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German Pages 236 Year 2020
Michael Bachmann, Asta Vonderau (Hg.) Europa – Spiel ohne Grenzen?
Edition Kulturwissenschaft | Band 33
Michael Bachmann ist Senior Lecturer für Theaterwissenschaft an der School of Culture and Creative Arts, University of Glasgow. Asta Vonderau ist Professorin am Seminar für Ethnologie, Institut für Ethnologie und Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Michael Bachmann, Asta Vonderau (Hg.)
Europa – Spiel ohne Grenzen? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts
Gefördert durch das Zentrum für interkulturelle Studien (ZIS) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Inhalt
Einleitung
Michael Bachmann | 7
EUROPA ALS SPIEL- UND IMAGINATIONSRAUM Andere Europas: Soziale Imagination an der Schnittstelle von Kunst, Politik und Ethnografie
Regina Römhild | 17 Der NSK-Staat: Das kosmopolitische Performanz-Konzept der Neuen Slowenischen Kunst
Marcus Stiglegger | 37
EUROPÄISIERUNG IM URBANEN RAUM Europareise in der eigenen Stadt: Cargo Sofia von Rimini Protokoll als theatraler Grenzgang
Annika Wehrle | 51 Creative City Ljubljana? Europäisierungsprozesse am Beispiel kreativer Stadtformation
Kornelia Ehrlich | 67 „Ein Festspielplatz Europas“: Zur Inszenierung des venezianischen Karnevals im 21. Jahrhundert
Julia Gehres | 81
HISTORISCHE P ERSPEKTIVEN : EUROPA UM 1900 Grenzen setzen, Grenzen überschreiten: Eine theaterhistorische Perspektive auf Wien als porta Orientis
Caroline Herfert | 103
„Heißblütige Italiener“ und „lymphatische Deutsche“ Nationale Grenzen und Virtuosentum im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts
Stefanie Watzka | 121 Mobiler (T)raum: Mit dem Orientexpress durch Europa
Dorothea Volz | 137 Schlaufen der Imitation: Zur Rezeption des Cakewalk in Europa
Frederike Gerstner | 151
M IGRATION UND GRENZZIEHUNG Europa, Migration und Spiel: Überlegungen zu einer reflexiven Europaforschung
Asta Vonderau | 169 Theater und Migration: Überlegungen zu einer europäischen Perspektive des postmigrantischen Theaters
Azadeh Sharifi | 181 Ankommen im Museum, Ankommen in Europa? Migration im musealen Raum
Kerstin Poehls | 197 Europa als Grenze: Flüchtlingspolitik beim Zentrum für politische Schönheit
Anika Marschall | 211 Autorinnen und Autoren | 233
Einleitung M ICHAEL B ACHMANN
Neben dem seit 1956 ausgestrahlten Eurovision Song Contest (bis 2001 auch in Deutschland unter dem französischen Titel Grand Prix Eurovision de la Chanson bekannt) war Spiel ohne Grenzen die zweite von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) verantwortete Großproduktion. Insgesamt dreißig Sendungen der paneuropäischen Spielshow, die nationale Teams in Sport- und Geschicklichkeitswettbewerben gegeneinander antreten ließ, wurden zwischen 1965 und 1999 ausgestrahlt; seit 1980 ohne deutsche Beteiligung. Abgesehen von ihrem multilingualen Titel, auf dessen deutsche Fassung sich der vorliegende Sammelband bezieht – englisch: Games without Frontiers, auch der Name eines Peter Gabriel-Songs (1980), französisch: Jeux sans frontières, italienisch: Giochi senza frontiere – scheint die Sendung heute fast vergessen. Im Gegensatz dazu erfreut sich der europäische Liederwettbewerb nach wie vor großer Beliebtheit bei einem internationalen, keineswegs auf Europa beschränkten Fernsehpublikum. Sein Beitrag zu Europäisierung und Fragen der nationalen Identitätsfindung innerhalb Europas wird auch wissenschaftlich eingehend untersucht.1 Eine der zahlreichen Publikationen zum Eurovision Song Contest (ESC), der von den Theaterwissenschaftlern Karen Fricker und Milija Gluhovic verantwortete Sammelband Performing the „New“ Europe (2013), ist unserer Aufsatzsammlung darin verwandt, dass er die mögliche Doppelbedeutung des Performanzbegriffs zentral setzt. Performing Europe verweist auf die performative Herstellung „Europas“ in der televisuellen Aufführung (performance) dieses nur schwer zu greifenden Gebildes. Wie Fricker und Gluhovic argumentieren, leistet der
1
Vgl. etwa musikwissenschaftliche Publikationen zum Verhältnis von populärer Musik und Identitätspolitik (Raykoff/Tobin 2007; Tragaki 2013) und geschichtswissenschaftliche Darstellungen, die den ESC im Kontext von Kaltem Krieg und EU-Politik analysieren (Vuletic 2018).
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ESC eine zeitgebundene Erfahrung Europas in der Konstitution und affektiven Bindung eines paneuropäischen Fernsehpublikums.2 Katrin Siegs Artikel im gleichen Sammelband analysiert die ESC-Teilnahme mittel- und osteuropäischer Länder seit den 1990er Jahren und insbesondere nach der sogenannten EU-Osterweiterung 2004 und 2007. Laut Sieg nutzen jene den ESC als konkrete wie als metaphorische Bühne „[to] perform their imagined relationship to Europe as a ‚return home‘ or demonstration of friendship.“3 Sie positionieren sich auf diese Weise als „stakeholders in a common project to define the meaning, values, and norms that are attached to Europeanness.“4 Die von Fricker/Gluhovic und Sieg analysierten Aspekte des ESC lassen sich in die Terminologie der hier vorliegenden Studien übertragen. Das medienwirksam inszenierte Lied und seine televisuelle Verbreitung ist eine Aus- und Aufführung von Europaentwürfen, in der die künstlerische Praxis der Aufführung zugleich als kulturelle Praxis wirksam wird: mehr lebensweltlich akzentuiert in Frickers und Gluhovics Rede von der europäischen Erfahrungsgemeinschaft; mehr politisch-gesellschaftlich in der Instrumentalisierung solch affektiver Bindungen und imaginierter Zugehörigkeiten bei Sieg. Performing the „New“ Europe konzentriert sich auf den ESC und – damit einhergehend – auf die affektive Herstellung televisuell vermittelter Europaidentitäten. Dem gegenüber entstammen die im Folgenden zusammengeführten Fallstudien einem ungleich breiteren Feld. Trotz klarer thematischer Schwerpunkte – auf alternative, lebenspraktische Europaentwürfe, auf Fragen der Urbanisierung, auf Migration und Grenzziehung sowie auf historische Konstruktionen von Europa um 1900 – sind sie nicht einem Medium, einer Kunstform oder einer kulturellen Institution verpflichtet. Den disziplinären Schwerpunkten der Beiträgerinnen und Beiträger entsprechend analysieren sie Museumskonzepte (Pöhls), städtische Kunst- und Kulturinstitutionen (Ehrlich), Performanzkonzepte in den bildenden Künsten (Stiglegger), die „Eventifizierung“ lokaler Karnevalspraktiken (Gehres), spielerisch gelebte Imaginationen „anderer“ Europas (Römhild, Vonderau) sowie den Orientexpress als räumlich-imaginative Erschließung des Kontinents (Volz). Des Weiteren geht es in vielen Beiträgen um die Analyse von Theater und Theaterpraxis. Dies umfasst den Blick auf Geschichtsinszenierungen (Herfert) und europäisches Gastspielwesen (Watzka), die Analyse performativer Praktiken jenseits des konventionellen Theaterraums (Wehrle, Marschall), die Rezeptionsgeschichte einer afrikanisch-amerikanischen Tanzform im Europa des frühen 20.
2
Fricker/Gluhovic 2013, 11.
3
Sieg 2013, 220.
4
Sieg 2013, 219.
E INLEITUNG
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Jahrhunderts (Gerstner) und die vergleichende Institutionsgeschichte postmigrantischen Theaters (Sharifi). Neben dem Europabezug hängen die Fallstudien durch die – mit unterschiedlichen Dominantsetzungen vorgenommene – Doppelperspektivierung auf künstlerische und kulturelle Praxis zusammen. So wird in den letztgenannten Beiträgen Theater etwa niemals nur unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Vielmehr analysieren sie, wie bestimmte Vorstellungen von Europa in der künstlerischen Vor-Stellung kritisiert und affirmiert, erfahrbar gemacht und hergestellt werden.5 Was solchen Vorstellungen – als Konzepte, künstlerische und alltagskulturelle Praxis – besondere Relevanz verleiht, sind die unklaren Grenzen dessen, was Europa ausmacht: z.B. in geographischer Hinsicht (als „kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents“ im Sinne Valérys);6 politisch mit Blick auf das Verhältnis von Region, Nationalstaat und globaler Grenzziehung;7 historisch als das, was „uns“ in divergierenden Geschichtserfahrungen mehr trennt als eint; 8 kulturell in der problematischen Berufung auf vermeintlich gemeinsame europäische Werte.9 Im Extremfall kann Europa wegen seiner vagen Grenzen „ortlos“ erscheinen, als Idee, die jedoch durchaus „verortet“ ist und – wie Edward Said, Dipesh Chakrabarty u.a. gezeigt haben – materiale Konsequenzen auf globaler Ebene hat.10 5
Zu diesem Vorstellungsbegriff mit Bezug auf die performative Konstruktion Europas im europäischen Gegenwartstheater vgl. Bloch/Heimböckel/Tropper 2017, die sich wiederum auf Jacques Le Goff (2003) beziehen.
6
Vgl. Valéry 1995, 34. Valéry, auf den sich in diesem Kontext häufig berufen wird, steht in einem ambivalenten Verhältnis zu europäischem Imperialismus und Kolonialismus: Die befürchtete Reduktion Europas auf seine ungewisse geographische Lage ist durch jene befördert, da sie „Europa“ – als vermeintlich exemplarische Idee (von Rationalisierung und Modernisierung) – globalisiert und damit für den „Rest“ der Welt benutzbar macht. Vgl. Derrida 1992.
7
Vgl. etwa die – politisch unterschiedlich besetzte – Rede vom „Europa der Regionen“ (Ruge 2003); das Widererstarken nationalstaatlicher Ideen im Europa des 21. Jahrhunderts, so im populistischen Brexit-Slogan von „taking back control of our borders, money, and laws“ (DExEU 2018); und die Stärkung der EU-Außengrenzen nach dem Maastrichter Vertrag (Geddes/Scholten 2016).
8
Vgl. z.B. Aleida Assmann (2012), die freilich hofft, dass eine Gedächtniskultur dialogischen Erinnerns unterschiedliche „europäische Erinnerungskomplexe“ integrieren und zur Fundierung des Projekts Europa werden könne.
9
Vgl. z.B. Joas/Wiegandt 2005.
10 Vgl. Said 2003, Chakrabarty 2008 sowie – zur Dialektik von Ort und Ortlosigkeit europäischer Ideen – Weidner 2006.
10 | MICHAEL B ACHMANN
In diese Diskussion um die Grenzen Europas, die auf einer konzeptuellen, kulturell-künstlerischen und alltagspraktischen Ebene stattfindet, führt der vorliegende Band einen multiperspektivischen Spielbegriff ein. Er fragt nach der kulturellen und künstlerischen Konstitution politischer Europa-Projekte ebenso wie nach jenen anderen, gelebten Europas, die in mehr offiziell-institutionellen Zuschreibungen nicht aufgehen; und spezifisch nach den Praktiken ihrer Konstitution – auf der Ebene von Ausstellungen und Kunstprojekten; und auf der Ebene alltäglichen Handelns, etwa durch Migrationswege und individuelle Lebensentwürfe. Über die „horizontale Verflechtung nationaler Gemeinschaften“ im Sinne Ulrich Becks und Edgar Grandes hinausgehend, erscheint Europa aus diesem Blickwinkel als Spielfeld sozialer und imaginativer Räume, in denen sich unterschiedliche kulturelle bzw. soziale Einstellungen in ihrer Differenz reiben, zusammenwirken und neu konfigurieren.11 Was hier auf dem Spiel steht, zeigt sich in den oben erwähnten Diskussionen um EU-Außengrenzen und Migrationspolitik oder etwa in der politischen Instrumentalisierung einer kulturalistischen Argumentation für die Durchsetzung bestimmter Europäisierungsprojekte, etwa in der problematischen Vorstellung von Europa als Gemeinschaft der Christen. Visionen eines „kosmopolitischen Europas“ (Beck/Grande) ebenso wie den sozialen Realitäten von Europäisierung und Globalisierung zum Trotz verengt eine solche Instrumentalisierung Europa auf einen homogen gedachten Kulturraum statt von Kulturen im Plural auszugehen. Gerade mit Blick auf die intendierte lebensweltliche Umsetzung der europäischen politischen Projekte macht eine solche Verengung die Spannung zwischen Vielfalt und Einheit noch in der Idee von „Einheit durch Vielfalt“ Europas spürbar – auch im Mit- und Gegeneinander verschiedener Europa-Entwürfe. Der Spielbegriff hilft hier, da er sowohl auf die Wichtigkeit künstlerischer und kultureller Praktiken für die Inszenierung und performative Konstruktion von Europa bzw. verschiedenen Europas – als Dynamiken der Europäisierung – verweist als auch die Möglichkeit von Spielräumen benennt, die in solchen Praktiken mitunter entstehen. Versteht man Europäisierung, im Sinne der zeitgenössischen Kulturtheorie als einen niemals abgeschlossenen Prozess, der vor dem Hintergrund verschiedener Europaentwürfe an individuellen Körpern beständig neu ausgehandelt werden muss, rücken kulturelle und künstlerische Praktiken als zentrale Schnittstellen dieser Aus- und Aufführung von Europa in den Mittelpunkt des Interesses.12
11 Vgl. Beck/Grande 2007. 12 Vgl. etwa den Performativitätsbegriff Judith Butlers (2011) und die praxeologische Perspektive bei Andreas Reckwitz (2003).
E INLEITUNG
| 11
Paradigmatisch lässt sich dies an der Institution Theater zeigen, die zugleich künstlerische wie kulturelle und soziale Praxis ist: Wo Schauspieler und Zuschauer als Mitglieder eines, wie auch immer definierten, gesellschaftlichen Zusammenhangs körperlich aufeinandertreffen, ist das Zusammenspiel von künstlerischer Darstellung und kultureller Identitätsbildung – bzw. die Subversion von Identitätsmodellen im Sinne der Schaffung von Frei- und Spielräumen – besonders deutlich. Ähnlich werden aus der ethnographisch kulturanthropologischen Perspektive betrachtet die performativen, spielerischen und subversiven Aspekte alltäglicher Europäisierungsdynamiken sichtbar, welche die Vielfältigkeit der real existierenden Europaentwürfe – gegen den ausgrenzenden Blick kulturalistischer Argumentationen – aufweisen. Die sozialen und imaginativen Räume Europas befinden sich in einer kontinuierlichen Bewegung (in the making) und werden von den Akteuren, die sich in dieser Bewegung befinden, mitunter als Bühne genutzt, auf der sie sich in verschiedener Weise inszenieren und auf die sie sich unterschiedlich beziehen. In diesem Zusammenspiel werden Hierarchien und Differenzen geschaffen und andere außer Kraft gesetzt. Es entstehen „soziale Imaginationen“, die Menschen zum Handeln bewegen, individuelle Lebenswege bestimmen und eine gesellschaftsgestaltende Kraft entwickeln. 13 Solche Dynamiken erhalten unterschiedliche Reichweite, sie (re-)produzieren sowohl Strukturen als auch Freiräume, haben intendierte wie auch unerwartete Effekte. Die hier versammelten Beiträge untersuchen die Spiel- und Freiräume, die sich in der Inszenierung und performativen Konstruktion verschiedener Europas ergeben; aber auch die normativen Dimensionen und Ausgrenzungen solcher künstlerischer wie alltagskultureller „Spiele“. Die Herausgeber danken Maria Petzinger, Thomas Götzelmann und Felix Müller für ihre Hilfe bei Formatierung und Drucklegung sowie dem Mainzer Zentrum für Interkulturelle Studien für finanzielle Unterstützung des Bandes.
13 Vgl. Appadurai 1998.
12 | MICHAEL B ACHMANN
L ITERATUR Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press 2008. Assmann, Aleida: Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur. Wien: Picus 2012. Beck, Ulrich/Grande, Edgar: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Bloch, Natalie/Heimböckel, Dieter/Tropper, Elisabeth (Hg.): Vorstellung Europa – Performing Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart. Berlin: Theater der Zeit 2017. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York; London: Routledge 2011 [orig. 1990]. Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton University Press 2008. Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertage Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. DExEU (=Department for Exiting the European Union): EU Exit. Taking back control of our borders, money, and laws while protecting our economy, security and Union. Regierungspublikation vom 28. November 2018. Fricker, Karen/Gluhovic, Milija: „Introduction: Eurovision and the ‚New‘ Europe.“ In: Dies. (Hg.): Performing the „New“ Europe. Identities, Feelings, and Politics in the Eurovision Song Contest. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, 1-28. Geddes, Andres/Scholten, Peter: The politics of migration and immigration in Europe. Los Angeles: SAGE 2017. Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a.M.: Fischer 2005. Le Goff, Jacques: „Grundlagen europäischer Identität.“ In: Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog (Hg.): Europa leidenschaftlich gesucht. München: Piper 2003, 169-179. Raykoff, Ivan/Tobin, Robert (Hg.): A Song for Europe. Popular Music and Politics in the Eurovision Song Contest. Burlington: Ashgate 2007. Reckwitz, Andreas: „Grundelemente einer Theorie soziale Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive.“ Zeitschrift für Soziologie 32 (4), 282-301. Ruge, Undine: Die Erfindung des „Europa der Regionen“. Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2003. Said, Edward W: Orientalism. New York: Penguin Books 2003 [orig. 1978].
E INLEITUNG
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Sieg, Katrin: „Conundrums of Post-Socialist Belonging at the Eurovision Song Contest.“ In: Fricker, Karen/Gluhovic, Milija (Hg.): Performing the „New“ Europe. Identities, Feelings, and Politics in the Eurovision Song Contest. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, 218-237. Tragaki, Dafni (Hg.): Empire of Song. Europe and Nation in the Eurovision Song Contest. Lanham u.a.: Scarecrow Press 2013. Valéry, Paul: „Die Krise des Geistes“ [orig. 1919]. In: Ders.: Werke, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeld. Frankfurt a.M.: Insel 1995, 26-54. Vuletic, Dean: Postwar Europe and the Eurovision Song Contest. London: Bloomsbury 2018. Weidner, Daniel (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Paderborn: Fink 2006.
EUROPA ALS SPIELUND IMAGINATIONSRAUM
Andere Europas Soziale Imagination an der Schnittstelle von Kunst, Politik und Ethnografie R EGINA R ÖMHILD
Eine grundlegende These postkolonialer Analysen lautet, dass die Wissens- und Organisationsstrukturen der Macht aus einer Perspektive der Ränder am deutlichsten sichtbar werden. 1 So zeigt sich erst aus einer solchen Perspektive, wie sehr Europa – als Zentrum des imaginären Westens – selbst ein Produkt der Verflechtungen mit den marginalisierten „Anderen“ des imaginären Ostens/Südens ist.2 Und erst von hier aus werden andere Geschichten anderer Europas sichtbar, die im hegemonialen Diskurs eines um sich selbst kreisenden Eurozentrismus verborgen bleiben. Die Kehrseite dieses machtvollen Eurozentrismus erweist sich als bornierte, „parochiale“ Engführung der (Selbst-)Erkenntnismöglichkeiten3 – mit der Konsequenz, dass nur eine reflexive Dezentrierung oder „Provinzialisierung“ Europas aus der Perspektive seiner Ränder die kosmopolitische Erweiterung des Horizonts und eine Erneuerung der Projekte, die Europa mit sich verbindet, ermöglicht.4 Im Sinne dieser Überlegungen möchte ich mich hier mit kulturellen Praktiken beschäftigen, die sowohl die historischen Erfahrungen als auch die auf mögliche Zukünfte gerichteten Visionen „Anderer Europas“ als kosmopolitische Interventionen ins Spiel bringen. Das für diesen Aufsatz verwendete ethnografische Material stammt aus einem Studienprojekt gleichen Titels am Berliner In-
1
Vgl. Sousa Santos 2005, 201.
2
Vgl. Conrad/Randeria 2013.
3
Vgl. Herzfeld 2013.
4
Vgl. Chakrabarty 2010.
18 | REGINA R ÖMHILD
stitut für Europäische Ethnologie. 5 Das Projekt konzentrierte sich auf Berlin als heterotopischen europäischen Raum, der in künstlerisch-politischen Aktivitäten mit (post-)migrantischen, postkolonialen, postsozialistischen, dezentrierenden Perspektiven angeeignet und gestaltet wird. Uns interessierte dabei insbesondere, welche Alternativen zu einem aus der jeweiligen Perspektive hegemonialen Europa hier implizit oder explizit entworfen und praktiziert werden und wie diese Praxis im Sinne einer mit anderen geteilten, sozialen Imagination produktiv gemacht wird.6 Sowohl der Begriff der/des „Anderen“ als auch der Begriff „Europa“ wurden bewusst in der ihnen eigenen Mehrdeutigkeit und Unschärfe gewählt. So erlaubt der Terminus Europa, die darin verborgenen, diversen politischen und kulturellen Formationen mitzudenken und dabei auch die derzeit herrschende Europäische Union als eine partikulare Version Europas zu dezentrieren. 7 Der Terminus der „Anderen“ meint sowohl die als Andere markierten (und dadurch ausgeschlossenen) Beteiligten als auch die Alternativen, die an den diversen Rändern europäischer Macht postuliert und entwickelt werden. Dies umfasst sowohl die geopolitischen Ränder des „Neuen Europas“, die Ränder der „kulturell Fremden“ an den nationalstaatlich organisierten Mehrheits- und Einwanderungsgesellschaften, als auch die (mit den geopolitischen Ausschlüssen allerdings eng verbundenen) epistemologischen Ränder der Wissensproduktion. So lässt sich vor diesem Hintergrund auch die Frage stellen nach einer Annäherung zwischen den oft voneinander abgegrenzten und in den diversen Disziplinen unterschiedlich gewichteten Terrains von Kunst, Politik und Ethnografie im urbanen Raum. Welche den jeweiligen epistemologischen Horizont erweiternden Möglichkeiten von Forschung, kritischer Reflexion und kosmopolitischer Intervention eröffnen kollaborative Formen der Wissensproduktion?
5
Zwischen 2010 und 2012 arbeiteten 9 Master-Studierende gemeinsam mit mir und der Projektassistentin Kornelia Ehrlich in unterschiedlichen Forschungsfeldern, an unterschiedlichen Schnittstellen künstlerischer, wissenschaftlicher und politischer Praxis in Berlin und Cluj zum Thema „Andere Europas. Soziale Imagination in transnationalen Bewegungen und urbanen Öffentlichkeiten“. Mehr unter: www.euroethno.huberlin.de/en/standardsite (letzter Zugriff: 01.12.2019).
6
Zum Konzept der sozialen Imagination vgl. Appadurai 1996, 5-11, Appadurai 2013 u. Braidotti 2007, 37-40.
7
Vgl. Braidotti 2005 u. Braidotti 2007.
A NDERE E UROPAS
I MAGINATIONEN
DES
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O STENS
Auf einer Karte, die ihrem Namen zufolge den Stand des „östlichen Modernismus“ im Jahr 1990 verzeichnet, bleiben Asien und Osteuropa schwarz eingefärbt (Abb. 1).
