Kitsch und Nation: Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs [1. Aufl.] 9783839429471

In the 1940s, the German word »Kitsch« became an international concept, whose meaning oscillates between anti-ideologica

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German Pages 338 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Kitsch und Nation
Kitsch als „Übergangswert“? Erwin Ackerknecht und die Auflösung der Dichotomie zwischen Kunst und Nichtkunst
„In seiner Kitschigkeit und Verlogenheit nicht mehr zu überbieten“. Zum Österreich-Kitsch in Elfriede Jelineks Posse Burgtheater
Holocaust-Kitsch? Zur Polemik um Jonathan Littells Bestseller. Les Bienveillantes in Frankreich, Deutschland und den USA
Kitschige Vorstellungen von Österreich? Der Musikantenstadl und André Rieus Große Nacht der Wiener Musik
Salzburg und The Sound of Music – zwischen Ablehnung und Faszination
Nationaler „Kitsch“ als ästhetisches Problem im populären Musiktheater
Kitsch avant la lettre? Anmerkungen zum musikalischen Diskurs vor 1870
Geisteswissenschaften und Kitsch: Zur écriture des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion
Vom Schicksal des Gummibaums im sowjetischen Klima: Kitsch im Kontext kulturpolitischer Paradigmen der Sowjetzeit
„Revolutionärer Kitsch“ – Das Beispiel China
Kitsch als Kitt – preposterously? Mike Leighs Topsy-Turvy (1999) und Gilbert & Sullivans The Mikado (1885)
Königin und Hure: Dolly Partons Country-Erfolge zwischen Kitsch und Trash
Kurzbiographien der Beiträgerinnen und Beiträger
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Kitsch und Nation: Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs [1. Aufl.]
 9783839429471

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Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation

Edition Kulturwissenschaft | Band 60

Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.)

Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs

Gefördert mit Unterstützung der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg, der Stadt Salzburg und des Schwerpunkts Wissenschaft & Kunst sowie des Fachbereichs Romanistik der Universität Salzburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung: Kitsch und Nation

Kathrin Ackermann/Christopher F. Laferl | 7 Kitsch als „Übergangswert“? Erwin Ackerknecht und die Auflösung der Dichotomie zwischen Kunst und Nichtkunst

Kaspar Maase | 39 „In seiner Kitschigkeit und Verlogenheit nicht mehr zu überbieten“. Zum Österreich-Kitsch in Elfriede Jelineks Posse Burgtheater

Norbert Christian Wolf | 65 Holocaust-Kitsch? Zur Polemik um Jonathan Littells Bestseller Les Bienveillantes in Frankreich, Deutschland und den USA

Peter Kuon | 99 Kitschige Vorstellungen von Österreich? Der Musikantenstadl und André Rieus Große Nacht der Wiener Musik

Thomas Küpper | 119 Salzburg und The Sound of Music – zwischen Ablehnung und Faszination

Ingrid Paus-Hasebrink/Sascha Trültzsch-Wijnen | 141 Nationaler „Kitsch“ als ästhetisches Problem im populären Musiktheater

Nils Grosch/Carolin Stahrenberg | 163 Kitsch avant la lettre? Anmerkungen zum musikalischen Diskurs vor 1870

Nina Noeske | 185 Geisteswissenschaften und Kitsch: Zur écriture des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion

Anna Artwińska | 203

Vom Schicksal des Gummibaums im sowjetischen Klima: Kitsch im Kontext kulturpolitischer Paradigmen der Sowjetzeit

Eva Hausbacher | 223 „Revolutionärer Kitsch“ – Das Beispiel China

Stefan Landsberger | 247 Kitsch als Kitt – preposterously? Mike Leighs Topsy-Turvy (1999) und Gilbert & Sullivans The Mikado (1885)

Sylvia Mieszkowski | 271 Königin und Hure: Dolly Partons Country-Erfolge zwischen Kitsch und Trash

Ralph J. Poole | 305 Kurzbiographien der Beiträgerinnen und Beiträger | 331

Einleitung: Kitsch und Nation K ATHRIN A CKERMANN /C HRISTOPHER F. L AFERL

U NBESTIMMTHEITEN , P OLARITÄTEN , P ARADOXIEN Kitsch ist ein Phänomen, das in allen Künsten und an allen Orten identifiziert wird: in der Bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, im Film, in Dekoration und Design, in der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen, Inneneinrichtung und Bauwerken. Kitsch ist aber auch ein Begriff, der sich durch Unbestimmtheiten, Polaritäten und Paradoxien auszeichnet. Er kann sowohl als ästhetischer Begriff (in der Regel als ästhetisch negativ konnotierter) als auch als ethischer Begriff verwendet werden; Hermann Brochs Bestimmung des Kitsches als das „Böse im Wertsystem der Kunst“1 gehört zum festen Repertoire jeder Standortbestimmung des Kitsches. Kitsch kann entweder als überzeitlicher oder als epochenspezifischer Begriff verwendet werden – erstere Verwendung finden wir ebenfalls bei Broch, aber auch bei Ludwig Giesz 2, der Brochs Konzept des „Kitschmenschen“ aufgriff. Bei der letzteren – epochenspezifischen – Verwendungsweise differieren die historischen Datierungen zum Teil erheblich: In den meisten Fällen wird Kitsch, analog zum erstmaligen Auftauchen des Terminus, als ein Phänomen betrachtet, das

1

Hermann Broch: „Das Böse im Wertesystem der Kunst“, in: ders., Dichten und Erkennen. Essays, Zürich: Rhein-Verlag 1955, S. 311–350.

2

Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches. Ein Beitrag zur anthropologischen Ästhetik, 2., vermehrte und verb. Aufl., München: Fink 1971.

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man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts antrifft. Viele Theoretiker setzen den Anfangspunkt aber auch mit der Romantik an (Tibor Kneif 3 beispielsweise), andere gehen noch weiter zurück bis zur Empfindsamkeit (Jochen Schulte-Sasse,4 Gert Ueding,5 Otto F. Best6 und andere Vertreter der deutschen Trivialliteraturforschung der 1970er Jahre; aber auch z. B. Roger Scruton7), zum Rokoko (Hans Karpfen8) oder sogar bis zum Barock (Gillo Dorfles9). Das Mittelalter hingegen erweist sich als äußerst resistent gegen die Versuche, Kitsch in allen Epochen auszumachen; dennoch findet Hans Holländer in Bernhard von Clairvaux’ Polemik gegen die romanische Plastik und Skulptur dieselben Argumente wie in der späteren Kitschdiskussion,10 und bereits Frank Wedekind nahm die Gotik in die Liste der potentiellen Kitsch-Epochen auf.11 Wenn dann selbst in der Antike Beispiele für

3

Tibor Kneif: „Die geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen des musikalischen Kitsches“, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1 (1963), S. 22–44, hier: S. 26.

4

Jochen Schulte-Sasse: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung, München: Fink 1971.

5

Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973.

6

Otto F. Best: Der weinende Leser. Kitsch als Tröstung, Droge und teuflische Verführung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1985.

7

Roger Scruton. „Kitsch and the Modern Predicament“, City Journal, Winter 1999.

http://www.city-journal.org/html/9_1_urbanities_kitsch_and_the.html

[10.7.2015]. 8

Fritz Karpfen: Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Hamburg: Weltbund-Verlag 1925, S. 20.

9

Gillo Dorfles: Der Kitsch. Übers. aus d. Ital. von Birgid Mayr, Gütersloh: Prisma 1977, S. 12.

10 Hans Holländer: „Kitsch. Anmerkungen zum Begriff und zur Sache“, in: Das Triviale in Literatur, Musik und Bildender Kunst, hrsg. von Helga De la MotteHaber, Frankfurt am Main 1972, S. 184–209, hier: S. 188. 11 Frank Wedekind: „Kitsch. Entwurf zu einem Drama und erste Niederschrift verschiedener Szenen“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, München: Georg Müller 1921, S. 205–243, zit. nach Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 44.

E INLEITUNG : K ITSCH UND NATION | 9

Kitschgegenstände gefunden werden (so bei Broch 12), dann ist die Grenze zur überzeitlichen Verwendung des Kitschbegriffs eindeutig überschritten und Kitsch wird zu einer anthropologischen Konstante gemacht.13 Des Weiteren wird Kitsch einerseits als ein formal bestimmbares Phänomen angesehen (z. B. bei Karlheinz Deschner14 oder Walter Killy15), andererseits findet man die Überzeugung, dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, das sich im Kopf des Rezipienten abspielt, um ein Rezeptions- und Wertungsphänomen also; diese Auffassung herrscht seit etwa den 1970er Jahren vor. Die Kitschdiskussion kann auf der einen Seite das Element der industriellen Massenanfertigung, der mechanischen Reproduktion und der Epigonalität hervorheben,16 auf der anderen Seite wiederum das Süßlich-Sentimentale, Sinnliche, Genüssliche des Kitsches, seine Distanzlosigkeit und Zuordnung zum Weiblichen, Kindlichen und Senilen akzentuieren.17 Im ersten Fall ist das Resultat des Kitsches falsche Kunst, im zweiten Fall sind es falsche Gefühle. Das verbindende Element ist der Aspekt der Lüge und der Täuschung: Der Kitsch, so wird argumentiert, gaukelt vor, Kunst zu sein, er legt es darauf an, mit möglichst geringem Aufwand ein Maximum an Wirkung zu erzielen, wodurch der Kitschkonsument oder -rezipient getäuscht werde.

12 Broch, „Das Böse im Wertsystem der Kunst“, S. 348. 13 Vgl. Dieter Kliche: „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 272–287, hier: S. 278. 14 Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift, München: List 1965. 15 Walther Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961. 16 In dieser Bedeutung findet man Kitsch bei Dwight Macdonald: „Masscult & Midcult“, in: ders., Against the American Grain, New York: Da Capo 1983, S. 3–75, hier: S. 34 f. 17 Insbesondere bei Giesz (Phänomenologie des Kitsches) dominiert diese Komponente des Kitsches.

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W ORT ODER B EGRIFF ? K ITSCH IN VERSCHIEDENEN K ULTUREN Bei all dem darf eine wichtige Frage nicht außer Acht gelassen werden: Geht es um den mittlerweile in vielen Sprachen verwendeten Terminus ,Kitsch‘ oder um das Phänomen, das im Deutschen mit ,Kitsch‘ bezeichnet wird, für das aber andere Sprachen bisweilen andere Ausdrücke kennen? Als Fremdwort oder Kultismus hat der Ausdruck ,Kitsch‘, dessen tatsächlicher Gebrauch quer durch alle Gesellschaftsschichten noch überprüft werden müsste, in vielen Sprachen nämlich jene Bedeutung, die im Deutschen das ebenfalls eher bildungssprachlich verwendete camp hat, d. h. er meint einen ins Elitäre und Distinktionsorientierte gewendeten und stets gebrochenen Umgang mit Kitsch. Um nur zwei Beispiele dafür zu nennen, in welch unterschiedliche Richtungen die Übernahme des Kitschbegriffs und seine Integration in eine eigene kulturelle oder theoriegeschichtliche Tradition gehen kann: Die französische Literaturwissenschaftlerin Catherine Coquio sieht im Kitsch die paradoxe Verbindung zweier Bedeutungskomponenten, nämlich Kitsch als Massenkultur der kapitalistischen und totalitären Staaten einerseits und als elitäre künstlerische Praxis (Kitsch als camp) andererseits.18 Der aus Rumänien stammende amerikanische Literaturwissenschaftler Matei Calinescu wiederum verbindet den Begriff des ,Kitsches‘ so eng mit der ökonomischen Entwicklung der Moderne, dass die Tatsache, dass es in einer Nation der so genannten Zweiten oder Dritten Welt Kitsch – und das heißt bei ihm: Massenkunst – gibt, als untrügliches Modernisierungsindiz gelten könne.19

18 Catherine Coquio: „Kitsch et critiques du kitsch: Spleen du Beau et mal de l’Art“, in: dies., L’Art contre lʼart. Baudelaire, le „joujou“ moderne et la „décadence“, Bandol: Vallongues 2006, S. 311–331. 19 Matei Calinescu: Faces of modernity. Avant-garde, decadence, kitsch, Bloomington: Indiana Univ. Pr. 1977. Eine ähnliche Auffassung vertritt Sam Binkly, der Kitsch als Korrektiv für die ontologische Unsicherheit moderner Gesellschaften ansieht. Sam Binkley: „Kitsch as a Repetitive System: A Problem for Theory of Taste Hierarchy“, Journal of Material Culture 5, 2 (2000), S. 131–152.

E INLEITUNG : K ITSCH UND NATION | 11

Um Aufschluss darüber zu erhalten, welche Bedeutungskomponenten des Begriffes ,Kitsch‘ in verschiedenen (westlichen) Sprachen im Vordergrund stehen, soll zunächst ein geraffter Überblick über seine Verwendungsweisen und über relevante Synonyme in einigen Sprachen, wie im Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen, Portugiesischen und Spanischen, gegeben werden.20 Dass das Wort ,Kitsch‘ aus dem Deutschen kommt (angeblich von einem Verb ,kitschen‘ oder ,verkitschen‘),21 gilt für die meisten Fachleute als kein Zufall. Schon wenige Jahrzehnte nach seinem Erstbeleg (1881) 22 und nach einer im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch schwankenden Bedeutungsverwendung (bei Gustav Sack23 oder Franz Wedekind24) stabilisiert es sich spätestens in den 1920er Jahren als abwertende Bezeichnung für ästhetisch depravierte Artefakte, angefangen vom Chrysanthemensträußchen aus abgeschnittenen Fingernägeln bis hin zu Werken der Kunst oder der Literatur, die sich mit der Aura des Erhabenen und Wertvollen umgeben, aber nicht den geltenden ästhetischen Standards entsprechen.

20 Für das Russische verweisen wir auf die beiden Beiträge von A. Artwińska und E. Hausbacher in diesem Band. 21 Zur Etymologie von Kitsch siehe Otto F. Best: „,Auf listige Weise Kleinhandel betreiben‘. Zur Etymologie von ,Kitsch‘“, Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 70 (1978), S. 45–57. 22 Hans-Edwin Friedrich: „Kitsch“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 263–266, hier: S. 263. – Abraham Moles datiert ,Kitsch‘ bereits um 1860 und weist in diesem Zusammenhang auf die Sonderstellung des Wortes im Deutschen hin, da es hier im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachen „semantisch eindeutig“ sei. Abraham Antoine Moles: Psychologie des Kitsches, München: Hanser 1972, S. 7. – Auch Umberto Eco schließt sich der These von der begrifflichen Präzision des Wortes ,Kitsch‘ im Deutschen an. Umberto Eco: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“ [1964], in: ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 59–115, hier: S. 60. 23 Gustav Sack: „Kitsch“ [1917], in: ders., Prosa, Briefe, Verse, München/Wien: Langen/Müller 1962, S. 375 f., zit. nach Kitsch, hrsg. Dettmar/Küpper, S. 39– 41. 24 Wedekind, „Kitsch“.

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Es wurde so sehr Allgemeingut, dass Erich Thier 1944 schreiben konnte, dass das Wort Kitsch „mit spürbar abwertender Betonung auszusprechen“ sei.25 Die erstaunliche Begriffskarriere des ursprünglich deutschen Wortes erklärt sich aus verschiedenen Faktoren: Im Vergleich zu anderen Ländern setzte in der deutschen Kritik und Ästhetik die Beschäftigung mit hoher und niedriger Literatur schon sehr früh ein26 und führte zu einer das gesamte 19. Jahrhundert über bestehenden Dichotomie zwischen einer Kunst, die in einer abgehobenen Sphäre des Schönen, Wahren und Guten die Bildung der Persönlichkeit zum Ziel hat, und auf der anderen Seite einem auf bloße Sinnenbefriedigung abzielenden, als gefährlich geltenden Sektor der Unterhaltung der ungebildeten Massen. Träger dieses Deutungsmusters war jene spezielle soziokulturelle Konstellation, die man als das ,deutsche Bildungsbürgertum‘ bezeichnet.27 Diese im kulturellen Diskurs tonangebende Schicht vollzog am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht den Schritt der Avantgarden zur Überführung der Kunst in Lebenspraxis, sondern hielt an

25 Erich Thier: „Von der ,reinen Liebe‘ bei Hedwig Courths-Maler und bei ihren Schwestern im Geist“, Die Bücherei. Zeitschrift für das Büchereiwesen 11 (1944), S. 322–329, hier: S. 322. 26 Vgl. Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur, Göttingen: Wallstein 1996; Jörg Schönert: „Zu den sozio-kulturellen Praktiken im Umgang mit Literatur(en) von 1770 bis 1930“, in: Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, hrsg. von Kaspar Maase, Köln u. a.: Böhlau 2001, S. 283–289. 27 Vgl. hierzu Julia Kraus: „Der ,Kitsch‘ im System der bürgerlichen Ordnung“, Sprache und Literatur 28 (1997), S. 18–39. – Die Diskussion im deutschen Sprachraum darf freilich nicht nur als Sonderentwicklung gelesen werden, da hinsichtlich der Trennung in E- und U-Kultur ähnliche Prozesse in anderen Ländern beobachtet werden können, so z. B. in Großbritannien, wie bei Matthew Arnold deutlich zu sehen ist; vgl. John Storey: Cultural Theory and Popular Culture. An Introduction, London/New York; Routledge 72015. Vgl. auch Tally Katz-Gerro: „Highbrow Cultural Consumption and Class Distinction in Italy, Israel, West Germany, Sweden, and the United States“, Social Forces 81, 1 (2002), S. 207–229.

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Vorstellungen von Kunst fest, „die vom Rezipienten Versenkung und Einfühlung verlangt, damit ihn das Kunstwerke erhebe oder entrücke.“28 Während man aber zur Abwehr der neuen Massenkunst die Formel „Schmutz und Schund“ verwendete,29 unterschied man im Bereich der Hochkultur ebenfalls einen Bereich nicht-autonomer, selbstgenüsslicher Kunst, der, gerade weil er sich als Kunst tarnte, als besonders heimtückisch galt. Dafür verwendete man den Begriff ,Kitsch‘. Dieser aus einem bestimmten kulturellen Klima anfangs des 20. Jahrhunderts sich herausbildende ästhetisch und sozial diskriminierende Kitschbegriff besteht im Deutschen bis heute.30 Die internationale Verbreitung des Wortes Kitsch, das im Englischen erstmals in den 1920er Jahren belegt ist,31 geht von Steven Greenbergs 1939 erschienenem Aufsatz „Avantgarde and Kitsch“ aus.32 Er bringt den Kitsch („the wonderful name of kitsch“) als begriffliche Chiffre für die kulturelle ,Nachhut‘ in Stellung, gegen den sich die Avantgarde, die Vorhut, abgrenzt. Die von ihm angeführten Beispiele zeigen, dass er damit nicht ein Antisystem zur Kunst innerhalb der Kunst meint, sondern die aus der In-

28 Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880 – 1945, Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 30. 29 Siehe hierzu Kaspar Maase: Die Kinder der Massenkultur. Auseinandersetzungen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt am Main/New York: Campus 2012. 30 Eva Le Grand distanziert sich im Vorwort ihres Sammelbandes Séductions du kitsch bewusst von dieser spezifisch deutschen Bedeutung von ,Kitsch‘. Eva Le Grand: „Introduction“, in: Séductions du Kitsch. Roman, art et culture, hrsg. von ders., Montréal: XYZ 1996, S. 13–25, hier: S. 20. – Auf den besonderen Stellenwert der Kitschdiskussion in Deutschland weist auch Jean-Claude Lyant hin („,Un kitsch très rationnel: introduction à la méthode de H.-J. Syberberg‘“, Études littéraires 18 (1985), S. 53–77, hier: S. 53–56). 31 Im Oxford English Dictionary (http://www.oed.com, s. v. kitsch) wird 1926 als erstes Erwähnungsdatum genannt, während Merriam-Webster's Collegiate Dictionary (102000, s. v. kitsch, S. 643) 1925 anführt. Zur Entwicklung der Verwendung des Terminus kitsch im Englischen s. auch den Beitrag von Mieszkowski in diesem Band. 32 Clement Greenberg: „Avant-Garde and Kitsch“, Partisan Review 5 (1939), S. 34–49.

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dustrialisierung und Urbanisierung hervorgegangene Popularkultur. Dies ist auch die Bedeutung von ,Kitsch‘, die in der Folge in andere Sprachen aufgenommen wurde. Sie entspricht der Auffassung von Kitsch als mechanisch reproduzierter Massenkunst. In Deutschland wird währenddessen weiterhin ‚Kitsch‘ in der Bedeutung von distanzloser Genusskunst verwendet, wie beispielsweise auf dem Gebiet der Literatur bei Deschner, der seine Beispiele nicht in Groschenromanen sucht, sondern bei Autoren, die der Hochkultur zugerechnet werden. Ins Französische wurde das Wort ,Kitsch‘ später aufgenommen als ins Englische (laut dem Grand Robert erst 196033). Dies erklärt vermutlich, warum dort der Begriff ,Kitsch‘ sehr viel mehr mit der ironischdistanzierten Bedeutung des camp versehen ist und sogar als Synonym für ,postmodern‘ eintreten kann.34 Kitsch wird im Französischen in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Während der Trésor de la langue française ausschließlich die dem Deutschen entsprechenden Komponenten massenhafte Verbreitung, fehlende Authentizität, Opulenz, Akkumulation, schlechter Geschmack und Mittelmäßigkeit nennt,35 findet man im Grand Robert an erster Stelle die Bedeutung rétro (und somit die bewusste Zuwendung zu einem Stil der Vergangenheit), verbunden mit dem Hinweis auf unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe von Seiten der etablierten und der populären Kultur. Im Gegensatz zum Deutschen wird das Wort kitsch nur selten auf die Literatur

33 Le Robert, s. v. kitsch; http://gr.bvdep.com. – Nach Kliche vollzog sich die Rezeption des Kitschbegriffs in den 1950er bis 1970er Jahren in Frankreich und Italien „unter weitgehender Aussparung der deutschen Kontexte im Zugriff auf und in Auseinandersetzung mit den amerikanischen Konzepten der mass culture.“ (Art. „Kitsch“, S. 286). 34 Valéry Arrault: L’empire du kitsch, Paris: Klincksieck 2010. 35 Le Trésor de la Langue Française informatisé (TLFi), s. v. kitsch; http://atilf.atilf.fr/dendien/scripts/tlfiv5/advanced.exe?8;s=484686405 2015].

[10.

7.

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bezogen, am ehesten noch auf das Theater; 36 meist handelt es sich dabei um Beiträge aus der Germanistik.37 Für das französische kitsch wird eine Reihe von Synonymen (pacotille, camelote, toc, art pompier) angegeben, die vor allem den Aspekt der minderwertigen Qualität hervorheben. Das Wort pacotille wurde Anfang des 18. Jahrhunderts vom spanischen pacotilla entlehnt und bedeutete ursprünglich Ware, die von den Schiffskapitänen oder der Besatzung auf eigene Faust, ohne Zahlung von Frachtkosten, vertrieben wurde. Daraus entwickelte sich die Bedeutung ‚(wertlose) Ware von schlechter Qualität‘. Eine ähnliche Bedeutung wie pacotille hat camelote, abgeleitet von camelot, einem groben, billigen Stoff aus Ziegenhaaren und Wolle. Die Beispiele dafür im Dictionnaire de l’Académie Française von 1694 zeigen an, dass man einen solchen minderwertigen Stoff vor allem als ein ausländisches Produkt betrachtete: Genannt werden „camelote de Hollande, de Bruxelles, de Turquie, de Levant“. Bei dem Wort toc – seit dem 19. Jahrhundert in der Bedeutung ‚nachgeahmter, falscher Gegenstand‘ (insbesondere Schmuckstück) – wird die Möglichkeit einer onomatopoetischen Erklärung (von toc toc) erwogen. Es könnte darauf zurückgeführt werden, dass man einen fragwürdigen Gegenstand durch Klopfen auf seine Echtheit überprüfen möchte. Ein weiteres französisches Synonym für Kitsch ist tape-à-l’œil (wörtlich: das ins Auge Stechende). Auch hier handelt es sich um eine wertlose Sache, die – v. a. durch lebhafte, schreiende Farben – Eindruck schinden will. Spezifischer dem Bereich der Kunst zugeordnet ist art pompier. Pompier (gestelzt, geziert, gekünstelt, geschraubt, manieriert) ist eine adjektivische Verwendung des gleichlautenden Substantivs, das eigentlich ,Feuerwehrmann‘ bedeutet. Nach Théodore de Banville rührt dies von der Darstellung antiker Helme auf Gemälden von Jacques-Louis David und

36 Kitsch et néobaroque sur les scènes contemporaines, Montreuil: Ed. Théâtrales 2011; Kitsch et théâtralité. Effets et affects, hrsg. von Isabelle Barbéris, Dijon: Univ. de Dijon 2012. 37 Joël Roussiez z. B. empfiehlt den Lesern der von ihm als kitschig identifzierten Romane von Dhôtel als ‚Gegengift‘ bezeichnenderweise die Lektüre von Stifter oder Keller. Joël Roussiez: „Sur l’aspect kitsch d’un romancier très estimable: André Dhôtel“, L’atelier du roman 44 (2005), S. 122–134.

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seiner Schule her, von denen sich Zeitgenossen an diejenigen moderner Feuerwehrleute erinnert fühlten.38 Die lautliche Nähe zu pompe (Prunk, Pomp) mag ein Übriges getan haben, um die Zusammensetzung art pompier zu einer Formel für unoriginelle, manierierte Akademiekunst zu machen. Die meisten italienischen Wörterbücher definieren kitsch mit „di cattivo gusto“ (von schlechtem Geschmack) und verweisen auf die Herkunft des Wortes aus dem Deutschen; im Vocabolario Treccani wird zudem die besondere Bedeutung des Wortes in der deutschen Literaturkritik zwischen 1920 und 1940 erwähnt.39 Der italienische Erstbeleg findet sich 1929 in einem Artikel von Corrado Alvaro, der während seiner Arbeit als Journalist in Berlin den Kitsch als Modernisierungsmerkmal beschrieben hat: In Ländern wie diesen ist der schlechte Geschmack (ein Wort, für das die Deutschen kein Äquivalent haben, weil sie das Abgedroschene, Konventionelle, den kitsch kennen, aber nicht den schlechten Geschmack) ein Dünger, auf dem die Keime der Modernität wachsen, er ist das Formlose, in dem unendliche Möglichkeiten oszillieren, das Provisorische, das einen Erkundungsgegenstand bildet, dessen in wenigen Jahren alle überdrüssig sind, um sich Anderem zuzuwenden; unter diesen Bedingungen verschwindet die Persönlichkeit, und die Schaffung einer Gesellschaft, eines Lebens und einer Kunst nimmt eine uns unbekannte kollektive und unpersönliche Note an.40

38 Théodore de Banville: „Le Pompier“, in: ders., Contes féeriques, Paris: Charpentier 1882, S. 10–19, hier: S. 19. 39 Treccani. Vocabolario, s. v. kitsch: http://www.treccani.it/vocabolario/kitsch/ [10.07.2015]. 40 „In paesi come questi, il cattivo gusto (ecco una parola di cui i tedeschi non hanno equivalente, perché essi conoscono il trito, il convenzionale, il kitsch, ma non il cattivo gusto), il cattivo gusto, dico, è un concime da cui nascono i semi della modernità, è l’informe in cui oscillano infinite possibilità, è il provvisorio che forma l’oggetto di una esplorazione di cui in pochi anni tutti saranno sazi per rivolgersi ad altro, in queste condizioni sompare la personalità, e la creazione di una società e di una vita e di un’arte aquista quel tono collettivo e impersonale per noi inedito.“ Corrado Alvaro: „Il clima intellettuale a Berlino“ [L’Italia letteraria, 28. Juli 1929], in: ders., Scritti dispersi 1921–1956, Milano: Bompiani 1995, S. 242).

E INLEITUNG : K ITSCH UND NATION | 17

Er bringt den Kitsch als ein mit Beschleunigung und Uniformität verbundenes Attribut der Berliner Großstadtkultur gegen die italienische Individualität in Stellung. Als Synonyme findet man in den italienischen Wörterbüchern paccottiglia (wie frz. pacotille), grossonalità (Derbheit, Grobheit) und pacchianeria. Letzteres Wort verweist, vor allem in den süditalienischen Dialekten, auf den niederen sozialen Status des ungehobelten Bauern (und häufiger noch der Bäuerin), der einerseits durch seine bunte traditionelle Kleidung auffällt, andererseits durch seine schlechten Manieren. Darüber hinaus wird das Wort pacchiano noch in einem weiteren Sinne gebraucht, welcher der deutschen Bedeutung von ,Kitsch‘ im Sinne von vorgetäuschter Kunst sehr nahe kommt: Als pacchiano wird eine Person bezeichnet, die elegant erscheinen möchte, ohne die dafür notwendige Erziehung oder Ausbildung genossen zu haben und daher für den Kenner grotesk erscheint. Erwähnenswert ist im Italienischen außerdem die adjektivische Verwendung in essere kitsch: ,kitschig‘ zu sein bedeutet in diesem Fall, unnatürliche, nicht authentische Verhaltensweisen anzunehmen, sich bewusst geschmacklos zu kleiden, um ein bestimmtes, einer Mode entsprechendes Bild von sich abzugeben,41 d. h. es handelt sich um eine dem camp verwandte Bedeutung, die auf den Travestie-Charakter des Kitsches verweist. Ein Übermaß an Gefühl hingegen scheint in der italienischen Bedeutung von kitsch keine Rolle zu spielen. Im Spanischen bedeutet der aus dem Deutschen übernommene Begriff kitsch, zumindest in der Definition des Diccionario de la Real Academia Española (DRAE), ,auf künstlerische Objekte angewandt, so viel wie prätentiös, altmodisch, etwas, das als schlechter Geschmack gilt‘.42 Deutlicher werden die Wörterbücher bei dem Synonym cursi, dessen Bedeutungsumfang jenem des deutschen ,Kitsch‘ gleichkommen dürfte.43 Mit cursi wird im Spanischen ein Künstler oder Autor bezeichnet, der seinen Werken vergebens Feinheit im Ausdruck oder erhabene Gefühle verleihen möchte; in

41 Treccani. Vocabolario, s. v. kitsch: http://www.treccani.it/vocabolario/kitsch/ [17.7.15]. 42 Diccionario de la lengua española (DRAE)

22

2001, s. v. kitsch; http://le

ma.rae.es/drae/?val=kitsch [14.7.2015]; die 20. Auflage des DRAE aus dem Jahr 1984 kannte den Ausdruck übrigens noch nicht. 43 Kliche, „Kitsch“, S. 273, 277.

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Erweiterung bezeichnet man damit alle, die Finesse oder Eleganz vortäuschen, ohne sie tatsächlich zu besitzen.44 Das Wort lässt sich seit 1865 in Andalusien nachweisen, wodurch eine zeitliche Nähe zum deutschen Äquivalent ,Kitsch‘ gegeben ist. Mit dem deutschen Begriff teilt das spanische cursi übrigens auch die unklare Etymologie. 45 Das Spanische kennt allerdings noch einen weiteren Ausdruck, nämlich hortera, der ebenfalls unsicheren Ursprungs ist. Heute bedeutet dieser Begriff vulgar, also vulgär, und de mal gusto, verweist also wieder, genauso wie das italienische cattivo gusto, auf schlechten Geschmack.46 Das Portugiesische kennt auch das Wort kitsch, mit dem sowohl künstlerisches als auch literarisches Material bezeichnet wird, das von schlechter Qualität und auf einen großen und unmittelbaren Ausdruck ausgerichtet sei und schon mit der Absicht hergestellt werde, dem gosto popular, also dem populären Geschmack, zu entsprechen.47 Es scheint allerdings, als ob der Begriff kitsch im Portugiesischen eher so verwendet wird wie camp im Englischen oder Deutschen, also in gebrochener Weise. Interessant ist auch der Ursprung des Begriffs brega, der als Synonym für kitsch gilt, zugleich aber auf Prostitution und das Bordell verweist.48 Ein anderer gängiger Begriff ist cafona,49 der wiederum in Richtung Prätention, schlechter Geschmack und vermeintliche Eleganz weist und sich vom italienischen cafone herleiten dürfte, das wiederum so viel wie ,Rüpel‘, ,Flegel‘ oder ,Bauer‘ bedeutet und somit dem italienischen pacchianeria sehr ähnlich ist. Im Englischen gilt der Begriff kitsch seit den 1920er Jahren als belegt, wie bereits erwähnt, und wird als Bezeichnung für Dinge von „popular or

44 DRAE 222001, s. v. cursi: http://lema.rae.es/drae/?val=cursi [14.7.2015]. 45 Joan Corominas/José A. Pascual: Diccionario crítico etimológico castellano e hispánico. Vol. CE–F, Madrid: Gredos 1984, 300–301; vgl. auch Kliche: „Kitsch“, S. 277–278. 46 DRAE

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2001, s. v. hortera: http://lema.rae.es/drae/?val=hortera [11.8.2015];

vgl. auch Corominas, vol. 3: G–MA, S. 400–401. 47 Aurélio Século XXI. O Dicionário da Língua Portuguesa, Rio de Janeiro: Nova Fronteira 31999, s. v. kitsch, S. 1173. 48 Aurélio 31999, s. v. brega, S. 330: Dicionário Houaiss da língua portuguesa. Rio de Janeiro: Objetiva 2004, s. v. brega, S. 510. 49 Aurélio 31999, s. v. cafona, S. 362.

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lowbrow taste“, die meist von geringer Qualität sind, verwendet.50 Dem englischen Begriff camp, der im Deutschen ja mittlerweile eine ähnliche Bedeutung hat wie kitsch im Englischen und in einigen anderen Sprachen, wird aber selbst wiederum eine eigene und lange Begriffsgeschichte zugeschrieben. Der Ausdruck habe eine unbekannte Etymologie, sei seit 1909 belegt und bedeute: „exaggerated effeminate mannerisms exhibited esp. by homosexuals“, „something so outrageously artificial, affected, inappropriate, or out-of-date as to be considered amusing“ und „something selfconsciously exaggerated or theatrical.“51 55 Jahre nach seiner ersten belegten Verwendung wird diese letzte Bedeutung des Wortes camp durch Susan Sontags berühmten Essay „Notes on Camp“ (1964) festgeschrieben werden, und zwar nicht nur für den angelsächsischen Sprachraum. Auch wenn die meisten Wörterbücher außerhalb des anglophonen Bereichs den Begriff camp nicht kennen, ist er doch in den Wortschatz der Intellektuellen aufgenommen worden, nicht zuletzt – wie anzunehmen ist – wegen Susan Sontags epochemachendem Text. Im Deutschen und noch mehr im Spanischen oder Portugiesischen ist camp zweifelsohne ein bildungssprachlicher Ausdruck, dessen bloße Kenntnis schon auf eine metareflexive Haltung hinzuweisen scheint. Susan Sontags Definition von camp eignet sich nicht nur, diesen Begriff besser in den Griff zu bekommen, sondern auch, um sich dem ,Kitsch‘ zu nähern, ist doch der Begriff camp nicht ohne ,Kitsch‘ denkbar. Eine kleine Einschränkung ist für Sontag dennoch zu machen, denn an einer Stelle schreibt sie, dass camp oft, von einem „ernsten“ Standpunkt aus, einfach schlechte Kunst oder Kitsch sei: „Many examples of Camp are things which, from a ‚serious‘ point of view, are either bad art or kitsch.“52 Camp ist also doch nicht nur der gebrochene Kitsch! Und nicht jeder gebrochene Kitsch kann zu camp werden. Bei camp handelt es sich für die große amerikanische Essayistin um ein urbanes Phänomen der Stilisierung und Künstlichkeit – ohne politischmoralischen Hintergrund –, um Kunst in Anführungszeichen, um doppel-

50 Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary, s. v. kitsch, S. 643. 51 Ebd., s. v. camp, S. 164. Zur Diskussion des Begriffes camp s. auch den Beitrag von Ralph Poole in diesem Band. 52 Susan Sontag: „Notes on Camp“, in: dies., Against Interpretation and Other Essays, New York: Picador. Farrar, Straus and Giroux s. a., S. 278.

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deutige Kunst, aber auch um eine Mischung aus Übertriebenem und Phantastischem auf der einen und Leidenschaftlichem und Naivem auf der anderen Seite. Seine Echtheit stelle camp auf jeden Fall durch Extravaganz unter Beweis. Camp sei theatralisch und stelle nicht nur eine Absage an die wahre und gute Kunst dar, sondern einen Angriff auf diese. Camp könne im Unterschied zur Dandy-Kultur an Produkten der Massenkultur Gefallen finden. Als zentral in Sontags Text darf die These gelten, dass camp Verständnis für die Schwächen der Menschen zeige. 53 Camp lasse sich mit Susan Sontag schließlich durch den Satz „it’s good because it’s awful“ fassen.54 Bei vielen der angeführten Begriffe tritt die Identitätskategorie des Sozialen besonders deutlich hervor; das kann man gut daran erkennen, wenn bei den Definitionen von ,vulgär‘, von ,ärmlich gekleideten Arbeitsgehilfen‘, von ,Bauern‘ oder gar von ,Flegeln‘ die Rede ist. Zugleich wird aber bei vielen Ausdrücken der Akzent auf Hohlheit, auf Täuschung, auf den unmittelbaren, aber oberflächlichen Eindruck oder auf falsche Eleganz gelegt.55 Aber auch hier wirkt eine soziale Komponente herein, denn als wahrhaft elegant können ja nur diejenigen gelten, die ‚innerlich‘ elegant sind, was wiederum so viel bedeutet wie dass man im Geist der Eleganz erzogen worden sein muss, im Unterschied zu all jenen, die sich Eleganz nur zulegen, wie die Neureichen, die auf den ersten und damit platten Eindruck aus sind. Es geht also um das Gegenteil der feinen Unterschiede: um das Offenkundige und Reißerische. Neben der Dichotomie ,wahre gegen aufgesetzte Eleganz‘, die im Bereich des Sozialen zu verorten ist, finden wir in den zitierten Worterklärungen einen anderen Gegensatz weniger deutlich formuliert, nämlich jenen zwischen ,männlich‘ und ,weiblich‘, wobei das Kitschige dem Weiblichen zugeordnet wird. Nehmen wir noch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes camp hinzu, dann wird das Weibliche in Richtung zur Schau gestellte Weiblichkeit durch männliche Homosexuelle noch überakzentuiert.

53 Ebd., S. 280–291. 54 Ebd., S. 292. 55 Auch die im Russischen häufig anzutreffende Definition von Kitsch als „lackierter Wirklichkeit“ weist in dieselbe Richtung; vgl. den Artikel von E. Hausbacher in diesem Band.

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Noch eine weitere Dichotomie lässt sich von den genannten Definitionen ableiten, nämlich jene von Kargheit vs. Opulenz. Das Auffällige hat einfach eine stärkere Quantität als das Unauffällige, und ganz oft drücken sich Auffälligkeit und auch Kitsch durch Opulenz aus. Opulenz kann freilich auch den Charakter von Intensität annehmen; was ja immer dann der Fall ist, wenn es um Gefühle geht. Hier wird Quantität zu vermeintlicher Qualität, starker Ausdruck zu (vorgetäuschter) Tiefe. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Kitsch und sein postmodernes Erbe, der camp, in sehr unterschiedlichen sozialen, kulturellen, diskursiven und theoriegeschichtlichen Kontexten stehen können. Gerade weil der Kitsch selbst häufig mit den Attributen des Aalglatten, Glitschigen, Schmierigen und Klebrigen versehen wird, scheint er einem immer wieder zu entgleiten und sich einer brauchbaren, eindeutigen Definition zu entziehen. Anstatt sich zu fragen, was Kitsch ist, muss der Blick wohl mehr auf die Frage gerichtet werden, wie der Begriff ,Kitsch‘ und seine Synonyme verwendet werden.56 Konzentriert man sich nun auf die Verwendungsweisen von ,Kitsch‘, trifft man Formulierungen an wie Kitsch als „Instrument idiokultureller Grenzkämpfe“57, als „Überheblichkeitsattitüde“ und „Ausdruck eines elitären Bewußtseins“,58 kurz: als „Ächtungswort“59 und „Kampfbegriff“.60 Wer im Deutschen das Wort ,Kitsch‘ gebraucht, tut dies nicht nur aus dem sicheren Gefühl heraus, den besseren Geschmack zu haben, sondern nutzt es bewusst als Mittel der Distinktion: Wer sogar bei Autoren wie Hermann

56 Vgl. Claudia Putz: Kitsch – Phänomenologie eines dynamischen Kulturprinzips, Bochum: Brockmeyer 1994, S. 2. 57 Ebd., S. 96. 58 Bettina Bannasch: „Unsäglich oder Unsagbar? Zur Rede über Kitsch und Kunst“, Sprache und Literatur 28, 79 (1997), S. 40–53, hier: S. 47. 59 Antje von Graevenitz: „Ächtungswort Kitsch. Eine Kritik an seiner Anwendung“, Kunstnachrichten 12 (1975/76), S. 29–35. 60 Wolfgang Braungart: „Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Einige verstreute Anmerkungen zur Einführung“, in: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, hrsg. von Wolfgang Braungart, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 1–24, hier: S. 1.

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Broch oder Robert Musil, die eigentlich über jeden Kitschverdacht erhaben sein sollten, Kitsch entdeckt, der muss der wahre Kunstkenner sein. 61 Aber auch wer bestimmte kulturelle Erscheinungsformen als camp bezeichnet, schreibt sich ein Urteilsvermögen zu, das ihn in die Lage versetzt, sich vom Massengeschmack entweder abzuheben oder sich diesen, dank eines ironischen Blicks, zu eigen zu machen, im Gefühl der Überlegenheit gegenüber denjenigen, die sich ihm unreflektiert, rein sinnlich genießend hingeben. Im Gegensatz zum Kitschverdikt ist die Identifizierung eines kulturellen Artefakts oder einer Verhaltensweise als camp keine ausschließend-abgrenzende Geste, sondern eine Grenzen verschiebende, die aber gleichwohl die Differenz zwischen einer legitimen und einer illegitimen Kunst kennt. Der Unterschied besteht darin, dass das Kunstverständnis desjenigen, der sich der Vokabel camp bedient, ein anderes ist als das des Kitschverächters: Keine hochkulturelle Konzeption von Kunst ist hier gemeint, sondern eine postmoderne, die auch populäre Kunstformen mit einschließt. Mit anderen Worten: Wer sagt: „Das ist Kitsch“, steht außerhalb des Kitsches, wer sagt: „Das ist camp“, steht innerhalb des camp. Die beiden Begriffe haben somit unterschiedliche Logiken und können keineswegs als Synonyme gelten. Die vielbeschworene postmoderne Aufhebung des Kitsches im camp ist daher nur eine scheinbare. Mögen auch Werke wie die quietschbunten Ballontiere von Jeff Koons oder Marlene Streeruwitz’ Fotoroman Lisa’s Liebe wie ein Bekenntnis zur Integration des Kitsches in die Hochkultur erscheinen, so ist doch die offensive Zurschaustellung und – bei Koons im wörtlichen Sinne – ,Aufblähung‘ der Kitschmerkmale bereits eine Distanzierung vom ,echten‘ oder ,wahren‘ Kitsch, der die ironische Distanz nicht kennt. Kitsch ist somit das „schlechte Gewissen der Kunst“,62 das Andere der Kunst, das, was nicht den ‚herrschenden‘ ästhetischen Normen entspricht,

61 Gelfert z. B. stellt bei Musil, wenn nicht Kitsch im engeren Sinne, so doch einen Stil fest, der „mit äußerster Anstrengung Unaussprechliches in die Sprache zu holen versucht“, was bei Nichtdeutschen ein Gefühl der Betretenheit hervorrufe. Bei Broch findet er ebenfalls einen „poetischen Balanceakt“ und „typische Motive des deutschen Kitsches“. Hans-Dieter Gelfert: Was ist Kitsch?, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 101–102. 62 Braungart, „Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen“, S. 2.

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die Kunst derjenigen, die keine Kunstkenner sind – man könnte auch sagen, die Kunst der „Dilettanten“, um einen Terminus aufzugreifen, der von Goethe und Schiller in die Debatte geworfen wurde und geradezu als Kitschbegriff avant la lettre gelten kann.63 Dem Begriff ,Kitsch‘ haftet eine ganz eigene Semantik an: Kitsch kann in Wirklichkeit weder bekämpft noch ausgerottet werden, weil die Elitekunst den Kitsch braucht, um sich dagegen abgrenzen zu können.64

K ITSCH UND

ANDERE

K ULTUREN

Die mit ,Kitsch‘ verbundenen diskursiven Strategien wurden bisher vor allem in Bezug auf die verschiedenen sozialen Schichten, gewissermaßen in vertikaler Richtung, untersucht: Der Kunstkenner grenzt sich ab vom ,Dilettanten‘, der Kitsch für Kunst hält. Eine solche Abgrenzung findet aber auch in Bezug auf andere Kulturen und Nationen statt. Der französische Kunstwissenschaftler Christoph Genin formuliert es folgendermaßen: Der Einfachkeit halber, oder per Kontamination, erklärt man alles zu Kitsch, was nach unseren eigenen kulturellen und künstlerischen Gewohnheiten als bunt zusammengewürfelt oder geschmacklos-schrill erscheint, weil es einem anderen Land oder einer anderen sozialen Klasse mit anderem kulturellen Habitus angehört.65

63 Johann Wolfgang von Goethe/Friedrich Schiller: „Schema über den Dilettantismus“, in: Johann Wolfgang von Goethe: Werke, hrsg. im Auftr. d. Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. 1, Bd. 47, Weimar: Böhlau 1896, S. 299–326. 64 Diese Argumentation geht maßgeblich auf Pierre Bourdieu zurück, auch wenn dieser den Begriff kitsch kaum verwendet. Bourdieu zufolge kann die Elitekunst ihren distinguierenden Status nur behaupten, weil es ein Anderes gibt, gegen das sie sich abgrenzen kann (vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 104– 115). Für dieses Andere können in den einzelnen Sprachen und Kulturen unterschiedliche Termini eintreten. 65 „Par facilité, ou par contamination, on déclare comme kitsch tout ce qui nous apparaît, selon nos propres habitudes culturelles et artistiques, comme hétéroclite ou d’un goût bigarré parce quʼappartenant à un autre pays ou une autre classe

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Damit wird die Bezeichnung von Produkten einer fremden Kultur als Kitsch zu einer Art relativistischer Herablassungsgeste, mit der man die eigenen ästhetischen Maßstäbe beibehält und keinen Versuch unternimmt, das fremdkulturelle Produkt aus einer anderen Perspektive zu sehen. An diesem Punkt drängt sich nun die Frage auf, ob es Kulturen oder Nationen – im Sinne Benedict Andersons66 – gibt, die ‚kitschanfälliger‘ als andere sind bzw. als solche gelten. Hier lassen sich seit der Antike eine ganze Reihe von angenommenen kollektivkulturellen Gegensätzen anführen: der rationale Okzident gegen den irrationalen Orient,67 die Griechen gegen die Perser,68 Attizismus gegen Asianismus,69 später die sich mäßigenden, ‚kühlen‘ Protestanten gegen die leidenschaftlichen, sinnenfreudigen und in Opulenz schwelgenden Katholiken, die kühlen Germanen gegen die heißblütigen Latinos bzw. gegen die schwermütigen und zugleich sentimentalen Slawen oder die wahrhaft eleganten Europäer gegen die oberflächlichen und nach dem raschen Effekt haschenden (US-)Amerikaner. Bei all diesen kulturellen Vorurteilen und Klischees wirkt ein starkes othering,70 das die Kultur der Anderen im Zeichen der Andersartigkeit homogenisiert. Oft wird dabei die andere Kultur auch als rückständig gesehen, als ob sie einer mittlerweile obsoleten und damit falschen Gefühlswelt verbunden wäre, die sich einer modernen und richtigen Rationalität widersetzt.

sociale que la nôtre, ayant dʼautre habitus culturels.“ Christophe Genin: Kitsch dans l’âme, Paris: Vrin 2010, S. 49 f. 66 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Mit einem Nachwort von Thomas Mergel, Frankfurt am Main/New York: Campus 21996. 67 Vgl. Edward Said: Orientalism. Western Concpetions of the Orient, London u. a. 1995 [1978], S. 38–39. 68 Diese Vorstellung wirkt bis heute nach, wie z. B. in dem Film 300 (Regie Zack Snyder, 2006) beobachtet werden kann. 69 Vgl. Gert Ueding/Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart: Metzler 21986, S. 36–39, 95–98. 70 Zum Begriff des othering s. Gayatri Chakravorty Spivak: „The Rani of Sirmur: an essay in reading the archives“, History and Theory 24, 3 (1985), S. 247–272 und z. B. Sune Qvotrup Jensen: „Othering, identity formation and agency“, Qualitative Studies 2, 2 (2011) S. 64–78, http://ojs.statsbiblioteket.dk/index.php/ qual/article/view/5510/4825.

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Kitsch ist also vielfach nicht nur die Kultur der anderen sozialen Klasse (aus der Sicht des Großbürgertums und des Adels), des anderen Geschlechts (aus der Sicht des Mannes), des sexuell anders Orientierten (aus der Sicht des heterosexuellen Mannes), sondern auch die Kultur all jener Völker, Nationen oder kulturräumlich verstandener Kollektive, die nicht auf der Höhe der Zeit und des Fortschritts sind bzw. die sich nicht zu mäßigen wissen und – durch die Mittel der Industrialisierung, die sie von tatsächlich archaischen Gesellschaften unterscheidet – in einer angenommenen Gesamtheit geschmackloser Opulenz frönen. An einem Beispiel, genauer am mexikanischen Bolero, soll nun kurz diskutiert werden, wie das gefühlsintensive Hereinragen einer anderen Zeit in einem bestimmten kulturellen Kontext positiv bewertet kann, und zwar jenseits von Susan Sontags camp-Definition. Der lateinamerikanische Bolero mag zwar im Zeichen des camp, wie z. B. in den Filmen Pedro Almodóvars, weltweit eine Auferstehung gefeiert haben, das befreit ihn aber nicht vom Kitsch-Vorwurf. Die Möglichkeit, am Bolero Genuss zu finden, muss sich aber nicht auf seine rezeptionelle Umdeutung als camp beschränken, wie der mexikanische Intellektuelle Carlos Monsiváis gezeigt hat. In Bezug auf den bekanntesten aller mexikanischen Bolero-Komponisten, nämlich auf Agustín Lara, stellt Monsiváis die Behauptung auf, dass dessen Lieder eben nicht camp seien, wie vielfach angenommen wurde.71 Mit diesem Ausdruck werde man Laras Kunst nicht gerecht. Laras Liedschaffen, das seinen Höhepunkt in den 1930er, 1940er und frühen 1950er Jahren hatte, sei zwar später von ihm selbst als cursi bezeichnet worden und in dieser bewussten Annahme nachträglich zu camp geworden, ursprünglich sei es ihm aber um etwas ganz anderes gegangen.72 Lara habe sich durch seinen leidenschaftlichen Exzess, in seinen Liedern wie in seinem dem Publikum preisgegebenen Leben, des Erhabenen bemächtigen wollen. Und so stelle

71 Zu Agustín Lara s. auch Christopher F. Laferl: „,Soy ridículamente cursi y me encanta serlo‘. La masculinidad extravagante de Agustín Lara“, in: Fiestas infinitas de máscara: actos performativos de feminidad y masculinidad en México, hrsg. von Claudia Gronemann und Cornelia Sieber, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms 2012, S. 29–44. 72 Carlos Monsiváis: „Agustín Lara. El harem ilusorio (Notas a partir de la memorización de la letra de ,Farolito‘)“, in: ders.: Amor perdido, México, D. F.: Era 11

1993, S. 61–86, hier S. 65.

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Lara – und mit Lara wohl der ganze Bolero – eine Fortsetzung der romantischen Dichtung dar. Lara könne daher nicht als camp-Künstler betrachtet werden, sondern müsse gesehen werden als „letzte Verteidigung eines ursprünglichen Inhalts, der im Übertriebenen einen Zugang zum Erhabenen sieht. Es geht um kein Delirium in der Form, sondern um die Erfordernisse des Ausdrucks, der Liebe, die zur exzessiven Metapher wird“.73 Verallgemeinert man diese Ansicht, dann ist Kitsch – in einer industrialisierten Massengesellschaft – der letzte Zugang zum Sublimen. Kitsch lässt sich also auch als opulente Kunst der anderen, anderer Epochen wie anderer Kulturräume und Nationen, definieren. Nach Benedict Anderson ist die Nation „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“.74 Die Gemeinschaft der Nation zeichnet sich durch die Solidarität ihrer Mitglieder aus, die füreinander Opfer zu erbringen bereit sind. Was Benedict Anderson nur indirekt anspricht, ist die Frage, ob sich eine derartige Gemeinschaft auch durch eine gleiche Sensibilität und durch gleichen Geschmack auszeichnet. Er spricht in seinem Klassiker Imagined Communities von der Nationalisierung von hoher Kunst (durch die Literaturgeschichtsschreibung z. B.), aber auch von Volkskunst (durch volks- und völkerkundliche Museen), er spricht aber nicht von einer Nationalisierung von Popularkultur und noch weniger von Kitsch. Beide stehen der Definition der eigenen Nation als hehre und edle Gemeinschaft im Wege. Wenn es das erste Anliegen dieses Bandes ist, die Debatte rund um den Kitsch anhand von einigen Fallbeispielen in einen internationalen Kontext zu stellen, so beschäftigt er sich auch mit einer zweiten Frage, die eben angesprochen wurde, nämlich jener, wie sehr Kitsch als die Kunst der anderen zur Negativfolie für die Bestimmung der eigenen Nation verwendet wird. Das vorliegende Sammelwerk versteht sich allerdings nur als eine erste Anregung, Antworten auf diese beiden Fragen zu finden, denen in der Forschung bisher zu wenig Augenmerk geschenkt wurde. So sehr Kitsch nämlich schon wissenschaftlich behandelt worden sein mag, eine Untersuchung

73 Ebd., S. 86: „ […] postrer defensa de un contenido primitivo que ve en lo exagerado su acceso a lo sublime. No es delirio de la forma, sino de la urgencias expresivas […]“. 74 Anderson, Imagined Communities, S. 15.

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zur Verbindung zwischen Kitsch und Nation aus diesen beiden Perspektiven scheint den Herausgebern dieses Bandes weitgehend auszustehen. *** Der erste Beitrag des Bandes, jener von KASPAR MAASE, setzt bei den Ursprüngen des Kitsch-Diskurses an, nämlich dem in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geführten Kampf gegen „Schmutz und Schund“. Sein Augenmerk liegt auf der Ausnahmeposition, die der Volksbibliothekar Erwin Ackerknecht (1880-1960) in der Debatte einnahm: Im Gegensatz zum „Mainstream der Schundkämpfer“, die geradezu manichäisch zwischen Kunst und Kitsch unterschieden, verfocht Ackerknecht ein in Ansätzen dreigliedriges Modell, in dem der Kitsch einen „Übergangswert“ zwischen hoher Kunst einerseits und „Schmutz und Schund“ andererseits einnimmt. Legitimierung erfährt dieser Bereich durch die Verfahren der Emotionalisierung, die Ackerknecht nicht als dem ästhetischen Genuss abträgliche Elemente herabgesetzt wissen will, sondern als notwendige Mittel zur Heranführung der weniger gebildeten Schichten und der Jugendlichen an die Hochliteratur ansieht. In Anschluss an die Darstellung von Ackerknechts Theorie zeichnet Maase deren Rezeption nach, die zunächst durch eine sehr spärliche unmittelbare Resonanz gekennzeichnet ist, die aber im Kontext der Diskussion um den Umgang mit der kommerziellen Massenkultur eine späte Rehabilitierung gefunden hat. Auch der Text von NORBERT CHRISTIAN WOLF ist im Feld der deutschsprachigen Kitsch-Debatte situiert. Er geht in seinem Beitrag der Frage nach der Kontinuität einer spezifischen Kitsch-Ästhetik von den Propaganda-Filmen des Nationalsozialismus bis zu den Heimatfilmen der Nachkriegszeit nach. Im Zentrum seiner Analyse stehen Elfriede Jelineks Posse Burgtheater (1982/1984), deren Kritik am opportunistischen Verhalten der Schauspielerfamilie Hörbiger-Wessely und die Entlarvung einer spezifischen Form des Österreich-Kitsches als unsensible Form der Verweigerung eines Schuldeingeständnisses. Wie Wolf anschaulich zeigen kann, geht es Jelinek gerade nicht um eine ironische Wiederaufnahme von tradierten Kitsch-Elementen im Zeichen des camp, sondern um eine Demaskierung bekannter Österreich-Klischees durch harte Überzeichnung, um die Gefährlichkeit der in Österreich lange nachwirkenden Idealisierung der eigenen schuldbeladenen Geschichte und Kultur klar hervortreten zu lassen.

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Auch PETER KUON verbindet die Frage der Definition von Kitsch mit jener nach adäquaten Darstellungsmöglichkeiten der nationalsozialistischen Verbrechen. Er untersucht anhand der Rezensionen von Jonathan Littells umstrittenem Weltbestseller Les Bienveillantes in Deutschland, Frankreich und den USA die unterschiedliche Akzeptanz des Kitsch-Begriffes in den drei Ländern. Die Schilderung von Nazi-Verbrechen aus der Sicht eines SS-Offiziers löste eine internationale Debatte über die Legitimierung von Fiktionalisierungen des Holocaust aus. Insbesondere in Deutschland spielte dabei von Anfang an der Vorwurf des Kitsches eine zentrale Rolle, wobei sich die Kritiker nicht damit begnügen, ‚Kitsch‘ als Kampfbegriff einzusetzen, sondern ihr Kitschurteil argumentativ und deskriptiv zum Teil sehr eingehend begründen. In den französischen Feuilletons hingegen spielt der Kitsch-Vorwurf kaum eine Rolle; wenn doch, dann vor allem mit Rekurs auf Saul Friedländers Analyse der nationalsozialistischen Kitsch- und Todesästhetik.75 In Großbritannien und den USA begegnet der KitschVorwurf noch seltener; auch hier wird ‚Kitsch‘, in dem einzigen von Kuon ausfindig gemachten Beleg, im Sinne eines voyeuristischen Gaffens auf Nazi-Greuel, wie sie Berlin-Touristen vorgeführt werden, verwendet. Kuon schließt aus seiner vergleichenden Analyse auf eine Sonderstellung des Umgangs mit Kitsch in Deutschland, die dadurch gekennzeichnet sei, dass mit dem ästhetischen Vorwurf gleichzeitig ein moralisches Verdikt gefällt werde. THOMAS KÜPPER setzt sich – allerdings auf ganz andere Weise als Norbert Christian Wolf – ebenfalls mit einer österreichspezifischen Variante des Kitsches auseinander. Er beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den beiden TV-Produktionen Musikantenstadl und Die große Nacht der Wiener Musik. Um den Vorwurf zu entkräften, es handle sich dabei um eine narkotisierende regressive Flucht in eine heile Welt, greift er auf neuere Ansätze der Tourismusforschung zurück, welche die Sehnsucht nach verklärten Ansichten „nicht von vorneherein als lächerlich, defizitär oder unangemessen“ abwerten, sondern die Bedeutung von Vor-Bildern wertungsfrei untersuchen. Dabei wurde festgestellt, dass die Rezipienten sich zumindest teilwei-

75 Interessanterweise taucht das Wort ‚Kitsch‘ nur im Titel der deutschen Übersetzung auf (Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt am Main: Fischer 2007); der Titel des französischen Originals lautet lediglich Reflets du nazisme.

