten Wissenschaftlerinnen den Eindruck, die Disziplin bewege sich beständig fort. Dieser Eindruck ist aber eine Illusion. Die Entwicklung gleicht vielmehr der Reise nach JeruErich Kleinschmidt: Autor. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin - New York: de Gruyter 1997, S. 176-180, S. 179. Karl Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. München: Fink 1976, S. 78.
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salem, bei der stets zufällig die eine oder andere Idee herausfällt, vergleichbar dem Schwanken der öffentlichen Meinung oder etwa auch der Situation der Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten, über die vor kurzem Thomas Steinfeld angemerkt hat: Was macht man am Ende einer solchen Entwicklung? Man gibt die Idee auf. Und so erhält die amerikanische Rechtsprechung etwas unsinnig Episodisches: Erst wird heftig getrunken, dann kommt die Prohibition, erst die sexuelle Befreiung, dann das >sexual harassment, erst die öffentliche Kultur des Rauchens, dann die juristische Bekämpfung des Krebses. Erledigt wird dadurch nichts, aber es kann endlos so weitergehen.3
Die Beobachtungen treffen auch auf den Umgang der Literaturwissenschaft mit dem Autor zu. Die eine Generation beschäftigt sich intensiv mit Autoren, ihren Biographien und dem Verhältnis zu ihren Texten, die nächste erklärt dies alles zu einem intentionalen Fehlschluß. Ich meine, wir sollten uns davor hüten, ein vergleichbar unreflektiertes (Des)Interesse am Autor zu propagieren.
I. Die Vermutung liegt nun nahe, daß die Literaturwissenschaft für das Problemfeld >Autor< auf Überlegungen der Psychoanalyse zurückgreifen könne, da diese doch über eine gewisse Kontinuität im Studium des Autors verfüge. Deren Beschäftigung mit dem Gegenstand ist aber sowohl durch theoretische als auch durch methodische Schwierigkeiten belastet. Erstens ist das theoretische Menschenbild, das die textanalytischen Applikationen mitbestimmt, weithin ohne ausreichende Begründung geblieben. Zum anderen ist daran zu erinnern, daß sich die Psychoanalyse während ihrer Geschichte inhaltlich stark verändert hat, so daß ihre jetzige Lage, wie vor kurzem scharfsinnig von Frederick Crews kritisiert, durch eine Vielfalt widersprüchlicher Modelle gekennzeichnet ist.4 Solange die Psychoanalyse außer Stande ist, diese Widersprüche zu lösen, wird sie bleiben, was sie ist: eine durchaus unzuverlässige Methode. Auch die Geschichte der Literaturwissenschaft hat bislang keine tragfähigen Konzeptionen des Problems ausgearbeitet. Zwar war die Position des Autors eine durchaus zentrale, solange der Positivismus sich Geltung zu verschaffen wußte, etwa bei Hippolyte Taine oder Wilhelm Scherer. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts wurde diese Position aber allmählich zu einer Randerscheinung, sowohl in den verschiedenen textimmanenten Ansätzen (zum Bei-
Thomas Steinfeld: Rauchen, sexuelle Belästigung und amerikanisches Recht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 198 (27.8.1997), S. 29. Frederick Crews: The Memory Wars. Freud's Legacy in Dispute. New York: New York Review of Books 1995, S. 7.
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spiel im amerikanischen New Criticism), als auch in den unterschiedlichen Varianten der strukturbestimmten, geistesgeschichtlichen oder phänomenologischen Schule, die alle das literarische Werk als autonomes Objekt, wenn nicht als Denkmal feiern. Zweifellos war die kritische Frontstellung gegen den Biographismus nicht unbegründet. Man darf in diesem Zusammenhang an die witzige Kritik Osip Briks erinnern, der die Literaturwissenschaftler beschuldigte, »passionately seeking the answer to the question >Did Puakin smoke?Tod des Autors< zu sprechen.9 Die poststrukturalistische Literaturtheorie hat dieses Diktum nahezu kritiklos übernommen und den Autor insgesamt für >tot< erklärt. Der Name des Autors sei, so Michel Foucault bereits ein Jahr nach Barthes, nicht mehr als eine Fiktion, die nur den allgemeinen kulturellen Diskurs vertrete. Was könnte Foucault damit gemeint haben? Man hat dazu kritisch bemerkt, Foucault selbst habe sein Buch mit seinem eigenen Name versehen, und man dürfte deshalb nicht ganz fehlgehen, wenn man annimmt, daß er nicht auf die aus dem Verkauf seines Buches hervorgegangen Tantiemen verzichtet hat. Oder wollte er mit seinem Diktum vielleicht den Verfassern die individuelle Verantwortung für ihre Texte entziehen? Dies läge Foucaults Anti-Humanismus näher. Trotzdem ist es nicht das, was Foucault beabsichtigt haben dürfte. Er selbst hat sich ziemlich klar dazu geäußert, daß es sich beim >Tod des Autors« nicht um den empirischen Autor handle: »Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen. Aber ich denke, daß - zumindest seit einer bestimmten Epoche - das Individuum, das sich daran macht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch nimmt«.10 Was Foucault vorschlägt, ist offensichtlich nicht eine Änderung unserer Betrachtungsweise der Beziehungen zwischen einem literarischen Werk und dem von seinem Verfasser beabsichtigten Sinn. Statt dessen will er den Autor auf eine lt\iinterne Funktion zurückführen, wobei der Begriff des Autors als Teil eines gesellschaftlichen Diskurses verstanden wird. Wenn man die These Überall, wo in diesem Artikel über den Autor gesprochen wird, ist der Ausdruck gender-neutral gemeint. Man kann also gleichmäßig anstelle von >Autor< auch >Autorin< lesen. Roland Barthes: The Death of the Author. In: R. B.: Image - Music - Text. Übers. Stephen Heath. London: Fontana 1968, S. 145-147. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: M. F.: Schriften zur Literatur. Aus dem Franz, v. Karin v. Hofer u. Anneliese Botond, Frankfurt/M.: Fischer 1988, S. 7-31, S. 21.