Abb. 1: Irwin: Map of Eastern Modernism, 1990. Diese Kartografie gehört zum Projekt East Art Map der Gruppe Irwin, die als Teil des Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK) schon seit 1984 die Entwicklung Post/Jugoslawiens und Europas mit reflexiven, teils spektakulären öffentlichen Interventionen begleitet. East Art Map postuliert, dass es keine Geschichte osteuropäischer Kunst und keine osteuropäische Perspektive in der westlichen Kunstgeschichte gäbe. Diese Geschichte sei deshalb erst noch zu erfinden. In einem Interview mit der Berliner Künstlerin Hito Steyerl äußerten sich die Irwin-Mitglieder Miran Mohar und Borut Vogelnik zu der Frage, warum es ihnen wichtig sei, sich explizit auf den Osten als produktive ästhetische Kategorie zu beziehen, angesichts anderer Einschätzungen, die diese Kategorie heute, nach dem Ende des Kalten Krieges und mit der Eingemeindung Sloweniens und anderer postsozialistischer Staaten in die Europäische Union für überholt und kontraproduktiv halten. Dazu Miran Mohar: [It] can be shown that Eastern European art is represented in the West by just a few artists, a couple of names that are intended to show that Eastern Europe is being included. So the issue today is inclusion and exclusion. And with the East Art Map we have shifted this question of inclusion a bit. Why should we think about it at all? Why should we think about being included? Why don't we just start to construct ourselves, to construct our own history? That is our position8.
8
Steyerl 2006, 507.
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Das Argument richtet sich gegen eine Inklusion osteuropäischer Kunst zum Preis der Unterwerfung unter den westeuropäischen Blick und seine Verwertungsinteressen. Die Alternative der Exklusion eröffnet stattdessen die Möglichkeit eines Gegendiskurses und die Chance, den Osten neu zu erfinden. Auf der Website des – übrigens von der Kulturstiftung des Bundes geförderten – Projekts sind 250 ausgewählte Künstler und Kunstprojekte der letzten 50 Jahre zu sehen. Die Besucher werden aufgefordert, sich mit eigenen Vorschlägen zu beteiligen. Dazu heißt es auf der Startseite: „History is not given. Please help to construct it.“ 9 Die Beschäftigung mit Irwin und NSK stand am Anfang unseres Projekts. Wir begegneten den Künstlern zum ersten Mal anlässlich eines internationalen Kongresses, den die Gruppe im Oktober 2010 im Berliner Haus der Kulturen der Welt abhielt. NSK hatte damals die Bürger und Bürgerinnen ihres virtuellen Staates – dem NSK State in Time10 – zu einer gemeinsamen Diskussion über die künstlerische und die politische Zukunft dieses Staatsprojekts eingeladen. Wir als Forscher_Innen waren von Anfang an aufgefordert, uns mit unseren Fragen und Beiträgen in die Diskussion einzuschalten, so dass wir nicht nur teilnehmende Beobachter, sondern auch aktive Teilnehmer des Kongresses waren. So wurden wir schon gleich zu Anfang selbst Teil eines der Projekte, die wir erforschen wollten.11 Mit ihren kritischen Beiträgen artikuliert sich NSK im Spannungsfeld einer von der EU vorangetriebenen Europäisierung, die heute, wie gerade ethnologische Forschungen zeigen, 12 vor allem die östlichen Ränder EU-Europas unter Druck setzt, sich formalen Standards eines europäischen Regierens zu unterwerfen und sich dabei auch kulturell einem westlichen Modell anzupassen, das für Demokratie und Freiheit steht, aber auch für Neoliberalisierung im Geist des neuen Kapitalismus. Im Projekt Transit Migration13 untersuchte ein interdisziplinäres Forschungsteam in der Türkei, in Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien, wie sich diese neue europäische Governance in einem transnational organisierten Grenzregime formiert, das weit über das heutige Territorium der Europäischen Union hinausreicht und geradezu imperial ausgreift auf potentielle Beitrittskandidaten wie die Türkei oder Serbien, aber auch auf entfernte Anrainerstaaten jenseits des Mittelmeers. Ebenso weitreichend erweist sich der kulturelle Europäisierungsdruck in den postsozialistischen Staaten des ehemaligen 9
Vgl. www.eastartmap.org (letzter Zugriff: 01.12.2019).
10 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Stiglegger im vorliegenden Band. 11 Vgl. Römhild u.a. 2011. 12 Für einen Überblick zur ethnologischen Europäisierungsforschung vgl. u.a. Welz 2005, Poehls/Vonderau 2006 u. Welz 2013. 13 Vgl. Transit Migration Forschungsgruppe 2007.
A NDERE E UROPAS
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Sowjetimperiums, und insbesondere in den Regionen, die heute als „Neues Europa“ im Osten von einem „Alten Europa“ im Westen unterschieden werden. In dieser Unterscheidung leben alte Abgrenzungen fort zwischen einem Westen, der im Kern definiert, was Europa und das Europäische ist, und einem Osten, der demgegenüber als Anderes an der imaginären Grenze zum Balkan und zu Asien verortet wird,14 und auch in einer anderen politischen Geschichte des Sozialismus, weshalb das Neue Europa vielfach als eine Zone „nachholender Modernisierung“ und nachholender Europäisierung gilt. Michal Buchowski spitzt dies weiter zu, wenn er unter Rückgriff auf Edward Said von einem neuen Orientalismus spricht, der dieselben Bilder vormoderner Rückständigkeit und kultureller Andersartigkeit nun auf einen postsozialistischen Osten überträgt.15 In Polen, Buchowskis Feld für diese These, führt dies auch im Inneren der Gesellschaft zu aggressiven Formen der „Selbsteuropäisierung“ und der Abgrenzung gegenüber eigenen Anderen, die zu Repräsentanten einer nicht europafähigen sozialistischen Rückständigkeit gemacht werden. Mit Michael Herzfeld lassen sich diese Formen kultureller Unterwerfung schließlich noch weiter zuspitzen auf ein „krypto-koloniales“ Abhängigkeitsverhältnis, für das die Pufferzonen zwischen dem imaginären Orient und dem imaginären Okzident generell prädestiniert sind.16 Eines seiner Beispiele dafür ist Griechenland, und damit ein Teil des Alten Europas, dessen Europäischsein jedoch historisch und auch ganz aktuell immer wieder neu in Frage gestellt wird – weil es in einer permanenten Ambivalenz gefangen bleibt zwischen einem europäisierten Ideal der griechischen Antike und einer davon abweichenden „orientalisierten“ jüngeren Geschichte des Landes. Die Position von NSK geht über diese kritischen wissenschaftlichen Analysen eines europäischen „Otherings“ hinaus. Den Künstlern geht es nicht um eine Reaktion und auch nicht um eine Zurückweisung dieser Zumutungen. Stattdessen entwickeln sie eine offensive Haltung, mit der sie den Osten neu erfinden, und das durchaus in der Form einer – zugespitzt formuliert – „Selbstorientalisierung“, die allerdings nicht auf vormoderne Folklore setzt, sondern im Gegenteil auf die kulturelle Produktivität und die Ästhetik der sozialistischen Industriemoderne, auf die sie sich im Sinne des von ihnen so benannten Konzepts der „Retroavantgarde“17 neu beziehen. Von diesem modernen Osten aus entwickeln sie in umgekehrter Blickrichtung eine Perspektive auf Europa, die ein gänzlich anderes als das übliche Bild eines gemeinsamen kulturellen Erbes entwirft. 14 Vgl. Kaschuba 2007 u. Vonderau 2010. 15 Vgl. Buchowski 2006. 16 Vgl. Herzfeld 2013. 17 Vgl. Arns 2003 u. Schweizer 2011.
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Bezeichnend dafür sind die musikalischen Produktionen und die Videos der Band Laibach, die zum Gesamtkonzept NSK gehört und schon mit ihrem Namen provoziert: Laibach war die vor 1945 gebräuchliche deutsche Bezeichnung für das ab dann jugoslawische Ljubljana. Die ästhetischen Strategien von Laibach – exemplarisch etwa in dem bekannten Video „Tanz mit Laibach“ 18 – wie generell auch ein großer Teil der Neuen Slowenischen Kunst verweisen auf die dunkle Seite der europäischen Moderne, die hier gerade nicht explizit in Ost und West unterschieden wird, sondern die traumatischen Erfahrungen des Holocaust, des Faschismus und Totalitarismus, der Kriege als verwobene, gemeinsame Geschichte Europas vorstellbar macht. Die Erzählung wird dominiert von den phallozentrischen Visionen einer radikalen Industriemoderne und einer daran ausgerichteten Technologie und Massenkultur. Damit ruft Laibach hier ein europäisches Imaginäres auf, das sich deutlich unterscheidet von dem im Westen kolportierten Narrativ: Denn hier gilt gerade der Sieg über Faschismus und Antisemitismus als Gründungsmythos der heutigen Europäischen Union, und die gegenwärtige Europäisierung des Ostens wird in dieser Tradition vielfach als ein neuerlicher „Sieg“ über Kommunismus und realsozialistischen Totalitarismus verstanden. NSK beschwört dagegen die anhaltende Präsenz dieses gesamteuropäischen kulturellen Erbes. In der Imagination der Betrachter und Hörer wird dies hervorgerufen durch faszinierende – und gerade deshalb sehr irritierende – Parallelen zwischen der Ästhetik früherer und heutiger Massenspektakel, zwischen totalitärer Symbolik und heutigen popkulturellen Retro-Styles, zwischen stampfender Militärmusik und Post-Punk Industrial Rhythmen. Mit dieser Strategie der „Überidentifikation“19 wird eine sinnliche Rückkehr zu den Ideologien der europäischen Traumata angeregt, um sie auf diese Weise zu entlarven und zu überwinden. Allerdings entwickeln die Rezipienten, insbesondere von Laibach, ihre eigenen Lesarten; in den Kommentaren zu den Videos auf YouTube zeigt sich eine große Bandbreite politischer Lesarten von ultrarechts bis ultralinks.
18 Das Video ist zu sehen unter www.youtube.com/watch?v=TOyX7JN3IBE (letzter Zugriff: 01.12.2019). 19 Vgl. Arns 2003, 23.
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P OLITIKEN KÜNSTLERISCH - AKTIVISTISCHER W ISSENSPRODUKTION Anders als wissenschaftliche Texte und Präsentationen sind solche künstlerischen, popkulturellen Formate der Auseinandersetzung mit Europa unmittelbar im öffentlichen urbanen und im transnationalen virtuellen Raum präsent. Und anders als wissenschaftliche Imaginationen werden die künstlerisch produzierten Bilder und Sounds sehr viel mehr zur Ressource einer sozialen Imagination im Alltag derer, die sie rezipieren und konsumieren. Das Konzept der sozialen Imagination von Arjun Appadurai macht auf diese kreativen Aneignungsprozesse aufmerksam: Denn medial in Umlauf gebrachte Bilder der kapitalistischen Konsumwelt, der Popkultur, aber auch der mobilen Diaspora tragen heute mehr denn je dazu bei, lokale Wirklichkeiten in Frage zu stellen und Vorstellungen anderer möglicher Leben zu mobilisieren.20 In Berlin gingen wir dieser Frage nach politischen Interventionen aus dem Feld populärer Kulturproduktion am Beispiel des postmigrantischen Theaters am Ballhaus Naunynstraße nach.21 Die Theaterproduktionen des Ballhauses haben weit über Berlin hinaus bis in die etablierte Schauspielszene für größte Aufmerksamkeit gesorgt. Denn in dem Begriff des Postmigrantischen, den die Intendantin Shermin Langhoff(von 2008 bis 2013) in Anlehnung an eine Formulierung des Schriftstellers Feridun Zaimoglu in Umlauf gebracht hat, artikuliert sich eine Wirklichkeit, die sowohl die etablierte bürgerlich-weiße Theaterkultur, als auch die diversen Analysen der Migrationsforschung bislang nicht auf den Punkt gebracht haben: eine Wirklichkeit der europäischen Gesellschaften, die auch noch lange nach der individuellen Ankunft von Migranten in politischer, kultureller und identitärer Bewegung bleiben: Der Begriff des Postmigrantischen soll in die herkömmlichen, rassistischen Stereotype in der Diskussion um ‚Einwanderungsgesellschaft’ versus ‚Mehrheitsgesellschaft’ intervenieren. Gleichzeitig sollen die Perspektiven derjenigen sichtbar gemacht werden, die selbst gar nicht eingewandert sind, die aufgrund ihrer Familiengeschichte oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Community dennoch über kollektives Wissen über Migration und Rassismuserfahrung verfügen. Darüber hinaus steht das Postmigrantische für die Hybridität von Identität jenseits von Herkunft.22
20 Vgl. Appadurai 1996, 5-11. 21 Vgl. den Beitrag von Sharifi in diesem Band. 22 Friedrich 2013, 270.
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Das postmigrantische Theater versteht sich daher nicht als Migrantentheater, sondern als ein zeitgemäßes Format, in dem die zentralen Themen einer insgesamt postmigrantischen Gesellschaft verhandelt werden. Dazu die Forscherin Arun Frontino: Die Erfahrung von Migration ist eine gemeinsame, die alle [...] in der Gegenwart machen, direkt oder indirekt. Mit dieser Tatsache arbeitet das Ballhaus. Es geht darum, Erlebnisse von Ausgrenzung und Stereotypen zu identifizieren und zu dekonstruieren. Die Kritik an einem essentialistischen und reduktionistischen Kulturverständnis wird an Erfahrungen von strukturellem Rassismus und Nationalismus gekoppelt. Dies geht zwar zunächst von der deutschen Theaterlandschaft aus, kann [...] aber auf die ‚europäische’ Gesellschaft übertragen werden.23
Dabei geht es auch um eine Öffnung zur unmittelbaren Nachbarschaft in der Stadt. In der „Kiez-Monatsschau“ können Jugendliche eigene Produktionen in einem Format ihrer Wahl (Film, Theater, Musik) mit technischer Unterstützung durch das Ballhaus Naunynstraße entwickeln und einem größeren Publikum zur Diskussion stellen. Dafür nutzt das Theater finanzielle Mittel der kulturellen Bildung, die ansonsten oft Projekte mit dem üblichen „Nachhilfecharakter“, gerade für junge Migranten und Migrantinnen fördert. Im Ballhaus läuft das Format dagegen unter dem Titel „Akademie der Autodidakten“; es geht um Selbstermächtigung und Sichtbarkeit, nicht um die Aufarbeitung scheinbarer kultureller Defizite. Diese Gelegenheit zur Selbstdarstellung eigener Anliegen nutzten auch unsere Projektpartner von Amaro Foro, einer europaweit vernetzten Initiative junger Roma und Nicht-Roma. In einer der Kiez-Monatsschauen machten sie aufmerksam auf ihren Kampf gegen die lange und gerade jetzt wieder sehr aktuelle Geschichte des antiziganistischen Rassismus in Europa, wie sie sich etwa neuerdings in der Abwehr gegenüber bulgarischen und rumänischen Migrant_Innen artikuliert, die, obwohl sie heute als rechtmäßige EU-Bürger_Innen kommen, in der politischen Praxis auf den Status von unerwünschten „Armutsflüchtlingen“ degradiert werden. Wie die Projektmitarbeiterin Anna Friedrich, die mit Amaro Foro forschte, feststellte, befördert die Arbeit des Vereins die Entstehung von Orten, in denen alternative Formen von Gesellschaft gelebt werden. Zugespitzt ließe sich sagen, dass durch solche Aktivitäten bei Amaro Foro heterotopische Orte geschaffen werden, welche das Erproben postantiziganistischer Praxen ermöglicht. [...] Als ich im April 2011 an einer Teamsitzung von Amaro Foro teilnahm, sprach Ahmed 23 Frontino 2012, o.S.
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scherzhaft davon, dass er Rotationseuropäer sei. Als ich ihn im Interview danach fragte, was dies für ihn beinhalte, antwortete er: ‚Es gibt verschiedene Theorien, was das Wort bedeutet. Einerseits werden damit Leute bezeichnet, die in Wien studieren und in China arbeiten und in Amerika leben. Aber das hat einen wirtschaftlichen Aspekt. Ich beziehe mich darauf, dass ich halt hier in Berlin gelebt habe, in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich, in Slowenien, in Bosnien und in Serbien und da rotiert bin. Das hat eher einen Bezug zu Europa, als zu einem Land. Ich bin dort geboren, ging dort in den Kindergarten und das war es eigentlich auch schon. Aber ich habe auch einen Bezug zu Serbien und zu Bosnien, genauso wie zu Berlin und Österreich und der Schweiz. Das ist ja die Philosophie der EU denke ich mal, dass man auch ein Feeling für andere Länder der EU hat’ (Ahmed, Amaro Foro, Interview vom 8. Juli 2011). Diese Einstellung ist nicht nur eine Absage an ein real existierendes Europa, das sich durch wachsende nationalistische Tendenzen auszeichnet. Man muss sie darüber hinaus auch als eine Umwertung des Begriffs ‚Rotationseuropäer’ verstehen. Denn in vielen Fällen werden damit Rom_nja oder andere Menschen in antiziganistischer Absicht beleidigt. Mit dem Begriff ‚Rotationseuropäer’ wird auf das Klischee des ‚Nomadentums’ und ‚Sozialschmarotzertums’ angespielt, da die Bezeichnung zum Ausdruck bringen soll, dass Menschen von EU-Land zu EU-Land ‚zögen’, um von den jeweiligen Sozialleistungen zu profitieren. Ahmed nimmt diese Bezeichnung in der Form nicht an, sondern deutet sie kurzer Hand im Sinne eines Europas um, in dem es keine Rolle spielt, wo man geboren ist und welchem Nationalstaat man sich zugehörig fühlt. Viel wichtiger ist das Verständnis für verschiedene Orte und die Fähigkeit, ein Gefühl für die jeweiligen politischen und sozialen Kontexte zu entwickeln.24
Wie Begriffe des Postmigrantischen und des Postantiziganistischen eine Aneignung des europäischen Raums der Einwanderung jenseits identitärer Hierarchien versuchen, geht es in einem weiteren Projekt, mit dem wir uns beschäftigten, um die Umdeutung und Aneignung kolonial besetzter Räume in der Stadt – und damit auch um die Sichtbarmachung der historischen Verflechtungen Berlins mit dem europäischen Kolonialprojekt und seinen „Anderen“. 25 Die Auseinandersetzung fokussiert auf eine Umbenennung von Straßen, die heute, etwa im so genannten „Afrikanischen Viertel“ rund um die Afrikanische Straße im Berliner Wedding, an ehemalige deutsche Kolonien und auch an die Namen deutscher Kolonialherren erinnern – was in scharfem Gegensatz steht zu einer unsichtbar gemachten Präsenz schwarzer Deutscher und afrikanischer Migrant_Innen in Berlin. Das Forschungsteam Maria Hoffmann und Pantelis Pavlakidis betont die Gegenwart des Kolonialismus in aktuellen städtischen Konflikten:
24 Friedrich 2013, 269-271. 25 Vgl. Aikins 2012.
26 | REGINA R ÖMHILD So kann das Afrikanische Viertel mit seinen kolonialen Bezügen keinesfalls als bloßes Überbleibsel kolonialpolitischer Bestrebungen des Deutschen Kaiserreiches und des nationalsozialistischen Regimes verstanden werden. Vielmehr verweist die Beflaggung in den Kleingartenanlagen Rehberge e.V. und Dauerkolonie Togo e.V. auf eine bewusste Inszenierung historischer Symbole, die in ihrer politischen Aussage in soziale Praktiken übersetzt werden. [...] Die deutsche Kolonialvergangenheit, die sich als eine Geschichte des Auslassens und des Ver/Schweigens (Conrad/Randeria 2013, 54) erzählen lässt, hat nicht nur bei den Kolonialisierten immense Veränderungen hinterlassen, die bis zum heutigen Tag fortwirken und reproduziert werden. Es gibt zahlreiche Beispiele, die von den vielfältigen Verstrickungen, Verwebungen und Verflechtungen der geteilten – also getrennten und gemeinsamen – Geschichte Europas und ihres nicht-europäischen Gegenübers erzählen. [...] Dass dies meistens nicht in harmonischem Multikulti endet, sondern in aufgeladenen politischen Auseinandersetzungen, zeigen die Debatten um die Umbenennung des alten Gröbenufers in Berlin Kreuzberg (vgl. Bauche 2010), der erbitterte Streit mit dem Bayrischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst in München um Rückgabeforderungen der Kameruner Königsinsignien oder die heftigen Auseinandersetzungen um die sogenannten ‚Afrika-Tage’ in deutschen Zoos, wie in Augsburg, Eberswalde und Berlin, die erschreckend an die rassistischen Kolonialausstellungen von schwarzen Menschen erinnern.26
Im Fall des ehemaligen Gröbenufers in Kreuzberg waren die Kämpfe um eine Umbenennung ausnahmsweise erfolgreich. Die Straße war symbolisch von Otto Friedrich von der Gröben besetzt, der Ende des 17. Jahrhunderts im Auftrag des brandenburgischen Kurfürsten eine koloniale Festung im heutigen Ghana errichtete, um von dort aus Sklavenhandel zu betreiben. Heute trägt sie den Namen der Berliner Dichterin und antirassistischen Aktivistin May Ayim – und appelliert damit an eine postkoloniale Gegenwart. In vielen dieser Projekte geht es darum, über Kritik hinaus durch Behauptung eine andere Realität zu konstruieren. Ganz explizit geschieht dies auch in der von Michael Kurzwelly ins Leben gerufenen Stadt Słubfurt, die heute schon das polnische Słubice und das deutsche Frankfurt über die Oder hinweg zu einer transnationalen Metropole vereint. Mit Słubfurt, so ist in einer Projektbeschreibung zu lesen, behauptet der Initiator eine Stadt, „die es in Frankfurt und Słubice de facto nicht gibt – und schafft mit künstlerischen Mitteln Fakten. Er organisiert über Jahre hinweg Eingriffe in den öffentlichen Raum und bezieht dabei möglichst viele Institutionen und Bewohner der Grenzstädte ein.“27 Weiter schreibt die Forscherin Bianca Ludewig zu diesem Projekt: 26 Hoffmann/Pavlakidis 2011, o.S. 27 Ludewig 2012, o.S.
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Kurzwelly nimmt seit 2004 auch einen Lehrauftrag an der Europa-Universität Viadrina wahr, durch den er das Projekt Słubfurt, ‚an der Grenze zweier Länder, die es nicht gibt’, vorantreibt. Die von ihm entwickelte Strategie, Räume neu zu interpretieren und in sie hinein zu intervenieren, nennt er Wirklichkeitskonstruktionen. Im Netzwerk Arttrans, dessen Mitbegründer er ist, sollen neue Strategien von räumlichen Wirklichkeitskonstruktionen erdacht und erprobt werden. Die Stadt setzt sich zusammen aus den beiden Stadtteilen Słub und Furt, die rechts und links der Oder liegen. In Słubfurt herrscht ein besonderes Mikroklima im Dazwischen der Kulturen - hier wird polnisch, deutsch, englisch und natürlich Słubfurtisch gesprochen.28
Słubfurt ist zugleich die Hauptstadt von Nowa Amerika, einer Region, die an ein Siedlungsprojekt anknüpft, mit dem Friedrich der Große versuchte, auswanderungswillige Untertanen zum Bleiben zu bewegen. Die Region zwischen Oder und Neiße, rund um Kostyczyn, sollte unter dem Namen Neu Amerika und mit Dörfern wie Pennsylvania, Neu York oder auch Malta die Imagination der Auswanderung beflügeln und für das Abenteuer eines Neubeginns ganz in der Nähe produktiv machen. Heute lädt Nowa Amerika zu neuen Entdeckungen im Rahmen der eigens organsierten Nowa Amerika Tours ein: Nowa Amerika ... besteht aus grenznahen deutsch-polnischen ‚Vereinigten Staaten’ mit eigenen Problemen, Bedürfnissen und Chancen; ein neu entdecktes Land, das nicht trennt, sondern verbindet; eine Föderation, die sich aus 4 grenzüberschreitenden Teilstaaten zusammensetzt: Szczettinstan, Terra Incognita, Lebuser Ziemia und Schlonsk. [...] Nowa Amerika hat bereits eine Karte, einen Reiseführer, sogar eine Fahne, aber definitiv keine Grenze.29
Słubfurt und Nowa Amerika sind behauptete kosmopolitische Räume, die sich sowohl dem heutigen europäischen Kolonialismus zwischen „West“ und „Ost“ widersetzen, als auch dem kapitalistischen Diktat, den Post/Sozialismus zu „entinnern“.30 Wie in der folgenden Aussage eines Nowa Amerika-Reisenden erkennbar, werden dabei auch Erfahrungen eines anderen europäischen Raums möglich: Ich habe dann versucht, den Leuten zuhause klar zu machen, dass es mit den Himmelsrichtungen so auch nicht funktioniert, wenn nach Ostdeutschland gleich Westpolen 28 Ludewig 2012, o.S. 29 www.web.archive.org/web/20150530023632nowa-amerika.net/index.php/de/homepage/ ziele (letzter Zugriff: 01.12.2019). 30 Vgl. Ludewig 2012.