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se bewusst sind, dass es sich bei den touristischen Ansichten reizvoller Orte um gerahmte Bilder handelt, die einen kontrollierten Zugang zu den Sehnsuchtsorten ermöglichen. Solche Rahmungen stellt Küpper auch in den genannten Fernsehshows fest, in denen er eine „reflektierte Unreflektiertheit“ konstatiert. Die Übersteigerung ihrer fiktionalen Dimension mache den Zuschauern deutlich, dass sie es hier keineswegs mit der österreichischen Realität zu tun haben, sondern mit einem als inszeniert erlebten „Modus eines schönen Scheins“. INGRID PAUS-HASEBRINK und SASCHA TRÜLTZSCH-WIJNEN beschäftigen sich mit der Kitschfrage anhand eines Beispiels, das stets mit Österreich assoziiert wird, nämlich mit der Rezeption des weltweit erfolgreichen Musical-Films Sound of Music. Auf kommunikationswissenschaftlicher Grundlage und anhand kleinerer selbst durchgeführter statistischer Untersuchungen können die Verfasserin und der Verfasser des Beitrags zeigen, wie sich in jenem Land, in dem die Handlung des Musicals angesiedelt ist, nämlich in Österreich, und da v. a. im Bundesland und der Stadt Salzburg, die Rezeption des Films in den letzten 15 Jahren gewandelt hat. Lange Zeit war der unter starkem Kitsch-Verdacht stehende Hollywood-Film, dessen Erfolg nach wie vor viele Touristen nach Salzburg bringt, dem lokalen Publikum wenig bekannt, wenn er nicht überhaupt rundweg abgelehnt wurde. Paus-Hasebrink und Trültzsch-Wijnen gehen den Ursachen für diese ablehnende bzw. uninteressierte Haltung nach und stellen dabei sowohl Fragen nach den inhaltlichen (historischen) Gründen und den ästhetischen Ursachen als auch dem soziologischen Kontext für diese Situation, die sich aber zugunsten des Films zu ändern scheint, wird er doch auch in Salzburg immer stärker akzeptiert. NILS GROSCH und CAROLINE STAHRENBERG greifen in ihrem Text ebenfalls jene Spielart des Musiktheaters auf, das oftmals die Assoziation eines bestimmten Österreich-Kitsches abruft. Sie nehmen sich in ihrem Beitrag drei Genres des populären Musiktheaters vor, die gemeinhin unter KitschVerdacht stehen: Operette, Musical und Filmmusical. Sie zeigen, dass ,Kitsch‘ in erster Linie als Wertungsmuster und Abgrenzungsdiskurs fungiert: So wurden z. B. in der deutschen Operette nach 1915 Kriegsdarstellungen immer dann als Kitsch verunglimpft, wenn sie kriegsbejahend waren, wohingegen Anti-Kriegs-Darstellungen in Operetten niemals als kitschig disqualifiziert wurden. Bei Broadway-Musicals hingegen ist das ausschlaggebende Kriterium die otherness: Sie gelten als kitschig, weil sie

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amerikanisch sind. Auch hier zeigt sich, dass in Deutschland ein fast schon reflexhafter Umgang mit dem Kitsch zu beobachten ist: Insbesondere bei amerikanischen Musicals, denen europäische Stoffe zugrunde liegen, zeige sich ein „exotisches othering“ von Kitsch, „der für den ernsten (deutschen) Stoff […] als unangemessen angesehen wird“. In der abschließenden Analyse des Musicalfilms Im weißen Rößl sowie seiner Prä-Texte wird gezeigt, dass dieses Genre weitaus stärker ironisch gebrochen ist, als es seine pauschale Verunglimpfung erwarten lässt. Auch NINA NOESKE interessiert die Frage nach dem Kitsch-Verdikt, trägt diese aber an Komponisten des 19. Jahrhunderts heran, die ihre Werke vor dem Auftauchen des Wortes ,Kitsch‘ schufen. Sie interessiert v. a. der zeitgenössische Diskurs, aber auch jener der Musiktheoretiker Carl Dahlhaus und Theodor W. Adorno. In der Analyse der Rede über den Kitsch kann Noeske feststellen, dass neben sozialen und gender-relevanten Kategorien auch immer wieder eine nationale Komponente ins Treffen geführt wird, um die Werke verschiedenster, in der Regel nicht-deutscher Komponisten als Kitsch abzuqualifizieren. Wenn slawischen Komponisten Sentimentalität und Melancholie, also ein Zuviel an Gefühl, zugeschrieben wurde, hatten französische Musiker eher mit einem gegenteiligen Vorwurf zu rechnen, nämlich mit jenem der Gemütslosigkeit. Am Beispiel Franz Liszts, also eines Komponisten, der national nicht eingeordnet werden kann, zeigt Noeske einerseits, dass der Kitsch-Verdacht Liszt gegenüber schon zu seinen Lebzeiten geäußert wurde, dass aber gerade seine Inklusion ins gängige Repertoire vieler Konzerthäuser bis in unsere Tage die (deutsche) Musikkritik an ihre Grenzen stoßen lässt. ANNA ARTWIŃSKA geht in ihrem Beitrag dem Diskurs über Literatur nach. Anders aber als bei Nina Noeske interessieren sie nicht das Urteil der Kritik und der Wissenschaft über verschiedene Künstler und ihre Werke, sondern vielmehr die kunstkritischen und wissenschaftlichen Texte selbst. Genauer geht sie der Frage nach, ob das Reden und Schreiben über Literatur nicht selbst auch kitschanfällig sein kann. Konkret widmet sie sich dem literaturwissenschaftlichen Kitsch der Sowjetunion, diskutiert – in Anlehnung an Milan Kundera – die Verbindungen zwischen Sozialistischem Realismus und totalitärem Kitsch, um sich schließlich mit der sehr erfolgreichen und in mehrere Sprachen übersetzten Goethe-Biographie der regimetreuen sowjetrussischen Literaturwissenschaftlerin und Autorin Marietta Schaginjan aus dem Jahr 1950 auseinanderzusetzen. Als Grundkonstante

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des sowjetrussischen literaturwissenschaftlichen Kitsches kann sie dabei v. a. eine ideologische Vorgabe isolieren, dass sich nämlich die Verfasser derartiger Werke immer als mit den Lesern, und in weiterer Konsequenz mit dem Volk, auf einer Stufe stehend ausgeben. Im Fall der GoetheBiographie schlage dies auch auf den biographierten Dichter durch, wird doch auch dieser als ein Mann des Volkes präsentiert. Auch wenn man mit den ideologischen Vorgaben des Sozialistischen Realismus nicht vertraut ist, könne man den Kitsch solcher Darstellungen erkennen; richtig verstehen und einordnen lasse er sich aber nur, wenn man über den sozialrealistischen Kontext Bescheid wisse. Dadurch macht Artwińska deutlich, wie sehr das Verständnis von Kitsch auch immer von der Kenntnis seiner gesellschaftlichen und politischen Entstehungsbedingungen abhängt. Auch in EVA HAUSBACHERS Beitrag steht der Sozialistische Realismus im Mittelpunkt. Als Ausgangspunkt wählt sie den allgemeinen Kitschverdacht, unter den seit Clement Greenberg der Sozialistische Realismus gestellt wird. Gegenüber Greenbergs Dichotomie von Avantgarde und Kitsch zieht sie Boris Groys’ Analyse vor, der im Sozialistischen Realismus eine Fortführung der Avantgarde mit anderen Mitteln sieht. Der Kitsch ist demnach nicht eine Form der Regression, sondern eine Strategie, die dasselbe Ziel erreichen will wie die sowjetischen Avantgardekünster. Hausbacher zeichnet die mehrfachen Wendungen in der sowjetischen Konsumkultur nach, in der sich konsumkritische Kampagnen gegen den Kitsch abwechseln mit Phasen der Rehabilitierung einer zuvor als typisch bürgerlich stigmatisierten opulenten Warenwelt. Symptomatisch dafür sei die Rezeption des umstrittenen Bildes V novuju kvartiru (In die neue Wohnung) von Aleksandr Laktionov, entstanden kurz vor Stalins Tod, das trotz seiner Konformität mit den Zielsetzungen des Sozialistischen Realismus in der nachfolgenden Tauwetter-Zeit wegen seiner ‚kitschigen‘ „Lackierung der Wirklichkeit“ kritisiert wurde. Es erweist sich damit, ebenso wie der Begriff Kitsch selbst, als „Kippbild[…], das seine Vielgestalt aus den zeitlichen Verschiebungen in der Interpretation seiner Bildelemente speist.“ STEFAN LANDSBERGER bewegt sich noch einen weiteren Schritt nach Osten und in Richtung Gegenwart und widmet sich in seinem Beitrag der chinesischen Kunst des Kommunismus. Er untersucht den westlichen Blick auf die chinesische Revolutionskunst, die mit ihren grellen Farben und ideologisch eindeutigen Inhalten in der Regel als kitschig empfunden wird. Ähnlich wie in Hausbachers Beitrag zur sowjetischen Konsumkultur zeigt

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sich in seiner Darstellung der verschiedenen Phasen der Kunst in der Volksrepublik China, dass die Analyse der Bedingungen, unter denen fremdkulturelle künstlerische Produkte entstehen, oft ein ganz anderes Bild ergeben, als eine simplifizierend mit dem Kitsch-Verdikt arbeitende westliche Perspektive vermuten lässt. Er weist außerdem auf den Widerspruch hin, dass die grellbunten Verfahren der postmodernen chinesischen Kunst, obwohl sie mit denselben Mitteln arbeitet wie die Revolutionskunst, von westlichen Konsumenten nicht nur akzeptiert, sondern sogar mit Begeisterung aufgenommen werden, weil man ihnen jene ironische Distanz zubilligt, die man den Werken der Revolutionskunst abspricht. Dabei weisen gerade die Werke des Politischen Pop und des Zynischen Realismus – besonders beliebt dabei sind ironisch gebrochene Darstellungen Mao Zedongs, die als kritisch aufgefasst werden, obwohl sie es in der Intention der Künstler gar nicht sind – jene Verfahren der Fließbandproduktion und der technischen Reproduktion auf, die als typisch für die ‚billige‘ Kitschkunst gelten. SYLVIA MIESZKOWSKI beschäftigt ein ganz ähnliches Problem, auch sie interessieren die Rezeption und noch mehr die Präsentation fernöstlicher Kulturen im Westen, und zwar in Großbritannien, allerdings auf komplexe und verschachtelte Weise sowohl am Ende des 19. Jahrhunderts als auch an der Wende vom 20. zum 21. Ausgehend von Mieke Bals Konzept der preposterous history, der Vermittlung von davor liegender Geschichte durch die Linse neuerer Geschichte, analysiert Mieszkowski Mike Leighs Film Topsy-Turvy (1999), in dem es um die Produktion und Aufführung der Gilbert-and-Sullivan-Operette The Mikado (1885) geht, deren Handlung in Japan angesiedelt ist. Der Autorin des Beitrags geht es dabei nicht nur um die Frage, ob und wie sehr die Operette von ethnozentrischen Vorurteilen geprägt ist, sondern auch, ob dem in ihr gezeichneten Japan-Bild der Kitsch-Vorwurf gemacht werden kann, und schließlich darum, wie ein Regisseur im ausgehenden 20. Jahrhundert mit beidem umgeht, mit dem im Raum stehenden Ethnozentrismus wie auch mit dem Kitsch-Verdikt. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass Topsy-Turvy die Kitsch-Anfälligkeit von The Mikado zwar nicht eskamotiert, aber auch nicht rein affirmativ unterstreicht. Ähnlich wie Thomas Küpper, der für die von ihm untersuchten Fernsehformate eine Kitsch-Relativierung durch Rahmung feststellen kann, gelingt es auch Mieszkowski zu zeigen, dass The Mikado die britischen ethnozentrischen Bilder von Japan durch Parodie und Ironie zu brechen weiß.

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Auch RALPH POOLE geht der Frage nach, ob ein Musikgenre (nämlich die Countrymusik), eine Vertreterin dieser Genres (nämlich Dolly Parton) und ein konkreter Film, in dem diese die Hauptrolle spielt (nämlich The Best Little Whorehouse, 1982), die alle gleichermaßen dem KitschVerdacht ausgesetzt sind, tatsächlich so ohne Weiteres als kitschig bezeichnet werden können. In allen drei Fällen kommt er zu dem Schluss, dass kein Pauschalurteil gefällt werden kann, da weder die Countrymusik distanzlos und unreflektiert den „schlechten Geschmack“ des white trash widerspiegelt und bedient, noch Dolly Parton als einförmige und ironiefreie Vertreterin der Countrymusik gelten kann noch The Best Little Whorehouse als dumme und kitschige Musikkomödie abgetan werden darf. Poole verschränkt seine Analyse des Kitschstatus und -grades der Countrymusik mit einer Reflexion über die Verortung derselben im kulturellen Selbstbild der USA und kann so die Kategorie Kitsch mit jener der Nation in Verbindung bringen. Die zwölf Beiträge des Bandes greifen auf unterschiedliche Weise die beiden genannten zentralen Fragestellungen des Bandes auf: Einerseits beschäftigen sie sich mit der Kitsch-Frage in speziellen nationalen Kontexten, andererseits beleuchten sie die Nationalisierung des Kitsches anderer Länder und Kulturen. Vier Beiträge (Wolf, Küpper, Paus-Hasebrink/TrültzschWijnen, Grosch/Stahrenberg) setzen sich mit verschiedenen Formen des Kitsches und mit dem Kitsch-Diskurs in bzw. in Bezug auf Österreich auseinander, zwei mit der Sowjetunion und einer mit den Vereinigten Staaten. Ein Beitrag (Kuon) vergleicht den Kitsch-Diskurs in drei verschiedenen Ländern, nämlich Frankreich, Deutschland und den USA, und drei Beiträge (Noeske, Landsberger, Mieszkowski) fokussieren die Sicht auf unter Kitsch-Verdacht stehende Objekte anderer Länder und Kulturen: Hier stehen die Kitsch-Assoziationen mit dem slawischen Raum in Deutschland, jene mit Japan in Großbritannien und schließlich der Umgang mit chinesischer Revolutionskunst im Westen im Vordergrund. Die ausgewählten Beispiele streichen die nationalen Unterschiede im Umgang mit Kitsch heraus und stellen zugleich eine Verbindung von Kitsch- und Nationendiskurs her. Viele Fragen bleiben freilich offen: So wurden die als wenig kitschaffin geltenden Länder und Kulturräume, wie Skandinavien, aber auch jene Kulturen, die als von Leidenschaft und Gefühlsintensität bestimmt gelten, wie z. B. die iberoromanischen Länder, nicht behandelt. Um die Frage nach der Verknüpfung von Kitsch und Nati-

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on tiefer gehend beantworten zu können, müssten diese und andere Räume in die Betrachtung aufgenommen werden. Das konnte der vorliegende Band nicht leisten, er möchte aber für ein derartiges Unterfangen Anregung sein, denn sowohl für die Kitschforschung als auch für eine interkulturelle Hermeneutik herrscht hinsichtlich der Verbindung von Kitsch und Nation großer Forschungsbedarf. *** Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im November 2013 an der Universität Salzburg stattfand und vom Fachbereich Romanistik der Universität Salzburg und dem Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft & Kunst der Universität Salzburg und der Universität Mozarteum gefördert wurde. Für die Veröffentlichung der für diesen Band bearbeiteten Vorträge bedanken wir uns bei der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg, der Stadt Salzburg, dem Fachbereich Romanistik der Universität Salzburg und dem Programmbereich Kunstpolemik/ Polemikkunst des Kooperationsschwerpunkts Wissenschaft & Kunst für die Unterstützung.

L ITERATUR Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Mit einem Nachwort von Thomas Mergel, Frankfurt am Main/New York: Campus 21996. Arrault, Valéry: L’empire du kitsch, Paris: Klincksieck 2010. Aurélio Século XXI. O Dicionário da Língua Portuguesa, Rio de Janeiro: Nova Fronteira 31999. Bannasch, Bettina: „Unsäglich oder Unsagbar? Zur Rede über Kitsch und Kunst“, Sprache und Literatur 28, 79 (1997), S. 40–53. Banville, Théodore de: „Le Pompier“, in: ders., Contes féeriques, Paris: Charpentier 1882, S. 10-19. Barbéris, Isabelle (Hrsg.): Kitsch et théâtralité. Effets et affects, Dijon: Univ. de Dijon 2012. Best, Otto F.: „,Auf listige Weise Kleinhandel betreiben‘. Zur Etymologie von ,Kitsch‘“, Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 70 (1978), S. 45–57.

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Kitsch als „Übergangswert“? Erwin Ackerknecht und die Auflösung der Dichotomie zwischen Kunst und Nichtkunst K ASPAR M AASE

Dieser Beitrag stellt begriffsgeschichtliche Beobachtungen zur Semantik des Kitsch-Konzepts im deutschen Kampf gegen „Schmutz und Schund“ vor, fokussiert auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Hinter der Themenwahl steht die Überzeugung, dass Kitsch (wie fast alle Kategorien ästhetischer Wertung) nicht als analytischer Begriff taugt. 1 Vielleicht kann man sich über eine deskriptive Verwendung verständigen, um bestimmte Züge künstlerischer Gestaltung zu bezeichnen.2 Insbesondere scheint es nützlich, textuelle Strategien der Emotionalisierung systematisch zu fassen. Die Funktion eines solchen Vorgehens kann allerdings nicht sein, ästhetische Ein- und Ausschlüsse zu begründen. Emotionalisierung (hier nur als Sammel- und Verweisbegriff verstanden) meint eine elementare Qualität künstlerischen Kalküls wie ästhetischer Erfahrung; dies zu inkriminieren wäre gleichbedeutend mit der Reduktion des Schönen auf ein Glasperlen-

1

Wesentliche Argumente dazu bei Thomas Hecken: Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies, Bielefeld: transcript 2007, S. 93–101.

2

Die folgenden Überlegungen verdanken sich Anregungen von der diesem Band zugrundeliegenden Tagung. Sophie Müller bin ich für kritische Lektüre und hilfreiche Hinweise verpflichtet.

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spiel. Emotionale Praktiken seitens aller am Kunstprozess Beteiligten in wissenschaftliche Distanz zu rücken, folgt jedoch aus dem Anspruch von Akteuren auf der Höhe einer reflexiven Moderne. Es entspricht insbesondere der historischen wie individuellen Erfahrung, dass Strategien der Emotionalisierung systematisch eingesetzt werden, um uns als Rezipienten zu beeinflussen – und zwar immer wieder mit Effekten, die die Betroffenen im Nachhinein bedauern. Unter dem Einfluss solcher Strategien haben wir auf eine Weise geurteilt oder gar entschieden, die wir für unglücklich oder falsch halten und von der wir vermuten, bei stärker nüchtern-rationaler Abwägung wäre unser Urteil angemessener ausgefallen. Kompetenzen zur distanzierten Reflexion von Emotionalisierungspraktiken zu stärken heißt nicht, solche Praktiken selbst ins Zwielicht zu rücken, wie es seit Plato im Abendland kontinuierlich versucht wurde. Sinnlichemotionale Erfahrungen reflektieren und rahmen zu können, muss und soll den ästhetischen Genuss nicht zerstören, nicht einmal mindern. Ohnehin ist Skepsis angebracht, ob für das Projekt einer wertungsfreien Analyse künstlerischer Wirkungsstrategien eine neutrale Sprache gefunden werden kann. Bis dahin empfiehlt sich jedenfalls die historische Untersuchung des Begriffs anhand seiner Verwendung, die Analyse der Diskurse zu „Kitsch“ und „Schund“ als „symptomatische Dokumente der literarischen Frontbildungen“.3 Mit diesem Zitat aus Helmut Kreuzers bahnbrechendem Text zur „Trivialliteratur als Forschungsproblem“ möchte ich erstens einen der Riesen ehren, auf deren Schultern wir uns bewegen, und zweitens daran erinnern, dass seine Einsicht seit einem halben Jahrhundert in der Welt ist. Die Rede über Kitsch wird also im Folgenden als Symptom, als Quelle betrachtet. Als Verwendungszusammenhang wurde die Debatte um Schmutz und Schund gewählt. Dies erstens, weil der Autor sich länger mit dem Gegenstand befasst hat, 4 und zweitens aufgrund der These, dass diese

3

Helmut Kreuzer: „Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), S. 173–191, hier: S. 185. Der Text geht laut Kreuzer auf einen Vortrag vom Frühjahr 1965 zurück.

4

Vgl. Kaspar Maase: Die Kinder der Massenkultur. Auseinandersetzungen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt am Main/New York: Campus 2012; Ute Dettmar: „Der Kampf gegen ‚Schmutz und Schund‘“, in: Die Kinder- und Jugendliteratur in der Zeit der Weimarer Republik, hrsg. von

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Auseinandersetzung die wissenschaftliche wie alltagspraktische Wahrnehmung populärer Künste in Deutschland wesentlich geprägt hat und bis heute wirksam ist. Ausführlicher soll dann – dafür steht das Stichwort „Kitsch als Übergangswert“ – auf die Lesart des einflussreichen Volksbibliothekars und Kulturpolitikers Erwin Ackerknecht eingegangen werden; sie bildete, unter anderem, eine klare Gegenposition zum Mainstream der Schundkämpfer, die zur exzessiven Ausweitung des Schund-Urteils neigten. Ackerknechts Argumentation (das entwickelt der dritte Teil) gehörte zu einer breiteren Strömung, die aufgrund ernsthafter Beschäftigung mit den realen Publikumspräferenzen das Feld der Unterhaltungskünste, insbesondere der Unterhaltungsliteratur, gegenüber solchen Verdammungen zu legitimieren – wenngleich noch nicht zu rehabilitieren! – suchte. Dies wiederum, so die abschließende These, trug dazu bei, die von der deutschen Klassik entwickelte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts (als Reaktion auf die außerordentliche Expansion vielfältiger, zunehmend massenmedial verbreiteter Populärkünste) noch einmal forcierte binäre Dichotomie 5 von Kunst vs. Nichtkunst auszudifferenzieren zu einem Dreiebenenmodell mit den Unterhaltungskünsten zwischen Kunst und Schund.

„K ITSCH “ IN DER S CHUNDDEBATTE Nach Auffassung der Forschung kam das Wort Kitsch in den 1880ern unter Bildenden Künstlern auf und wanderte dann in die allgemeineren Kunstund Wertungsdiskurse ein.6 Seine eigentliche Karriere begann nach dem

Norbert Hopster, Bd. 2, Frankfurt am Main: Peter Lang 2012, S. 565–586. In der Formel von „Schmutz und Schund“ bezeichnete Letzteres das künstlerisch Minderwertige und zugleich kognitiv-ethisch Verderbliche, während Schmutz ungeachtet eventueller ästhetischer Qualitäten die Sexualmoral bedrohte. 5

Dazu immer noch einschlägig Christa Bürger u. a.: Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

6

Vgl. Dieter Kliche: „Art. ‚Kitsch‘“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 3: Harmonie – Material, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 272–288, hier: S. 273–276.

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Ersten Weltkrieg, die erste Monographie7 erschien 1925. Wichtige Züge des als Kitsch Bezeichneten wurden allerdings bereits vor 1914 in Debatten anhand der Gestaltung von Gebrauchs- und Schmuckgegenständen (Nippes) entwickelt. Ferdinand Avenarius’ (1856-1923) über Kunstwart und Dürerbund multiplizierte Kritik an „Hausgreueln“8 sowie Gustav Pazaureks (1865-1935) publizistisch wie museumsanschaulich geführte Kampagne gegen den schlechten Geschmack im Kunstgewerbe sind hier vorrangig zu nennen. Pazaurek charakterisierte kunstgewerblichen Kitsch als „geschmacklosen Massenschund“9 und stellte seine Interventionen in eine Reihe mit dem Kampf gegen künstlerischen Schund;10 Avenarius bezeichnete die Hausgreuel ebenfalls als Schund und verglich ihren geschmackszerstörerischen Effekt mit der Wirkung des „literarischen Kolportageschunds“.11 Dass der in beiden Kampagnen engagierte Dürerbund Transfers zwischen Kitsch- und Schunddebatte beförderte, liegt nahe. Jedenfalls nahmen Gruppen, die gegen Schund in Literatur und Kino kämpften, den neuen Kitschbegriff in ihre Rhetorik auf.12 Allerdings war Differenzierung, eine Anerkennung der moralischen Konformität von Kitsch und das Benennen seiner charakteristischen, auf emotionale Effekte ausgerichteten Sprache, nach den für diese Studie herangezogenen begrenz-

7

Fritz Karpfen: Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Hamburg: Weltbund 1925.

8

Vgl. Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969, S. 210–226, insbes. S. 216.

9

Gustav E. Pazaurek: „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ [Stuttgart 1912], in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 116–128, hier: S. 121.

10 Ebd., S. 117. 11 Ferdinand Avenarius: „Hausgreuel“, Kunstwart 22, 4 (1908), S. 209–213, hier: S. 212. 12 Laut Hans-Edwin Friedrich spielte „[i]n der Debatte über Schmutz und Schund […] Kitsch keine Rolle“ (Hans-Edwin Friedrich: „Hausgreuel – Massenschund – radikal Böses. Die Karriere des Kitschbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, in: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, hrsg. von Wolfgang Braungart, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 35–58, hier: S. 52). Die Aussage ist wohl zu relativieren.

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ten Belegen eher die Ausnahme.13 Häufiger war der Verzicht auf jede spezifische Unterscheidung; Kitsch firmierte ebenso wie Schmutz und Schund als verderbliche Gefahr für Jugend und Volk. So begründete die Münchner Arbeitsgemeinschaft „Jugendschutz gegen Schundbücher“ im Mai 1916 ihre Ablehnung von Serienheften mit unterschiedlichen Formulierungen; „Kitsch“ reichte dabei wie „Schund“ ohne weitere Erläuterung zum Verbot.14 Zum Verständnis: Die hier tonangebenden Lehrer bestimmten die Gefährlichkeit von Jugendlektüre letztlich von der Sorge her, die Kinder würden dadurch in lesesüchtige Bücherfresser verwandelt und so gewissermaßen von den Drogenlieferungen der Heftverlage abhängig. 15 In diesem Zusammenhang konnte schon die emotionale Adressierung eines Textes – seine Kitschqualität – als Gefahr und Verbotsgrund gelten. Noch zwei weitere Belege für die Subsumtion von Kitsch unter Schmutz und Schund. Als Mitglieder der „Christlichen Deutschen Jugend“ im Januar 1922 in Aachen im Rahmen einer Antischundaktion Läden und Zeitungsstände aufsuchten, folgten sie einer von ihren Kaplänen zusammengestellten Verdachtsliste. Zu zwei Verdächtigten hieß es: „Diese Geschäfte führten Kitsch.“ Eine Handreichung empfahl folgendes Vorgehen: „Beim Eintritt sagt man ‚Guten Tag‘ und fährt etwa fort: ‚Wir sind vom

13 So wird eine Schaufensterauslage folgendermaßen beschrieben: „[...] und von oben bis unten in langen Reihen Postkarten: Kitsch mit und ohne üble Erotik, Osterhasen und Baumblüte, die fürchterlichen Illustrationen zu den neuesten Gassenhauern [...], und dazwischen […] Postkarten mit Reproduktionen klassischer Kunst, d. h. nackter Bildwerke. In diesem Rahmen wirken sie auf den gebildeten Menschen wie Ohrfeigen. […] wenn ich Künstler wäre und sähe mein reines und feines Werk […] mitten in dieser gemeinen Umgebung von Schmutz und Schund […] ich glaube, mich packte die Wut auf ein solches ‚Museum der Armen‘!“, „Das Museum der Armen“, in: Die Hochwacht 4 (1913/14), S. 196 f. (Hervorh. i. Orig.). 14 Bezirkslehrerverein München,

Arbeitsgemeinschaft „Jugendschutz gegen

Schundbücher“ an Stellvertretendes Generalkommando des I. Bayerischen Armeekorps, 18. Mai 1916, S. 1; Bayerisches Hauptstaatsarchiv Kriegsarchiv, Stellvertretendes Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps 1003 „Überwachung der Jugend (Schundliteratur) (1916–1918)“. 15 Ausführlicher Maase, Die Kinder der Massenkultur, S. 220–222.

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Jünglingsverein St. Michael geschickt, hier ist der Ausweis (vorzeigen). Wir werden nicht mehr hier kaufen, bis der Schund und Kitsch aus Ihrem Laden verschwunden ist‘“.16 Auch in der Reichstagsdebatte zum Schmutz- und Schundgesetz 1926 wurde Kitsch mehrfach der jugendgefährdenden Literatur subsumiert. Am deutlichsten geschah das in der Begründung der Gesetzesvorlage selbst durch Innenminister Wilhelm Külz (1875-1948). Mit dem üblichen volkserzieherischen Pathos mahnte er: „... niemals sind Kunst und Wissenschaft auf ihrem Wege zum Volke mehr durch Schmutz und Schund und durch Kitsch behindert gewesen als jetzt.“17 Der aktuell debattierte und angeprangerte ‚Kitsch‘ war offenbar problemlos in das schundkämpferische Paradigma vom Gärtner einzupassen, den Zygmunt Bauman als dominante Sozialfigur moderner Eliten charakterisiert hat, 18 insofern sie sich verpflichtet fühlen, fortwährend Ordnung durch Beschneiden des Schädlichen und Pflegen des Nützlichen herzustellen: Kitsch verhinderte den Zugang zu guten Büchern ebenso wie ein Unkraut Nutzpflanzen erstickt und deshalb gejätet werden muss.

Ü BERGANGSWERTE Wenn man sich als Historiker in diesem Feld pauschaler Diskriminierung populärer Lesestoffe bewegt, dann freut man sich spontan über jemand wie Erwin Ackerknecht (1880-1960),19 der die Vorstellungen normaler Leser

16 Christliche Deutsche Jugend Aachen o.D. [Januar 1922]; Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Polizeipräsidium Aachen 290 „Bekämpfung von Schmutz und Schund in Buch und Bild 1922“. 17 Verhandlungen des Reichstags. 3. Wahlperiode 1924, 238. Sitzung, 25.11.1926; Stenographische Berichte Bd. 391, S. 8213. 18 Vgl. Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, bes. S. 107. 19 Zur Biographie vgl. „Ackerknecht, Erwin“, in: Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925–1980, hrsg. von Alexandra Habermann, Rainer Klemmt und Frauke Siefkes, Frankfurt am Main: Klostermann 1985, S. 2f; Erwin Ackerknecht 1880–1960, zusammengestellt von Helene Messin und KlausDietrich Hoffmann, Berlin: Deutscher Bibliotheksverband 1975.

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von lohnender Lektüre ernst nahm und der Entgrenzung des Schundverdikts entgegentrat – zumindest geht es dem Autor dieses Beitrags so. Dabei organisierte Ackerknecht, seit 1905 Bibliothekar an der Stadtbücherei Stettin und seit 1907 deren Leiter, selbst aktiv die lokale Bewegung gegen Schundliteratur und -filme.20 Doch aus der Perspektive des Volksbildners, dessen Hauptgeschäft nicht das Kritisieren, Verbieten und Vorenthalten sein konnte,21 erschienen ihm die (einflussreichen!) Urteile der Jugendschriftenausschüsse der Lehrerschaft22 unangemessen eng und in keiner Weise hilfreich – weder für den Büchereimann noch für seine jugendliche Klientel. Bereits 1914 setzte er sich mit diesem – wie es Ackerknecht erschien – ästhetischen Dogmatismus auseinander.23 Er kritisierte zum einen das starre Festhalten am von Heinrich Wolgast (1860–1920) 1896 formulierten Credo der Prüfungsausschüsse: „Die Jugendschrift in dichterischer Form muss ein Kunstwerk sein“.24 Zum anderen passte der strenge „Rationalismus“ im Kunstverständnis der Lehrer so gar nicht zu Ackerknechts Erfahrungen mit Lesern, ihren ästhetischen Wünschen und deren Entwicklung. Er sah die Breite und Bedeutung emotionaler Wirkungen von den Schundkämpfern total unterschätzt, gar abgelehnt.

20 Vgl. Maase, Die Kinder der Massenkultur, S. 94. 21 Zum professionellen Selbstverständnis im Sinne einer Seelsorge, die der Literatur wie dem Leser zu dienen habe, vgl. Erwin Ackerknecht: „Bibliothekarische Berufsgesinnung“ [1925], in: ders.: Aus der Werkstatt eines Volksbildners. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Stichnote 1950, S. 15–26. 22 Vgl. den Überblick bei Taiji Azegami: Die Jugendschriften-Warte. Von ihrer Gründung bis zu den Anfängen des „Dritten Reiches“ unter besonderer Berücksichtigung der Kinder- und Jugendliteraturbewertung und -beurteilung, Frankfurt am Main: Peter Lang 1996. 23 Vgl. Erwin Ackerknecht: „Jugendlektüre und deutsche Bildungsideale“, in: Büchereifragen. Aufsätze zur Bildungsaufgabe und Organisation der modernen Bücherei, hrsg. von E[rwin] Ackerknecht und G[ottlieb] Fritz, Berlin: Weidmann 1914, S. 54–70. Insofern erscheint es unglücklich, dass bei Kliche: „Art. ‚Kitsch‘“, S. 281, gerade Ackerknecht als Repräsentant des „volkspädagogischen Kampfes gegen den Kitsch“ angeführt wird. 24 Heinrich Wolgast: Das Elend unserer Jugendlitteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend, Hamburg: Selbstverlag 1896, S. 21.

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1917 übernahm er noch entschiedener die Perspektive jugendlicher Leserinnen und Leser mit der These, „dass der künstlerische Wert einer Erzählung – im Sinne des erwachsenen Kulturmenschen – nicht entscheidet über ihren Bildungswert für die kindliche Persönlichkeit“. 25 Gegen den Ausschluss großer Segmente der realen Kinder- und Jugendlektüre setzte Ackerknecht seine Überzeugung: Lediglich solche Erzählungen, die auf die niederen Instinkte eines normalen Kindes aufreizend wirken – bei den Jugendlichen kommt natürlich die Spekulation auf den erwachenden Geschlechtstrieb dazu – können als Schundliteratur gebrandmarkt werden. Die ästhetische Bewertung [...] hat mit dieser Entscheidung an sich nichts zu tun. [...] es gibt nur zwei wesentliche Einwände gegen die Geltung einer Jugendschrift, nämlich Langweiligkeit oder Gefühlsunreinheit, beides aber im Sinne des Kindes.26

Bezugspunkt war hier eine entwicklungspsychologische Perspektive; sie betraf zunächst die heranwachsenden Leser, für den Volksbildner Ackerknecht aber letztlich jeden und jede, der oder die in die Bibliothek kam und unterhaltenden Lesestoff wünschte. Aufgabe des Büchereimannes war für ihn, seine Klienten zur individuell weitest möglichen kulturellen Entfaltung anzuregen, und er wollte auf keine Literatur verzichten, die dabei helfen konnte – weder auf Abenteuerromane noch auf moralische Exempelgeschichten, weder auf Bearbeitungen von Klassikern noch auf historische Erzählungen, die geschichtliches Wissen versprachen.27

25 Erwin Ackerknecht: „Jugendbücherei“, in: ders.: Die öffentliche Bücherei. Sechs Abhandlungen, Berlin: Weidmann 1917, S. 76–95, hier: S. 81. 26 Ebd., S. 81 f. 27 In einer kleinen Schrift hat Ackerknecht sehr dezidiert sein Credo dargelegt, dass unter Bildungsgesichtspunkten schöne Literatur den Lesern mehr als nur Ästhetisches zu geben habe. „Gute Belletristik dient, abgesehen vom Kunstgenuss, zur Erweiterung unseres geistigen Gesichtskreises. Manchem hat sie schon geradezu geholfen, seine Schulbildung in beglückender Weise zu ergänzen. [... Der Leser] soll sich nicht beirren lassen von Ästheten, die ihn darob Bildungsphilister schelten. Jeder, der es zu wahrer Bildung gebracht hat, ist wenigstens vorübergehend [...] ein Bildungsphilister gewesen, auch jene erhabenen Nichtsals-Kunst-Kenner.“ Der „Lerntrieb“ könne vielmehr den Leser „davor bewah-

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1924 tauchte dann die Formulierung vom Kitsch als kulturellem Übergangswert auf,28 in einem Vortrag zu Film- und Kinofragen. Ackerknecht machte sich damit den trendigen Begriff aus aktuellen Debatten zu eigen und fasste darunter für seine Zwecke „alle Ergebnisse künstlerischer Bemühungen, die ästhetisch unzureichend, vom sittlichen Standpunkt aus jedoch einwandfrei sind.“29 So vereinte er in einer griffigen Kategorie all jene umstrittenen literarischen Genres und Macharten, die er keinem Menschen vorenthalten wollte – weil sie zu dessen kultureller (nicht notwendig ästhetischer!) Bildung beitragen konnten. Dahinter stand eine Melange aus romantischer Kulturkritik, idealistischem Bildungsdenken, zeitgenössischer Entwicklungspsychologie und den praktischen Erfahrungen eines engagierten Bibliothekars. 30 Den unhinterfragten Rahmen lieferte das unter ‚Gebildeten‘ weithin geteilte binäre Verständnis eines in Kunst und Nichtkunst geteilten ästhetischen Feldes, wobei Kunst im Wesentlichen nach den Standards klassischer Werke bestimmt

ren, selbst ein eifernder Ästhet, zu deutsch ein Formhuber zu werden. Denn er wird es an sich erfahren, dass gerade, wo das Herz am stärksten berührt wird, der Kopf am meisten mit der weltanschaulichen Verarbeitung des erzählten Stückes Leben zu tun hat.“ Erwin Ackerknecht: Die kleine Eigenbücherei, Stettin: Saunier 1924, S. 18. 28 1918 war bereits die Rede vom (Film-)Kitsch, den der Volkserzieher – im Unterschied zur „Entartungsform“ des Schundes – „als „(entwicklungsgeschichtliche) Übergangserscheinung“ betrachte; vgl. Erwin Ackerknecht: „Psychologie und Pädagogik des Lichtspiels“, in: ders., Das Lichtspiel im Dienste der Bildungspflege. Handbuch für Lichtspielreformer, Berlin: Weidmann 1918, S. 29– 98, hier: S. 68. 29 Erwin Ackerknecht: „Der Film als Kulturproblem“ [1924], in: ders.: Lichtspielfragen, Berlin: Weidmann 1928, S. 67–85, hier: S. 79. 30 Zur ideengeschichtlichen Verortung vgl. Peter Vodosek: „Annäherung an Ackerknecht“, in: Der Nachlass Erwin Ackerknecht. Ein Verzeichnis, bearb. von Fritz Leopold, Marbach: Schillergesellschaft 1995, S. 13–32, sowie Variationen über Erwin Ackerknecht , hrsg. von der Red. Buch und Bibliothek, Bad Honnef: Bock und Herchen 1981. Kritisch zu Ackerknechts Konservativismus dort Horst Ferber: „Sendung Leidenschaft Schicksal. Zum 100. Geburtstag Erwin Ackerknechts“, S. 69–79.

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wurde.31 Ackerknechts Innovation bestand nun darin, die Gleichsetzung von Kultur mit (großer) Kunst aufzulösen und kulturell positive Wirkungen auch Produkten und Gattungen (wie dem Film) zuzuschreiben, die nach seinen eigenen Maßstäben ästhetisch defizitär (gemessen an der echten, großen Kunst) waren. Deswegen wandte er sich gegen den Mainstream der Kritik und gegen das Argument, „dass man von einem belletristischen Erzeugnis kulturelle Wirkungen nur dann erwarten könne, wenn es ästhetisch vollwertig sei.“32 Ackerknecht sah im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende „,Rationalisierung des menschlichen Trieblebens‘“ am Werk. 33 Unter Berufung auf Ludwig Klages konstatierte er, dass auch die Pädagogik zunehmend Vernunft und Zweckdienlichkeit den Vorrang einräume gegenüber der Phantasie und den Gefühlen, die noch die deutschen Klassiker „als die eigentlich schöpferische Lebensmacht verehrten und hegten“. Diesen „undeutschen Nützlichkeitswahn“34 entdeckte er in den rigiden Urteilen der Jugendschriftenausschüsse, die mit dem Argument der Zerstörung des Sinns für Wirklichkeit und Wahrheit alle Literatur ablehnten, welche Kindern und Jugendlichen – durch Spannung, Heldentum oder emotionales Moralisieren – „starke Gemütserlebnisse“ verschaffte.35

31 Vgl. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt am Main: Fischer 1999, bes. S. 174–289. 32 Ackerknecht, „Der Film als Kulturproblem“, S. 78. 33 Ders., „Jugendlektüre und deutsche Bildungsideale“, S. 58. 34 Ebd., S. 62. Dieser Aufsatz ist der einzige unter den hier herangezogenen Schriften Ackerknechts mit einer explizit ‚nationalen‘ Argumentation. Für die Rationalisierung stand „Amerika“, und die Klage gipfelte in der Feststellung, bei weiterem Fortschreiten des Rationalisierungsprozesses werde man bald nicht mehr hoffen können, „dass am deutschen Wesen einst noch ‚die ganze Welt genesen‘ soll“ (S. 63). 35 Ebd., S. 63. Ungeachtet aller Kritik am Antirationalismus Klagesscher Provenienz ist festzustellen, dass unverkennbare Distanz zu Emotionen und Fiktionen die Argumentation der Schundkritiker prägte. Zur Angst vor entfesselter Einbildungskraft der Rezipienten vgl. Maase, Die Kinder der Massenkultur, S. 40 f., 265–267, 300–309.

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In den 1920er Jahren verallgemeinerte er diesen Ansatz zu einer Gegenwartsdiagnose, wonach die Balance von Vernunft und Gefühl „mehr denn je durch die Überspannung und Verfeinerung unserer rationalen und durch die Verkümmerung und Verwahrlosung unserer irrationalen Kräfte erschwert“ werde. Wenn „Kultur wirklich der Ausdruck eines wiedergewonnenen Einklanges der geistigen und seelischen Kräfte“36 sei, dann wirke „jede belletristische Kost kulturfördernd, die den menschlichen Hunger nach gefühlsmäßigem Erleben in gesunder Weise befriedigt.“37 So war es möglich, auch ästhetisch nicht Gelungenem einen kulturellen Wert, einen „Übergangswert“ zuzuschreiben. Typisierend unterschied Ackerknecht zwischen „künstlerischen“ und „vorkünstlerischen“ Rezipienten. Erstere bräuchten für die Wiedergewinnung der kulturellen Balance die Erhebung durch ästhetisch hochwertige Leistungen. Letztere würden jedoch auch durch einen „Kitschfilm“ „erhoben, von Furcht und Mitleid gereinigt.“ Für sie sei das Dargestellte „heiliger Ernst.“ „Phantasiekräfte, die unter dem Staub und Schutt des Alltags zu verkommen drohten, regen sich wieder in harmlosem Spiel.“ Mit den Anklängen an Aristoteles‘ Katharsis und Schillers „Spiel“ wird eine wirklich kräftige (und zu ihrer Zeit absolut gewagte) These vorbereitet: Ästhetisch Misslungenes (in diesem Fall ein Kitschfilm) könne „beim vorkünstlerischen Beschauer [...] die gleiche Wirkung [... haben], die beim künstlerischen Beschauer ein vollgültiges Kunstwerk erzielt hätte.“ 38 Die Ergebnisse seien „seelisch gleichwertig und in beiden Fällen kulturell positiv.“ 39 Das Trennungsgebot, seelisches Erleben von ästhetischer Bewertung zu entkoppeln, plausibilisierte Ackerknecht herausfordernd: Nicht nur gebe es unter den „sogenannten Gebildeten“ viele vorkünstlerische Menschen, die zwar den Kitsch von gestern identifizierten – weil es darüber schon ein anerkanntes Urteil gebe; den Kitsch der Gegenwart hielten solche Zeitgenossen aber immer wieder für vollgültige Kunst. Er setzte noch eins drauf mit der These, „dass sich selbst der künstlerisch Hochgebildete zuweilen, mehr

36 Ackerknecht, „Der Film als Kulturproblem“, S. 78; Hervorh. im Orig. 37 Ebd., S. 79. 38 Ebd., S. 81. 39 Ebd., S. 82.

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oder weniger bewusst, in die Sphäre des Kitscherlebnisses hinübergleiten lässt.“40 Die Spitzen gegen die ästhetische Urteilskraft der zeitgenössischen Kritik und ihrer treuen Anhänger zielten nicht auf eine Apologie des Kitsches. Vielmehr bekräftigte Ackerknecht das volksbildnerische Ziel, „das Aufnahmeorgan des vorkünstlerischen Beschauers so entwickeln zu helfen, dass er auf rein ästhetische Werte anspricht, zum mindesten die obere Grenze seiner Entwicklungsschicht erreicht.“41 Mittel dazu sei jedoch der Kitsch als „kultureller Übergangswert“. 42 Diesen Ansatz baute er im gleichnamigen Aufsatz von 1934 aus (der erst 1950 publiziert wurde). Darin schrieb er dem vorkünstlerischen Leser durchaus ein Bedürfnis nach Schönheit zu; allerdings spreche er auf „viel gröbere und äußerlichere Reize an“ als der ästhetisch Gebildete. Auch unterscheide er nicht klar zwischen moralischem und ästhetischem Eindruck, empfinde die Darstellung des Guten als schön.43 So sei der vorkünstlerische Leser „die biologische Entsprechung zum Kitschdichter“, 44 der ebenso empfinde (zumindest als Verfasser „redlichen“, „erlebten“ und nicht rein spekulativ-verlogenen Kitsches45). Dieser Lesertyp nun stelle den größten Teil der jugendlichen und einen großen Teil der erwachsenen Klientel der Volksbibliotheken.46 Der Volksbildner sei aber „allen Volksschichten ver-

40 Ebd. Hier wird eine kunstpsychologische Frage berührt, die Liebgunde Willkomm behandelt hat: Was Kritiker und in ihrem Gefolge Leser mit Bildungsanspruch an emotionalen Dimensionen in der eigenen Kunsterfahrung nicht zulassen können, wird theoretisch wie sozial als illegitim ausgegrenzt. Aus den Ergebnissen einer psychischen Verdrängung wird eine Eigenschaft des Textes konstruiert: sein Kitschcharakter. Vgl. Liebgunde Willkomm: Ästhetisch erleben. Eine psychologische Untersuchung des Übergangs von Kunsterleben und Kitscherleben; Hildesheim/New York: Olms 1981, hier: S. 33–36. 41 Ackerknecht, „Der Film als Kulturproblem“ [1934], S. 82 f. Wörtlich übernommen in: ders.: Der Kitsch als kultureller Übergangswert, Bremen: Verein Deutscher Volksbibliothekare 1950, S. 19. 42 Ackerknecht, „Der Film als Kulturproblem“, S. 83. 43 Ackerknecht, Der Kitsch als kultureller Übergangswert, S. 7 f. 44 Ebd., S. 8 45 Ebd., S. 15. 46 Ebd., S. 8.

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pflichtet, in denen gesunde geistige Entwicklungskräfte vorhanden sind“,47 und er müsse zur notwendigen „Geschmacksbildung weiter Kreise“ 48 deren „Recht auf die ihnen gemäßen künstlerischen Erlebnisse“ durch das Angebot entsprechender Literatur genügen.49 Schließlich liefere das Kitscherlebnis „für ein gewisses Entwicklungsstadium des geistigen Lebens unersetzliche Nährstoffe“.50 Ackerknecht hielt daran fest, dass dieses Erleben „kunstgleiche Wirkungen“ und somit praktisch dasselbe Ergebnis habe wie der Genuss großer Werke durch ästhetisch voll gebildete Leser; 51 um die Distanz zur „reine[n], hohe[n], bleibende[n] Dichtung“ nicht einzuebnen, könne man das Kitscherlebnis ja „kunstoid“ nennen.52

Abbildung 1: Einteilung der Belletristik nach Ackerknecht. Quelle: Erwin Ackerknecht: Der Kitsch als kultureller Übergangswert, Bremen 1950, S. 9.

47 Ebd., S. 19. Neben diesen „normalen“ existierten für Ackerknecht „kranke und krankhafte Leser“, die auch aus der besten Literatur pathologisches oder kriminelles Handeln ableiteten (S. 7). 48 Ebd., S. 11. 49 Ebd., S. 19. 50 Ebd., S. 18. 51 Nämlich „Erfrischung der Vorstellungskraft, Lösung der durch die Zwangsläufigkeit des Zweckdenkens bewirkten Verkrampfung, Erhebung über den Alltag, seelisches Aufatmen“ (Ebd., S. 11). 52 Ebd.

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Aus dieser Argumentation entwickelte Ackerknecht eine systematische Einteilung des literarischen Feldes. Es bestand grundlegend aus zwei Segmenten: Kunst und „Unkunst“ (Grafik III). Zugespitzt formuliert: Die ästhetische Ordnung blieb binär; sie war aber nicht manichäisch wie bei vielen Zeitgenossen, die Unkunst als Gefahr für die Kunst oder gar als deren bösen Feind verstanden; so etwa Hermann Broch mit der Formulierung vom Kitsch als dem Bösen im Wertesystem der Kunst. 53 Innerhalb der Unkunst unterschied Ackerknecht hierarchisch Kitsch von Schund, die „dichterisch nicht vollwertige aber moralisch einwandfreie“ von der „dichterisch und moralisch minderwertige[n] Schönliteratur“54 (Grafik I). „[D]ichterisch nicht vollwertig“ ist etwas anderes als „dichterisch minderwertig“; damit wird kitschiger Belletristik eben doch ein gewisser, wenn auch deutlich begrenzter künstlerischer Wert zugestanden. Das heißt, Ackerknecht lockert hier das binäre ästhetische Modell auf – noch über die Zuschreibung eines kulturellen, bildenden Werts hinaus. Das weist dann doch in die Richtung einer begrenzten Legitimierung von „Unkunst“. Eine zusätzliche Differenzierung ist zu erwähnen. Aus moralischer Sicht gebe es auch einen problematischen Bereich im Kunstsegment, der „trotz seiner dichterischen Vollwertigkeit auf den normalen vorkünstlerischen Leser (nicht nur auf den krankhaften Leser) Schundwirkungen auszuüben vermag“55 (Grafik II und I). Hier war wohl vor allem an Erotisches gedacht. Ackerknechts kunstpsychologische Überlegungen lesen sich eher grobschlächtig, nicht auf der Höhe der zeitgenössischen Debatte. Vor dem Hintergrund der normativen Ästhetik der Schundkämpfer allerdings wirken zwei Gedanken auf den heutigen Leser geradezu erleichternd. Gegen kognitionstheoretisch naiv realistische (und faktisch oft ideologische) Vorstellungen, die sich im Anspruch auf Entwicklung des „Wirklichkeitssinns“ durch gute Literatur und in der Angst vor dessen Zerstörung durch schundige Texte geltend machten, setzte Ackerknecht: Kunst bilde nicht Tatsächlichkeit ab – sie schaffe vielmehr Wirklichkeit (wir dürfen ergänzen: ihre eigene, fiktive Wirklichkeit). Ob dazu realistische ästhetische Mittel eingesetzt würden, sei zweitrangig. „So entscheidet also keinesfalls die ‚Richtig-

53 Vgl. Friedrich, „Hausgreuel – Massenschund – radikal Böses“, S. 43–46. 54 Ackerknecht, Der Kitsch als kultureller Übergangswert, S. 8; Hervorh. im Orig. 55 Ebd., S. 10.

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keit‘ über den künstlerischen Wert einer Dichtung.“ Der Preis dieser Klarstellung bestand allerdings darin, scheinbar einfache Kriterien wie „Verlogenheit“ für den Kitsch zu ersetzen durch die Kompetenz „intuitiver Gestaltwahrnehmung“,56 was gewiss nicht aus dem Sumpf willkürlicher Geschmacksurteile hinausführte.

D AS D REIEBENENMODELL IM K ONTEXT Das Konzept vom Kitsch als Übergangswert hat kaum positive Resonanz gefunden. Einer der wenigen, der sich überhaupt öffentlich darauf bezog, war Wilhelm Fronemann (1880-1954), der durch völkische Rhetorik in der Weimarer Republik sowie Anbiederung beim NS-Regime und in der sowjetischen Besatzungszone nach 194557 versuchte, eine führende Rolle in der Jugendschriftenbewegung und im Antischundkampf zu erringen. 1927 definierte er „untergeistiges Schrifttum“ und kommentierte auch ein Segment davon, das nach seiner Meinung sieben Achtel der „Tagesliteratur“ ausmachte und in Zeitungen und Familienzeitschriften blühte. Als Beispiele nannte er die (an ein weibliches Publikum adressierte) Heftserie Romanperlen, Hedwig Courths-Mahler sowie Ludwig Ganghofer und Rudolf Herzog. Diese Literatur wollte er in ausdrücklicher Abgrenzung zu Ackerknecht nicht als Kitsch bezeichnet sehen; Kitsch sei jene „Kunst [...], die durch süßliche und eine gewisse glatte Formgebung dem Massengeschmack“ entgegenkomme und literarisch meist über den Genannten rangiere. Man solle vielmehr „alles [...], was für die große Kunst ohne Belang ist und nur der leichten geistigen Beschäftigung, dem geistigen Müßiggang dient“, aber doch einen „geistigen Untergrund“ aufweise, als „Unterhaltungs-Literatur“ bezeichnen.58 Auf dieses Stichwort kommen wir noch zurück.

56 Ackerknecht, Der Kitsch als kultureller Übergangswert, S. 15. 57 Vgl. Erich Heinemann: „,Karl May paßt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge‘. Der Kampf des Lehrers Wilhelm Fronemann“, http://www.karlmay-gesellschaft.de/kmg/seklit/jbkmg/1982/234.htm [15.9.2014]. 58 Wilhelm Fronemann: Das Erbe Wolgasts. Ein Querschnitt durch die heutige Jugendschriftenfrage, Langensalza: Beltz 1927, S. 148. Insgesamt sah Fronemann vier Stufen: Pornographie – Schund („unterwertige Literatur“) – Unliterarische Unterhaltungsliteratur – Kunst („Dichtung“); ebd., S. 147–149.

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Abgesehen von seiner Vortragstätigkeit konnte Ackerknecht sein Kitsch-Konzept nur in wenigen Publikationen präsentieren. Der Aufsatz, in dem er es 1934 systematisiert zusammenfasste, kursierte im Entstehungsjahr als Manuskript im „engsten Freundeskreis“ und erschien erst 1950. 59 Nach dem Zweiten Weltkrieg war der unveränderte Ansatz, der geistig in Debatten der wilhelminischen Zeit wurzelte, 60 offenbar nicht mehr anschlussfähig. Nur als Schlagwort tauchte die Formel vom „Kitsch als Übergangswert“ noch in literaturpädagogischen Zusammenhängen auf. Die Grundrichtung von Ackerknechts Argumentation jedoch – der volksbibliothekarische, letztlich kulturdemokratische Anspruch, allen potenziellen Lesern gerecht zu werden; die pragmatische Bereitschaft, die Nutzerperspektive auch in ästhetischen Fragen ernst zu nehmen; die Abwehr des literarischen Dogmatismus bei der Bestimmung (un)geeigneter Lesestoffe; die Anerkennung der ästhetischen Erfahrungen normaler, nicht ‚gebildeter‘ Rezipienten als dem herkömmlichen Kunstgenuss gleichgeartete und gleichwertige kulturelle Leistung; schließlich die in all dem liegende Tendenz, die binäre Entgegensetzung von Kunst und Unkunst aufzuweichen und den als Kitsch oder Unterhaltung etikettierten Genres einen positiven Wert zuzuschreiben – findet sich spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in bürgerlich-gebildeten Debatten über den geeigneten Umgang mit der neuen kommerziellen Massenkultur. Zu diesem Kontext abschließend einige Hinweise. Als erstes ist die Bücherhallenbewegung zu nennen, die das Modell der Volksbibliotheken aus dem 19. Jahrhundert modernisierte für die sich demokratisierende und ästhetisch pluralisierende Massengesellschaft. 61 So enthielt die programmatische Positionsbestimmung, die der Essener Stadtbibliothekar Eugen Sulz (1884-1965) 1914 in Auseinandersetzung mit der

59 Ackerknecht, Der Kitsch als kultureller Übergangswert, S. 2. 60 Selbst die Grafiken zur Struktur des literarischen Feldes finden sich bereits in der Studie zur „Psychologie und Pädagogik des Lichtspiels“ von 1918, in: Ackerknecht, Das Lichtspiel im Dienste der Bildungspflege, hier: S. 66. 61 Vgl. zum Überblick Wolfgang Thauer und Peter Vodosek: Geschichte der öffentlichen Bücherei in Deutschland, 2. erw. Aufl., Wiesbaden: Harrassowitz 1990, Kap. 4 und 5; Die Bücherhallenbewegung, hrsg. von Wolfgang Thauer, Wiesbaden: Harrassowitz 1970.

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sogenannten „Leipziger Richtung“62 um Walter Hofmann (1879-1952) und Robert von Erdberg (1866-1929) vornahm, viele Ansätze, die zu Ackerknechts „Übergangs“konzept hinführen. Gegen den Leipziger Grundsatz, ästhetische Erziehung auf die strebsame Elite der für echte Kunst Empfänglichen im (nicht gebildeten) Volk zu konzentrieren, leitete Sulz die Aufgabe der Volksbibliotheken aus dem „immer stärker zum Licht drängenden geistigen Kulturbedürfnis der menschlichen Gesellschaft“ ab.63 Dieses Verlangen sei in allen seinen Erscheinungsformen zu befriedigen, und die Frage nach der Qualität der Lektüre habe jede Bibliothek jeweils konkret „in Hinsicht auf die von ihr zu versorgenden Gesellschaftsschichten“ zu bestimmen.64 Zugespitzt: Was zur Weckung und Befriedigung der „nach oben strebenden“,65 also unter Bildungsaspekten legitimen Bedürfnisse der Leser diene, könne aus diesem Grund keine ganz schlechte Literatur sein. Um entsprechende Texte auszuwählen, sei eine induktive „Arbeitsmethode ‚von unten herauf‘ (Fechner)“66 angebracht. Statt kulturellen Hochmut und „rationalistische Überschätzung der Naturwahrheit“ zu kultivieren, sollten die Gebildeten den „an Intelligenz, ererbter Kultur oder gar nur übriger Zeit ärmeren Mitbürgern [...] zugestehen, einem jeglichen in seiner Art, was wir selbst von der Literatur erstreben, Erhebung unserer Seele und Erhöhung unserer Phantasie in eine andere, bessere oder zum mindesten interessantere Welt.“67 Wenn sie das leiste, habe auch „verpönte Literatur“ unzweifelhaft einen „relativen Wert“.68

62 Vgl. Tibor Süle: Bücherei und Ideologie. Politische Aspekte im „Richtungsstreit“ deutscher Volksbibliothekare, Köln: Greven 1972. 63 E[ugen] Sulz: „Fortschritt und Reaktion in der Deutschen Bücherhallenbewegung“, in: Ackerknecht/Fritz, Büchereifragen, S. 1–22, hier: S. 3. 64 Ebd., S. 4. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 5. Sulz bezieht sich auf die Grundlegung einer empirischen Ästhetik in Gustav Theodor Fechners Vorschule der Ästhetik, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1876. 67 Sulz, „Fortschritt und Reaktion in der Deutschen Bücherhallenbewegung“, S. 13. 68 Ebd., S. 8.

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Impulse zur Abmilderung des Gegensatzes zwischen (großer!) Kunst und Unkunst entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit pädagogischen Konzepten „guter Volkskunst“69 – ohne das binäre Muster wirklich aufzubrechen. Neue Überlegungen wurden dann vor dem Ersten Weltkrieg aus anderen Motiven vorgebracht. Sie gründeten in der Erfahrung des bürgerlichen Publikums, dass Ansprüche, Belastungen (und Attraktionen!) des modernen (Erwerbs- und Berufs-)Lebens mit den Ansprüchen der großen Kunst auf konzentrierte und intensive Zuwendung oft schwer zu vereinbaren waren. Aus diesen Kreisen kam der Wunsch nach „Leichtem zum Lesen für anspruchsvollere Leute“.70 Präziser ist vermutlich: der Wunsch nach kultureller Anerkennung oder wenigstens Legitimität unterhaltsamer Lektüre – die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohnehin bereits die Lesepraxis des Bürgertums wie der Oberschichten bestimmte und auch im Bildungsbürgertum genossen wurde.71 Da hatte es Gewicht, wenn gerade der Dürerbund als einflussreiche lebensreformerische Gebildetenorganisation dieses Bedürfnis aufnahm und praktisch mit einer Leseliste beantwortete. Deren Balancieren zwischen dem gar zu Anstrengenden und dem Allzuleichten wäre genauerer Analyse wert. Hier sollen nur die wichtigsten Lesererwartungen genannt werden, die die Ratgeber des Dürerbunds positiv aufnahmen: „Spannung, Handlung“; „feine Literatur, bald prickelnd, bald behaglich und humorvoll, bald wehmütig und voll leisen Ernstes; sie fordert keine allzu starke Konzentration, unterhält, reinigt das Gemüt“; „starke Anspannung der Phantasie. Abenteuer und Seltsamkeiten“; „[d]erbkomisch oder wenigstens lustig und dabei ästhetisch befriedigend“; „gediegene, ehrenhafte Volksliteratur, die ohne ‚hö-

69 Vgl. Kaspar Maase: „Art. ‚Volkspädagogik‘“, in: Handbuch Populäre Kultur, hrsg. von Hans-Otto Hügel, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 502–505; Klaus Müller-Salget: Erzählungen für das Volk. Evangelische Pfarrer als Volksschriftsteller im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt 1984. 70 Vgl. Leichtes zum Lesen für anspruchsvollere Leute (Eine erste Lese), 103. Flugschrift zur Ausdruckskultur, hrsg. vom Dürerbund, München: Callwey 1912. 71 Vgl. Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914), Wiesbaden: Harrassowitz 1990; Yoshiko Yamanouchi: Bürgerliche Lesekultur im 19. Jahrhundert. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel Wiens, Wien: WUV 1998.

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here Bildung‘ verständlich ist“, „ohne tiefe und verwickelte Feinheiten“, „Stoff für alltägliche Erholung“; „eine gewisse Kunst der Darstellung“, „sich ganz dem Dichter hingeben“.72 Beide Forderungen, die kulturdemokratische der Vermittlungsberufe und die nach autoritativer Anerkennung einer ebenso verbreiteten wie umstrittenen bürgerlichen Praxis, trugen bei zum millimeterweisen Abtragen der zwischen Kunst und Schund, Kanon und Antikunst errichteten Mauer. Diese alltagsnahe Entwicklung stand lange im Schatten lautstarker Polemiken gegen Kitsch, Schund, Leihbibliotheken, Unterhaltungs- und Asphaltliteratur, mit denen nicht zuletzt konservative Volksbibliothekare hervortraten. Deren große Stunde schlug nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die eine Welle chaotisch-willkürlicher Bibliotheks-„Säuberungen“ freisetzte und zur Gleichschaltung der Leihbibliotheken führte. Die „Reinigungs“-Aktionen hielten mehrere Jahre an, und dabei gerieten neben den politischen auch alle ästhetischen Feinde ins Visier, von der Backfischgeschichte bis zur „bloßen Unterhaltungsliteratur“.73 Dessen ungeachtet war die Anerkennung des unanstößig Unterhaltenden nicht zu verhindern. Firmierte bei Ackerknecht der Kitsch noch als Subkategorie der Nichtkunst, so positionierten andere ein damit weitgehend inhaltsgleiches Segment der künstlerischen Produktion (nach Meinung schon der Zeitgenossen das mit Abstand umfänglichste) bereits als Unterhaltung(sliteratur) zwischen Kunst und Schund – unausgesprochen, aber in den konkret formulierten Wertungen doch deutlich näher zur Kunst als zum weiterhin dämonisierten Schund. Wir sahen das beim radikalen Schundkämpfer Fronemann in der zweiten Hälfte der 1920er. Es findet sich aber bereits voll ausgebildet zehn Jahre früher beim erwähnten Robert von Erdberg. Er gehörte zur „Neuen Richtung“ der Erwachsenenbildung, die bildungsorientierte Gruppen der Arbei-

72 Leichtes zum Lesen für anspruchsvollere Leute, S. 1, 3 f. 73 Vgl. Jutta Sywottek: „Die Gleichschaltung der deutschen Volksbüchereien 1933 bis 1937“, Archiv für Geschichte des Buchwesens 24 (1983), Sp. 385–536, insbes. Sp. 435–449, hier: Sp. 447. Vgl. weiter Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Teil I, hrsg. von Peter Vodosek und Manfred Komorowski, Wiesbaden: Harrassowitz 1989; Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, überarb. u. akt. Ausg., München: dtv 1995, S. 115–148.