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vom Tod des Autors so auffaßt, scheint sie allerdings etwas Neues zu enthalten, das zu weiterführenden Forschungen Anlaß gibt. Wenn es also der Fall ist, wie Foucault behauptet, daß sich im westlichen Verständnis der kulturellen Funktion des Autors tiefgehende Änderungen vollzogen haben, dann wäre es wichtig, diese verschiedenen Funktionen zu erforschen, die der Autor übernimmt. Hier zeigt sich aber aufs Neue die nahezu vollständig fehlende kritische Auseinandersetzung mit theoretischen Moden in der Literaturwissenschaft. Anstatt die von Foucault behauptete Diskursivität des Autor-Begriffs zu prüfen, hat die Literaturwissenschaft seine Ansicht unkritisch übernommen und weitergeführt. Aber ist der von Foucault gemachte Vorschlag auch vernünftig? (Wenn wir einmal davon absehen, daß er sich gut anhört.) Wie er in seinem berühmten Aufsatz von 1969 Qu'est-ce qu'un auteur? erläutert, kam es im 17. und 18. Jahrhundert zu einer Umkehrung des Autorbegriffs. Bis dahin hatte man literarische Texte auch ganz ohne Interesse am Autor rezipiert, während man nun dazu neigte, dem Autor eine immer wichtigere Position für den Text zuzuschreiben. Fragt man sich aber, ob und wie die These von der epochalen Umwertung der Autorfunktion von Foucault belegt worden ist, dann stößt man (wie oft bei ihm) auf eine Lücke. Dies wird uns nicht verwundern, wenn wir uns damit beschäftigen, das mittelalterliche Umfeld des Autors etwas genauer in den Blick zu bekommen. Wenn im Mittelalter wirklich eine ganz andere vorgeblich gleichgültige - Einstellung zum Autor vorherrschend gewesen sei, wie konnte dann beispielsweise Hartmann von Aue von seinen Zeitgenossen und Nachfahren gerühmt und gepriesen werden? Gottfried von Straßburg, um nur ein Beispiel zu geben, rühmt Hartmanns »cristallinen wortelin«, also die kristall-klare Durchsichtigkeit seiner Schreibweise. Wie konnte Hartmann schließlich zum Vorbild einer ganzen »Hartmann-Schule« werden?" Dies geschieht alles Ende des 12. Jahrhunderts, also lange vor der von Foucault als Übergang zum neuen Autor-Begriff angedeuteten Schwelle des 17. Jahrhunderts. Der Schluß aus diesen Beobachtungen (und manch weiterer, die man diesen hinzufügen kann), lautet schlicht, daß die These Foucaults nicht nur unbelegt, sondern auch unbelegbar ist. Es mag sein, daß im Mittelalter bestimmte Texte anonym gestaltet worden sind. Aber das hat weniger mit einem anderen Autor-Begriff zu tun, als vielmehr mit einer anderen Technologie der Herstellung von Texten, mit beschränkteren Möglichkeiten der Verbreitung und Erforschung von Texten, mit anderen wirtschaftlichen Bedingungen. Auch wäre darauf hinzuweisen, daß das geringe Interesse an der Autorschaft im Mittelalter gattungsgebunden war, und zwar vor allem bei den populären oder trivialen Gattungen zu beobachten ist, woraus aber wiederum keine andere Autorfunktion abzuleiten ist: Auch in unserer Gesellschaft herrscht kaum Helmut de Boor: Nachwort. In: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hg. v. H. d. B. Frankfurt/M.: Fischer 1967, S. 120.