28 | REGINA R ÖMHILD kommt, dann stimmt da was nicht. Ich hab z.B. am Telefon öfter gesagt: ich fahre jetzt noch in den Westen, da wurde dann erwidert, das sei ja weit. Ich musste dann immer aufklären, dass ich nach Westpolen fahre, denn so sehe ich das. Wenn man von polnischer Seite ein Foto von Deutsch-Görlitz macht, dann wird einem klar, dass man von Westpolen aus gerade Ostdeutschland fotografiert.31
W IDERSTAND UND V ERWERTUNG Solche politischen Projekte und die Räume der kritischen Kunst- und Kulturproduktion werden zu urbanen Zentren der Sichtbarmachung und der Imagination anderer Europas; aber zugleich sind sie, und hier vor allem die Kunstszene, auch Gegenstand und Ressource urbanen Marketings und EU-europäischer Identitätspolitiken. Kunst und Kultur – gerade auch in ihren widerständigen Formaten – spielen eine große Rolle in der europäischen Kulturpolitik, die dem Prinzip der kulturellen Vielfalt verpflichtet ist, aus der jedoch zugleich die Einheit Europas erwachsen soll. Die Intendantin des Ballhauses, Shermin Langhoff, wurde Anfang 2011 mit einem der renommiertesten europäischen Kulturpreise – dem Kairos-Preis – ausgezeichnet. Nachdem sie vom Ballhaus Naunynstraße weg- zur Ko-Intendantin der Wiener Festwochen 2014 berufen worden war, übernahm sie stattdessen die Intendanz des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Am Ballhaus Naunynstraße war Nurkan Erpulats Stück Verrücktes Blut in der Spielzeit 2011 wochenlang ausverkauft, nachdem der Spiegel es zum „Überraschungserfolg der Theatersaison“ erklärt hatte.32 Nicht nur in Berlin werden subkulturelle Orte und Akteure zur Referenz einer durch Kunst vermittelten europäischen Selbstreflexion und gleichzeitig zu Zugpferden eines neoliberalen Imagineerings und Umbaus der Stadt gemacht. Dass noch die prekärste Kleingalerie gegen ihren Willen zur Gentrifizierung ganzer Stadtteile beiträgt, ist ein in Wissenschaft und Öffentlichkeit viel debattiertes Phänomen. Das „arme, aber sexy“ Berlin 33 kann dabei als Vorreiterin einer Entwicklung gelten, in der Prekarität, wie ökonomisches
31 Zit. nach Ludewig 2012, o.S. 32 Höbel 2010, 184. 33 Diese seither viel zitierte Wendung benutzte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit erstmals im November 2003 in einem Interview des Magazins Focus Money (vgl. www.focus.de/finanzen/boerse/aktien/money-talk-lassen-sie-uns-ueber-geldreden-_aid_249988.html; letzter Zugriff: 01.12.2019).
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Scheitern und Krise, zu Ressourcen für die „Creative City“ (Richard Florida) umgedeutet und kapitalisiert werden.34 Gerade diese für künstlerische Praxis typischen Erfahrungen zwischen Prekarität, Widerständigkeit und Verwertung tragen jedoch auch dazu bei, dass hier oft radikalere Fragen gestellt werden und die eigene Praxis weit stärker politisiert ist als in der universitären Arbeitswelt. So zeigte sich in unserer Beschäftigung mit den politischen Bewegungen, die sich mit der neuen prekarisierten Bildungslandschaft in Europa nach dem Bolognaprozess auseinandersetzen, dass die Zentren dieser Bewegung – und generell auch die politische und intellektuelle Auseinandersetzung mit sozialer Prekarisierung – vor allem in den Kunsträumen und ihrem Umfeld zu finden sind, während der Protest an den Universitäten allenfalls punktuell aufflammte. In der kritischen Kunst- und Kulturproduktion werden Überschneidungen zwischen „Prekariat“ und „Kognitariat“ zum Ausgangspunkt für die Frage nach politischen Handlungsmöglichkeiten in und durch Prozesse der Prekarisierung.35 Dabei entstehen, so die Forscherin Rika Spiekermann in ihrer Auseinandersetzung mit diesem Feld, „parasitäre Suchräume“, die sich die Strukturen des Bildungssystems zunutze machen, um sie gleichzeitig mit dissidenten Praktiken zu unterwandern. Ein Beispiel ist die FakultaetNull als Projekt einer „kollektiven Denkschaft“: „Wir denken, dass Bildung nicht durch modulare Studienpläne reglementiert sein sollte, sondern frei und wählbar sein muss. Alle, die sich in diesem Modus Wissen aneignen, werden automatisch zu Studierenden der FakultaetNull.“ 36
M ETHODOLOGISCHE ANNÄHERUNGEN In Projekten einer politisch situierten Kulturproduktion sind die Übergänge zwischen Kritik, Imagination und einer mobilisierenden Praxis fließend. Oft sind diese Projekte in der Welt der sozialen Akteure, die sie adressieren, unmittelbar verortet; sie betreiben hier ihrerseits Forschung, die zugleich Teil der künstlerisch-politischen Praxis wird. Diese methodologische Praxis ähnelt einer kritischen, reflexiven Ethnografie: Sie geht mit einem verstärkten Interesse der Kulturproduzent_Innen an den lokal wirksamen globalen Machtverhältnissen einher, in denen sie selbst situiert sind. Die von Okwui Enwezor kuratierte documenta 11 im Jahr 2002 setzte dafür ein weit ausstrahlendes, paradigmatisches Signal.
34 Vgl. Färber 2010 sowie den Beitrag von Ehrlich im vorliegenden Band. 35 Vgl. Lorey 2010 u. von Osten 2010. 36 www.fakultaetnull.org (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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Erstmals intervenierten postkoloniale Positionen von dieser höchst repräsentativen Plattform aus in die westlichen Genealogien der Kunstgeschichte und deren anhaltende kolonialisierende Macht. Auch Projekte, die „Andere Europas“ thematisieren, können dieser Praxis zugeordnet werden: Sie gehen einerseits von den vielschichtigen Herrschaftsverhältnissen in Europa aus, untersuchen und kritisieren diese, um dann aber gleichzeitig darüber hinaus zu weisen, indem sie diesen Verhältnissen eine Imagination anderer Geschichten, Räume und Akteure, anderer Möglichkeiten, abringen. Es handelt sich deshalb hier nicht um ein Spiel ohne Grenzen, sondern eher um ein imaginäres, aber zugleich an konkreten Erfahrungen orientiertes Experimentieren mit den Grenzen Europas. Die Visionen, die hier verhandelt werden, sind nicht utopisch – im Sinne universalisierbarer Gegenentwürfe –, sondern heterotopisch, im Sinne der von Foucault so benannten „Anderen Räume“, die in der Gesellschaft existieren und zugleich als ihr „Widerlager“ darüber hinausweisen.37 Arjun Appadurai hat erst kritisch anmerkt, dass wissenschaftliche Forschung fast ausschließlich mit der retrospektiven Analyse des Status quo beschäftigt sei.38Ihr entgingen also die Formen kultureller Imagination und Aspiration, die praktizierten Hoffnungen auf eine andere Zukunft, die im gesellschaftlichen Alltag und für das Denken und Handeln der Akteure eine „kulturelle Tatsache“ darstellten. Appadurai fordert deshalb, dass wir als Forscher_Innen unsere Forschungsimagination, unser Forschungsdesign sehr viel mehr an den sozialen Imaginationen der Akteure ausrichten und an den Räumen, die hier entworfen und produziert werden.39 Für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Europaforschung enthält dies die Aufforderung, nicht von einer scheinbar gegebenen politischen und kulturellen Einheit und ihren Grenzen auszugehen, sondern diese hegemoniale Figur aus der Perspektive anderer Akteure und ihrer Raumaneignungen neu zu betrachten – und so auch zu dezentrieren. Gerade mit Blick auf das heutige, sich formierende EU-Europa lassen sich so andere europäische Landschaften entdecken – etwa in den Bewegungen der Migration, die Westeuropa auf neue Weise mit den Räumen seiner kolonialen, imperialen Verflechtungsgeschichte verbinden. 40 Diese Bewegungen und die grenzüberschreitenden sozialen Landschaften, die sie kreieren, fordern Europa in seinen identitären und geopolitischen Grenzziehungen heraus. Und gerade deshalb sind sie zentral be-
37 Vgl. Foucault 1991. 38 Vgl. Appadurai 2013. 39 Vgl. Appadurai 2001. 40 Vgl. Römhild 2010 u. Randeria/Römhild 2013.
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teiligt an der Herstellung der heutigen politischen und kulturellen Baustelle Europa. Aber auch im sozialwissenschaftlichen, insbesondere im ethnologischen Diskurs wird durchaus über neue Formen der Kollaboration nachgedacht, die über die klassischen ethnografischen Formate und die Grenzen der akademischen Wissensproduktion hinaus reichen. Douglas Holmes und George Marcus haben für die ethnografische Praxis der Kulturanthropologie postuliert, dass sich das Konzept der Feldforschung und der ihr anhaftende autoritäre Gestus, den Alltag der Anderen zu erforschen und zu repräsentieren, wandeln muss, da wir heute weltweit auf Akteure treffen, die ihrerseits über die Bedingungen ihrer Praxis reflektieren, die eigene „Para-Ethnografien“ ihrer Wirklichkeit entwerfen.41 Forschung trifft also auf reflexive Felder und Akteure, die sie in ihrem Selbstverständnis herausfordern. Die Rollen von Forschenden und Erforschten verwandeln sich in die von „epistemischen Partnern“, d.h. wir forschen nicht mehr über, sondern mit anderen zu Fragestellungen von gemeinsamem Interesse.42 Dazu gehört nicht nur, dass wir künstlerische und politische Imaginationsarbeit als eine Form der Wissensproduktion anerkennen, sondern auch, dass wir diese Wissensdomänen mehr als bisher in gemeinsamen, kollaborativen Forschungsinteressen zu verbinden und auch zu verbünden suchen. Die Perspektive kollaborativer Forschung dürfte demnach nicht nur für Projekte der Kunst- und Kulturproduktion gelten, sondern auch für den sich damit überschneidenden politischen Aktivismus. In der laufenden Debatte ist gerade dies jedoch eine nach wie vor hoch umstrittene Grenze, deren Überschreitung häufig entlang moderner Kategorien der (Nicht-)Wissensproduktion kritisiert wird: insbesondere mit Blick auf eine erneut in Anschlag gebrachte, jedoch aus dekonstruktivistisch informierter Perspektive allenfalls scheinbare „Objektivität“ wissenschaftlicher Forschung. Im Projekt „Andere Europas“ haben wir mit kollaborativen Formen gemeinsamer Reflexion und Aktion an den Schnittstellen von Kunst, Politik und Ethnografie experimentiert. Besonders erkenntnisreich und produktiv erwies sich dabei die Möglichkeit, die Verhältnisse zwischen den einzelnen Projekten und Feldern auszuloten und eine Auseinandersetzung mit den benachbarten „Anderen“ anzuregen, die zum Teil explizit, oft aber auch nur implizit im Raum steht. Denn die künstlerisch-politischen Projekte, mit denen wir arbeiten, dezentrieren Europa von jeweils spezifischen Erfahrungsräumen aus, in denen sie situiert sind. Dabei erzeugen sie zwangsläufig auch Auslassungen, die ihrerseits zur Unsichtbarmachung oder auch zur Kolonisierung anderer Erfahrungen und anderen Wis41 Vgl. Holmes/Marcus 2008. 42 Vgl. Lassiter 2008.
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sens beitragen können. Welches umfassendere Bild eines dezentrierten Europas könnte entstehen, wenn es gelänge, diese Perspektiven stärker aufeinander zu beziehen, sie mehr zueinander sprechen zu lassen? Wie aber lassen sich die unterschiedlichen, in den Metropolen zusammentreffenden „Posts“ des Postkolonialen, Postmigrantischen, Postsozialistischen für Kollaborationen aus der Perspektive eines gemeinsamen „ehemaligen Anderen“ produktiv machen, ohne ihre jeweils spezifischen Erfahrungen und Kritiken zu leugnen?43 Auf dem Berliner Kongress zum Staat der Neuen Slowenischen Kunst gab es einen in dieser Hinsicht aufschlussreichen Moment. Die Diskussionen mit den anwesenden Bürger_Innen drehten sich viel um die Frage, ob ihr Staat noch ein Kunstprojekt in der Regie von NSK sei bzw. bleiben solle oder aber sich längst schon in ein politisches Projekt verwandelt habe bzw. verwandeln müsse. Dabei spielte ein Phänomen eine wichtige Rolle: dass zeitweise nämlich die Nachfrage nach einem Pass des NSK-Staats in Nigeria außergewöhnlich hoch war. Wie die Kuratorin Loren Hansi Momodu berichtete, wurde dieses Interesse initiiert von Künstlern im Umfeld des Centre for Contemporary Arts in Lagos, zog aber bald weitere Kreise außerhalb des Kunstraums. NSK wurde überrascht von dieser Entwicklung, die sich als eine künstlerische Intervention, aber auch als eine migrantische Aneignung ihres Projekts aus dem postkolonialen Raum verstehen lässt. Die Begegnung mit diesem anderen, zuvor so nicht einkalkulierten Interesse trägt dazu bei, dass sich NSK und Irwin, wie auch die NSK-Staatsbürger mit ihrer vom Osten inspirierten Re-Imagination Europas aus einer globalen, postkolonialen Perspektive neu auseinandersetzen. Eine Forschung, die ihren Gegenstand – Europa – als Teil und auch als Produkt einer postkolonialen, multipolaren Welt neu betrachten will, ist auf solche Dialoge und Annäherungen zwischen den reflexiven Kritiken unterschiedlicher Ränder Europas angewiesen. Dazu gehört, die Partikularität situierter Perspektiven zu erkennen und anzuerkennen, sie aber auch darüber hinaus zusammenzuführen: im Sinne einer epistemischen Partnerschaft mit und zwischen den Imaginationen „Anderer Europas“.
43 Vgl. Ndikung/Römhild 2013.
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Der NSK-Staat Das kosmopolitische Performanz-Konzept der Neuen Slowenischen Kunst M ARCUS S TIGLEGGER
The NSK State is a global State which denies the principles of (limited) territory and national borders. (K. GATES, NSK HONORARY CONSUL TO THE US, 1995)
Der NSK-Staat: ein Staat in der Zeit. Ein Staat ohne Territorium. Im Jahre 1992 gründete das Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst einen eigenen Staat. Sie gaben Reisepässe aus, die offiziellen Dokumenten täuschend ähneln, gründeten weltweit Botschaften und Konsulate in mehreren Städten. Man entwarf Briefmarken und erklärte das Laibach-Stück „The Great Seal“ zur Nationalhymne des NSK-Staates. Der eingesprochene Text basiert auf Winston Churchills berühmter Durchhalterede „We shall fight them on the Beaches“ und endet in der Forderung „We shall never surrender“.
Abb. 1: NSK Logo
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Jeder Mensch weltweit kann Mitbürgerschaft im NSK-Staat beantragen. Für ca. 25 USD und ein Passbild kann man das Dokument bei einer der internationalen Botschaften oder im Internet beantragen. Die primäre Quelle ist heute das ‚World Trade Center‘ im Internet. Die enorme Ähnlichkeit des NSK-Passes mit offiziellen Reisedokumenten führte immer wieder zu Problemen bei Polizeikontrollen (etwa in Bayern), wo dem NSK-Bürger Nutzung gefälschter Dokumente vorgeworfen wurde. Zudem führte das Missverständnis, den NSK-Staat gäbe es tatsächlich und man könne mit dem Pass nach Europa reisen, zu dem fatalen Umstand, dass zahlreiche Bewohner aus Nigeria und Ägypten die Mitgliedschaft beantragten in der Hoffnung, nach Europa emigrieren zu können. 1 Im Oktober 2010 fand schließlich der erste NSK-Citizen-Congress in Berlin statt, der zu einer Neukonstitution dieses europäisch initiierten und weltweit präsenten Kunstprojekts führte. In dieser Neukonstitution gaben die ursprünglichen Gründer, u.a. Mitglieder der international erfolgreichen Musikgruppe Laibach, die nominelle Leitung des NSK-Staates endgültig an ein neues Team ab, zu dem u.a. der NSK-Theoretiker Alexei Monroe und der deutsche Journalist Alexander Nym gehören.2
D IE ANFÄNGE : NSK
IN
L JUBLIANA
Das Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst, kurz NSK, entstammt der slowenischen Punkszene der späten 1970er Jahre.3 In autonomen Gemeinschaften lebte man zusammen, diskutierte neue Strategien des kulturellen Widerstands gegen den herrschenden Totalitarismus unter Tito und bezog sich mitunter auf die Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges, unter der die slowenische Bevölkerung zu leiden hatte. So ist nicht nur der Name des Kollektivs deutsch, sondern auch die primäre Aktionsgruppe in der Anfangszeit: die Industrial-Rockband Laibach wurde nach dem deutschen Namen von Ljubliana unter der Nazi-Okkupation benannt. Neben den vier Gründungsmitgliedern der Band Laibach bewegte sich auch der heute weltbekannte Kulturphilosoph Slavoj Žižek in diesem Umfeld. In späteren Schriften bezog er sich immer wieder auf Laibach und die NSK, kommentierte deren Kunst und nutzte ihre Aktionen aus Ausgangspunkt eigener Thesen. 4 Ivan Novak, Gründungsmitglied von Laibach,
1
Vgl. Inke Arns in Monroe (Hg.) 2011.
2
Vgl. Monroe 2011, 10f.
3
Vgl. Barber-Kersovan 2005.
4
Vgl. Žižek in Monroe 2005.
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betonte in einem persönlichen Gespräch (26.12.2010, Würzburg): „It is not clear wether Žižek influenced Laibach or Laibach influenced Žižek.“ Nachdem Laibach einige subversive Plakat- und Konzertaktionen absolviert hatte, die sie zu staatlich geahndeten ‚public enemies‘ machte, gründete man die NSK 1984 in der Stadt Trbovlje – noch zur Zeit der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Um die eigene Position zu stärken, die man als Retroavantgarde (oder später ‚Retrogarde‘) bezeichnete, schlossen sich die Band Laibach, das Malerkollektiv IRWIN, die Theatergruppe Scipion Nasice (heute: Noordung), die Grafiker des Neuen Kollektivismus Studios und die sog. Abteilung für reine und angewandte Philosophie zu einem Netzwerk zusammen. „Each of the groups works according to its internal logic, its rules and principles of work, whereas they are connected by a certain contextual and formal aspect, and this aspect is what forms NSK.” So steht es im First NSK Bulletin.5 Grundprinzip der NSK-Künstler ist der Kollektivismus. Dabei erscheinen auf Musikalben stets die Band Laibach, nicht aber die einzelnen Musiker als Urheber. Die Bildende Kunst von IRWIN wird mit einem Kollektiv-Stempel signiert. In einer radikalen Demonstration dieser Idee ließ man die Band Laibach in zwei unterschiedlichen Besetzung parallel touren. Die Herrschaft des ‚Originals‘ wird in der NSK als beendet betrachtet. Früh spielten Zitat, Pastiche und Neuinterpretation in der NSK die wesentliche Rolle, wobei man sich an der Kunst von Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp, John Heartfield, Joseph Beuys, Andy Warhol, Nam Jun Paik und Anselm Kiefer orientierte. Inspiriert durch den selbst erlebten Totalitarismus des realen Sozialismus begann die NSK, sich intensiv mit nationalistischen Diktaturen und deren Ästhetik auseinander zu setzen. Dabei wurden die Bildwelten linker und rechter Bewegungen neu kombiniert, die Symbole ausgetauscht und die latenten Ähnlichkeiten und Bezüge linker und rechter Diktaturen betont. Das vermeintlich konträre erscheint als gleich: 1987 entwarf IRWIN ein Plakat zum „Jugoslawischen Tag der Jugend“, das einen nationalen Wettbewerb gewann. Bei der Preisverleihung präsentierte man das Original, auf dem das Plakat basierte: ein Gemälde des Nazikünstlers Richard Klein. Die Hakenkreuzflagge hatte man durch die jugoslawische Fahne ersetzt, aus dem Reichsadler wurde eine Friedenstaube.
5
First NSK Bulletin, Ljubljana 1994, 1.
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D IE ,R OCKBAND ‘: L AIBACH Der bis heute weltweit einflussreichste kreative Arm der NSK ist die Band Laibach, die seit Mitte der 1980er Jahre bei dem britischen Label Mute unter Vertrag ist, das u.a. Depeche Mode, Nick Cave, Moby und Diamanda Galas vertritt. Dabei ist anzumerken, dass sowohl Laibach als auch Daniel Millers MuteLabel um 1980 im Kontext der experimentellen Industrial Culture begannen und sich erst langsam in Richtung des Musikmainstreams bewegten. Laibach verstand sich als Multi-Media-Kollektiv, das Konzerte, Ausstellungen und Installationen in Ljublijana, der damaligen Hauptstadt Sloweniens, veranstaltete. Erst mit dem Zusammenschluss zur NSK verlegte man die Aktivitäten ganz auf die Musik. Dabei ist diese musikalische Arbeit kollektiv und performativ geblieben: Wie alle NSK-Formationen agiert Laibach kollektiv und totalitär: „Laibach works as a team (the collective spirit), according to the principle of industrial production and totalitarianism, which means that the individual does not speak: the organisation does. Our work is industrial, our language political.”6 Lange galten die Mitglieder von Laibach als anonym. Aus Interviews sind heute die tatsächlichen Namen bekannt: Ivan Novak, Dejan Knez, Milan Fras, der charismatische Sänger, und Ervin Markosek. Auf den ersten Aktionen war Tomaz Hostnik als fünftes Mitglied und Agitator präsent, er nahm sich jedoch nach einer Show in Zagreb 1982 das Leben. Von Beginn an wurden die Live-Aktionen von Laibach als faschistisch gewertet, obwohl sie sich durchweg einer Mischung sozialistischer, nationalsozialistischer und kapitalistischer Elemente bedienten. Ein frühes Stück namens „Drzava“ (the State) kann als programmatisch betrachtet werden: The State is responsible for / protecting/ raising and exploiting the forests. / The State is responsible for / the people's physical education particularly youths' / in order to raise standards of national health / national working / and defence capability. / It is behaving ever more indulgently / all freedom is allowed. / Authority / here belongs to / the people.7
Ein solches slowenisch vorgetragenes Lied reflektierte die slowenische Erfahrung mit nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur, wurde aber außerhalb Osteuropas eher mit Unverständnis und Befremden wahrgenommen. Mit ihren Veröffentlichungen auf westlichen Labels änderten die Musiker von Laibach ihre Strategie und widmeten sich eher grundsätzlich dem totalitaristi-
6
Item 1, Ten Items of the Covenant, Laibach, 1983.
7
Laibach, “Drzava” (1983), Cherry Red Records 1988.