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terschaft zu einer neuen Elite aus dem Volk formen wollte. Erdberg proklamierte eine klare Teilung in drei Ebenen: Kunstwerk, Unterhaltungsliteratur, Schundliteratur. Kunst entstehe aus dem inneren Erleben eines Dichters. „Der Kreis dieser Bücher ist eng. Er umschließt die Werke, die jedermann gelesen haben sollte, die aber nur die wenigsten gelesen haben.“74 Unterhaltungsliteratur sei das Werk von Schriftstellern und vermittle kein inneres Erlebnis. Ihre Autoren sollten das Leben kennen und es nicht verzerren sowie – ohne Anspruch auf künstlerische Originalität – ihr Handwerk und die Sprache beherrschen, nicht Verflachung und Abstumpfung fördern. Dann gelte: „Das sind die Bücher, zu denen der ernste Mensch nicht gerade hastig greift, die aber ihre Berechtigung haben und die in den breiten Schichten des Volkes so beliebt sind, weil sie ihnen auch das Leben zeigen, das sie nicht kennen.“75 Deshalb könne die „beste Unterhaltungsliteratur“ auch als Mittel eingesetzt werden, um Schund zu verdrängen.76 Das Wesen der Schundliteratur hingegen sei Verzerrung des Lebens, dessen Darstellung vom „Schundfabrikanten“ im Gegensatz zum „ehrlichen Schriftsteller“ mit Sensationen und Attraktionen aufgeblasen werde, um Geld zu verdienen.77 Allerdings unterschied Erdberg zwischen einer „beklagenswerten“ Literatur, die man als unerfreuliche Kulturentwicklung hinnehmen müsse, und einer „gemeingefährlichen“, die zur „Vertierung des Menschen“ führe und deshalb mit Gesetz und Polizei zu bekämpfen sei.78 Erdberg trat als „Sachverständiger“ auf, der mit objektivem Maßstab eindeutige Scheidelinien zwischen den literarischen „Stufen“ zog. Wichtig war die zwischen den beiden Schundebenen, insofern hier die Grenze zwischen dem kulturell Bedauerlichen und dem sozial Gefährlichen (deshalb zu Verbietenden) markiert wurde. Im Unterschied zum Schund gestand Erdberg der Unterhaltungsliteratur eine gewisse Berechtigung zu, jedoch eindeutig keinen Kunstcharakter. Das erinnert an Ackerknecht, der Kitsch als ästhetisch defizitär, aber mit positivem kulturellem Wirkungspotenzial

74 R[obert] von Erdberg: „Schundliteratur“, Volksbildungsarchiv 5 (1917), S. 27– 32, hier: S. 28. 75 Ebd., S. 30. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 29. 78 Ebd., S. 30.

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beschrieb. Damit näherte er die ‚mittlere Ebene‘ insgesamt der Kunst etwas entschiedener an als Erdberg, der aber auch das dichotomische Modell unwiderruflich überwand.79 So wirkten beide mit an jener Verschiebung zu einem Dreiebenenmodell des literarischen Raums, das zwischen der eindeutigen Kunst und ihrem eindeutigen Gegenpol (Schund, später Trivialliteratur) eine mittlere Etage vorsah, die nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist als Unterhaltungsliteratur bezeichnet wurde.80 In diesem Kontext erscheint Ackerknechts Vorschlag keineswegs mehr isoliert und ohne Wirkung.

L ITERATUR „Ackerknecht, Erwin“, in: Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925-1980, hrsg. von Alexandra Habermann, Rainer Klemmt und Frauke Siefkes, Frankfurt am Main: Klostermann 1985, S. 2 f. Ackerknecht, Erwin: „Jugendlektüre und deutsche Bildungsideale“, in: Büchereifragen, hrsg. von E. Ackerknecht/G. Fritz, S. 54-70.

79 Erdbergs Argumentation überrascht angesichts seiner Positionierung im Richtungsstreit der Volksbibliothekare, wie auch die Ackerknechts im Gesamt seiner konservativ-kulturkritischen Anschauungen (vgl. Anm. 30, 34); beides bedarf weiterer Klärung. Verbindend wirkte jedenfalls, so Dieter Langewiesche, „das gemeinsame Ziel, die Volksbibliotheken angesichts der als Bedrohung empfundenen, politisch zerklüfteten ‚Massengesellschaft‘ in den Kampf der ‚freien Erwachsenenbildung‘ um die Neuschöpfung der ‚Volksgemeinschaft‘ einzureihen“ (Dieter Langewiesche: „Erwachsenenbildung“, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1918–1945, hrsg. von Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth, München: C. H. Beck 1989, S. 337–370, hier: S. 344). 80 Vgl. den Überblick über die wissenschaftliche Debatte zur Mitte der 60er-Jahre bei Hans Friedrich Foltin: „Die minderwertige Prosaliteratur. Einteilungen und Bezeichnungen“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965), S. 288–323, bes. S. 292–305, sowie Peter Nusser: „Unterhaltungsliteratur“, in: Fischer Lexikon Literatur, Band 3, hrsg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt am Main: S. Fischer 1996, S. 1906–1930, hier: S. 1907.

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Ackerknecht, Erwin: „Jugendbücherei“, in: ders., Die öffentliche Bücherei. Sechs Abhandlungen, Berlin: Weidmann 1917, S. 76-95. Ackerknecht, Erwin: Das Lichtspiel im Dienste der Bildungspflege. Handbuch für Lichtspielreformer, Berlin: Weidmann 1918. Ackerknecht, Erwin: Die kleine Eigenbücherei, Stettin: Saunier 1924. Ackerknecht, Erwin: „Der Film als Kulturproblem“ [1924], in: Ders.: Lichtspielfragen, Berlin: Weidmann 1928, S. 67-85. Ackerknecht, Erwin: „Bibliothekarische Berufsgesinnung“ (1925), in: Ders.: Aus der Werkstatt eines Volksbildners. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Stichnote 1950, S. 15-26. Ackerknecht, Erwin: Der Kitsch als kultureller Übergangswert, Bremen: Verein Deutscher Volksbibliothekare 1950 [1934]. Avenarius, Ferdinand: „Hausgreuel“, Kunstwart 22, 4 (1908), S. 209-213, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunstwart22_1/0261?sid=b373be cf82fe484f5fdc2cf9f484d7ff [15.9.2014]. Azegami, Taiji: Die Jugendschriften-Warte. Von ihrer Gründung bis zu den Anfängen des „Dritten Reiches“ unter besonderer Berücksichtigung der Kinder- und Jugendliteraturbewertung und -beurteilung, Frankfurt am Main: Peter Lang 1996. Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, überarb. u. akt. Ausg., München: dtv 1995, S. 115-148. Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992. Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Teil I, hrsg. von Peter Vodosek und Manfred Komorowski, Wiesbaden: Harrassowitz 1989. Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt am Main: S. Fischer 1999. Büchereifragen. Aufsätze zur Bildungsaufgabe und Organisation der modernen Bücherei, hrsg. von Erwin Ackerknecht und Gottlieb Fritz, Berlin: Weidmann 1914. Bürger, Christa u. a.: Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. „Das Museum der Armen“, in: Die Hochwacht 4 (1913/14), S. 196 f.

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Dettmar, Ute: „Der Kampf gegen ‚Schmutz und Schund‘“, in: Die Kinderund Jugendliteratur in der Zeit der Weimarer Republik, hrsg. von Norbert Hopster, Bd. 2, Frankfurt am Main: Peter Lang 2012, S. 565586. Die Bücherhallenbewegung, hrsg. von Wolfgang Thauer, Wiesbaden: Harrassowitz 1970. Erdberg, R[obert] von: „Schundliteratur“, Volksbildungsarchiv 5 (1917), S. 27-32. Erwin Ackerknecht 1880-1960, zusammengestellt von Helene Messin und Klaus-Dietrich Hoffmann, Berlin: Deutscher Bibliotheksverband 1975. Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der Ästhetik, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1876. Ferber, Horst: „Sendung Leidenschaft Schicksal. Zum 100. Geburtstag Erwin Ackerknechts“, in: Variationen über Erwin Ackerknecht, hrsg. von der Red. Buch und Bibliothek, Bad Honnef: Bock und Herchen 1981, S. 69-79 (auch unter URL http://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_ Ackerknecht [11.9.2014]). Foltin, Hans Friedrich: „Die minderwertige Prosaliteratur. Einteilungen und Bezeichnungen“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965), S. 288-323. Friedrich, Hans-Edwin: „Hausgreuel – Massenschund – radikal Böses. Die Karriere des Kitschbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, in: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, hrsg. von Wolfgang Braungart, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 3558. Fronemann, Wilhelm: Das Erbe Wolgasts. Ein Querschnitt durch die heutige Jugendschriftenfrage, Langensalza: Beltz 1927. Hecken, Thomas: Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies, Bielefeld: transcript 2007. Heinemann, Erich: „,Karl May paßt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge‘. Der Kampf des Lehrers Wilhelm Fronemann“, http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/seklit/jbkmg/1982/234.htm [2.5.2014]. Jutta Sywottek: „Die Gleichschaltung der deutschen Volksbüchereien 1933 bis 1937“, Archiv für Geschichte des Buchwesens 24 (1983), Sp. 385536.

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Karpfen, Fritz: Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Hamburg: Weltbund 1925. Kliche, Dieter: „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 3: Harmonie-Material, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 272-288. Kratzsch, Gerhard: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969. Kreuzer, Helmut: „Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), S. 173-191. Langewiesche, Dieter: „Erwachsenenbildung“, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V: 1918-1945, hrsg. von Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth, München: C. H. Beck 1989, S. 337-370. Leichtes zum Lesen für anspruchsvollere Leute (Eine erste Lese), 103. Flugschrift zur Ausdruckskultur, hrsg. vom Dürerbund, München: Callwey 1912. Maase, Kaspar: „Volkspädagogik“, in: Handbuch Populäre Kultur, hrsg. von Hans-Otto Hügel, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 502-505. Maase, Kaspar: Die Kinder der Massenkultur. Auseinandersetzungen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt am Main/New York: Campus 2012. Martino, Alberto: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914), Wiesbaden: Harrassowitz 1990. Müller-Salget, Klaus: Erzählungen für das Volk. Evangelische Pfarrer als Volksschriftsteller im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt 1984. Nusser, Peter: „Unterhaltungsliteratur“, in: Fischer Lexikon Literatur, Band 3, hrsg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt am Main: S. Fischer 1996, S. 1906-1930. Pazaurek, Gustav E.: „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ [1912], in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 116-128. Süle, Tibor: Bücherei und Ideologie. Politische Aspekte im „Richtungsstreit“ deutscher Volksbibliothekare, Köln: Greven 1972.

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Sulz, Eugen: „Fortschritt und Reaktion in der Deutschen Bücherhallenbewegung“, in: Ackerknecht/Fritz, Büchereifragen, S. 1-22. Thauer, Wolfgang/Peter Vodosek: Geschichte der öffentlichen Bücherei in Deutschland, 2. erw. Aufl., Wiesbaden: Harrassowitz 1990. Verhandlungen des Reichstags. 3. Wahlperiode 1924, Stenographische Berichte, Bd. 391. Vodosek, Peter: „Annäherung an Ackerknecht“, in: Der Nachlass Erwin Ackerknecht. Ein Verzeichnis, bearb. von Fritz Leopold, Marbach: Schillergesellschaft 1995, S. 13-32. Willkomm, Liebgunde: Ästhetisch erleben. Eine psychologische Untersuchung des Übergangs von Kunsterleben und Kitscherleben, Hildesheim/New York: Olms 1981. Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendlitteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend, Hamburg: Selbstverlag 1896. Yamanouchi, Yoshiko: Bürgerliche Lesekultur im 19. Jahrhundert. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel Wiens, Wien: WUV 1998.

„In seiner Kitschigkeit und Verlogenheit nicht mehr zu überbieten“ Zum Österreich-Kitsch in Elfriede Jelineks Posse Burgtheater N ORBERT C HRISTIAN W OLF

Es fällt nicht schwer, ubiquitäre Beispiele für kitschige Österreich-Imagines zu nennen. Der vorliegende Beitrag widmet sich deshalb nicht diesen selbst, sondern der Auseinandersetzung damit aus einer künstlerischen und zugleich dezidiert kritischen Perspektive. Elfriede Jelinek, die Büchnerund Nobelpreisträgerin, gilt gemeinhin als vehementeste Gegnerin des landläufigen Österreich-Kitsches. Sie verbindet ihre ästhetisch inszenierte Polemik auf programmatische Weise mit einem emanzipatorischen politischen Anspruch, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Legion sind ihre einschlägigen Äußerungen gegenüber der in- und ausländischen Qualitätspresse, bevorzugt in außerösterreichischen Tageszeitungen wie Libération, La Repubblica, Frankfurter Rundschau oder Le Monde,1 in denen die populärkulturell mit Österreich verbundenen Klischees wie Lipizzaner, Sachertorte und Apfelstrudel mit einer gewissen Regelmäßigkeit, ja offenkundi-

1

Vgl. Pia Janke unter Mitarbeit von Verena Humer, Teresa Kovacs u. Christian Schenkermayr: Elfriede Jelinek: Werk und Rezeption, Tl. 1, Wien: Praesens 2014 (= Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Bd. 10), S. 403–431.

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gen Fixiertheit einer ideologiekritischen Entlarvung unterzogen werden.2 Die Kritik mutet mittlerweile fast schon selbst phrasenhaft an, oder besser: Sie reflektiert in ihrer ästhetischen Verfahrensweise mittels einer provokativen Mimikry ostentativ Charakteristika ihres Gegenstands. Insgesamt ist hier sowohl in der Affirmation als auch in der Negation eine jener Nationalisierungen des Kitsches am Werk, nach denen der vorliegende Band fragt, ohne aber primär von außen vorgenommen bzw. zugeschrieben zu werden – obwohl die Autorin ihre österreichkritischen Abrechnungen auch im Ausland publiziert. Will man sich der dabei gestellten Kitsch-Diagnose und ihren durchaus auch normativ-moralischen Implikationen phänomenologisch bzw. mit einem literaturwissenschaftlichen Instrumentarium nähern, gerät man schnell an methodologische Grenzen, wie ein Blick in die einschlägigen Handbücher zeigt; so definiert das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft „Kitsch“ als „[n]egativ wertende[n] Begriff“, der „meist als Oppositionsbegriff zu ‚Kunst‘ intuitiv verwendet“ werde,3 und verzeichnet als Explikation eher resignativ: Obwohl die Bewertung spezifischer Artefakte als Kitsch (Gartenzwerge, Kunstrepliken als Souvenirs u.ä.) meist unstrittig ist, bildet die Bezeichnung ein konstantes Problem für die literarische Wertung und die moderne Ästhetik, wo der Begriff Komponenten der mangelnden Originalität, der Nichtauthentizität, des einen künstlerischen Wert Prätendierenden und unkontrollierten SENTIMENTALEN sowie der sozialen Distinktion (Bescheinigung eines minderen Geschmacks) verbindet. Alle Versuche einer intensionalen Bestimmung sind bislang gescheitert.4

Da an dieser Stelle auch die Definitionsvorschläge des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik so-

2

Pars pro toto für die ebd. verzeichneten Essays: Elfriede Jelinek: „Wir Herren der Toten“, in: O Österreich!, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, Göttingen: Wallstein 1995 (= Göttinger Sudelblätter), S. 7–9, bes. S. 7.

3

Hans-Edwin Friedrich: „Kitsch“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2: H–O, hrsg. von Harald Fricke, Berlin/New York: de Gruyter ³2000, S. 263– 266, hier: S. 263.

4

Ebd.

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UND

V ERLOGENHEIT

NICHT MEHR ZU ÜBERBIETEN “

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wie des Lexikons Ästhetische Grundbegriffe kaum weiterhelfen, empfiehlt sich ein Blick auf die Begriffsverwendung durch andere Schriftsteller. Für Jelineks wohl nicht nur intuitiven Wortgebrauch, auf den ich noch zu sprechen kommen werde, ist dabei weniger Hermann Brochs bekannter Versuch einer philosophisch-normativen Systematisierung des protoästhetischen Phänomens5 erhellend und nur mittelbar Walter Benjamins äußerst anregende und zukunftsweisende, weil auf ein ‚kollektives Unbewusstes‘ verweisende geschichtsphilosophische Konzeption,6 sondern allererst Robert Musils durchaus eigentümliche Definition des Kitsches als „formelhafte Verkürzung des Gefühls“ aus dem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925).7 In einer überraschenden Analogie zur seinerzeit allgemein beklagten lebensfernen Schwundform abstrakten Denkens wird ‚Kitsch‘ dort als eingeschliffene und defizitäre Erscheinungs- bzw. Darstellungsform von Emotionen bestimmt.8 Stereotypie und Defizienz von Denken und Fühlen kennzeichnen auch Jelineks literarische Figuren, die nicht nur in ihren Dramen durch Verzerrung ins Groteske ‚zur Kenntlichkeit entstellt‘ erscheinen, um es mit dem von Jelinek geschätzten Karl Kraus zu formulieren. Die Autorin selbst hat dies 1984 in einer kurzen Erläuterung ihrer dramaturgischen Prämissen, die den bezeichnenden Titel Ich schlage sozusagen mit der Axt drein trägt, medienkomparatistisch mit den Besonderheiten des Theaters begründet: Wenn ich Theaterstücke schreibe, dann bemühe ich mich nicht, psychologisch agierende Personen auf die Bühne zu stellen. Das soll, meine ich, dem Film vorbehalten

5

Vgl. Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/2: Schriften zur Literatur 2. Theorie, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 89–173, bes. S. 95, 123 und 147–156.

6

Vgl. dazu Winfried Menninghaus: „On the Vital Significance of ‚Kitsch‘: Walter Benjamin’s Politics of ‚Bad Taste‘“, in: Walter Benjamin and the Architecture of Modernity, hrsg. von Andrew Benjamin und Charles Rice, Melbourne: re.press 2009 (= Anamnesis), S. 39–58.

7

Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 8, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1137–1154, hier: S. 1152.

8

Vgl. dazu Norbert Christian Wolf: „‚Wer hat dich, du schöner Wald...?‘ Kitsch bei Musil – mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften“, Zeitschrift für deutsche Philologie 127, 2 (2008), S. 199–217.

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bleiben. Ich vergrößere (oder reduziere) meine Figuren ins Übermenschliche, ich mache also Popanze aus ihnen, sie müssen ja auf einer Art Podest bestehen. Die Absurdität der theatralischen Situation – man betrachtet etwas auf einer Bühne! – verlangt eben diese Übersteigerung der Personen.9

Anstelle einer psychologisierenden Darstellung, die der Film mithilfe von etablierten Techniken wie der Nahaufnahme oder einer Stimme aus dem Off besser bewerkstelligen kann, setzt Jelinek demnach auf Verfahren der ästhetischen Überzeichnung und Verfremdung. Ein nach diesem Muster gestaltetes Theaterstück ist Burgtheater. Posse mit Gesang.10 Es kann im Zusammenhang des Österreich-Kitsches sogar als frühestes einschlägiges Drama Jelineks gelten und wird deshalb im Fokus der folgenden Überlegungen stehen. Entstanden ist es in einer Urfassung 1982 und wurde dann 1984 um ein in der Tradition Ferdinand Raimunds stehendes „Allegorisches Zwischenspiel“ ergänzt. Reinhard Urbach, von 1979 bis 1986 Chefdramaturg des Burgtheaters, wollte das Stück dem Wunsch der Autorin entsprechend auf der ihm titelgebenden österreichischen Nationalbühne aufführen. Er führte darüber bereits Gespräche mit Jelinek.11 Aufgrund einer Indiskretion und des darauf folgenden massiven Drucks von älteren Mitgliedern des Burgtheaterensembles musste der Plan aber fallen gelassen werden.12 Der Widerstand gegen eine Aufführung war generell so groß, dass Jelinek im Januar 1985 in einem Interview mit Kurt Palm mutmaßte, das Stück habe „überhaupt keine Chance, aufgeführt zu werden. Ich glaube auch nicht daran, daß es jetzt aufgeführt wird, wo sich

9

Elfriede Jelinek: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, TheaterZeitSchrift 7 (1984), S. 14–16, hier: S. 14.

10 Im Folgenden zitiert nach Elfriede Jelinek: Burgtheater. Posse mit Gesang, in: dies.: Theaterstücke, hrsg. von Ute Nyssen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 9

2010, S. 129–189. Die bisher wohl gründlichste Analyse des Stücks findet sich

in Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, München: Fink 2005, S. 59–135; vgl. ferner Marlies Janz: Elfriede Jelinek, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 62–70. 11 So die mündliche Auskunft seines damaligen Mitarbeiters Klemens Renoldner. Vgl. auch Verena Mayer/Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 134 f. 12 Ebd., S. 135.

„I N SEINER K ITSCHIGKEIT

UND

V ERLOGENHEIT

NICHT MEHR ZU ÜBERBIETEN “

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einige westdeutsche Theater dafür interessieren, und wenn, dann in kleinstem Rahmen.“13 Tatsächlich wurde das Drama dann im November 1985 – also erst nach dessen Erstdruck in der Literaturzeitschrift manuskripte14 – am Schauspielhaus Bonn uraufgeführt und hat dort einen veritablen Theaterskandal ausgelöst, dessen Akteure wiederum mehrheitlich aus Österreich stammten.15 Anlass der Erregungen war Jelineks indirekte Thematisierung der zweifelhaften Rolle der Wiener Burgschauspieler Attila und Paul Hörbiger sowie Paula Wessely im Dritten Reich – also gleichsam nationaler Ikonen. In ihrem Werkverzeichnis Elfriede Jelinek (2004) umreißt Pia Janke knapp die enorme, für die Autorin durchaus ambivalente Wirkung der Bonner Uraufführung: „Mit Burgtheater, das die Kontinuitäten des Faschismus in der österreichischen Kunstproduktion anhand des opportunistischen Verhaltens einer Schauspielerfamilie thematisiert, wurde Jelineks Ruf als österreichische ‚Nestbeschmutzerin‘ begründet.“16 Tatsächlich führte sie an ihren dramatischen Figuren eine äußerst fragwürdige Haltung vor Augen, die sie später an anderer Stelle als typisch ‚österreichischen‘ Umgang mit der eigenen Vergangenheit17 diagnostizierte:

13 Kurt Palm: „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, in: Burgtheater. Zwölfeläuten. Blut. Besuchszeit. Vier österreichische Stücke, hrsg. von Kurt Palm, Berlin: Henschel 1986 bzw. Wien: Frischfleisch & Löwenmaul 1987, S. 227–233, hier: S. 229. 14 Vgl. Verena Mayer/Roland Koberg: Elfriede Jelinek, S. 136, sowie die Wiedergabe in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 22, 76 (1982), S. 49–69. 15 Vgl. Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek, S. 136–138. 16 Pia Janke unter Mitarbeit von Verena Humer, Teresa Kovacs u. Christian Schenkermayr: Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, Wien: Edition Praesens 2004, S. 86; ausführlicher jetzt in Janke u. a., Elfriede Jelinek: Werk und Rezeption, Tl. 1, S. 102–105, hier: S. 104. 17 Vgl. dazu Christine Kiebuzinska: „Historicizing Austria in Elfriede Jelinek’s Burgtheater and Totenauberg“, in: Fünfzig Jahre Staatsvertrag. Schreiben, Identität und das unabhängige Österreich. Internationales Symposium, Trinity College, Dublin, 25. – 26. November 2005, hrsg. von Gilbert J. Carr und Caitríona Leahy, München: Iudicium 2008, S. 136–149; Helga Mitterbauer: „Bewältigte oder vergewaltigte Vergangenheit? Elfriede Jelineks Burgtheater im Kontext österreichischer Identitätskonstruktionen“, in: ebd., S. 150–159.

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Da wir also unschuldig sind, müssen wir unschuldig auch immer gewesen sein, wir waren höchstens mißdeutet. Die österreichische Staatsdoktrin, eine Lüge, lautet: Wir sind das erste von den Nazis überfallene und besetzte Land gewesen, und daher können wir es nicht gewesen sein, die auf diesem Heldenplatz gejubelt haben. Das waren andere, wahrscheinlich Ausländer!18

Diese höchst pointierte Formel für die österreichische Verweigerungshaltung gegenüber einer angemessenen Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in die NS-Verbrechen, die diese mit den xenophoben Umtrieben der eigenen Schreibgegenwart kurzschließt, legt eine eklatante Defizienz von Denken und Fühlen bzw. eine ‚formelhafte Verkürzung‘ beider offen. Sie kann bei allen Gelegenheiten problemlos stereotyp (re)aktiviert werden und hat sogar eine wirklichkeitsbildende Kraft, wie Jelinek ironisch hervorhebt: „Es ist nicht nur das Wirkliche wirklich, es ist auch das Gewirkte, das wir selber gestrickt haben, wirklich.“19 Mentalitätsgeschichtlich erscheint solches Denken als besonders perfide Form der ‚Unfähigkeit zu trauern‘ (Alexander und Margarete Mitscherlich). Die so gefühl- wie gedankenlose Aktivierbarkeit von Gefühlen und Gedanken erzeugt ‚Kitsch‘ im Musil’schen Wortsinn. Meines Wissens wurde Burgtheater allerdings noch nie unter dem Leitaspekt des Kitsches analysiert, obwohl Jelinek diesen Begriff wiederholt mit ihrem Dramentext assoziiert hat. Der erste Hauptteil der hier vorgelegten Überlegungen widmet sich daher der dramatischen Inszenierung des Österreich-Kitsches (1.), während der zweite Teil dessen ästhetische Funktionalisierung rekonstruieren soll (2.).

1. I NSZENIERUNG DES K ITSCHES In ihrer bereits erwähnten poetologischen Programmschrift Ich schlage sozusagen mit der Axt drein beschreibt Jelinek 1984 das ihrer Posse zugrunde liegende dramaturgische Konzept mit folgenden Worten: Was mein letztes Stück, ‚Burgtheater‘, betrifft, so habe ich lange am Schneidetisch Kitschfilme, aber auch reine Propagandafilme (‚Heimkehr‘) der Nazi-Ära ange-

18 Jelinek, „Wir Herren der Toten“, S. 8. 19 Ebd.

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schaut und Dialoge und Monologe mitgeschrieben. Es ging mir darum, mit den Mitteln der Sprache zu zeigen, wie wenig sich die Propagandasprache der Blut-undBoden-Mythologie in der Nazikunst vom Kitsch der Heimatfilmsprache in den fünfziger Jahren, einer Zeit der Restauration, unterscheidet.20

Die Autorin konstatiert hier eine bedenkliche Kontinuität der symbolischen Formen sowie der von ihnen transportierten Ideologie und Anthropologie zwischen der Nazi-Zeit und den restaurativen österreichischen Nachkriegsjahrzehnten. Sie veranschaulicht ihren Befund anhand einiger charakteristischer Stichworte: Dieser Sumpf aus Liebe, Patriotismus, Deutschtümelei, Festlegung der Frau auf die Dienerin, Mutter, Gebärerin und tapfere Gefährtin von Helden, auf die stets sich selbst Verneinende, dem Mann Gehorchende – ein Matsch, der nach dem Krieg nie richtig trockengelegt worden ist, war mein Material, das ich zu einer Art Kunstsprache zusammengefügt habe, weil es in seiner Kitschigkeit und Verlogenheit nicht mehr zu überbieten ist. Diese Sprache ist nicht parodierbar. Sie ‚spricht für sich selbst‘, und daher mußte ich nicht mehr sprechen.21

Anstelle einer Parodie setzt Jelinek deshalb auf das alternative Mittel einer dezidiert ästhetisierenden Überzeichnung („Kunstsprache“) von symbolischem „Material“ der profanen Alltagswirklichkeit und bedient sich dabei künstlerischer Verfahrensweisen, die von den ‚klassischen‘ historischen Avantgarden etabliert worden sind: Eine literarische Technik, die ich verwende, ist die der Montage. Ich erziele in einem Stück verschiedene Sprachebenen, indem ich meinen Figuren Aussagen in den Mund lege, die es schon gibt. Ich bemühe mich nicht um abgerundete Menschen mit Fehlern und Schwächen, sondern um Polemik, starke Kontraste, harte Farben, Schwarz-Weiß-Malerei; eine Art Holzschnittechnik. Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo meine Figuren hingetreten sind. 22

20 Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 15. 21 Ebd., S. 15 f. 22 Ebd., S. 14.

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Der Kitsch wird hier in sein Extrem getrieben. Neben der Textmontage bzw. Zitatencollage arbeitet Jelinek mit Techniken der Fragmentierung und einer Durchwirkung der Figurenreden mit nichtssagenden Gemeinplätzen oder kindischen Kalauern, wozu sie „in kurzen Ausrufesätzen Kalendersprüche, Sätze aus der NS-Propaganda, Aussprüche einer romantischen Theaterauffassung, Zeilen populärer Wienerlieder und Filmtitel“ kombiniert.23 So legt sie etwa ihrer Figur der Käthe folgende Weisheiten in den Mund: „Heimatlaut! Heimatklang! Die Gemse brunzt im Morgenrot, der junge Krieger, der ist tot. Ich schenke nach meiner Ankunft in Wean die erste Nacht einem Manne. Heil! Sieg Heil!“24 Oder sie lässt die weibliche Hauptfigur ihre geprügelten Kinder schimpfen: „Still seids! Staad, Menscher! Fein sein, beinonder bleibn! Unser scheener Beruf wachst nur in der Stille.“25 Oder sie verballhornt die Redensarten einer populärkulturelltrivialen Vorstellung des lustigen Jägerlebens: „Es trenzt das Reh, es geilt der Bock. Es trägt der Jäger den grienen Rock. Ich lernte ihn lieben!“ 26 Wie das letzte Beispiel zeigt, bedient sie sich darüber hinaus kreativ des im historisch überkommenen und zum Teil ideologisch belasteten Wortmaterial angelegten klanglichen Potenzials und seiner semantischen Konnotationen, um zu einer ästhetisch instrumentalisierten Verfremdung zu gelangen: Ich arbeitete gewissermaßen linguistisch am Text, indem ich die Wörter, die schleimig und verwaschen die faschistische Ideologie transportierten, zu Wortneuschöpfungen umwandelte, Neologismen, die die ganze Brutalität des Faschismus enthüllen, ohne daß das einzelne Wort im Zusammenhang etwas bedeuten muß, zum Beispiel ‚Saubertöte‘ statt ‚Zauberflöte‘, ‚Sauschlitzerin‘ statt ‚Schauspielerin‘.27

23 Evelyn Deutsch-Schreiner: „Burgtheater; Erlkönigin; Präsident Abendwind; Ich liebe Österreich; Das Lebewohl“, in: Jelinek-Handbuch, hrsg. von Pia Janke, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 137–147, hier: S. 140. 24 Jelinek, Burgtheater, S. 135. 25 Ebd., S. 136. 26 Ebd., S. 139. 27 Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 16. Genaueres zu dieser ‚linguistischen Arbeit am Text‘ findet sich in Marie-Thérèse Kerschbaumer: „Porträt einer Dichterin: Elfriede Jelinek“ (1986), in: dies.: Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zu tun... Gedanken zum Lesen und Schreiben von Literatur, Wien: Wiener Frauenverlag 1989, S. 147–152, hier: S. 150 f., besonders aber in

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Das historische Setting entlehnt Jelinek nicht zuletzt den Künstlerbiographien Attila und Paul Hörbigers und Paula Wesselys sowie dem berüchtigten NS-Propagandastreifen Heimkehr (1941), der den deutschen Angriffsund Vernichtungskrieg auf Polen mittels einer Umkehrung von Täter- und Opfer-Rollen nachträglich rechtfertigte. Wessely, mit Attila Hörbiger verheiratet, hat darin nicht bloß mitgewirkt, sondern sogar die weibliche Hauptrolle gespielt.28 In diesem Zusammenhang weist Jelinek ausdrücklich auf eine Verdrängungsleistung der Schauspielerin hin,29 die pars pro toto für diejenige ihres Herkunftslandes steht: „Davon spricht natürlich heute keiner mehr, wenn Frau Wessely am Tag der offenen Tür im Burgtheater um Autogramme gebeten wird.“30 Seinen historischen Ursprung hat der Österreich-Kitsch der 1950er Jahre der Kontinuitätsthese Jelineks zufolge jedoch im Deutschtums-Kitsch des Nationalsozialismus, dessen einschlägige Filme vom selben Wiener Personal gedreht wurden und auch schon dieselben filmischen Mittel einsetzten; sie konstatiert, „daß diese faschistische deutsche Provinzsprache nie entnazifiziert worden ist, sondern sich bruchlos in den Heimatkitsch der fünfziger Jahre bis hin zur Schwarzwaldklinik fortgepflanzt hat.“31 Da im Druckmedium eines Buchs der Filmausschnitt aus Heimkehr, den Jelinek auf ihre Homepage gesetzt hat, nicht wiederge-

dies.: „Bemerkungen zu Elfriede Jelineks Burgtheater“, in: ebd., S. 152–163, hier: S. 154 ff. 28 Vgl. dazu Oliver Rathkolb: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1991, S. 260–265, bes. S. 263 f.; Maria Steiner: Paula Wessely. Die verdrängten Jahre, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1996, bes. S. 121–127; Kurt Ifkovits: „Die Rollen der Paula Wessely bis 1946“, in: Die Rollen der Paula Wessely. Spiegel ihrer selbst, hrsg. von Kurt Ifkovits, Wien: Brandstätter 2007, S. 11–63, hier: S. 60 f. 29 Vgl. Urte Helduser: „Theaterlegenden. Paula Wessely im Werk Elfriede Jelineks“, in: Elfriede Jelinek. Stücke für oder gegen das Theater. 9. – 10. November 2006, hrsg. von Inge Arteel, Heidy Margrit Müller, Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van België voor Wetenschappen en Kunsten 2008, S. 165– 174, bes. S. 166 f. 30 Palm, „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, S. 232. 31 So Elfriede Jelinek im Gespräch mit Adolf-Ernst Meyer. In: Elfriede Jelinek/Jutta Heinrich/Adolf-Ernst Meyer: Sturm und Zwang. Schreiben als Geschlechterkampf, Hamburg: Klein 1995, S. 7–74, hier: S. 44.

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geben werden kann, sei hier zumindest die ideologisch zentrale Rede der von Wessely melodramatisch dargestellten weiblichen Hauptfigur Marie Thomas transkribiert: Heimkommen werden wir bestimmt, ganz bestimmt. Irgendwie werden wir heimkehren. Warum soll denn das nicht sein, es ist doch alles möglich. Und das ist nicht bloß möglich, das ist gewiss. Zuhause in Deutschland, da sind sie ja jetzt nicht mehr schwach. Und den Leuten dort ist es nicht egal, wie’s uns geht, im Gegenteil. Ach, das hat mir Fritz immer gesagt: Sie interessieren sich sehr für uns. Und warum sollten wir da nicht heimkehren dürfen, wenn wir nur wollen! Denkt doch bloß, Leute, wie das sein wird [im Hintergrund ertönt eine elegisch-sentimentale Musik mit Anklängen an Haydns Kaiserquartett bzw. an das Deutschlandlied, die Stimme Wesselys klingt zunehmend ergriffen], denkt doch bloß: Wenn so – um uns rum – lauter Deutsche sein werden, und nicht, wenn du in einen Laden ’reinkommst, dass da einer jiddisch redet oder polnisch, sondern deutsch! Und rings um, da schlagen Millionen deutsche Herzen und pochen in einem fort leise! Daheim bist du Mensch, daheim! Daheim bei den Deinigen! Und wird uns ganz wunderlich sein ums Herz, dass die Krume des Ackers und das Stück Lehm und der Feldstein und das Zittergras und der schwankende Halm der Haselnussstaude, die Bäume, dass das alles deutsch ist wie wir selber, zugehörig zu uns, weil’s ja gewachsen ist aus den Millionen Herzen der Deutschen, die eingegangen sind in die Erde und zur deutschen Erde geworden sind. Denn wir leben nicht nur ein deutsches Leben, wir sterben auch einen deutschen Tod!32

Obwohl Wessely ihr schauspielerisches Mitwirken an Heimkehr zuerst 1971 in einer Fernsehdokumentation und noch einmal 1985 während des Skandals um Burgtheater öffentlich bedauert hat,33 konnte Jelinek ihr die Beteiligung an diesem Machwerk und weiteren Nazifilmen nicht verzeihen, zumal die beliebte Schauspielerin eben auch an der Produktion des ‚Heimatkitsches der fünfziger Jahre‘ an vorderster Linie beteiligt war. Entscheidend für Jelineks Kompromisslosigkeit sind nicht allein subjektiv-biografische, sondern genauso objektiv-ästhetische Gründe, auf die noch zurückzukommen sein wird. Anlässlich des Todes von Paula Wessely formu-

32 Vgl. die Wiedergabe dieses Filmausschnitts auf der Homepage http://www. elfriedejelinek.com/ [5.3.2015]. 33 Vgl. Steiner, Paula Wessely, S. 179.

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lierte sie in einem am 15. Mai 2000 erschienen Telefoninterview des Magazins Format eine vernichtende medien- und mentalitätsgeschichtliche Diagnose: Paula Wessely ist der Prototyp der Schauspielerin im Dritten Reich, einer Kriegsgewinnlerin, die das Naziregime massiv propagandistisch unterstützt hat. Gustav Ucickys Machwerk Heimkehr, in dem sie die Hauptrolle spielte, ist der schlimmste Propagandaspielfilm der Nazis überhaupt. [...] Ihre Mitwirkung sowohl an ablenkenden Filmen als auch an diesem Propagandaspielfilm wird bis heute unterschätzt. Das Dritte Reich war das erste Regime, das sich mit Hilfe einer gigantischen Ablenkungs- und Propagandaindustrie an der Macht hielt. Und Wesselys Mitwirkung daran ohne Not und an einer dermaßen exponierten Stelle würde ich mit Kriegsverbrechen gleichsetzen. Nicht gezwungen und ohne Not ist das durch nichts zu rechtfertigen. Man darf nicht vergessen, daß Paula Wessely der höchstbezahlte weibliche Star der Nazizeit war. Das Argument einer ‚unpolitischen Frau‘, wie man sie im günstigsten Fall nennen könnte, kann ich nicht akzeptieren. Denn wenn sie in ‚Heimkehr‘ sagt, ‚Wir kaufen nichts bei Juden‘, hätte sie als erwachsener Mensch wissen müssen, was sie da sagt. Und hätte versuchen müssen, das zu verweigern. 34

In diesem Zusammenhang verweist Jelinek nicht nur auf ein individuelles ethisches Versagen, sondern auch auf einen Missstand des kollektiven Empfindens und – daraus resultierend – der österreichischen Rechtsprechung: Mit Erscheinungen wie Paula Wessely wurde auch im Nachkriegsösterreich sehr glimpflich verfahren, wie auch mit wirklichen Kriegsverbrechern. Unter ihrem ‚Heimkehr‘-Regisseur spielte sie Anfang der fünfziger Jahre mit der gleichen abstoßenden Inbrunst in einer Wildgans-Verfilmung und stieg nahtlos vom Nazispielfilm in einen kitschigen, pazifistischen Film um. Das spricht weniger gegen Wessely als gegen dieses Nachkriegsösterreich, in dem so etwas möglich war. Die verkitschte Blut-und-Boden-Sprache dieser völkischen Heimatideologie hat in den Heimatfilmen der fünfziger Jahre fortgewirkt und reicht bis heute weiter in die verlogenen Fernsehserien wie ‚Schloßhotel Orth‘.35

34 Elfriede Jelinek: „Paula Wessely“; zit. nach der Homepage http://www.elfriede jelinek.com/ [5.3.2015]. 35 Ebd.

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Stein des künstlerischen Anstoßes – und damit ein objektiv-ästhetischer Grund für die harsche Ablehnung der Autorin – ist demnach die „Inbrunst“ des Wessely’schen Spiels, die angesichts ihrer ubiquitären Einsetzbarkeit in unterschiedlichsten ideologischen Kontexten aus Jelineks Perspektive der stereotypen Formelhaftigkeit des Kitsches entspricht. Gerade diese ‚natürliches‘ Empfinden evozierende „Inbrunst“ galt hingegen einer großen Mehrzahl des Publikums als besonderes Vermögen der populären Schauspielerin, als ein nur ihr eigenes, persönliches Markenzeichen. Sie kann daher nicht voraussetzungs- und umstandslos als ‚Kitsch‘ verbucht werden, sondern bedarf einer kontextorientierten Analyse. Wie eingangs angedeutet wurde, ist eine überzeugende typologischkategorielle Bestimmung oder gar ideologisch-ästhetische Lokalisierung des Kitsches allein schon insofern unmöglich, als es „große Schwierigkeiten gibt, die begriffliche Struktur, strukturelle Merkmale oder gar Stileigenschaften von Kitsch zu fassen“.36 Die neuere Forschung hat daher für historisch-relationale Untersuchungen plädiert, die sich etwa an diskursanalytischen Vorgaben orientieren können. So bestätigt Dieter Kliche im ausführlichen Kitsch-Artikel des Lexikons Ästhetische Grundbegriffe mit Blick auf Plastik und Malerei, dass „die nationalsozialistische Elite“ zwar tatsächlich jene „bildkünstlerische[n] Gestaltungen“ bevorzugte, „die von den künstlerischen Avantgarden bereits als Kitsch abgetan worden waren.“ 37 Gleichzeitig aber existierte eine intensive Kitsch-Kritik selbst aus dieser ideologischen Richtung, wie Kliche des Weiteren berichtet: „Der NS-Staat setzt die völkisch-nationalistische Linie der Kitsch-Kritik fort und machte sie zum Bestandteil seiner antikapitalistisch tingierten Ideologie. Jorg Lampe schrieb 1939 der Volkskultur und Volkskunst zu, daß sie gegen den Kitsch gefeit sei.“38 Strukturanaloge Ausprägungen des ästhetischen Populismus lassen sich indes auch auf der Seite der Linken finden. Kitsch-Kritik erweist sich solcherart als ideologisch genauso beliebig wie die von ihr inkriminierten ästhetischen Formen.

36 Dieter Kliche: „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3: Harmonie–Material, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 272–288, hier: S. 273. 37 Ebd., S. 283. 38 Ebd., S. 282, unter Berufung auf Jorg Lampe: „Kitsch, Kunst und Volk“, Die Literatur 42 (1939/40), S. 7–10.

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Die künstlerische Praxis hat auf diese weitgehende phänomenale Ununterscheidbarkeit längst reagiert und daraus ihrerseits ästhetische Konsequenzen gezogen. Besonders spannend sind in diesem Zusammenhang bestimmte künstlerische Tendenzen der ‚Postmoderne‘: So hat Kliche zufolge just der „Konsens negativer Wertung“ in den 1980er und 90er Jahren „eine Kunstproduktion motiviert, die aus dem schlechten Geschmack der Vergangenheit oder der jeweils anderen und mit Hilfe des Montage-/Collageprinzips und der ironischen oder kulturkritischen ‚Dekonstruktion‘ eine neue avantgardistische ‚Kitschkunst‘ kreierte.“39 Es läge nahe, Jelineks Posse Burgtheater dieser Tendenz zuzurechnen, die schon in Baudelaires Maxime „Einen Gemeinplatz erfinden, das ist das Genie“40 einen historischen Vorläufer hat und in den ironisch gebrochenen Camp mündet, wie andere Beispiele des vorliegenden Bandes zeigen. Tatsächlich setzt Jelinek in ihrer Posse eine bewusst inszenierte Kitschornamentik ein, wie bereits der Szenenanweisung zu Beginn des ersten Aufzugs zu entnehmen ist; indem sie sich etwa innerhalb ihrer „Kunstsprache“ streckenweise eines lokal konnotierten Jargons bedient („aufgemascherlt“), persifliert sie „den verniedlichenden, idyllisierenden Dialekt der Kitschfilme“, der in österreichischen Unterhaltungsproduktionen bis Mitte der 1960er Jahre üblich war und „ein geschöntes Bild vom österreichischen Menschen“ vermitteln sollte.41 Durch sprachliche Entsprechungen zwischen Dramen- und Nebentext suggeriert Jelinek zudem die unausweichliche Allgegenwart des ÖsterreichKitsches und des dazugehörigen Settings:

39 Kliche, „Kitsch“, S. 273. 40 Charles Baudelaire: „Tagebücher“, in: ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Bd. 6, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien: Hanser 1991, S. 193–258, hier: S. 207 [„Créer un poncif, c’est le génie. Je dois créer le poncif.“ Charles Baudelaire: „Journaux intimes“ [Fusées XIII.], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, hrsg. von Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 647–708, hier: S. 662] 41 Evelyn Deutsch-Schreiner: „Körper-Dramaturgie und geniale Sprachinterventionen in den Dramen Burgtheater von Elfriede Jelinek und ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM von Werner Schwab“, in: Studien über das österreichische Theater der Gegenwart, hrsg. von Alessandra Schininà, St. Ingbert: Röhrig 2013, S. 69–94, hier: S. 74.

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Käthe trägt ein stark stilisiertes Trachtenkostüm mit applizierten riesigen Eichenblättern. Durch die Blätter ist an der Brust je ein Dolch gebohrt. Die Familie, mit Ausnahme Istvans, des Vaters, und Mitzis, der Ältesten, sitzt um den großen Eßtisch herum. Die beiden kleineren Kinder sind unglaublich aufgemascherlt. Riesige Haarschleifen usw. Therese trägt eine Altwiener Dienstmädchentracht. Schorsch einen Frack oder Smoking wie aus einem typischen Wiener Filmerzeugnis der Zeit. Er sieht aus wie ein Ober.42

Während die Eiche in der nationalen Topik als deutscher Baum galt, zählte der Dolch im Zweiten Weltkrieg zur Nahkampf-Standardausstattung eines Soldaten; als entsprechendes Emblem war er jedenfalls häufig an Uniformkragen oder in militärischen Wappen zu finden. Die eminente Kitschigkeit der Szenerie geht nicht allein aus der Zeichnung einer vorderhand intakten Familie in ‚besseren‘ Verhältnissen mit drei Kindern am Esstisch hervor oder aus ihrer forciert rustikalen Kleidung, sondern auch aus der begüterte Bürgerlichkeit signalisierenden Fortsetzung der zitierten Szenenanweisung: „Käthe steht ständig auf, flattert von einer Tochter zur anderen, richtet ihnen die Haare, zupft an den Kleidern, den Schleifen, setzt sich hin, springt gleich wieder auf, eilt immer wieder um den Tisch herum. Istvan trägt zu seinem großen Auftritt, den er gleich haben wird, ungarische Reitkleidung. Zeit: 1941. Alles äußerst heiter!“43 Es handelt sich wohlgemerkt um das Jahr des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) und des Auftrags Hermann Görings an Reinhard Heydrich, einen „Gesamtentwurf“ bezüglich Kosten, Organisation und Durchführung für die „Endlösung der Judenfrage“ auszuarbeiten (31. Juli 1941). Dass in dieser blutigen Zeit die Stimmung „äußerst heiter“ ist – man denke dabei auch an die aus demselben Jahr stammenden, Heiterkeit transportierenden Fotos der Produktionsarbeit und Werbekampagne für Heimkehr44 –, bezeichnet die Anlage der Jelinek’schen Posse und die in ihr herrschenden Verhältnisse. Das wohlbehütete Familienidyll wird allerdings rasch konterkariert bzw. von verstörenden Bildern heimgesucht: Käthe nämlich „hebt eine Terrine mit Schinkenfleckerl hoch und schüttet das Ganze mitten auf dem Tisch zu einem Haufen auf. Die Kinder kraxeln sofort halb den Tisch hinauf, ver-

42 Jelinek, Burgtheater, S. 131. 43 Ebd. 44 Vgl. Steiner, Paula Wessely, S. 139, 143, 149 und 151.

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suchen, etwas davon aufzufangen, essen mit dem Kopf auf der Tischplatte, wie die Schweine. Furchtbare Patzerei!“45 Diese unerwartete Wendung des auch aufgrund der wiederum österreichisch-umgangssprachlichen Diktion zunächst heimelig wirkenden Schinkenfleckerl-Verzehrs erzeugt nicht nur eine groteske Form burlesker Komik, die man wiederholt mit den Hanswurstiaden des Wiener Volkstheaters und der österreichischen Nachkriegsavantgarden in Verbindung gebracht hat, 46 sondern lässt zudem an halbverhungerte Insassen von Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern denken, etwa an Aufnahmen sowjetischer Häftlinge, die sich um die wenige Nahrung reißen und balgen, welche ihnen vom deutschen Wachpersonal wie Tieren hingeworfen wurde. Käthe hingegen kommentiert scheinbar unbeeindruckt von der animalischen Fressweise, ja zynisch „applaudierend: Sans net siaß meine Bauxerln? Gleich trägt die Resi die Nockerln auf. Schön schnabulieren, gelt’s ja!“ Vielsagend fügt sie jedoch im Sinn einer patriotischen Durchhalterhetorik hinzu: Und wenn es nur fürs Hoamatl is, das bald hungern und frieren wird. Ehebaldigst böckelts im Schützengraben und die Stukas stürzen vom Himmel. Doch halt, seht! Ein Fallschirm hat sich geöffnet, der kühne Flieger konnte sich retten. Unten wartet: mit brünftelndem Rock die Bäuerin. Sie singt ein Auftrittslied. Gebieterischer Ruf! Mit Singsang und Klingklang. Es zog ein Bursch hinaus fallera.47

45 Jelinek, Burgtheater, S. 131. 46 Vgl. dazu Christian Schenkermayr: „Ende des Mythos? – Beginn der Burleske? Versuch einer Annäherung an das Verhältnis von Mythendekonstruktion und burlesker Komik in einigen Dramen Elfriede Jelineks“, in: Felix Austria – Dekonstruktion eines Mythos? Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Małgorzata Leyko, Artur Pełka und Karolina Prykowska-Michalak, Fernwald: Litblockin 2009, S. 344–363, hier: S. 346–355. Schenkermayr stützt sich auf die Ergebnisse von Bernard Banoun: „Komik und Komödie in einigen Stücken Elfriede Jelineks“, in: Komik in der österreichischen Literatur, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner und Klaus Zeyringer, Berlin: Erich Schmidt 1996 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 142), S. 285–299, hier: S. 289. 47 Jelinek, Burgtheater, S. 131 f.

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Die brutale Realität des Weltkriegs lässt sich nicht dauerhaft verdrängen; sie kehrt wieder in Form von grausigen Visionen und banalen bellizistischen Gemeinplätzen. Wie Jelinek in ihrer bereits zitierten Selbsterläuterung ausgeführt hat, inszeniert sie in ihrer Posse keine mimetische Sprechweise der Figuren, vielmehr ein regelrechtes Kunstidiom: „Nicht parodierbar“ ist die Figurenrede der Propaganda- und Heimatfilme aus der Perspektive Jelineks wohl deshalb, weil sie in ihrer eminenten Stereotypie bereits selbst wie eine Parodie anmutet. Ein paar Beispiele aus dem Dramentext mögen das Verfahren der grotesken Überzeichnung wiederum veranschaulichen: SCHORSCH: Ich hob dir vorhin scho ernsthoft gesokt, Katherl, daß des net ollweil so weitergeht mitn Semmering und die Alpen und die Liadln. Man konn jo nicht immer lochen, net wahr. Der Ernst der Stunde verlangt gebieterisch noch einem in Großdaitschlond ollgemein verständlichen Schriftdaitsch. Alpen- und Donaugaue fiegen sich. Ein neuer Erdenbürger! Willkommen! KÄTHE unterbricht: Ewig stehen die Berge in eisiger Pracht! Vaterland, halt treu die Wacht! Das daitsche Publikum aller Stämme will auch juchzen! Nur eine einmalige künstlerische Begebenheit wie ich verhilft dazua. Österreichertum! [...] SCHORSCH: Mir missen jetzt ernsthaft dafier klampfen, daß ein jedes Blitzmädel und ein jeder Hitlerjunge sagen kann und das zurecht: Unser Burgtheater!48

Die generelle Spielanweisung vor Beginn des eigentlichen Dramentextes lautet daher: „Sehr wichtig ist die Behandlung der Sprache, sie ist als eine Art Kunstsprache zu verstehen. Nur Anklänge an den echten Wiener Dialekt! Alles wird genauso gesprochen, wie es geschrieben ist. Es ist sogar wünschenswert, wenn ein deutscher Schauspieler den Text wie einen fremdsprachigen Text lernt und spricht.“49 Eine solche Besetzung der Rollen durch dialektunkundige Schauspieler erzeugt eine klangliche Verfremdung, wodurch Jelinek sich einerseits in die Tradition der seinerzeit sehr beliebten kritischen Mundartdramen à la Wolfgang Bauer oder Peter Turrini stellt, sich aber andererseits davon gleich wieder abgrenzte, wie sie Anfang 1985 im Interview mit Kurt Palm andeutet:

48 Ebd., S. 133 f. 49 Ebd., S. 130.

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Bei mir ist es ein fast schon pathetisches Moment, wenn ich meine österreichische Tradition betone und mich dieser verstärkt zuwende, ohne jetzt – und das ist mir sehr wichtig – in ein Volkstümeln zu geraten. Ich hab niemals ein naturalistisches Dialektstück oder Mundartstück geschrieben, das interessiert mich überhaupt nicht, mich interessiert, wie man aus der Mundart Neues machen kann.50

Die Verwendung der Mundart soll also keine kitschaffine Vertraulichkeit herstellen, die man vielleicht manchen Turrini-Stücken nachsagen könnte, sondern im Gegenteil das Verstörende im Vertrauten offenlegen bzw. es aus ästhetischer Distanz aus- und bloßstellen. Indem Jelinek in Interviews und anderen Paratexten wiederholt nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass die Posse Burgtheater „in einer Kunstsprache und nicht in einem richtigen Dialekt geschrieben ist und sogar von ausländischen Schauspielern gesprochen werden sollte oder müßte“,51 hebt sie die ästhetische Verfremdung als ihre zentrale künstlerische Strategie hervor. Durch eine gezielte Erzeugung „extreme[r] Künstlichkeit der Sprache und die Formalisierung“ vermeidet sie die „Gefahr“ der Distanzlosigkeit, ja stellt die von den kitschigen Satzschablonen nivellierte ästhetische „Distanz“ sogar bewusst wieder her.52 Damit sind die vorliegenden Ausführungen aber bereits zum Thema ihres zweiten Teils gelangt.

2. F UNKTIONALISIERUNG

DES

K ITSCHES

Im zitierten Interview mit Kurt Palm gibt Jelinek hinsichtlich der Posse Burgtheater einige erhellende Hinweise auf ihre ästhetisch-dramaturgische Strategie: Wenn man ein Stück über den Faschismus in Österreich schreibt, so ist natürlich die Gefahr – oder die Verlockung – groß, ein Agitationsstück mit der geballten Faust zu schreiben. Ich habe aber eine Groteske geschrieben und hab die Millionen aus rassischen oder politischen Gründen Vernichteten durch einen Zwerg repräsentieren las-

50 Palm, „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, S. 230. 51 Ebd., S. 227. 52 Ebd., S. 231.

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sen, also verkleinert statt vergrößert. Ich habe mich aufs Äußerste zurückgenommen. Statt mit Pathos hab ich das mit nacktem Hohn gemacht.53

Jelineks Ästhetik der grotesken Verschiebung, zu der die Verfahren der Vergrößerung oder Verkleinerung gleichermaßen zählen, bezweckt eine genuin ästhetische Wirkung, konträr zu jener, die neuerdings etwa Silke Hassler und Peter Turrini in ihrem Holocaust-Volksstück Jedem das Seine (2007/2010) evozieren: Während dort mit allen Registern ein Mythos der ‚Kunst‘ und ‚Menschlichkeit‘ zelebriert wird, betreibt Jelinek in Burgtheater konsequent und radikal das, wofür sie auch in ihrer Prosa berühmt ist: Mythendekonstruktion.54 Nicht von ungefähr steht hier der ästhetisch inszenierte Kitsch in einer konstitutiven Relation zu den von Roland Barthes wirkungsmächtig diagnostizierten „Mythen des Alltags“, die es kritisch auf ihre naturalisierende Funktion zu untersuchen gelte. 55 Nicht auf eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern auf eine mit künstlerischen Mitteln verfahrende Entlarvung mittels Unter- oder Übertreibung zielt nun Jelineks Dramaturgie, die im deutlichen Anschluss an Barthes56 eine eigene, dezidiert künstliche und offen verfremdende Mythifizierung betreibt: ‚Unschuldig gemachte Aussagen‘57 werden so wieder mit der ihnen innewohnenden Schuld aufgeladen, „die Bewegung, durch die die Bourgeoisie die Realität der Welt in ein Bild der Welt, die Geschichte in Natur verwandelt“, also „die bürgerliche Ideologie selbst“,58 wird plakativ denunziert.59 Dies sei gegenüber jenen Formen postmoderner ‚Kitsch-Art‘ in der bildenden Kunst hervorgehoben, die Kliche zufolge den „massenkulturellen Be-

53 Ebd. 54 Vgl. Uta Degner: „Mythendekonstruktion“, in: Jelinek-Handbuch, hrsg. von Pia Janke u. a., Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 41–46, unter Bezug auf die wegweisenden Arbeiten von Christa Gürtler und Marlies Janz. 55 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 85–151. 56 Vgl. ebd., S. 121: „Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt einen künstlichen Mythos zu schaffen.“ 57 Vgl. ebd., S. 107. 58 Ebd., S. 129. 59 Mehr dazu bei Degner, „Mythendekonstruktion“, S. 42 f.

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dürfnissen nach den Idealen von Harmonie, Glück, Idylle [...] mit bestimmten Bildgehalten“ Rechnung tragen, welche bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Kitsch identifiziert wurden, oder die durch „[o]pulente, mit Farben, exotischen Motiven und schönen Details bis zum Rahmen hin überladene Bilder [...] ungebrochene Lebens- und Sinnenfreunde an schönen Formen vermitteln“ wollen.60 Mit solchen lustvoll-affirmativen Inszenierungen des Kitsches ist Jelineks lustvoll-subversive Ästhetik keineswegs gleichzusetzen. Indem sie nicht „psychologisch agierende Personen“, sondern „Typen, Bedeutungsträger“ auf die Bühne stellt und sich dabei ausdrücklich auf die Tradition „des Brechtschen Lehrstücks“ beruft,61 grenzt sie sich auch deutlich von den apolitisch-hedonistischen Spielarten späterer Popliteratur ab; sie reklamiert für ihre Dramatik demgegenüber eine Weiterentwicklung des Brechtschen Theaters mit modernen Mitteln der Literatur, den Mitteln der Popkultur der fünfziger und sechziger Jahre, die auch darin bestehen, vorgefundenes Material – pur oder gemischt mit eigenem, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – nebeneinanderzusetzen, um eine Bewußtmachung von Zuständen und Sachverhalten zu erreichen.62

Wichtig ist ihr dabei jeweils, „daß die Tendenz des Stücks, sein politischer Auftrag, besonders klar wird.“63 Dass dies auch für die Posse Burgtheater gilt, bestätigt Jelinek im Interview mit Kurt Palm, worin sie auf der ideologisch dekuvrierenden Funktion ihrer hier angewendeten dramatischen Konstruktionstechnik beharrt: „Da habe ich sehr viel mit Montagen gearbeitet und über diesen Weg viel Material einbauen können. Für mich sind diese verschiedenen sprachlichen Ebenen sehr wichtig, ansonsten ist doch die Gefahr groß, daß alles irgendwie zu Brei wird.“64 Indem sie sich explizit

60 Kliche, „Kitsch“, S. 287 f. 61 Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 14. 62 Ebd., S. 15. 63 Ebd. 64 Palm, „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, S. 232. Sie wiederholt in diesem Zusammenhang direkt anschließend: „Bei ‚Burgtheater‘ zum Beispiel sind eine ganze Menge Zitate aus Schauspielerbiographien, aus Programmheften und Filmen der Nazizeit eingebaut worden. Ich habe mich da einfach an den Schneidetisch gesetzt und ganze Passagen aus Filmen dieser Zeit abgeschrieben, zum

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gegen eine Nivellierung unterschiedlicher sprachlicher Ebenen ausspricht, distinguiert sie sich schließlich sogar von der oberflächlich verwandt erscheinenden, aber leichter konsumierbaren ästhetischen Aufwertung des Kitsches im Sinne des Camp. Hier gelangt eine Diskursanalyse, die sich auf die Oberflächenstruktur sprachlicher Aussagen konzentriert, ohne ästhetische Funktionalisierungen zu berücksichtigen, methodologisch an ihre Grenzen. Im Format-Telefoninterview vom 15. Mai 2000 weist Jelinek in aller gebotenen Deutlichkeit auf die politisch-moralische Grundlage ihres künstlerischen Selbstverständnisses, aber auch ihrer ästhetischen Urteile hin, die sich gegen die Gefahr einer Verbrämung kruder ideologisch-politischer Inhalte durch eine oberflächlich ‚schöne‘ Kunst richten; sie bezieht sich dabei direkt auf die von Paula Wessely gespielten Auftritte der Marie Thomas in Heimkehr: Ich habe Paula Wessely nie für eine große Schauspielerin gehalten. Sie hat nur einen Ton gehabt, und besonders mißfallen hat mir ihr prononciertes Natürlichsein, das nicht aus der Brecht-Tradition kam, aus der Durchdringung eines Inhalts, sondern es war eine Art Natürlichkeitsschleim, den sie über ihr Spielen breitete. Dieser Natürlichkeitswahn, der etwas Künstliches in Natur verwandeln will, liegt auf einer Linie mit der Naturhaftigkeit der Geburt in Blut und Boden des Vaterlandes. Sie war eine heilige Kuh, übrigens auch für Thomas Bernhard oder Claus Peymann, die sie tief verehrten. Ich konnte von ihrer ‚Aura‘ nichts bemerken. Ihre Person ist das genaue Gegenteil von dem, was ich für interessant halte am Theater. 65

Mit diesen Worten reiht Jelinek sich ein in die dezidiert moderne, ideologiekritische Tradition eines Bertolt Brecht, aber auch der Volksstücke Ödön von Horváths (Geschichten aus dem Wiener Wald [1931]) oder der (ebenfalls den Wiener Dialekt als ‚Sprachmaske‘ einsetzenden) Dramen Elias Canettis aus den dreißiger Jahren (Hochzeit, Komödie der Eitelkeit), die vergleichbare ästhetische Prinzipien vorwegnehmen und von Jelinek nun radikalisiert werden. Ihre überzeichnenden dramatischen Inszenierungen von Elementen des Kitsches erweisen sich vor diesem Hintergrund als ge-

Beispiel aus ‚Heimkehr‘, der ja der schlimmste Propagandafilm des Dritten Reiches war und in dem die Paula Wessely die Hauptrolle gespielt hat.“ 65 Jelinek, „Paula Wessely“, zit. nach der Homepage: http://www.elfriedejelinek. com/ [5.3.2015].