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ein Interesse an den Autoren von Trivialliteratur. Und daß gesellschaftlich wichtigere Texte auch im 20. Jahrhundert noch immer anonym oder als Ergebnis gemeinschaftlicher Kooperation veröffentlicht werden können, zeigen die wöchentlichen (anonymen) Beiträge in The Economist oder die Buchpublikationen des Club of Rome. Wenn es sich in der westlichen Literatur des Mittelalters um gesellschaftlich wichtige Autoren (wie Hartmann von Aue) handelt, waren die Menschen ebenso an ihren Autoren interessiert wie in späteren Jahrhunderten. Nur hatten sie nicht immer die gleichen Möglichkeiten, dieses Interesse zu verfolgen. Auch wenn man den Blick auf den Inhalt von Foucaults Vorschlag lenkt, stößt man auf erhebliche Widersprüche. So beruht der Grundgedanke Foucaults, die Autorfunktion sei bloß eine diskursive Gestaltung und deshalb nur textintern nachzuweisen, auf einer Mystifikation. Denn wenn Foucault den Autor als eine textinterne Funktion auffassen will, scheint sich dieser Begriff mit dem früher von Literaturwissenschaftlern entwickelten Begriff des impliziten Autors zu überschneiden. Dieser Begriff selbst wird aber für die Forschung als überflüssig, wenn nicht gar als irreführend bezeichnet,12 so daß zu fragen wäre, ob ein Begriff, der sich fachintern als unproduktiv erwiesen hat, tatsächlich bessere Chancen für die Forschung aufzuweisen vermag, wenn er aus einer fremden Disziplin importiert worden ist. Überdies muß man sich klarmachen, daß das, was textintern vom Autor zu beobachten ist, wiederum direkt zu dem empirischen Autor zurückführt. Der Grund dafür liegt in der Fähigkeit von Lesern, einen bestimmten Individualstil zu erkennen und teilweise auch zu beschreiben. Die Einrichtung unseres kognitiven Apparats verleiht uns die Möglichkeit, sehr feine Unterschiede der Sprachverwendung zu erkennen. Computermodelle können bestimmte Teile dieser Erkenntnismöglichkeit simulieren. Zu welchen treffsicheren Ergebnissen einige dieser Versuche inzwischen gekommen sind, läßt sich vielleicht am eindruckvollsten an der Forschung von Sigelman und Jacoby ablesen." Mit
Vgl. den Beitrag von Tom Kindt und Hans-Harald Müller in diesem Band. Lee Sigelman / William Jacoby: The Not-So-Simple Art of Imitation: Pastiche, Literary Style, and Raymond Chandler. In: Computers and the Humanities 30 (1996), S. 11-28. Weitere Arbeiten zu diesem Thema sind Colin Martindale / Paul Tuffin: If Homer is the Poet of the Iliad, then he may not be the Poet of the Odyssey. In: Literary and Linguistic Computing 11 (1996), S. 109-120; Thomas Merriam: Marlowe's Hand in Edward HI. Revisited. In: Literary and Linguistic Computing 11 (1996), S. 19-22; eine kritische Sichtung dieser Methoden finden sich bei M. W. A. Smith: Attribution by Statistics: A Critique of Four Recent Studies. In: Revue. Informatique et Statistique dans les Sciences humaines 26 (1990), S. 233-251 und Willie van Peer: Quantitative Studies of Literature. A Critique and an Outlook. In: Computers and the Humanities 23 (1989), S. 301-307. Außerdem sei auf die Fachzeitschrift Journal of Forensic Linguistics verwiesen. Es besteht inzwischen sogar ein selbständiger Zweig dieser Methode, die sogenannte >software forensicsvulgärem Ausdrücken und in den parataktischen Konjunktionen unterscheiden. Zweitens ergab sich, daß die Nachahmungen eine bedeutend größere Streuung der sprachlichen Merkmale zeigen im Gegensatz zu den einheitlicheren Merkmalen der Chandler-Geschichten. Wie Sigelman und Jacoby hervorheben: »The appearance of so many significant differences in central tendency between the Chandler stories and the pastiches suggests that, as a group, Chandler's imitators have failed in numerous respects to speak in the master's voice«.14 Die Kombination der verschiedenen linguistischen Merkmale ermöglicht eine korrekte Identifikation jeder Geschichte als >original< oder >Nachahmung< mit einem Zuverlässigkeitsgrad von 89%. Das Ergebnis ihrer Forschung formulieren Sigelman und Jacoby folgendermaßen: Our analyses indicate that Chandler maintained a highly consistent style throughout his most productive years as an author. [...] Our analyses indicate further that as a group, Chandler's imitators have not homed in on their target. Their efforts have displayed wide variability and, virtually without exception, have failed to replicate his style.