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schen Potential von Popkultur. Sie arrangierten Coverversionen berühmter Pophits wie Queens „One Vision“, Opus’ „Life is Life“, Rolling Stones‘ „Sympathy for the Devil“ oder Europes „The Final Countdown“ in einem spezifischen Stil: mit Wagnerianischem Bombast, martialischen Pathos, roh gegrollten Vocals und u.a. in deutscher Übersetzung. „Life is Life“ wurde in dieser Präsentation zu einer seminationalistischen Motivationshymne: „When we all give the power / we all give the best / every minute of the hour / we don't think about the rest. / and we all give the power / we all give the best / when everyone gives everything / then everyone everything will get / Life is life!“ 8 Im Innencover dieses ebenfalls „Opus Dei“ betitelten Album fand sich auch ein weiteres Ambivalenz-Symbol, John Heartfields aus vier Äxten konstruiertes Hakenkreuz, das explizit einem Anti-Nazi-Kontext entstammt. Dieses Axtkreuz ist auch Teil des offiziellen NSK-Logos. Derartige Ambivalenzmechanismen wurden der kreative Motor von Laibach-Kunst bis heute. 2003 ließen sich Laibach in schwarzen und grauen SS-Uniformen fotografieren – als Werbekampagne für ihr Album „W.A.T.“. Laibach erregten durch die Verwendung dieser tabubelasteten Ikonografie erneut Aufmerksamkeit und zielten auf eine ambivalente politische Auseinandersetzung ab. Man könnte ihre Methode durchaus dekonstruktivistisch begreifen: Indem sie die Symbole und Fetische aus ihren ursprünglichen Kontexten reißen und selbst neu codieren, ermöglichen sie einen freien und neuen Blick auf diese Phänomene. Diese performative Kulturtechnik ist also aufklärerisch zu verstehen und verdeutlicht einmal mehr das Konzept der „Retrogarde“, einer Arbeitsmethode, die mittels eines ‚emphatischen Eklektizismus’ auf die Texte (Zeichen, Bilder, Symbole und Formen der Rhetorik) zurückgreift, die retrospektiv zu Erkennungszeichen bestimmter künstlerischer, politischer, religiöser oder technologischer ‚Erlösungsutopien’ der 20. Jahrhunderts geworden sind.9
In der Neukombination bekannter Zeichen sollen die dahinterliegenden Ebenen bewusst gemacht werden. Nur in der Über-Identifizierung mit der ‚verdeckten Kehrseite’ einer Ideologie kann – mit Slavoj Zizek gedacht – Kritik möglich werden, denn ideologische Diskurse denken in ihrem Zynismus heute mögliche Kritik stets mit: „Die Ideologie ‚glaubt’ ihren eigenen Aussagen nicht mehr, sie hat eine zynische Distanz zu den eigenen moralischen Prämissen eingenommen.“10 Daher ist Ironie als Kritik wirkungslos. Erst in der Über-Identifizierung 8
Laibach, „Opus Dei“, LP Mute 1987.
9
Arns 2002, 164.
10 Arns 2002, 166.
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offenbaren sich die Abgründe der Ideologie, denn nun ist die Distanzierung unmöglich. Laibach nimmt sich impliziter ideologischer Prämissen an und bringt diese in der Performanz zum Vorschein. Erst durch diese Provokation wird das Publikum immer neu zu einer Positionierung und Hinterfragung der eigenen Position aufgefordert. Eine besondere Rolle im Rahmen der künstlerischen Strategie der NSK – und somit auch von Laibach – kommt hier dem kalkulierten Tabubruch zu. Oft ist ein solcher Tabubruch der Schlüsselmoment der NSK-Inszenierung, oft zwingt dieser den Rezipienten, sich mit einem gesellschaftlich und kulturell verankerten Tabu auseinander zu setzen. Die Übertragung des ethnologischen Begriffes Tabu auf die Neurosen der westlichen Gesellschaft geht auf Sigmund Freud zurück, der in Totem und Tabu (1913) vier Punkte der Gemeinsamkeit nennt: 1. In der Unmotiviertheit der Gebote, 2. in ihrer Befestigung durch eine innere Nötigung, 3. in ihrer Verschiebbarkeit und in der Ansteckungsgefahr durch das Verbotene, 4. in der Verursachung von zeremoniösen Handlungen, Geboten, die von den Verboten ausgehen.
11
Diese Tabudefinition erscheint zunächst etwas sperrig, da sie primär den pathologischen Zwangscharakter beschreibt. Das Tabu hat oder braucht keine rationale Begründung („Unmotiviertheit“), es ist somit in gewisser Weise willkürlich. Betrachtet man sich Tabus der westlichen Industriegesellschaft, so haftet diesen dagegen meist eine bestimmt rationale Erklärung an, die als Begründung für die „innere Nötigung“, das Tabu zu achten, herhalten muss. Ehebruch ist z.B. vor allem in Gesellschaften ein Tabu, deren Integrität vordergründig auf der Institution einer funktionierenden Ehe aufbaut. Die ‚Fehlhandlung’ des Ehebruchs unterläuft dann die auf dieser Integrität basierende Machtstruktur und stellt sie in Frage. Die spezielle Ausprägung dieser Machtstruktur lässt sich auf eine bestimmte, rational nachvollziehbare Basis zurückführen, ist aber letztlich willkürlich. Ebenso könnte die Macht auf einem anderen Modell basieren. An diesem Aspekt ist Laibach interessiert: Die Macht zu dekonstruieren, die Willkürlichkeit ihrer Tabus zu entlarven und somit ihre eigenen Mittel gegen sie zu richten, denn im Bruch des Tabus liegt zugleich der Reiz: die Überschreitung der Tabugrenze zu begehren, um das verbotene ‚Andere’ zu erlangen. Mit der Änderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen kann sich die spezielle Ausprägung von Tabus „verschieben“. Deutlich wird immer wieder die „Ansteckung“ durch das Tabu bzw. den Tabubruch: Wer das Tabu bricht, wird selbst zur tabuisierten Per11 Freud 1956, 36.
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son/Gruppe. Solche Mechanismen greifen in der westlichen Gesellschaft vor allem an der Schnittstelle von Politik und Moral. Wer als Journalist oder Künstler ein zeitgenössisches Tabu bricht – wie etwa Laibach im Rahmen ihrer Strategie –, wird umgehend selbst zum Tabu, und es besteht die Gefahr, in der Auseinandersetzung mit der tabuisierten Person selbst „angesteckt“ werden. Hier zeigen sich auch Aspekte von Freuds 4. Punkt: Es haben sich gesellschaftliche Rituale und Verhaltensweisen etabliert („Gebote“), wie mit einer bestimmten Thematik zu verfahren ist. Der verführerische Aspekt des Tabu-Modells, auf den Laibach spekulieren, wird in einem späteren Satz von Freud deutlich: Der Mensch, der ein Tabu übertreten hat, wird selbst tabu, weil er die gefährliche Eignung hat, andere zu versuchen, dass sie seinem Beispiel folgen. Er erweckt Neid; warum sollte ihm gestattet sein, was anderen verboten ist? Er ist also wirklich ansteckend, insofern jedes Beispiel zur Nachahmung ansteckt, und darum muß er selbst gemieden werden.
12
Dieser Punkt ist für die Kunst an sich sehr wichtig, erklärt er doch, dass ein Kunstwerk bzw. eine Aufführung in konkreter Weise als „Beispiel“, also Vorbild empfunden wird und somit als „Versuchung“ wirken kann. Interessant bleibt an diesem Aspekt, dass dem tabubrechenden Medium explizit seduktive Qualitäten zugestanden werden: der Tabubruch, die Grenzüberschreitung selbst ist verführerisch. Und das Bewusstwerden dieser Verführungskraft, das den Rezipienten in eine Krise stürzen soll, gehört zur Strategie der NSK-Projekte.
D AS M ALERKOLLEKTIV : IRWIN IRWIN nimmt seinen Ursprung in der Graffiti-Szene von Ljubljana im Jahre 1983. Die Künstler Dušan Mandič, Miran Mohar, Andrej Savski, Roman Uranjek und Borut Vogelnik schlossen sich zusammen und bildeten das Kollektiv Rrose Irwin Sélavy. Dieser Name ist abgeleitet von dem weiblichen Pseudonym “Rrose Sélavy” („eros c’est la vie“), das Marcel Duchamp gelegentlich benutzt hatte. In der späteren Variante taucht der Namen gekürzte als R IRWIN S auf. 1984 ging das Kollektiv dann in der übergeordneten NSK auf. Die Kunst von IRWIN basiert auf drei Prinzipien: 1. Ein Künstler sollte seine eigene Position aus den spezifischen Umständen schaffen, in denen er arbeitet. Nur so könne aus dem Spezifischen etwas Allgemeines erwachsen. 2. Die Künstler arbeiten als Kollektiv, in der Gruppe, und verlagern so die Aufmerk-
12 Freud 1956, 40.
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samkeit weg von der individuellen Persönlichkeit des Künstlers. 3. Die Künstler arbeiten nach dem Retro-Prinzip („Retrograde“): Durch den Blick zurück („retro“) wird etwas zukunftsweisendes („avant-garde“) möglich. 1987 postulierte IRWIN: „Die Zukunft ist die Saat der Vergangenheit.“13 Die Collage-Arbeiten von IRWIN verwenden eine Menge unterschiedlicher Medien: Öl, Lehm, Holz, Buchseiten, Fotografien, Lego-Steine, belichtete Leinwände, Stoff, Knochen und Metall. Oft werden die Arbeiten in einem kollaborativen Kontext präsentiert, etwa als Teil einer Bühnenausstattung oder in Videorückprojektionen von Konzerten. Zugleich können Bühnenoutfits in späteren Ausstellungen zu Objekten werden. IRWIN haben europaweit und in den USA ausgestellt, u.a. auch auf der Biennale in Venedig. 2004 erhielten sie den Jakopič Award, die höchste Auszeichnung für Bildende Kunst in Slowenien.
D ER NSK S TAAT : S TAAT
IN DER
Z EIT
Das größte Projekt der NSK bis heute ist der State in Time. Dieses potenziell global angelegte Projekt behandelt das Wesen und die geographischen Effekte totalitärer Regimes. Das Schlüsselelement hierfür ist die Staatsbürgerschaft und der NSK-Pass. Ausgabebüros der NSK-Pässe befanden sich zunächst in Gent, Umag, Berlin, Amsterdam, Seoul und Hamburg und waren analog zu größeren Kunstausstellungen eingerichtet worden. Während des Kosovokonfliktes tauchten diese Pässe auch als Notdokumente im belagerten Sarajewo auf, wo sich einige Flüchtling damit ausgewiesen haben sollen. 14
Abb. 2: NSK Pass
13 New Collectivism 1991. 14 Vgl. Monroe 2005, 246f.
Der NSK-Staat | 45
„Der NSK-Staat ist 1992 von den ursprünglichen NSK-Gruppen ins Leben gerufen worden“, berichtet der Subkulturforscher Alexander Nym anlässlich der NSK-Ausstellung in Leipzig. Sie haben in den Achtziger Jahren unter anderem eine slowenische National-Utopie affirmativ inszeniert. So ambivalent wie sie das gemacht haben, hatten sie einen positiven Bezug zu ihrem Heimatland, ohne die jahrhundertelangen Germanisierungsversuche durch die K&K-Monarchie zu verdrängen. Als Slowenien dann tatsächlich unabhängig wurde, haben sie sich in der Neuen slowenischen Kunst nicht mehr als Staatskünstler verstanden und mussten die Utopie ein Stück weiter treiben. Und haben beschlossen, ihre Organisation eben in diesen Staat NSK zu überführen. Jener Staat verfügt über keine Territorien, sondern manifestiert sich überall da, wo seine Bürger kreativ tätig werden, so wie jetzt in dieser Ausstellung. 15
Abb. 3: NSK Citizen’s Congress, Berlin 2010 Es muss also festgehalten werden, dass es drei grundlegende Inkarnationen der NSK gab: • Um 1984 formierte sich das slowenische Künstlerkollektiv und gab sich eine
staatsartige Verfassung und Struktur. • Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme Osteuropas wurde der
NSK-Staat 1994 gegründet und erklärte sich zum ‚Staat in der Zeit’, zum ‚Staat ohne Territorium’, dessen Bürger jeder interessierte Bewerber weltweit werden könne; auch hier wurde eine staatsartige Struktur erstellt, die jedoch acephal (ohne nominelle oder gewählte Führung) funktioniert; 15 Nym 2011, online unter: www.l-iz.de/Kultur/Ausstellungen/2011/06/Ausstellungseroeffnung-Leipziger-Dependance-NSK.html (letzter Zugriff: 17.12.2013).
46 | Marcus Stiglegger • Beim NSK Citizen Congress am 21.-23. Oktober 2010 im Haus der Kulturen
der Welt in Berlin übergab die ursprüngliche NSK-Gründungsformation den NSK-Staat endgültig den NSK-Bürgern und koppelte sich damit formell von jeglicher Vordenkerfunktion los. Diese global angelegte 3. NSK-Variante ist der endgültige NSK-Staat, eines der größten kollektiv angelegten Kunstprojekte weltweit. Im Gegensatz zu einem Konzept wie der „temporären autonomen Zone“ des Schriftstellers Hakim Bey, die sich performativ im Moment ereignet, 16 hat das Kunstprojekt NSK-Staat – eine „soziale Skulptur“ (Joseph Beuys) – eine politische Struktur und durch die Staatsbürgerschaft einen kontinuierlichen und wachsenden Charakter. Der performative Charakter des NSK Staates ist daher von latenter Natur und kann an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit kulminieren. Beim Besuch einer NSK-Veranstaltung kann sich der NSK-Bürger ein Visum in den Pass stempeln lassen. Diese Inkarnation des NSK-Staates hat sich längst verselbständigt, da jeder NSK-Bürger potenziell berechtigt ist, im Sinne und Geiste der NSK (das ist die „Staatsbürgerpflicht“, die im Pass vermerkt ist) eine entsprechendes Kunstprojekt zu veranstalten. Das konstituierte Selbstverständnis ist weiterhin kollektivistisch: A member of NSK is particularly obliged to act in accordance with the moral, political, aesthetic and ethical norms stipulated by the NSK Internal Book of Laws. […] Once a novice has given his pledge of allegiance, he is required to adopt the principle of conscious renunciation regarding his personal tastes, judgement and beliefs; he is required to renounce his personal practice of the past and devote himself to work in the body whose integral element he has become by joining the Organisation.17
„Der Staat ist von den Bürgern ‚übernommen’ worden,“ stellt Nym fest. Das wurde auch formalisiert bei diesem Bürgerkongress. Damit ist es fast schon demokratischer als eine Demokratie, weil hier alle mitmachen können. Das ist aber auch ein Kritikpunkt, weil Totalitarismus und totalitäre Ästhetik immer ein Operationsprinzip der Neuen Slowenischen Kunst war und ist. Es hat auch innerhalb des Staates von einigen Bürgern Kritik daran gegeben, dass der Staat zu soft, zu demokratisch, zu friedliebend und
16 Vgl. Bey 2003. 17 NSK Item 11, Constitution of Membership, 1985.
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nicht provokativ, aggressiv und bedrohlich genug nach außen tritt. Letztendlich handelt es sich hierbei um ein utopisches Konstrukt.18
Eine wesentliche Ausweitung erfuhr der NSK-Staat über das Internet. So entstand 1996 in Tokio eine virtuelle Botschaft, die mit dem Ludjmila (Ljubljana Digital Media Lab) vernetzt wurde und von da an auch den Cyberspace okkupierte. Der heute präsente NSK-Staat ist also eine nicht nur ein paneuropäischen, sondern letztlich globales Kunstprojekt, das sich selbst trägt, vernetzt und performativ immer neu generiert. In der Kunst wird manifest, wovon Politik und soziale Realität nur träumen kann.
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18 Nym/Thalheim 2011.
48 | Marcus Stiglegger
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EUROPÄISIERUNG IM URBANEN R AUM
Europareise in der eigenen Stadt Cargo Sofia von Rimini Protokoll als theatraler Grenzgang A NNIKA W EHRLE
T RANSIT -T HEATER : D AS P ROJEKT CARGO S OFIA Im Mai 2006 feierte in Basel die Rimini Protokoll-Produktion Cargo Sofia1 ihre Uraufführung und tourte in den Folgejahren durch verschiedene europäische und später auch asiatische Städte. In der Basler Fassung nehmen etwa 50 Zuschauer auf der Ladefläche eines LKW Platz. Dieser wurde zuvor mit Sitzreihen seitlich zur Fahrtrichtung ausgestattet und eröffnet durch eine Schaufensterscheibe, die anstelle der Seitenplane montiert ist, den Blick nach draußen auf einen Basler Parkplatz. Die Begrüßung erfolgt durch zwei Fernfahrer, die sich kurz vorstellen und den Anwesenden verkünden, dass nun eine dreitägige Fahrt von Sofia nach Basel über verschiedene europäische Ländergrenzen hinweg anstehe. Daraufhin besteigen sie die Fahrerkabine und machen sich mit dem menschlichen Transportgut auf den Weg. Es beginnt ein zweistündiges Spiel von Blicken nach draußen auf Basler Außenbezirke, Umgehungsstraßen und Speditionshöfe – im Wechsel mit Videoeinspielungen von den Straßen Bulgariens, die auf eine Leinwand projiziert werden, welche vor dem Außenfenster herabgelassen werden kann. Ergänzt wird dieses Wechselspiel der Blicke durch Interviews rund um das Logistik- und Speditionsgewerbe sowie durch Livebilder aus der Fahrerkabine, wo die beiden Fernfahrer von ihrem Beruf berichten und Geschichten aus ihrem Leben, ihrer Heimat und von ihrer Familie erzählen. Dazu erklingen von einem 1
Regie: Stefan Kaegi, Co-Regie: Jörg Karrenbauer. Die Idee für Cargo Sofia entstand vor dem Hintergrund des Skandals um die Reutlinger Speditionsfirma Willi Betz, die 1994 die bulgarische Firma Somat aufkaufte und bulgarische Fernfahrer unterbezahlt und illegal beschäftigte. Vgl. hierzu Deck/Kaegi 2008, 63 u. Sorrento 2007.
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DJ, der sich ebenfalls an Bord des Lastwagens befindet, live gemischte Balkanbeats. Wie sich in der Beschreibung bereits andeutet, findet die Thematisierung von Grenzen und das Spiel mit Grenzverläufen innerhalb der Inszenierung von Cargo Sofia eine starke Verankerung. Die folgende Analyse tastet bestehende und zu überwindende Grenzen ab, mit dem Ziel die Schnittstellen zwischen Rezeption, Produktion und räumlicher Verortung aufzuspüren. Dabei gilt es zu fragen, inwieweit mittels ästhetischer Strategien stereotypisierende Europabilder aufgerufen, exponierend gerahmt und gegebenenfalls zur Disposition gestellt werden.
G RENZGÄNGE RÄUMLICHER V ERORTUNG Auf der Suche nach räumlichen Grenzgängen und -überschreitungen des Theaterbesuchers ist auf den ersten Blick die physische, konkrete Bewegung durch den Stadtraum augenfällig. Anstelle eines fest zugewiesenen, an einem Ort verankerten Logensitzes begibt sich der Zuschauer auf die Ladefläche eines Lastwagens. Derlei auto-mobile Räume bezeichnet die Kulturanthropologin Katharina Steffen als fahrende Zwischen- oder Durchgangsräume: Das Automobil ist, sobald es fährt, ein Mittler und Vermittler zwischen verschiedenen Sphären, verschiedenen Tätigkeiten, Rollen und Zeiten, ein Ding der Zwischenzeiten und Zwischenräume, die Umkleidekabine unserer Seelen und Persönlichkeiten. Selbst bei Berufsfahrern behält der Zustand des Fahrens noch diesen Charakter des Transitorischen […]. Die Situation im Auto ist eine Übergangssituation.2
Auch die Räume, die durchfahren und angefahren werden, sind Räume des Durchgangs: „Die Räume, durch die man sich während Cargo Sofia bewegt, sind transitorische Räume – Straßen und Autobahnen, Tankstellen, Parkplätze und alle möglichen Umschlagsorte von Waren. Stadterfahrung ist hier eine flüchtige […].“3 Die Grenzen der vorhersehbaren Betrachtungssituation werden somit aufgebrochen. Auf diese Weise bedarf es einer Neudefinition der Rolle des Zuschauers und des Grades seiner Mitbestimmung. Im Gegensatz zu dem verdunkelten Auditorium eines Theatergebäudes ist die Inszenierung auf die Bereitschaft zur (wenngleich passiven) Bewegung und zumindest zur physischen Grenzüberschreitung angewiesen. Nur wenn der Zuschauer bereit ist, sich
2
Steffen 1990, 15.
3
Dreysse 2007, 94.
E UROPAREISE
IN DER EIGENEN
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mitzubewegen bzw. bewegen zu lassen, kann die Aufführung zustande kommen. Der Zuschauer ist somit kein passiver Beobachter, sondern aufführungskonstituierender Teilnehmer, der das Aufführungsgeschehen maßgeblich prägt, der aber gleichwohl nicht selbstbestimmt entscheidet und handelt. Bei Cargo Sofia sind die Zuschauer keine Passanten, die – Michel de Certeau zufolge – ihre Wege und Fortbewegungsgeschwindigkeit eigenständig festlegen können und sich auf diese Weise die Stadt individuell erschließen und mit Bedeutung belegen. 4 Hier werden die Zuschauer zu Passagieren gemacht, die sich fremdbestimmt fortbewegen, während die Stadt an ihnen vorbeizieht. Ganz im Sinne von Paul Virilios Ausführungen zum Passagier werden sie bewegt statt sich selbst zu bewegen: Wir gehen von einem Bewegungszustand zum nächsten über, ohne uns darum zu kümmern, was sie bedeuten; wir werden mitgenommen an ein Ziel, einen Ort, werden an den Endpunkt unserer Strecke befördert, aber das Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleunigung entgehen uns, obwohl sie schwersten Einfluß auf das Bild der durchquerten Landschaft haben, denn zwischen zwanzig und zweihundert Stundenkilometern ist die Deutlichkeit des vorbeihuschenden Bildes radikal verschieden. 5
Durch die Platzierung auf der LKW-Ladefläche, die sonst als Stauraum für Transportgut dient, werden die Zuschauer zur ‚ferngesteuerten‘ Transitware und somit dem Geschehen bis zu einem gewissen Grade ausgeliefert. Auch wenn sie sich freiwillig in diese Situation begeben, entsteht durch das Bewegt-Werden im öffentlichen Raum ein Moment des Kontrollverlustes.
G RENZGÄNGE DER W AHRNEHMUNG Beim Betreten des Lastwagens begibt sich der Zuschauer in einen Grenzbereich seiner eigenen Wahrnehmung, was die auf Bewegungsebene angelegte Tendenz des Kontrollverlusts weiterführt. Dieser Effekt wird durch eine Vermischung fiktionaler und realer Elemente hervorgerufen und kommt unter anderem bei dem Spiel mit der Zeit- und Raumwahrnehmung des Theaterbesuchers zum Tragen: Die real zurückgelegte Strecke innerhalb der eigenen Stadt und die damit einhergehende verstreichende Zeit von etwa zwei Stunden, klafft erheblich mit dem von der Inszenierung behaupteten Weg über mehrere Ländergrenzen hinweg und der behaupteten Reisedauer von einigen Tagen auseinander. Rimini 4
Vgl. Certeau 1988, 179-208.
5
Virilio 1978, 19.