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zielt eingesetzte Verfremdungseffekte zum künstlerischen Zweck der Entautomatisierung des scheinbar ‚Natürlichen‘. Das Publikum soll in die Lage versetzt werden, die naturalisierende Wirkung der herrschenden Ideologie und Mythologie zu durchschauen, um diese in der Folge zu verabschieden. In diesem Zusammenhang sind in der Posse Burgtheater auch die ironischen Verweise auf die gegenläufigen Überwältigungsästhetiken Max Reinhardts und Leni Riefenstahls zu verstehen. 66 Letztere hat Jelinek anlässlich ihres Todes nicht von ungefähr spöttisch als „Kitschliesl“ porträtiert.67 Durch ihre Gattungsbestimmung stellt sie demgegenüber einen Bezug zu Nestroys bitterbösen Satiren her sowie zu den daran anschließenden dramatischen Arbeiten Karl Kraus’ oder der Wiener Gruppe, deren Mitglieder zeitgleich mit den rückwärtsgewandten Heimatfilmen der Hörbigers und Wesselys künstlerisches Neuland betraten. So bestätigt Jelinek 1985 im Interview mit Kurt Palm mit Blick auf die Posse Burgtheater, „daß ich mich jetzt überhaupt in meinen letzten Arbeiten sehr bewußt mit sprachexperimentellen Techniken auseinandersetze, was ja aus einer sehr österreichischen Tradition kommt. Das ist es ja auch, was – glaube ich – die österreichische Literatur von der deutschen unterscheidet, dieses Sprachbewußtsein in der österreichischen Tradition.“68 Dass es ihr mit dieser erklärtermaßen austriakischen Antwort auf den Österreich-Kitsch aber eben nicht um einen rein formalistischen Zugang geht, zeigt ihre Technik der Verfremdung des Kitsches durch gezielte Zitatabwandlungen, konnotativ angereicherte Verballhornungen und zahlreiche mehr oder weniger sinnlose Neologismen, deren verstörende Funktion im Dramentext durch sporadische Großschreibung auch typographisch hervorgehoben erscheint, wie folgendes Beispiel aus dem ‚Allegorischen Zwischenspiel‘ veranschaulicht: Wien Wien nur du allein. Frohes, arbeitserfülltes Blasten und Fratzen. Fleißige Menschen. Fabriken. Büros. DIE FRONT. Wo der Blick sich erst weitet. Frühtau auf

66 Zu Reinhardt vgl. Jelinek, Burgtheater, S. 166, 169 u. 172; zu Riefenstahl die Anspielung ebd., S. 153. 67 Vgl. Elfriede Jelinek: „Kitschliesl. Zum Tod Leni Riefenstahls am 8.9.03“, zit. nach der Homepage: http://www.elfriedejelinek.com/; vgl. http://www.a-e-mgmbh.com/ej/fleni.htm [5.3.2015]. 68 Palm, „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, S. 229.

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dem Kacker. Das Feld. Die Ähre. Das Brüchserl, das knallt. Das Rebhuhn, das fallt. Die EHRENSCHNEIDE. Der Nahrungspreis. Fleißige Rägde und Flechte. Das Volkslied. Die Großmutterl am GASUNGSOFEN. 69

Das Lachen soll dem Publikum angesichts solcher sinistren Katachresen im Hals stecken bleiben, zumindest jede ‚befreiende‘ Wirkung verlieren. In der Programmschrift Ich schlage sozusagen mit der Axt drein hat Jelinek zu ihrem darstellerischen Konzept in Burgtheater bemerkt: Das Stück ist an realen Personen orientiert, die in der Zeit des Faschismus berühmte Schauspieler waren (und es heute genauso wären), aber nicht die Personen als solche sind mir wichtig gewesen, sondern das, wofür sie standen, was sie repräsentierten, wofür sie sich zum Werkzeug machten. Ähnlich wie im ,Mephisto‘ von Klaus Mann, in dem auch Gründgens als Person weniger wichtig ist als die Figur eines Aufsteigers in der Nazizeit, die eben bestimmte Züge eines bestimmten Menschen trägt.70

Auch diese Äußerung bestätigt Jelineks ideologiekritisches Ansinnen: Ihr geht es weniger um die Denunziation realer Personen, sondern um den Aufweis eines ideologischen Syndroms, das von diesen – bzw. von den ihnen nachgebildeten und sie überzeichnenden Figuren auf der Bühne – verkörpert wird. Wie sie im Interview mit Kurt Palm betont, legt sie generell Wert darauf, zwar keine „feministische Literatur“ zu schreiben, aber „sicherlich politische Literatur“.71 Sie verfolgt mithin eine dezidiert politische Wirkungsabsicht, die man in dieser Deutlichkeit dem üblichen Camp kaum unterstellen kann – das sei hier noch einmal betont. Abschließend lässt sich Jelineks Verfahren der dramatischen Inszenierung und kritischen Funktionalisierung des Österreich-Kitsches demonstrieren an ihrer ‚verballhornenden‘ Bearbeitung der berühmten ÖsterreichRede des Ottokar von Hornek an Rudolf von Habsburg aus Grillparzers König Ottokars Glück und Ende (verfasst 1823, uraufgeführt 1825), die unter einem spätestens nach 1945 problematisch gewordenen Stichwort steht:

69 Jelinek, Burgtheater, S. 158. 70 Jelinek, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 16. 71 Palm, „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, S. 231.

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Er ist ein guter Herr, es ist ein gutes Land, Wohl wert, daß sich ein Fürst sein unterwinde! Wo habt Ihr dessen gleichen schon gesehn? Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet, Lachts wie dem Bräutigam die Braut entgegen! Mit hellem Wiesengrün und Saatengold, Von Lein und Safran gelb und blau gestickt, Von Blumen süß durchwürzt und edlem Kraut, Schweift es in breitgestreckten Tälern hin –72

Wie schon dieser kurze Ausschnitt zeigt, wimmelt es hier von Topoi und Gemeinplätzen, die bald hochgradig ideologisiert wurden und nach 1945 einer gesellschaftskritischen Autorin wie Jelinek als unerträglich aufstoßen mussten – und das sowohl auf sozialer und geschlechtlicher als auch auf bildlicher Ebene: So ‚unterwindet‘ sich bei Grillparzer der gute Herrscher seines einzigartigen Landes (bzw. sorgt für dieses73) scheinbar ebenso naturgemäß, wie eine Braut dem ihr (von wem auch immer) zugedachten Bräutigam ‚entgegen lacht‘. Die von einer strahlenden Sonne beleuchteten Naturbilder, die in ihrer stereotypen Serenität einer x-beliebigen Fremdenverkehrswerbung entnommen sein könnten, tun ein Übriges, um – aus der Perspektive der Nachkriegszeit betrachtet – den Eindruck von Kitsch entstehen zu lassen. Dennoch oder gerade deshalb handelt es sich bei König Ottokars Glück und Ende um das Drama, dem man etwa im schulischen Deutschunterricht Österreichs bis in den 1970er Jahre eine überragende identitätspolitische Bedeutung zugesprochen hat.74 Programmatisch wurde

72 Franz Grillparzer: König Ottokars Glück und Ende, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 2: Dramen 1817–1828, hrsg. von Helmut Bachmaier, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1986, S. 391–509, hier: S. 458. 73 Als Wortbedeutung verzeichnet das Grimm’sche Wörterbuch u. a.: „2) für jemand oder etwas sorgen, sich jemandes oder einer sache annehmen“ (Karl Euling: „unterwinden“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 11/III, bearb. von Karl Euling, Leipzig: Hirzel 1936, Sp. 1907– 1911, hier: Sp. 1908). 74 Vgl. Hilde Haider-Pregler: „‚König Ottokars Glück und Ende‘ – Ein ‚Nationales Festspiel‘ für Österreichs ‚Nationaltheater‘?“, in: Stichwort Grillparzer, hrsg.

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das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Wiener Burgtheater am 14. Oktober 1955 nach einer mit chauvinistisch-antideutschen Untertönen geführten öffentlichen Auseinandersetzung nicht – wie vom Burgtheaterdirektor Alfred Rott zunächst vorgesehen – mit Goethes Egmont, sondern eben mit einer Festaufführung des Grillparzer-Trauerspiels wiedereröffnet.75 Ausschlaggebend für die Entscheidung in dem aus heutiger Sicht unangenehm kleinlich und provinziell wirkenden Streit, der – parteipolitisch aufgeladen – schließlich durch einen Ministerratsbeschluss beendet werden musste, 76 war offenbar gerade Horneks Lobrede auf Österreich,77 auf die sich dann auch Friedrich Schreyvogl in seiner patriotischen Festrede berief. 78 Die Hauptrollen in Rotts umstrittener Inszenierung des Stücks als ‚vaterländische Revue‘, die bis Januar 1959 weitere 26 Aufführungen erlebte, spielten Ewald Balser (Ottokar) und just Attila Hörbiger (Rudolf), während Raoul Aslan den Ottokar von Hornek gab.79 Auch auf diesen wirkungsgeschichtlichen Kontext des Dramas in der Nachkriegszeit, die für die Weigerung vieler Österreicher steht, sich mit der eigenen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, nimmt Jelinek in ihrem ‚Allegorischen Zwischenspiel‘ implizit Bezug: Sie teilt den längeren zweiten Teil von Horneks Österreich-Rede in Form einer Stichomythie gleichsam dialogisch auf die Figuren Istvan und Schorsch auf, perspektiviert die Darbietung durch eine Szenenanweisung nach der ersten Verszeile („Musik, etwa 3. Satz aus Mahlers Erster. Falsche Rustikalität!“) kritisch und verfremdet sie wiederum insgesamt durch zahlreiche Katachresen; zur besseren Vergleichbarkeit sei die Kontrafaktur (rechts) dem Original (links) stückweise gegenübergestellt:

von. Hilde Haider-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1994, S. 195–222. 75 Vgl. Evelyn Deutsch-Schreiner: „Die Österreicher und ihr Grillparzer“, in: ebd., S. 181–194, hier: S. 193 f. 76 Vgl. ebd., S. 194. 77 Vgl. Haider-Pregler, „‚König Ottokars Glück und Ende‘“, S. 214–216, hier: S. 215. 78 Vgl. Friedrich Schreyvogl: „Das Österreichische an ‚König Ottokars Glück und Ende‘. Zur Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters am 15. Oktober 1955“, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 2, 3 (1956), S. 183–185. 79 Vgl. Haider-Pregler, „‚König Ottokars Glück und Ende‘“, S. 215 f.

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Ein voller Blumenstrauß so weit es reicht, Vom Silberband der Donau rings umwunden! – Hebt sichs empor zu Hügeln voller Wein, Wo auf und auf die goldne Traube hängt Und schwellend reift in Gottes Sonnenglanze; Der dunkle Wald voll Jagdlust krönt das Ganze. Und Gottes lauer Hauch schwebt drüber hin, Und wärmt und reift, und macht die Pulse schlagen, Wie nie ein Puls auf kalten Steppen schlägt. Ein voller Blumenstrauß, so weit es schweicht. Vom SILBERBRAND der Donau rings umkunden! Hebt sichs empor zu Hügeln voller Seim. Wo auf und auf die goldne Traube sengt. Und schwellend reift in Gottes Sonnenbranze... Der dunkle Spalt voll Jagdlust krönt die ALPENSCHANZE. Und Gottes KAUERSCHLAUCH schwebt drüber hin... ... und wärmt und seift, und macht die Hülsen schlagen. Wie nie ein Huls auf kalte Klippen krägt. Drum ist der Österreicher froh und frank, Trägt seinen Fehl, trägt offen seine Freuden, Beneidet nicht, läßt lieber sich beneiden! Und was er tut, ist frohen Muts getan. ’s ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein, Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen; Drum ist der Österreicher sang und klank... ... trägt seinen Fehl, trägt offen seine Greubeln. Bekleidet nicht, läßt lieber sich besteigen. Und was er tut, ist froher Wuts getan. ’s ist möglich, daß in Sachsen und beim Latarakt es Leute gibt... ... die mehr aus Büchern AASEN.

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Allein, was not tut und was Gott gefällt, Der klare Blick, der offne, richtge Sinn, Da tritt der Österreicher hin vor Jeden, Denkt sich sein Teil, und läßt die Andern reden! O gutes Land! o Vaterland! Inmitten Dem Kind Italien und dem Manne Deutschland, Liegst du, der wangenrote Jüngling, da: Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn, Und mache gut, was Andere verdarben!80 Allein was nottut und was Klotz gefällt. Der klare Blick, der offne richtge Zugewinn. Da seicht der Österreicher hin von Samojeden. Denkt sich sein Teil und läßt den Großsulz reden! O gutes Gland, o Vaterland! Verrottend zwischenem Kind Italien und dem Spengler NACKTBRAND... ... liegst du, der wangenrote KLÜNGLING da... Erhalte Gott dir deinen LUDERSINN. Und eingriffe gut, was andere versargen!81

In diesem Exempel für Jelineks radikale Kitsch- und Mythenkorrektur, das – soweit ich sehe – bisher noch nicht eingehend analysiert worden ist, lassen sich verschiedene Prinzipien der sprachlichen Verfremdung ausmachen: Die von Grillparzer an einigen Stellen der dramatischen Rede eingebauten Endreime bleiben zwar weitgehend intakt („-glanze“/„Ganze“ → „-branze“/„-SCHANZE“, „Freuden“/„beneiden“ → „Greubeln“/„besteigen“, „Jeden“/„reden“ → „Samojeden“/„reden“), doch sind die modifizierten Sätze nur noch scheinbar grammatisch. So werden die Flexionen Grillparzers zwar übernommen, was den Anschein erweckt, als bliebe die Syntax unverändert, doch erscheint die im Original erzeugte Semantik konsequent subvertiert, wodurch reiner Nonsens entsteht, der in seinen grotesken Verballhornungen der Worte Horneks gleichwohl konnotativ aufgeladen ist, wie sich nicht allein an der Nennung der „Samojeden“ – einer mittel-

80 Grillparzer, König Ottokars Glück und Ende, S. 458 f. 81 Jelinek, Burgtheater, S. 158 f.

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großen nordischen (!) Hunderasse – zeigen lässt, sondern auch an folgenden Ersetzungen: „es reicht“ → „es schweicht“, „Wein“ → „Seim“ (d.i. eine klebrige, zähe Flüssigkeit; zugleich besteht ein Anklang an Schleim), „froh und frank“ → „sang und klank“ (mit dem harten Auslaut wird eine anbiedernde Orientierung an der norddeutschen Aussprache suggeriert, die auch in dem von Wessely gesprochenen Monolog aus Heimkehr zu bemerken ist), „beim Rhein“ → „beim Latarakt“ (vgl. den ‚Katarakt‘, der nicht nur ‚Wasserfall‘ oder ‚Stromschnelle‘ bedeutet, sondern auch als Bezeichnung für den ‚grauen Star‘ als Trübung der Augenlinsen und damit der visuellen Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeit verwendet wird), „Gott“ → „Klotz“. Darüber hinaus setzt Jelinek weitere ästhetische Verfremdungstechniken ein, etwa die typographische Hervorhebung zentraler Begriffe durch Versalien („SILBERBRAND“, „ALPENSCHANZE“, „KAUERSCHLAUCH“, „AASEN“, „NACKTBRAND“, „KLÜNGLING“, „LUDERSINN“) oder die Substitution neutraler oder gar als angenehm konnotierter Begriffe durch solche, die 1. latent Gewalt oder Zerstörung implizieren („hängt“ → „sengt“, „lauer Hauch“ → „KAUERSCHLAUCH“, „Pulse“ → „Hülsen“ [vgl. Patronenhülsen], „Freuden“ → „Greubeln“ [vgl. Gräuel], „lasen“ → „AASEN“), 2. ausbleibende Empathie bzw. Passivität, fehlenden Mut oder gar Schwäche indizieren („Beneidet nicht“ → „Bekleidet nicht“, „läßt lieber sich beneiden“ → „läßt lieber sich besteigen“, „Da tritt der Österreicher hin vor Jeden“ → „Da seicht der Österreicher hin von Samojeden“), 3. eine Form von Opportunismus und Korruption anzeigen („der offne, richtge Sinn“ → „der offne richtge Zugewinn“, „Denkt sich sein Teil, und läßt die Andern reden!“ → „Denkt sich sein Teil und läßt den Großsulz reden!“, „Jüngling“ → „KLÜNGLING“, „Jugendsinn“ → „LUDERSINN“) oder 4. historisch mit der Nazizeit in Verbindung stehen („das Ganze“ → „die ALPENSCHANZE“ [bzw. ‚Alpenfestung‘]). Im Sinne der vom vorliegenden Band aufgeworfenen Frage nach der Nationalisierung des Kitsches dürfte es deutlich geworden sein, dass sich Jelineks Diagnose eines genuin österreichischen Kitsches historisch insbesondere auf die symbolischen Formen der 1950er Jahre fokussiert, die sie ideologisch, ästhetisch und hinsichtlich des beteiligten künstlerischen Personals in einer ungebrochenen Kontinuität zu den kulturindustriell produzierten Phantasmen aus den Traumfabriken der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs stehen sieht. Insofern befindet sich ihr Kitsch-Verständnis sogar

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in einer gewissen Nähe zu jenem Walter Benjamins, das darauf hinausläuft, den industriell gefertigten Kitsch mit den kontrafaktischen Wunscherfüllungen freudianisch verstandener Träume zu assoziieren und zugleich konsequent zu historisieren,82 wie er im Essay Traumkitsch aus den Ästhetischen Fragmenten mit Blick auf die Verhältnisse in der Moderne ausführt: Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale. Auf Nimmerwiedersehen kassiert die Technik das Außenbild der Dinge wie Banknoten, die ihre Gültigkeit verlieren sollen. Jetzt greift die Hand es noch einmal im Traum und tastet vertraute Konturen zum Abschied ab. Sie faßt die Gegenstände an der abgegriffensten Stelle. [...] Und welche Seite kehrt das Ding den Träumen zu? Welches ist diese abgegriffenste Stelle? Es ist die Seite, welche von Gewöhnung abgescheuert und mit billigen Sinnsprüchen garniert ist. Die Seite, die das Ding dem Traume zukehrt, ist der Kitsch.83

Intellektuelle Aufwandsminimierung und affektive Zensurumgehung des Traums treffen sich hier in der formelhaft eingeschliffenen Wunschökonomie des Kitsches, der unter einer geglätteten ‚schönen‘ Oberfläche die verdrängten Verluste und Opfer der ihn hervorbringenden Kultur und Gesellschaft verbirgt. In der Nachkriegszeit radikalisierte sich diese Symptomatik in einer Weise, die Benjamin noch gar nicht ahnen konnte. Genau auf ein ‚Entbergen‘ des solcherart Verborgenen – nämlich der kollektiv begangenen, monströsen Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts – zielt Elfriede Jelineks provokative Kitsch-Ästhetik: Konsequent lässt sie den zweiten (und letzten) Aufzug der Posse Burgtheater in eine gleichsam chorisch vorgetragene – also kollektive Signifikanz beanspruchende – krude Ansammlung

82 Vgl. Walter Benjamin: „Traumkitsch“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 620–622, hier: S. 620: „Das Träumen hat an der Geschichte teil. Die Traumstatistik würde jenseits der Lieblichkeit der anekdotischen Landschaft in die Dürre des Schlachtfeldes vorstoßen. Träume haben Kriege befohlen und Kriege vor Urzeiten Recht und Unrecht, ja Grenzen der Träume gesetzt.“ 83 Ebd.

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von klischeehaften Österreich-Imagines münden.84 Deren scheinbare Harmlosigkeit wird dabei angesichts ihrer teils grotesken sprachlichen Verfremdung ins Bodenlos-Abgründige verkehrt, der ostentativ nationalisierte Kitsch offenbart sich als gesellschaftskonstitutive Lüge.

P RIMÄRLITERATUR Baudelaire, Charles: „Journaux intimes. [Fusées XIII.]“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, hrsg. von Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 647–708. Baudelaire, Charles: „Tagebücher“, in: ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Bd. 6, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien: Hanser 1991, S. 193–258. Broch, Hermann: „Das Weltbild des Romans“, „Das Böse im Wertsystem der Kunst“ und „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/2: Schriften zur Literatur 2. Theorie, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 89–173. Grillparzer, Franz: „König Ottokars Glück und Ende“, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 2: Dramen 1817–1828, hrsg. von Helmut Bachmaier, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1986, S. 391–509. Jelinek, Elfriede: „Burgtheater. Posse mit Gesang“, manuskripte. Zeitschrift für Literatur 22, 76 (1982), S. 49–69. Jelinek, Elfriede: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, TheaterZeitSchrift 7 (1984), S. 14–16. Jelinek, Elfriede: „Wir Herren der Toten“, in: O Österreich!, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, Göttingen: Wallstein 1995 (= Göttinger Sudelblätter) Jelinek, Elfriede: „Burgtheater. Posse mit Gesang“, in: dies.: Theaterstücke, hrsg. von Ute Nyssen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 92010, S. 129– 189. Jelinek, Elfriede: „Paula Wessely“, http://www.elfriedejelinek.com/ [5.3. 2015].

84 Vgl. Jelinek, Burgtheater, S. 188 f.

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Jelinek, Elfriede: „Kitschliesl. Zum Tod Leni Riefenstahls am 8.9.03“, http://www.elfriedejelinek.com/; vgl. http://www.a-e-m-gmbh.com/ej/ fleni.htm [5.3.2015]. Jelinek, Elfriede/Jutta Heinrich/Adolf-Ernst Meyer: Sturm und Zwang. Schreiben als Geschlechterkampf, Hamburg: Klein 1995. Musil, Robert: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“, in: ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 8, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1137– 1154. Schreyvogl, Friedrich: „Das Österreichische an ‚König Ottokars Glück und Ende‘. Zur Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters am 15. Oktober 1955“, Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 2, 3 (1956), S. 183–185.

S EKUNDÄRLITERATUR Annuß, Evelyn: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, München: Fink 2005. Banoun, Bernard: „Komik und Komödie in einigen Stücken Elfriede Jelineks“, in: Komik in der österreichischen Literatur, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner und Klaus Zeyringer, Berlin: Erich Schmidt 1996 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 142), S. 285–299. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. Benjamin, Walter: „Traumkitsch“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 620–622. Degner, Uta: „Mythendekonstruktion“, in: Jelinek-Handbuch, hrsg. von Pia Janke u. a., Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 41–46. Deutsch-Schreiner, Evelyn: „Die Österreicher und ihr Grillparzer“, in: Stichwort Grillparzer, hrsg. von. Hilde Haider-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1994, S. 181–194. Deutsch-Schreiner, Evelyn: „Burgtheater; Erlkönigin; Präsident Abendwind; Ich liebe Österreich; Das Lebewohl“, in: Jelinek-Handbuch, hrsg. von Pia Janke, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 137–147.

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Kerschbaumer, Marie-Thérèse: „Bemerkungen zu Elfriede Jelineks Burgtheater“, in: dies.: Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zu tun... Gedanken zum Lesen und Schreiben von Literatur, Wien: Wiener Frauenverlag 1989, S. 152–163. Kiebuzinska, Christine: „Historicizing Austria in Elfriede Jelinek’s Burgtheater and Totenauberg“, in: Fünfzig Jahre Staatsvertrag. Schreiben, Identität und das unabhängige Österreich. Internationales Symposium, Trinity College, Dublin, 25. – 26. November 2005, hrsg. von Gilbert J. Carr und Caitríona Leahy, München: Iudicium 2008, S. 136–149. Kliche, Dieter: „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3: Harmonie–Material, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 272–288. Lampe, Jorg: „Kitsch, Kunst und Volk“, Die Literatur 42 (1939/40), S. 7– 10. Mayer, Verena/Koberg, Roland: Elfriede Jelinek. Ein Porträt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Menninghaus, Winfried: „On the Vital Significance of ‚Kitsch‘: Walter Benjamin’s Politics of ‚Bad Taste‘“, in: Walter Benjamin and the Architecture of Modernity, hrsg. von Andrew Benjamin und Charles Rice, Melbourne: re.press. 2009 (= Anamnesis). Mitterbauer, Helga: „Bewältigte oder vergewaltigte Vergangenheit? Elfriede Jelineks Burgtheater im Kontext österreichischer Identitätskonstruktionen“, in: Fünfzig Jahre Staatsvertrag. Schreiben, Identität und das unabhängige Österreich. Internationales Symposium, Trinity College, Dublin, 25.–26. November 2005, hrsg. von Gilbert J. Carr und Caitríona Leahy, München: Iudicium 2008, S. 150–159. Palm, Kurt: „[Interview mit] Elfriede Jelinek“, in: Burgtheater. Zwölfeläuten. Blut. Besuchszeit. Vier österreichische Stücke, hrsg. von Kurt Palm, Berlin: Henschel 1986 bzw. Wien: Frischfleisch & Löwenmaul 1987, S. 227–233. Rathkolb, Oliver: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1991.

„I N SEINER K ITSCHIGKEIT

UND

V ERLOGENHEIT

NICHT MEHR ZU ÜBERBIETEN “

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Schenkermayr, Christian: „Ende des Mythos? – Beginn der Burleske? Versuch einer Annäherung an das Verhältnis von Mythendekonstruktion und burlesker Komik in einigen Dramen Elfriede Jelineks“, in: Felix Austria – Dekonstruktion eines Mythos? Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Małgorzata Leyko, Artur Pełka und Karolina Prykowska-Michalak, Fernwald: Litblockin 2009, S. 344–363. Steiner, Maria: Paula Wessely. Die verdrängten Jahre, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1996. Wolf, Norbert Christian: „‚Wer hat dich, du schöner Wald...?‘ Kitsch bei Musil – mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften“, Zeitschrift für deutsche Philologie 127, 2 (2008), S. 199–217.

Holocaust-Kitsch? Zur Polemik um Jonathan Littells Bestseller Les Bienveillantes in Frankreich, Deutschland und den USA P ETER K UON

Man erinnere sich: Drei Jahre lange hielten die fiktiven Memoiren eines unbußfertigen SS-Offiziers zuerst Frankreich, dann die Welt in Atem. Les Bienveillantes, am 21. August 2006 in einer Startauflage von 12.000 Exemplaren bei Gallimard erschienen, erhielt in kurzer Folge den Grand Prix der Académie Française und den noch prestigeträchtigeren Prix Goncourt. Die Verkaufszahlen des im französischen Original immerhin 894 eng bedruckte Seiten umfassenden Wälzers stiegen bis Jahresende auf mehr als eine halbe Million. Der Berlin-Verlag soll für die deutschen Rechte 450.000 Euro, HarperCollins für die amerikanische Übersetzung 1 Million Dollar bezahlt haben.1 Der Roman wurde bis heute in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt. Mittlerweile ist der Hype um den Weltbestseller eines bis dahin unbekannten Autors, Jonathan Littell, der als Amerikaner in angeblich nur vier Monaten das französische Manuskript verfasste, etwas abgeklungen. Die weltweite Rezeption der Bienveillantes liefert allerdings umfangreiches Anschauungsmaterial, um polemische Diskursstrategien im internationalen Vergleich zu untersuchen.

1

Siehe Frank-Rutger Hausmann: „Jonathan Littells Holocaustroman Les bienveillantes im ‚Reading-Room‘“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 32, 3/4 (2008), S. 447-465, hier: S. 447–448.

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K ITSCH

ALS K AMPFBEGRIFF IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN B IENVEILLANTES -R EZEPTION

In der im Unterschied zu Frankreich deutlich kritischeren Diskussion im deutschen Sprachraum2 spielte von Anfang an der Kitsch-Begriff eine herausragende Rolle. Michael Mönninger stellte den Roman am 21. September 2006 in Die Zeit, einen Monat nach der französischen Ersterscheinung, als „in Teilen [...] skandalösen Kitsch“3 vor. Für Tilman Krause, am 7. November in Die Welt, „[...] fischt Jonathan Littell weidlich im Trüben allen nur denkbaren Nazikitsches“.4 Zwei Jahre später, am 14. Februar 2008, nahm Iris Radisch, wiederum in Die Zeit, zur Einstimmung auf das bevorstehende Erscheinen der deutschen Übersetzung, diesen Faden auf, wenn sie den „Landser-Kitsch“ erwähnt, in den „das Buch an vielen Stellen abzusinken droht“.5 Dabei wettert sie gegen die französische Kritik, für die „alles Misslungene des Romans – die Kolportage, der Kitsch, die Pornografie, das NS-Geschwätz – nichts als ein notwendiger Baustein zum Gelingen des Ganzen“6 sei. Zwei Tage später konstatierte Georg Klein in der Süddeutschen die „pornographische Kitschigkeit“7 der Wohlgesinnten. Am 23. Feb-

2

Siehe den Überblick von Wolfgang Asholt: „A German Reading of the German Reception of The Kindly Ones“, in: Writing the Holocaust Today: Critical Perspectives on Jonathan Littell’s The Kindly Ones, hrsg. von Aurélie Barjonet und Liran Razinsky, Amsterdam/New York: Rodopi 2012, S. 221–238.

3

Michael Mönninger: „Die Banalisierung des Bösen. Mit den Weltkriegsmemoiren eines deutschen SS-Mannes sorgt der amerikanische Autor Jonathan Littell für die Sensation des französischen Literaturherbstes“, DIE ZEIT, 21. September 2006, S. 64.

4

Tilman Krause: „Welke Blüten von Nazikitsch. Jonathan Littell erhält den Prix Goncourt für ein Buch, mit dem die Entwirklichung des Dritten Reiches eine neue Stufe erreicht“, Die Welt, 7. November 2006, S. 27.

5

Iris Radisch: „Am Anfang steht ein Missverständnis. Jonathan Littells Buch ‚Die Wohlgesinnten‘ will uns erklären, warum die Mörder mordeten, aber versinkt in widerwärtigem Kitsch“, DIE ZEIT, 14. Februar 2008, S. 51–52, hier: S. 51.

6

Ebd., S. 52.

7

Georg Klein: „Die Bosheit der Toten. Jonathan Littells Roman ‚Die Wohlmeinenden‘“, Die Süddeutsche, 16. Februar 2008, S. 17.

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ruar charakterisiert Jürgen Ritte in der Neuen Zürcher Zeitung den Roman als „Apotheose von ‚Kitsch und Tod’“.8 Am 7. März sprach Erhard Schütz in Der Freitag von einer „Collage aus Geschichtswissenschaft und saurem Kitsch“.9 Am 12. März bedauerte Klaus Harpprecht in der FAZ, dass sich das Diktum von der „Schlammlawine des Kitsches“ leider „dutzendfach“10 belegen lasse. Natürlich gab es auch Stimmen, die Die Wohlgesinnten über den grünen Klee lobten. Unter ihnen war Wilfried Wiegand, am 28. Februar 2008 in der FAZ, der einzige, der auf den Kitsch-Vorwurf explizit Bezug nahm: „Ist Littell pornografisch, kitschig, geschmacklos? Das sind alles Begriffe aus einer anderen, einer sauberen Welt, wo das Verschmutzen als Ausnahme gebrandmarkt werden soll.“11 In den meisten dieser Äußerungen wird Kitsch nicht nur als disqualifizierender Kampfbegriff12, sondern auch als Beschreibungskategorie eingesetzt. Bevor ich aber das deskriptive Potenzial des Begriffs ausleuchte, möchte ich eine (unter vielen anderen13) Textstellen präsentieren, auf die sich der Kitsch-Vorwurf – zum Teil ausdrücklich – bezieht.

8

Jürgen Ritte, „Holocaust als Kolportage. Jonathan Littells großangelegter Roman ‚Die Wohlgesinnten‘ ist nun auch auf Deutsch zu lesen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 23. Februar 2009, S. 1 u. 30, hier: S. 30.

9

Erhard Schütz: „Pimp my nazi. Jonathan Littells ‚Die Wohlgesinnten‘ und Marcel Beyers ‚Kaltenburg‘ – zwei Geschichtsromane im Vergleich“, in: Der Freitag, 7. März 2008, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/pimp-my-nazi [31.10.2014].

10 Klaus Harpprecht: „Auf Führers Nase gefallen. Der verhinderte Geniestreich“, FAZ,

12.

März 2008,

http://lesesaal.faz.net/littell/article,php?aid=39&bl=

%2Flittell%2Frezensionen.php [31.10.2013]. 11 Wilfried Wiegand: „Max Aue: Ein Monstrum, ein Montaigne. An wen wendet sich Littell?“, FAZ, 28. Februar 2008, http://lesesaal.faz.net/littell/article. php?aid=36&bl=%2Flittell%2Frezensionen.php [31.10.2013]. 12 Siehe Wolfgang Braungart in der Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 1. 13 Vgl. die Analysen in Peter Kuon: „From ‚Kitsch‘ to ‚Splatter‘. The Aesthetics of Violence in The Kindly Ones“, in: Writing the Holocaust Today, S. 33–54.

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E IN K ITSCH -B ELEG : D ER „ VERLETZTE V OGEL “ IN B ABYN J AR Der reuelose Ich-Erzähler, Obersturmbannführer Dr. Aue, erinnert sich daran, wie er während des Massakers an den ukrainischen Juden den Befehl erhielt, in die Schlucht von Babyn Jar hinabzusteigen, um den noch nicht tödlich Getroffenen den sogenannten Gnadenschuss zu geben. Der Abscheu, der ihn überkommt, als er über die nackten Körper der toten und verwundeten Juden balanciert, ruft eine Kindheitserinnerung in ihm wach, als er sich nachts in einer Toilette vor Tausenden von Kakerlaken ekelte. Die Assoziation der Juden mit Ungeziefer schafft die emotionale Disposition für sein eigenes Töten. Aue sucht dennoch die ihm übertragene Aufgabe, nämlich „den Menschen überflüssiges Leiden zu ersparen“, gewissenhaft zu erledigen. Dieses saubere Töten wird durch einen zufälligen Blickkontakt mit einer jungen Frau gestört, die am Rand des Abgrunds die Maschinengewehrsalve erwartet: In der Nähe führten sie eine weitere Gruppe heran: Mein Blick begegnete dem eines schönen jungen Mädchens, das fast nackt war, aber sehr elegant, gefasst, die Augen voll unendlicher Traurigkeit. Ich entfernte mich. Als ich zurückkehrte, lebte sie noch, halb auf den Rücken zurückgedreht, die Kugel war ihr unter einer Brust ausgetreten, und sie keuchte, vollkommen starr, ihre hübschen Lippen zitterten und schienen ein Wort bilden zu wollen, sie starrte mich aus großen, überraschten Augen an, ungläubig, die Augen eines verletzten Vogels, und dieser Blick setzte sich in mir fest, zerriss mir den Bauch und ließ einen Strom von Sägemehl herausrieseln, ich war eine gewöhnliche Puppe und spürte nichts, gleichzeitig empfand ich den unwiderstehlichen Drang, mich zu ihr hinabzubeugen und ihr das Gemisch aus Schweiß und Erde von der Stirn zu wischen, ihr die Wange zu streicheln und zu versichern, dass es nicht so schlimm sei, dass alles gut werde, stattdessen riss ich mit einer krampfhaften Bewegung die Pistole hoch und schoss ihr eine Kugel in den Kopf, was im Grund auf dasselbe hinauslief, auf jeden Fall für sie, wenn auch nicht für mich, denn ich wurde bei dem Gedanken an dieses sinnlos verschwendete Leben von einer ungeheuren, maßlosen Wut gepackt, schoss unaufhörlich weiter, ihr Kopf war längst wie eine überreife Frucht geplatzt, während mein Arm sich von mir löste und sich ganz allein durch die Schlucht davonmachte, hierhin und dorthin schießend, ich lief hinter ihm her, machte ihm mit meinem anderen Arm Zeichen, er solle auf mich warten, aber er wollte nicht, er verhöhnte mich und schoss ganz allein, ohne

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mich, auf die Verwundeten, bis ich schließlich, völlig außer Atem, stehen blieb und zu weinen begann. Jetzt ist alles vorbei, dachte ich, mein Arm wird nie wiederkommen, doch zu meiner großen Überraschung war er unversehens wieder dort, wo er hingehörte, fest verbunden mit meiner Schulter, und Häfner trat zu mir und sagte: „Es ist gut, Obersturmführer. Ich löse Sie ab.“14

Für Georg Klein in der Süddeutschen vom 16. Februar 2008 machte es keinen Sinn, „die Drastik oder das Ungeschick, den psychologischen Realismus oder die pornographische Kitschigkeit der Beschreibung gegeneinander abzuwägen. Die ganze Passage ist auf eine fatale Art so gut gemeint und so bescheiden geschrieben, wie es der Rahmen der vorgegebenen er-

14 Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman, übers. von Hainer Kober, Berlin: Berlin Verlag 2008, S. 185–186: „Près de moi, on amenait un autre groupe : mon regard croisa celui d’une belle jeune fille, presque nue mais très élégante, calme, ses yeux emplis d’une immense tristesse. Je m’éloignai. Lorsque je revins elle était encore vivante, à moitié retournée sur le dos, une balle lui était sortie sous le sein et elle haletait, pétrifiée, ses jolies lèvres tremblaient et semblaient vouloir former un mot, elle me fixait avec ses grands yeux surpris, incrédules, des yeux d’oiseau blessé, et ce regard se planta en moi, me fendit le ventre et laissa s’écouler un flot de sciure de bois, j’étais une vulgaire poupée et ne ressentais rien, et en même temps je voulais de tout mon cœur me pencher et lui essuyer la terre et la sueur mêlées sur son front, lui caresser la joue et lui dire que ça allait, que tout irait pour le mieux, mais à la place je lui tirai convulsivement une balle dans la tête, ce qui après tout revenait au même, pour elle en tout cas si ce n’était pour moi, car moi à la pensée de ce gâchis humain insensé j’étais envahi d’une rage immense, démesurée, je continuais à lui tirer dessus et sa tête avait éclaté comme un fruit, alors mon bras se détacha de moi et partit tout seul dans le ravin, tirant de part et d’autre, je lui courais après, lui faisant signe de m’attendre de mon autre bras, mais il ne voulait pas, il me narguait et tirait sur les blessés tout seul, sans moi, enfin, à bout de souffle, je m’arrêtai et me mis à pleurer. Maintenant, pensais-je, c’est fini, mon bras ne reviendra jamais, mais à ma grande surprise il se trouvait de nouveau là, à sa place, solidement attaché à mon épaule, et Häfner s’approchait de moi et me disait: ,C’est bon, Obersturmführer. Je vous remplace.‘“ (Jonathan Littell: Les Bienveillantes. Roman, Paris: Gallimard 2006, S. 126).

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zählerischen Mittel, der Rahmen des trivialen Romans eben zulässt.“15 Lässt sich die „Kitschigkeit“ dieser Textstelle analytisch erschließen? Im Anschluss an die Salve des Tötungskommandos wird Dr. Aue mit dem konfrontiert, was er durch Wegschauen ausblenden wollte: der konkreten Person, der er nun den Fangschuss geben muss. Diese Person ist kein gebrechlicher Greis mit Schläfenlocken, sondern eine schöne junge Frau. Warum das Klischee der schönen Jüdin gewählt wird und nicht das alternative Klischee des unschuldigen Kindes, erklärt sich einfach daraus, dass es weniger um Empathie als vielmehr um Erotik geht. Der Blick des SSOffiziers wird zunächst von der statuarischen Eleganz der nackten Frau gefangen genommen und wandert dann, als sie verwundet vor ihm liegt, von ihrer nackten Brust zu den geöffneten Lippen und den weit aufgerissenen Augen, wobei das Adjektiv „joli“ die Schönheit des Opfers banalisierend verhübscht. Die Individualisierung der jungen Frau vollzieht sich in den Augen des SS-Offiziers als Erotisierung. Die flüchtige Begegnung des Ichs mit einer Unbekannten, die sich durch ihre Eleganz und Ruhe aus einer anonymen Menge hervorhebt, spielt auf Baudelaires Gedicht À une passante an, das in keiner Schulanthologie fehlen darf. Das vom Prätext suggerierte Liebesversprechen: „Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!“ („O dich hätt ich geliebt, o du hast es geahnt!“) 16 wird durch den Todesschuss, der die Passantin ins Jenseits befördert, ausgelöscht. Diese literarische Reminiszenz hat keinerlei tiefere Bedeutung: Sie wird aufgelegt wie Lametta. Die folgende Metapher des verletzten Vogels ersetzt die Assoziation der Kakerlaken durch ein Tier, das Schönheit und Freiheit evoziert und in seiner Hilflosigkeit an Mitgefühl appelliert. Auch diese Metapher ist erwartbar und somit trivial. Der Nobilitierung der getroffenen Jüdin durch die Vogelmetapher strahlt auf die übrigen jüdischen Opfer ab, die nun in ihrer Gesamtheit humanisiert werden, während der folgende Tagtraum den Täter zur Puppe verdinglicht. Die Ästhetisierung der Gewalt kulminiert im Moment des Schusses. Dieser wird durch den Blick der Verwundeten, den der Täter als Aggression, als Verletzung seiner Integrität, empfindet, ausgelöst. Der folgende Kontrollverlust, der sich im konvulsivischen Schießen auf den

15 Klein, „Die Bosheit der Toten“, S. 17. 16 Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen. Französisch / Deutsch, übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam 1980, S. 192–193.

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Kopf Bahn bricht, ist einem Splatter-Movie nachempfunden. Im Unterschied zu anderen Splatter-Szenen des Romans, in denen Blut und Hirn auf die Schützen spritzt, wird der zerschossene Schädel der jungen Frau aber ins euphemistische Bild einer „aufgeplatzten Frucht“ gefasst. Dieses Bild, mit seinen Vulva-Konnotationen, substituiert der Gewalt der Splatter-Szene ein latent pornographisches Stilleben, auf Französisch: nature morte. Die anschließende Erinnerung Aues an sein unkontrolliertes Umherballern tilgt jeden Gedanken an persönliche Verantwortung durch die alptraumhafte Fantasmagorie des abgetrennten und verselbständigten Schussarms.

D AS

DESKRIPTIVE

P OTENZIAL

DES

K ITSCH -B EGRIFFS

In der zitierten Textpassage finden sich in der Tat einige Merkmale, die Dieter Kliche in seinem Überblicksartikel17 dem Kitsch zuschreibt: die effekthascherische Vermischung disparater Formen und Stile (hier: Kriegsbericht, splatter, Erotik, Traum), die ornamentalen Anleihen bei prestigeträchtigen Modellen (Baudelaires Passante, Freuds Eros und Thanatos), die Affektsteigerung um jeden Preis, die preziösen, aber klischeehaften Formeln, die Idealisierung der Wirklichkeit, das Missverhältnis von stilistischem Bombast und dem ernsthaften, ja tragischen Gegenstand, das populistische Schielen auf den Publikumsgeschmack (hier: das gewaltpornographische Spiel mit splatter und Erotik) usw. Es sind Stellen wie diese, die in der deutschsprachigen Kritik den Kitsch-Vorwurf provozieren. Michael Mönninger begründet ihn mit der „Ästhetisierung des Grauens“,18 die sich an Horrorfilm und Gewaltpornographie anlehne. Der Vorwurf zielt auf die Transformation des Grauens in ein ästhetisches Erlebnis, das die niederen Instinkte eines Massenpublikums, seine voyeuristische Lust an Gewalt, befriedigt. Erhard Schütz findet für diese „Collage aus Geschichtswissenschaft mit saurem Kitsch, SecondHand-Räsonnement, Pawlowschen Metaphern und Bildungsversatzstücken“ die vernichtende Formel: „Plastikblumen des Bösen an Körpersaft-

17 Dieter Kliche: „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001– 2005, Bd. 3, S. 272–288, hier: S. 276–277. 18 Mönninger, „Die Banalisierung des Bösen“, S. 64.

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Surrogaten in Kunstnebel-Bildung“.19 Die Ausdrücke Second-Hand, Versatzstücke, Plastik, Surrogat, Kunstnebel heben das Unechte als das, neben Bombast, Klitterung und Klischee, wichtigste Merkmal des Kitsches hervor. In dasselbe Horn stößt Christoph Jahr, wenn er Littells viel gelobten Hyperrealismus, den „ganze[n] Reichtum an historischen Fakten, den er wie eine barocke Preziosensammlung vor dem Leser ausbreitet“, als „reines Blendwerk“20 bezeichnet. Diese Inauthentizität macht Tilmann Krause nicht an der Sprache, sondern an der Konzeption des Protagonisten fest, der das Stereotyp des gebildeten Ästheten, des „Edel-Nazi[s]“, und das des „schwulen Nazi[s]“ bediene. Littell stelle sich in eine „aus der Trivial- und Popkultur bestens bekannt[e]“ Tradition der Darstellung des Dritten Reiches, die der Kritiker als „Nazikitsch“21 qualifiziert. Diese literatur- und filmgeschichtliche Verortung der Wohlgesinnten unterstreicht Jürgen Ritte mit dem Hinweis auf Saul Friedländer, der schon 1982 den Zusammenhang von Kitsch und Tod in einem neuen Diskurs über den Nazismus konstatierte, wie er sich u. a. in Viscontis Götterdämmerung (1969), Cavanis Nachtportier (1974) und Syberbergs Hitler-Film (1977) manifestiert22. Dieser Diskurs, so Friedländer, substituiere „dem wahren Tod in seinem alltäglichen Schrecken und seiner tragischen Banalität“ einen „rituell verklärten, stilisierten und ästhetisierten Tod, der zwar als Sinnbild für Grauen, Zerfall und Entsetzen gemeint ist, aber letztlich als vergiftete Apotheose erschein[e]“.23 Jürgen Ritte greift außerdem den Vorwurf der „littérature de gare et de guerre“, also, wie er übersetzt, der „Bahnhofs- und Landserliteratur“ auf, den der deutschfranzösische Historiker Peter Schöttler in Le Mon-

19 Ebd. 20 Christoph Jahr: „Vergangenheitspolitischer Rückschritt. Jonathan Littell verklärt den Holocaust zur antiken Tragödie“, Neue Zürcher Zeitung, 23. Februar 2008, http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/_buchrezensionen_nichtmehrgueltig/vergan genheitspolitischer-rueckschritt-1.676601 [31.10.2013]. 21 Krause, „Welke Blüten von Nazikitsch“, S. 27. 22 Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus [1982], übers. von Michael Grendacher und Günter Seib, Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 25–26. 23 Ebd., S. 49.

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de erhoben hatte.24 „‚Die Wohlgesinnten’“, schreibt Ritte, „sind ein Ungetüm, ein Albtraum, hervorgegangen aus der Paarung eines Kolportageromans mit einer Historikerbibliothek.“25 Der Ausdruck „Kolportage“ suggeriert, dass es sich bei dem preisgekrönten französischen Bestseller in Wirklichkeit um ein minderwertiges Massenprodukt handelt, das seinen Erfolg der Sensationsgier des Publikums verdankt. Den Surrogat-Charakter des Kitsch-Produkts, das seine ästhetische Distinktion usurpiert, unterstreicht Ritte mit seiner spöttischen Umwertung der preziösen Spitzenmetaphorik, die Littell dem alten Nazi und nunmehrigen Direktor einer Miederwarenfabrik in Nordfrankreich aufprägt: „‚Die Wohlgesinnten‘ sollten eine Spitzenklöppelei, ein feingesponnenes Gewebe sein. Herausgekommen ist allerdings nur die Spitzendecke, die man früher auf den Fernseher in der Ecke legte, derweil über den Bildschirm wieder einmal Filme von Leichenbergen, von rollenden Panzern im Osten oder aus Führerhauptquartieren flimmern, kommentiert von Guido Knopp.“26 Wie das Spitzendeckchen, das kleinbürgerliche Kitschobjekt par excellence, das Möbelstück, auf das es nicht hingehört, nämlich den Fernseher, verschönert, so ästhetisiert Littells Wälzer durch Erzählung und Bebilderung das historische Wissen über das Dritte Reich. Als Zwischenbilanz halte ich fest, dass der Kitsch-Vorwurf in der deutschen Rezeption der Wohlgesinnten zwar als Kampfbegriff eingesetzt wird, über die Begründungen der Autoren aber durchaus deskriptive Kraft entfaltet und, wie unser Beispiel zeigt, wesentliche strukturelle und inhaltliche Eigenschaften des Textes erfassen kann. Umso erstaunlicher ist, dass ihm weder in der – überwiegend positiven – französischen noch in der – überwiegend negativen – englischen bzw. amerikanischen Rezeption Bedeutung zukommt.

24 Peter Schöttler: „Tom Ripley au pays de la Shoah“, Le Monde, 14. Oktober 2006, S. 19. 25 Ritte, „Holocaust als Kolportage“, S. 30. 26 Ebd. – Vgl. dagegen die eingehende Analyse der Spitzenmetaphorik bei Aurélie Barjonet: „Manufacturing Memories: Textual and Mnemonic Weaving in The Kindly Ones“, in: Writing the Holocaust Today, S. 111–130.

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D IE ABSENZ

DES K ITSCH -B EGRIFFS IN DER FRANZÖSISCHEN UND ANGLOPHONEN K RITIK Nur wenige französische Kritiker gehen überhaupt auf Aspekte ein, die den preisgekrönten – und damit konsekrierten – Roman in die Nähe von Trivialliteratur rücken könnten. Unter ihnen ist vor allem Florent Brayard zu erwähnen, der am 1. November 2006 in Libération den omnipräsenten SSOffizier mit „Forrest Gump“ vergleicht und seinen „Voyeurismus“Vorwurf am Beispiel der skandalösen Fiktionalisierung einer historischen Quelle erläutert.27 Als Jean Clair in der Winter-Nummer der Zeitschrift Commentaire seine Besprechung mit der Überschrift „Une apocalypse kitsch“ versieht, ist die Primärrezeption in Frankreich schon gelaufen. Clair stört sich weniger an den Klischees und den Horrorgeschichten, die für Bahnhofsromane („romans de gare“) typisch seien als vielmehr an der ostentativen, in Wirklichkeit auf copy & paste beruhenden Erudition.28 Neu sei lediglich die „morbide Faszination für das Exkrementielle und Pathologische“.29 Ansonsten bewege sich Les Bienveillantes ästhetisch und ethisch zwischen Cavanis Nachtportier und Viscontis Götterdämmerung: „Le kitsch n’est pas loin.“30 Die Hinweise auf Cavani und Visconti lassen vermuten, dass der Kunsthistoriker Clair den Titel seiner Rezension dem ungenannten Saul Friedländer verdankt, der in seinem schon erwähnten, 1982 zuerst auf Französisch erschienenen Essay die Verknüpfung von KitschÄsthetik und Todes- bzw. Weltuntergangsthematik als grundlegend für die Bildwelt der Nationalsozialismus und ihres aktuellen Widerscheins ansieht.31 Anders als Clair bezieht sich Pierre-Emmanuel Dauzat 2007 in Ho-

27 Siehe Florent Brayard: „Littell, pas si ‚bienveillant‘“, Libération, 1. Dezember 2012, S. 24. Die Kritik bezieht sich auf die Darstellung einer Erhängungsszene: „Kieper war die Hose auf die Knöchel gefallen; unter dem Hemd war er nackt, mit Grauen sah ich sein pralles Glied, er ejakulierte noch.“ (Littell, Die Wohlgesinnten, S. 136), die, um ein kollektives Phantasma zu bedienen, das Andenken Wolf Kiepers, eines jüdischen Opfers des Nazi-Regimes, beschädigt. 28 Siehe Jean Clair: „Une apocalypse kitsch“, Commentaire 29, 116 (2006), S. 1106–1107, hier: S. 1107. 29 Ebd. („la fascination morbide de l’excrémentiel et du pathologique“). 30 Ebd. 31 Siehe Friedländer, Kitsch und Tod, S. 46 u. 130.

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locauste ordinaire, einer Polemik gegen die Auswüchse der neueren Holocaust-Ästhetik, ausdrücklich auf Friedländers Analyse des Nazi-Kitsches.32 Kitsch, so lässt sich festhalten, ist kein gängiger Begriff der französischen Literaturkritik. Wo er auftaucht, bleibt er an Friedländer und damit an einen Diskurs wissenschaftlicher Provenienz gebunden. Ein ähnliches Bild ergibt sich für Großbritannien und die USA. In mehr als dreißig Rezensionen in englischer Sprache findet sich nur ein einziges Mal der Ausdruck Kitsch: Andrew Hussey, ein Literaturwissenschaftler am University of London Institute in Paris, hält am 27. Februar 2009 im Independent fest, dass es sich bei The Kindly Ones um eine Form von Unterhaltungsliteratur handle, die er als „‚Holocaust kitsch‘“, wenn nicht sogar als „‚Holocaust porn‘“ charakterisiert und in die Nähe der „Disney-fication“ der deutschen Geschichte in den über ganz Berlin verstreuten Gedenkstätten für Touristen aus aller Welt rückt. 33 Den Aspekt eines oberflächlichen touristischen Gaffens auf den Horror des Zweiten Weltkriegs hebt auch der Kritiker der Washington Post, Melvin Jules Bukiet, hervor: Der Roman, meint er, „ [...] leaves us feeling like tourists, gawking.“ 34 Einen weiteren Aspekt, den die Kritik thematisiert, ist der routinierte Umgang mit Klischees und Stereotypen: Littell kombiniere den „alten Hut“ vom gebildeten, musischen Nazi mit dem nicht weniger „alten Klischee“ vom schwulen Nazi35, das er durch die aufgestülpten Orestie-Motive des Inzests und des

32 Siehe Pierre-Emmanuel Dauzat: Holocauste ordinaire. Histoires d’usurpation. Extermination, littérature, théologie, Paris: Bayard 2007, S. 67. Der Autor verwendet wiederholt den Kitschbegriff, um Les Bienveillantes abzuwerten (ebd., S. 57, 66 u. 181), ohne ihn aber näher zu erläutern. 33 Siehe Andrew Hussey: „The Kindly Ones, by Jonathan Littell, translated by Charlotte Mandell“, The Independent, 27. Februar

2009, http://www.

independent.co.uk/arts-entertainment/books/reviews/the-kindly-ones-by-jonathan -littell-translated-by-charlotte-mandell-1632969.html [6. 11.2013]. 34 Melvin Jules Bukiet: „A Leering Look at the Holocaust“, The Washington Post, 7. März 2013, http://articles.washingtonpost.com/2009-03-07/news/36819564 _1_wrong-place-jonathan-littell-nazi [6.11.2013]. 35 „Liszt-loving, Plato-quoting, bisexual Nazis are well-trodden ground“. George Walden: „Sodomising his sister on a guillotine“, The Telegraph, 21. Januar

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Muttermords noch zu toppen suche. Überhaupt stellen die angelsächsischen Kritiker die Überspanntheit der Handlung36, den Exzess der skatologischen und sexuellen Details37, den „bombastic overreach“38 der Stilmittel, die „aufgepeppte“39 Pop-Ästhetik, die Preziosität der Sprache 40 und die Prätention der (musikalischen) Kapitelüberschriften41 heraus. All dies könne nicht darüber hinwegtäuschen, meint Michiko Kakutani in der New York Times, dass es sich, bei allen spektakulären Effekten, um ein letztlich epigonales Werk handle: „[...] the nearly 1,000-page-long novel reads as if the memoirs of the Auschwitz commandant Rudolf Höss had been rewritten by a bad imitator of Genet and de Sade, or by the warped narrator of Bret Easton Ellis’s ‚American Psycho’“, after repeated viewings of ‚The Night Porter‘ and ‚The Damned‘.“42 In diesem Zitat finden wir den filmischen Background wieder, der den Kitsch-Vorwurf in der deutschsprachigen De-

2007, http//www.telegraph.co.uk/culture/books/3662818/Sodomising-his-sisteron-a-guillotine.html [6.11.2013]. 36 Siehe Jason Burke: „The evil that ordinary men can do. Jonathan Littell’s extraordinary Holocaust novel asks what it is that turns normal people into mass killers“, The Observer, 22. Februar 2009, http://www.theguardian.com/books/ 2009/feb/22/history-holocaust-books-jonathan-littell [6.11.2013]. 37 Siehe ebd. sowie Andrew Hussey: „Guilty pleasures“, New Statesman, 11. Dezember 2009, http://www.newstatesman.com/node/155093 [12.11.2013]. 38 Gavin Bowd: „The Kindly Ones. A celebrated French perspective on Nazi conquest too seldom rises above Teutonic cliché“, The Scotsman, 6. März 2009, http://www.scotsman.com/news/book-review-the-kindly-ones-1-1304679 [6.11. 2013]. 39 „But to doll up a novel about Nazism and the Holocaust with pop-fiction conventions on the one hand – his narrator’s Forrest Gump-like ubiquity, for instance – and quirky postmodern touches on the other is to dance on the edge of impertinence.“, David Gates: „The Monster in the Mirror“, The New York Times, 8. März 2009, http://www.nytimes.com/2009/03/08/books/review/ Gatest.html?pagewanted=all&_r=0 [6.11.2013]. 40 Burke, „The evil that ordinary men can do“. 41 Gates, „The Monster in the Mirror“. 42 Michiko Kakutani: „Unrepentant and Telling of Horrors Untellable“, The New York Times, 24. Februar 2009, http://www.nytimes.com/2009/02/24/books/ 24kaku.html [6.11.2013].

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batte, mit oder ohne Anschluss an Friedländer, motivierte. Der – dort fehlende – Hinweis auf American Psycho43 ist insofern pertinent, als die Doppelnatur Aues – privat, ein sexbesessener Mörder, öffentlich, ein unauffälliger Nazi-Bürokrat – der Persönlichkeit des Investmentbankers Patrick Bateman offensichtlich nachempfunden ist. Michiko Kakutani kommt zu dem Schluss, dass der Erfolg eines solchen Romans in Frankreich nicht nur Ausdruck französischer Geschmacksverirrung ist, sondern Symptom eines drastischen Wandels in der literarischen Einstellung zum Holocaust.44 Und damit wären wir wieder beim Essay von Saul Friedländer, der diesen Einstellungswandel schon 1982 konstatierte und konzeptuell mit dem Begriff des Kitsches verband. Die Tatsache, das sein Essay Kitsch und Tod im französischen Original Reflets du nazisme45 heißt, obwohl Friedländer schon auf der ersten Seite seines ersten Kapitels die Psychologie du kitsch des französischen Kitsch-Theoretikers Abraham Mole46 zitiert, sagt viel über die unterschiedliche öffentliche Akzeptanz des Kitsch-Begriffs in Deutschland und in Frankreich aus.

K ITSCH UND N ATION In einem seiner seltenen Interviews saß Jonathan Littell Daniel CohnBendit gegenüber, der gar nicht anders konnte als die deutsche Debatte um die Frage, ob Les Bienveillantes denn Kitsch sei, anzusprechen. Die Antwort: „Na klar. Ja, der Nazismus, das war doch das kitschigste Phänomen der Geschichte der Politik. Fette Bürger mit Schnurrbart, die sich mit Reit-

43 Ebd. sowie James Lasdun: „The exoticism of evil. James Lasdun on a provocative retelling of the Holocaust’s horrors through Nazi eyes“, The Guardian, 28. Februar

2009,

http://www.theguardian.com/books/2009/feb/28/kindly-ones-

review [6.11.2013]. 44 „That such a novel should win two of France’s top literary prizes is not only an example of the occasional perversity of French taste, but also a measure of how drastically literary attitudes toward the Holocaust have changed in the last few decades.“ (Kakutani, „Unrepentant and Telling of Horrors Untellable“). 45 Saul Friedländer: Reflets du nazisme, Paris: Seuil 1982. 46 Abraham Moles: Psychologie du kitsch. L’art du bonheur, Paris: Denoël 1971.