Mit anderen Worten: Obwohl es sich bei den untersuchten Texten um eine Gattung handelt, in der die Nachahmung in den Augen ihrer Verfasser nachvollziehbar, ja sogar einfach schien, ist es ihnen nicht gelungen, den Stil ihres Vorbilds zu imitieren. Für die von Foucault vorgeschlagene Autorfunktion sich mit der Identifikation von Software-Autoren beschäftigt; siehe http://divcom. otago.ac.nz:800/com/infosci/smrl/pub/abstract/sall96a.html. Lee Sigelman / William Jacoby: The Not-So-Simple Art of Imitation (Anm. 13), S. 19f. Ebd., S. 25.
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kann dies nur bedeuten, daß es sich auch hier um eine Foucaultsche Illusion handelt. Sobald man nämlich versucht, sie analytisch einzusetzen, verschwindet sie im Nebel ihrer konzeptuellen Vagheit. Statt auf eine gesellschaftlich konstruierte Autorfunktion wird man bei der von Sigelman und Jacoby durchgeführten Forschung wieder auf den empirischen Autor zurückverwiesen. Wenn dies sogar bei gezielten Imitationen zutrifft, so kann man sich vorstellen, wie schwierig der Beweis für eine Autorfunktion bei Texten zu liefern ist, die mit völlig anderen Zielen verfaßt worden sind. Was auch immer in der Postmoderne über den >Tod des Autors< geschrieben und behauptet wird, es ist als Einwand gänzlich ungenügend gegenüber den Forschungsergebnissen, die belegen, warum und wie wir in der Lage sind, ganz feine Unterschiede zwischen individuellen Autoren zu erkennen und zu beschreiben. Ich glaube daher, bei näherem Hinsehen muß die von Foucault vertretene Position als pure Spekulation zurückgewiesen werden. Der Beweis, es gäbe eine Kultur, in der der Autor (als diskursive Funktion) in seiner vermittelnden Instanz ganz verschwunden sei, ist nicht zu erbringen. Ein bekanntes Foucault-Zitat möchte ich deshalb so umbiegen, daß es zum Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen und als Grundlage meiner Position dienen kann: Man kann sich keine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet oder rezipiert würden, ohne daß die Funktion Autor jemals erscheinen würde." Die Autorfunktion ist, ganz im Gegensatz zu Foucaults These, eine anthropologische Konstante in SchriftKulturen. Ich werde deshalb im folgenden den Autor-Begriff nur noch in bezug auf die wirklichen historischen Autoren benutzen, und die sogenannte Autorfunktion als das belassen, was sie ist: eine unbelegte und durchaus fragwürdige Spekulation.
II.
Das Scheitern der poststrukturalistischen Illusionen an den empirischen Beobachtungen bedeutet aber keineswegs die Auflösung der literaturtheoretischen Debatte über die Position des Autors. Ganz im Gegenteil: Befreit von den aus dem Poststrukturalismus hervorgehenden Meinungen, können wir jetzt versuchen, die Aufmerksamkeit für die Rolle des Autors zu schärfen. Anhand einer Analyse der Diskussion über die Autorintention versuche ich, etwas mehr Klarheit in die Debatte zu bringen.17 Nach Michel Foucault: Was ist ein Autor? (Anm. 10), S. 31. Dabei sollte man sich allerdings davor hüten, den Terminus >Intention< allzu leichtherzig und ohne Einschränkungen zu benutzen. Vielleicht können die Begriffsunterscheidungen, wie sie von John Searle: Literary Theory and Its Discontents. In: Wendell V. Harris (Hg.): Beyond Poststructuralism. The Speculations of Theory and the Experience of Reading. University Park: Pennsylvania State Univer-
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Mehrere literaturwissenschaftliche Debatten konzentrieren sich auf die Frage, welche Rolle die Autorintention in der Interpretation literarischer Texte spielen sollte - oder nicht spielen sollte. Die Debatten beziehen sich dabei auf bestimmte Normsetzungen, warum man Informationen über die Intention des Autors in der Praxis der Literaturinterpretation überhaupt akzeptieren sollte. Während solche Fragen interessant sein mögen, so sind sie immer auch Teil eines zugrundeliegenden Wertsystems, das die Debatte lenkt, aber sich gleichzeitig der Wahrnehmung durch die Beteiligten größtenteils entzieht. Deshalb ist es schwierig, sich vorzustellen, wie man eine derartige Diskussion vernünftig differenzieren kann, ohne dabei das jeweilige Wertsystem selbst einer rationalen Prüfung zu unterwerfen. Genau hier liegt ein erhebliches Problem: Eine rationale Analyse von Wertvorstellungen erscheint den meisten Geisteswissenschaftlern als eine illegitime Angelegenheit. Schnell wird man an Humes namhaftes Diktum erinnert, aus einer >istsoll