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Protokoll belässt es jedoch nicht bei der bloßen verbalen Behauptung einer Raum- und Zeitdehnung, sondern untermauert diese durch unterschiedliche theatrale Mittel. So verläuft beispielsweise die Fahrt jenseits der jedem bekannten Hauptverkehrsachsen der Stadt, so dass die eigene Einschätzung der zurückgelegten Strecke schwer fällt. Verstärkt wird dieser Effekt durch die ungewohnte Form der Fortbewegung, welche ihrerseits das Zeitgefühl irritiert. Zudem wird in bekannten und unverwechselbar der jeweiligen Stadt zuzuordnenden Gegenden eine Abschottung der Sicht nach draußen vorgenommen und durch Videoeinblendungen bulgarischer Gegenden ersetzt. In Abgrenzung zu dem bei Virilio beschriebenen Passagier, der ‚blind‘ durch den Raum bewegt wird, ohne den Vorgang der Passage als solchen wahrzunehmen, fordern die Rahmensetzungen und Blicklenkungsprozesse bei Rimini Protokoll die Wahrnehmung des Passagiers gezielt heraus. Durch den ausschnitthaften Blick aus dem Wageninneren – einer Art fahrendem Guckkasten – werden die betrachteten Orte und Geschehnisse theatral gerahmt und damit die Aufmerksamkeit der Teilnehmer fokussiert. In Kombination mit der exponierten Form der Fortbewegung findet eine Modifikation der Außenweltwahrnehmung statt: „Durch die Dauer und Inszenierung des Fahrens rückt dieses selbst als Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Zeiterfahrungsform in den Vordergrund […]. Das ‚Draußen‘ verändert seinen Realitätsstatus durch die modifizierte Wahrnehmungsdisposition grundlegend.“6 Ganz im Sinne Erving Goffmans wird hier die Signifikanz des Prozesses der Rahmung zur Bedeutungszuschreibung einer Situation deutlich.7 Durch die spezifische Anordnung, die Rimini Protokoll in Cargo Sofia vornimmt, wird durch wahrnehmungsmodifizierende Rahmensetzung ein zentraler Grundstein für die Rezeptionsweise gelegt. Das Fenster zur Außenwelt sowie die Bewegung durch reale Stadträume sind jedoch zugleich Ausdruck der bewussten Inkaufnahme zufälliger Begegnungen und Begebenheiten. Der Zufall und die Grenzen der Planbarkeit sind somit inszenatorisch eingeplant.
6
Dreysse 2007, 93-94.
7
Vgl. Goffman 1977.
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G RENZGÄNGE ZWISCHEN F REMDEM UND E IGENEM Deutlich wird dies auch durch die Arbeit mit so genannten „Experten des Alltags“ anstelle von Schauspielern. Großen Wert legt der Regisseur Stefan Kaegi auf diese Bezeichnung in Abgrenzung zu dem Begriff des Laiendarstellers, da der Zuschauer diesen „Experten“ in ihrer alltäglichen Umgebung, auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet begegnet: „Ich wollte wissen, was Menschen, die so viel und weit in Europa unterwegs sind, über Europa zu erzählen haben.“ 8 Bei Cargo Sofia kreuzen als Experten für Europa somit Vertreter des Speditionswesens, Lageristen und Fernfahrer den Weg des Theaterbesuchers. Diese dokumentarische Grundanlage weckt bei vielen Zuschauern ein Gefühl der Verunsicherung bezüglich des Spielcharakters der Inszenierung und prägt die Wahrnehmung maßgeblich mit. Zum einen werden auf diese Weise Grundannahmen hinsichtlich des Verhältnisses alltäglicher und inszenierter Vorgänge erschüttert, was zur Folge hat, dass bisweilen inszenierte Geschehnisse als zufällig und tatsächlich zufällige Begebenheiten als Teil der Inszenierung gewertet werden. Zum anderen werden die Grenzen der eigenen Lebenswelt auf den Prüfstand gestellt, wodurch scheinbar kohärente Erklärungsmuster ins Wanken geraten. Durch die Alltagsexperten in Cargo Sofia erhalten die Zuschauer beispielsweise Einblick in die Lebenswelt der Fernfahrer, die mit derjenigen der meisten Zuschauer wenige Berührungspunkte aufweist. Eine der Besonderheiten besteht darin, dass dieser Kontakt nicht ausschließlich verbal oder gedanklich – also auf intellektueller Basis – stattfindet, sondern durch leiblich-sinnliches Erleben und Erfahren, was auch Kaegi bewusst doppeldeutig als eines der Projektziele nennt: „Alle neuen Orte er‚fahren‘ wir erst einmal aus der Sicht eines Lkw-Fahrers, weil wir an Orte wollen, an denen Lastwagenfahrer zuhause sind, Fußgänger sich aber nicht auskennen.“9 Die Welt des Warentransits wird den Zuschauern vor Augen geführt, indem sie selbst einerseits zur Lastwagenladung werden, und andererseits durch Gespräche und Erzählungen der Fernfahrer hinter die Kulissen des Marktes schauen, den sie selbst zwar täglich nutzen, jedoch kaum aus der Innenansicht kennen. Verstärkt wird das dadurch vermittelte Gefühl des Befremdens und Fremdseins in der eigenen Stadt durch die zeitweilige Konfrontation mit fremden Sprachen und dem daraus entstehenden Spiel mit Verstehen und Nicht-Verstehen. Der dabei gewählte Ansatz changiert zwischen dem Bekanntmachen mit dem Fremden und der Verfremdung des Bekannten und Vertrauten: „Rimini Proto-
8
Deck/Kaegi 2008, 63.
9
Deck/Kaegi 2008, 65.
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koll bringen Fremdes näher und halten es zugleich auf Distanz.“10 Auf räumlicher Ebene findet sich dieses Motiv durch die Irritation des Nah- und Fernraums, die überblendet und überlagert werden, indem eine behauptete Europareise innerhalb der eigenen Stadt unternommen wird. Des Weiteren wird die Fernfahrerwelt direkt in Augenschein genommen, ohne dabei aber direkt mit der eigenen Lebenswelt in Berührung zu kommen – wie die trennende Glasscheibe zur Außenwelt symbolisiert. Auch die Fernfahrer selbst sind, sieht man einmal von der Begrüßung ab, räumlich von den Zuschauenden getrennt […]. Wir erfahren nur lückenhaft etwas über ihr Privatleben […]. Gleichzeitig wird mit der Intimität der Situation gespielt: Man sitzt dicht gedrängt in einem Raum, der, so wird durch die Erzählungen der Fahrer deutlich, fast wie ein Privatraum für sie ist – in den noch intimeren Raum der Fahrerkabine hat man aber wiederum nur vermittelt und fragmentarisch Einblick.11
Durch die Wahl von Ausschnitten der eigenen Stadt, die für die meisten Theaterbesucher nicht zu ihren täglichen Alltagsräumen gehören, und die Überblendung und Verfremdung bekannter (Stadt-)Landschaften mit unbekannten Gegenden, wird der Zuschauer zur Überprüfung seiner alltäglichen Sehweisen herausgefordert. Es geht dabei nicht um die Auflösung von Fremdheiten und Befremden, sondern vielmehr um das Zusammenführen, Kontrastieren und Kollidieren verschiedener Realitätsperspektiven. Eng damit verknüpft ist die Frage nach dem Eigenen – auch im Sinne eines eigenen Raums. In Städten geht es – nach Schroer – um die stete (Neu-)Organisation der Übergänge zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Eigenen und dem Fremden. […] Für die Begegnung mit dem Fremden bedarf es gewissermaßen eines Minimums an Eigenem, das den Schock des gänzlich Fremden abzufedern weiß.12
Vor dem Hintergrund einer Bewegung durch (Stadt-)Räume, die auch in der Inszenierung angelegt ist, stellt sich die Frage nach der Verortung des Eigenen in besonderer Weise. De Certeau schreibt: „Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozess, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu
10 Dreysse/Malzacher 2007, 10. 11 Dreysse 2007, 92-93. 12 Schroer 2006, 244.
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suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlen eines Ortes.“13 Obgleich – wie oben bereits angemerkt – die Bewegung des gehenden Passanten von der des fahrenden Passagiers abgegrenzt werden muss, lässt sich der hier von de Certeau angeführte Aspekt auf verschiedene städtische Fortbewegungsweisen in ihrer ambivalenten Prozessualität ausweiten: Erst durch das Eintreten in eine Bewegung – sei es mittels Gehens oder Fahrens – kann ein Suchprozess nach dem Eigenen beginnen und eröffnet sich die Möglichkeit, einen Raum – in diesem Fall eine Stadt und zugleich ein imaginiertes Europa – in seiner Vielfältigkeit zu erfahren und damit mögliche Verortungsoptionen aufzuspüren. Im gleichen Moment wird jedoch gerade durch diesen prozessualen Akt der Fortbewegung durch den Raum eine tatsächliche Verortung verhindert – die Orte werden verfehlt. Nach der vielzitierten Unterscheidung de Certeaus ist in Abgrenzung zum Ort der „Raum […] ein Ort, mit dem man etwas macht.“ 14 Ist die vollzogene Handlung die der Bewegung, ist eine Ver-Ortung in diesem Sinn nicht möglich. Daraus kann die Erfahrung des Fehlens und Verfehlens eines eigenen Ortes entspringen. Folgt man dieser Facette des Prozessualen, so bedeutet das für Cargo Sofia, dass die Bewegung durch die Stadt, die der ‚heimische‘ Zuschauer bei Einstieg in den Lastwagen als seine eigene benennen würde, in Kombination mit der theatralen Überblendung der bulgarischen Außenwelt durch Videoprojektionen, zu einem ständigen Suchen und Verfehlen der eigenen Verortung führt. Dramaturgisch verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass für die Wegstrecke bei Cargo Sofia möglichst ‚universelle‘ Passagenräume gewählt werden, deren Verortung durch ihre Unspezifik schwer fällt. Bezeichnet werden können diese Räume – nach Marc Augé – als Nicht-Orte, die dieser folgendermaßen charakterisiert: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“15 Die hier benannte fehlende Relationalität greift den bei de Certeau entwickelten Aspekt des Verfehlens auf. Ähnlich formuliert dies auch Annemarie Matzke: „Man ist nicht heimisch an den Nicht-Orten, man passiert sie nur für einen bestimmten Zeitraum. Im fahrenden Laster mit dem Zuschauercontainer wird die Auflösung des Raumes in einer globalisierten Welt augenfällig. Raum, Zuschauer und Theater werden selbst mobil.“ 16 Rimini Protokoll führt, beziehungsweise fährt die
13 Certeau 1988, 197. 14 Certeau 1988, 218. 15 Augé 2010, 83. 16 Matzke 2007, 115.
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Theaterbesucher durch Gegenden, die für diese zunächst als identitätslos, geschichtslos, austauschbar und somit nach der Definition Augés als Nicht-Orte zu bezeichnen sind. Ob man sich gerade auf einem Container-Verladehof in den Außenbezirken der eigenen Stadt oder – wie von den Fernfahrern deklariert – in Bulgarien befindet, wird schwer unterscheidbar. Spricht somit vieles für die Anwendung des Augéschen Nicht-Ort-Begriffs, so wäre doch eine ungebrochene Adaption bei der Analyse von Cargo Sofia zu kurz gegriffen. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass diese Relationslosigkeit rasch brüchig wird. Die Transiträume liegen zwar nicht auf den täglichen, vertrauten Routen der Zuschauer; mit der Realisation jedoch, dass man über die Waren, die hier transportiert und verladen werden, täglich mit den durchquerten Räumen in Verbindung steht, wird diese klare Bipolarität durchbrochen. Die eindeutige Etikettierung als Nicht-Ort wird zudem durch die Einblicke und Geschichten fraglich, die die ‚Alltags-Experten‘ den Rezipienten während der zweistündigen Fahrt im Wortsinne zu-gänglich machen. Sie machen die Relationalität der Fernfahrer zu einzelnen dieser europäischen Transitorte sichtbar, wodurch diese voneinander unterscheidbar werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass vorherige Nicht-Orte nun zu Orten transformiert werden, es handelt sich vielmehr um einen Abbau der Grenzen zwischen diesen beiden bipolaren Begrifflichkeiten. Jeder Einzelne – so eine mögliche These – bringt je nach Nutzung von (Stadt-)Räumen und je nach den eigenen Alltagswegen und Schwerpunktsetzungen innerhalb räumlicher Gefüge jeweils eigene Nicht-Orte hervor. Sobald ein Nicht-Ort mit Relationen oder Geschichte(n) aufgeladen wird, wird dieser – wiederum im Sinne Augés – zu einem Ort und neue Nicht-Orte werden gebildet. Dieser passagere Vorgang, der der Wahrnehmung abverlangt, sich stets auf neue Ortbegebenheiten einzustellen, birgt die Möglichkeit, Orte in einem dynamisch-konstruktiven Prozess individuell zu verräumlichen. Die Idee der punktuellen Lokalisierbarkeit des Eigenen wird dabei abgelöst von einem individualisierten pluralen Raumgefüge, das weniger an konkrete Orte gebunden, sondern vielmehr als eine Mischung aus Raumelementen und diese verknüpfenden Assoziationen zu beschreiben ist.
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G RENZGÄNGE DES EIGENEN BLICKS Einen der zentralen Pfeiler der Arbeitsweise von Rimini Protokoll bildet das Bewusstsein um und das Spiel mit der Pluralität möglicher Blickwinkel. Kaegi beschreibt die Arbeitsweise von Rimini Protokoll folgendermaßen: „Wir benutzen Theater als ‚Guckloch‘ von Menschen zu Menschen.“17 Bei dem hier gewählten Fallbeispiel handelt es sich jedoch nicht um ein bloßes Guckloch, welches Wirklichkeit zeigt. Vielmehr wird durch die Wahl des Guckloches bereits ein bestimmter Ausschnitt gewählt, der Wirklichkeit rahmt und auf diese Weise Fährten der Bedeutungskonstitution legt. Der Begriff des Gucklochs impliziert zudem eine Reduzierung auf visuelle Aspekte. Vielmehr entsteht jedoch bei Cargo Sofia ein visueller, akustischer, haptischer und imaginärer Raum, den das Theater innerhalb der sogenannten Wirklichkeit ansiedelt, um deren vielschichtigen Grenzverläufe aufzuspüren und gegebenenfalls zu überwinden. Das Regiekollektiv siedelt sich dabei in einem Grenzbereich an, der sowohl von Verunsicherung und Befremden als auch von der Möglichkeit, sich im disparaten Wirklichkeitsgefüge eigene Ankerpunkte zu schaffen, geprägt ist. Das damit zusammenhängende Raumverständnis ist laut Matzke ein „Prinzip des Nebeneinander“18, wodurch Raum nur noch als ein pluraler denkbar ist. Diesen Ansatz unterstützend ließe sich das entstehende Gefüge jedoch nicht nur als Nebeneinander, sondern vielmehr als ein Aufeinanderschichten verschiedener Räume und Realitäten beschreiben. Die verschiedenen Schichten und Geschichten, die sich in und mit den Räumen ereignen, bestehen gleichzeitig und können je nach Blickwinkel vermischt oder auch voneinander separiert wahrgenommen werden. Diese Vorgänge können als Konfrontation mit dem eigenen Blick bezeichnet werden, die sich über die Themenwahl und den Kontakt mit Alltagsexperten hinaus auf verschiedenen weiteren Zeichenebenen fortsetzen. Patrick Primavesi beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „Der in der Geschichte des bürgerlichen Theaters auf den Innenraum fixierte Blick des Zuschauers begegnet plötzlich sich selbst.“19 Bereits durch die räumliche Anordnung wird der Theaterbesucher, der die gerahmte Stadt betrachtet, seinerseits als Schauender ausgestellt und für die Passanten sichtbar – wie in einem Schaukasten – durch die Straßen gefahren. Auf diese Weise verschiebt sich die Grenze zwischen Schauenden und Schauobjekten wodurch ein doppelter ‚Zoo-Effekt‘ entsteht. Der Teilnehmer, der mit der
17 Deck/Kaegi 2008, 63. 18 Matzke 2007, 115. 19 Primavesi 2008, 105.
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Erwartungshaltung den Lastwagen betritt, Zuschauender zu sein, wird nun in einem gläsernen Käfig mitsamt seines voyeuristischen Blickes auf die täglich unhinterfragt genutzte Konsumwelt und den Logistikalltag ausgestellt. Neben der real-physischen Ebene setzt sich das Prinzip des Sichtbarmachens des eigenen Blicks auf einer metaphorisch-gedanklichen Ebene fort. Trotz körperlicher Immobilität und der Vorstrukturierung der Wahrnehmung durch Rahmensetzungen, ist der Zuschauer maßgeblich an der Bedeutungsproduktion beteiligt. Da keine kohärente Erzählung vorliegt, sondern eine Aneinanderreihung von Einzeleindrücken und fragmentarischen Begebenheiten, ist der Rezipient mit der Aufgabe der Sinnproduktion und der Verknüpfung mit seiner eigenen Lebenswelt und seinen Assoziationsspektren betraut. Dies lässt sich beispielsweise anhand einer Sequenz verdeutlichen, in welcher der Lastwagen an einer Verkehrsinsel vorbeifährt, auf der eine Frau steht und bulgarische Volksweisen singt. Ihre Stimme wird ins Wageninnere übertragen, so dass, obwohl sich die Frau inmitten des lärmenden Straßenverkehrs befindet, ein konzentrierter Klangraum im Lastwagen entsteht. Auf musikalisch-atmosphärischem Weg werden so gedankliche Grenzverläufe zwischen Ost- und Westeuropa aufgerufen und Klischeevorstellungen bedient, wie beispielsweise die Verknüpfung Bulgariens mit Tradition und Volkstümlichkeit. Zugleich entsteht jedoch ein Irritationsmoment, da sich die singende Frau durch die körperliche Verortung im Stadtraum und die akustische Präsenz im Zuschauerraum merklich von der konkreten Umgebung löst. In der damit erzeugten Ambivalenz eines intimen, konzentrierten Moments bei gleichzeitigem abständigen Befremden, kristallisieren sich Zuschreibungsschemata im Umgang mit Europabildern. Rekurriert wird dabei auf Tendenzen der Pauschalisierung, wobei die Gefahr besteht, Spezifika zu negieren, Anknüpfungspunkte zwischen den Kulturen zu übersehen, als fremd Wahrgenommenes reflexartig zu Eigen machen zu wollen sowie eine Essentialisierung der vermeintlich ‚eigenen‘ Kultur vorzunehmen. Bei Cargo Sofia huscht der ‚westeuropäische’ Blick im Vorbeifahren über ein vermeintlich außerhalb des Lastwagens vorbeiziehendes ‚Osteuropa’. Die dabei erzeugte Distanz wie zugleich die Faszination an den als fremdartig inszenierten kulturellen Versatzstücken, erfolgt dabei stets innerhalb theatraler Rahmung, wodurch das Bewusstsein darüber aufrecht erhalten bleibt, dass es sich bei der Außenumgebung um Transiträume der ‚eigenen‘ Stadt handelt. Die damit angelegte Mehrdeutigkeit schafft Imaginations- und Reflexionsraum jenseits geographischer oder gedanklich tradierter Grenzverläufe. Auf theatralem Wege werden so europäische Bilder und Vorstellungen bei den Teilnehmenden aufgerufen, neu kombiniert und zur Disposition gestellt.
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Dadurch wird ein neuer, imaginärer Raum etabliert, der Platz bietet für die fiktiven Bulgarienvorstellungen und -bilder des Zuschauers und gleichzeitig zu deren Hinterfragung auffordert. Auf diese Weise wird der Theaterteilnehmer zugleich dazu angeregt, die Blickachsen der eigenen Lebenswelt und das Verhältnis zu Grenzverläufen im Alltag einer Überprüfung zu unterziehen. Jan Deck sieht in dieser Form theatraler Inszenierung, die weder objektive Sinnstiftung behauptet noch sich als ‚Mitmachtheater‘ entwirft, eine Chance zur Öffnung und Neupositionierung des eigenen Blicks und somit auch der Neuverortung des Subjekts in gesellschaftlichen Gefügen: Ein Theater, das jenseits objektiver Sinnzusammenhänge, politischer Aufklärung oder ewiger Werte den Prozess der Wahrnehmung und die Grenzen der Mitgestaltung von Zuschauern zum Thema macht, erreicht einen eigenen Grad von Freiheit: Es verweist auf das Fragmentarische von Subjektivität und die Grenzen gesellschaftlicher Mitbestimmung, setzt aber diese Grenzen immer wieder aufs Spiel.20
S PIEL MIT DEN G RENZEN DES T HEATERS Am Beispiel Cargo Sofia lässt sich ein facettenreiches Spektrum des Themenfeldes um Grenzen und Grenzüberschreitungen sichtbar machen. Kennzeichnend sind hierbei die Überlagerungen topographischer, sozialer, ästhetischer und gedanklicher Aspekte, die sich ständig neu ordnen, überlagern und durchdringen. Als transitorische Kunstform ist Theater eine kulturelle Praxis, der das Spiel mit Grenzen, besonders denen der Vorhersehbarkeit und Wiederholbarkeit, genuin eingeschrieben ist. Florian Malzacher merkt in diesem Zusammenhang jedoch an, dass die Theatergeschichte der letzten Jahrhunderte eine weitgehende Verschleierung dieses Merkmals im konkreten Aufführungskontext versuchte: Das Theater kokettiert zwar immer damit, ephemer, flüchtig zu sein und beansprucht diesen Moment des Vergänglichen, des Nichtreproduzierbaren als sein Wesentliches, das es von allen anderen Künsten unterscheidet – zugleich aber legt es seit Jahrhunderten primär Wert darauf, gerade eine möglichst exakte Wiederholbarkeit zu suggerieren. 21
Erst in den 1960er und 1970er Jahren ist in der Hinwendung zu performativen Formen diesbezüglich ein deutlicher Einschnitt zu verzeichnen. Er besteht darin,
20 Deck 2008, 17-18. 21 Malzacher 2007, 28.
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die in dem Zitat benannten Merkmale ostentativ zur Schau stellen, anstatt sie im Zuge einer Illusionierung zu verschleiern. Der Schwerpunkt liegt in dieser Zeit meist auf dem körperbetonten Vollzug von Handlungen im Rahmen neuer Raumkonzeptionen, die den Moment der Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern hervorheben und damit das Verhältnis von Agierenden und Zuschauenden reformulieren.22 Zu Beginn der 1990er Jahre lässt sich ein weiterer Verdichtungsmoment im Umgang mit Grenzen lokalisieren: Neben dem Fall der Mauer und den damit einhergehenden faktischen und gefühlten Veränderungen bezüglich geographischer Raumstrukturen und realer Bewegungsfreiheit, handelt es sich auch um eine Zeit, in der das Internet seinen Siegeszug beginnt, wodurch Kategorien wie Mobilität, Kommunikation und Öffentlichkeit neu zueinander in Relation gesetzt werden mussten und müssen. Ab diesem Zeitpunkt entstehen zahlreiche Projekte, die genannte gesellschaftliche Wandlungsprozesse aufgreifen, sich aus geschlossenen Kunsträumen herausbegeben und in städtischen Gefügen einfinden. 23 Begriffe wie Bewegung und räumlicher Grenzübertritt, Zeiterfahrung sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation rücken ins Zentrum ästhetischer Auseinandersetzung und verleihen den Schlagworten des Transitorischen und Prozessualen weitere Bedeutungsebenen. Eine der Besonderheiten ist dabei die Zusammenführung des Theaters mit einem weiteren flüchtigen Konstrukt – der Stadt, von Gabriele Klein beschrieben als ein dynamisches, hybrides Gebilde [...], dessen Strukturen auf vielschichtigen, zum Teil widersprüchlichen Ordnungsprinzipien beruhen. Die Stadt ist kein einheitliches Formensystem, sondern ein differenzieller Raum. Sie ist eine Ansammlung zerstückelter Ordnungen, mit Fragmenten unterschiedlichen Ursprungs, die nicht zu einer Einheit gedacht werden können. Der Bruch, nicht die Kontinuität ist ein zentrales Prinzip der Stadt als ein rhizomartiges System.24
Auch Dieter Mersch sieht Städte als vielschichtige Konstrukte, deren Grenzen nicht mehr eindeutig festlegbar sind:
22 Vgl. hierzu u.a. Fischer-Lichte 2004, Fischer-Lichte 2000 sowie Fischer-Lichte u.a. 1998. 23 Es handelt sich hierbei nicht um die einzige Entwicklungslinie, die das Theater seit den 1990er Jahren einschlägt. Weitere Tendenzen sind z.B. in Kreuder/Sörgel 2008 beschrieben. 24 Klein 2005, 21.