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hosen und Totenköpfen kostümieren und mit Fackeln vorbeimarschieren, das ist doch die Definition von Kitsch.“ 47 Diese Aussage ist insofern interessant, als sie den Kitsch-Vorwurf vom Autor auf die dargestellte Wirklichkeit verschiebt. Iris Radisch, die schärfste Kritikerin der Wohlgesinnten im deutschen Sprachraum hält zu Beginn ihrer Rezension denn auch fest: „Alle Widerwärtigkeiten, aller Kitsch, aller weltanschauliche Schwachsinn, die in diesem Buch in quälender Ausführlichkeit verbreitet werden, gehen auf sein [Aues] Konto. Nicht auf Littells Konto.“48 Wenn aber Littell seinen Ich-Erzähler so konstruiert, dass er den dem Nazismus innewohnenden Kitsch wiedergibt, dann handelt es sich um inszenierten Kitsch, um Kitsch im Quadrat, der nicht dem Autor selbst angelastet werden kann. Dieser Unterschied zwischen dem Autor und seiner Figur wird im Roman aber absichtsvoll verwischt. Der SS-Offizier Dr. Aue ist nicht nur wie sein Autor an einem 10. Oktober geboren, der alte Herr spricht und schreibt auch das fehlerhafte Deutsch und das abstrakte Französisch seines amerikanischen Erfinders und breitet seine sadomasochistischen Sexualphantasien mit der Unbekümmertheit eines Gegenwartsautors aus. Wie Littell selbst scheint er die gesamte historische Literatur über den Zweiten Weltkrieg gelesen zu haben, was sich in einem detailversessenen buchhalterischen Erzählstil niederschlägt, wie dieser hängt er zugleich der Ästhetik eines Sade, eines Bataille, eines Genet an, ganz zu schweigen von den Filmen Viscontis, Syberbergs, Woody Allens, Bret Easton Ellis’ und aktuellen splatter- und Horror-Movies, was wiederum das Pendeln zwischen dekadenter und brutaler Gewaltdarstellung erklärt. Wenn es aber in Die Wohlgesinnten immer wieder zur „zwillingshaft[en]“49 Vereinigung

47 „D. C.-B. Il y a tout un débat sur la question de savoir si Les Bienveillantes, c’est kitsch. / J. L. Forcément. Oui, le nazisme, c’est le phénomène politique le plus kitsch de l’histoire politique. Des gros bourgeois à moustache qui se déguisent en culotte de cheval avec des têtes de mort et qui défilent avec des flambeaux, c’est la définition du kitsch.“, Daniel Cohn-Bendit  – Jonathan Littell: „Les Bienveillantes, l’Allemagne et sa mémoire“, Le Figaro, 3. März 2008, http://www.lefigaro.fr/debats/2008/03/03/01005-20080303ARTFIG00467-dani el-cohn-bendit-jonathan-littell-lesbienveillantes-l-allemagne-et-sa-memoire. php [24.10.2014]. 48 Radisch, „Am Anfang steht ein Missverständnis“, S. 51. 49 Ebd.

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von Autor und Figur kommt, lässt sich kaum mehr entscheiden, ob der Vorwurf des Kitsches an den Autor zu richten ist oder an den Ich-Erzähler, der sich durch die nachträgliche Ästhetisierung brutaler Tötungsaktionen selbst entlarvt. Klaus Theleweit, einer der prominenten Befürworter der Romans, meint, dass in Aue, dem humanen Massenmörder, dem schwulen Inzesttäter und ödipalen Muttermörder, das Psychogramm des Faschisten zur Kenntlichkeit komme, das er selbst in seinem – Littell wohlbekannten – Werk Männerphantasien analysiert habe.50 Darüber, d. h. über die Frage, ob es dem Autor tatsächlich gelungen ist, seine Erzählfigur so zu konstruieren, dass sie sich selbst dekonstruiert, ließe sich lange streiten. Für die Primärrezeption ist dieser Streit aber ohne Belang. Denn in Frankreich konnte der Kitsch-Vorwurf schon allein deshalb keine Rolle spielen, weil mit der Verleihung der beiden wichtigsten Literaturpreise und dem Ritterschlag durch den Holocaust-Überlebenden Semprun der literarische Rang der Wohlgesinnten ein für allemal geklärt war. Und in Großbritannien und den USA war er unerheblich, weil dort kein Kitsch-Verdacht erforderlich ist, um Trivialliteratur, wenn sie handwerkliche Mängel aufweist, kritisieren zu können. Die Sonderstellung der deutschsprachigen Kritik erklärt sich daraus, dass über den auf die Ästhetik zielenden Kitsch-Vorwurf ein moralisches „No go!“ transportiert wird. Im Umgang mit den Kitsch-Vorwurf artikulieren sich also kulturell unterschiedliche Zugänge zum literarischen Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust. Der psychopathologische Zugang, der in der deutschsprachigen Rezeption mit dem Kitsch-Vorwurf exorzisiert wird, bedient ein genuin französisches imaginaire collectif. Littell schreibt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit in ein in Frankreich gültiges Narrativ ein, das das nationalsozialistische Böse, wie schon bei Michel Tourniers Roi des aulnes (Erlkönig), dämonisiert, wobei der in Frankreich sozialisierte Amerikaner die Vorliebe der Pariser Intellektuellen für eine an Sade und Bataille geschulte Ästhetik des Bösen geschickt mit der Entdeckung eines endogenen Faschismus im Frankreich der Kollaboration und dem Bildre-

50 Klaus Theweleit: „Wem gehört der SS-Mann?“, TAZ, 28. Februar 2008, http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2008%2F02%2F28 %2Fa0170&cHash=05761b13d76b070775f4da99fceaf4d6 [24.10.2014].

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servoir von amerikanischen Kriegs-, Action- und Horrorfilmen verbindet51. Ob Littells in Frankreich überaus erfolgreiche Zurichtung der Kriegs- und Holocaust-Thematik in einen massentauglichen Erzählstoff aus deutscher Sicht Kitsch genannt werden kann, soll oder muss, ist zweitrangig. Die Polemik um Die Wohlgesinnten ist aber Teil einer immer aufs Neue notwendigen Debatte um die ästhetischen und ethischen Möglichkeiten und Grenzen der Fiktionalisierung von Nazismus und Holocaust. Manche Gegenstände lassen ein „Anything goes“ nicht zu.

L ITERATUR Asholt, Wolfgang: „A German Reading of the German Reception of The Kindly Ones“, in: Writing the Holocaust Today: Critical Perspectives on Jonathan Littell’s The Kindly Ones, hrsg. von Aurélie Barjonet und Liran Razinsky, Amsterdam/New York: Rodopi 2012, S. 221-238. Barjonet, Aurélie: „Manufacturing Memories: Textual and Mnemonic Weaving in The Kindly Ones“, in: Writing the Holocaust Today: Critical Perspectives on Jonathan Littell’s The Kindly Ones, hrsg. von Aurélie Barjonet und Liran Razinsky, Amsterdam/New York: Rodopi 2012, S. 111-130. Baudelaire, Charles: Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen. Französisch / Deutsch, übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam 1980. Bowd, Gavin: „The Kindly Ones. A celebrated French perspective on Nazi conquest too seldom rises above Teutonic cliché“, The Scotsman, 6. März 2009, [6.11.2013]. Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, Tübingen: Niemeyer 2002. Brayard, Florent: „Littell, pas si ‚bienveillant’“, Libération, 1. Dezember 2012, S. 24.

51 Siehe Peter Kuon: „Spiel mit dem Feuer? Mutmaßungen über die Gründe des Verkaufserfolgs eines französischen Mega-Sellers: Les Bienveillantes von Jonathan Littell“, Frankreich Jahrbuch 2007, S. 247–258, hier: S. 257.

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Bukiet, Melvin Jules: „A Leering Look at the Holocaust“, The Washington Post, 7. März 2013, http://articles.washingtonpost.com/2009-03-07/ news/36819564_1_wrong-place-jonathan-littell-nazi [6.11.2013]. Burke, Jason: „The evil that ordinary men can do. Jonathan Littell’s extraordinary Holocaust novel asks what it is that turns normal people into mass killers“, The Observer, 22. Februar 2009, http://www.the guardian.com/books/2009/feb/22/history-holocaust-books-jonathanlittell [6.11.2013]. Clair, Jean: „Une apocalypse kitsch“, Commentaire 29, 116 (2006), S. 1106-1107. Cohn-Bendit , Daniel: Jonathan Littell: „Les Bienveillantes, l’Allemagne et sa mémoire“, Le Figaro, 3. März 2008, http://www.lefigaro.fr/debats/ 2008/03/03/01005-20080303ARTFIG00467-daniel-cohn-bendit-jona than-littell-lesbienveillantes-l-allemagne-et-sa-memoire-.php [24.10. 2014]. Dauzat, Pierre-Emmanuel: Holocauste ordinaire. Histoires d’usurpation. Extermination, littérature, théologie, Paris: Bayard 2007. Friedländer, Saul: Reflets du nazisme, Paris: Seuil 1982. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, übers. von Michael Grendacher und Günter Seib, Frankfurt am Main: Fischer 2007. Gates, David: „The Monster in the Mirror“, The New York Times, 8. März 2009, http://www.nytimes.com/2009/03/08/books/review/Gates-t.html [6.11.2013]. Harpprecht, Klaus „Auf Führers Nase gefallen. Der verhinderte Geniestreich“, FAZ, 12. März 2008, http://lesesaal.faz.net/littell/article, php?aid=39&bl=%2Flittell%2Frezensionen.php [31.10.2013]. Hausmann, Frank-Rutger: „Jonathan Littells Holocaustroman Les bienveillantes im ‚Reading-Room‘“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 32, 3/4 (2008), S. 447-465. Hussey, Andrew: „Guilty pleasures“, New Statesman, 11. Dezember 2009, [12.11.2013]. Hussey, Andrew: „The Kindly Ones, by Jonathan Littell, translated by Charlotte Mandell“, The Independent, 27. Februar 2009, http://www.in dependent.co.uk/arts-entertainment/books/reviews/the-kindly-ones-byjonathan-littell-translated-by-charlotte-mandell-1632969.html [6.11. 2013].

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Jahr, Christoph: „Vergangenheitspolitischer Rückschritt. Jonathan Littell verklärt den Holocaust zur antiken Tragödie“, Neue Zürcher Zeitung, 23. Februar 2008, [31.10.2013]. Klein, Georg: „Die Bosheit der Toten. Jonathan Littells Roman ‚Die Wohlmeinenden‘“, Die Süddeutsche, 16. Februar 2008, S. 17. Kakutani, Michiko: „Unrepentant and Telling of Horrors Untellable“, The New York Times, 24. Februar 2009, http://www.nytimes.com/ 2009/02/24/books/24kaku.html [6.11.2013]. Kliche, Dieter: „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar: Metzler 2001-2005, Bd. 3, S. 272-288. Krause, Tilman: „Welke Blüten von Nazikitsch. Jonathan Littell erhält den Prix Goncourt für ein Buch, mit dem die Entwirklichung des Dritten Reiches eine neue Stufe erreicht“, Die Welt, 7. November 2006, S. 27. Kuon, Peter: „From ‚Kitsch‘ to ‚Splatter‘. The Aesthetics of Violence in The Kindly Ones“, in: Writing the Holocaust Today: Critical Perspectives on Jonathan Littell’s The Kindly Ones, hrsg. von Aurélie Barjonet und Liran Razinsky, Amsterdam/New York: Rodopi 2012, S. 33-54. Kuon, Peter: „Spiel mit dem Feuer? Mutmaßungen über den Gründe des Verkaufserfolgs eines französischen Mega-Sellers: Les Bienveillantes von Jonathan Littell“, Frankreich Jahrbuch 2007, S. 247-258. Lasdun, James: „The exoticism of evil. James Lasdun on a provocative retelling of the Holocaust’s horrors through Nazi eyes“, The Guardian, 28. Februar 2009, http://www.theguardian.com/books/2009/feb/28/ kindly-ones-review [06.11.2013]. Littell, Jonathan: Les Bienveillantes. Roman, Paris: Gallimard 2006. Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Roman, übers. von Hainer Kober, Berlin: Berlin Verlag 2008. Mönninger, Michael: „Die Banalisierung des Bösen. Mit den Weltkriegsmemoiren eines deutschen SS-Mannes sorgt der amerikanische Autor Jonathan Littell für die Sensation des französischen Literaturherbstes“, DIE ZEIT, 21. September 2006, S. 64. Moles, Abraham: Psychologie du kitsch. L’art du bonheur, Paris: Denoël 1971.

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Radisch, Iris: „Am Anfang steht ein Missverständnis. Jonathan Littells Buch ‚Die Wohlgesinnten‘ will uns erklären, warum die Mörder mordeten, aber versinkt in widerwärtigem Kitsch“, DIE ZEIT, 14. Februar 2008, S. 51-52. Schöttler, Peter: „Tom Ripley au pays de la Shoah“, Le Monde, 14. Oktober 2006, S. 19. Schütz, Erhard: „Pimp my nazi. Jonathan Littells ‚Die Wohlgesinnten‘ und Marcel Beyers ‚Kaltenburg‘ – zwei Geschichtsromane im Vergleich“, Der Freitag, 7. März 2008, [24. Oktober 2014]. Theweleit, Klaus: „Wem gehört der SS-Mann?“, TAZ, 28. Februar 2008, http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2008%2F02 %2F28%2Fa0170&cHash=05761b13d76b070775f4da99fceaf4d6 [24. 10. 2014]. Walden, George: „Sodomising his sister on a guillotine“, The Telegraph, 21. Januar 2007 [6.11.2013]. Wiegand, Wilfried: „Max Aue: Ein Monstrum, ein Montaigne. An wen wendet sich Littell?“, FAZ, 28. Februar 2008, http://lesesaal.faz.net/ littell/article.php?aid=36&bl=%2Flittell%2Frezensionen.php [31. 10. 2008]).

Kitschige Vorstellungen von Österreich? Der Musikantenstadl und André Rieus Große Nacht der Wiener Musik T HOMAS K ÜPPER

Die im Folgenden diskutierten Fernsehsendungen, der Musikantenstadl und André Rieus Große Nacht der Wiener Musik, bieten zwei konträre Darstellungen dessen, was als ‚typisch österreichisch‘ gilt: André Rieu auf der einen Seite führt in seiner Show glanzvolle Szenen österreichischer Kaiserzeit vor Augen: Die Große Nacht der Wiener Musik ist nicht nur in der häufig so genannten Walzerstadt verortet; als Kulisse dient näherhin Schloss Schönbrunn, das mit Fiakern sowie einer Sissi-Darstellerin und einem Kaiser Franz Joseph-Darsteller in historisierenden Kostümen als ein Erkennungszeichen Österreichs dient. Der Musikantenstadl andererseits ist zwar ebenfalls eng mit Auffassungen österreichischer Identität verknüpft – die Produktionsleiterin Ursula Stiedl bezeichnet den Musikantenstadl als „Visitenkarte Österreichs“1 –, doch in diesem Zusammenhang wird nicht die ‚große‘, prächtige Welt des Hochadels beschworen; vielmehr ist diese Show in einer Scheune verortet, in der Menschen sozusagen auf gleicher Ebene gemütlich und fröhlich beisammen sein sollen. Dieser Anspruch der

1

Zit. n. Susanne Binder und Gebhard Fartacek: „Der Musikantenstadl als die unerforschte ‚Visitenkarte Österreichs‘“, in: Der Musikantenstadl. Alpine Populärkultur im fremden Blick, hrsg. von dens., Wien/Berlin: LIT 2006, S. 14–23, hier: S. 15.

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Sendung, eine Art Aushängeschild Österreichs in der Welt zu sein, etwas eigentümlich Österreichisches zu präsentieren oder auch zu repräsentieren, ist sehr umstritten: Wird Österreich durch den Musikantenstadl etwa verklärt als ‚heile Bergwelt‘, in der man immer nur harmonisch, gut gelaunt und ohne komplizierte Hierarchien beisammensitzt? Angesichts solcher Bedenken ist der Musikantenstadl unter Kitsch-Verdacht geraten – nicht weniger als André Rieu, der als „Kitsch-Geiger“2 gilt. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit diesen üblichen Abwertungen der Sendungen auseinander, indem er sie nicht nur in den Kontext der KitschKritik einordnet, sondern auch heuristisch einen weiteren Kontext in Betracht zieht: den der Tourismus-Kritik. Sowohl Rieus Show als auch der Musikantenstadl bieten im Sinne touristischer Kriterien ideal-schöne Ansichten von Österreich – nicht zufällig ist Andy Borg, der Moderator des Musikantenstadl, die leitende Figur eines Reiseführers für Oberösterreich geworden.3 Hinzu kommt, dass die gängige Kitsch-Kritik viele Parallelen zur Tourismus-Kritik aufweist; zum Teil gehen beide Bereiche auch ineinander über.4 Es lohnt sich, in der Kitsch-Diskussion neuere Ansätze der Tourismus-Forschung zu berücksichtigen, da sie, wie sich zeigen wird, Möglichkeiten eröffnen, sich von einigen hergebrachten Wertungsprinzipien zu lösen, und die Gegenstände in neuem Licht erscheinen lassen. Daher werden den Betrachtungen der Fernsehshows einige Überlegungen zum Verhältnis von Kitsch und Tourismus vorangestellt.

K ITSCH UND T OURISMUS Im 20. Jahrhundert überschneiden sich die Kritik am so genannten Kitsch und die am Tourismus häufig. Hans Reimann zum Beispiel schreibt 1930 in einem Beitrag zu der Frage „Was ist Kitsch?“ Folgendes: „Postkarten von

2

Diese Bezeichnung etwa bei Nils Klawitter: „Millionen vergeigt“, in: Der Spiegel vom 13.10.2003, S. 107.

3

Andy Borg: Meine schönsten Ausflüge in Oberösterreich. Aufgeschrieben von Gerda Melchior und Volker Schütz, München: riva 2010.

4

Vgl. dazu auch Ueli Gyr: „‚Alles nur Touristenkitsch‘. Tourismuslogik und Kitsch-Theorien“, in: Voyage – Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 7 (2005): Gebuchte Gefühle, hrsg. von Hasso Spode und Irene Ziehe, S. 92–102.

K ITSCHIGE V ORSTELLUNGEN

VON

Ö STERREICH ? | 121

der Riviera sind Kitsch. [...] Alles, was sich verlogenerweise schöner präsentiert, als es in Wirklichkeit ist, grenzt an Kitsch. [...] Meine Tante Klara stand im Riesengebirge vor einer Ruine und seufzte: ‚Wie auf einer Ansichtskarte!‘ Daran war die Natur unschuldig. Tante hatte Reproduktion und Original verwechselt.“5 Der Kritik zufolge könnten touristisch reizvolle Ansichten von Landschaften auf einer Art Verblendung beruhen. Was tatsächlich vor den Augen der Touristinnen und Touristen läge, würde gleichsam überblendet durch vorgefasste Schemata für ideal-schöne Orte. Reimann befasst sich näher mit den Blickvorrichtungen des Tourismus und ordnet sie als Instrumente ein, mit denen Landschaften verklärt werden: „Auf der Gattersburg [in der sächsischen Stadt Grimma] sind köstliche Gläser zum Durchgucken. In diversen Farben. Damit die Landschaft zum Kitsch wird. Man guckte durch, und – o Wunder! – die Gegend war tausendmal hübscher als ohne Glas. Ich guckte ebenfalls durch. Tatsächlich: eine wildromantische Sache breitete sich vor mir aus.“ 6 Reimann fügt hinzu: „Vielleicht soll man alles durch liebenswürdig gefärbte Gläser angucken. Vielleicht ist Kitsch das Ideale.“7 Vergleichbar mit dieser Positionierung sind etwa Überlegungen, die Emil Lucka im selben Jahr 1930 zum Thema „Kitsch“ anstellt: Lucka hält nicht optische Instrumente, sondern geistige Voreinstellungen insbesondere weiblicher Landschaftsbetrachtender für ausschlaggebend bei der Verkitschung touristischer Orte. Kitsch und Weiblichkeit auf diese Weise assoziierend, erklärt Lucka: [B]esonders Frauen […] nehmen das Geschehen der Welt in den sentimentalen Wendungen der Romane auf, die sie in ihrer Jugend gelesen haben. Sie besitzen ihr fertiges Klischee für die Gefühle, die eine Landschaft zu erregen hat, und alle Landschaften von Taormina bis Chemnitz werden in diesem Klischee untergebracht (etwa ‚romantisch‘), weil sie nicht imstande sind, einen Natureindruck aus seiner Quel-

5

Hans Reimann: „Was ist kitschig?“, in: Volksblatt (Halle) Nr. 55 vom 6.3.1930, Beilage „Welt und Wissen“.

6

Ebd.

7

Ebd.

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le zu empfangen, sondern nur indirekt in festgelegten Formen. Mit solch einem nichtssagenden Worte glauben sie die Landschaft erfaßt [...] zu haben [...].8

Schablonenhafte, vor der jeweiligen Erfahrung bereits feststehende, den betreffenden touristischen Ort verklärende Ansichten fallen bei diesen Autoren unter das Kitsch-Verdikt. Genau dieses Schema der Kritik wird durch gegenwärtige kulturwissenschaftliche Ansätze der Tourismusforschung neu eingeordnet. Dabei wird durchaus nicht bestritten, dass sich touristische Landschaftsansichten an überkommene, idealisierende Vor-Bilder anlehnen. Allerdings wird diese touristische Einstellung nicht von vornherein als lächerlich, defizitär oder unangemessen herabgesetzt; vielmehr wird sie als eine Art Erfahrungstechnik beschrieben, deren Funktionsweise es ohne solche Abwertungen zu untersuchen gilt. Der Tourismus-Theoretiker Christoph Hennig etwa stellt die Bedeutung von Vor-Bildern für den Tourismus heraus: „Die Ferienwelt mit ihren wettergegerbten toskanischen Winzern, den ausgeglichenen griechischen Fischern und unverdorbenen spanischen Bauern trägt märchenhafte Züge. Sie steht den fiktionalen Räumen der Literatur und des Films nahe. [...] Heute leiten Farbaufnahmen aus ‚GEO‘ und ‚Merian‘, aber auch die Bilder Cézannes und die Stimmungen von ‚Alexis Sorbas‘ oder ‚Tod in Venedig‘ die Reiseerfahrung.“9 Entsprechend beobachtet die Tourismus-Forschung auch, dass für den touristischen Blick Rahmungen10 wesentlich sind. Für John Urry etwa gehört zur typischen touristischen Erfahrung, Szenen durch einen Rahmen zu sehen, wie etwa durch ein Hotelfenster, durch die Scheibe eines Reisebusses oder auch durch den Sucher einer Kamera – dabei objektiviert sich der touristische Blick etwa in Fotografien und Postkarten; doch der Sucher dient nicht nur der Fotografie, sondern auch der Rahmung dessen, was man

8

Emil Lucka: „Volkstümliche Dichtung, Unterhaltungslektüre, Kitsch“, Deutsche Rundschau 56 (1930), S. 222–227, hier: S. 225.

9

Christoph Hennig: „Jenseits des Alltags. Theorien des Tourismus“, in: Voyage – Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 1 (1997): Warum reisen?, hrsg. von Hasso Spode, S. 35–53, hier: S. 48.

10 Für die folgenden Überlegungen eignet sich etwa der Begriff des Rahmens bei Georg Simmel: „Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch“, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst, Potsdam: Kiepenheuer 1922, S. 46–54.

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flüchtig, momenthaft sieht.11 Der touristische Gebrauch solcher Vorrichtungen kann als bewusste Erzeugung einer schönen, reizvollen, oft einer so genannten ‚heilen Welt‘ beschrieben werden. Es liegt auf derselben Linie, wenn Ingo Thonhauser-Jursnick in Werbetexten des Tourismus Fiktionssignale ausmacht und nach einer Erklärung dafür sucht, dass die Rezipientenschaft diese Fiktionssignale im „vorderhand nichtfiktionalen Kontext der Produktpräsentation“ akzeptiert. 12 Thonhauser-Jursnick stellt fest: „Es kann kaum Zweifel darüber bestehen, daß sich die Leser und Leserinnen der Prospekte des fiktionalen Charakters der dargebotenen erzählten Welten zumindest teilweise bewußt sind. Wer würde denn die für nahezu jeden beworbenen Landstrich behauptete ‚Unberührtheit‘ für bare Münze nehmen, wo doch schon die Inanspruchnahme des Urlaubsangebots durch einen einzigen Urlauber der jeweiligen Unberührtheit ein jähes Ende bereitet.“13 Gerade aber wenn in der angeblich von moderner Industrie noch unberührten, ‚heilen Welt‘ etwa der Berge der touristische Sehnsuchtsort liegt, unterstellen Kritiken den Touristinnen und Touristen oft, diese wollten vor jeglicher Reflexion der Wirklichkeit fliehen und das Unheil der Gesellschaft nicht wahrhaben. Solche Eskapismus-Vorwürfe geben dem Täuschungsverdikt eine besondere, nicht zuletzt moralische Dimension: 14 Ver-

11 John Urry: The Tourist Gaze, London: SAGE 22002, insbes. S. 90 f. und S. 3. Vgl. David Crouch und Nina Lübbren: „Introduction“, in: Visual Culture and Tourism, hrsg. von dens., Oxford, UK/New York, USA: Berg 2006, S. 1–20, insbes. S. 4 f.; Alexandra Karentzos: „Zu schön um wahr zu sein. Kulissen des Tourismus in der zeitgenössischen Kunst“, in: Monitoring Scenography: Space and Truth/Raum und Wahrheit, hrsg. von Thea Brejzek, Wolfgang Greisenegger und Lawrence Wallen, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste 2009, S. 96–113, hier: S. 97. Zur Konstruktion touristischer Räume siehe auch Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner: „Raum, touristisch: Mobilität – Medialität – Imagination“, in: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Stephan Günzel, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 280–293. 12 Ingo Thonhauser-Jursnick: Tourismus-Diskurse. Locus amoenus und Abenteuer als Textmuster der Werbung, der Trivial- und Hochliteratur, Frankfurt am Main: Peter Lang 1997, S. 180. 13 Ebd. 14 Vgl. Hennig, „Jenseits des Alltags“.

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bietet es sich doch in den Augen der Kritik, vor der schlechten Wirklichkeit davonzulaufen, anstatt diese zu verbessern. Bemängelt wird dann häufig, der Tourist wolle regressiv in eine Art kindlichen Zustand zurückversetzt werden, anstatt als erwachsener Mensch für den wirklichen Lauf der Dinge Verantwortung zu übernehmen. Wie sich zeigen wird, ist etwa der Musikantenstadl vergleichbaren Vorwürfen ausgesetzt: Insbesondere angesichts der ‚heilen Bergwelt‘, die im Musikantenstadl besungen und gefeiert wird, ist diese Sendung unter Kitsch-Verdacht geraten. Will man jedoch genauer und ohne moralische Verurteilungen beschreiben, wie Unterhaltungsformate wie der Musikantenstadl oder auch Rieus Große Nacht der Wiener Musik Erfahrungen ‚heiler Welten‘ ermöglichen, lohnt es sich, auch zum Vorwurf der Regression Konzepte der heutigen Tourismusforschung zu Rate zu ziehen. Diese stellt ebenfalls fest, dass die Sehnsucht nach dem idyllischen Ort des harmonischen, einfachen Lebens in Ruhe und Geborgenheit einen regressiven Zug haben kann. Hasso Spode zum Beispiel beschreibt Tourismus als „Zeit-Reise“, die zur ‚unberührten‘ Natur und zum ‚unverdorbenen‘ Menschen hingeht, welche in der Vergangenheit verortet werden. Dabei geht es nicht nur um „die Anschauung ‚verlorener‘ Welten, ‚zurückgebliebener‘, ‚natürlicher‘ Kulturen und Landschaften“, sondern auch um „das, was dort geschieht: die Praxis ‚natürlicher‘ [...] Verhaltensweisen“ – um einen „geläuterte[n] und daher erlaubte[n] Atavismus“.15 Spode aber spricht in diesem Zusammenhang auch von „kontrollierte[r] Regression“.16 Die Kindlichkeit und Einfachheit,

15 Hasso Spode: „‚Reif für die Insel‘. Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus“, in: Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag, hrsg. von Christiane Cantauw, Münster/New York: Waxmann 1995, S. 105–123, hier: S. 119 f. 16 Ebd. Auch Dean MacCannell stellt fest, dass die Rolle von Touristinnen und Touristen sich durch etwas Kindliches auszeichnen kann: Wenn ihnen der Eindruck vermittelt wird, sie bekämen die Interna, die ‚eigentlichen‘, nicht für Außenstehende inszenierten Vollzüge der bereisten Gesellschaft zu sehen, sind die Erwachsenen auf ihrer Fahrt in der Lage zu „childlike feelings of being half in and half out of society, their faces pressed up against the glass“. Dean MacCannell: „Staged Authenticity. Arrangements of Social Space in Tourist Settings“, The American Journal of Sociology 79, 3 (1973), S. 589–603, hier: S. 596. Vgl. auch Urry, The Tourist Gaze, S. 91.

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die den Touristinnen und Touristen geboten und erlaubt wird, ist demnach beherrscht und begrenzt. Greift man wiederum auf den Begriff des Rahmens zurück, lässt sich bemerken: Selbst wenn das Innere des Rahmens touristischer ‚Heile Welt‘-Ansichten kindlich unbedarft und geradezu unreflektiert erscheinen mag, kann doch der Gebrauch des Rahmens – und die Bereitschaft, sich auf den Rahmen einzulassen – höchst bewusst geschehen. Der Wechsel von der oft unheilvollen Alltagswelt in die ‚heile Welt‘ ist vor allem dadurch möglich, dass man den Rahmen der schönen Szene zu beiden Seiten hin überqueren kann: in die Szene eintauchen – aber auch wieder auftauchen in die Alltagswelt. Zu fragen wäre nun, ob nicht in den Sendeformaten Die große Nacht der Wiener Musik und Musikantenstadl ähnliche Mechanismen zum Tragen kommen. Wenn diese Sendungen Vorstellungen von Österreich verbreiten, die der Kritik oft als kitschig erscheinen, spielen sie dann nicht auf ähnlichen Registern wie der Tourismus? Gerade dadurch, dass es sich bei beiden Beispielen um Fernsehshows handelt, liegt es sehr nahe zu vermuten, dass Rahmungen für sie von erheblicher Bedeutung sind.

ANDRÉ R IEU : D IE GROSSE N ACHT DER W IENER M USIK Zunächst zu André Rieu: Seine Große Nacht der Wiener Musik, die im Folgenden betrachtet wird, fand im Jahr 2006 statt. Auf der Website des Musikers war dazu zu lesen: „Am 7. und 8. Juli 2006 hat André Rieu sich selbst übertroffen: Der einzigartig schöne Vorplatz von Schloss Schönbrunn in der Walzerstadt Wien war der Schauplatz zweier unvergesslich schöner Konzerte. Gleichzeitig bilden sie den Grundstock für Andrés größten TV-Special aller Zeiten: André Rieu auf Schönbrunn.“17 Damit werden Spitzenplätze beansprucht: zunächst ein Spitzenplatz im wörtlichen Sinne, der „einzigartig schöne Vorplatz von Schloss Schönbrunn“, der in der „Walzerstadt Wien“ als musikalischer und touristischer Anziehungspunkt verortet wird, und nicht zuletzt eine Fernsehsendung der Superlative. Am Samstag, dem 5. August 2006, lief die Eurovisionssendung mit dem Titel André Rieu – Die große Nacht der Wiener Musik zugleich im Österreichi-

17 http://www.andrerieu.com/site/index.php?id=29&L=2 [22.8.2006].

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schen Fernsehen, im Zweiten Deutschen Fernsehen und im Schweizer Fernsehen zur bevorzugten Zeit von 20.15 Uhr bis 22.30 Uhr. Zehn Tage später war die dazugehörige DVD André Rieu at Schönbrunn18 im Handel erhältlich. Wie positioniert und beschreibt sich nun Rieus Darbietung durch die Titel-Etikettierungen selbst? Die Schrift wird mit geschwungenen Linien und Schnörkeln verziert, ähnlich den ornamentierten Notenständern in Rieus Orchester, und verdeutlicht auf diese Weise, dass die Musik als edel und kunstvoll wahrgenommen werden soll. Der Name André Rieu, der französisch und damit vornehm klingt, ist in den Titeln hervorgehoben und dient als Markenzeichen, er bündelt ebenfalls Erwartungen an die Aufführung. Diese wird durch die Verbindung mit dem Namen Schönbrunn zu einem Ereignis, das an einem bestimmten, ausgesuchten, touristisch reizvollen und geschichtlich bedeutsamen Ort geschieht. Programmatisch wird dieser Ort im Titel mit „Wiener Musik“ in Verbindung gebracht. Indem Rieu als „Walzerkönig“ bekannt ist, 19 versteht sich für das Publikum, dass der Titel auf den geläufigen „Wiener Walzer“, mithin auf Johann Strauß verweist. In der Veranstaltung betont Rieu, dass Johann Strauß ein Genie war und der „wohl bekannteste aller Wiener“. 20 In einer Steigerung fragt Rieu: „Was wäre Wien ohne Johann Strauß? Was wäre die Welt ohne Johann Strauß?“21 Während der Huldigung ist das im Wiener Stadtpark befindliche Strauß-Denkmal von Edmund Hellmer zu sehen, das den Komponisten in Stein und golden leuchtendem Erz verewigt. Die Statue des Geige spielenden Strauß deutet auf Unvergänglichkeit hin; wobei der Glanz dieses Monuments auch auf Rieu als einen Walzer zu Gehör bringenden Geiger, als eine Art von musikalischem Nachfahren von Strauß abfällt.

18 André Rieu at Schönbrunn, Vienna. The Johann Strauss Orchestra. DVD. Deutschland 2006. 19 „André Rieu ist ein Künstler, der sein Konzept vom Walzerkönig bis in die letzte Konsequenz auslebt“, bemerkt Michael Minholz: „Zauber im Dreivierteltakt. Über den Erfolg des prominentesten Stehgeigers der Welt: André Rieu ist heute gleich mehrfach im TV präsent“, Neue Ruhr Zeitung vom 24./25./26.12.2005, Rubrik „Medien“. 20 André Rieu at Schönbrunn, Vienna, Kap. 3, 00:10:55 – 00:11:07. 21 Ebd., Kap. 3, 00:11:31 – 00:11:39.

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Abbildung 1: André Rieu at Schönbrunn, Vienna. The Johann Strauss Orchestra. DVD. Deutschland 2006 (Screenshot 02:10:37).

Auch Wolfgang Amadeus Mozart als Vertreter „Wiener Musik“, der nicht nur im Bereich der Hochkultur geschätzt ist, sondern auch im Bereich der Populärkultur und der Unterhaltung, wird in der „Großen Nacht“ zum Thema. In einigen für die DVD ausgewählten Einstellungen ist zu sehen, wie im Publikum gegen Ende der Veranstaltung ein Transparent hochgehalten wird mit der Aufschrift „Great artists live forever“, die Rieu und Mozart auf eine Stufe stellt: Auf der einen Seite des Slogans prangt ein Bildnis Mozarts, auf der anderen ein Porträt Rieus (Abb. 1). 22 Mit diesem Spruchband wird Rieu allerdings nicht der Hochkultur oder der so genannten Klassischen Musik zugeordnet – das „forever“ bedeutet keine Kanonisierung, wie sie in diesen Musikbereichen gepflegt wird, vielmehr kann der englische Ausdruck als einschlägiges Element der Populärkultur gesehen werden, wie in dem Slogan „forever young“. Auch das Bild Mozarts auf dem Transparent ist in der Populärkultur verankert – es handelt sich dabei um ein 1819 von Barbara Krafft gemaltes Porträt, das unter anderem als Motiv auf Mozartkugeln bekannt ist. Entsprechend verweist das Adjektiv „groß“ im Titel Die große Nacht der Wiener Musik nicht auf hochkulturelle Bedeutsamkeit; eher wird auf die Größe eines Unterhaltungsangebots hin-

22 Ebd., Kap. 22, 02:10:37.

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gedeutet; auf Rieus Website wird die Aufführung demgemäß als „Spektakel“ und als „eine in dieser Form noch nie dagewesene Show“ bezeichnet.23 Freilich greift Rieu Zeichen aus dem Bereich der Hochkultur und der Klassischen Musik auf – er spielt beispielsweise auf einer Stradivari und tritt ähnlich einem Virtuosen der so genannten ernsten Musik im Frack auf. Zudem stellt er sich buchstäblich in einen Musentempel: Seine Bühne ist mit einem Tympanon überdacht, in dessen Mitte der Musenführer Apoll steht – die Figur ist dem Apoll von Belvedere nachempfunden. Indessen verlangt Rieus Aufführung nicht, dass man sie mit andächtiger Scheu aufnimmt. Vor allem durch Späße signalisiert er dem Publikum, dass es im Umgang mit seiner Kunst keine Berührungsängste haben muss. Als er die Sängerin Carla Maffioletti ankündigt, scherzt er zum Beispiel, ihretwegen müsse das Konzert unter freiem Himmel stattfinden – sie habe nämlich eine so hohe Stimme, dass sie sämtliche Kronleuchter, Spiegel und Fenster von Schloss Schönbrunn zerspringen lassen könne.24 Damit greift Rieu einen bekannten Witz über Opernsängerinnen auf, denen die Fähigkeit nachgesagt wird, mit ihren hohen Tönen Glas zum Splittern zu bringen. Mithin darf man die Stimmgewalt der Sopranistin bestaunen, ohne in Ehrfurcht zu verfallen. Während des Auftritts von Maffioletti kann das Publikum den Scherz weiter verfolgen: Auf Bildern sieht es, wie Scheiben in einem Saal des Schlosses durch den Gesang vibrieren und schließlich zu Bruch gehen. Dieses Nebengeschehen nimmt der dargebotenen Musik ihren Ernst. Die Spannung innerhalb des Gesangs wird konterkariert und verharmlost durch den äußerlichen Vorgang, der zum Spaß in Scherben endet. Auch wenn dieser Ablauf Spannung neutralisiert, bietet er eine Abwechslung: Es ist zum einen möglich, der Musik zu folgen, sogar mitzusingen, wie Aufnahmen vom Publikum auf den Rängen verdeutlichen,25 zum anderen aber die Aufmerksamkeit, vom Gesang nicht eingenommen, auf das Glas zu richten – oder, zerstreut, auf beide Stränge Acht zu geben. In jedem Fall weist Rieus Aufführung hochkulturelle Vorgaben für das Darbieten und Aufnehmen von Musik in der beschriebenen Weise zurück. Rieus musikalisches Programm verschreibt sich der so genannten leichten Muse: Alle Stücke werden auf ein Maß gebracht, das sich mit ihr ver-

23 http://www.andrerieu.com/site/index.php?id=29&L=2 [22.8.2006]. 24 André Rieu at Schönbrunn, Vienna, Kap. 5, 00:22:25 – 00:23:27. 25 Ebd., Kap. 6, 00:24:06.

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einbaren lässt – sie dürfen zum Beispiel gewöhnlich nicht länger als sechs Minuten dauern.26 Ebenso wenig sind sperrige, komplizierte und fremdartige Strukturen erlaubt, vielmehr müssen die Rhythmen und Melodien eingängig, problemlos fasslich und wiedererkennbar sein, so dass das Mitsingen, -tanzen und -schunkeln möglich ist. Eintönigkeit aber, die sich durch die feststehenden Muster einstellen könnte, wird vermieden, indem die Formen innerhalb des Erwartbaren ständig einander ablösen. Dass sich immer wieder etwas Neues ergibt, allerdings nichts, das aus dem Rahmen fiele, dafür sorgen insbesondere die Schau-Einlagen, mit denen die musikalischen Darbietungen angereichert werden. Das vibrierende Glas, das den Auftritt der Sängerin Maffioletti begleitet, ist nur ein Beispiel für diese Gestaltungsweise. Die Kostüme der Musikerinnen sind bunt, oft bonbonfarben, wie hellviolett, bleu oder apricot, die Bühne ist mit weißen und roten Blumen eingefasst, das Licht schimmert zum großen Teil warm und golden. Vor allem aber werden touristisch gesuchte, malerische Ansichten geboten: Lächelnd und winkend fährt Rieu mit seinem Orchester in Fiakern, als einer Wiener Attraktion, in den Ehrenhof vor Schloss Schönbrunn ein, begleitet von Komparsen in historisierenden Kostümen. Zwischen den Bildern von diesem Geschehen werden Aufnahmen des Schlossparks gezeigt, die wie Postkartenbilder erscheinen: Sie zeigen geometrisch angelegte Beete im französischen Garten, gepflegte Wege, in einer Reihe stehende Bäume, einen Teich mit Springbrunnenfigur, auf dem zwischen Seerosen Enten schwimmen.27 Diese Anblicke wirken ruhig und beruhigend während der freudigen Aufregung, die Rieus Ankunft beim Publikum verbreitet. Die Bilder gehen durch Doppelbelichtungen ineinander über. Auf diese Weise findet das Auge zwar Abwechslung, aber keine ruckartige, unvermittelte oder schockierende. Die Eingangssequenzen verdeutlichen, welches Programm der gesamten Show zu Grunde liegt: Das Publikum kann pittoreske Bilder einer ‚heilen Welt‘ erwarten – in unbeschwerter Atmosphäre sollen Vorstellungen von der ‚guten alten Zeit‘ vor allem der Habsburger Monarchie aufleben. Man ist fröhlich und feiert gemeinsam das Fest, das die Große Nacht der Wiener Musik zu werden verspricht. Zur Unterhaltung des

26 Etwas länger ist zum Beispiel der Walzer „Rosen aus dem Süden“: ebd., Kap. 5, 00:14:01 – 00:21:44. 27 Ebd., Kap. 1, 00:01:50 – 00:02:05.

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Publikums folgen ausschließlich Frieden verheißende, harmonische und beruhigende Eindrücke aufeinander.

Abbildung 2: André Rieu at Schönbrunn, Vienna (Screenshot 00:05:56).

Die Inszenierung schöner österreichischer Vergangenheit steigert sich noch, als die Gestalt Sissi28 zur Attraktion der Show wird. Nachdem Rieu sich wörtlich „auf dem historischen Ehrenhof vor dem kaiserlichen Schloss Schönbrunn“29 verortet und damit „Ehre“ und eine große Vergangenheit im Munde führt, lässt er die Vorstellung lebendig werden, dass genau an dieser Stelle Kaiserin Sissi und Kaiser Franz Joseph vorgefahren sind: In einer goldenen Kutsche, die sechs Schimmel ziehen, hält das Paar Einzug, kostümiert und begleitet von festlicher Musik. Das Publikum steht von seinen Sitzen auf und applaudiert.30 Die Tatsache, dass das Publikum sich von der Sissi-Inszenierung begeistert zeigt, lässt sich kaum nach hergebrachten Mustern der KitschKritik einordnen. Um einen Betrug des Publikums kann es sich bei der Inszenierung kaum handeln – dazu ist diese zu sehr als Inszenierung erkennbar – kann sich doch das Publikum kaum darüber hinwegtäuschen, dass

28 Beziehungsweise Sisi, Kosename für Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. 29 André Rieu at Schönbrunn, Vienna, Kap. 1, 00:04:25. 30 Ebd., Kap. 2, 00:04:59 – 00:07:44.

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nicht die ‚echte‘ Sissi anwesend ist, und muss doch fast allen bewusst sein, dass es sich um einen zwar schönen, aber zugleich um einen bloßen Schein handelt. Offenbar ist das Publikum bereit, sich auf die Abbilder so weit einzulassen, dass sie im wörtlichen Sinne erhebende, eine Erhebung von den Sitzen bewirkende, Gefühle hervorrufen. (Doch kann, wenn hier von Abbildern gesprochen wird, überhaupt ein ‚Urbild‘ der ‚wahren‘ Sissi ausgemacht werden? Könnte vielleicht Romy Schneider als ,wahre‘ Sissi gelten?31) Entscheidend ist, mit welcher Pracht die Figuren Sissi und Franz Joseph in Erscheinung treten. Die Inszenierung erfüllt buchstäblich glänzend Schemata für eine eindrucksvolle Ankunft des Kaiserpaares: In würdigen, abgemessenen Bewegungen winkt es lächelnd der Menge zu (Abb. 2), und sogar Rieu und das Orchester verneigen sich vor ihm. Durch ihre Aufmachung lassen Sissi und Franz Joseph sich auf der Stelle erkennen beziehungsweise wiedererkennen. Der kaiserliche Anzug ist vor allem aus Ernst Marischkas dreiteiliger Sissi-Filmreihe32 vertraut, insbesondere auch das hellblaue schulterfreie Kleid der Braut. Die Nachbildung bei Rieu stützt sich in erster Linie auf diese Nachbildung und wird dadurch plausibel. Als weitere Vor-Bilder dienen Sissi-Porträts aus dem 19. Jahrhundert, die ebenfalls populär sind, etwa ein Gemälde von Franz Xaver Winterhalter: In der Show werden neben dem dargestellten Kleid auch die Halskette und der Haarschmuck aufgegriffen. Dass bei dem Spektakel nur Imitate vorgeführt werden (beziehungsweise Imitate von Imitaten), vermindert nicht seine Wirkung, zumal die Imitate den Stellenwert von Originalen erhalten: Die Reproduktionen werden selbst wiederum medial reproduziert. 33 Als Rieus Sissi und Franz Joseph in den Ehrenhof einfahren, nimmt das Publikum sie mit Kameras auf (von den Kameraleuten für die Fernsehsendung und für die DVD ganz zu schweigen). Währenddessen sieht es die Figuren auch auf Großbildwänden. Zum einen rückt das in solchen Dimensionen vervielfäl-

31 In BILD Frankfurt vom 13.2.2008 etwa wird Romy Schneider als ursprüngliche Sissi gehandelt: „Sissi, das Original: Romy Schneider 1955 in ihrer ParadeRolle im Alter von 18 Jahren“, heißt es in dem Beitrag „Ich habe Tränen des Glücks geweint“, S. 9. 32 Sissi, Österreich 1955; Sissi, die junge Kaiserin, Österreich 1956; Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin, Österreich 1957. 33 „Ohne Reproduktionen gäbe es keine Originale“, erklärt Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 21996, S. 155.

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tigte Paar in den Blick, zum anderen wird das Publikum auf die Tatsache gestoßen, dass das Paar in solchen Dimensionen vervielfältigt wird. Die Reproduktionen weisen es nicht nur als würdig, sondern auch als reproduktionswürdig aus. Später erzählt Rieu in der Show, was jeder bereits über Sissi weiß: „Jeder weiß, meine Damen und Herren, dass Sissi es gar nicht so leicht hatte [...]. Müssen Sie sich vorstellen: Ein sechzehnjähriges Mädchen verliebt sich in den Kaiser, sie heiraten, und dann plötzlich wohnt so ein junges Mädchen hier in diesem Riesenschloss und muss sich anpassen an das strenge spanische Hofzeremoniell. Sie muss eine ganz besondere Frau gewesen sein, dass sie trotz ihrer Jugend und trotz ihrer Schwierigkeiten mit ihrer Warmherzigkeit ganze Völker für sich gewonnen hat.“34 Mit der Einleitung „Jeder weiß“ stellt Rieu eigens heraus, dass er dem Publikum etwas Vertrautes bietet. Die Wiederholung dessen, was man schon kennt, ist nicht verpönt, sie muss nicht vermieden oder verschwiegen werden, im Gegenteil: Man darf sie verlangen und auskosten. Entsprechend wird nach dem „Jeder weiß“ nicht darauf verzichtet, das Geschehen um Sissi noch einmal auszumalen. Es erscheint geradezu notwendig, die Vorgänge Revue passieren zu lassen: „Müssen Sie sich vorstellen“. Wie von ihm angekündigt, zeichnet Rieu ein Sissi-Bild (nach), das bereits verbreitet ist – es ist, in den Grundzügen, durch Darstellungen in unterschiedlichen Medien gegenwärtig, von den genannten Filmen bis hin zu Hochglanzheften über die SissiGedenkstätten.35 Rieus Erzählung bereitet den Zuhörerinnen und Zuhörern indes nicht nur das Vergnügen, geläufige Muster wiederzuerkennen, wie es in vielen populären Formaten üblich ist.36 Hinzu kommt, dass die durch Rieu insze-

34 André Rieu at Schönbrunn, Vienna, Kap. 18, 01:44:46 – 01:45:28. 35 Zudem folgt die Geschichte von der Liebe, von den Problemen und von der „Warmherzigkeit“ der jungen Kaiserin einem Schema, das auch mit anderen populären Figuren fortgeschrieben wird, zum Beispiel mit Lady Diana, der ‚Königin der Herzen‘. 36 Umberto Eco zum Beispiel weist auf Unterhaltungsangebote, unter anderem Fernsehserien, hin, die in erster Linie Wiederholungen versprechen. Solche Serien bieten dem Publikum die Möglichkeit, in den wechselnden Folgen beständige Schemata wiederzufinden. Ebenso kann der „Hunger nach Unterhaltungsliteratur“ laut Eco vor allem als ein „Hunger nach Redundanz“ gelten, denn das

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nierte Welt als etwas Groß(artig)es angesehen wird, bei dem man entsprechend große Gefühle haben darf. Es ist ausgemacht, dass Sissis Herzenswärme das Publikum nicht kalt lassen kann. Zum Tragen kommen dabei die Schemata, die herangezogen werden – gerade sie bieten die Gewähr dafür, dass es sich um keinen Moment wie jeden anderen handelt. Mit der Bezugsfigur Sissi entkommt man dem Bereich des Gewöhnlichen, ihre Darstellung wird zum Ereignis, Rieu kann so auf den Registern des Märchenhaften und des Kaiserglanzes spielen. Allerdings kann dem Publikum nicht vorgeworfen werden, es wisse nicht, dass Rieu mit Imitaten aufwarte. Sissi muss sozusagen nicht ‚echt‘ sein, um im Scheinwerferlicht strahlen und erstrahlen zu können; sie muss nur – wie sich gezeigt hat – Schemata möglichst genau entsprechen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer nehmen die bloße Inszenierung an und wissen sie zu schätzen. Angesichts dieses bewussten Umgangs mit der Inszenierung ist fraglich, ob die gängige Kitsch-Kritik hier angemessen ist, die den Vorwurf der Täuschung und des Betrugs einschließt. – Ähnliche Rahmungen sind für den Musikantenstadl wesentlich, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll.

Z UM M USIKANTENSTADL Zur wissenschaftlichen Diskussion des Kitsch-Verdachts, unter dem der Musikantenstadl steht, ist ein Beitrag von Madalina Diaconu über die „Ästhetik des Musikantenstadls“37 grundlegend. Diaconu erklärt: „Die heile Welt des Musikantenstadls erinnert an die Definition des Kitsches als ‚ei-

Vorhersehbare sei eher gefragt als die Überraschung: Alle Liebesromane einer Reihe müssten nach denselben, unveränderten Grundmustern aufgebaut sein. Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt am Main: Fischer 1986, insbes. S. 207 ff. und S. 294 ff. Zum Begriff „Schema“ auch Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 159. 37 Madalina Diaconu: „Zur Ästhetik des Musikantenstadls“, in: Der Musikantenstadl, hrsg. von Binder und Fartacek, S. 155–228.

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nen schlechten Traum vom Paradies‘ [...]“.38 Von Hans-Dieter Gelfert übernimmt Diaconu die Überlegung, dass Kitsch häufig regressiv sei. Der Musikantenstadl zeichnet sich nach Diaconu unter anderem durch Regression aus im Sinne einer „Sehnsucht nach einer „heilen, vergangenen Welt, im Kindheitskult und unter Umständen in einer Regression ins orale Stadium [...]. Der Konsument lässt sich gleichsam in der Betrachtung des Niedlichen, Gemütlichen und Sentimentalen fallen. Er weicht den Anforderungen der Realität in eine schönere, einfachere, weniger entfremdete Welt aus, mit dem Zweck, zur Unschuld, Geborgenheit und Reinheit zurückzukehren. Die Individuation wird nicht nur durch die Wiederentdeckung der Kindheit, sondern bereits durch das Aufgehen in der Masse (des LivePublikums) und durch ihre Anonymität (als Fernsehpublikum) aufgehoben. Die Hauptform des Kitsches im Musikantenstadl ist die Niedlichkeit.“39 Andere werfen dem Musikantenstadl vor, die „beschönigende und beruhigende Funktion“ seiner heilen Welt sei problematisch: Die Menschen vermieden auf diese Weise, über Probleme nachzudenken, schotteten sich von der Realität ab und verstellten sich eine gesellschaftskritische Sicht. Politisches etwa wird im Musikantenstadl ausgeklammert. 40 Demgegenüber gibt Diaconu zu bedenken, „ob eine Unterhaltungssendung auch ein anderes Ziel verfolgen sollte, außer eben zu unterhalten?“41 Die Autorin bemerkt kritisch: Der Musikantenstadl verkaufe Illusionen – das sei die Rolle der Unterhaltung –, dabei aber werde nicht über das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Illusion, zwischen Sein und Schein reflektiert – dies zu tun, wäre an der Philosophie, der Wissenschaft und der Kunst. Vor allem die Li-

38 Ebd., S. 164. Diaconu zitiert hier Hans-Dieter Gelfert: Was ist Kitsch? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 84. Vgl. dazu auch Kurt Luger: „Mozartkugel und Musikantenstadl. Österreichs kulturelle Identität zwischen Tourismus und Kulturindustrie“, in: Medien Journal. Zeitschrift für Kommunikationskultur der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationswissenschaft (ÖGK) 2 (1990), S. 79–96, hier: S. 86. 39 Diaconu, „Zur Ästhetik des Musikantenstadls“, S. 165. Vgl. dazu Mechthild von Schoenebeck: „‚Wenn die Heidschnucken sich in die Äuglein gucken...‘ Politische Inhalte des volkstümlichen Schlagers“, Beiträge zur Popularmusikforschung 13 (1994), S. 6–24. 40 Vgl. Diaconu, „Zur Ästhetik des Musikantenstadls“, S. 164. 41 Ebd., S. 164 f.

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teratur habe den „Schleier der Lügenhaftigkeit der volkstümlichen Szene zerrissen“ und sei „zwischen der Bühne und den Kulissen gekonnt hin und her gesprungen“.42 Von der Autorin anerkannte Kunst kann demnach den Kitsch der Lüge überführen und die Illusion entlarven. Auf den ersten Blick mag einigen eine solche Kritik am Musikantenstadl plausibel erscheinen: Wird die Bergwelt in diesen Sendungen nicht zum Teil als Ort kindlicher Reinheit vor Augen geführt? Bereits eine Durchsicht des Magazins „Musikantenstadl Post“, das die Sendungen begleitet, könnte diese Vermutung bestärken: Im Jahr 2000 beispielsweise ist die Sängerin Petra Frey mit ihrem Lebensgefährten an einer ChristusAndachtsstelle in den Bergen zu sehen; diese Fotografie steht in der Tradition christlicher Genrebilder und stellt Frömmigkeit von positiv bewerteter Einfachheit und Naivität zur Schau (Abb. 3).43

Abbildung 3: „Petra Frey: ‚Meine große Liebe heißt Florian‘“, Musikantenstadl Post 2000, 2, S. 27.

Insbesondere aber der „Stadl“-Star Hansi Hinterseer trägt als eine Art blonder Lichtgestalt engelhaft-reine Züge – er wirkt heilend auf seine Fans laut

42 Ebd., S. 181. 43 Musikanten Stadlpost 2000, H. 2, S. 26.

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einer Schlagzeile der „Musikantenstadl Post“, die ihn in die Nähe Gottes rückt: „Wer an ihn [Hansi Hinterseer] glaubt, wird gesund“.44 Betrachtet man nun allerdings die Mechanismen, mit denen die von der Kritik beklagte Regression im Musikantenstadl vonstatten geht, müsste man wieder – mit Spodes Begriff – von einer „kontrollierten Regression“ sprechen und sozusagen von reflektierter Unreflektiertheit. Es ist entscheidend zu sehen, dass die Szenen der ‚heilen‘ oder – durch Hansi Hinterseer – ‚geheilten‘ Welt gerahmt sind. Besonders deutlich wird diese Rahmung bei den Postern, die sich zum Herausnehmen in dem Magazin finden: etwa ein Poster von Hansi Hinterseer aus einer „Stadlpost“ des Jahres 2013 (Abb. 4).45 In seiner weißen Kleidung und mit seinem blonden Haar strahlt Hansi Hinterseer in einem leuchtend roten Klatschmohnfeld hervor. Durch die goldene, üppig ornamentierte Rahmung des Bildes wird verdeutlicht, dass es sich bei diesem um etwas Künstlerisches oder auch Künstliches, um eine idealisierte Realität handelt, um Schönheit, die so rein, so blumig außerhalb des Rahmens nicht zu haben ist.

Abbildung 4: „Stadlpost Starposter Hansi Hinterseer“, Stadlpost 2013, 7/8, S. 24f.

44 Ebd., S. 14 f. 45 Stadlpost 2013, H. 7/8, S. 24 f.

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Auch die Musikantenstadl-Shows sind entsprechend gerahmt – bereits durch die Verse von der „Stadlzeit“, mit der sie beginnen: „Ja, jetzt ist Stadlzeit/ Wir sind soweit/ Wir haben uns/ Darauf gefreut.“ „Stadlzeit“ bedeutet: eine andere Zeit, die sich abhebt vom Alltag, die schöner, in jedem Sinne des Wortes ‚blendender‘ ist. Wie explizit und bewusst das Negative des Alltags ausgeblendet wird, zeigen insbesondere folgende Verse, die ebenfalls zu dem Eröffnungslied gehören: „Es gibt im Leben a Zeit/ Da ist man gern bereit/ Die Sorgen wegzusperrn/ Der Musi zuzuhörn.“ Mit diesen Versen gibt der Musikantenstadl die Welt im Ganzen keineswegs als ‚heil‘ aus. „Sorgen“ werden eingeräumt, allerdings außerhalb des Rahmens der Sendungen eingeordnet. Nicht nur durch diese Art der Rahmung wird deutlich gemacht, dass der Musikantenstadl die ‚heile Welt‘ gleichsam im Modus eines schönen Scheins bietet. Auch das durch den Rahmen Eingefasste stellt sich seinerseits als inszeniert dar. Die Scheune als Schauplatz dieser Sendungen trägt gewöhnlich stark kulissenhafte Züge: In einer geschlossenen Halle sind üblicherweise Holzhüttenelemente als Versatzstücke der Gemütlichkeit aufgestellt; ebenso erinnern die sauberen Trachten, die von vielen der im „Stadl“ Mitfeiernden getragen werden, an die künstlichen Idealwelten des Tourismus.46 Rieus Große Nacht der Wiener Musik und Musikantenstadl bieten idealisierende, ins Irreale übersteigerte Bilder von Österreich; allerdings ist die Übersteigerung derart deutlich, dass ihre fiktionale Dimension nicht vom Publikum übersehen werden kann. Beide Shows beanspruchen etwas Österreichisches darzustellen; sie sind aber so sehr gerahmt, dass sie jeweils eine Welt für sich bilden, die vom österreichischen Alltag betont abgehoben ist.

46 Das vom Alltag Abweichende wird in besonderer Weise beschworen, wenn zum Beispiel die Sendung aus Basel vom 16. November 2013 einen Schweizer Zirkus in den Mittelpunkt stellt: Nostalgie, kindliches Staunen, Zauber lassen sich auf diese Weise beschwören und eine Gegenwelt gegen die im „Musikantenstadl“-Lied genannten „Sorgen“ scheint dergestalt auf.

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F ILMOGRAPHIE

UND

L ITERATUR

André Rieu at Schönbrunn, Vienna. The Johann Strauss Orchestra. DVD. Deutschland 2006. Der Musikantenstadl. Alpine Populärkultur im fremden Blick, hrsg. von Susanne Binder und Gebhard Fartacek, Wien/Berlin: LIT 2006. Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt am Main: Fischer 1986. Gelfert, Hans-Dieter: Was ist Kitsch?, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. Gyr, Ueli: „‚Alles nur Touristenkitsch‘. Tourismuslogik und KitschTheorien“, in: Voyage – Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 7 (2005): Gebuchte Gefühle, hrsg. von Hasso Spode und Irene Ziehe, S. 92-102. Hennig, Christoph: „Jenseits des Alltags. Theorien des Tourismus“, in: Voyage – Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 1 (1997): Warum reisen?, hrsg. von Hasso Spode, S. 35-53. Karentzos, Alexandra: „Zu schön um wahr zu sein. Kulissen des Tourismus in der zeitgenössischen Kunst“, in: Monitoring Scenography: Space and Truth / Raum und Wahrheit, hrsg. von Thea Brejzek, Wolfgang Greisenegger und Lawrence Wallen, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste 2009, S. 96-113. Karentzos, Alexandra /Alma-Elisa Kittner: „Raum, touristisch: Mobilität – Medialität – Imagination“, in: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Stephan Günzel, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 280-293. Klawitter, Nils: „Millionen vergeigt“, in: Der Spiegel, 13.10.2003, S. 107. Lucka, Emil: „Volkstümliche Dichtung, Unterhaltungslektüre, Kitsch“, Deutsche Rundschau 56 (1930), S. 222-227. Luger, Kurt: „Mozartkugel und Musikantenstadl. Österreichs kulturelle Identität zwischen Tourismus und Kulturindustrie“, Medien Journal. Zeitschrift für Kommunikationskultur der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationswissenschaft (ÖGK) 2 (1990), S. 79-96. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 21996.

K ITSCHIGE V ORSTELLUNGEN

VON

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MacCannell, Dean: „Staged Authenticity. Arrangements of Social Space in Tourist Settings“, The American Journal of Sociology 79, 3 (1973), S. 589-603. Minholz, Michael: „Zauber im Dreivierteltakt. Über den Erfolg des prominentesten Stehgeigers der Welt: André Rieu ist heute gleich mehrfach im TV präsent“, Neue Ruhr Zeitung vom 24./25./26.12.2005, Rubrik „Medien“. Reimann, Hans: „Was ist kitschig?“, Volksblatt (Halle) Nr. 55 vom 6.3.1930, Beilage „Welt und Wissen“. Schoenebeck, Mechthild von: „‚Wenn die Heidschnucken sich in die Äuglein gucken...‘ Politische Inhalte des volkstümlichen Schlagers“, Beiträge zur Popularmusikforschung 13 (1994), S. 6-24. Simmel, Georg: „Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch“, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst, Potsdam: Kiepenheuer 1922, S. 46-54. Spode, Hasso: „‚Reif für die Insel‘. Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus“, in: Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag, hrsg. von Christiane Cantauw, Münster/New York: Waxmann 1995, S. 105-123. Thonhauser-Jursnick, Ingo: Tourismus-Diskurse. Locus amoenus und Abenteuer als Textmuster der Werbung, der Trivial- und Hochliteratur, Frankfurt am Main: Peter Lang 1997. Ueding, Gert: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Visual Culture and Tourism, hrsg. von David Crouch und Nina Lübbren, Oxford, UK/New York: Berg 2006.

Salzburg und The Sound of Music – zwischen Ablehnung und Faszination I NGRID P AUS -H ASEBRINK /S ASCHA T RÜLTZSCH -W IJNEN

T HE S OUND OF M USIC – EIN P HÄNOMEN DER P OPULÄRKULTUR : Z IEL UND AUSGANGSPUNKT DES B EITRAGS 1 Bei The Sound of Music handelt es sich um ein multimediales, crossmedial inszeniertes Phänomen – das heißt, ein Inhalt findet sich in mehreren Ausgabemedien wieder. Alles begann mit einem Buch – ähnlich wie bei den beliebten aktuelleren Kinofilmreihen Harry Potter oder Der Herr der Ringe. Die Grundlage bei The Sound of Music bilden Maria Augusta Trapps Lebenserinnerungen The Story of the Trapp Family Singer, erschienen 1949 (dt. Titel Vom Kloster zum Welterfolg, 1952). Darauf basierend wurden die deutschen Spielfilme Die Trapp-Familie (1956) sowie die Fortsetzung dazu, Die Trapp-Familie in Amerika (1958), gedreht. Weltbekannt wurde das davon inspirierte Musical The Sound of Music (Musik von Richard Rogers; Texte von Oscar Hammerstein II; Buch Howard Lindsay und Russel Crouse). Das Stück erreichte 1.443 Aufführungen im Lunt-Fontanne Theatre in New York und 2.386 Aufführungen im Palace

1

Vgl. auch Ingrid Paus-Hasebrink/Sascha Trültzsch/Philip Sinner: The Sound of Music – Ein interkulturelles Phänomen der Populärkultur, in: Atelier Gespräche, hrsg. von Sabine Coelsch-Foisner, Salzburg: Pustet 2011, S. 228–234.

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Theatre im Londoner West End.2 Die deutschsprachige Erstaufführung fand erst 1982 im Stadttheater Hildesheim statt. Auf Basis des Musicals von 1965 wurde – entsprechend einem modernen crossmedial vermarkteten Phänomen – der gleichnamige Musical-Film gedreht.3 Der Hollywoodfilm bietet rund um die Geschichte der Familie des Baron Trapp und seiner Gattin, der ehemaligen Novizin und Nanny seiner Kinder, Maria Augusta Kutschera, ein idyllisches Bild des austrofaschistischen Ständestaats der 1930er Jahre, das Touristen noch immer begeistert, Einheimische jedoch lange Zeit eher abgestoßen oder schlicht nicht interssiert hat. Aber gerade in Salzburg ist in den letzten Jahren ein vermehrtes Interesse an Film und Stoff, dies auch jenseits touristischer Vermarktung, erwacht: Im Oktober 2011 hatte das Musical, das am Landestheater Salzburg mit dem Motto „Ein Musical kommt nach Hause“4, beworben wurde, Premiere und wurde nicht allein in Salzburg als großer Musicalerfolg wahrgenommen. Seither wurde es bereits viermal in den Spielplan wiederaufgenommen, auch für die Spielzeit 2015/2016 ist es wieder im Programm des Landestheaters zu finden.5 Die Frage, was das Phänomen The Sound of Music für die einen – zumeist die Touristen, die wegen des Films nach Salzburg kommen – so interessant macht und weshalb es den anderen – eher den Einheimischen – weniger wichtig erscheint bzw. weshalb sie es lange Zeit sogar explizit abgelehnt haben, steht im Mittelpunkt des folgenden Beitrags. Er bezieht sich dabei nicht auf das Musical selbst, sondern auf den weltweit bekannten Musicalfilm von Robert Wise aus dem Jahre 1965 mit Christopher Plum-

2

Kleine Zeitung online: „,Sound of Music‘: Musical-Mythos im Salzburger Landestheater“.

2011,

http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/kultur/2859565/

sound-of-music-musical-mythos-salzburger-landestheater.story [26.9.2014]. 3

The Sound of Music erhielt 1965, neben zahlreichen anderen Auszeichnungen, auch fünf Academy Awards in den folgenden Kategorien: „Best Adapted Score“, „Best Director“, „Best Editing“, „Best Picture“ und „Best Sound“ (vgl. The New York Times 2010, o. S.). Musical und Film stützten sich gegenseitig; doch vor allem der Film diente dazu, das Musical weiter zu promoten.

4

Salzburger Landestheater: The Sound of Music 2013/14, 2013, http://www. salzburger-landestheater.at/de/produktionen/the-sound-of-music-wa.html

[2.9.

2014]. 5

Salzburger Landestheater: Premieren 2015/2016. 2015, http://www.salzburgerlandestheater.at/de/premieren/vorschau.html [9.6.2015].

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mer und Julie Andrews in den Hauptrollen, der seither jährlich Millionen Begeisterte nach Salzburg lockt und dessen Rezeption etwa in angloamerikanischen Ländern ein festes kulturelles Ritual darstellt: Zu Weihnachten schauen viele Familien in den USA, oft auch in Indien, den Film The Sound of Music – ein Ritual, das Menschen in Salzburg wie in Österreich völlig fremd ist. Angloamerikanischen oder fernöstlichen Touristen gilt The Sound of Music darüber hinaus als Inbegriff österreichischer Kultur. As one of the most widely seen films in cinema history, it carries the strongest representation of Austria to the world, and as such, The Sound of Music is perhaps most influential in creating recognizable typing of the nation and its values. What is most fascinating about this seemingly trivialized resolution to the vague image of Austria in world cinema is the realization that the Austria presented in the film has hardly been the one which the Second Republic has attempted to show the world in its neutralist, Alpine republic identity.6

Was begründet die Faszination der amerikanischen und fernöstlichen Fans von The Sound of Music und was die Skepsis bzw. gar zeitweilige Ablehnung der Salzburger und Salzburgerinnen? Warum lässt der Film sie eher kalt oder gilt ihnen schlicht als „kitschig“? Aus kommunikationswissenschaftlich-rezipientenorientierter Perspektive geht der Beitrag der Frage nach, wie Rezipienten und Rezipientinnen den Film The Sound of Music wahrnehmen und welche unterschiedlichen Rezeptionsmuster sich im Spannungsfeld von Faszination, Ablehnung und Begeisterung identifizieren lassen und wie diese im Kontext der Frage nach ‚Kitsch und Nation‘ eingeordnet werden können.

6

Robert von Dassanowsky: „An Unclaimed Country. The Austrian Image in American Film and the Sociopolitics of The Sound of Music. On cliche, culture, and locating national identity in Wise’s epic musical“, Bright Lights Film Journal 41 (2003), http://brightlightsfilm.com/41/soundofmusic.php#.U uW_BCV o8g [13.8.2014].

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K ITSCH –

EIN POPULÄRKULTURELLES

P HÄNOMEN

Nach Konrad Paul Liessmann gilt Kitsch nicht länger als „falscher Ausdruck falscher Bedürfnisse, auch nicht als falscher Ausdruck richtiger Bedürfnisse, sondern Kitsch, so will es zumindest die Toleranzästhetik unserer Tage, gilt als richtiger Ausdruck richtiger Bedürfnisse“.7 Ist Kitsch dann schlicht das, was gefällt? Im Kitsch, so Liessmann weiter, befriedige sich nicht hilflos eine Sehnsucht, der eine angemessene ästhetisch avancierte Sprache versagt geblieben sei, „sondern im Kitsch generiert das moderne Bewusstsein eine eigenständige Ausdrucksform gerade für jene Gefühlswelten, die durch keine Moderne wegzurationalisieren gewesen wäre“. 8 Damit wird Kitsch als ein Phänomen konnotiert, das keinesfalls von Tumben tumb rezipiert wird, sondern dem ein Potenzial spielerischkünstlerischer Momente inhärent ist. Der in der Auseinandersetzung mit den Cultural Studies von Paul Willis geprägte Sammelbegriff der Common Culture (Alltagskultur)9 macht Kitsch als populärkulturelles Phänomen der Alltagskultur fassbar, und er verzichtet von vornherein auf eine Dichotomie von Hochkultur und Trivialkultur. Der Begriff basiert auf der Überzeugung, „dass die verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen, Stilisierungen und Praxen nicht hierarchisch betrachtet und somit abgewertet werden dürfen“.10 Der dem Begriff Alltagskultur zu Grunde liegende Begriff Alltag verweist auf die Textur praktisch-instrumentellen, sozialen und kommunikativen Handelns im Alltag von Individuen, in welche die sinngebenden Deutungen der Kultur schon eingewoben sind. Alltagskultur markiert wiederum einen kollektiven, auf eine große Zahl von Akteuren bezogenen Status, sie ist eingebunden in spezifische Kulturen und Milieus. 11 Alltagskultur

7

Konrad Paul Liessmann: Kitsch! Oder warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist, Wien/ München: Brandstätter 2002, S. 26.

8 9

Ebd., S. 27. Paul Willis: Common culture: symbolic work at play in the everyday cultures of the young, Boulder: Westview Press 1990.

10 Zit. nach Ekkehard Sander/Verena Mayr-Kleffel/Jürgen Barthelmes: Medienerfahrungen von Jugendlichen in Familien und Peergroups. Ergebnisse der Pilotstudie, München: DJI 1992, S. 34. 11 Vgl. Ingrid Paus-Hasebrink: „Zum Begriff von ,Kultur‘ als Basis eines breiten Verständnisses von (AV-)Kommunikation im Rahmen von Alltagskultur, in: In-

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bedeutet nun „nicht nur die Praxis von Einzelnen, sondern die von sozialen und kulturellen Kollektiven, wie etwa von der Familie oder auch der Region oder Nation, in die sich der Einzelne eingebunden weiß“. 12 Als mediales Phänomen der Alltagskultur ist The Sound of Music gar im Laufe der Zeit zu einer „Ikone globaler Alltagskultur“13 avanciert. Alltagskultur ist aber nicht gleichzusetzen mit Populärkultur. Populärkultur muss zwar als ein Moment der Alltagskultur verstanden werden, sie kann jedoch auch als ein „‘besonderes Erlebnis‘ inszeniert und wahrgenommen“14 werden, etwa eines, das den Alltag transzendiert, aus dem Alltag herausführt, ihn vorübergehend auch vergessen und neu deuten und dann eventuell auch besser bewältigen lässt. Ralph Weiß stellt als Charakteristikum der Populären Kultur, insbesondere der amerikanischen, das Moment der Performanz heraus; Populärkultur erweist sich als leicht lesbar und „stellt nicht nur das symbolische Repertoire für den ‚expressiven Individualismus‘; sie popularisiert ihn auch als Haltung, als soziale Verkehrsund Kommunikationsform sowie als Vor-Bild einer gelungenen Persönlichkeit“.15 Ausgehend von diesem Verständnis kann dem Phänomen The Sound of Music Potenzial zur Transzendierung attestiert werden – eine Sichtweise, die die Perspektive von Rezipienten und Rezipientinnen ernst nimmt und jedem Rezeptionsakt je für sich spezifische kulturell- symbolische Bedeutung für den Rezipienten bzw. die Rezipientin beimisst. Diese Sichtweise entspricht Stuart Halls Enkodierungs- und Dekodierungsmodell,16 wonach

grid Paus-Hasebrink/Jens Woelke/Michelle Bichler/Alois Pluschkowitz: Einführung in die Audiovisuelle Kommunikation, München [u. a.]: Oldenbourg 2006, S. 13–52. 12 Ralph Weiß: „Alltagskultur“, in: Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hrsg. von Otto Hügel, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 23–32, hier: S. 25. 13 Ulrike Kammerhofer-Aggermann/Alexander Keul (Hrsg.): „The sound of music“ – zwischen Mythos und Marketing, Salzburg: Landesinstitut für Volkskunde 2000. 14 Weiß, „Alltagskultur“, S. 25. 15 Ebd., S. 30. 16 Friedrich Krotz: „Stuart Hall: Encoding/Decoding und Identität“, in: Schlüsselwerke der Cultural Studies, hrsg. von Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Tanja

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Texten zwar bevorzugte Lesarten eingeschrieben sind, doch Leser und Leserinnen diese auf unterschiedliche Weise interpretieren, Publika als heterogen konnotiert werden und Rezeption als jeweils abhängig von soziodemographischen Variablen, wie Geschlecht, Alter, Schicht und sozialem wie kulturellem Milieu, aber auch der jeweiligen Wahrnehmung von Region oder gar Nation,17 verstanden wird. In welcher Weise Menschen mit Medienangeboten umgehen, hängt in entscheidender Weise mit ihrem lebensweltlich geprägten ‚Vorwissen‘ zusammen, also mit ihrer individuell-biographisch, aber auch sozial-kulturell geprägten Perspektive, aus der heraus sie Medienangebote wahrnehmen. 18

L ESARTEN UND R EZEPTIONSMODI NON - FIKTIONALER T EXTE

FIKTIONALER UND

Stuart Hall geht in seinem bekannten Encoding-Decoding-Modell davon aus, dass die Rezipientinnen und Rezipienten Medieninhalte auf Grundlage ihres Alltagswissens dekodieren und ihnen im Kontext ihres Alltags, vor dem Hintergrund ihrer Rezeptionserfahrung und kulturellen Prägungen Sinn geben. Diese Zuweisung kann durchaus unterschiedlich ausfallen, und Hall unterscheidet idealtypisch drei Lesarten von medialen Texten, die im Folgenden für die vorgeschlagenen unterschiedlichen Rezeptionsmodi ge-

Thomas, Wiesbaden: VS-Verlag 2009, S. 216–217; Rainer Winter: „Cultural Studies und kritische Medienanalyse: Vom ,encoding/decoding‘-Modell zur Diskursanalyse“, in: Cultural Studies und Medienanalyse, hrsg. von Andreas Hepp und Rainer Winter, Wiesbaden: Springer VS ²1999, S. 50–54. 17 Mit Bezug auf Benedict Andersons, vom Sozialkonstruktivismus Bergers und Luckmanns geprägten Verständnis wird auch eine Nation durch die Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmt und ist grundsätzlich Ergebnis eines intersubjektiven gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses. Nation ist nach Anderson eine vorgestellte, stets erlebte Gemeinschaft; vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983], http://sisphd.wikispaces.com/file/view/Benedict_Anderson_Imagined_Commun ities.pdf [Original]. 18 Siehe dazu ausführlicher Paus-Hasebrink, „Zum Begriff von ,Kultur‘“.

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genüber dem Musical-Film The Sound of Music relevant sind – seine Terminologie wird hier übernommen. Bei der bevorzugten Lesart zeigen Rezipienten und Rezipientinnen wenig Distanz und übernehmen im Wesentlichen die eingeschriebenen Inhalte (encoding). Bei der ausgehandelten Lesart finden sich bereits hinterfragende, kritische Elemente, die den Inhalt partiell infrage stellen und zu einer eigenen Interpretation des Textes führen, inklusive der Ablehnung bestimmter Elemente. Die oppositionelle Lesart schließlich geht mit einer Ablehnung des Inhaltes einher.19 Ausgehend von Halls allgemeinem Modell zur Medienrezeption lässt sich mithilfe der Unterscheidung zwischen non-fiktionalen und fiktionalen Inhalten noch tiefer in Rezeptionsweisen vordringen, die für die Erklärung verschiedener Rezeptionsmodi gegenüber The Sound of Music relevant sind. Nun mag es im ersten Moment irritieren, einen Film, der auf den Lebenserinnerungen von Maria Augusta Trapp beruht, dem fiktionalen Paradigma zuzuordnen. Dies scheint jedoch gleich aus drei Gründen plausibel und wird auch bei der Unterscheidung der Rezeptionsmodi noch relevant werden. Erstens basiert der Film auf der Musicaladaption und damit nur indirekt auf den Erinnerungen der Autorin. Zweitens zeigte sich Trapp selbst eher unzufrieden mit der Umsetzung im Musical, nicht zuletzt, weil keine Musikstücke aus dem Repertoire der Trapp-Familie übernommen, sondern typische Musical-Songs komponiert wurden. Drittens ist die Unterscheidung zwischen fiktional und non-fiktional (vor allem aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive) eine, die nicht nur in der Produktion selbst angelegt, sondern auch von den Rezipienten und Rezipientinnen getroffen wird, worauf im Folgenden noch eingegangen wird. Grundsätzlich geht es bei fiktionalen Genres, anders als bei nonfiktionalen, nicht um Kriterien wie Authentizität oder Realitätsnähe.20 Geschichten müssen im Rahmen der fiktiven Welt potentiell möglich und plausibel sein, nicht aber im Sinne einer außerfilmischen Wirklichkeit. In fiktionalen Geschichten akzeptieren Leserinnen bzw. Zuschauer auch Gegebenheiten, die es in der realen Welt so nicht gibt, sobald sie einmal in der

19 Winter, „Cultural Studies und kritische Medienanalyse“, S. 52–53. 20 Vgl. für die folgenden Ausführungen Sascha Trültzsch: Kontextualisierte Medieninhaltsanalyse. Mit einem Beispiel zum Frauenbild in DDR-Familienserien, Wiesbaden: VS-Verlag 2009, S. 18–20.

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fiktionalen Welt plausibel etabliert sind – wie beispielsweise sprechende Tiere oder Zeitreisen. Die philosophische und literaturwissenschaftliche Diskussion zum Modus des Fiktionalen wurde auch für die Kommunikationswissenschaft aufgearbeitet. Als zentralen Ausgangspunkt ziehen dabei beispielsweise Böcking, Wirth und Risch das Konzept von Samuel Taylor Coleridge aus dem Jahr 1817 heran.21 Um ein fiktionales Werk genussvoll rezipieren zu können, sei es nötig, dass vorübergehend die Skepsis und Ungläubigkeit gegenüber der fiktionalen Welt aufgegeben und dem Werk quasi vertraut oder geglaubt werden müsse. Coleridge schreibt „willing suspension of disbelief for the moment […] constitutes poetic faith“. 22 Menschen lassen sich danach bereitwillig auf das Gezeigte ein, um seinen poetischen Reiz genießen und sich unterhalten lassen zu können – und dies wohl wissend, dass es sich dabei um realitätsfremde, illusorische Darstellungen handelt. Suckfüll hat das Konzept des „willing suspension of disbelief“ als Rezeptionsmodus für mediale Angebote konzipiert, der auf Strategien basiert, die im Laufe der Mediensozialisation eingeübt wurden.23 Dabei ist der spezifische Rezeptionsmodus sowohl mit bestimmten Erwartungen und Motiven als auch mit Rezeptionszielen bei Rezipienten und Rezipientinnen verbunden. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass für das Einnehmen eines spezifischen Rezeptionsmodus vor allem inhaltlich-semantische Aspekte relevant sind,24 wie der Abgleich mit der Realität und die Plausibilität innerhalb der Geschichte. Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse des Beitrags stellt sich daraus die Frage, inwiefern verschiedene Rezipienten und Rezipientinnen aufgrund ihres je spezifischen Abgleichs mit der Realität und der Plausibilität der Geschichte (ergo der inhaltlich-semantischen Aspekte) in der Wahrnehmung von The Sound of Music einen je unterschiedlichen

21 Saskia Böcking/Werner Wirth/Christina Risch: „Suspension of Disbelief: Historie und Konzeptualisierung für die Kommunikationswissenschaft“, in: Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten, hrsg. von Volker Gehrau/Helena Bilandzic/Jens Woelke, München: Fischer 2005, S. 39–58. 22 Samuel Taylor Coleridge: Biographia literaria, London: Dent 1921 [1817], S. 6 f. 23 Vgl. Böcking/Wirth/Risch, „Suspension of Disbelief“, S. 52. 24 Vgl. ebd., S. 53.

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Rezeptionsmodus einnehmen. Dabei bietet sich vor dem Hintergrund der Fragestellung des Beitrags insbesondere die geografisch-kulturelle Zuordnung der Rezipienten und Rezipientinnen in Bezug auf den Abgleich des Films mit der Realität als Erklärung für die Begeisterung bei USamerikanischen und asiatischen Rezipienten und Rezipientinnen auf der einen und die eher zurückhaltende Einstellung der österreichischen oder zumindest der Salzburger an.

U NTERSCHIEDLICHE R EZEPTIONSMODI DES F ILMS T HE S OUND OF M USIC Aufgrund dieser Überlegungen können mit Bezug auf die Lesarten nach Stuart Hall idealtypisch drei unterschiedliche Rezeptionsmodi25 unterschieden werden, die die Zuseher und Zuseherinnen dem Film The Sound of Music gegenüber einnehmen. Ihre Identifikation beruht auf kleineren empirischen Untersuchungen im Rahmen eines Forschungsseminars im Sommersemester 2011 zum Phänomen The Sound of Music.26

• • •

• •

1. Begeisterter Rezeptionsmodus: Willing Suspension of Disbelief Einnehmen der bevorzugten Lesart Keine Infragestellung der fiktionalen Welt 2. Distanzierter Rezeptionsmodus: Nur partielles Willing Suspension of Disbelief u. a. wegen Widersprüchen im Abgleich mit außerfilmischer Realität Einnehmen der ausgehandelten Lesart

25 Die vorgestellten Rezeptionsmodi bzw. Lesarten berücksichtigen nicht die jeweiligen Rezeptionskompetenzen von Zusehern und Zuseherinnen. 26 Forschungsseminar: The Sound of Music – Interkulturelle Phänomene der Populärkultur. Fachbereich Kommunikationswissenschaft. Sommersemester 2011. Seminarleitung: Ingrid Paus-Hasebrink und Sascha Trültzsch. In diesem zur gleichnamigen Ringvorlesung angebotenen Forschungsseminar haben MasterStudierende in kleinen Gruppen empirische Untersuchungen zum Themenfeld The Sound of Music entwickelt und anschließend durchgeführt.

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Hinterfragen der Plausibilität der Filmhandlung ohne Einschränkung des Rezeptionsgenusses 3. Ablehnender Rezeptionsmodus: Kein Willing Suspension of Disbelief (Film wird als unplausibel wahrgenommen) Einnehmen einer oppositionellen Lesart Gänzliches Hinterfragen bzw. Ablehnen der fiktionalen Welt Andere Gründe für Ablehnung: Musik oder Musicalfilme insgesamt missfallen etc.

Insbesondere die beiden Rezeptionsmodi 1 und 3 erscheinen in Bezug auf die Forschungsfrage des vorliegenden Beitrags interessant. Zum 2. Rezeptionsmodus werden abschließend einige Thesen formuliert, wie sich die Wahrnehmung des Phänomens The Sound of Music von Salzburgerinnen und Salzburgern infolge des gegenwärtig zu beobachtenden Wandels in Zukunft entwickeln könnte. Begeisterter Rezeptionsmodus Explizite Fans des Films können wohl diesem Modus zugeordnet werden. Eine kleinere Online-Umfrage unter 112 Fans des Films weltweit (Stichprobe über Fan-Seiten auf Facebook)27 im Forschungsseminar zur Forschungsfrage: „Was ist für Sie der wichtigste Aspekt an The Sound of Music“? [What is the most important aspect of The Sound of Music?] (Die Befragten konnten beliebig viele Antworten auswählen) brachte folgendes Ergebnis: 61 Prozent der Befragten nennen die Musik als wichtigsten Aspekt, 35 Prozent die Figuren/ Charaktere und 23 Prozent ein bestimmtes Lied. Weniger wichtig sind den befragten Fans dagegen die Landschaft (18%), die Schauspieler (18%), Österreich als Handlungsort (12%) und der historische Hintergrund (10%). Aber auch diese weniger wichtigen Aspekte spielen eine Rolle, wenn man an die vielen Touristen denkt, die jedes Jahr nach

27 Sarah Amberger/Ines Jennewein: „Was fasziniert die Fans am Film The Sound of Music?“. Seminararbeit im Spezialisierungsseminar The Sound of Music – interkulturelle Phänomene der Populärkultur. FB Kommunikationswissenschaft. Universität Salzburg, Sommersemester 2011.

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Salzburg kommen. Allerdings zeigt sich bei den Fans ganz klar, dass Elemente des Films als eine fiktionale Geschichte (Musik, Figuren) deutlich wichtiger sind als Elemente, die die Handlung historisch-authentisch (nonfiktional) charakterisieren (Ort, historischer Kontext).

Abbildung 1: Was ist für Sie der wichtigste Aspekt an The Sound of Music“? (Amberger/ Jennewein 2011). Angaben in Prozent, Mehrfachantworten möglich, (N=112).

Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Antworten in der Fragebogenerhebung von Amberger und Jennewein.28 So geht eine Frage darauf ein, was die Fans am Film fasziniert: Was fasziniert Sie am Film The Sound of Music? [What fascinates you about the movie The Sound of Music?]: Über 70 Prozent der Befragten geben an, dass sie vor allem das Mitsingen fasziniert, aber unmittelbar danach tauchen schon auf dem zweiten Platz (52%) Österreich und seine Landschaft auf. Damit sind aller Wahrscheinlichkeit nach vor allem schöne alpenländische Landschaften gemeint und weniger Österreich als realer historischer Hintergrund, wie die weiter oben angeführten Ergebnisse nahelegen.

28 Ebd.

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Diese Gruppe der Fans (zumindest in der vorliegenden Stichprobe) kann man als „Begeisterte“ oder gar „Enthusiasten“ bezeichnen; sie nehmen einen begeisterten Rezeptionsmodus ein. Sie lassen sich voll auf den Musicalfilm ein und singen sogar besonders gern mit. Es lässt sich annehmen, dass im Sinne des Willing Suspension of Disbelief der Abgleich zwischen der fiktiven Welt im Film und der Realität eine nachgeordnete Rolle spielt. Diese Rezipienten und Rezipientinnen nehmen den Film klar im fiktionalen Modus wahr; für sie ist die Geschichte plausibel inszeniert. Im Sinne Halls nehmen sie damit die bevorzugte Lesart auf. Dassanowsky betont, dass The Sound of Music eine zentrale Quelle für das Bild der österreichischen Nation gerade in den USA ist: Während Kapitän Trapp für die K.u.K.-Zeit steht und dennoch Patriot der ersten Republik ist,29 repräsentiert Maria die Natur- und Heimatverbundenheit, die in der Liebe zur Musik ihren Ausdruck findet.30 Gerade diese stark stereotype Zeichnung erleichtert die Identifikation mit den Figuren (bis hin zur parasozialen Interaktion 31) und das ‚Einlassen‘ auf die Geschichte. Ganz im Stile Hollywoods sind die Schauplätze und Ausstattung üppig. Man kann vermuten, dass gerade auch dies die Faszination für die Begeisterten ausmacht. Auch in dieser gewissen Üppigkeit kann ein Anlass gesehen werden, den Film möglicherweise sogar als Kitsch zu etikettieren. Außerdem sind, wie Bachleitner und Weichbold32 bereits 2000 bei einer Internetumfrage ermittelt haben, Berge, Kultur, Musik und die Tradition die wichtigsten „Imagekomponenten“,33 die Touristen Österreich zuordnen. Dies sind auch

29 Ein Paradox, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll. 30 Siehe Dassanowsky, „An Unclaimed Country“. 31 Das Konzept der parasozialen Interaktion geht auf Horton und Wohl (1956) zurück. Es beschreibt Medienrezeption als eine Kommunikationssituation, die durch Interaktion zwischen Rezipienten und Medienpersonen geprägt ist. Die Illusion einer Face-to-Face-Interaktion wird als parasoziale Interaktion bezeichnet (vgl. Wolfgang Schweiger: Theorien der Mediennutzung: Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag 2007, S.121–122). 32 Vgl. Reinhard Bachleitner/Martin Weichbold: „,Sound of Musik‘: Image und Marke. Ergebnisse einer Internet-Umfrage“, in: „The sound of music“, hrsg. von Kammerhofer-Aggermann/Keul, S. 332. 33 Ebd., S. 331.

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diejenigen stereotypen Elemente, die in der Hollywood-Inszenierung bedient werden34. Im Sinne einer bevorzugten Lesart wird der Film als Liebes- und Familiengeschichte gelesen, die eines Bezugs zu realen historischen Ereignissen nicht bedarf. Ablehnender Rezeptionsmodus Verschiedene Publikationen, wie auch der Sammelband von KammerhoferAggermann und Keul betonen, dass der Film in Österreich und auch Salzburg (zumindest vor 2000) wenig bekannt war und nur wenig wahrgenommen wurde. Die zahlreichen Touristen, die bereits seit Ende der 1960er Jahre nach Salzburg kommen, um die Filmsettings zu besuchen, fanden Einheimische vor, die sich weder für das Musical noch den Film interessierten, auch wenn bei einigen zumindest die Trapp-Familie noch in Erinnerung war. Weder die gekürzte Version des Filmes, die bei der Hochzeit endet und so den ‚Anschluss‘ ausspart, noch die komplette Version wurden Erfolge in österreichischen Lichtspielhäusern. Entsprechend wurde der Film auch selten im Fernsehen gezeigt und, wenn dies der Fall war, keinesfalls zur Primetime. Folgt man Böcking, Wirth und Risch35 ist anzunehmen, dass es Salzburgern und Salzburgerinnen schwerer fällt, sich auf den Film einzulassen, da die Filmkulisse eben auch ein realer Ort für sie ist, ihre Alltagsumgebung. Bei ihnen ist ein besonderes Interesse an den Orten des Films wahrscheinlich, schließlich kennen sie alle räumlichen Gegebenheiten sehr gut aus eigener Anschauung. Brüche und Sprünge, die sich durch die Konstruktion einer filmischen Topographie ergeben, werden bemerkt und können irritieren – Widersprüche im Sinne eines Abgleichs mit der Realität fallen hier auf. Es ist aber nicht nur der Abgleich zwischen den beiden Realitäten, der irritieren könnte. 2012 haben Paus-Hasebrink, Trültzsch und Sinner36 auch die zahlreichen Brüche in der Darstellung der historischen Gegebenheiten

34 Bachleitner und Weichbold können hier deutliche Parallelen zwischen dem Image von The Sound of Music und dem von Österreich aufzeigen. 35 Böcking/Wirth/Risch, „Suspension of Disbelief“. 36 Paus-Hasebrink/Trültzsch/Sinner, „The Sound of Music – Ein interkulturelles Phänomen der Populärkultur“.

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thematisiert. Gerade für Rezipienten und Rezipientinnen, die zumindest ein grobes historisches Bild der Zeit, in der der Film spielt, und damit verbunden auch eine Vorstellung von traditioneller alpenländischer Musik haben, müssen Widersprüche evident werden. Zunächst wird die Geschichte der Trapp-Familie recht frei, nur mit geringen Bezügen oder gar falsch bezugnehmend auf die damalige Situation im austrofaschistischen Ständestaat37 nacherzählt und auch ihr tatsächliches Musikrepertoire wird, wie oben bereits erwähnt, in der Filmmusik nicht berücksichtigt; stattdessen werden – typisch für Broadway-Musicals-Titel – Kompositionen der amerikanischen Musical-Komponisten Rodgers und Hammerstein als alpenländische Tradition präsentiert.38 Darüber hinaus kann man annehmen, dass die ‚üppige‘ Inszenierung und Orientierung an US-amerikanischen Klischees von Österreich zu Ablehnung bei Rezipientinnen und Rezipienten in Österreich und insbesondere in Salzburg führen. Im Sinne Adornos wird hier Heimat und Tradition für den Hollywoodfilm aufbereitet und dabei auf Kosten der Konsumierbarkeit manipuliert – man könnte auch sagen „verkitscht“. Zugespitzt schreibt er 1963 in seinem „Résumé über Kulturindustrie“: „Keine Heimat überlebt ihre Aufbereitung in den Filmen, die sie feiern und alles Unverwechselbare, wovon sie zehren, zum Verwechseln gleich machen.“39 Aus diesen Gründen lässt sich schließen, dass ein Motiv dafür, dass diese Rezipienten und Rezipientinnen und einen ablehnenden Rezeptionsmodus einnehmen, darin liegen könnte, dass sie die fiktionale Realität nicht

37 Noch einmal sei auf die widersprüchliche Figur des Barons hingewiesen: Sein Status und sein Habitus verorten ihn deutlich im K.u.K.-Reich, obwohl er als Patriot der ersten Republik präsentiert wird. Er scheint den austrofaschistischen Ständestaat eher zu ignorieren und gerät erst nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich in Konflikt mit den Nationalsozialisten. 38 Vgl. Sascha Trültzsch: One City – Two Soundtracks: Salzburg and The Sound of Music. Vortrag auf IASPM Tagung: Imagining Communities Musically: Putting Popular Music in its Place (International Association for the Study of Popular Music), University of Salford, Manchester, 6. September 2012. 39 Theodor W. Adorno: „Résumé über Kulturindustrie“ [1963], in: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. von Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell u. a., Stuttgart: DVA 52004, S. 202–208, hier: S. 206.

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akzeptieren und aufgrund der Brüche im Abgleich mit der außerfilmischen und historischen Realität eine oppositionelle Lesart einnehmen, wohl auch weil sie aufgrund der Kenntnisse des historischen Kontextes und möglicherweise der Musik der Trapp-Familie eher zum non-fiktionalen Rezeptionsmodus tendieren. Allerdings sind seit dem Misserfolg in den österreichischen Kinos viele Jahre vergangen und eine neue Generation scheint den Film oder zumindest den Stoff neu zu entdecken und ihm weniger ablehnend gegenüberzustehen – mittlerweile scheint der Übergang vom ablehnenden zum distanzierten Zuseher vollzogen zu sein. Das mag auch damit zusammenhängen, dass seit einiger Zeit zumindest mit der NS-Vergangenheit40 und in Anfängen auch mit der Zeit des Austrofaschismus41 offener und kritischer umgegangen wird. Zudem sei noch in Anlehnung an Nils Grosch 42 angemerkt, dass es keine Erhebungen zur tatsächlichen Ablehnung der Salzburger gegenüber dem Film gibt. Seine These, dass es sich hierbei um einen Mythos im Sinne eines gern gepflegten Images handelt, ist zumindest für die Zeit nach 2000 einer genaueren Prüfung wert. Kursorisch-explorativ lassen sich auf Basis der Forschungen im Sommersemester 2011 einige Indizien vorbringen, die Groschs These stützen.

40 Vgl. u. a. Albert Lichtblau/Alois Pluschkowitz: „Face the Memories: Filmische Stadtgeschichte(n) aus Salzburg“, in: Medienwelten im Wandel: Kommunikationswissenschaftliche Positionen, Perspektiven und Konsequenzen. Festschrift für Ingrid Paus-Hasebrink, hrsg. von Christine C. Wijnen/Sascha Trültzsch/Christina Ortner, Wiesbaden: VS-Verlag 2013, S. 199–220. 41 Kurier-Online 2014: SPÖ/ÖVP: Gemeinsames Gedenken an 1934: Erstmals seit 50 Jahren; online: http://kurier.at/politik/inland/erstmals-gemeinsames-buerger kriegsgedenken-von-spoe-und-oevp-seit-50-jahren/50.786.501 [9.6.2015]. 42 Nils Grosch: „The sounds of (the earth are like) music“: Notiz zur Verortung der Rodgers & Hammerstein-Musicals. Antrittsvorlesung 28.5.2013. Universität Salzburg 2013.

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Distanzierter Rezeptionsmodus Im Rahmen des erwähnten Forschungsseminars hat eine Gruppe von Studierenden43 insgesamt 82 Salzburger und Salzburgerinnen (mittels standardisierter Paper & Pencil-Befragung) interviewt. Diese nach pragmatischen Gründen der Erreichbarkeit zusammengesetzte Stichprobe zeigt folgende Tendenzen auf: Fast alle Personen in der Stichprobe haben schon vom Film gehört (75 von 82), und immerhin 31 haben den Film schon einmal gesehen. Immerhin 26 würden ihn gern einmal sehen und nur 5 lehnen ihn grundsätzlich ab. Das sind Indizien dafür, dass das oft erwähnte Desinteresse und die Ablehnung der Salzburger 2011 deutlich geringer ausfällt als in den älteren Publikationen angegeben. Zudem schätzen viele Befragte den Film nicht nur als kommerzielle (17), sondern auch als kulturelle Bereicherung (10) und gute Unterhaltung (16) ein. Der eher distanzierte, mithin weniger ablehnende Rezeptionsmodus gegenüber dem Film mag einerseits mit der erwähnten unaufgeregteren und zugleich kritischeren Haltung der Jüngeren gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus zu tun haben. (Man kann freilich auch geringeres historisches Wissen und Interesse vermuten.) Andererseits wohl aber auch mit der nun schon Jahrzehnte andauernden Präsenz von Sound of Music-Touristen mitsamt zunehmend verbreiteten, nahezu allgegenwärtigen Angeboten, etwa in Form von diversen Bustouren, über ‚Fräulein Marias Bicycle Tours‘ bis hin zu den Führungen mit einem singenden ‚Fräulein Maria‘ – Angebote, die möglicherweise das Interesse auch derer zu wecken vermögen, die den Film bisher nicht kannten.

43 Sabrina Bernhardt/Simone König/Marie-Christine Ziegelmüller: Die Ablehnungshaltung der Salzburger Einwohner zum Film The Sound of Music. Seminararbeit im Spezialisierungsseminar The Sound of Music – interkulturelle Phänomene der Populärkultur. FB Kommunikationswissenschaft. Universität Salzburg, Sommersemester 2011.

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Abbildung 2: Haltung von Salzburgern und Salzburgerinnen zu The Sound of Music. (Bernhardt/ König/ Ziegelmüller 2011). Angaben in absoluten Zahlen, Mehrfachnennungen möglich (N=82).

Auch die oben erwähnte erfolgreiche Inszenierung am Landestheater mitsamt den Wiederaufnahmen, mag zur weiteren Akzeptanz und Beliebtheit beigetragen haben. Vereinfacht gesprochen wird in dieser Inszenierung eine doppelte Strategie verfolgt:44 Einerseits wird der Realitätsanspruch der Orte – allein schon dadurch, dass es eben eine Bühne und keine Drehorte in Salzburg sind – zurückgenommen und damit Willing Suspension of Disbelief für Salzburger erleichtert. Zugleich werden historische Details näher an der realen Geschichte mit ihren historischen Hintergründen inszeniert, darüber hinaus werden Klischees und Stereotype soweit reduziert, wie es die Geschichte eben zulässt; dies mag dazu beitragen, dass die Ablehnung wie noch des Musicals als zu üppig oder gar kitschig – zumindest in den Kritiken – kaum mehr vorkommt.

44 Sabine Coelsch-Foisner/Carl Philip Maldeghem: „Interview zur neuen Inszenierung von The Sound of Music im Landestheater Salzburg“, in: Atelier Gespräche, hrsg. von Sabine Coelsch-Foisner, Salzburg: Pustet 2011, S. 239–241.

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Es gibt also durchaus Anzeichen dafür, dass der Film, mit zunehmender Distanz zum historischen Handlungsrahmen, auch bei den vormals ablehnend Gesinnten (Salzburgern und Salzburgerinnen) größere Akzeptanz im Sinne eines fiktionalen Rezeptionsmodus und der bevorzugten Lesart erreicht. Man kann vermuten, dass der Abgleich mit der außerfilmischen historischen Realität aufgrund geringerer Kenntnisse derselben bei jüngeren Rezipienten seltener zu einem Bruch in der Plausibilität führt und sie sich so eher auf den Modus des Willing Suspension of Disbelief einlassen. Jedenfalls zeigen verschiedene Indizien, dass die ablehnende Haltung, die wohl noch vor 20 Jahren in Salzburg und Österreich vorgeherrscht haben mag, eher einer durchaus auch interessiert distanzierten gewichen ist.

F AZIT Bei The Sound of Music handelt es sich um ein cross-medial vermarktetes, national- bzw. regional-kulturell geprägtes Phänomen zwischen Kult und Kitsch, an dem sich in der Wahrnehmung und Rezeption die Geister scheiden. Der Umgang mit The Sound of Music, ob als Musical oder vor allem als weltberühmter Hollywoodfilm, ist daher nicht allein mit Blick auf das Phänomen allein, sondern besser im Kontext von Angebot und Rezeption zu verstehen. Für die einen repräsentiert es ein populärkulturelles Sehnsuchtsobjekt, zuweilen fest in Rezeptionsrituale eingebunden, für die anderen hingegen eher ein kitschiges, wenn nicht gar abzulehnendes, geschickt nach touristischen Gesichtspunkten vermarktetes Produkt. Diese beiden Positionen markieren das Spannungsverhältnis. Mit Bezug auf Stuart Hall lassen sich auf Basis von kleineren empirischen Untersuchungen zu The Sound of Music zumindest drei Rezeptionsmodi identifizieren: die „Begeisterten“, die „Ablehnenden“ und die „Distanzierten“. Salzburger und Salzburgerinnen haben sich für den Film The Sound of Music über Jahrzehnte kaum oder gar nicht interessiert, oder sie haben sich entsprechend dem Rezeptionsphänomen des Willing Suspension of Disbelief dem Bild ihrer Heimat à la Hollywood eher ablehnend gegenüber gezeigt – ganz anders als die Fans aus amerikanischen und asiatischen Ländern, die durchweg zu den „Begeisterten“ zählen. Bei ihnen ist The Sound of Music fest in alltagskulturelle Rituale eingebunden. Erst seit der Neu-Inszenierung des Musicals am Landestheater 2012 wendet sich das

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Blatt zugunsten des weltweit in einzigartiger Weise rezipierten und kulturkritisch als „Kitsch“ konnotierten Stoffes erneut. Man darf gespannt sein, ob eines Tages auch die Salzburger und Salzburgerinnen mehrheitlich zu den „Begeisterten“ zählen oder ob sie sich – dies erscheint wahrscheinlicher – eher unter den distanzierten Rezipienten und Rezipientinnen finden. Neuere Untersuchungen legen jedenfalls nahe, dass sie dem Phänomen The Sound of Music nicht länger ablehnend gegenüberstehen.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: „Résumé über Kulturindustrie“ [1963], in: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. von Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell u. a., Stuttgart: DVA 5 2004, S. 202–208. Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983], http://sisphd.wikispaces.com/file/ view/Benedict_Anderson_Imagined_Communities.pdf [Original]. Bachleitner, Reinhard/Martin Weichbold: „,Sound of Musik‘: Image und Marke. Ergebnisse einer Internet-Umfrage“, in: The sound of music, hrsg. von Kammerhofer-Aggermann/Keul, S. 329–340. Böcking, Saskia/Werner Wirth/Christina Risch: „Suspension of Disbelief: Historie und Konzeptualisierung für die Kommunikationswissenschaft“, in: Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten, hrsg. von Volker Gehrau/Helena Bilandzic/Jens Woelke, München: Fischer 2005, S. 39– 58. Coelsch-Foisner, Sabine/Carl Philip Maldeghem: „Interview zur neuen Inszenierung von The Sound of Music im Landestheater Salzburg“, in: Atelier Gespräche, hrsg. von Sabine Coelsch-Foisner, Salzburg: Pustet 2011, S. 239–241. Coleridge, Samuel Taylor: Biographia literaria, London: Dent 1921 [1817].

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Dassanowsky, Robert von: „An Unclaimed Country. The Austrian Image in American Film and the Sociopolitics of The Sound of Music. On cliche, culture, and locating national identity in Wise’s epic musical“, Bright Lights Film Journal 41 (2003), http://brightlightsfilm.com/41/ soundofmusic.php#.U-uW_BCVo8g [13.8.2014]. Horton, Donald/Richard R. Wohl: „Mass Communication and Parasocial Interaction. Observations on Intimacy at a Distance“, Psychiatry 19 (1956), http://www.participations.org/volume%203/issue%201/3_01_ hortonwohl.htm [27.9.2014]. Kammerhofer-Aggermann, Ulrike/Alexander Keul (Hrsg.): „The sound of music“ – zwischen Mythos und Marketing, Salzburg: Landesinstitut für Volkskunde 2000. Kleine Zeitung online: „,Sound of Music‘: Musical-Mythos im Salzburger Landestheater“, 2011, http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/kultur/ 2859565/sound-of-music-musical-mythos-salzburger-landestheater. story [26.9.2014]. Krotz, Friedrich: „Stuart Hall: Encoding/Decoding und Identität“, in: Schlüsselwerke der Cultural Studies, hrsg. von Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Tanja Thomas, Wiesbaden: VS-Verlag 2009, S. 216–217. Kurier-Online 2014: SPÖ/ÖVP: „Gemeinsames Gedenken an 1934: Erstmals seit 50 Jahren“, http://kurier.at/politik/inland/erstmals-ge meinsames-buergerkriegsgedenken-von-spoe-und-oevp-seit-50-jahren/ 50.786.501 [9.6.2015]. Lichtblau, Albert/Alois Pluschkowitz: „Face the Memories: Filmische Stadtgeschichte(n) aus Salzburg“, in: Medienwelten im Wandel: Kommunikationswissenschaftliche Positionen, Perspektiven und Konsequenzen. Festschrift für Ingrid Paus-Hasebrink, hrsg. von Christine C. Wijnen/Sascha Trültzsch/Christina Ortner, Wiesbaden: VS-Verlag 2013, S. 199–220. Liessmann, Konrad Paul: Kitsch! Oder warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist, Wien/ München: Brandstätter 2002 Paus-Hasebrink, Ingrid: „Zum Begriff von ,Kultur‘ als Basis eines breiten Verständnisses von (AV-)Kommunikation im Rahmen von Alltagskultur, in: Einführung in die Audiovisuelle Kommunikation, hrsg. von ders./Jens Woelke/Michelle Bichler/Alois Pluschkowitz: München [u. a.]: Oldenbourg 2006, S. 13–52.

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Paus-Hasebrink, Ingrid/Sascha Trültzsch/Philip Sinner: „The Sound of Music – Ein interkulturelles Phänomen der Populärkultur“, in: Atelier Gespräche, hrsg. von Sabine Coelsch-Foisner, Salzburg: Pustet 2011, S. 228–234. Salzburger Landestheater: The Sound of Music 2013/14, 2013, http://www.salzburger-landestheater.at/de/produktionen/the-sound-ofmusic-wa.html [2.9.2014]. Salzburger Landestheater 2015: Premieren 2015/2016, http://www. salzburger-landestheater.at/de/premieren/vorschau.html [9.6.2015]. Sander, Ekkehard/Verena Mayr-Kleffel/Jürgen Barthelmes: Medienerfahrungen von Jugendlichen in Familien und Peergroups. Ergebnisse der Pilotstudie, München: DJI 1992. Schweiger, Wolfgang: Theorien der Mediennutzung: Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag 2007. The New York Times, “The Sound of Music (1965). Awards”, 2010. http://movies.nytimes.com/movie/45745/The-Sound-of-Music/awards [26. 9. 2014]. Trültzsch, Sascha: Kontextualisierte Medieninhaltsanalyse. Mit einem Beispiel zum Frauenbild in DDR-Familienserien, Wiesbaden: VS-Verlag 2009. Weiß, Ralph: „Alltagskultur“, in: Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hrsg. von Otto Hügel, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 23–32. Willis, Paul: Common Culture: Symbolic Work at Play in the Everyday Cultures of the Young, Boulder: Westview Press 1990. Winter, Rainer: „Cultural Studies und kritische Medienanalyse: Vom ,encoding/decoding‘-Modell zur Diskursanalyse“, in: Cultural Studies und Medienanalyse, hrsg. von Andreas Hepp und Rainer Winter, Wiesbaden: Springer VS ²1999, S. 50–54.

Nationaler „Kitsch“ als ästhetisches Problem im populären Musiktheater N ILS G ROSCH /C AROLIN S TAHRENBERG

„K ITSCH “

ALS

ABGRENZUNGSBEGRIFF

Ob man eine Operette als kitschig bezeichnet, bleibt jedem selber überlassen, doch Musik empfinde ich nicht als Kitsch, egal welche, es kommt immer darauf an was ich gerne höre.1

So schrieb am 10. 4. 2011 eine Operettenliebhaberin in einem Blog zur Frage „Operette – Kunst oder Kitsch?“ und macht somit klar: Nur für „Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren“ und die sich, wie es Pierre Bourdieu ausdrückt, „voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und häßlich, fein und vulgär machen“, unterschieden,2 ergibt „Kitsch“ Sinn, als Abgrenzungs- und Distanzbegriff also. Wem der als Kitsch abgewertete Gegenstand gefällt, der kann mit einer Zuschreibung desselben zur Kategorie des Kitschs nichts anfangen und braucht sich auch nicht für seine Vorliebe zu legitimieren. Wenn Popularkultur, mit Lawrence Grossberg gesprochen, jene Sphäre repräsentiert, „in der Menschen sich mit der Wirklichkeit und ihrem Platz in

1

http://www.eroica-klassikforum.de/index.php?page=Thread&threadID=40 [17. 11.2013].

2

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 25.

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ihr auseinandersetzen“3, so könnte man allerdings meinen, dass diese folglich dem „Kitsch“ geradezu entgegengesetzt sein müsste: wird „Kitsch“ doch historisch weithin als Gegenbegriff zum Wirklichen, Wahrhaftigem, Echten aufgebaut und mit Wörtern wie „falsch“ bzw. „verfälscht“, „Talmi“ oder „Bluff“ belegt.4 Gleichzeitig ist der Begriff „Kitsch“ tiefgreifend verbunden mit der Entwicklung industrieller Massenproduktion, doch hat er seine Funktion eben nicht in dieser, sondern vielmehr in der damit einhergehenden Abgrenzung bürgerlicher „Hochkultur“ von der Popularkultur, vom Umgang anderer, im soziokulturellen Raum entgegengesetzt positionierter Schichten mit ästhetischen Objekten der Popularkultur. 5 Eine genderspezifische Abgrenzung tritt hinzu, betrachtet man doch im 19. und frühen 20. Jh. oftmals das weibliche als das zur Kunst nicht fähige, deshalb für Kitsch besonders empfängliche Geschlecht.6 Im Wertesystem der bürgerlichen Hochkultur aber wird das „Wahre“, die Kunst im Gegensatz zum Kitsch, definiert als „etwas, was mit dem Herzblut des Schöpfers geschaffen wird, der in sein Werk die geistigen Ausstrahlungen seiner Zeit, zur höchsten Potenz erhoben, hineinträgt.“ 7 – so schreibt zum Beispiel der ös-

3

Lawrence Grossberg: What’s Going On? Cultural Studies und Popularkultur, Wien: Turia + Kant 2000, S. 51.

4

Vgl. z. B. Pazaurek, der als Analogie zur „Schundliteratur“ „NahrungsmittelVerfälschungen“ heranzieht (Gustav E. Pazaurek: „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ [1912], abgedruckt in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 116– 128, hier: S. 116) oder Karpfen, der die Begriffe „Talmi“ und „Fälschung“ verwendet (Fritz Karpfen: Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Hamburg: Weltbund 1925, S. 8 und 9) und u. a. den Prozess industrialisierter Herstellung von „Kitsch“ als Fälschungen (vorgeblich ‚alter‘ Kunstwerke) erläutert (Ebd., S. 25 ff.).

5

Vgl. Ute Dettmar/Thomas Küpper: „Einleitung“, in: dies. (Hrsg): Kitsch. Texte und Theorien, S. 9–16, hier: S. 10 f.

6

So erwähnt beispielsweise der Pädagoge Wilhelm Fronemann noch 1926 das weibliche Geschlecht explizit als Zielgruppe des „untergeistigen Schrifttums“ (Wilhelm Fronemann: „Der Begriff des untergeistigen Schrifttums“ [1926], abgedruckt in: Dettmar/Küpper, Kitsch. Texte und Theorien, S. 128–131, hier: S. 129 f.)

7

Fritz Karpfen, Der Kitsch, S. 32 f.

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ALS ÄSTHETISCHES

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terreichische Schriftsteller Fritz Karpfen. Beim „Wahren“ geht es also nicht um Wirklichkeit im zuerst genannten Sinne, sondern um eine ästhetisch verbrämte, gesteigerte, „vergeistigte“ Essenz dieser Wirklichkeit. Kitsch dagegen wird, Karpfen folgend, aus rein kommerziellen Motiven bzw. aus einer „Verflachung und Ödnis des Geistes“8 heraus geschaffen. Folgt man der Argumentation Karpfens, so mag „Kitsch“ zwar mit der Wirklichkeit zu tun haben, kann aber nie „wahr“ im Sinne einer künstlerischen Wahrheit sein – die allerdings kaum objektiv bestimmbar ist, ist doch das „Herzblut des Schöpfers“ im Kunstwerk selbst eine literarisch-ästhetische Konstruktion. Bezogen auf die Musik zeigt sich dieser Ansatz einer Definition von „Kunst“ in der Höherbewertung autonomer vor funktionaler Musik (also z. B. der Tanzmusik)9, aber auch in der Aufwertung der Instrumentalmusik gegenüber einer „Mischgattung“ wie der Oper im Kontext der vor allem in der deutschsprachigen Romantik ausgeformten Denkfigur der „absoluten Musik“.10 So nutzt beispielsweise Carl Dahlhaus in seiner Bewertung des 2. Satzes von Pjotr I. Tschaikowskijs 5. Sinfonie die Zuschreibung „opernhafter“ Züge, um das Werk als „Kitsch“ zu diskreditieren: Dem Kitsch verfällt Tschaikowskijs Kantilene, weil sie über die Emphase noch hinausstrebt. Die Instrumentation, der Hornklang über tiefen Streicherakkorden, beschwört romantische Ferne, die ‚geheimnisvolle, in Tönen ausgesprochene Sanskritta der Natur, die die Brust des Menschen mit unendlicher Sehnsucht erfüllt‘ [E.T.A. Hoffmann]. Die Melodie aber redet nicht Sanskrit, sondern im Operntonfall; die schluchzenden Akzente und inständigen Tonwiederholungen sind die eines Tenors. Das Theaterpathos wäre erträglich, wenn es auf dem Boden des Affekts bliebe statt in die Höhen des Ideals zu entschweben. Erst aus der Mischung mit Poesie resultiert die Kitschwirkung.11

8

Karpfen, Der Kitsch, S. 23.

9

Vgl. hierzu wiederum Karpfen, Der Kitsch, S. 61 ff.

10 Vgl. Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel: Bärenreiter 1987; Rudolf Flotzinger: „Absolute Musik“, in: Oesterreichisches Musiklexikon, http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_A/Absolute_Musik.xml [14.03.2015]. 11 Carl Dahlhaus: „Über musikalischen Kitsch“ [1967], abgedruckt in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Dettmar/Küpper, S. 253–254, hier: S. 254.

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Die Abwertung der Oper erfolgt über den Begriff des „Theaterpathos“, der wiederum „unechtes“, gespieltes Leiden im Gegensatz zum „wahren“, „echten“ impliziert, und den, hier negativ konnotierten, Tenor. Im Zusammenspiel mit weiteren Stilmitteln (wie einer Über-Steigerung und einem – als unecht empfundenen – Willen zu Romantik und Ideal) wird Tschaikowskijs Musik für Dahlhaus zum „Kitsch“. In der Rezeptionsgeschichte Tschaikowskijs spielten sowohl nationale als auch genderspezifische Aspekte für die Abgrenzung und Abwertung seiner Musik immer wieder eine gewichtige Rolle.12 Diese rücken wiederum, vor allem in ihrer Bewertung als „weibisch“, ebenfalls in die Nähe des Kitsch-Diskurses. So urteilte beispielsweise Ernst Mayer 1906 im Musikalischen Wochenblatt über eine Beethoven-Aufführung Henry Woods, dass dieser die 9. Sinfonie interpretiert habe, „wie wenn es sich um Tschaikowski handelte. Das zarte, feine wurde so weichlich-weibisch […]“.13 Innerhalb des Musiktheaters wiederum findet sich immer wieder ein unausgesprochen vorausgesetztes Wertgefälle von den Musikdramen Richard Wagners, deren Charakter als Gesamtkunstwerk den „Makel“ der „Mischgattung“ aufhebt, über die italienische und französische Oper hinunter zum musikalischen Unterhaltungstheater, der Operette, dem musikalischen Volksstück und insbesondere dem Musical, das als Produkt der amerikanischen Kulturindustrie ein bloßes Amüsement darstellt, dem, mit den Worten Adornos und Horkheimers „immer schon das geschäftlich Angedrehte anzumerken“ ist.14 Hier werden auch nationale Aspekte wirksam, die

12 Vgl. Richard Taruskin: „Pathetic symphonist: Chaikovsky, Russia, sexuality, and the study of music“, in: ders.: On Russian music, Berkeley: University of California Press 2009, S. 76–104, und den Beitrag von Nina Noeske in diesem Band. 13 Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, 37,14 (1906) (5. April), S. 279, http://archive.org/details/NeueZeitschriftFuerMusik1906Jg73 Nr4052ZuglMwJg37 [14.3.2015]. 14 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer 162006, S. 148 und 155. Das Musical war und ist im deutschsprachigen Raum besonderen Rezeptionsbedingungen unterworfen, vgl. Nils Grosch/Elmar Juchem (Hrsg.): Die Rezeption des Broadwaymusicals in Deutschland, Münster: Waxmann 2012 (= Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau 8).

N ATIONALER „K ITSCH “

ALS ÄSTHETISCHES

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unterschwellig über andere Attribute transportiert werden, wie später noch thematisiert wird. Schon weil es ein Wesen des Theaters ist, Dinge „vorzugaukeln“, die Echtheit der Gefühle also durch die Tatsache der Schauspielerei immer schon grundlegend untergraben wird, steht aber letztlich das Theater, d. h. auch das Musiktheater, per se unter „Kitschverdacht“. Es scheint, als sei ein Abgrenzungsdiskurs weiterhin notwendig: eine Art Selbstversicherung, dass man „keinen Kitsch“ mache, oder wenn doch, dann zumindest „guten“ oder „richtigen Kitsch“ – selbstreflexiv, inhaltlich begründet oder mit einer „postmodernen“ Attitüde. So grenzt sich z. B. der Regisseur Herbert Fritsch im Interview mit der Zeitschrift tip Berlin von der von ihm in der Berliner Volksoper inszenierten Operette Frau Luna gleichzeitig ab, während er sie bewirbt: Der Humor ist so grausam, dass einem fast schlecht wird. Mit der Musik klarzukommen, ist der helle Wahnsinn. Als ich das zum ersten Mal gelesen und gehört habe, habe ich das blanke Grausen bekommen, aber irgendwann auch eine komische Liebe dazu entwickelt. Ich finde es natürlich auch interessant als Gegenposition zu vielem verkniffenem Theater, das sich so hyperintellektuell und wahnsinnig sensibel gibt, und das mir ziemlich auf den Zeiger geht. Ich habe Lust, etwas zu machen, bei dem sich einem erstmal die Haare sträuben, was aber darin auch einen großen Unterhaltungswert bekommen kann. Es reizt mich, diese wahnsinnig kitschigen Liebesszenen total aufzupumpen, wie einen Riesenluftballon, so wie Jeff Koons den Popeye aufgeblasen hat. Wenn schon Kitsch, dann richtig. „Frau Luna“ zu inszenieren, bedeutet, die Geschmacklosigkeit auf den Gipfel zu treiben.15

15 „Unter dem Motto ‚Wenn schon Kitsch, dann richtig‘ sorgen derzeit die beiden Regisseure Barry [sic] Kosky und Herbert Fritsch für die Reanimierung eines unterschätzten Genres: Die Berliner Operette.“ Peter Laudenbach/Barrie Kosky/Herbert Fritsch: Comeback der Berliner Operette der Jahrhundertwende, http://www.tip-berlin.de/kultur-und-freizeit-theater-und-buehne/comeback-derberliner-operette-der-jahrhundertwende [14.3.2015].