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Was bleibt, ist eine Unbestimmbarkeit. Entsprechend sind wir mit multiplen Schichten und Ebenen konfrontiert, die einen ständigen Wechsel von Perspektiven erfordern und zwischen denen allenfalls rudimentäre Verbindungen vermitteln – sprunghafte Übergänge, Passagen evoziert durch Ereignisse und Leerstellen, die die Verkehrsnetze füllen und in der dezentrierten Stadt ihre Bilder vorgeben. [...] Die Stadt erscheint als ein Konglomerat aus wechselnden Tableaus, aus Einzelbelichtungen. Sie beruht nicht mehr auf Orten und Wegen, die Orientierung versprechen, sondern aus Differenzen, Augenblicken und Fragmenten.25
Neben der Zusammenführung der beiden flüchtigen Sphären des Theaters und der Stadt, sind viele der Theaterprojekte seit den späten 1990er Jahren durch das Spiel mit den Grenzen von Nah- und Fernräumen, imaginierten Räumen und konkreten Umgebungen sowie von Virtualität und Materialität gekennzeichnet, was diese auch von den Produktionen der 1960er und 70er Jahre unterscheidet. Es geht dabei nicht mehr nur um den Übertritt bestehender Grenzen, sondern um die Kennzeichnung der Grenze selbst als Konstrukt. Das Regiekollektiv Rimini Protokoll, das sich dem Spiel mit den Grenzen des Theaters – sowohl räumlich, ästhetisch als auch personell – verschrieben hat, zählt im deutschsprachigen Raum zu den Vorreitern solcher Inszenierungspraktiken. Die Analyse von Cargo Sofia zeigt exemplarisch, dass der Grenzübertritt des herkömmlichen Theaterraums und -rahmens, der nicht nur eine Verlagerung an einen fest installierten ausgelagerten Ort bedeutet, sondern Theater in neuer Wiese in Stadt- und Alltagsgefüge einbettet, einen Verhandlungs- und Reflexionsraum zum Thema Grenzen eröffnet. Bei dem Konzept des fahrbaren und erfahrbaren Zuschauerraums handelt es sich nicht um einen linearen Prozess der Entgrenzung des theatralen Raums; vielmehr befindet sich der Rezipient in einem Wechselspiel von Begrenzung und Entgrenzung seines Blickes, zwischen Distanz und Distanzlosigkeit. Durch die damit verbundene Suche nach dem Ort des Eigenen und des Fremden werden habitualisierte Denkmuster hinsichtlich räumlicher Grenzen perforiert. Die Transitfahrt durch Europa innerhalb der eigenen Stadt lässt die Einteilung in klar voneinander abgegrenzte Staaten sowie die damit verbundenen Zuschreibungen nicht als unumstößliche Größen und abgeschlossene Gebilde erscheinen. Stattdessen tritt an die Stelle ein sich stets im Wandel befindliches, unabgeschlossenes, performatives, historisch und kulturell bedingtes Konstrukt. Dieses kann als Projektionsfläche verschiedenster Europabilder fungieren, die je nach Nutzung, Blickwinkel und Schwerpunktsetzung verschiedenste Gestalten
25 Mersch 2005, 51.
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und Wesenszüge annehmen kann: „Das Vorfinden von Grenzen aller Art ist stets nur ein Wiederfinden von etwas, was in den Köpfen entstand: Projektionen. Außerhalb der mentalen Fakultäten – Vernunft, Einbildungskraft und Gedächtnis – existiert für sich keine Grenze.“26 Performative Projekte wie die von Rimini Protokoll verhelfen somit sowohl zur Sichtbarmachung bestehender Grenzen, zeigen Möglichkeiten zu deren Überwindung auf und machen die Konstrukthaftigkeit sowie die Konstruktionsmöglichkeiten vieler Grenzverläufe transparent. Auf diese Weise können Grenzen auf theatralem Wege besetzt, gesetzt und überdacht werden: Die Unsichtbarkeit der Grenze erfordert ihre ästhetische Verfeinerung oder vielmehr Vergröberung. Um wirksam werden zu können, muß die Linie besetzt werden […]. Die Besetzung der Grenze als notwendiger Reflex auf den tendenziell imaginativen Unterdruck der Linie rüstet das vernünftige, reine Grenzkonstrukt (wieder) zur Zone auf, zu einer realen bildgefüllten Erlebniszone oder zu einer Imaginationszone der Grenze.27
Für den Betrachter – sei es der Theaterbesucher oder der nicht unmittelbar am theatralen Geschehen beteiligte städtische Passant oder Passagier – eröffnet sich dadurch ein Raum, der geprägt ist durch ein Kräftemessen gesellschaftlicher Determiniertheit von Grenzen einerseits und der Freiheit im Umgang mit Grenzverläufen im Sinne von Schwellen andererseits, die mittels eines Prozesses der Auseinandersetzung und gegebenenfalls der Transformation überwunden und produktiv gemacht werden können. Theater kann auf diese Weise auch seinen eigenen Raum neu eruieren, die Merkmale und Bedingungen theatralen Spiels überdenken und seine Position innerhalb gesellschaftlicher und kultureller Wandlungsprozesse stärken – als Instrument des Aufzeigens und Sichtbarmachens, als Reflexionsmoment sowie als Angebot zur Relektüre verbreiteter Logiken wie die der steten Beschleunigung und dem Verfall von Relationen. Spielerisch in Frage gestellt wird dabei auch die außerhalb theatraler Rahmen eingenommene Rezeptionshaltung gegenüber kursierenden Europabildern und alltäglichen Vorgängen, in denen sich gedankliche und handlungspraktische Differenzierungsmuster spiegeln: Grenzziehungen innerhalb eines scheinbar entgrenzten Europas werden dadurch ebenso tangiert wie die Widerständigkeit im scheinbar vertrauten Nahraum. Die Europareise in der eigenen Stadt fungiert somit als Platzhalter für eine Reise in den eigenen Imaginationsraum Europa und die Projektionswelten auf der Leinwand des Alltäglichen.
26 Bauer/Rahn 1997, 7. 27 Bauer/Rahn 1997, 8.
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Creative City Ljubljana? Europäisierungsprozesse am Beispiel kreativer Stadtformation K ORNELIA E HRLICH
T HE MAKING
OF CREATIVE CITIES
In den wissensbasierten Gesellschaften rückt die auf Kreativität ausgerichtete Formierung des Städtischen zunehmend in den Vordergrund. Ausgangspunkt für diese Entwicklung liegt Ende der 1990er Jahre in Großbritannien. Die Regierungsabteilung für Kultur, Medien und Sport, das DCMS, entschloss sich auf die Entwicklung der creative industries (CI), der Kultur- und Kreativbranchen wie Design, Architektur und Literatur, zu fokussieren. 1 Dies kann als eine Reaktion auf die Herausforderungen der post-industriellen Ära gesehen werden, denn nicht nur Großbritannien hatte heftige Einschnitte hinnehmen müssen nachdem seine Industrien kollabiert waren. Die Arbeitslosigkeit stieg an und neue Visionen für die zukünftige (ökonomische) Entwicklung fehlten. Mit der Implementierung des Konzeptes der CI verknüpfte die britische Regierung die Erwartung, neue ökonomische Felder zu erschließen, die dabei helfen würden, jene sozialen, ökonomischen und strukturellen Probleme zu lösen, die sich durch den post-industriellen Wandel ergeben hatten: etwa die Freisetzung industrieller Flächen, Massenarbeitslosigkeit und fehlende (ökonomische) Zukunftsperspektiven. Seitdem entwickeln immer mehr Städte und Regionen, die vom post-industriellen Umbau betroffen sind und die in der Folge die Basis ihrer Ökonomie verloren haben, Handlungsanleitungen, Ästhetiken und Strategien, mit denen sie Kreativ-
1
Vgl. webarchive.nationalarchives.gov.uk/20121204113822/http://www.culture.gov. uk/what_we_do/creative_industries/default.aspx (letzter Zugriff:18.07.2019).
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unternehmer und -branchen anziehen wollen, um so am globalen Wettbewerb partizipieren zu können. Auftrieb erhielt diese Entwicklung durch die Thesen des US-Ökonomen Richard Florida, der mit seinem Buch The Rise of the Creative Class (2002) den Begriff creative city (erneut) populär machte. Denn auch wenn der Topos der kreativen Stadt bereits in der Antike entstand und in den 1970er und verstärkt in den 1990er Jahren, bedingt durch die Ökonomisierung von Wissenschaft, veränderte Marktbedingungen und Technologien wieder „entdeckt“ wurde,2 erhielt die creative city vor allem mit den Thesen Floridas um die Jahrtausendwende erneuten Auftrieb, was aus meiner Sicht unter anderem mit der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung Floridas zusammenhängt. 3 Heßler vermutet zudem, dass die neuerliche Popularität des Topos mit dessen ökonomischer Ausrichtung zusammenhängt, von dem man sich neue (Wachstums-)Impulse erhofft.4 Florida postuliert einen Zusammenhang zwischen der creative class und der ökonomischen Prosperität einer Stadt bzw. einer städtischen Region. Die creative class unterteilt Florida in einen kreativen Kern, zu dem er unter anderem Wissenschaftler, Ingenieure, Künstler und Architekten zählt, und in die kreativen Professionellen. Diese arbeiten vor allem im Gesundheits-, Bildungs- und Finanzsektor.5 Laut Florida müssen Städte in erster Linie kreative, hochqualifizierte Talente anziehen, da diese die Attraktivität eines Standortes erhöhen, so dass sich in der Folge immer mehr Unternehmen, Forschungseinrichtungen und weitere Kreative ansiedeln. Als Voraussetzung für solch eine Entwicklung sieht Florida die „3Ts“, die eine Stadt bzw. eine Region vorhalten müssen: Technologie, Talent und Toleranz.6 Auch wenn das Kreativitätsparadigma kein genuin europäisches, sondern ein westlich-globales Phänomen ist, wird es zunehmend von der Europäischen Union bzw. ihren Mitgliedsländern aufgegriffen. In Deutschland z.B. wurden in den vergangenen Jahren auf Länder- bzw. Stadtebene Kulturwirtschaftsberichte herausgegeben, welche die Potentiale der Kultur- und Kreativindustrien7 analysie2
Vgl. Heßler 2007, 40 u. 322f.
3
Florida war unter anderem „Botschafter“ für das Europäische Jahr für Kreativität und Innovation, vgl. https://web.archive.org/web/20140820232828/http://www.ejki2009.d e/ueber_das_europaeische_jahr_2009_2.html (letzter Zugriff: 18.07.2019).
4
Vgl. Heßler 2007, 40 u. 322f.
5
Vgl. Florida 2006, 69.
6
Vgl. Florida 2006, 249.
7
Der Begriff der Kultur- und Kreativindustrien wird u.a. von der Europäischen Kommission verwendet, auch andere Länder beziehen sich auf diesen Begriff. In Großbritannien ist der Begriff creative industries verbreiteter. Wenn nicht explizit unterschie-
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ren und Handlungsempfehlungen für deren Entwicklung formulieren. 8 Zudem gründete die Bundesregierung 2007 das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft, das auf regionaler Ebene Kultur- und Kreativschaffende bei der Gründung von Unternehmen unterstützt.9 Auch in anderen europäischen Ländern wurden Studien erstellt, die die Potentiale der nationalen Kultur- und Kreativindustrien evaluieren und mögliche Entwicklungspotentiale aufzeigen.10 Auf EU-Ebene setzte die Fokussierung auf die Kultur- und Kreativindustrien 2006 mit der Veröffentlichung der Studie The Economy of Culture in Europe ein.11 Daraufhin verabschiedete der Rat der Europäischen Union 2007 eine Beschlussfassung, derzufolge die Kultur- und Kreativindustrien stärker zu fördern seien, da: „[C]ultural and creative sectors make a special and multi-faceted contribution towards strengthening Europe's global competitiveness.“12 Weiterhin hat die EU das Leitmodel einer kreativen Stadtentwicklung in das 6. und 7. Forschungsrahmenprogramm aufgenommen13 und das Jahr 2009 zum Europäischen Jahr der Kreativität und Innovation ausgerufen – mit dem Ziel, Kreativität einerseits als entscheidenden Faktor für die Entwicklung von persönlichen, sozialen und unternehmerischen Kompetenzen herauszustellen, andererseits diese als Schlüsselfaktor für künftiges Wachstum in Europa umsetzbar zu machen. 14
den wird, verwende ich den Begriff der Kultur- und Kreativindustrien bzw. der Kultur- und Kreativwirtschaften und -branchen. 8
Vgl. u.a. Erster Sächsischer Kulturwirtschaftsbericht 2009, Dritter Hessischer Kulturwirtschaftsbericht 2008, Erster Kulturwirtschaftsbericht für die Stadt Köln 2007.
9
Vgl. https://web.archive.org/web/20140315195211/www.rkw-kompetenzzentrum.de/
projekte/kompetenzzentrum-kultur-und-kreativwirtschaft (letzter Zugriff: 25.07.2019). 10 Vgl. z.B. die folgenden Studien: Creative Britain – New Talents for the New Economy (Großbritannien, 2008); Creative Value – Culture and Economy Policy Paper (Niederlande, 2009); Creative Industries in Estonia, Latvia and Lithuania (Estland, Lettland, Litauen, 2010). 11 Vgl. European Commission 2006. 12 Council of the European Union 2007, 4. 13 Die Forschungsrahmenprogramme der EU, die seit 1984 aufgelegt werden, sollen zur Schaffung einer European Research Area beitragen, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu erhöhen. Vgl. https://web.archive.org/web/20110610004532/cordis.europa.eu/f p6/activities.htm (letzter Zugriff: 25.07.2019). 14 Vgl. Webseite des Jahres für Kreativität und Innovation unter https://web.archive.org/web/20111012164226/http:/www.ejki2009.de/ueber_das_europaeische_jahr_200 9_2.html (letzter Zugriff: 25.07.2019).
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Mit dem Fokus der Europäischen Union auf Kultur- und Kreativindustrien wird aus meiner Sicht deutlich, dass das „Europa-Bauen“15, das unter anderem durch die EU-Erweiterung immer weiter voran getrieben wird, zunehmend durch den Rückgriff auf Kultur und Kreativität geprägt ist; diese spielen sowohl für die Identitätsbildung als auch für die ökonomische Entwicklung von EU-ropa eine wichtige Rolle. Hierbei unterscheide ich zwischen zwei Europa-Begriffen. Mit EU-ropa beziehe ich mich auf die Institutionen der Europäischen Union und auf diejenigen Länder, die Mitglied der Europäischen Union sind bzw. in Beitrittsverhandlungen zu ihr stehen. Der Europa-Begriff geht darüber hinaus und bezieht sich eher auf eine Idee, auf Werte und kulturelle Aspekte. In meinem Beitrag spielt der Begriff Europa vor allem bei der Frage eine wichtige Rolle, inwiefern die Kulturakteure Ljubljanas mit ihren kulturell-künstlerischen und sozialräumlichen Praktiken zu Entwürfen „Anderer Europas“ beitragen, also zu Vorstellungen von Europa, die jenseits der herrschenden Visionen Europas vorstellbar und öffentlich kommunizierbar werden. Das „Europa-Bauen“ und, spezifischer, die Verhandlung von Kultur, Stadt und Öffentlichkeit im Kontext neoliberaler Stadtpolitiken zeigt sich gegenwärtig auch in den Neuen Mitgliedsstaaten der EU: Mit dem EU-Beitritt Sloweniens wurde dessen Hauptstadt Ljubljana endgültig in den europäischen und globalen Städtewettbewerb katapultiert, in dem es immer wichtiger wird, ein spezifisches Image zu entwickeln. Ich gehe davon aus, dass die politisch-administrativen Akteure Ljubljanas beabsichtigen, die Stadt implizit zu einer creative city zu formieren.16 Dies geschieht mithilfe von Diskursen, Raum- und Ästhetisierungsstrategien, die ich als top-down Maßnahmen bezeichne und die, im Kontext des EU-Beitrittes, eine Europäisierung von „oben“ darstellen (EU-ropa). Parallel dazu findet aber auch eine Europäisierung von „unten“ statt, denn die Kulturund Kreativakteure Ljubljanas produzieren mit ihren Praktiken weitere Europaentwürfe und positionieren sich damit implizit zur städtischen Formierung Ljubljanas zu einer creative city, die Kultur vor allem aus einer verwertungslogischen Perspektive konzipiert. Anhand dreier Beispiele aus dem Feld möchte ich aufzeigen, wie sich die Ver- und Aushandlung von Europäisierung von „oben“ und von „unten“ präsentiert und wie die Akteure sich mit ihren Praktiken in ein Verhältnis zur Formierungsstrategie der „repräsentativen“ Seite setzen. Abschließend möchte ich diskutieren, inwiefern diese Perspektive zu einem erweiterten Verständnis von Europäisierung, EU-ropa und Europa beitragen kann.
15 Shore 2000. 16 Vgl. Ehrlich (2014).
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E UROPÄISIERUNG
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‚ANDERE ’ E UROPAS
Europäisierung, die ich an Anlehnung an Welz als den „Prozess, in dem dieses EU-Europa gemacht wird“17 verstehe, stellt sich aus kulturanthropologischer Perspektive als ein Ver- und Aushandlungsprozess dar, der zirkulär verläuft und im Zusammenhang mit globalen Trends und lokalen Strukturen immer wieder neue Formen annimmt.18 Demzufolge kann Europäisierung nicht als ein ausschließlich von oben gelenkter Prozess verstanden werden, dem die Akteure auf der nationalen und lokalen Ebene „ausgeliefert“ sind. Denn diese verhandeln Europäisierung in ihren jeweiligen Kontexten auf ihre spezifische Art und Weise und spiegeln so jeweils eine weitere Variante von Europäisierung in das EUMachtzentrum zurück. Diese Einschätzung führt dazu, dass Europäisierung nicht nur von „oben“, aus der Perspektive des EU-Machtzentrums und der EU-Institutionen und ihren Beamten beforscht werden sollte, sondern auch gefragt werden muss, wie Europäisierung von „unten“ 19 verhandelt wird. In meiner Forschung habe ich sowohl die Formierungsstrategien der städtisch-administrativen Akteure als auch die sozial-räumlichen und künstlerischen Praktiken der Kulturund Kreativakteure beforscht, um nachzuvollziehen, wie beide Seiten, Stadt, Öffentlichkeit und Kultur im Kontext von Europäisierung verhandeln. Europäisierung kann aus einer kulturanthropologischen Perspektive weiterhin nicht als bloße politische oder historische, sondern ebenso als eine kulturelle Praxis verstanden werden, die sich auch am „Rand“ EU-ropas zeigt.20 Den Begriff „Rand“ verwende ich dabei aus geopolitischer, aber auch aus imaginärer Perspektive. Zum einen befindet sich das Forschungsfeld seit dem EU-Beitritt Sloweniens aus Sicht des „EU-Zentrums“, das durch die „alten“ EU-Mitgliedstaaten gebildet wird, am „Rand“ EU-ropas; aus imaginärer Perspektive unterliegen Forschungsfeld bzw. die postsozialistischen EU-Beitrittsstaaten generell noch immer negativ konnotierten Zuschreibungen wie „Osten“, „Balkan“ oder „Rand“.21 Die Bewegung an den vom „Zentrum“ aus konstruierten „Rand“ ermöglicht laut Römhild die Erforschung der imaginären, sozialen, kulturellen Räume, die sich am „Rand“ EU-ropas etablieren, so dass eine Durchkreuzung der von der
17 Welz 2005, 19. 18 Vgl. Poehls/Vonderau 2006, 8. 19 Welz/Lottermann 2009. 20 Vgl. u.a. Römhild 2009. 21 Vgl. Todorova 1999, Buchowski 2006, Niedermüller 2005 u. Kaschuba 2005.
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Europäischen Union eingenommenen hegemonialen Stellung bei der Produktion und Verhandlung dieser Räume möglich wird.22 Hinzu kommt, dass gerade für die Entwicklung von Alternativen zu einem dominanten Europa-Bild die Bewegung an den „Rand“ produktiv ist, weil so die bisherige Perspektive umgekehrt wird. Diese erfolgt nun vom „Osten“ auf das „westliche Zentrum“ und erweitert die Perspektive auf Europäisierungsprozesse. Die Begriffe „Osten“ und „Westen“ verstehe ich in diesem Kontext vor allem als imaginäre Konstrukte, die im Laufe des 18. bzw. des 19. Jahrhunderts infolge des europäischen Nationalismus, der Nationalstaatenbildung und des Kolonialismus entstanden, zum Zweck der Selbstidentifikation und Aufrechterhaltung ungleicher Machtverhältnisse.23 In meiner Forschung bin ich von der ökonomischen und verwertungslogischen Debatte im Bezug auf Kultur und Kunst und deren Akteure ausgegangen. Indem ich nach den Möglichkeiten und Potentialen der Kultur- und Kreativakteure Ljubljanas frage, mit ihren kulturellen und sozial-räumlichen Praktiken zu Entwürfen „anderer“ Europas beizutragen und insofern das „offizielle“ Bild Europas, das etwa durch die Europäische Union in Diskursen verbreitet wird, zu erweitern, plädiere ich für eine Öffnung der dezidiert ökonomischen Sicht auf Kultur und Kreativität, die sich zunehmend auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene zeigt. Den Begriff „andere“ Europas beziehe ich zum einen auf die Verhandlung von Vorstellungen von Europa, die jenseits der herrschenden Visionen Europas vorstellbar und öffentlich kommunizierbar werden; zum anderen auf die Produzenten und Adressaten solcher alternativen Imaginationen, also die „Anderen Europas“, die in den vorherrschenden Visionen ausgeschlossen oder marginalisiert werden, wie etwa bestimmte soziale und kulturelle Milieus und Kritiker Europas.24 Die Verwendung des Begriffs „anderes Europa“ (und nicht EU-ropa) soll verdeutlichen, dass das „andere“ Europa über das institutionelle Gefüge der Europäischen Union hinausgeht und eher für eine Idee und den Einschluss marginalisierter Gruppen und Positionen in den Diskurs über Europa steht. Mit der vorgenommenen Perspektiverweiterung auf Kultur soll die oftmals euphorische Bestätigung der europäischen Integration kritisch beleuchtet und
22 Vgl. Römhild 2009, 262. 23 Vgl. u.a. Kaschuba 2007, Todorova 1999, Niedermüller 2002 u. Niedermüller 2005. 24 Andere Europas war der Titel eines Studienprojektes, das Regina Römhild im Wintersemester 2010/2011 und im Sommersemester 2011 am Institut für Europäische Ethnologie der HU Berlin durchgeführt hat, und das ich als Projekttutorin begleitet habe. Vgl. othereuropes.hu-berlin.de (letzter Zugriff: 25.07.2019) sowie den Beitrag von Römhild in diesem Band.