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„K UNST “, K RIEG UND „K ITSCH “ IM M USIKTHEATER

UNTERHALTENDEN

Nationale Themen und Bilder, beispielsweise in Form von Uniformen (z. B. in der Figur des „Operettenleutnants“), der „nationalen“ Aufladung bestimmter Genres und Stile (z. B. des Czsardas als Emblem des Ungarischen) oder der militaristisch aufgereihten Girls in den 1920er Jahren 16, sind im populären Musiktheater vielfältig und omnipräsent. Theoretiker wie Gustav Pazaurek oder Fritz Karpfen würden Teile dieser Phänomene vermutlich unter dem Begriff des „Hurrah-Kitsches“ verhandeln, der auf die patriotischen Gefühle seiner Konsumenten spekuliert: „Die Regenten mit ihren Familien müssen zunächst herhalten, dann die Hoheitssymbole des Staates“17, schreibt Pazaurek, und Karpfen stellt fest: „Ja, der Kaiser, die Kaiserin, der Prinz, der Erzherzog, Hindenburg, Ludendorff und Krobatin hängen in den Stuben der Allzeit-Getreuen und Immerfestedruffs“18. Die Operette und andere Formen des populären Musiktheaters arbeiten mit solchen „patriotischen“ Emblemen ebenso, wie sie historische Ereignisse von nationaler Bedeutung thematisieren. So fehlte beispielsweise in den Berliner Jahresrevuen, die die Ereignisse des vergangenen Jahres jeweils zu Beginn der neuen Saison mit hohem Ausstattungsaufwand und satirischer Komponente Revue passieren ließen, selten eine Szene, die das Militär oder Ereignisse von nationaler Bedeutung betraf.19 Beispielsweise wurde in der Metropol-Revue „Donnerwetter, tadellos!“ (1908) im Anschluss an das „Lied des Invaliden von Gravelotte“, das den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1871 verherrlichte, ein

16 Zur Unterscheidung von Girl- und militärischer Formation vgl. Siegfried Kracauer: „Das Ornament der Masse“, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 50–63, hier: S. 52. 17 Pazaurek, „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ [1912], S. 125. 18 Karpfen, Der Kitsch, S. 43. 19 Vgl. hierzu Jens-Uwe Völmecke: Die Berliner Jahresrevuen 1903–1913 und ihre Weiterführung in den Revue-Operretten des Ersten Weltkrieges, Köln: TÜVRheinland 1997 (= Diss. Universität zu Köln), S. 101–111, Franz-Peter Kothes: Die theatralische Revue in Berlin und Wien 1900–1940, Diss. Universität Wien 1972, S. 61 ff. sowie S. 66 ff.

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Schlachtengemälde als lebendes Bild nachgestellt.20 Das titelgebende Couplet „Donnerwetter, Tadellos“ präsentierte den preußischen Gardeleutnant zwar als lächerliche Gestalt, jedoch in derart moderater Form, dass die Kritik gleichzeitig mit Schmeichelei gepaart und auf diese Weise das Militär wertgeschätzt wurde.21 Vor dem Ersten Weltkrieg war die Ablehnung solcher Phänomene gemäßigt bis nicht vorhanden, entsprachen die Szenen doch weitgehend der konservativen Grundhaltung des Publikums und wurden folglich als harmlos aufgefasst oder sogar positiv als patriotisch wahrgenommen.22 Mit dem Ausbruch des Krieges 1914 verschärfte sich jedoch die Diskussion um nationale Symbole und Kriegsdarstellungen auf der Bühne. Dies führte im Laufe des Jahres 1915 zu einer zunehmenden Ablehnung der kriegsaffirmativen Rhetorik im Theater als „patriotischem Kitsch“, der als gefährlich, gewissenlos und zersetzend gebrandmarkt wurde. Auf besondere Kritik traf dabei die Vermischung des nationalen, ernsten Themas mit Erotik oder einer als ungebührlich sentimental empfundenen Liebesdarstellung. So nahm beispielsweise die Zeitschrift Deutscher Wille des Kunstwarts über einen – echten oder möglicherweise auch fingierten – Leserbrief Stellung zum Thema Kriegsdarstellung auf der Bühne. Die von einem Offizier als „töricht“, „widerlich“ und „kläglich“ bemängelten Szenen einer Theateraufführung in Berlin werden dabei vom Redakteur der Zeitung nicht nur als „Bühnenkitsch“, sondern auch als gefährlich und gewissenlos eingestuft: Von der Gefahr, die ‚patriotischer‘ Bühnenkitsch bedeutet, zeugt die Zuschrift eines Offiziers an uns aus dem Felde. Wir sollten meinen, wenn etwas, so müßte ein solches Zeugnis die Gewissen daheim schärfen.

20 Vermutlich handelte es sich um das 1898 entstandene Gemälde „Schlacht bei Gravelotte – Tod des Majors von Hadern am 18. August 1870“ von Carl Röchling. Da bisher kein Bild dieser Szene bekannt ist, konnte die Zuschreibung bisher nicht verifiziert werden. 21 Vgl. Kothes, Die theatralische Revue, S. 63. Bemerkenswerterweise gab es gerade in dieser Revue ausnahmsweise Unstimmigkeiten: Dem Militär war der Besuch zeitweise untersagt (ebd., S. 61). 22 Vgl. ebd., S. 60 f.

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„[…] Am letzten Tag meines Aufenthaltes [in Berlin] ging ich in die Kriegsoperette „Immer feste druff“, denn ich sehe gern einmal Volksstücke, in denen keine Lebensrätsel gelöst werden. Nach einer törichten ‚Mobilmachungseinleitung‘, nach einer widerlichen Verführungsszene mit Alpenglühn im Hintergrund, nach einer Szene, bei der die deutsche Frau eine klägliche Rolle spielt, öffnet sich der Vorhang zum zweitenmal. […] Die feldgrauen Uniformen exerzieren wie Waschlappen und tänzeln mit Gewehr über im Operettenschritt auf der Bühne herum. […] Aber dann wird’s noch schöner: ein Gefecht mit Operettenmusik (die Paukenschläge bedeuten Kanonenschüsse), ein ‚Lebendes Bild‘ zum Beklatschen: je einem Franzosen und Engländer werden die Hosen geklopft. Aber all das ist noch harmlos gegen die nach der Posse einsetzende Rührszene mit Abendrotbeleuchtung, als der Gatte an der Treue seiner Gattin zweifelt. […] Dann ist ein Fliegerleutnant da – ‚Hosenrolle‘. Hierbei ist die Hauptsache, daß die Spielerin ihre Schenkel möglichst hoch zum Stechschritt in die Luft wirft... […] So wird Tag für Tag vor gefülltem Haus unser Heer lächerlich gemacht. […] Ich rufe Sie als deutscher Offizier um Hilfe an. Wir stehn nicht draußen im Kampf, um solche Kulturgüter zu verteidigen.“23

Die Verbindung von Kriegsverherrlichung bzw. Patriotismus mit dem Kitsch-Begriff wird in der Diskussion der Nachkriegszeit fortgesetzt. Dabei wird die Frage des künstlerischen Wertes eines Produktes mit seiner inhaltlichen Anti-Kriegs-Aussage zusammengedacht. So sind für Karpfen, der „Kitsch“ 1925 unter dem Schlagwort „Entartung der Kunst“ diskutierte, überhaupt nur jene Kunstwerke in der Lage, nicht in Kitsch auszuarten, die den Krieg verneinen: Die einzigen Kriegsdenkmäler von zeitlos-künstlerischer Bedeutung sind die, die wider den Weltkrieg zeugen. Und alle die Kriegsdenkmäler, die in der ganzen Welt nun geschaffen werden und eine Verbindung von Tod und Stolz […] aufweisen,

23 Deutscher Wille des Kunstwarts 29, hrsg. von Fred Avenarius, erstes Januarheft 1916, S. 27 f. Das „patriotische Volksstück“ Immer feste druff war eines der erfolgreichsten Stücke der Kriegszeit und setzte seine Aufführungsserie als eines der wenigen über das Jahr 1915 hinaus fort (vgl. Martin Baumeister: Kriegstheater: Großstadt, Front und Massenkultur 1914–1918, Essen: Klartext 2005 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte; N.F. 18), S. 130).

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sind, weil lügenhaft und unwahr, schon darum Kitsch. Müssen Kitsch sein, auch wenn nicht nur fast ausnahmslos unblutige Dilettanten sie geschaffen hätten.24

Die Verbindung von Kriegsverherrlichung und Kitsch (und gleichzeitig die Negation von antimilitaristischem Kitsch)25 findet bei Karpfen ihre Apotheose in der Aussage, die den Kampf gegen den Kitsch mit dem Kampf für eine friedliche Welt gleichsetzt: „Und als der Kriegskitsch erledigt war, ging auch der Krieg zu Ende“26. Eine ähnliche Rhetorik, bei der kriegsbefürwortende, „patriotische“ Stücke zwangsläufig mit minderer künstlerischer Qualität verbunden werden, findet sich auch über fünfzig Jahre später in einem Aufsatz von Volker Klotz mit dem Titel „Cancan contra Stechschritt. Antimilitarismus mit Rückfällen in der Operette“27. Klotz führt eine, wie er sagt „unvollständige, aber repräsentative“ Liste mit Werken an, die während des Ersten Weltkriegs auf Wiener und Pariser Bühnen herauskamen, und konstatiert: Was auffällt an der […] Liste von Namen und Titeln: außer Emmerich Kálmán sind es lauter Komponisten allenfalls der zweiten Garnitur, die auch sonst, mit anderen Sujets, nur anspruchslose Dutzendstücke geschrieben haben. Die Berliner Operette der Lincke, Kollo, Gilbert hat nie etwas anderes hervorgebracht als vorgestrige Lokalpossen mit Gesang und vierschrötige Revuen. Klanglich und satzkünstlerisch waren ihre Vertoner schon zu Friedenszeiten dudelnde Gulaschkanoniere. Und die österreichischen Musiker Eysler und Ascher gehören wie ihre Zeit- und Ortsgenossen Jarno und Reinhardt zu den neobiedermeierlichen Aufspielern eines rührseligen Heimatkults von Alt- und Neuwien.28 Dagegen haben sich die eigenwilligeren und

24 Karpfen, Der Kitsch, S. 41 f. 25 „Erst die Verneinung, die Empörung, die Antiaktion des geschändeten Menschentums schuf daraus [dem Krieg] Kunst, erfand aus Blut und Schmerz die adäquate Gestaltung“, ebd., S. 41. 26 Ebd., S. 44. 27 Volker Klotz: „Cancan contra Stechschritt. Antimilitarismus mit Rückfällen in der Operette“, in: Österreich und der Grosse Krieg, 1914–1918: die andere Seite der Geschichte, hrsg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer, Wien: Brandstätter 1989, S. 52–60. 28 In der Gegenüberstellung der Berliner und der österreichischen Komponisten werden hier nationale Klischees bedient: Über die Berliner Operette wird stell-

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kunstverständigeren Operettenkomponisten an der Weltkriegskonjunktur nicht beteiligt. Weder Franz Léhar noch Oscar Straus, weder Leo Fall noch Oskar Nedbal.29

Die Gleichsetzung von politischer Haltung des Komponisten (in diesem Fall zu Krieg und Vaterland) mit seiner künstlerischen Fähigkeit ist deutlich. Eine Kunst, die „patriotisch“ ist, kann, Klotz folgend, nur ästhetisch zweitrangig sein; man denke sich eine ähnliche Argumentation auf Richard Wagners Werk übertragen – der Widerspruch wäre wohl schnell bei der Hand.30 Anders sah dies im Falle des Broadway-Musicals während der Phase der US-Beteiligung am Zweiten Weltkrieg aus. Hintergrund und spürbarer Subtext zahlreicher jener Werke, paradigmatisch sei hier Oklahoma! von 1942 genannt, sind Patriotismus und Kriegsbegeisterung. Dass das beschriebene ästhetische Problem durchaus nicht gesehen wurde – soweit stichprobenartig anhand der New York Times-Kritiken der entsprechenden Werke von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein sowie Kurt Weill überprüft wurde –, hängt vermutlich mit dem Engagement der bürgerlichen Kunstelite für den war effort und allgemein einer weitgehenden Zustim-

vertretend das „Preußische“ allgemein zu einer Art musikalischem Aggressor stilisiert, das „Wienerische“ zu einer rückwärtsgewandten, selbstvergessenen Walzer-Kultur. 29 Klotz, „Cancan contra Stechschritt“, S. 54. 30 Tatsächlich verzeichnen Hofmeisters Monatsberichte der publizierten Musikdrucke im Jahr 1914 „patriotisch“ orientierte Werke bzw. die Verwendung einzelner Titel im Kontext von Kriegsstücken sowohl bei Nedbal als auch für Léhar und Fall. So wurde Musik von Oskar Nedbal im Stück Der Kriegsberichterstatter (1914) genutzt, Musik Leo Falls fand sich in der Revue Extrablätter (mit neuem Text versehen), von Léhar erschien 1914 in Komm, deutscher Bruder (das von Kühn ausschließlich Eysler zugeschrieben wird) das Lied: „Vater Radetzky ruft: Jung Österreich-Ungarns stolze Macht. Soldatenlied“, auf dem Theaterplakat kurz als „Kriegslied“ bezeichnet (http://www.digital. wienbibliothek.at/wbrobv/content/titleinfo/472116 [20.3.2015]). Alle Daten auf Basis von Hofmeisters Musikalisch-literarischer Monatsbericht über neue Musikalien, musikalische Schriften und Abbildungen, Jan.–Dez. 1914, Leipzig: Hofmeister, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-buch?apm=0&aid=1000001&bd=00019 14 [14.3.2015].

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mung sowohl der bürgerlichen Mitte als auch der Linksintellektuellen zum Kriegseintritt zusammen. Auch innerhalb der deutschsprachigen Musical-Rezeption der Nachkriegszeit ist das US-amerikanische Musical im Bezug auf diesen Aspekt nicht diskutiert worden, was wohl primär damit zusammenhängt, dass man, etwa im Bezug auf Oklahoma! oder The Sound of Music die politischen Subtexte nicht wahrgenommen hat und beispielsweise South Pacific, in dem Zweiter Weltkrieg und Rassismus explizit thematisiert werden, gar nicht aufgeführt wurde.31 Anders sah es etwa in der Diskussion um Bertolt Brechts als Broadwaymusical konzipierte Komödie Schweyk im 2. Weltkrieg aus, die ein großer Publikumserfolg war, aber bei der Presse durchfiel. Hier wurde offensiv diskutiert, ob es angemessen sei, Hitler und den Zweiten Weltkrieg mit den Mitteln der musikalischen Komödie darzustellen.32 Reflexhaft zeigen sich die Probleme der deutschsprachigen Wahrnehmung der Verbindung ernster politischer Stoffe insbesondere aus dem Themenkreis von Holocaust, NSStaat und Weltkrieg in der Bewertung des spanischen, von Rafael Alvero komponierten und gedichteten Musicals über das Tagebuch der Anne Frank, El diario de Ana Frank: Un Canto a la vida. Vielsagend wertete Annekatrin Lammers: „Doch es ist eben dieser Kitsch von Liebesgeschichtchen und süßlichem Latinopop [sic], der es schwer macht, das Tagebuch der Anne Frank als Musical zu ertragen ... Kitsch, der einem im Halse stecken bleibt.“33 Aufschlussreich diese Fehlzuordnung spanischer Popu-

31 Zur Wahrnehmung der Musicalgattung siehe Wolfgang Jansen: Cats & Co. Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater, Leipzig: Henschel 2008, S. 11–39; zu Rodgers/Hammerstein-Musicals im Besonderen: Elmar Juchem: „Der Inbegriff des Musicals greift nicht. Zur eingeschränkten Wahrnehmung von Rodgers & Hammerstein in Deutschland“, in: Die Rezeption des Broadwaymusicals in Deutschland, hrsg. von Grosch/Juchem, S. 61–76. 32 Vgl. Nils Grosch: „‚an einer einzelnen humoristischen Figur den phantastischen Irrtum des Krieges aufzuzeigen‘: Weill, Eisler und die musikalische Dramaturgie in ‚Schweyk‘“, in: Les Cahiers de l’ILCEA 8 [Sondernummer]: De Hašek à Brecht: Fortune de la figure de Chvéïk en Europe, hrsg. von Marie-Odile Thirouin, Grenoble: Institut des Langues et Cultures d’Europe et d’Amérique 2006, S. 153–166. 33 ARD Nachtmagazin, 29.2.2008.

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larmusik zu Latin-Pop, die Folie ist hier Betonung des Anderen, das exotische Othering von Kitsch, der für den ernsten (deutschen) Stoff per se und ohne weitere Begründungsnot als unangemessen angesehen wird.

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K RITERIUM

Kultureller Nationalismus hält einen Kriterienkatalog bereit, bei dem die anfänglich genannten Distanzierungsmechanismen mit national-kulturellen Zuschreibungen zusammenfließen. So wurde im deutschsprachigen Raum allgemein das Broadwaymusical fast nie ohne ein – explizites oder implizites – Raster antiamerikanischer Ressentiments rezensiert. Hier wird gern der Kitsch-Begriff zur pauschalen Verunglimpfung des „Anderen“ rekrutiert. So kanzelte Joachim Kaiser (einer der später größten Verehrer Leonard Bernsteins) 1961 die West Side Story in der von Jerome Robbins choreographierten und inszenierten US-amerikanischen Tourneeproduktion mit bemerkenswert uninformierten Äußerungen ab: Die Musik schmähte er als „wohlberechnete Stimmungskulisse“ oder gar als „akzentuierten Brei“ und „überflüssig“; das ganze Werk sei „Kitsch“ ohne „alles ehrliche Gefühl“.34 Ähnliche Wertungsmuster zeigen sich auch dort, wo, wie das folgende Beispiel zeigt, das Fehlen von Kitsch positiv vermerkt wird. Kurt Westphal rezensierte die umjubelte deutsche Porgy and Bess-Produktion von 1951, in der es heißt: „Aber das Wort ‚Kitsch‘ kommt hier gar nicht erst auf, weil sich diese Musik so selbstverständlich dem, was auf der Bühne vor sich geht, einfügt.“35 Bedeutsam wird die Differenzierung bei Werken, wo amerikanischen Musicals europäische Stoffe zugrunde liegen, die sich als Reibungsflächen für national-kulturelle Reflexe anboten, da sie als das vermeintlich Eigene als Kontrastmittel dem Fremden gegenübergestellt werden konnten. Dies trifft insbesondere auf zwei Rodgers/Hammerstein-Musicals zu: Carousel, basierend auf Ferenc Molnárs Schauspiel Liliom, und The Sound of Music

34 Zit. nach Jansen, Cats & Co., S. 45 f. 35 In: Die Berliner Abendzeitung, 18.9.1952, zit. nach Howard Pollack: George Gershwin: His Life and Work, Berkeley: University of California Press 2006, S. 618.

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(1959). Liliom, mit seiner ungarischen und (in der Übertragung Alfred Polgars) österreich-deutschen Inszenierungs- und Popularisierungsgeschichte, wurde in deutschsprachigen Rezensionen immer wieder als Kontrastfolie zum entscheidenden Bewertungsmaßstab von Carousel herangezogen.36 Paradigmatisch seien die Salzburger Nachrichten von 1995 zitiert: Die Umwandlung in ein Musical hat Molnars unsterblichem ›Liliom‹ nicht gut getan. […] Die gefährliche Grenze zur Sentimentalität, an der Molnar ständig entlangturnte, die er aber nie überschritt, weil er eben ein großer Dichter war, wurde von seinen amerikanischen Bearbeitern und von deren deutschem Übersetzer nicht beachtet. Knietief waten sie im rührseligen Kitsch.37

Deutlich sind hier dem – als durchaus leicht verstandenen – Stoff der Vorlage klischeehaft emphatische Kunstattribute zugeordnet: das Werk „unsterblich“, der Autor ein „großer Dichter“, die ungenannten Autoren des Musicals hingegen „amerikanische Bearbeiter“, und die benannte „Grenze zur Sentimentalität“ ist unausgesprochen zugleich die Grenze zwischen Hochkultur und Massenkultur, zwischen Europa und den USA, zwischen Kunst und Kitsch. „The difference between American and Hungarian kitsch is clear when one compares the Rodgers and Hammerstein musical Carousel with the play on which it is based, Ferenc Molnár’s Liliom (1909)“38, polemisiert noch 1997 der kanadische Literaturwissenschaftler Richard Teleky in seiner Essaysammlung Hungarian rhapsodies. Eine umgekehrte Wertung finden wir anlässlich der Salzburger Produktion von The Sound of Music von 2011. Das Stück, das nicht nur gern als „das erfolgreichste Musical aller Zeiten“ 39, sondern auch in schlichter Selbstverständlichkeit als „[b]erühmtes Kitsch-Musical“40 etikettiert wird,

36 Juchem, Der Inbegriff des Musicals. 37 Zit. nach Juchem, ebd., S. 65. 38 Richard Teleky: Hungarian rhapsodies: essays on ethnicity, identity, and culture, Seattle: University of Washington Press 1997, S. 75. 39 http://www.salzburg.com/wiki/index.php/The_Sound_of_Music_%28Musical% 29 [17.11.2013]. 40 Wolfgang Fürweger: Berühmtes Kitsch-Musical mit Nazis: „Sound of Music“ kommt heim, n-tv, 20.10.2011, http://www.n-tv.de/reise/Sound-of-Musickommt-heim-article4576251.html [17.11.2013].

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wurde hier, nach den Ausführungen von OE24, vom „amerikanischen Kitsch“ befreit. „Von wegen amerikanischer Kitsch!“, so eröffnet Wolfgang Fürweger seine Rezension, trotz der „Tränen der Rührung bei der Premiere“. Für die Entkitschung sind, folgen wir der Rezension, folgende Kunstgriffe entscheidend gewesen: Das Stück wurde „erstmals am Ort der Handlung auf die Bühne gebracht“, das angebliche Pathos der Vorlage wurde „abgeschliffen“ und „das Politische so weit in den Vordergrund gehoben, dass es nicht aufdringlich, aber doch beklemmend präsent war“. 41 Amerikanischen Kitsch abschleifen wird hier unausgesprochen in eins gesetzt mit Markierung des österreichischen Handlungsortes (dieser Schritt wurde in der Salzburger Produktion auch durch „authentifizierte“ Bühnenbilder realisiert), Pathos und Kitsch werden also letztlich als amerikanisch, die politische Dimension als dem Kitsch entgegenwirkendes Element imaginiert. Eine solche Zuschreibung läuft hier mit der allgemeinen Zuordnung des Broadwaymusicals zum Bereich des Kitsches zusammen, wie sie etwa die Überschreibung des Kapitels zum Broadway-Theater im „DuMont direkt“ zu New York deutlich wird, die da schlicht heißt: „Broadway: Der große Schmalz und Kitsch“42. Bemerkenswert daran ist, dass gerade im Kontext des deutschsprachigen Mehrspartentheaters die Zuschreibung zu „amerikanischem Kitsch“ bedeutsam wird. Daran ändert auch die angebliche Befreiung von selbigem durch eine singuläre Produktion nichts, unterstreicht doch diese Rhetorik gerade den Kitsch-Vorwurf gegenüber dem amerikanischen Werk. Hier produzieren Theater, Intendanten, Regisseure und die weiteren verantwortlichen Kreativen im Kontext hochkulturell ausgehandelter Aufführungsgenres. Häufig müssen diese sich bemühen (oder dies zumindest in Außendarstellungen so behaupten), den Musicals den Kitsch-Charakter zu nehmen, der ihnen damit prinzipiell erst einmal unterstellt wird.

41 http://www.oe24.at/kultur/Salzburg-im-Trapp-Fieber/44291189 [17.11.2013]. 42 Stefan Nink: DuMont direkt New York, Köln: DuMont Reise Verlag 2007, S. 77.

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Z UR D EKONSTRUKTION DES K LISCHEES : K ITSCH D RAMATURGIE IM F ILMMUSICAL

ALS

Der „letzte […] Ort auf Erden […] wo Musik, Romantik und Liebe noch keine leeren Worte sind“ – so bezeichnet Wilhelm Giesecke, dargestellt durch Armin Rohde, das Hotel „Zum weißen Rößl“ in Christian Theedes Neuverfilmung Im weißen Rößl: Wehe Du singst!, die im November 2013 in die deutschsprachigen Kinos kam (00:59:15).43 Die Inszenierung des Urlaubsortes als künstlicher, touristischer, utopischer Raum folgt in diesem Punkt konzeptionell der Erstproduktion des Berliner Musicals44 von 1930, in dessen Titelsong von Ralph Benatzky und Robert Gilbert es heißt, hier stehe „das Glück vor der Tür“45. Zu einer Verschränkung von Spielort und Darstellungsraum hatte die Produktion von 1930 schon dadurch beigetragen, dass Fassade und Eingangsbereich des Berliner Großen Schauspielhauses, des mit 3400 Sitzen seinerzeit größten Theaters in Deutschland, als alpines Hotel „kostümiert“ wurden, so dass der Theaterbesuch für das Publikum zu einer touristischen Reise werden sollte. Dabei ging es keineswegs um eskapistische oder gar illusionistische Vorspiegelungen, wie sie dem Operettengenre gern unterstellt werden, sondern um eine Verschränkung der Darstellungsebenen und um das ironische Spiel mit dem Eintreten in einen theatralen Raum, auf dessen Bühne es ein Publikum gibt, das einen Blick auf regionale Prominenz und Hotelpersonal wirft, als handle es sich um eine Theatervorführung, und das von diesen auch entsprechend „be-

43 Christian Theede: Im weißen Rössl – Wehe, du singst! Mit Diana Amft, Tobias Licht u. a. [Berlin]: Senator Home Entertainment, © 2014. 44 Zur Gattungszugehörigkeit der Erstproduktion, die seinerzeit als Singspiel klassifiziert wurde, vgl. Nils Grosch: „Im Weißen Rössl: Gattungszuschreibung und Subgattungen im populären Musiktheater“, in: „Im weißen Rößl“ – Kulturgeschichtliche Perspektiven, hrsg. von Carolin Stahrenberg und Nils Grosch, Münster: Waxmann, in Vorb. Thomas Siedhoff hat das Werk als „Frühform des deutschen Musicals“ charakterisiert (Handbuch des Musicals, Mainz: Schott 2007, S. 277). 45 Ralph Benatzky/Hans Müller/Erik Charell/Robert Gilbert: Im weissen Rössl: Singspiel in drei Akten. Bühnenpraktische Rekonstruktion der Originalfassung von 1930 von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn, Berlin: Bloch 2010.

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dient“ wird (nämlich in erster Linie mit Musik). Inhalt dieser „Vorführung“ war schon 1930 eine durch die Realität moderner Lebens- und Sozialroutinen der Großstadt gebrochen aufgefasste Liebesromantik, die sich in der dramaturgischen Zeichnung regional und national konnotierte, indem sie durch die „glücklichen“ Österreicher verkörpert wurde. Empfänger dieser beglückenden Attraktion waren die Berliner, und zwar sowohl diejenigen auf der Bühne als auch die im Parkett. 46 Diese zweigeteilte nationale Dramaturgie wurde in keiner der früheren Verfilmungen wirklich ins Filmgenre übersetzt (was ja auch dramaturgisch schwer möglich ist), bleiben doch Österreicher wie Berliner gleichermaßen stilisierte, singende Operettenfiguren hinter der vierten, leinernen Wand. Der dramaturgische Trick der Neuverfilmung von Theede ist, dass sie Ottilie Giesecke als eine in typisiert modern-urbanen Handlungsroutinen befangene Identifikationsfigur funktionalisiert, dabei das „Außen“ der gegenwärtigen Berliner Arbeitswelt als Ausgangspunkt wählt und dadurch eine zunächst distanzierte Perspektive auf das „Andere“ der Welt des Rößl einnimmt. Diese Welt ist nicht nur durch die exponierte Farbgebung auf Anhieb als „Kitsch“ markiert, sondern vor allem durch die entsprechende Attribuierung Ottilies. So wird Ottilie als Identifikationsfigur zur Trägerin einer suggestiven, klischeehaften Denkfigur von Kitsch, die in die Wahrnehmungsperspektive hineinwächst, wobei die Wertungsgeschichte des Rössl-Stoffes als Kitsch, insbesondere durch die Verfilmung von 1960 mit Peter Alexander als Leopold, mitgedacht ist: „‚So ein Kitsch‘, entfährt es Ottilie, als sie das ‚Weiße Rössl‘ sieht“, so paraphrasiert eine Filmvorschau. „Das mag man sich auch als Zuschauer denken, aber das ‚Weiße Rössl‘ ist nun mal der Inbegriff des Kitschs, wie man ihn nicht zuletzt aus der Verfilmung mit Peter Alexander kennt.“47 So wird im Film das Rößl

46 Vgl. hierzu Janine Dömeland: „Großes Schauspielhaus, Berlin: Musiktheaterkonzepte in der Weimarer Republik“, in: Aspekte des modernen Musiktheaters in der Weimarer Republik, hrsg. von Nils Grosch, Münster: Waxmann 2004, S. 139–158; sowie Nils Grosch/Carolin Stahrenberg: „Rössl 3.0: 1930/2014“, in: Programmheft Im weißen Rössl, Salzburger Landestheater, Salzburg 2014. 47 http://www.kino-zeit.de/filme/im-weissen-roessl-wehe-du-singst

[19.11.2013].

Tatsächlich sagt Ottilie: „Sieht zu aus. Man kommt sich vor wie im Musikantenstadl.“ (00:10:26) Die verfälschte Wiedergabe des Ausspruchs benötigt offenbar den expliziten Kitsch-Begriff als Brücke für das nachfolgende Argument.

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selbst (nicht das Hotel, sondern das Musiktheaterwerk mit all den darin aufgehobenen Attributen) zur Metapher von Kitsch. Diese Zuschreibung muss allerdings Ottilie, und mit ihr der identifikatorisch geleitete Zuschauer, im Laufe des Films aufgeben. Und mit der Attribuierung als Kitsch fallen auch der damit einhergehende Abwertungsdiskurs und die dadurch aufrecht erhaltene Distanzierung. Die explizite Anrufung des Kitsch-Begriffs und dessen ironische Verhandlung im musiktheatralen Kontext bis hin zur Dekonstruktion mag hier zwei Vergleiche aus den 1920er Jahren, der Entstehungszeit des Weißen Rößl, nahelegen. Der eine ist eine als „Kitsch-Duett“ überschriebene Szene aus der Oper Neues vom Tage von Paul Hindemith und Marcellus Schiffer von 1928. In der Oper selbst geht es um ein Ehepaar, das sich scheiden lassen will. Dazu lässt sich die Protagonistin auf ein inszeniertes Stelldichein mit einem gekauften Herrn, dem schönen Herrn Hermann ein, der mit ihr den vorgetäuschten Ehebruch probt. Die musikalische Einfassung in ein Liebesduett, das eine stilisierte und ironisierte Parodie auf Wagners Tristan und Isolde darstellt, motiviert hier die Überschrift Kitsch.48 Als weiteres Beispiel sei der Kitsch-Tango von Kurt Robitschek und Friedrich Hollaender angeführt. Auch in dieser Musiknummer für eine Berliner Kabarettshow von 1933 geht es um eine ironisch gebrochene Nutzung der Kitsch-Assoziation, die durch Referenzen auf massenkulturelle Zitate im Text sowie auf eine spezifische Tango-Konnotation in der Musik hergestellt wird.49 Stereotyp wird die Funktionalisierung damals aktueller popkultureller, insbesondere musikalischer Symbole und Metaphern stichpunktartig-zitathaft für die „Eroberung des weiblichen Geschlechts“ thematisiert, das umgekehrt erwartet: „Sing mir den ganzen süßen Kitsch der Liebe ins Ohr / Ist’s auch nur Talmi und Flor / Ach Liebling, mach mir was vor, mach mir was vor!“50 Die Zitate, Anleihen und Verweise, die ähnlich der parodistischen Opernreferenz bei Hindemith/Schiffer Kitsch selbst als

48 Ausführlich zu Hindemiths Kitsch-Duett vgl. Nils Grosch: Die Musik der Neuen Sachlichkeit, Stuttgart: Metzler 1999, S. 126 f. 49 Vgl. Carolin Stahrenberg: „‚Ach, Liebling, mach’ mir was vor...‘ – ‚Kitsch‘ im Kabarett der Zwischenkriegszeit“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Katrin Eggers und Nina Noeske, Hildesheim: Olms 2014 (= Ligaturen. Musikwissenschaftliches Jahrbuch der HMTMH 7), S. 165–177. 50 Ebd.

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Mittel gezielter und gewollter Täuschung und zur absichtsvollen Evokation emotionaler Haltungen (wie Rührung, Verliebtheit, Romantik etc.) inszenieren, verbinden diese beiden Beispiele aus unterschiedlichen Gattungen des Musiktheaters der 1920er Jahre. Hier wird die Denkfigur von Kitsch als Mittel zur Vortäuschung falscher Gefühle dramatisch funktionalisiert. Auch die Figur der Ottilie, die nicht nur das berühmte Hotel, sondern „Musik“ und „Singen“ insgesamt in der jüngsten Rössl-Verfilmung unter Kitschverdacht stellt, teilt diese Sicht. „Warum mögen Sie es nicht, wenn wir singen?“, diese Frage muss sie sich von Otto Siedler stellen lassen, und antwortet: „Weil es vortäuscht, dass die Welt gut und liebenswert ist“ (00:32:05–00:32:17). Der Verlauf des Films, und insbesondere die Inszenierung von Musik, Tanz und populärer Theatralität – mitsamt einer Fülle intertextueller Verweise auf zeitgenössische und historische popkulturelle Artefakte, von „Sissi“ über Peter Alexander als Oberkellner Leopold bis zu DJ Ötzi – erzählt aber durchaus nicht nur von der Legitimität jener „künstlichen Welt“. Er nutzt die prinzipielle musikdramaturgische Fragestellung nach der Legitimierung von Musik, Song und Tanz im theatralen Narrativ, wie sie sich bei Oper und Musical schon häufig gestellt hat, dadurch, dass die angebliche „Künstlichkeit“ und „Falschheit“ der Protagonistin selbst in den Mund gelegt wird. Und im Gegensatz zu den genannten Beispielen aus den 1920er Jahren dekonstruiert Im weißen Rössl 2013 nicht eine falschemotionalisierende Wirkung von Musik und „Kitsch“, sondern jenen bis heute währenden „Kitsch“-Diskurs, der gerade jene Werte zu dekonstruieren versucht. „Sie wollen nur nicht zugeben, dass ihr Herz überschwappt vor kitschigen, romantischen Gefühlen“, wie Siedler im Film insistiert, „aber das gehört zur Liebe dazu. Liebe ist nichts für Feiglinge“ (00:32:3400:32:57). Populäres Musiktheater, so darf man nach der Logik des Films hinzufügen, auch nicht.

L ITERATUR Baumeister, Martin: Kriegstheater: Großstadt, Front und Massenkultur 1914–1918, Essen: Klartext 2005 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte; N.F. 18).

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N ATIONALER „K ITSCH “

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Kitsch avant la lettre? Anmerkungen zum musikalischen Diskurs vor 1870 N INA N OESKE

Das Thema „musikalischer Kitsch“ ist in den letzten Jahren wieder ins Blickfeld der Forschung gerückt, nachdem es nach einem ersten Boom in den 1960er Jahren für einige Jahrzehnte ruhte.1 Gleichzeitig lässt sich ein – das starke Wort ist hier wohl am Platze – Paradigmenwechsel feststellen, der sich in den letzten 30, 40 Jahren in der Kitsch-Forschung langsam, aber sicher vollzogen hat, und zwar ein Wechsel weg von einer material- und werk-immanenten Perspektive hin zu einer kontext- und rezeptionsbezogenen Zugangsweise. Gleichzeitig hat, wie es der Musikethnologe Julio Mendívil ausdrückte, die ‚etische‘ Sichtweise einer ‚emischen‘, also einer Innenperspektive, Platz gemacht.2 Während die Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus und Tibor Kneif in den späten 1960er Jahren und sogar noch Bernd Sponheuer im Jahre 2001 davon ausgingen, dass sich Kitsch, wenn man nur genau hinhört, hinschaut und präzise genug analysiert, im musikalischen Phänomen selbst dingfest machen lasse, wofür man ganze Kriterienkataloge erstellt hat, ist heute auch in der Musikwissenschaft die Auffassung vorherrschend, dass Kitsch als solcher keineswegs unabhängig von einer bestimmten Rezeptions-Situation analysiert werden kann. Stattdessen,

1

Vgl. zuletzt: Katrin Eggers/Nina Noeske (Hrsg.): Musik und Kitsch, Hildesheim: Olms 2014 (Ligaturen. Musikwissenschaftliches Jahrbuch der HMTMH, Bd. 7).

2

Julio Mendívil: „Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Kitsch und musikethnologische Forschung“, in: ebd., S. 217–236.

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so der (nicht zuletzt von Pierre Bourdieu inspirierte) Tenor, verrate das Kitsch-Verdikt vor allem etwas über jene, die es aussprechen. Wer in den Kulturwissenschaften wissenschaftlich ernst genommen werden möchte, sollte es sich demnach tendenziell verkneifen, etwas als ‚Kitsch‘ zu klassifizieren. Denn dies impliziert immer auch ein (heutzutage grundsätzlich als fragwürdig angesehenes)3 Werturteil: Wer den Kitsch als solchen verdammt, wie etwa der bereits genannte Dahlhaus oder – auf vielschichtigere Weise – der musik-affine Philosoph Theodor W. Adorno,4 möchte sich aus dieser Perspektive vor allem selbst einen ehrbaren Platz im sozialen (und dazu gehört auch der wissenschaftliche) Raum sichern, indem er seine unbestechliche, sich durch sinnlichen Schein nicht korrumpieren lassende Urteilskraft unter Beweis stellt. Mit der Qualität der Musik selbst habe das jedoch wenig zu tun. Mittlerweile hat sich zu Recht die Auffassung durchgesetzt, dass eine wissenschaftliche Kitsch-Analyse vor allem diskursanalytisch vorgehen müsse; allerdings muss dabei die eigene Voreingenommenheit, das spontan fast immer vorhandene eigene ästhetische Werturteil, in die Analyse miteinbezogen werden. Anders gefragt: Was wurde und wird von wem, warum, unter welchen Umständen als ‚Kitsch‘ bezeichnet? Welche Ausgrenzungsmechanismen spielen dabei eine Rolle, und wie wird dabei jeweils um ‚Macht‘ verhandelt? Nur am Rande sei daran erinnert, wie Bourdieu in seinem Standardwerk Die feinen Unterschiede (1979) Immanuel Kants Analysen der Kritik der Urteilskraft, die den Reflexionsgeschmack über den Sinnengeschmack stellt, als bildungsbürgerliche Attitüde, sprich: als Ideologie entlarvt, die sich vermeintlich auf Sachurteile stützt, in Wahrheit aber nur den eigenen privilegierten Platz innerhalb der Gesellschaft theoretisch rechtfertigt. Dies geschehe, so Bourdieu, vor allem durch die zur

3

Vgl. hierzu u. a. die Beiträge von Frank Hentschel und Michael Walter in: Der Kanon der Musik. Ein Handbuch, hrsg. von Klaus Pietschmann und Melanie Wald-Fuhrmann, München: edition text + kritik 2013; Andreas Dorschel: „Was ist musikalische Wertungsforschung?“, Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2004, Mainz u. a.: Schott 2005, S. 371–385.

4

Zu letzterem vgl. Beate Kutschke: „Kitsch – ein unerlaubtes Glück? Zum Kitschbegriff bei Adorno“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Eggers/Noeske, S. 105–123.

K ITSCH

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Schau gestellte Abscheu gegenüber den sinnlichen Aspekten von Kunst und Kultur: Natürliche, vulgäre, tierisch-unmittelbare Lust wird sublimiert zum distinguierten, interesselosen und zweckfreien Vergnügen an der ästhetischen Form. Wer auf diese Weise Kunst und Musik genießt, ist aus dieser Perspektive wahrhaft ‚frei‘; Bourdieu spricht hier, scheinbar paradox, von der „asketischen Lust“.5 Dass hierbei Abgrenzungsbestrebungen massiv am Werke sind und auf diese Weise zugleich Fragen der Macht verhandelt werden, liegt auf der Hand: Im 19. Jahrhundert grenzt sich durch solche Argumentationsfiguren die kultivierte Bourgeoisie – anders gesagt: das Bildungsbürgertum – vom (was immer das ist) ‚Volk‘ ab, vom ‚Pöbel‘, doch auch, und hiermit kommt die Frage nach der Nation an zentraler Stelle zum Tragen, der Prozess deutscher Identitätsfindung wurde auf diese Weise vorangetrieben. Es war insbesondere das deutsche Bürgertum, das sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (und lange darüber hinaus) durch die Abwertung künstlerisch-musikalischer Erzeugnisse u. a. aus Frankreich, Italien oder den slawischen Ländern als kulturell besonders hochstehend auszuweisen suchte.6 Der Nationendiskurs des 19. Jahrhunderts überlagert sich damit, wie im Folgenden zu zeigen ist, mit dem (deutschen) Kitsch-Diskurs – lange bevor dieses Wort nach 1870 in Berliner Künstlerkreisen langsam in Mode kam.7 Im Folgenden sei zunächst nach den (nationalen) Vorurteilen gefragt, von denen selbst die beiden prominentesten Kitsch-Kritiker auf dem Gebiet der Musik, Adorno und Dahlhaus, möglicherweise nicht frei waren. Ein Blick ins 19. Jahrhundert soll einige der Voraussetzungen für deren Urteile klären; wie komplex Werturteile – darunter auch das Kitsch-Urteil – sind und aus welchen unterschiedlichen Quellen sie sich oftmals speisen, sei ab-

5

Vgl. hierzu Pierre Bourdieu: „Der Ekel vor dem ‚Leichten‘“, in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 265–278, hier: S. 276.

6

Vgl. hierzu insb. Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt am Main u. a.: Campus 2006.

7

Zur Etymologie von ‚Kitsch‘ vgl. Dieter Kliche: Artikel „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 3, Stuttgart u. a.: Metzler 2001, S. 272–288, hier: S. 273.

188 | N INA NOESKE

schließend am Beispiel des ungarisch-französisch-deutschen Virtuosen, Komponisten und Vermarktungskünstlers Franz Liszt beleuchtet.

ADORNO , D AHLHAUS

UND DER

N ATIONENDISKURS

Die vier Beispiele, die Theodor W. Adorno in den 1934-1940 entstandenen Musikalischen Warenanalysen als paradigmatisch für musikalischen Kitsch anführt, stammen – der Reihenfolge nach – von dem Franzosen Charles Gounod, dem Russen Sergej Rachmaninow, dem Böhmen Antonín Dvorák und dem Russen Peter Tschaikowsky. An Gounods beliebter Komposition Ave Maria, in der das C-Dur-Präludium aus Johann Sebastian Bachs Das wohltemperierte Klavier durch eine Melodiestimme für Melodieinstrument oder Gesang ergänzt wird, kritisiert Adorno, dass hier auf ungehörige Weise Sinnlichkeit – genauer, wie es an späterer Stelle heißt: eine seichte Form von Pornographie – mit Religion bemäntelt werde: „Auf peccatoribus fällt die raffende Gebärde. Das Kleid, das in den Himmel trägt, läßt den Schenkel frei.“8 An Rachmaninows Pseudo-Bravourstück Prélude, das bei leichtem Klaviersatz den Schein von Virtuosität aufrechterhält, lässt Adorno ebenfalls kein gutes Haar. Was ihm negativ auffällt, ist der (nicht näher spezifizierte) „slawische Jargon“ der Musik,9 und weiter heißt es ironisch: „Die Musik sagt überhaupt nur noch: es ist so. Daß man nicht weiß was, macht ihre russische Mystik aus.“ 10 Ganz ähnlich notiert er zu Dvoráks Ges-DurHumoreske op. 101, Nr. 7, mit ihren „breiten böhmischen Terzen“ und dem (wiederum) „slawisch[en]“ Mittelsatz, dass hier nichts als eine billige „Sentimentalität“ und „heitere Resignation“ zum Tragen kommen: „Die Leidenschaft ist kurz wie ein Tunnel: am anderen Ende sieht schon wieder das Abendrot hinein.“11 Vergleichsweise gut weg kommt das beliebte Andante aus Tschaikowskys e-Moll-Sinfonie, das Adorno an die Begleitmusik zu

8

Theodor W. Adorno: „Musikalische Warenanalysen (1934–40)“, in: ders.: Musikalische Schriften I–III (= Gesammelte Schriften 16), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 284–297, hier: S. 284.

9

Ebd., S. 285.

10 Ebd., S. 286. 11 Ebd., S. 287.

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einer in Russland spielenden Film-Schmonzette (und damit an ein Stück Kulturindustrie, bevor es diese gab) erinnert: Im Gegensatz zum Kitsch der Massenkultur des 20. Jahrhunderts verfüge Tschaikowskys Satz noch über einen „Rest unbeholfener Naivetät [sic]“.12 Naivität kann der eine Generation jüngere Dahlhaus 30 Jahre später, 1967, am gleichen Stück nicht mehr entdecken. Mit Hilfe der musikalischen Analyse sucht der Musikwissenschaftler nachzuweisen, dass der „Operntonfall“ dieser Musik Tschaikowskys, mit seinen „schluchzenden Akzenten und inständigen Tonwiederholungen“ aus dem Grunde unerträglich sei, weil das so entstehende „Theaterpathos“ nur vorgebe, für Höheres zu stehen: „Die irdisch drängende Liebe […] dekoriert sich als himmlische.“13 So fragwürdig Dahlhaus’ Vorgehen heute anmutet, ein Werturteil durch die vermeintlich ‚rein objektive‘ Analyse der musikalischen Struktur zu begründen,14 so deutlich wird eines: Beide Autoren, Adorno wie Dahlhaus, stoßen sich an der vermeintlich aufdringlichen Sentimentalität, die von der genannten, im Übrigen trotz alledem in der ‚Hochkultur‘ heimischen Musik, ihnen zufolge ausgehe. Würden Tschaikowskys und Rachmaninows Stücke nicht immer wieder im bürgerlichen Konzertsaal erklingen, hätten sich mutmaßlich weder Dahlhaus noch Adorno mit ihnen beschäftigt. So aber fühlten sie sich als Wächter der Kultur – positiv ausgedrückt: als Wissenschaftler, die zu kritischem Bewusstsein und intellektueller Autonomie beitrugen – in der Pflicht, ihr Haus gleichsam vor maskierten Eindringlingen zu schützen: „Kitsch wird als kulturgeschichtliches Problem erst aktuell und bedeutungsvoll, wenn er im Bereich der sogenannten echten Kunst auftritt.“15

12 Ebd., S. 289. 13 Carl Dahlhaus: „Über musikalischen Kitsch“, in: Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Carl Dahlhaus, Regensburg: Bosse 1967, S. 63–67, hier: S. 67. 14 Vgl. insb. Helmut Loos: „Zwischen Ave Marie und Stille Nacht. Kitsch in der Musik“, in: Andreas Würbel (Red.): Emotionalität erlaubt? Kitsch in der Kirche, Bergisch Gladbach: Thomas Morus Akademie 1998 (Bensberger Protokolle 91), S. 67–74, hier: S. 69. 15 Tibor Kneif: „Die geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen des musikalischen Kitsches“, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1 (1963), S. 22–44, hier: S. 27.

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Ähnliches gilt für das (damals wie heute, wie ein Blick etwa auf die Internet-Plattform YouTube bestätigt) überaus populäre Klavierstück Gebet einer Jungfrau der Komponistin Thekla Badarzewska-Baranowska, komponiert Mitte der 1850er Jahre, das aufgrund seiner musikalischen ‚Dürftigkeit‘ vielfach in Grund und Boden verdammt wurde. Zwar spricht Dahlhaus – möglicherweise, weil das Stück eher im trauten Heim als im Konzertsaal heimisch war und ist – hier nicht direkt von ‚Kitsch‘, sondern von musikalischer Trivialität, doch lassen sich durchaus Parallelen in der Argumentation feststellen: Auch hier täuscht das Simpel-Naive durch geschickt eingesetzte musikalische Mittel etwas vor, was es nicht ist. Dahlhaus nennt in diesem Sinne mit Blick auf die ersten Takte die „schleifenden Vorschläge, das hinschmelzende Arpeggio, die spannende Pause und das abrupte Sforzato, das in der Fermate nachzittert“. All dies gebe (wenn auch vergleichsweise ungeschickt) vor, Kunst zu sein: „Die pathetischen Akzente unterstreichen die Schäbigkeit, die sie verkleiden sollen.“16 Man könnte noch weiter gehen und etwa mit dem Musikwissenschaftler Peter Wicke darauf verweisen, dass der Titel (Gebet einer Jungfrau) durchaus doppelsinnig zu verstehen ist: im religiösen, aber auch im sexuellen Sinn; entsprechend nennt er das entsprechende Kapitel über das Stück „Liebesspiele am Klavier“17. Damit aber kommt zum Tragen, was Adorno bereits mit Blick auf das Gounod’sche Ave Maria bemerkte: Der Bürger ergötzt sich an der ‚hohen Kunst‘, während es ihm in Wahrheit um die Befriedigung seiner sinnlichen Triebe geht. Dass der musikalische Bestseller ausgerechnet von einer (jungen, damals etwa 20jährigen) Frau, dazu einer Polin, stammt, dürfte zur Boshaftigkeit, mit der das Stück von den Zeitgenossen kommentiert wurde,18 beigetragen haben. Hinsichtlich der Bewertung des Andante von Tschaikowsky sind sich Adorno und Dahlhaus einig; auch die Begründung des Urteils fällt ähnlich aus (Sinnlichkeit täuscht ein ‚Ideal‘ vor). Doch während es sich bei Dahlhaus’ Urteil vorgeblich um ein ‚rein ästhetisches‘ Unbehagen handelt, geht es Adornos Kitsch-Kritik letztlich explizit um Gesellschaftskritik. Dem-

16 Carl Dahlhaus: „Trivialmusik und ästhetisches Urteil“, in: Studien zur Trivialmusik, hrsg. von Carl Dahlhaus, S. 13–28, hier: S. 25. 17 Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 26–44. 18 Vgl. ebd.

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nach, und damit berührt sich Adornos Auffassung mit der Kitsch-Analyse Norbert Elias’ von 1934, ist die Verlogenheit des Kitsches erst möglich, ja sogar notwendig, als die kapitalistische Warenproduktion in vollem Gange ist, mit Beginn des Industriellen Zeitalters. Wer tagtäglich – mit E.T.A. Hoffmann zu sprechen – seine Rolle als „tüchtiges Kammrad in der Walkmühle des Staats“ ausfüllt,19 bedarf der geistig-seelischen Erholung in seiner Freizeit umso dringlicher. Elias verweist hier insbesondere auf die „sentimentalen Dienstmädchenlieder“: Charakteristisch für diese sei, „daß die Ausdrucksform dieses Dienstmädchengefühls […] unwahr und fast lächerlich wirkt, obgleich die Gefühlsnot dahinter […] absolut echt ist.“20 Hinter dem Problem des Kitsches verbirgt sich also laut Elias ein gesellschaftlicher Notstand. Auffallend ist, dass die meisten musikalischen Beispiele der Warenanalysen Adornos, aber auch die Beispiele für Kitsch und Trivialmusik bei Dahlhaus, aus östlichen Gefilden stammen: Gefühligkeit und Melancholie, so will es das Klischee, steckt vor allem in der slawischen oder russischen Seele, und Gefühle sind es, welche die Autonomie des westlichabendländischen Subjekts seit jeher – spätestens seit der Zeit der Aufklärung – bedrohen. Der gängige Verweis darauf, dass die genannten Musikstücke substanziell ‚leer‘ seien, dies jedoch durch Tränenseligkeit oder sentimentalen Überschwang mehr oder weniger erfolgreich zu bemänteln suchen, enthält im Kern ein kulturessentialistisches und zugleich chauvinistisches Moment, denn vermeintlich genuin ‚östliche‘ Charaktereigenschaften werden so auf die Musik übertragen. Diese – letztlich nationalistische – Argumentation verbindet sich bei Adorno mit einer kapitalismuskritischen, indem vorausgesetzt wird, dass der Mensch der westlich-industrialisierten Welt im Konzert offenbar jener verlogenen Sentimentalität bedarf. Der Konzertbesucher nimmt sie kritiklos hin, ja, bestaunt gar die böhmischslawisch-russischen Kunststücke der höheren Tochter auf dem Klavier, ohne dessen gewahr zu werden, dass er gewissermaßen betrogen wird, und wenn er es doch bemerkt, dann lässt er es sich gefallen. Allergisch reagiert

19 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: „Gedanken über den hohen Wert der Musik“, in: Fantasiestücke in Callots Manier. III: Kreisleriana, in: ders.: Poetische Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Berlin: Aufbau 1958, S. 92. 20 Norbert Elias: Kitschstil und Kitschzeitalter [1934], mit einem Nachwort von Hermann Korte, Münster: Lit 2004, S. 33.

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Adorno – und mit ihm viele andere Protagonisten der sogenannten ‚Hochkultur‘ des 19. und 20. Jahrhunderts gleichermaßen – auf die hiermit einhergehende Geringschätzung von Musik als autonome Kunst: Im Gegensatz hierzu gehe es bei den genannten Beispielen nicht um die ästhetische Bildung, sondern ausschließlich um das hübsche, beeindruckende, letztlich aber harmlose musikalische ‚Souvenir‘, das folgenlose Aufblitzen einer anderen Welt, gewissermaßen als Surrogat für das, was im Alltag zu kurz kommt. (Tatsächlich trugen im 19. Jahrhundert zahlreiche Musikstücke das Wort ‚Souvenir‘ im Titel.) Nicht nur der musikalische Gehalt der angesprochenen Werke gerät damit in Misskredit, sondern zugleich auch das, was mit ihnen in der Gesellschaft geschieht. Drittens sind jedoch auch die Verhältnisse gemeint, die dies überhaupt erst ermöglichen.

M USIK

UND

‚K ITSCH ‘

NACH

1800

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, forciert nach 1830, begann der Tourismus an Bedeutung zu gewinnen, mit ihm die Kitsch-Postkarte und das Souvenir.21 Verkauft wurden Träume, zum Verschicken, zum Aufstellen in der Vitrine, als Sofakissen oder zum Nachspielen am heimischen Klavier; der neu aufkommende Musikmarkt beteiligte sich hieran eifrig. Die Nachfrage nach ‚Gefühlen‘ in einer sich industrialisierenden Welt war offensichtlich groß, und so entstanden massenhaft – vor allem – Klavierstücke, Salonkompositionen, die sich schnell und ohne großen Aufwand herstellen und erlernen ließen und es gleichzeitig erlaubten, dem Alltag zumindest für Minuten zu entkommen: Die Stücke trugen Titel wie ‚Waldeinsamkeit‘, ‚Loreley‘, ‚Alte Sagen‘ oder eben auch ‚Souvenir‘ (aus Paris, Rom oder Moskau). Das bürgerliche Sentimentalitätsbedürfnis war groß – und welche Kunstform konnte dieses Bedürfnis besser bedienen als die Musik, die Ge-

21 Vgl. hierzu u. a. Melanie Unseld: „Loreley-Kitsch“, in: Musik und Kitsch, hrsg, von Eggers/Noeske, S. 21–43; Christian Thorau: „Werk, Wissen und touristisches Hören. Popularisierende Kanonbildung in Programmheften und Konzertführern“, in: Der Kanon der Musik. Ein Handbuch, hrsg, von Pietschmann/ Wald-Fuhrmann, S. 540–566, hier: S. 561–566.

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fühlskunst par excellence?22 Zwar ging die Musik auch im Zeitalter der Empfindsamkeit des späteren 18. Jahrhunderts voran, wenn es darum ging, Tränen, Freude, Trübsinn und Überschwang auszudrücken (etwa in den Kompositionen von Carl Philipp Emanuel Bach), doch erst nach 1800 gewann dies eine neue Dimension. Denn erst in dem Moment, in dem ein Massenmarkt bedient werden musste, geriet das Gefühl in den Verdacht, unecht und falsch – weil potentiell käuflich – zu sein; gleichzeitig wurde die Musik für den Konzertsaal, nicht zuletzt als Reaktion hierauf, immer ernster und intellektuell anspruchsvoller, wie es insbesondere mit Blick auf die Sinfonien und Streichquartette Beethovens verfolgt werden kann. Kitsch und Kunst bedingen einander. Dazu passt, dass das Modell der Quersubventionierung auch in der Musik verbreitet war: Beethovens Missa Solemnis etwa konnte vom Verlag Breitkopf & Härtel nur deswegen verlegt werden, weil durch zahllose Erzeugnisse der leichten Muse seitens des Verlags ausreichend Gewinn erzielt wurde. Nicht nur ästhetisch, sondern auch materiell ist Kitsch mithin – allgemeiner: das Triviale – eine der Möglichkeitsbedingungen von Kunst. Doch auch und insbesondere das bürgerliche Repräsentationsbedürfnis heizte den Verdacht der ‚falschen Gefühle‘ an, denn – so fragte sich zweifellos mancher Kulturschaffende – ist es wirklich die Musik selbst, um derentwillen die Tochter des Hauses das Klavier bedient? Der bereits erwähnte Komponist, Schriftsteller und Jurist E.T.A. Hoffmann hatte hierzu eine eindeutige Meinung, wie er sein Alter Ego in den Kreisleriana, zwischen 1810 und 1814 entstanden, ironisch ausrufen lässt: Der Zweck der Kunst überhaupt ist doch kein anderer, als dem Menschen eine angenehme Unterhaltung zu verschaffen und ihn so von den ernstern oder vielmehr den einzigen ihm anständigen Geschäften, nämlich solchen, die ihm Brot und Ehre im Staat erwerben, auf eine angenehme Art zu zerstreuen, so daß er nachher mit gedoppelter Aufmerksamkeit und Anstrengung zu dem eigentlichen Zweck seines Daseins

22 Entsprechend gilt: „Gerade im Fall des Musikhörens tritt der Seinsmodus des Kitschmenschen am deutlichsten hervor“. Vgl. Gillo Dorfles: „Einführung: Der Kitsch“, in: Der Kitsch, hrsg. von Gillo Dorfles, übersetzt aus dem Ital. von Birgid Mayr, Gütersloh: Prisma 1977, S. 14–36, hier: S. 29.

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zurückkehren, d. h. ein tüchtiges Kammrad in der Walkmühle des Staats sein und […] haspeln und sich trillen lassen kann.23

Keine Kunst aber sei, so Hoffmann weiter, zur „Erreichung dieses Zwecks tauglicher als die Musik.“24 Auch die anschließende Beschreibung eines Feierabendidylls im häuslichen Zirkel eines verdienten Bürgers liest sich wie eine Kitsch-Kritik, Jahrzehnte, bevor es den Begriff gab: Euch, ihr heillosen Verächter der edlen Kunst, führe ich nun in den häuslichen Zirkel, wo der Vater, müde von den ernsten Geschäften des Tages, im Schlafrock und in Pantoffeln fröhlich und guten Muts zum Murki seines ältesten Sohnes seine Pfeife raucht. Hat das ehrliche Röschen nicht bloß seinetwegen den Dessauer Marsch und „Blühe, liebes Veilchen“ einstudiert, und trägt sie es nicht so schön vor, daß der Mutter die hellen Freudentränen auf den Strumpf fallen, den sie eben stopft? Würde ihm nicht das hoffnungsvolle, aber ängstliche Gequäke des jüngsten Sprößlings beschwerlich fallen, wenn nicht der Klang der lieben Kindermusik das ganze im Ton und Takt hielte?25

Die Funktion der Musik, die Hoffmann hier beschreibt, ist eindeutig: Es geht um Ablenkung, Abwechslung, Erholung, Behaglichkeit, kurz: schöne Gefühle, die damit zum Problem für die Musik werden. Ein möglicher Ausweg für die Wächter des Guten, Wahren und Schönen bestand in dem (allerdings komplizierten) Unterfangen, zwischen ‚echten‘ und ‚unechten‘ Gefühlen zu unterscheiden: Bekanntlich waren die Deutschen wahre Meister darin, sich selbst Gefühlstiefe zu attestieren 26 – auch und insbesondere in der Musik, dem Bonmot Gustav Droysens zufolge der „deutschesten

23 Hoffmann, „Gedanken über den hohen Wert der Musik“, S. 92. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 94. 26 Vgl. hierzu u. a. Friedrich Geiger: „‚Innigkeit‘ und ‚Tiefe‘ als komplementäre Kriterien der Bewertung von Musik“, Archiv für Musikwissenschaft 60/4 (2003), S. 265–278; Bernd Sponheuer: Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel u. a.: Bärenreiter 1987 (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft XXX).

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Kunst“27 überhaupt –, während die ‚anderen‘ entweder von Natur aus oberflächlich-verstandesbetont (wie die Franzosen), übertrieben sinnlich (wie die Italiener) oder sentimental (wie die Slawen) seien.28 Die Distanzierung von der Musik als Ware ging somit einher mit einer Distanzierung von den europäischen Nachbarn, deren Gefühlsmentalität grundsätzlich als fragwürdig angesehen wurde. Neben der deutschen ‚Tiefe‘ wurde auch das deutsche ‚Gemüt‘ mit Vorliebe als Qualitätsmerkmal herausgestellt, jene Eigenschaft, die, einem Eintrag in Herders Conversations-Lexikon von 1855 zufolge, als eine Art „Grundton“ das „Fühlen, Denken und Wollen des individuellen Menschen“ durchklingen lässt, „das Herz, im engern Sinne die vorherrschende Richtung des Wollens u[nd] Strebens auf das Zukünftige, Ideelle, Jenseitige“. Bezeichnenderweise heißt es im Artikel weiter, dass das Gemüt „im engern Sinne […] kein hervorstechender Charakterzug der Franzosen“ sei, „deshalb haben sie auch kein Wort dafür.“ Gemütslosigkeit finde sich demnach „verhältnismäßig am seltensten bei den Völkern german[ischen] Stammes.“29 Auch im Damen Conversations Lexikon findet sich der lapidare Hinweis: „Der Franzose z. B. weiß nicht viel von Gemüthlichkeit“.30 Zahlreiche deutsche Musikkritiken bemängeln bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Musik von ausländischen Komponisten entsprechend immer wieder das Fehlen eben jenes ‚Gemüts‘.31

27 Gustav Droysen: Vorlesungen über die Freiheitskriege. Erster Theil, Kiel: Universitäts-Buchhandlung 1846, S. 112. 28 Zu Nationenstereotypen wurde in den letzten Jahren viel geforscht, vgl. u. a. Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart u. a.: Metzler 2001. 29 Artikel „Gemüth“, in: Herders Conversations-Lexikon, Bd. 3, Freiburg im Breisgau: Herdersche Verlagsbuchhandlung 1855, S. 46. 30 Artikel „Gemüth“ [1835], in: Damen Conversations Lexikon, hrsg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C. Herlossohn, Bd. 4, Leipzig: Volckmar 1835, S. 369–370, hier: S. 369. 31 Vgl. Nina Noeske: Liszt – Faust – Symphonie. Ästhetische Dispositive um 1857, Habilitationsschrift, Hannover 2013, insb. Kap. II: Faust, 1. Rezeption, Abschnitt „Musikalische Universalität und das Deutsche“, Druck i. Vorb.

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Z UM B EISPIEL F RANZ L ISZT An einem Virtuosen und Komponisten wie Franz Liszt, dem französisch sozialisierten Ungarn, lässt sich dies beispielhaft zeigen: Liszt, so die gängige Meinung nicht nur zu dessen Lebzeiten, sei eben letztlich doch nur ein Tastenakrobat mit schauspielerischer Begabung, ein Scharlatan, der in seinen Interpretationen wie in seinen Werken zwar glänzt, aber das Sein hinter dem Schein vermissen lasse. Es ist kein Zufall, dass sich mit Liszt bereits um 1840 kommerzielle Geschäfte machen ließen, denn der Virtuose war überaus populär und wusste die Bedürfnisse eines Massenpublikums zu bedienen:32 Glaubt man den zeitgenössischen Berichten, so waren LisztLocken, Liszt-Perücken, Liszt-Mäntel und Liszt-Parfüms regelmäßig ausverkauft. Bei den Wächtern der Kunst rief eine solche Form von Popularität Abscheu hervor: Der berühmte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick etwa, Antipode Liszts und Richard Wagners, machte seit den 1840er Jahren wiederholt darauf aufmerksam, dass in Liszts Orchesterwerken – wie bei der Musik der Neudeutschen insgesamt, aber auch bei Komponisten wie Richard Strauss – zu viel ‚Farbe‘ aufgetragen sei, d. h. dass die Instrumentation zu effektvoll sei, und das bei mangelhafter musikalischer Substanz. 33

32 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Nina Noeske: „Virtuosität als Massenphänomen: Das Jahr 1848 in der Musikpublizistik“, in: Musik und Popularität. Beiträge zu einer Kulturgeschichte von 1500 bis heute, hrsg. von Nina Noeske und Sabine Meine, Münster: Waxmann 2011, S. 123–143; dies.: „Die Geburt der Virtuosität aus dem Geiste der Hysterie? Zur ‚Lisztomanie‘ als weibliches Phänomen“, Die Tonkunst 5, 4 (2011), S. 495–506. 33 Dies ist ein Topos, der sich bis tief ins 20. Jahrhundert fortsetzt: Hermann Broch etwa spricht von Berlioz’ „sehr französische[r]“, nahezu unerträglicher „Effektund Dekorationslust“, die nicht davor zurückschrecke, „Faust nach den Klängen eines virtuos orchestrierten Rákóczymarsches aufmarschieren zu lassen.“ Gemeint ist Berlioz’ La Damnation de Faust. Vgl. Hermann Broch: „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“, in: Der Kitsch, hrsg. von Dorfles, S. 49–66, hier: S. 51. Vgl. zu diesem Themenkomplex u. a. Nina Noeske: „Body and Soul, Content and Form. On Eduard Hanslick’s Use of the Organism Metaphor“, in: Eduard Hanslick: Music, Formalism, and Expression, hrsg. von Nicole Grimes/Siobhán Donovan/Wolfgang Marx, Rochester, NY: University of Rochester Press 2013, S. 236–258.

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Die Kritik Hanslicks an ‚zu viel Farbe‘ in der Instrumentation erinnert ihrerseits nicht nur von ferne an die im 19. Jahrhundert verbreitete Schmähung der italienischen Oper, insbesondere jener des Juden Meyerbeer, die jemanden wie Wagner bekanntlich Gift und Galle sprühen ließ.34 Gleichzeitig ist in solchen Stellungnahmen wiederum ein deutsch-nationaler Impuls nicht zu übersehen, und wenn der Musikschriftsteller Franz Brendel 1859 eine ‚Neudeutsche Schule‘ ausrief, der als Kern der Ungar Liszt, der Franzose Berlioz und der Deutsche Wagner angehören sollten, so ist der Verweis auf die ‚Deutschheit‘ dieser Komponisten auch und vor allem taktisch bedingt.35 Liszt, der Europäer, machte aus seinem Kosmopolitismus keinen Hehl, ja, bediente sich seiner ungarischen Herkunft gar zu Vermarktungszwecken, indem er beispielsweise in ungarischer Tracht mit Säbel auftrat. Zahlreichen Musikgelehrten war die Nähe Liszts zu Frankreich jedoch bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Dorn im Auge. So notierte der Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser noch 1949, dass der Faust-Symphonie Liszts etwas anhafte, das – wiederum – „mehr nach Gounod als nach Goethe schmeckt: dies Gretchen ist mehr eine sentimentale ingénue mit Patschuliduft als ein reichsstädtisches Kleinbürgermädchen, der Mephisto mehr ein diable boiteux und fanfaron infernal als Goethes mythenhafter Zyniker, der mit dem Herrgott wetten darf.“36 Mit anderen Worten: Die Sinfonie sei letztlich zu ‚französisch‘, um einen Platz im deutschen musikalischen Pantheon einnehmen zu können. Doch auch Hanslick zufolge ist das ‚Gefühl‘, das in Liszts Werken zum Tragen komme, zutiefst unecht – so etwa im Gretchen-Satz der FaustSymphonie von 1857: Die „Naivetät“ des Satzes sei, wie der Autor in den 1880er Jahren notierte, die Naivität „gewisser Makart’scher Kinderbilder, auf welchen halbwüchsige Mädchen uns mit gekniffenen Augen und begehrlich unter verkürzter Oberlippe vorglänzenden Zähnen anschmach-

34 Richard Wagner: Oper und Drama (1851/52), hrsg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart: Reclam 2000. 35 Franz Brendel: „Zur Anbahnung einer Verständigung“, Neue Zeitschrift für Musik 26, 50 (1859), Nr. 24, S. 265–273. 36 Hans Joachim Moser: Goethe und die Musik, Leipzig: Peters 1949, S. 119.

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ten.“37 Der Vergleich mit Makart ist kein Zufall: Der Maler galt lange Zeit als prototypischer Schöpfer von Kitsch-Bildern. Mit dem Klischee Liszts als kitsch-affiner Komponist spielt im 20. Jahrhundert insbesondere Ken Russell in Lisztomania von 1975. Der Film, ein Phänomen des ‚Camp‘, geht bewusst spielerisch mit dem kitschigen Nimbus des Komponisten um: So ist die Wohnung Liszts und seiner Lebensgefährtin Marie d’Agoult überaus kunstvoll als geschmacklos eingerichtetes, hoffnungslos überdimensioniertes Heim von Emporkömmlingen in Szene gesetzt, die Erinnerung des Komponisten an bessere Zeiten wird durch ein ‚kitschiges‘ Fotoalbum hervorgerufen, und das traute Heim einer Berghütte – dem Film Goldrausch von und mit Charlie Chaplin nachempfunden – ist mit Plüsch-Herzen ausgestattet. Liszt alias Charlie Chaplin, im Film gespielt vom Popsänger Roger Daltrey, komponiert indessen – während dieser als Pop-Ballade erklingt – den Liebestraum Nr. 3. Ein zweites Mal ist das Stück am Ende des Films zu hören, als Liszt (an der Harfe) und sämtliche seiner Frauen inklusive seiner Tochter Cosima ein Wolkenkonzert darbieten; getragen von mächtigen phallischen Säulen, die gewissermaßen die Scheinheiligkeit offenlegen, die bereits Adorno und Dahlhaus im Anschluss an Richard Egenter38 im Kitsch am Werke sahen: Man spricht von Religion, Kunst und Ideal, oder auch: Liebe, befriedigt damit aber nur die niederen, animalischen Triebe. Mit Adorno gesprochen: „Die versüßte Religion wird zum bürgerlichen Vorwand der tolerierten Pornographie. Man sagt Bach und meint Gounod.“39 Anders gesagt: Man sagt Hochkultur und meint Liszts populären Liebestraum.40 Fast scheint es, als ob ein Engländer kommen musste, um den Knoten zu lösen und das schillernde Phänomen Liszt so zu inszenieren, wie es vielfach wahrgenommen wurde und wird: als Lieferant billigster, sentimentaler

37 Eduard Hanslick: Aus dem Tagebuche eines Musikers. Der „Modernen Oper“ VI. Theil. Kritiken und Schilderungen, Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur 31892, S. 239 f. (Welche Bilder Hanslick hier im Sinn hat, konnte nicht ermittelt werden.) 38 Richard Egenter: Kitsch und Christenleben, Abtei Ettal: Buch- und Kunstverlag 1950, S. 24. 39 Adorno: „Musikalische Warenanalysen“, S. 284. 40 Vgl. hierzu auch Nina Noeske: „Liszts Liebes(alp)traum Nr. 3“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Eggers/Noeske, S. 43–62.

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Gefühle. (Auch die anderen beiden Musiker-Filme Russells beschäftigen sich mit Außenseitern innerhalb der Hochkultur: dem homosexuellen russischen Komponisten Tschaikowsky und dem Juden Gustav Mahler.) In Deutschland, dem Land, in dem ‚E‘ und ‚U‘ traditionell säuberlich voneinander geschieden sind, gleichzeitig aber nicht klar ist, wo man nun Liszt ansiedeln soll, war das Aussprechen des einen Teils der Wahrheit – Liszt als Kitsch-affiner Komponist – offensichtlich schwierig, denn dadurch würde man einen Komponisten verdächtigen, der in den Konzertsälen offenbar nach wie vor dringend gebraucht wird. So könnte man über die ästhetische Qualität des Liebestraums wohl tatsächlich streiten, und keineswegs ist ausgemacht, dass der französische Pianist Richard Clayderman unrecht hatte, als er just dieses Stück zu einer sanft-einlullenden Musik verarbeitete, die auch als Kaufhaus-Hintergrundmusik möglicherweise ihre Berechtigung hätte. Der Vorwurf gegenüber Liszt und anderen – Trivialität, künstliches Sentiment, Bombast und Effekthascherei, Kriterien, die wenige Jahrzehnte später auch für ‚Kitsch‘ in Anschlag gebracht wurden –, diente im 19. und, wie beschrieben, noch bis tief ins 20. Jahrhundert hinein der bürgerlichen Abgrenzung gegenüber dem vermeintlich ‚Billigen‘. Kapitalismuskritik, sozialer Dünkel, Nationalismus, teilweise auch Rassismus, aber auch ein zutiefst humaner, aufklärerischer Impuls, überlagern sich hier auf komplexe Weise. So ist es möglicherweise kein Zufall, dass der Kitsch-Begriff ausgerechnet in Deutschland, jenem Land, das sich selbst als Nation erst noch finden musste, geprägt wurde.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: „Musikalische Warenanalysen (1934–40)“, in: ders.: Musikalische Schriften I–III, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 284–297. Artikel „Gemüth“ [1835], in: Damen Conversations Lexikon, hrsg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C. Herlossohn, Bd. 4, Leipzig: Volckmar 1835, S. 369–370. Artikel „Gemüth“, in: Herders Conversations-Lexikon, Bd. 3, Freiburg im Breisgau: Herdersche Verlagsbuchhandlung 1855.

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Bourdieu, Pierre: „Der Ekel vor dem ‚Leichten‘“, in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar/Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 265-278. Brendel, Franz: „Zur Anbahnung einer Verständigung“, Neue Zeitschrift für Musik 26, 50 (1859), Nr. 24, S. 265–273. Broch, Hermann: „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“, in: Der Kitsch, hrsg. von Dorfles, S. 49–66. Dahlhaus, Carl: „Trivialmusik und ästhetisches Urteil“, in: Studien zur Trivialmusik, hrsg. von Dahlhaus, S. 13–28. Dahlhaus, Carl: „Über musikalischen Kitsch“, in: Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Dahlhaus, Regensburg: Bosse 1967, S. 63–67. Dorfles, Gillo: „Einführung: Der Kitsch“, in: Der Kitsch, hrsg. von Dorfles, übersetzt aus dem Ital. von Birgid Mayr, Gütersloh: Prisma Verlag 1977, S. 14–36. Dorschel, Andreas: „Was ist musikalische Wertungsforschung?“, Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2004, Mainz u. a.: Schott 2005, S. 371–385. Droysen, Gustav: Vorlesungen über die Freiheitskriege. Erster Theil, Kiel: Universitäts-Buchhandlung 1846. Egenter, Richard: Kitsch und Christenleben, Abtei Ettal: Buch- und Kunstverlag 1950. Eggers, Katrin/Nina Noeske (Hrsg.): Musik und Kitsch, Hildesheim: Olms 2014. Elias, Norbert: Kitschstil und Kitschzeitalter [1934], mit einem Nachwort von Hermann Korte, Münster: Lit 2004. Florack, Ruth: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart u. a.: Metzler 2001. Geiger, Friedrich: „‚Innigkeit‘ und ‚Tiefe‘ als komplementäre Kriterien der Bewertung von Musik“, Archiv für Musikwissenschaft 60, 4 (2003), S. 265–278. Hanslick, Eduard: Aus dem Tagebuche eines Musikers. Der „Modernen Oper“ VI. Theil. Kritiken und Schilderungen, Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur 31892.

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Hentschel, Frank: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt am Main u. a.: Campus 2006. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: „Gedanken über den hohen Wert der Musik“, in: Fantasiestücke in Callots Manier. III: Kreisleriana, in: ders.: Poetische Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Berlin: Aufbau 1958. Kliche, Dieter: Artikel „Kitsch“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 3, Stuttgart u. a.: Metzler 2001, S. 272–288. Kneif, Tibor: „Die geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen des musikalischen Kitsches“, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1 (1963), S. 22–44. Kutschke, Beate: „Kitsch – ein unerlaubtes Glück? Zum Kitschbegriff bei Adorno“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Eggers/Noeske, S. 105–123. Loos, Helmut: „Zwischen Ave Marie und Stille Nacht. Kitsch in der Musik“, in: Andreas Würbel (Red.): Emotionalität erlaubt? Kitsch in der Kirche, Bergisch Gladbach: Thomas Morus Akademie 1998, S. 67–74. Mendívil, Julio: „Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Kitsch und musikethnologische Forschung“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Eggers/Noeske, S. 217–236. Moser, Hans Joachim: Goethe und die Musik, Leipzig: Peters 1949. Noeske, Nina: „Body and Soul, Content and Form. On Eduard Hanslick’s Use of the Organism Metaphor“, in: Eduard Hanslick: Music, Formalism, and Expression, hrsg. von Nicole Grimes/Siobhán Donovan/Wolfgang Marx, Rochester, NY: University of Rochester Press 2013, S. 236–258. Noeske, Nina: „Die Geburt der Virtuosität aus dem Geiste der Hysterie? Zur ‚Lisztomanie‘ als weibliches Phänomen“, Die Tonkunst 5, 4 (2011), S. 495–506. Noeske, Nina: „Liszts Liebes(alp)traum Nr. 3“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Eggers/Noeske, S. 43–62. Noeske, Nina: „Virtuosität als Massenphänomen: Das Jahr 1848 in der Musikpublizistik“, in: Musik und Popularität. Beiträge zu einer Kulturgeschichte von 1500 bis heute, hrsg. von Noeske/Sabine Meine, Münster: Waxmann 2011, S. 123–143. Noeske, Nina: Liszt – Faust – Symphonie. Ästhetische Dispositive um 1857, Habilitationsschrift, Hannover 2013 (Druck i. Vorb.).

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Pietschmann, Klaus/Melanie Wald-Fuhrmann (Hrsg.): Der Kanon der Musik. Ein Handbuch, München: edition text + kritik 2013. Sponheuer, Bernd: Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel u. a.: Bärenreiter 1987 Thorau, Christian: „Werk, Wissen und touristisches Hören. Popularisierende Kanonbildung in Programmheften und Konzertführern“, in: Der Kanon der Musik. Ein Handbuch, hrsg. von Pietschmann/Wald-Fuhrmann, S. 540–566. Unseld, Melanie: „Loreley-Kitsch“, in: Musik und Kitsch, hrsg. von Eggers/Noeske, S. 21–43. Wagner, Richard: Oper und Drama (1851/52), hrsg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart: Reclam 2000. Wicke, Peter: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 26–44.

Geisteswissenschaften und Kitsch Zur écriture des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion A NNA A RTWIŃSKA

Der Begriff Kitsch wird – mit oder ohne Anführungszeichen – selten als ein Bewertungskriterium in der Wissenschaft verwendet. Bei der Beurteilung wissenschaftlicher Produktion spricht man eher von „schlechten“ und „falschen“ als von kitschigen Texten. „Kitsch kennen wir aus der Kunst“, schreibt der Schweizer Philosoph und Physiker Eduard Kaeser, „es gibt auch erotischen, politischen, therapeutischen, pädagogischen, religiösen Kitsch. Aber Wissenschaftskitsch? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Wissenschaft enthüllt, entdeckt, sagt die Wahrheit – Kitsch verhüllt, verdeckt, lügt.“1 Um eine Grenze zwischen verschiedenen Arten der Wissenschaft zu ziehen, unterscheiden die Wissenschaftstheoretiker zwischen „Wissenschaft“ und „Pseudowissenschaft“ bzw. „Nicht-Wissenschaft“; die letztere wird in der Tradition von Karl Popper als „eine bestimmte trivialisierte Form der Epistemologie der Wissenschaften“2 definiert. Nicht jede

1

Eduard Kaeser: „Wissenschaftskitsch. Eine Erkundung“, Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, hrsg. von Max-Himmelheber-Stiftung, 2013/2014, Jg. 43, S. 347.

2

Michael Hagner: „Bye-bye science, welcome pseudoscience? Reflexionen über einen beschädigten Status“, in: Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 42. In der Ein-

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nicht-wissenschaftliche Aussage ist – aufgrund welcher Standards auch immer – zugleich auch pseudowissenschaftlich. Wesentlich für Pseudowissenschaft ist „die Prätention des Wissenschaftlichen: Pseudowissenschaft geriert sich typischerweise immer wieder als Wissenschaft, jeweils aufgrund der herrschenden Standards von Wissenschaftlichkeit, und zwingt genau dadurch zu einer Veränderung oder genaueren Explikation dieser Standards“3. Dabei ist es einfacher das Prädikat „Pseudowissenschaft“ abwertend als deskriptiv zu verwenden. Schon für Popper war es nicht unproblematisch, die Kriterien für die Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft und ihre Messbarkeit zu formulieren – er verwies z. B. auf Marxismus und Metaphysik als Beispiele für Nicht-Wissenschaften, ohne jedoch allgemein geltende Merkmale zu nennen.4 Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass es nicht nur die eine Pseudowissenschaft gibt: In jedem wissenschaftlichen Bereich sind pseudowissenschaftliche Diskurse möglich. Um eine wissenschaftliche Leistung als Pseudowissenschaft zu klassifizieren, muss man sich somit in der jeweiligen Disziplin, der diese Leistung entstammt, auskennen. Eine Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft erfolgt jeweils anhand der methodologischen und inhaltlichen Kriterien; und es ist daher unmöglich, ein Urteil über Pseudowissenschaft lediglich aufgrund der Form oder des Stils einer wissenschaftlichen Arbeit zu fällen. Etwas anders ist das Verhältnis von Inhalt und Form beim Kitsch. Wenn man vom Kitsch in der Wissenschaft spricht, dann lenkt man das Augenmerk auf „ein bestimmtes Genre (vielleicht auch Gestus) wissen-

leitung zu diesem Band werden Differenzen zwischen „Parawissenschaft“, „Antiwissenschaft“ und „Pseudowissenschaft“ erläutert. Für meine Überlegungen benutze ich den Begriff der Pseudowissenschaft als Opposition zu Wissenschaft, ohne auf die einzelnen Arten der Nicht-Wissenschaft genauer einzugehen. 3

Paul Ziche: Rezension zu: Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, in: H-Soz-u-Kult, 11.04.2012,

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-027

[31.10.2014] 4

Karl Popper: Logik der Forschung, hrsg. von Herbert Keuth, Tübingen: Mohr Siebeck 112005. Vgl. Kapitel IV: Falsifizierbarkeit, S. 54–69.

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schaftlichen Schreibens“5. Der Wissenschaftskitsch ist keine Erkenntnissimulation; er ist zwar wie Pseudowissenschaft an einer epistemologisch vereinfachten Darstellung interessiert, realisiert sich aber primär auf der Ebene der Rhetorik und literarischer Kommunikation. Pseudowissenschaft tritt mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auf und widerspricht zugleich anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wissenschaftskitsch teilt diese Ansicht und geht über sie hinaus: Der Inhalt muss im Falle von Kitsch auf eine entsprechende Weise dargestellt werden. Das Ziel meines Aufsatzes ist, eine bestimmte Variante des Wissenschaftskitsches zu untersuchen: den sowjetischen Literaturwissenschaftskitsch. Nach dem tschechischen Schriftsteller Milan Kundera kann er „Kitsch des Großen Marsches“ genannt werden, obwohl diese Bezeichnung vor allem die totalitäre Dimension des Begriffes fokussiert. Das Phänomen des sowjetischen Literaturwissenschaftskitsches soll hier exemplarisch anhand der im Jahr 1950 veröffentlichten Goethe-Monographie von Marietta Schaginjan6, einer sowjetischen Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, dargestellt und diskutiert werden. Indem ich auf die Verknüpfung von Kitsch und Literaturwissenschaft eingehe, möchte ich zugleich die Verknüpfung von Kitsch und Nationalem thematisieren, denn der sowjetische literaturwissenschaftliche Kitsch – so meine These – soll im Kontext der sowjetischen Kulturparadigmen, die ihn bestimmen und generieren, verortet werden. Diese Kulturparadigmen basieren einerseits auf einer für die sozialistischen Systeme charakteristischen Kulturauffassung, die das Internationale und das Kollektive an Stelle des Nationalen und des Individuellen hervorhebt, anderseits beziehen sie sich auch auf die russische Tradition, die sie zweckgebunden umdeuten und re-interpretieren. So wie es nationale Versionen des Sozialistischen Realismus gibt7, so gibt es auch nationale

5

Kaeser: ebd.

6

Mariėtta Schaginjan: Sobranie sočinenij, Band 8: Gete, Moskva: Chudožestvan-

7

Katarzyna Śliwińska weist auf die Gefahr hin, in der komparatistischen Betrach-

naja literatura 1989. tung des Sozialistischen Realismus „eine ‚Analogie‘ nationalistischer Prozesse“ und primär die internationale Dimension des Konzeptes zu unterstreichen. Die Autorin zeigt, dass die Auffassung vom Sozialistischen Realismus als einer allgemeinen Methode und allgemeine Gesetzmäßigkeit in der Literaturwissenschaft des Ostblocks eine differenzierte Analyse seiner einzelnen Phänomene

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Varianten des „totalitären Kitsches“, auch wenn sie über gemeinsame Merkmale und einen beständigen Kern verfügen. Meine Überlegungen diesbezüglich gliedern sich in drei Teile: Zuerst frage ich nach den Merkmalen des Kitsches in der Literaturwissenschaft, dann gehe ich auf die Verbindung zwischen dem Kitsch und dem Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion ein, und im dritten Teil wird das Fallbeispiel näher untersucht.

1. L ITERATURWISSENSCHAFTLICHER K ITSCH Der polnische Literaturwissenschaftler Michał Głowiński hat in seiner Studie Humanistyka najmniejszego wysiłku (Geisteswissenschaft der kleinsten Mühe)8 aus dem Jahr 1984 einen Versuch unternommen, die Merkmale des Kitsches in der Literaturwissenschaft herauszuarbeiten. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die Arbeiten des polnischen Literaturwissenschaftlers und Parteifunktionärs Jan Zygmunt Jakubowski aus den 1950er und 1960er Jahren, die sich – von der Doktrin des Sozialistischen Realismus ausgehend – als Manifest einer neuen, nationalen und volksverbundenen Literaturwissenschaft verstanden. Am Beispiel dieses Diskurses hat Głowiński allgemeine Kriterien des Kitsches in der Literaturwissenschaft vorgeschlagen. Bevor ich die Möglichkeiten der Übertragung seiner Ideen in den sowjetischen Kontext diskutiere, werden sie kurz zusammengefasst. Der Vorteil dieser Theorie ist, dass sie sich nicht mit dem Wissenschafts-

nahezu unmöglich macht. Vgl. Katarzyna Śliwińska: Sozialistischer Realismus in der DDR und in Polen. Doktrin und normative Ästhetik im Vergleich, Dresden: Thelem 2005, S.10–11. In einem Aufsatz über Kommunismus und Kitsch weist Inessa Levkova-Lamm darauf hin, dass in der Kunst des Sozialistischen Realismus, die sie als Kitsch definiert, stark die Eigenschaften „des russischen Nationalcharakters“ und der russischen Tradition vorkommen. Vgl. Inessa Levkova-Lamm: „Kommunismus und Kitsch“, in: Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930 bis 50er Jahre, hrsg. von Gabriele Gorzka, Bremen: Edition Temmen 1994, S.197. 8

Michał Głowiński: „Humanistyka najmniejszego wysiłku“, in: idem, Pismak 1863 i inne szkice o różnych brzydkich rzeczach, Warszawa: Open 1995, S. 112– 127. Wenn nicht anders angegeben, stammt die Übersetzung ins Deutsche von Anna Artwińska.

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kitsch an sich beschäftigt, sondern explizit auf den Kitsch in der Literaturwissenschaft, nämlich einer bestimmten, durch die sozialistische Kulturpraxis gekennzeichneten Literaturwissenschaft, eingeht. Nichtsdestotrotz betrachte ich diese Theorie als eine Möglichkeit der Konzeptualisierung, die sich mit anderen Theorien und Ideen zum Wissenschaftskitsch zusammen lesen lässt. Hauptkriterium des literaturwissenschaftlichen Kitsches ist für Michał Głowiński das Verhältnis zum Publikum. Wie in der Kunst setzt auch in der Literaturwissenschaft der Kitsch einen bestimmten Leser voraus und geht auf seinen projizierten „Erwartungshorizont“ (Hans Robert Jauss) ein. Der intendierte Kitsch-Leser soll durch die Lektüre eines wissenschaftlichen Textes nicht unbedingt neue Ideen oder Anregungen bekommen; der sachliche Gehalt ist weniger wichtig als die Vermittlung einer bestimmten Stimmung. „Im Reich des totalitären Kitsches“, lesen wir bei Milan Kundera, „sind die Antworten von vornherein gegeben und schließen jede Frage aus. Daraus geht hervor, dass der eigentliche Gegner des totalitären Kitsches ein Mensch ist, der Fragen stellt.“9 Der Produzent des wissenschaftlichen Kitsches strebt nach Głowiński den Habitus eines verständnisvollen Gelehrten an, er ist stolz darauf, die Leserschaft nicht zu überfordern, und zugleich überzeugt, dass man „[…] genauso in dieser Weise die Wissenschaft zu betreiben hat“10, denn der Kitsch ist nicht einfach ein Resultat mangelnder Fachkenntnisse oder Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens, er ist ein Effekt einer Attitude. Da der Verfasser eines Wissenschaftskitsches – wie Głowiński am Beispiel von Jakubowskis Texten ironisch feststellt – seine Leserschaft nicht „[…] unnötig anstrengen möchte“ 11, lehnt er viele Themen und Fragestellungen von vornherein ab, die dann als zu akademisch und darüber hinaus zu fremd, verdächtig und snobistisch eingestuft werden. Dieser an dem imaginierten Massengeschmack angelehnte Kitsch ist ideologisch, eklektisch und epigonal, er möchte nicht zu kompliziert sein und allgemein verständlich bleiben. Ob er damit in der Tat den traditionellen Massengeschmack befriedigt oder als Bekundung des tat-

9

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen von Susanna Roth, Frankfurt am Main: Fischer 2003, S. 243.

10 Głowiński, Humanistyka, S. 113. „U podstaw naukowego kiczu leży przeświadczenie, że tak właśnie naukę należy uprawiać“. 11 Ebd., S. 117 „[…] by czytelnik zbytnio się nie zmęczył“.

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sächlichen Geschmacks der Masse gesehen werden kann, ist eine andere Frage. Sein „pädagogischer Auftrag“, „schulmeisterlicher Ton“ sowie „Mangel an Unterhaltungswert“ können, wie der Philosoph und Kunstkritiker Boris Groys herausgearbeitet hat, genauso gut abschreckend wirken.12 Deswegen soll eher von einem projizierten Erwartungshorizont und einem intendierten Leser gesprochen werden. Der wissenschaftliche Kitsch verfügt über ein bestimmtes Autorenkonzept. Der Autor eines solchen Textes bleibt mit seinen Lesern in einem engen und freundschaftlichen Kontakt und vermittelt den Eindruck, so Głowiński, einer „von ihnen“ zu sein. Die Illusion einer persönlichen Relation ist möglich, weil so ein Autor viele Übereinstimmungen zwischen seiner eigenen Person und dem Leser deklariert und scheinbar Hierarchien abbaut. Sein Integrations- und Inklusionsangebot ist strategisch ausgerichtet: Die Leser sollen spüren, dass die sprechende Instanz ihre Ansichten unterstützt und teilt. So eine Instanz tritt oft in der Rolle eines eloquenten Sprechers und Literaturliebhabers, der eine intime Beziehung zur Literatur pflegt, auf. „Er wendet sich so an seine Adressaten“, schreibt Głowiński, „als hätte er die Bibliothek gerade erst verlassen und den Bücherstaub gerade erst von seinen Händen geschüttelt.“13 Der wissenschaftliche Kitsch-Diskurs gleicht demnach einem Gespräch: Der Verfasser einer so verstandenen Literaturwissenschaft möchte sich mit seinem Leser unterhalten oder ihm begegnen; eine freundschaftliche Konversation oder eine freundschaftliche Begegnung ist ihm viel wichtiger als eine kühle akademische Wissensvermittlung. Eine Rolle spielen dabei sentimentale Elemente und Urteile – über die Liebe zu Büchern und ihren Autoren oder über die Kraft der schönen, nationalen,

12 Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, München: Carl Hanser Verlag, S. 12–13. Im Weiteren schreibt Groys: „Den Sozialistischen Realismus haben nicht die Massen geschaffen, sondern, in ihrem Namen, hochgebildete und versierte Eliten, die durch die Erfahrung der Avantgarde gegangen und über die immanente Entwicklungslogik dieser Methode zum Sozialistischen Realismus gekommen waren, der mit dem tatsächlichen Geschmack und den tatsächlichen Bedürfnissen der Massen nichts zu tun hatte.“ Ebd., S. 13. 13 „Zwraca się on do odbiorców tak, jakby dopiero co wyszedł z biblioteki i ledwo co zdążył otrzepać ręce z bibliotecznego kurzu“. Głowiński: Humanistyka, S. 118.

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großen Literatur an sich.14 In den Analysen und Interpretationen wird aus Prinzip auf Methoden und Theorien verzichtet (auch die Anwendung der marxistischen Dialektik ist hier eher vage 15), stattdessen werden die Thesen häufig durch einen Überschuss an Fakten und Details belegt und durch Anekdoten ergänzt. Dieser Duktus scheint ein Spezifikum der kitschigen Literaturwissenschaft zu sein. In anderen Arten des Wissenschaftskitsches gibt es nämlich eine verstärkte Wendung zum Theoretischen. Ich zitiere Eduard Kaeser: Hyperraum, variable Brechung, Turbulenz, Beschleunigung von Ereignissen, exponentielle Instabilität… Man bedient sich einer Terminologie aus den exakten Wissenschaften, trennt sie in einer Art semantischer Zentrifuge von ihrer spezifischen Bedeutung und bläht sie zu neuem terminologischen Schwulst auf. Theoriekitsch weckt das Gefühl, mit den Theorien normaler Wissenschaft ‚tieferen‘ Gesetzmäßigkeiten auf der Spur zu sein.16

Der literaturwissenschaftliche Kitsch lässt sich nicht ausschließlich über die Paradigmen der literarischen Kommunikation definieren. Ein weiteres Charakteristikum ist in Stil, Semantik und Rhetorik zu finden. Es fällt auf, dass viele der Texte, die als Wissenschaftskitsch einzustufen wären, über einige loci communes verfügen. Egal ob es sich um eine literaturwissenschaftliche Arbeit über Puškin oder Goethe handelt oder ob von einem Gegenwartsautor die Rede ist: Bestimmte Bilder, Adjektive und rhetorische Figuren kommen fast immer vor, wie Milan Kundera in seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins feststellte:

14 Ebd., S. 119–120. 15 Głowiński betont, dass Kitsch sich nicht in Bezug auf die „stalinistische“, d. h. besonders ideologisierte und parteitreue Variante der Literaturwissenschaft anwenden lässt. Das Ziel der stalinistischen Literaturwissenschaft war primär die Indoktrination, sie war weniger um eine Kommunikation mit dem intendierten Leser bemüht. Ebd., S.114. 16 Kaeser, Wissenschaftskitsch, S. 348. Hier sollte man anmerken, dass es bestimmt auch einen literaturwissenschaftlichen Kitsch gibt, der hypertheoretisch ist – seine Erkundung würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.

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Die Identität des Kitsches wird nicht durch eine politische Strategie bestimmt, sondern durch Bilder, Metaphern und Wortwahl. Also ist es möglich, die Gewohnheit zu durchbrechen und gegen die Interessen eines kommunistischen Landes zu marschieren. Es ist aber nicht möglich, Wörter durch andere Wörter zu ersetzten. […] wer sein Gesicht wahren will, muss der Reinheit des eigenen Kitsches treu bleiben.17

Der Wissenschaftskitsch manifestiert sich durch die Sprache bzw. durch einen bestimmten Sprachgebrauch. Michał Głowiński weist darauf hin, dass der Wortschatz im literaturwissenschaftlichen Kitsch stark eingegrenzt ist, wodurch sich die einzelnen Darstellungen stark ähneln. In diesem Sinne ist z. B. jeder präsentierte Schriftsteller oder Dichter „fortschrittlich, hat Mitleid mit dem Volk und hegt glühende patriotische Gefühle, er schöpft aus der nationalen Tradition, beschreibt hübsch die einheimischen Landschaften und schreibt dazu auch noch schön – denn er ist ein großer Künstler“ 18. Der wissenschaftliche Kitsch verzichtet auf eine differenzierte Analyse, formuliert keine bahnbrechenden Standpunkte und meidet umstrittene Positionen. Er möchte die Problematik nicht vertiefen, zugleich aber zeigen, dass er sich mit ihr auskennt. Dieses Ziel wird anhand von bewertenden Adjektiven, die häufig nach dem rhetorischen Prinzip der Häufung (congeries) organisiert werden, erreicht.19 Das Problem, dem sich ein Text widmet, ist dementsprechend „nicht einfach“, „kompliziert“, „tief“, „komplex“ und natürlich auch noch „volksgebunden“, denn im literaturwissenschaftlichen Kitsch geht es um die Hervorhebung der Verbindung zwischen Wissenschaft und Massenpublikum. Die Kumulation dieser Bewertungen wird ernsthaft formuliert; die Wissenschaft dieser Art operiert nicht mit Ironie und kennt keine Autodistanzierung, höchstens ein gutmütiges Lachen.20 Es

17 Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit, S. 250. 18 Głowiński: Humanistyka, S. 121. „A więc pisarz jest postępowy, współczuje ludowi, żywi gorące uczucia patriotyczne, czerpie z tradycji literatury narodowej, ładnie opisuje rodzime krajobrazy, a przy tym – pięknie pisze, jest przecież wielkim artystą“. 19 Diese Eigenschaft ist auch in vielen literarischen Gattungen des Sozialistischen Realismus zu finden, u. a. im Produktionsroman. Vgl. Wojciech Tomasik: Polska powieść tendencyjna 1949–1955. Problemy perswazji literackiej, Wrocław: Ossolineum 1988, S. 36. 20 Ebd.

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ist kein Zufall, dass die postmodernen Spielarten, die sonst gerne Artefakte des Sozialistischen Realismus aufgreifen, zitieren und re-definieren, um darüber hinaus über deren Strukturen zu reflektieren, sich selten dem wissenschaftlichen Kitschdiskurs zuwenden.

2. S OZIALISTISCHER R EALISMUS

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Der Vergleich von „Kitsch“ und „Sozialistischem Realismus“ ist weniger selbstverständlich, als er auf den ersten Blick vorkommen mag. Wie die russisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Svetlana Bojm bemerkte, sind der „Kitsch“ und der „Sozialistische Realismus“ keine Synonyme, sondern Termini zweier verschiedener Kulturen: der sowjetischen und der westlichen.21 Es darf an dieser Stelle kurz daran erinnert werden, dass der Kitschbegriff in der sowjetischen Kultur zuerst in den 1960er Jahren im Kontext einer negativen Bewertung der „faulen“ westlichen Massenkultur in Umlauf gebracht wurde. Bis dahin benutzte man das russische Wort „pošlost'“, jedoch nicht zur Bewertung bestimmter ästhetischer Phänomene, sondern zur Beurteilung ethischer Werte und Weltanschauungen: Poshlost' is the Russian version of banality, with a characteristic national flavoring of metaphysics and high morality, and a peculiar conjunction of the sexual and the spiritual. This one word encompasses triviality, vulgarity, sexual promiscuity, and a lack of spirituality. The war against poshlost' was a cultural obsession of the Russian and Soviet intelligentsia from the 1860s to 1960s.22

Als Abgrenzungsbegriff zur westlichen Kultur ist „Kitsch“ direkt in die politische und kunstpolitische Agitation geraten. Der Sozialistische Realismus hingegen wurde in der Sowjetunion im April 1932 als ein ästhetisches Programm und eine Richtlinie in Zusammenhang mit der Verordnung Über die Umbildung der Literatur- und Kunstorganisationen beschlossen. Er ver-

21 Svetlana Bojm: „Za chorošij vkus nado borot’sja. Socrealizm i kitč“. Socrealističeskij kanon, hrsg. von Hans Günther und Evgenij Dobrenko, SanktPetersburg: Akademičeskij Proekt 2000, S. 87. 22 Svetlana Boym: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia, London: Cambridge 1994, S. 41.

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pflichtete die Schriftsteller, in ihren Werken wahrheitsgetreu die Wirklichkeit und ihre revolutionäre Entwicklung darzustellen, um damit zur ideologischen Umformung der Arbeiterklasse beizutragen. Außer der Widerspiegelung der Wirklichkeit sollte die Literatur des Sozialistischen Realismus durch Parteilichkeit und Volkstümlichkeit gekennzeichnet sein und einen Beitrag zur ideologischen Umerziehung leisten.23 Das Programm des Sozialistischen Realismus betraf zuerst die Literatur, später die bildende Kunst und die Musik, und wirkte sich auch auf eine bestimmte Weise auf die Literaturwissenschaft und Literaturkritik aus. Die sowjetische ästhetische Theorie „[…] war integraler Bestandteil des Sozialistischen Realismus, nicht dessen Beschreibung auf der Ebene kritischer Analyse“24. Seine Durchführung war in der Sowjetzeit mit dem Kampf um den sogenannten „guten Geschmack“ verbunden, der sich gegen Avantgarde, Formalismus und Kosmopolitismus richtete und das Ziel hatte, dem sowjetischen Menschen eine neue, wahre, volkstümliche und zugleich revolutionäre Ästhetik zu präsentieren. Man kann die These riskieren, dass dieser Kampf – unter Berufung auf Volkstümlichkeit („narodnost᾿“) – dazu beigetragen hat, dass viele Texte und Artefakte des Sozialistischen Realismus in der späteren/heutigen Rezeption als „Kitsch“ wahrgenommen werden. Dort, wo die Theoretiker des Programms Verständlichkeit, Klarheit und Einfachheit forderten, sehen wir Merkmale eines Phänomens, das man mit dem deutschen Begriff „Kitsch“ bezeichnen kann. Der Sozialistische Realismus und Kitsch sind zwar keine Synonyme, dennoch stehen sie, mindestens aus der Perspektive ex post, in einem Bedingungszusammenhang. Dieser Zusammenhang ist gegeben, darf aber nicht verabsolutiert und verallgemeinert werden. Nicht jedes der Doktrin des Sozialistischen Realismus folgende Kunstwerk ist per se kitschig. Der Sozialistische Realismus als literaturwissenschaftliche Methode generiert nicht mehr und nicht weniger Kitsch als jede andere Methode; die durch den Sozialistischen Realismus geprägte Wissenschaftspraxis ist demnach nicht besonders kitschanfällig. Um bei der Literaturwissenschaft zu bleiben: Viele literaturwissenschaftliche Aufsätze und Texte, die „den autoritativen politisch-ideologischen Dis-

23 Vgl. Hans Günther: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart: Metzler 1984, S. 171. 24 Groys, Gesamtkunstwerk Stalin, S. 10.

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kurs des ‚Leninismus‘ mit herrschaftslegitimierender Funktion“ 25 folgen, sind zwar ideologisch und parteitreu, dennoch nicht zwangsläufig kitschig. Gerade der wissenschaftliche Kitsch ist an sich viel komplexer und lässt sich nicht auf die politische Dimension eines Werkes reduzieren, was im Folgenden genauer untersucht wird. Wenn ich dennoch hier die sowjetische Literaturwissenschaft als ein Beispiel heranziehe, dann nicht um den Kitsch und den Sozialistischen Realismus gleichzusetzen, sondern weil man an diesem Beispiel gut das Phänomen des Wissenschaftskitsches, der stark durch nationale und kulturelle Kontexte geprägt ist, beobachten kann. In diesem Sinne bietet die im Zeichen des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion entstandene Literaturwissenschaft eine Möglichkeit, den geopolitischen Ausprägungen des Kitschbegriffes auf den Grund zu gehen. Durch die kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Sowjetunion erfährt der Kitsch nicht nur eine totalitäre, sondern auch eine nationale Färbung. Diese Art von Kitsch ist höchstwahrscheinlich – denn es gibt keine vergleichenden Studien, die dieses Phänomen analysieren – anders als wissenschaftlicher Kitsch, der in einem nicht-totalitären System produziert wurde, und wenn überhaupt, dann weist er Übereinstimmungen mit dem Kitsch anderer als totalitär bezeichneter Kulturen auf.

3. G OETHE VON M ARIETTA S CHAGINJAN – EINE F ALLSTUDIE In ihrem Aufsatz über Kitsch und Sozialistischen Realismus, in dem es u. a. um die Reaktionen der sowjetischen Kritik auf das bekannte Bild Pereezd v novuju kvartiru (Einzug in eine neue Wohnung; 1952) von Aleksander Laktionov geht, ist Svetlana Bojm zu folgendem Schluss gekommen: Although both the painting and the Socialist Realist criticism of it appear to be perfect examples of what Milan Kundera calls „totalitarian kitsch“, the picture fell victim in the war against two specific varieties of kitsch, thus demonstrating how the critique of kitsch and banality can itself become kitschified. 26

25 Ebd. 26 Boym: Common Places, S. 8.

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Dass Arbeiten, die ein Kitschobjekt untersuchen, selbst zum Kitsch werden – wenn sich also „das Sprechen über Kitsch seinem Gegenstand annähert“ 27 – ist ein bekanntes Phänomen. Der Wissenschaftskitsch kann auch in eine andere Richtung gehen, indem er das zum Kitsch macht, was kein Kitsch ist: z. B. die Biographie eines als fortschrittlich angesehenen Künstlers oder einen Aspekt der literarischen Tradition. Im Kontext der sowjetischen Literaturwissenschaft scheint es relevant, dass die Verkitschung – des Diskurses und des Objektes – hier nicht selten als Produkt einer Anti-KitschKampagne entstanden ist. Viele Literaturwissenschaftler aus der Sowjetzeit waren bemüht, in ihrer Arbeit den Kampf gegen Avantgarde, Formalismus und Kosmopolitismus und zugleich um den so genannten „guten Geschmack“ zu führen. Je mehr sie jedoch gegen den angeblich schlechten Geschmack ihrer sowjetischen Mitbürger ankämpften, desto größer war die Gefahr einer Verkitschung der eigenen Disziplin. Die Texte der offiziellen Kultur – und dazu zählten auch die literaturwissenschaftlichen Arbeiten – sollten in der Sowjetunion einerseits einfach, verständlich und realistisch, zum anderen normal, natürlich, gesund, dem menschlichen Wesen gemäß und klassisch-harmonisch sein.28 Die Umsetzung dieser Postulate plus ein bestimmtes Verhältnis zum Publikum und nicht die Ideologie sind die Hauptkriterien, die im Fall dieser Literaturwissenschaft die Zuordnung zum Kitsch erlauben. Als ich während der Vorbereitung dieses Textes die aus Russland stammenden Kollegen nach Marietta Schaginjan fragte, gaben mir die meisten eine eindeutige Antwort: „In der Sowjetunion galt sie als liberal.“ Diese lapidare Charakteristik halte ich bezüglich meiner Fragestellung für prekär. Nach der bisherigen Recherche lässt sich die These aufstellen, dass Kitsch in den literaturwissenschaftlichen Studien aus der Sowjetzeit, die treu den ideologischen Anweisungen des Marxismus folgten, ein Randphänomen ist. Sie schrecken wegen einer absoluten Ideologisierung – als Beispiel kann hier Vladimir Ermilov und seine Monographien über Gogol, Čechov und Dostojevskij dienen – und der aggressiven Rhetorik ab, nicht des Kitsches wegen. In diesem Sinne ist der Kitsch als eine andere

27 Martin Doehlemann: „Gibt es Kitsch auch in der Wissenschaft?“, in: Auf der Klaviatur der sozialen Wirklichkeit: Studien – Erfahrungen –Kontroverse. Festschrift für Benno Biermann, hrsg. von Stefanie Ernst, Münster: Waxmann 2004, S. 199. 28 Günther, Die Verstaatlichung, S. 47.

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Stufe des Totalitären als das rein ideologische Schreiben wahrzunehmen. Der sowjetische Wissenschaftskitsch, den ich am Beispiel von Schaginjan darstellen möchte, war zwar an der Durchsetzung der marxistischen Ideologie und an der Diffamierung der bürgerlichen Forschung interessiert, legte aber den Fokus auf die Tradierung und Stärkung einer „volkstümlichen“ Literaturwissenschaft. Ich möchte kurz auf die Autorin eingehen: Marietta Schaginjan (1888– 1982) war eine Schriftstellerin und Literaturkritikerin armenischer Abstammung. Zu ihrem umfangreichen Werk gehören Abenteuerromane und -erzählungen, quasi-hagiografische Werke über das Leben von Lenin sowie literaturwissenschaftliche Studien, u. a. über Taras Ševčenko, die Literatur des 19. Jahrhunderts und eine Goethe-Monographie. Schaginijan ist auch die Autorin des ersten sowjetischen Kriminalromans Mess Mend ili Janki v Petrograde (Mess-Mend oder die Yankees in Petrograd) von 1924, dessen Titelseiten von dem Avantgardisten Aleksandr Rodčenko gestaltet wurden. Die Monographie über Goethe erschien im Jahr 1950 in Leningrad, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion in deren Serie „Ergebnisse und Probleme der modernen Wissenschaft“. Sie wurde kurz danach in viele Sprachen übersetzt, die Ausgabe für die DDR erschien 1952 in der Übersetzung von Traute Stein. Die Monographie besteht aus zehn Kapiteln, die entweder einem Werk von Goethe gewidmet sind oder auf einen bestimmten Aspekt seiner Künstlerpersönlichkeit eingehen (z. B. Der Gelehrte, Der Denker). Zwei Kapitel markieren schon im Titel, dass sich der Text ins Programm der Umerziehung der Gesellschaft einschreibt: Kapitel 3 Die Verbundenheit mit dem Volke und Kapitel 9 Der Kampf um Goethe. Es würde nicht gelingen, Schaginjans Buch der Pseudowissenschaft zuzuordnen. Es beinhaltet keine entscheidenden Fehler oder Ungenauigkeiten in puncto Goethes „Leben und Werk“ und geht sorgfältig mit den literaturhistorischen Fakten und Quellen um. 29 Schaginjans Ziel ist nicht eine epistemologische Täuschung, auch wenn der deutsche Klassiker aus der Perspektive des Marxismus-Leninismus interpretiert wird. Die Lektüre garantiert zwar ein fundiertes, aber kein innovatives Wissen. Sie repro-

29 Michael Hagner hat darauf hingewiesen, dass Pseudowissenschaftler sich nicht „mit der mühseligen Kleinarbeit der Forschung bei der zahlreiche Rädchen ineinandergreifen müssen“ abgeben. Michael Hagner, Bye-bye science, welcome pseudoscience, S. 42.

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duziert den Forschungsstand der Nachkriegszeit und wiederholt alles, was das Publikum im Zuge des Goethe-Jubiläums 1949 wahrscheinlich mehrmals gehört hat. Im Kontext der nationalen Aspekte des Kitsches ist die Monographie Goethe ein interessanter Fall. Der Dichter, der aus einer anderen Kultur kommt, wird in das nationale russisch-sowjetische Lektüreparadigma eingeschrieben. Goethe ist für die Autorin ein deutscher, zugleich aber in gewissem Sinne ein internationaler Klassiker. Solche Werte wie Volksverbundenheit, Einheit und Volkstümlichkeit entscheiden über seine Zugehörigkeit zu der großen Familie der fortschrittlichen und internationalen Künstler – eine kulturelle Übersetzung scheint nicht notwendig. Der Kitsch beginnt an der Stelle, an der versucht wird, den Autor von Faust an den imaginierten sowjetischen Massengeschmack anzupassen. Auch in Schaginjans Monographie ist das Hauptmerkmal, welches das Kitsch-Verdikt erlaubt, die Beziehung zum Leser. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass es möglich ist, den Klassiker „allen“ zugänglich zu machen, ohne große Mühe und intellektuelle Anstrengung. Schon am Anfang des Textes bestätigt sie ihrer Leserschaft direkt, dass jeder von ihnen alles, was sie zu sagen hat, verstehen kann, und darüber hinaus, dass es sich hier um ein Thema handelt, das hochaktuell ist und den Erwartungen der gegenwärtigen Leserschaft entspricht: Viele bedeutende Dichter und Schriftsteller, die früher nur dem Namen nach bekannt waren und deren Nachlaß Sache einsamer wissenschaftlicher Forscher und verstaubter Inhalt von Bibliotheksregalen blieb, sind aus dem Schatten der Jahrhunderte in das volle Licht der Massenlektüre und des Massenstudiums getreten. Was tot zu sein schien, ist zu neuem Leben erwacht. Was den Eindruck erweckte, schwer und nur einem kleinen Kreis von Spezialisten verständlich zu sein, hob an, in erschütternder Sprache zu Millionen Herzen zu sprechen.30

„Millionen von Herzen“ zu erreichen, statt nur „einem kleinen Kreis von Spezialisten“ anzusprechen, ist ein klar formuliertes Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die für den Kitsch allgemein charakteristische Rhetorik und Agitationsstrategie in Bezug auf den Leser verwendet. Zugleich zeigt

30 Marietta Schaginijan: Goethe. Aus dem Russischen übersetzt von Traute Stein. Mit einem Vorwort von Walther Victor, Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt 1952, S. 20.

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dieser Wissenschaftskitsch nationale Eigenschaften: Er ist ein Teil des Kampfes um die harmonische, heile, glückliche, sprich: sowjetische Welt, eine Welt, in der sich die Massen in ihrer Freizeit mit der Lektüre der Klassiker befassen.31 Das, was die ersten Kritiker des Sozialistischen Realismus „Lackierung der Wirklichkeit“ nannten, können wir genauso mit dem deutschen Begriff „Kitsch“ beschreiben. Dieser Kitsch ist nicht nur ein ästhetisches Phänomen, er ist ein tief in die Gesellschaft greifender Denkstil und, wie Bojm es formulierte, „ein Akt der Massenhypnose“ 32. Als solcher unterstützt er die totalitären Machtspiele. Um den Eindruck der Verständlichkeit (ponjatnost’) und der Bestimmung für die breiten Massen (massovost’) zu unterstützen, tritt Schaginjan gerne in der Rolle einer Vermittlerin zwischen dem klassischen Erbe und dem Volk auf. Die Eigenschaften ihres Stils hat Walther Victor in dem Vorwort zu der deutschen Ausgabe auf den Punkt gebracht: „Das Goethebuch von Marietta Schaginjan ist […] seiner ganzen Natur nach Sache des Volkes. Es ist in der Sprache des Volkes geschrieben, es handelt von Angelegenheiten des Volkes, es ist wahrhaft volkseigen.“33 Die Legitimierung für die Rolle der Vermittlerin sucht sie bei dem großen Dichter selbst. „Schon die ersten lyrischen Verse Goethes nahmen den Leser durch ihre Frische, Neuartigkeit und künstlerische Überzeugungskraft mit einem Schlage gefangen“34, ist an einer anderen Stelle zu lesen, mit einem indirekten Hinweis darauf, dass der Prozess dieser geistigen Faszination fortgesetzt wird. Dabei befindet sich die Autorin in einem ständigen Spagat: Einerseits möchte sie ihren Anspruch auf Autorität nicht aufgeben, anderseits betont sie, dass der Ort, von dem aus sie spricht, identisch mit jenem des Publikums ist. Die Illusion einer absoluten Gleichheit, gekoppelt an die Illusion der maximalen Klarheit des Ausdrucks, produziert Kitsch. „Der Kitsch hat für das Publikum den Vorteil“, schreibt Hanns Sachs, „daß er ihm den Genuß so mühelos wie möglich macht, ihm Unsicherheit und Anspielung auf un-

31 Vgl. Tomas Lachusen: „Kak žizn’ čitajet knigu: Massovaja kul’tura i diskurs čitatelja v pozdnem socrealizme“, in: Socrealističeskij kanon, hrsg. von Hans Günther und Evgenij Dobrenko, Sankt-Petersburg: Akademičeskij Proekt 2000, S. 609–625. 32 Bojm, Za chorošij vkus, S. 89. 33 Walther Victor, Vorwort, in: Schaginjan, Goethe, S. 9. 34 Schaginjan, Goethe, S. 43.

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liebsame Erinnerung erspart.“35 In der sowjetischen Variante ist das Versprechen eines mühelosen Genusses ein wichtiger Faktor, wenn er aber zugleich mit einer didaktischen Funktion verbunden bleibt. Schaginijan reproduziert ein für Kitsch charakteristisches Verfahren und ergänzt es um die nationalen Aspekte – diskrete Umerziehung: Im Sowjetland wird der zweite Teil des Faust heute genauso interpretiert wie von Puškin. Dabei ist man nicht bemüht, an alle noch so scharfsinnigen und interessanten Kommentare zu denken. Man liest den Faust, ohne daran zu denken, was […] Marlow über Helena oder über den Schatten Alexanders des Großen in den deutschen Chroniken gesagt ist. […] Man liest einfach, ohne Anspruch auf Gelehrsamkeit, aber man liest nicht passiv, sondern schöpferisch, das heißt, indem man die ganze Erfahrung des Lebens unserer Tage zum Verständnis und zur Aneignung des Gelesenen in Anwendung bringt.36

Die sowjetische Literaturwissenschaft in der Art von Schaganjan hat „[…] den Bruch zwischen dem Elitären und dem Kitsch grundsätzlich überwunden, indem sie Kitsch zum Träger elitärer Ideen machte“. 37 Auch hier kommt es zu der schon von mir erwähnten Verkitschung des Untersuchungsobjektes. Goethe ist für die russische Autorin ein „volksverbundener“, „echter“ und „begeisterter“ Pädagoge, seine Welt „klar“, „sonnig“ und zugleich „irdisch“ und „erdgebunden“. In Goethes Poesie findet Schaginjan „hohe Menschlichkeit“, „Zutrauen zur Natur“ und „die Überzeugung vom Nutzen und Sinn des Daseins“. Der deutsche Klassiker kann von jedem gelesen und verstanden werden, er ist ein Lehrer des Volkes und zugleich ein wahrer Vertreter des Volkes: Goethes Didaktik und sein ständiger, dem Leser spürbarer Führungsanspruch waren niemals trocken, nie langweilig oder aufdringlich. Alles, was er dem Leser zu vermitteln bemüht ist, ist erfrischender und ansteckender Natur. […] Er selbst lernte mit den Menschen. Immer war er unter ihnen und niemals alleine. Noch als Greis von 70 Jahren nahm er mit jugendlicher Aufmerksamkeit und Leidenschaft wie ein Sieb-

35 Hans Sachs, „Kitsch“, in: Kitsch. Texte und Theorien, hrsg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper. Stuttgart: Reclam 2012, S. 191. 36 Schaginjan, Goethe, S. 179. 37 Groys, Gesamtkunstwerk Stalin, S. 15.

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zehnjähriger alles Neue auf. Er eignete es sich nicht in Zurückgezogenheit an, sondern zusammen mit einem großen Kreis von Menschen, die bei ihm verkehrten. Das ist auch der Grund dafür, daß Goethe im tiefsten, vielseitigen Sinne des Wortes volkstümlich ist.38

Interessant an dieser doppelten Verkitschung ist die Tatsache, dass sie im Gestus der Abgrenzung zum Kitsch entsteht. Der Kitsch-Kritik folgend geht es bei diesem Phänomen um eine falsche Widerspiegelung der Wirklichkeit, auf der Grundlage, wie es György Lukács in Eigenart des Ästhetischen nannte, „einer objektiv verlogenen ‚Weltanschauung‘ […] so dass die Intention des Schaffens nicht darauf gerichtet ist, durch wahrheitsgetreue Wiedergabe der Welt zum Wesen des Menschen zurückzufinden“39. Die Doktrin des Sozialistischen Realismus sollte und wollte dieser verlogenen Weltanschauung entgegensteuern und „zum Wesen des Menschen zurückfinden“. Auch bei der russischen Autorin findet man einige Passagen, wo es um die Negation der falschen epistemologischen Grundlagen geht. Leider wappnet eine solche diskursive Abgrenzung nicht gegen Kitsch. Der literaturwissenschaftliche Kitsch von Schaginjan und ihr ähnlicher Autoren liegt in einem Überschneidungsbereich: Einerseits referiert er auf einige Praktiken des Wissenschaftskitschs an sich, anderseits auf den Sozialistischen Realismus. Wie andere sowjetische Artefakte, die als Kitsch gelten, ist er hybride. Ich würde behaupten, dass man seinen Kitschcharakter ohne Bezug auf die kulturpolitischen Bedingungen der Sowjetunion zwar erkennt, jedoch nicht versteht. Das ist im Falle von einer Landschaftsmalerei mit zwei röhrenden Hirschen anders.

L ITERATUR Bojm, Svetlana: „Za chorošij vkus nado borot’sja. Socrealizm i kitč“. Socrealističeskij kanon, hrsg. von Hans Günther und Evgenij Dobrenko, Sankt-Petersburg: Akademičeskij Proekt 2000, S. 87–101.

38 Schaginjan, Goethe, S. S. 68. 39 György Lukács: Werke, Band 11: Die Eigenart des Ästhetischen, Neuwied: Luchterhand 1963, S. 830.

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Boym, Svetlana: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia. Cambridge / London: Harvard University Press 1994. Doehlemann, Martin: „Gibt es Kitsch auch in der Wissenschaft“, in: Auf der Klaviatur der sozialen Wirklichkeit: Studien – Erfahrungen – Kontroverse. Festschrift für Benno Biermann, hrsg. von Stefanie Ernst, Münster: Waxmann 2004, S. 197–212. Gronow, Jukka: The Sociology of Taste, London and New York: Routledge 1997. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, München: Carl Hanser Verlag 1998. Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart: Metzler 1984. Hagner, Michael: „Bye-bye science, welcome pseudoscience? Reflexionen über einen beschädigten Status“, in: Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Dirk von Rupnow u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 21–51. Kaeser, Eduard: „Wissenschaftskitsch. Eine Erkundung“. Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, hrsg. von Max-HimmelheberStiftung, 2013/2014, Jg. 43, S. 347–356. Kundera, Milan: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen von Susanna Roth, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. Lachusen, Tomas: „Kak žiznʼ čitajet knigu: Massovaja kulʼtura i diskurs čitatelja v pozdnem socrealizme“, in: Socrealističeskij kanon, hrsg. von Hans Günther und Evgenij Dobrenko, Sankt-Petersburg: Akademičeskij Proekt 2000, S. 609–625. Levkova-Lamm, Inesa: „Kommunismus und Kitsch“, in: Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930 bis 50er Jahre, hrsg. von Gabriele Gorzka, Bremen: Edition Temmen 1994, S. 178–197. Lukács, György: Werke, Band 11: Die Eigenart des Ästhetischen, Neuwied: Luchterhand 1963. Matusiak, Agnieszka: „Ukraińska powieść produkcyjna jako produkt socrealistycznej kultury masowej. Perspektywa postmodernistyczna“, Porównania 2010, Nr. 7, S. 179–196.

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