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scheinbare Selbstverständlichkeiten, die sich vor dem Hintergrund der EUErweiterung ergeben, offen gelegt werden.25
K ÜNSTLERISCHE UND SOZIAL - RÄUMLICHE P RAKTIKEN Meine insgesamt dreimonatige Feldforschung in Ljubljana in den Jahren 2009, 2010 und 2011 hat unterschiedliche künstlerische und sozial-räumliche Praktiken diverser Kultur- und Kreativakteure sichtbar gemacht und auch gezeigt, wie sich diese damit zur offiziellen Formierungsstrategie der Stadt positionieren. Im Folgenden soll anhand dreier Beispiele gezeigt werden, wie Stadt, Öffentlichkeit und Kultur im Kontext der Europäisierung von verschiedenen Akteuren in Ljubljana verhandelt werden. Krater Bežigrad Das interdisziplinäre Projekt Krater Bežigrad26 beschäftigt sich mit der Versorgung von Künstlern mit günstigem Wohn- und Arbeitsraum sowie der Ermöglichung von Kommunikations- und Gemeinschaftsräumen. Das brachliegende Gelände, das dem Staat gehört, liegt im Stadtteil Bežigrad und ist von einer Kraterlandschaft geprägt. Seit vielen Jahren protestieren die Anwohner gegen die Brache. Mit dem Projekt soll diese sowie die nähere Umgebung, zu der ein Park und eine leer stehende Einkaufspassage gehören, wieder als öffentlicher Raum belebt werden, unter Einbezug der zukünftigen Nutzer und Anwohner. Damit wendet sich das Projekt gegen die immer weiter fortschreitende Privatisierung öffentlichen Raumes in Ljubljana, die sich im Zuge der Unabhängigkeit, EUisierung und der neoliberalen Globalisierung entwickelt hat. Einer meiner Interviewpartner verweist auf die Tendenz, dass in Slowenien immer mehr öffentliche Fläche in private umgewandelt wird. Er geht davon aus, dass Ljubljana in Europa mittlerweile das höchste Aufkommen an Konsumfläche pro Einwohner hat.27 Geplant sind auf dem Gelände der Bau kostengünstiger Wohn- und Arbeitseinheiten für Künstler und andere Hochschulabsolventen, um ihnen eine größere Unabhängigkeit gegenüber ökonomischen Zwängen zu gewährleisten,
25 Vgl. Poehls/Vonderau 2006, 7f. 26 Das Projekt ist ein Pilotprojekt im Creative Communities Forschungsprojekt. Beteiligt sind u.a. die Akademie der Bildenden Künste, die Architekturfakultät, das Institut für Wirtschaftswissenschaften und das Institut für Soziologie der Universität Ljubljana. 27 Vgl. u.a. Cerar 2006, Pichler-Milanovič 2005 u. Gligorijević 2006.
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denen vor allem Künstler im Kontext abnehmender wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und im Zusammenhang mit dem creative cities Modell ausgesetzt sind. Reckwitz zufolge sieht dieses Kreativität und Kultur ausschließlich aus einer instrumentell verwertungslogischen Perspektive, die eingesetzt werden soll im Wettstreit um Ressourcen und Kapital.28 Die Initiierung des Projektes kann somit einerseits als eine Reaktion auf den stark privatisierten Wohnungssektor in Ljubljana interpretiert werden, denn der Staat zog sich seit der Unabhängigkeit immer weiter aus der Wohnungsversorgung zurück, heute sind ca. 90 % des Wohnungsmarktes von Ljubljana in privater Hand. Andererseits ist es der Versuch, die noch wenig verbreitete Praxis der Zwischennutzung29 von Gebäuden und brach liegender Fläche durch Kulturakteure im Feld einzuführen und somit Alternativen zur ökonomischen Verwertung urbaner Flächen und Gebäude durch Privatinvestoren, die nicht unbedingt die öffentlichen und lokalen Interessen und Besonderheiten berücksichtigen, aufzuzeigen.30 Die vorgesehenen Wohn- und Arbeitseinheiten auf dem Gelände sollen so flexibel konstruiert sein, dass sie auch an anderen Orten weiter genutzt werden können. Daneben sollen öffentlich zugängliche Kultur- und Kommunikationsräume entstehen, beispielsweise ein Amphitheater, ein Skaterpark, eine Kletterwand und eine Freiluftbibliothek. Als Organisations- und Finanzierungsform ist derzeit geplant eine Kooperative nach südeuropäischem Vorbild zu gründen, die nach ähnlichen Prinzipien wie eine Genossenschaft fungiert. Das Projekt will also auch alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle testen. Daneben ist das community building ein zentrales Element des Projektes. Dazu setzen sich die Projektteilnehmer mit aktuellen urbanen Entwicklungen auseinander und entwickeln Lösungsvorschläge, wie der öffentliche Raum wieder stärker gemeinschaftlich genutzt und unterschiedlichen Nutzergruppen, unabhängig von ihrem sozio-ökonomischen Status, zugänglich gemacht werden kann. Das Projekt will also die urbane Entwicklung, die im Kontext von EU-ropa zunehmend von neoliberalen Prozessen, zu der ich auch die Formierung von Städten nach
28 Vgl. Reckwitz 2009, 6f. 29 Ein Beispiel der (kulturellen) Zwischennutzung sind so genannte Wächterhäuser, wie sie u.a. in Leipzig zu finden sind. Vgl. Ehrlich 2010. 30 Während der Feldforschung erhielt ich unterschiedliche Einschätzungen bezüglich des Vorhandenseins räumlicher Freiräume in Ljubljana. Einige meiner Interviewpartner gehen von wenigen bis keinen Raumpotentialen für die künstlerische Nutzung aus; andere hingegen verwiesen auf etliche Freiräume, allerdings schränkte ein Teil von ihnen ein, dass die temporäre Zwischennutzung für Künstler in Slowenien wenig bekannt bzw. populär sei u.a. aufgrund strittiger Eigentumsverhältnisse.
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dem creative cities Modell zähle, geprägt ist, wieder mehr an den Bedürfnissen der Nutzer bzw. abseits rein ökonomischer Interessen ausrichten. Am Beispiel von Krater Bežigrad wird deutlich, dass Europäisierung nicht ausschließlich als ein top-down Prozess verstanden werden kann, da sich auch von „unten“, auf der nicht-institutionalisierten Ebenen, Aushandlungen um Europäisierung zeigen, die sich mit aktuellen Entwicklungen von Stadt, Öffentlichkeit und Kultur auseinandersetzen und alternative Nutzungsmodelle entwickeln. Grafiti Ljubljane Von Juli bis September 2010 stellte die Fotojournalistin und -künstlerin Mankica Kranjec ihre Graffitifotografien an der Innenseite des Ljubljanica Flussbeckens aus und integrierte dadurch die alternative Subkultur in das historische Zentrum von Ljubljana. Die Ausstellung war in der Form einzigartig, denn die ästhetisierte und galerieartige Präsentation inszenierte Graffiti als einen selbstverständlichen Bestandteil von urbaner Kultur in Ljubljana. Gleichzeitig entlarvte die Stadt ihre Doppelstrategie, die sie gegenüber der Graffiti-Szene verfolgt: Einerseits gibt sie Flächen frei für die legale Nutzung durch Graffiti-Künstler und ermöglichte zunächst auch die Ausstellung; andererseits illegalisiert sie Graffitis und verhinderte eine Verlängerung der Ausstellung – obwohl sie von der Mehrheit der Bewohner und Touristen positiv aufgenommen wurde. Bei den Graffitikünstlern stieß die Ausstellung auf zwiespältige Reaktionen, wie mir Mankica berichtete: Die wenigen Künstler, die sich überhaupt äußerten, fanden zwar die Idee gut, Graffiti als selbstverständlichen Bestandteil urbaner Kultur darzustellen, kritisierten aber die medienwirksame Inszenierung sowie die Kooperation mit der Stadt, die sonst eher ablehnend gegenüber Graffitis agiert. Auch Mankica selber positioniert sich in einem Dazwischen: Sie nutzt die Graffiti-Ausstellung als ein Mittel ihrer künstlerischen Selbstvermarktung und verweist so auch auf die (ökonomische) Drucksituation, der vor allem freie Kulturschaffende zunehmend ausgesetzt sind. Diese ergibt sich, dem neoliberalen Trend folgend unter anderem durch den zunehmenden Rückzug des Staates und der Kommunen aus der Versorgung mit Kultur sowie durch ein Verständnis von Kultur, das auf privatwirtschaftlichen Logiken basiert. Die Künstlerin hat diese Prinzipien verinnerlicht und verfolgt (auch) eine ökonomische Verwertung ihrer künstlerischen Praktiken. Gleichzeitig versucht sie eine zum Teil noch immer marginalisierte Kulturform als einen selbstverständlichen Teil der Kultur- und Kunstszene Ljubljanas zu präsentieren und dadurch der offiziellen Darstellung von Ljubljana und der vorwiegend verwertungslogischen Perspektive auf Kultur einen alternativen Entwurf entgegen zu setzen.
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Rog Die Fahrradfabrik Rog, im Zentrum von Ljubljana gelegen, wurde Mitte der 1990er Jahre geschlossen und seitdem immer wieder für vorwiegend kulturelle Veranstaltungen genutzt, etwa für die Biennale für Industriedesign (BIO). 2002 kaufte die Stadt das Gelände, das 2006 von Künstlern und Globalisierungsgegnern besetzt wurde. Die Besetzer versuchten (zunächst) alternative Lebens- und Organisationsformen zu etablieren in Form von basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen, wöchentlichen Versammlungen bzw. gemeinschaftlich geteiltem Besitz. Dieser Ansatz scheiterte jedoch, da die Nutzergruppen immer heterogener wurden; neben den Künstlern, Aktivisten und sozialen Vereinen, die hier Räumlichkeiten für ihre Arbeit fanden, nutzten zunehmend auch illegalisierte Migranten und Obdachlose das Gelände. Mit der Nutzung des Geländes durch von Seiten der Stadt marginalisierte und unerwünschte Personengruppen begannen die Konflikte, die in der Abstellung der Strom- und Wasserversorgung durch die Stadt mündeten. Zudem zeigte sich, dass auch die Stadt Interesse am Gelände hat, zählt dieses doch zu den Filetstücken des Immobilienmarkts von Ljubljana. Mit der indirekten Formierung Ljubljanas zu einer creative city hat die Stadtverwaltung die Chance ergriffen, auf dem Gelände ein Contemporary Centre of Arts für Design, Architektur und bildende Kunst zu gründen. Zu diesem Zweck wurde die Entwicklung des Geländes in das EU-Projekt Second Chance31 integriert. An diesem Beispiel zeigt sich, wie verschiedene Entwürfe von Stadt-Machen aufeinander prallen. Auf der einen Seite stehen die Nutzer, die durch Eigeninitiative und mit wenig finanziellen Mitteln Freiräume mit ihren Praktiken bespielen und alternative Lebens- und Arbeitsmodelle, die offiziell nicht vorgesehen sind, etablieren. Auf der anderen Seite steht die Stadtverwaltung, die mit der Entwicklung des Geländes eine Möglichkeit sieht, das Image Ljubljanas als einer creative city zu entwickeln, das dafür sorgt, dass Touristen, hochqualifizierte Bewohner, Unternehmen sowie Investoren angezogen werden. Die Erforschung räumlicher, künstlerischer und kultureller Praktiken in Ljubljana haben gezeigt, dass Europäisierung ein vielfältiger Prozess ist, an dem
31 Das Projekt wurde durch das Central Europe Programm implementiert und lief von Januar 2010 bis September 2013. Beteiligt waren die Städte Nürnberg, Leipzig, Venedig, Krakau und Ljubljana. Ziel war die Widerbelebung und Umnutzung alter, verlassener Industrieobjekte für die Kultur- und Kreativindustrien. Vgl. Webseite des Projekts: https://web.archive.org/web/20141208145415/www.secondchanceproject.eu/sta tic/start.php (letzter Zugriff: 25.07.2019).
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die unterschiedlichsten Akteure beteiligt sind, die auf diesem Weg verschiedene Vorstellungen bezüglich Europas inszenieren und konstruieren und so auch andere, von „oben“ oftmals marginalisierte Ideen und Entwürfe bezüglich dessen, was und wer Europa ist und ausmacht, entwickeln. Sei es in Form alternativer Organisation von Gemeinschaft mithilfe von Raumaneignung und basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen, sei es in Form einer Widerbelebung des öffentlichen Raumes, der durch Privatisierung immer mehr verödet und nur bestimmten und erwünschten Gruppen (mit entsprechendem Kapital) zugänglich gemacht werden soll; sei es durch eine Erweiterung der Vorstellung dessen, was als Kunst und Kultur im öffentlichen Raum zu gelten hat durch die Inszenierung von Streetart und Graffiti als selbstverständlicher Bestandteil urbaner Kultur. Die integrative Perspektive eines Europa Verhandelns sowohl von „oben“ als auch von „unten“ ermöglicht die Erweiterung des Verständnisses davon, wie Stadt, Öffentlichkeit und Kultur im Kontext von Europäisierung gemacht und ausgehandelt werden. Der Blick und die Bewegung an den „Rand“ haben zudem deutlich gemacht, dass einer „westlich“ dominierten Sichtweise auf Europa alternative Entwürfe entgegengesetzt werden können. Nur durch die Erweiterung dieser Perspektive ist es möglich, dass bisher marginalisierte Perspektiven, Positionen und Akteure im Kontext der Europäisierung hör- und sichtbar und somit Vorstellungen „anderer Europas“ möglich werden.
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L ITERATUR Buchowski, Michał: „Hierarchien des Wissens in der ostmitteleuropäischen Anthropologie.“ In: Poehls, Kerstin/Vonderau, Asta (Hg.): Turn to Europe. Kulturanthropologische Europaforschungen. Berliner Blätter: Ethnographische und ethnologische Beiträge 41 (2006), 27-41. Cerar, Aidan: International Market of Post-Modern Cities. The Attractiveness of Post-Modern Cities for the Creative Class and Knowledge Workers, and Promotion of Urban Art. Dipl.-Arbeit Ljubljana 2006, online unter: dk.fdv. uni-lj.si/dela/Cerar-Aidan.PDF (letzter Zugriff: 25.07.2019). Council of the European Union: „Contribution of the Cultural and Creative Sectors to the Achievement of the Lisbon Objectives – Adoption of the Council Conclusions.” 2007, online unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ%3AC%3A2007%3A311%3A0007%3A0009%3AEN %3APDF (letzter Zugriff: 25.07.2019). Department for Culture, Media and Sport/Department for Business, Enterprise and Regulatory Reform/Department for Innovation, Universities and Skills (Hg.): „Creative Britain. New Talents for the New Economy.” 2008, online unter: https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/http://www.culture.gov.u k/images/publications/CEPFeb2008.pdf (letzter Zugriff: 25.07.2019). Ehrlich, Kornelia: „Instruments for Sustainable Urban Development in Eastern Germany: The Example of the ‘Wächterhäuser’ (Warden Houses) in Leipzig.” In: Schrenk, Manfred u.a. (Hg.): REAL CORP 2010. Cities for Everyone: Liveable, Healthy and Prosperous. Proceedings of 15th International Conference on Urban Planning, Regional Development and Information Society, Schwechat: im Selbstverlag des Vereins CORP - Competence Center of Urban and Regional Planning, 361-366. Ehrlich, Kornelia: Creative City Ljubljana? Eurpäisierungsprozesse im Spannungsfeld neoliberaler Regierungspolitiken und widerständiger Praktiken. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin: HumboldtUniv., Diss 2014. Estnisches Ministerium für Kultur (Hg.): „Creative Industries in Estonia, Latvia and Lithuania.” 2010, online unter: https://web.archive.org/web/2013112717 2732/https:/www.looveesti.ee/loomemajandusest/materjalid/570-creativeindustries-in-estonia-latvia-and-lithuania.html (letzter Zugriff: 25.07.2019). European Commission, Directorate-General for Education and Culture (Hg.): „The Economy of Culture in Europe” 2006, online unter: ec.europa.eu/cul
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„Ein Festspielplatz Europas“ Zur Inszenierung des venezianischen Karnevals im 21. Jahrhundert J ULIA G EHRES
Hafenstädte, heißt es häufig, sind Orte, an denen sich Kulturen treffen. Wo sich See- und Landwege berühren, wo Reisen beginnen oder enden und Waren aus entfernten Ländern ausgetauscht werden, findet – so die Vorstellung – Kommunikation statt, vermischen sich Menschen, Sprachen und Mentalitäten. In gewisser Weise scheint dies in den Jahrhunderten der Löwenrepublik auch für Venedig gegolten zu haben. Die Stadt, die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit über weite Teile des östlichen Mittelmeers herrschte, war lange Zeit eine Mittlerin zwischen Orient und Okzident.1
In dem Zitat, das diesem Beitrag vorangestellt ist, beschreibt Robert Fajen einen Vorgang, der heute, je nach Kontext und Verwendungszusammenhang, unter verschiedenen Bezeichnungen wie Globalisierung, Europäisierung oder Transnationalisierung Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden hat. Interessant dabei ist die Tatsache, dass sich die konkreten Begrifflichkeiten, die dieses Phänomen definieren, erst im 20. Jahrhundert herausgebildet haben, während dessen Inhalte oder Vorstellungen durchaus keine Erscheinungen der späten Moderne sind, sondern Prozesse, die bereits seit vielen Jahrhunderten stetig fortlaufen. Ähnliches konstatiert auch Burkhart Lauterbach, der ebenfalls Bezug auf die Lagunenstadt nimmt. Ein Blick in die Historie zeige, dass 1
Fajen 2007, 185.
82 | JULIA G EHRES etwa in Metropolen wie Istanbul oder Venedig, in Hafenstädten wie Hamburg oder Liverpool sowie jeglichen Grenzgebieten kultureller Austausch geschieht und die vielzitierte Ernst Blochsche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herrscht, dies Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, bevor uns vom Globalisierungsgeschehen gekündet wird.2
Seestädte sind „privilegierte Orte“ für die Analyse historischer und kontemporärer kultureller Entwicklungen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene. Schon per definitionem seien sie als Grenzgebiete und auch als Zwischenräume zu betrachten, die zwischen Land und Meer, Natur und Kultur, äußeren und inneren Welten liegen.3 Dem Begriff „Grenze“ kommt dabei eine Bedeutung zu, die sich in zwei Dimensionen manifestiert: Einerseits ist es möglich, den Terminus nach geografischen, politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten eindeutig zu bestimmen. Andererseits geht die Bezeichnung weit über die topologischen Anordnungen hinaus, da alle territorialen und politischen Grenzen auch immer kulturell determiniert sind. In diesem Sinne werden die realen Trennungslinien häufig von mobilen und imaginären Grenzverläufen überlagert oder ersetzt – es entstehen neue Räume, Identitäten und Kommunikationsnetzwerke, alte verlagern sich oder verschwinden ganz. Meine Ausführungen beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit sich im Verlauf der Geschichte Grenz-, Raum- und Identitätsbilder sowie die Formen des kulturellen Austauschs und der Kommunikation in der Hafenstadt Venedig verändert haben und wie Akteure das heutige Venedig zur Selbstinszenierung nutzen. Dabei richtet sich der Blick weniger auf Venedig als ganzheitliches Konstrukt mit all seinen kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Implikationen. Vielmehr liegt das Augenmerk auf einem spezifischen Phänomen, das sich nicht nur aufgrund seiner temporären Markierung, sondern ebenso wegen seiner räumlichen Dimension im Sinne verschiedener, sich vom Alltag differenzierender Handlungsprozesse4 als eigener Mikrokosmos innerhalb des venezianischen Stadtgefüges herausbildet. Die Rede ist vom Karneval, welcher sich sowohl als Instrument der Grenzüberschreitung nutzbar machen lässt, wenn er Handlungs- und Kommunikationsräume von Individuen öffnet oder durchbricht, als auch das Gegenteil bewirken kann. In diesem Fall kommt es zu Grenzziehungen, die sich in Form von Abgrenzungsstrategien auf räumlicher sowie sozialer Ebene manifestieren.
2
Lauterbach 2010, 123.
3
Vgl. Driessen 2006, 45f.
4
Vgl. Kirchner 2011, 109.
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H ISTORISCHER K ONTEXT Spiele, Turniere und Inszenierungen mit Maskierungen, die sich mit dem Karneval in Verbindung bringen lassen, sind für Venedig seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesen. Obwohl sich dort bereits im 15. Jahrhundert eine Art der temporären Unterhaltungsindustrie etablierte, hatte sich noch keine für Venedig spezifische Karnevalskultur entwickeln können. Laut Peter Burke war der Karneval zu diesem Zeitpunkt für „Venedig nicht charakteristischer als für Florenz, Rom, Neapel oder für andere Städte im Mittelmeerraum, zum Beispiel Montpellier, Barcelona oder Sevilla. Am Rande des offiziellen Programms war das weniger organisierte Geschehen überall ziemlich das gleiche.“5 Erst ab dem 17. Jahrhundert begann der Karneval in der italienischen Seerepublik eine dominante Rolle einzunehmen und zeichnete sich durch eine gewisse Originalität aus. Auffällig daran erscheint, dass das Fest seinen höchsten Grad an Berühmtheit in einer Zeit erlangte, in der sich die urbane Situation grundlegend veränderte: Gehörte Venedig im 15. Jahrhundert noch als Handelsplatz zu den wirtschaftlich bedeutsamsten und größten Metropolen Europas, so kam es bald zur Aufhebung ihrer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Überlegenheit gegenüber anderen Zentren in Europa.6 Der Stadtstaat war geprägt von Krisen, er musste militärische Misserfolge und territoriale Niederlagen verkraften.7 Obwohl die Sektoren Handel und Produktion im 18. Jahrhundert zum Teil wieder einen Aufschwung verzeichnen konnten, fand die venezianische Gesellschaft nicht mehr zu ihrer alten Stärke zurück. Entsprechend ihres politischen Zustands sah sich die Stadt veranlasst, ihre instabile gesellschaftliche Position nach außen hin zu verschleiern und weiterhin das Bild eines festgefügten Staatswesens aufrecht zu erhalten. Durch die Veranstaltung prunkvoller Feste versuchte die Regierung einerseits, vor den anwesenden in- und ausländischen Besuchern mit ihrem demonstrativ zur Schau gestellten Reichtum zu brillieren, andererseits gelang es der Führungsschicht mit der Organisation vieler aufeinanderfolgender Spektakel, die Stadtbürger von der staatlichen Krise und daraus resultierenden Revolten und Aufständen abzulen-
5
Burke 1986, 146.
6
Der Bedeutungsverlust trat jedoch nicht unmittelbar ein. Das gesamte 16. Jahrhundert galt als Übergangsphase, in der durch die Entstehung neuer Wirtschaftszentren und der allmählichen Verlagerung des Welthandels vom Mittelmeer zum Atlantik Venedigs zuvor innegehabten Vormachtstellung ein Ende bereitet wurde. Vgl. Dshiwelegow 1959, 35.
7
Vgl. Aymard u.a. 1990, 164.
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ken. Die zahlreichen Zeremonien verhinderten jedoch nicht nur mögliche Unruhen und Ausschreitungen innerhalb der Bevölkerung, sondern dienten zugleich als probates Mittel, kriegerische Bedrohungen abzuwehren.8 Nicht zuletzt hatten die Verwaltungsbehörden registriert, dass das unentwegte Festangebot eine hohe Anziehungskraft auf gewinnbringende Reisende ausübte. Im 18. Jahrhundert war die gesellschaftsstrukturelle Transformation unübersehbar: Der Ruhm der Stadt […] hatte seinen Inhalt geändert. Aus der Königin der Meere, der die Pforten zum Orient offen standen, war der Ort der Verheißung geworden, die Süße und Freiheit des Lebens zu kosten wie nirgendwo sonst. Der Name Venedig erinnerte nicht mehr an Seeschlachten und Belagerungen, sondern an den großen Karneval, der kein Ende zu nehmen schien. 9
Die kulturellen Güter traten nun in den Vordergrund. Kunst, Theater und Oper gehörten zu den drei Hauptpfeilern, auf die sich die Republik stützen konnte, um ihren Anspruch als führendes europäisches Kulturzentrum zu unterstreichen. Parallel dazu zeigten sich auch Veränderungen auf der weltanschaulichen Ebene. Die venezianische Gesellschaft war geprägt vom Verlangen nach Vergnügen. Das Glücksspiel im Kasino zählte in gleicher Weise zu den Unterhaltungsangeboten wie der Besuch von Kaffeehäusern als Treffpunkt und Konversationsort. Ferner verhalf das Geschäft der käuflichen Liebe10 der Stadt bis zum Sturz der Republik durch Napoleon im Jahr 1797 zu ihrem Ruf als „Festspielplatz Europas“11. In den darauffolgenden Jahren erfuhren das öffentliche Amüsement und damit auch der Karneval in Venedig aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen Einschränkungen, was wohl zu einer zurückhaltenderen Art des Feierns führte.12 Bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts scheiterten einige Versuche das Fest öffentlich und längerfristig zu revitalisieren. Für den Beginn des modernen Karnevals im historischen Zentrum von Venedig spielt das Jahr 1978 eine zentrale Rolle: Studierende der „Accademia di belle arti“ inszenierten gemeinsam mit anderen Gruppen während der Karnevalstage Maskenspiele und 8
Vgl. Friedrichs 2006, 312-320.
9
Eickhoff 2007, 23.
10 Vgl. Dreyer 2009, 40-88. 11 Vgl. Karsten 2008, 216-226 u. Rösch 2000, 166-169. Zum „Festspielplatz Europas“ vgl. das entsprechende Kapitel bei Eickhoff 2007, 22-40, dem der Titel des vorliegenden Beitrags entnommen ist. 12 Vgl. Pawliczak 2011, 197.
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Stegreifstücke. Dabei liefen „die Gruppen durch die Stadt, warfen mit Mehl und Eiern um sich und involvierten und beschmutzen dabei ebenfalls verärgerte Passanten“13. Diese Handlung veranlasste den damaligen Bürgermeister Mario Rigo zur Einberufung einer Bürgerversammlung, in der sich die Anwesenden mit der Frage auseinandersetzen, wie das in den Karnevalstagen entstehende Chaos zu vermeiden sei. Die Anwesenden kamen zu dem Schluss, dass man das Fest etwas mehr institutionalisieren müsse. Die „Scuola Grande San Marco“, eine Vereinigung venezianischer Bürger, richtete daraufhin nach dem Vorbild Buranos einen mehrtägigen Karneval aus, der den Auftakt einer neuen „Karnevalsära“ in Venedig bilden sollte.14
E NTWICKLUNG DES VENEZIANISCHEN K ARNEVALS SEIT DEN 1980 ER J AHREN Wirft man einen Blick in die wissenschaftliche Forschungsliteratur, so tauchen seit rund zwei Jahrzehnten vermehrt Studien auf, die ein reges Interesse an bestimmten festkulturellen Phänomenen zeigen. Dass dieses Interesse nicht von ungefähr kommt, sondern eine Antwort auf verschiedene, im 20. Jahrhundert einsetzende, gesellschaftliche Wandlungsprozesse darstellt, wird spätestens dann deutlich, wenn man sich deren Auswirkung auf die Festkultur unserer Gegenwartsgesellschaft vor Augen führt. Wie diese Umbrüche von der venezianischen Bevölkerung wahrgenommen werden, verdeutlichen die folgenden Interviewauszüge.15 Die persönlichen Erinnerungen16 der Stadtbewohner an die ersten Karnevalsfeste zum Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre zeugen in der Mehrzahl von identischen Aussagen. Besonders zwei Aspekte werden dabei hervorgehoben, nämlich die Spontaneität und Einfachheit des Festes. Ein in Venedig
13 Bressanello 2010, 15. 14 Vgl. Bressanello 2010, 16. 15 Die folgenden Aussagen basieren auf 124 Interviews, die im Rahmen von zwei Feldforschungsaufenthalten in Venedig in den Jahren 2010 und 2011 durchgeführt wurden. 16 Bei Erinnerungen an erlebte Geschehnisse handelt es sich immer um einen Ausformungsprozess einer Erzählgemeinschaft, der die Vergangenheit als solche nur rekonstruiert. Die Rückerinnerungen der Interviewpartner erfolgen aus einer subjektiven Perspektive und stellen daher nicht zwangsläufig ein objektives Abbild der vergangenen Wirklichkeit dar. Vgl. Zinn-Thomas 2010, 27.
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aufgewachsener und lebender Gesprächspartner beschreibt die damaligen Feste folgendermaßen: Es war nichts organisiert, man lief in der Stadt herum und amüsierte sich, es wurden kleine, spontane Aufführungen inszeniert […]. Radio San Marco Centrale spielte Musik auf dem Platz und die jungen Leute tanzten dazu […]. Das war alles sehr einfach gehalten.17
Ähnliches habe auch auf die Kostümierung zugetroffen, die keinen speziellen Erwartungen entsprach, wie dies heutzutage der Fall sei. Vielmehr habe sich die Verkleidung durch eine gewisse Spontaneität ausgezeichnet, die der Maskenträger bei der Wahl seines Kostüm an den Tag legte, wenn er sich etwas zusammenstellte, das der Dachboden „auf die Schnelle“ hergab. In den darauffolgenden Jahren trat, sowohl was die Maskierung als auch die Gestaltung des Festes selbst betraf, eine Entwicklung ein, welche im Begriff war, die beiden oben benannten Eigenschaften des Karnevals zu transformieren. „Von einem spontanen Phänomen“ sei das Fest „zu einer Vergnügung geworden, die die ganze Stadt mit einbezog“.18 […] und dann im Laufe der Jahre fing man an den schöneren Karneval zu feiern“, erinnert sich eine Souvenirladenbesitzerin. „Auf dem Markusplatz wurden die Leute dazu eingeladen sich zu kostümieren, die Kostüme sind viel schöner geworden und viel wichtiger […] der Karneval ist schließlich zu einer großen Sache geworden, zu einer touristischen Attraktion.19
Dazu beigetragen habe u.a. eine stadtpolitische Initiative, welche das Ziel verfolgte, die privaten Kostümproduktionen durch die Veranstaltung von Maskenschönheitswettbewerben auf dem Markusplatz zu professionalisieren. Einhergehend mit diesen Optimierungsversuchen auf visueller Ebene, zugunsten eines besonderen und tourismusfördernden Ambientes, registrierten die Venezianer vermehrt partizipationsspezifische Wandlungen innerhalb des Festablaufs, wobei sie nicht selten das „neue“ touristische Interesse am Karneval seit den 1980er Jahren als eine imaginäre Trennungslinie für die Feiermodi „früher“ und „heute“ benutzen. Mögliche Erklärungen für diese strukturellen Transformationen bieten die Überlegungen des Soziologen Gerhard Schulze. Bereits in den 1990er Jahren verzeichnet er einen sozialen Lebenswandel innerhalb der westlichen Gesellschaft, den er vornehmlich am „Erlebnis-Begriff“ festmacht: 17 Interview vom 23.03.2011. 18 Interview mit einem Autor und Festinitiator vom 16.03.2011. 19 Interview mit einer Souvenirladenbesitzerin vom 26.03.2011.
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Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden. Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglichkeiten durch den bloßen Erlebniswert der gewählten Alternative motiviert […]. Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Suche nach Glück.20
Von der Tendenz, dass sämtlichen Bereichen unseres Gesellschaftssystems ein verstärkter Erlebnischarakter verliehen wird, ist das Festgeschehen unmittelbar betroffen. Erkennbar wird dies in Form eines Phänomens, welches unter dem Begriff „Eventisierung“ subsumiert werden kann. Für Ronald Hitzler hat der Terminus einen doppelten Sinngehalt. Erstens sei darunter einen Prozess zu verstehen, bei dem „immer mehr Bereiche unseres gesellschaftlichen Miteinanders mit einer bestimmten Art kultureller Erlebnisangebote durchzogen und dergestalt sozusagen ‚verspaßt‘ werden.“ Zweitens bezeichne der Terminus „die Projektion und Produktion, kurz: das Machen irgendeines konkreten Events […].“21 Eine vergleichende, die nationale Perspektive aufgebende Betrachtung zeigt, dass Events immer größere Teile der aktuellen Populärkultur in den westlichen Ländern ausmachen.22 Gekennzeichnet sei diese Festlandschaft durch verschiedene Entwicklungen, die Winfried Gebhardt als Deinstitutionalisierung, Entstrukturierung, Profanisierung, Multiplizierung und Kommerzialisierung des Festlichen bezeichnet. Schon die semantische Aussagekraft dieser Begriffe deutet auf einen Sachverhalt hin, der eine Transformation des festlichen Erfahrens mit sich bringt und dazu führt, dass sich das internationale Angebot an festlichen Ereignissen einander immer mehr ähnelt und zugleich, weil zu jeder Zeit an jedem Ort angeboten, multipliziert. In ihrer prägnantesten Ausformung findet sich diese „Veralltäglichung des Festes“ für Gebhardt in Freizeit- und Erlebnisparks wieder, da diese ein Ereignis als ein konstantes und permanent konsumierbares Angebot offerieren.23 Eine Parallele zwischen dem Modell des Vergnügungsparks und dem venezianischen Karneval lässt sich insofern ziehen, dass die Stadt gelegentlich selbst mit einem Erlebnispark verglichen und der Karneval als eine Attraktion wahrgenommen wird. Einmal wurde ich gefragt: ,Wann wird hier geschlossen?‘ Sie [Touristen] dachten tatsächlich, dass das hier eine Art Park sei… Sie haben mich gefragt: 'Seid ihr hier nur aus ge-
20 Schulze 2005, 13f. 21 Hitzler 2011, 19f. 22 Vgl. Hepp/Vogelgesang 2003, 12. 23 Vgl. Gebhardt 2000, 24-27.
88 | JULIA G EHRES schäftlichen Gründen oder gibt es auch Leute, die hier wohnen? Nur aus geschäftlichen Gründen, richtig?'24
Viele Einheimische, wie auch diese Ladenbesitzerin, befürchten, dass sich ihre Stadt früher oder später tatsächlich in einen Erlebnispark verwandelt, in dem sie dann selbst nicht mehr als Stadtbewohner wahrgenommen werden, sondern ihnen ausschließlich die Rolle von Statisten zukomme. Solchen Vorstellungen und Entwicklungen versucht eine Gruppe Venezianer entgegenzuwirken, indem sie in regelmäßigen Abständen ironische Protestaktionen25 ins Leben ruft. Die im Jahr 2010 organisierte Veranstaltung „Welcome to Veniceland“ stand explizit unter dem Motto des Erlebnisparks. Eigens für diese Aktion wurden Stadtpläne gedruckt, welche als Disney- und Fantasiefiguren verkleidete Personen am „Eingangstor“ der Stadt, der „Ponte della Costituzione“ verteilten. Anstelle von Informationen zu den schönsten Sehenswürdigkeiten Venedigs bot diese Karte eine Übersicht der spektakulärsten Attraktionen von Veniceland: „St. Mark’s Fun Camp“, „The Giudecca Experience“ oder „Cannareggio Land“. Das Beispiel zeigt, dass bei Demonstrationen dieser Art eine politische Intention im Vordergrund steht, die das Ziel verfolgt auf gesellschaftsstrukturelle Problematiken aufmerksam zu machen und damit in einen Diskurs einzugreifen, der die stadtpolitische, wenn nicht gar die staatspolitische Ebene betrifft. Die Ernsthaftigkeit, mit der ein Organisator der Bürgerinitiative die Situation beschreibt, verdeutlicht, dass es sich dabei um mehr als eine latente Unzufriedenheit, sondern um Existenzängste der Einheimischen handelt: Venedig ist schon seit Jahren dabei sich in einen Park für Erwachsene zu verwandeln, in einen Park wie Disneyland. Es ist ein Ort, an dem der Tourist seine Eintrittskarte bezahlt, sich mehr oder weniger amüsiert, eine Reihe von gefälschten Dingen sieht und dann nach Hause fährt – und dann schließt der Park. Am Tag herrscht in Venedig Chaos, nachts ist niemand mehr da [...]. Anstatt hier zu wohnen, leben die Bewohner Venedigs außerhalb, weil sie fast alle vertrieben wurden […]. Es scheint fast so, als gäbe es einen politischen Willen Venedig zu einem Erlebnispark zu machen um Geld damit zu verdienen, Ende, Tschüss […] es ist keine richtige Stadt mehr, die mit ihren Einwohnern lebt. Unsere Veranstaltung ‚Veniceland‘ war ein gewöhnlicher ironischer Protest um das aufzuzeigen.26
24 Interview vom 26.03.2011. 25 Vgl. Venessia 2013a, Venessia 2013b u. Festa Indiana 2013. 26 Interview vom 26.03.2011.
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Allen gesellschaftlichen Dissonanzen zum Trotz, finden sich in solchen Protestaktionen Bestandteile einer von Schulze beschriebenen Erlebnisgesellschaft wieder. Dies wird an dem Punkt deutlich, an dem der Interviewpartner von einem „ironischen Protest“ spricht und damit die Ernsthaftigkeit der Angelegenheit relativiert. Neben ihrer politischen Absicht intendierte diese Aktion eine Vermittlung bestimmter Erlebnisinhalte. Wenn also davon ausgegangen wird, dass „Welcome to Veniceland“ eine in Teilen auf Unterhaltung ausgerichtete Veranstaltung war, lässt sie sich als eine besondere Form des „populären Events“27 charakterisieren. Sie könnte dann selbst als Teil des Eventisierungsprozesses erachtet werden und würde somit im Grunde zu einer Entwicklung beitragen, die sie eigentlich zu verhindern sucht.
D ER
SOZIALE
R AUM DES VENEZIANISCHEN K ARNEVALS
Die Betrachtung des Gesamtphänomens Karnevals zeigt, dass es sich bei dieser Erscheinung um verschiedene, miteinander verknüpfte Einzelkomponenten im Sinne von Ereignissen oder Aktionsformen handelt, die zwar erst im Kollektiv das Konstrukt Karneval mit all seinen Konnotationen ergeben, jedoch auch unabhängig voneinander existieren können und sich dann häufig in disparaten Kategorien begegnen. Markus Dewald verweist diesbezüglich auf zwei soziale Räume, die in der Zeit des Karnevals entstehen können, und differenziert zwischen dem kleineren Raum der Maskierten und dem größeren Raum der Zuschauer, wobei er den Maskenträger die Eigenschaft „aktiv“ zuschreibt, während sich die Zuschauer in einem Passivraum bewegen, da ihre Funktion ausschließlich in der Rezeption des Geschehens bestehe.28 Obwohl die Zuschreibung „aktive Maskenträger“ und „passive Zuschauer“ keiner Generalisierung unterzogen werden sollte, da das Konzept in seiner praktischen Anwendung zu kurz greift, können die Ausführungen Dewalds als theoretisches Fundament für die Analyse soziokultureller Raumproduktion dienlich sein. Infolgedessen lässt sich eine räumliche Separierung der Karnevalsteilnehmer nicht nur auf der Ebene der aktiven Maskenträger und der passiven Zuschauer beobachten, sondern es entstehen drei weitere soziale loci. Während die
27 Nach Hepp, Höhn und Vogelgesang zeichnen sich „populäre Events“ durch folgende Kriterien aus: routinisiertes Außeralltäglichkeitserleben, segmentiell dominierend, inszenierte Einzigartigkeit, kommerzialisiert, spaßig und polarisierend. Vgl. Hepp u.a. 2010, 13. 28 Vgl. Dewald 2001, 196.
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räumliche Trennung zwischen maskierten und nicht-maskierten Personengruppen eine imaginäre ist, die sich an den Handlungsformen der Teilnehmer orientiert um diese zu separieren, das heißt aktiv oder passiv, maskiert oder nichtmaskiert, wird die räumliche Differenzierung auf der zweiten Ebene real vollzogen. Dem öffentlichen Straßenkarneval werden teils private Karnevalsfeiern gegenübergestellt, welche sich innerhalb der venezianischen Palazzi abspielen und zu denen nur ein begrenztes Publikum Zugang hat. Als Event im Event bilden diese Feiern eine eigene Enklave aus Raum und Zeit. Als Beispiel hierfür kann der „Ballo del Doge“ dienen, die teuerste Abendveranstaltung Venedigs, bei der die Eintrittspreise zwischen 750 und 200029 Euro liegen. Das ausgewählte Publikum, dem der Eintritt nur in Maskierung gewährt wird, begibt sich beim Betreten des Festes nicht nur in einen anderen Raum, der abgegrenzt ist von den öffentlichen Karnevalsfeiern, sondern es tritt in seiner Vorstellung auch in eine andere Zeit und damit – dafür garantieren die Organisatoren – in eine andere Welt ein: „der wertvollste Zauber ist es die Schwellen der Zeit zu überschreiten und in eine andere Welt einzutreten.“ Das ist der „Ballo del Doge, der exklusivste Kostümball der Welt, das glamouröste Event in den internationalen Jet-SetKreisen“30. In diesem Zusammenhang sind in Anlehnung an Hitzler zwei unterschiedliche Formate eines Ereignisses zu differenzieren, welche sich als eine qualitative und eine quantitative Dimension beziehungsweise als Intensivierung und Extensivierung des Erlebnisangebots bezeichnen lassen. Im Gegensatz zum quantitativ orientierten Prinzip der Extensivierung, das darauf abzielt, einen möglichst großen Teilnehmerkreis für ein Event zu gewinnen, beruht das Verfahren der Intensivierung auf einer qualitativen Komponente. Es dient dazu, Veranstaltungen ein besonderes Charisma zu verleihen, indem das Publikum bewusst reduziert wird. Darüber hinaus müssen die Teilnehmer gewisse Voraussetzungen erfüllen, um an der Feier teilnehmen zu können. Dies kann der eigene soziale und gesellschaftliche Status, die persönliche Bekanntschaft mit den Gastgebern oder die Bezahlung hoher Eintrittspreise sein, wie es beim „Ballo del Doge“ der Fall ist.31 Die dritte Ebene, welche die Einteilung eines sozialen Raums im Karneval evoziert, bewegt sich im zeitlichen Kontext. Unter dem Begriff „zeitlich“ verstehe ich sowohl die zeitliche Rahmung eines Tages als auch die generationelle Komponente, bezogen auf die unterschiedlichen Altersgruppen der Festbesucher. Zeichnen sich die Karnevalstouristen, die das Fest im Laufe des Vor- und Nachmittags aufsuchen, durch eine Altersheterogenität aus, so formieren sich 29 Vgl. Il Ballo del Doge 2014. 30 Vgl. Lifestyle Magazine 2013. 31 Vgl. Hitzler 2000, 405 u. Kröninger 2005, 22f.
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zumeist in den Abendstunden und nach Mitternacht neue Gemeinschaften, welche aufgrund ihrer annähernden Gleichaltrigkeit eine homogene Gruppe bilden. Es sind in der Regel Jugendliche, die den nächtlichen Karneval öffentlich leben und auf den Plätzen der Stadt ausgelassen zelebrieren. Damit ist die vierte Ebene von sozialer Raumkonstruktion erreicht: Während die Karnevalszeit für die jugendlichen Festbesucher als hedonistisch-rauschhafte Art der Freizeitgestaltung betrachtet wird, bedeutet sie für die einheimischen Erwerbstätigen bzw. Nicht-Feiernden genau das Gegenteil: Alltag, Arbeit, Pflichtbewusstsein.32 Besonders für die Einzelhändler sind die Karnevalswochen die wirtschaftlich bedeutsamsten und arbeitsintensivsten Tage, denn kein Fest im Jahreslauf bringt den Venezianern mehr Einnahmen als der Karneval. Das Festgeschehen, das seitens der erwerbstätigen Stadtbewohner mit einer entsprechenden Ernsthaftigkeit betrachtet wird, steht den Handlungsformen der jugendlichen Feiergemeinschaften diametral gegenüber. Das daraus resultierende Konfliktpotential wird vorwiegend auf den übertriebenen Konsum von Alkohol, das nächtliche Chaos in den schmalen Gassen Venedigs sowie der damit einhergehenden Stadtverschmutzung und Lärmbelästigung zurückgeführt: Für diejenigen Venezianer, die noch hiergeblieben sind, und das sind wenige, ist das hier nicht mehr in Ordnung. […] ich habe nicht mehr das Glück mich dort draußen fortbewegen zu können […]. Zu viel Durcheinander, zu viele Leute, die nur kommen, um Chaos zu machen und vielleicht um sich zu betrinken, und das sind Sachen, die nicht in Ordnung sind33.
D ER VENEZIANISCHE K ARNEVAL V ERGEMEINSCHAFTUNG
ALS
R AUM
DER
Ebenso wie der soziale Raum des Karnevals zur Konstruktion divergenter Interessensbereiche beitragen kann, dient er als Plattform für Integration und Vergemeinschaftung verschiedener sozialer Gruppierungen mit unterschiedlichen Ansprüchen. Die Möglichkeit eines interkulturellen Austauschs zwischen Einheimischen und Fremden ist dabei in gleicher Weise gegeben wie eine Interaktion der Festbesucher untereinander. Eine in Belgien lebende Künstlerin, die seit einigen Jahren am Karneval teilnimmt, beschreibt das freundschaftliche Verhältnis der Maskenträger untereinander und betont dabei das in dieser Zeit
32 Vgl. Niekrenz 2011, 255 f. 33 Interview mit einer Feinkostladenbesitzerin vom 24.02.2011.
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entstehende Gefühl der Verbundenheit zwischen den altersheterogenen Personen, die zum großen Teil aus unterschiedlichen Ländern anreisen. Jedes Jahr kommen zu zirka 80% dieselben Leute […], wir kennen uns ziemlich gut, alle zusammen sind wir ungefähr 300, wir sind alle Touristen, eigentlich, es gibt nur drei venezianische Leute, glaube ich… Wir [sind] mit einer ganzen Gruppe Freunden hier und wir treffen uns nur hier während des Karnevals, am Abend gehen wir essen, gehen wir tanzen.34
Über ihre kommunikationsfördernde, integrative Funktion hinaus haben Feste das Potential, als besondere „soziokulturelle Lernfelder“35 wirksam zu werden. Wie sich der Karneval als eine sogenannte Lernplattform nutzen lässt, veranschaulicht das Programmheft des Jahres 2011. Die Broschüre listet eine Reihe von Veranstaltungen auf, welche sich von konventionellen Karnevalsperformanzen abheben: Bezugnehmend auf das Motto des Jahres, „Das 19. Jahrhundert. Vom Sinn zu Sissi36. Die Stadt der Frauen“, reicht das Programm von Führungen durch das venezianische Staatsarchiv, über eine Ausstellung, die sich den Venedigaufenthalt Franz Josephs und Elisabeths im Jahr 1856 zum Thema macht, bis zu einem „Philologischen Exkurs“ in der „Biblioteca Nazionale Marciana“ über die „großen“ Venedigtouristen des 19. Jahrhunderts37. In Form solcher Geschichtskurse und Exkursionen wird den Teilnehmern das kulturelle und politische Verhältnis sowie die Handelsbeziehungen und touristischen Interaktionen zwischen Venedig und anderen europäischen und außereuropäischen Ländern näher gebracht. Diese Veranstaltungen stellen Inhalte bereit, die eine Auseinandersetzung der Festteilnehmer mit kulturhistorischen Phänomenen und Entwicklungen fördern. Die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen bietet Festbesuchern die Möglichkeit, ihren Erfahrungshorizont sozial auszudehnen, und eröffnet ihnen neue oder veränderte Sichtweisen auf geschichtliche Prozesse.38 Nicht zuletzt sei die identifikative Bedeutung von Festen angesprochen. Laut Prisching gelten sie als Dreh- und Angelpunkt von Identitätsbildung und Selbst-
34 Interview vom 05.03.2011. 35 Lipp 1994, 570. 36 „Vom Sinn zu Sissi“ ist eine Anspielung auf das Karnevalsmotto der Jahre 20082010. In dieser Zeit fand das Fest unter dem Titel „Sechs Sinne für sechs Stadtviertel“ statt. 37 Carnevale di Venezia 2011 (2013). 38 Vgl. Lipp 1994, 570.
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darstellung, sie schaffen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis.39 Auch Lipp betont die hohe Identitätsleistung von Stadtfesten. Sie dienen den Akteuren als Bühne zur Selbstpräsentation, haben doch dort die Einheimischen Gelegenheit öffentlich zu demonstrieren, was sie verbindet, worauf sie stolz sind und womit sie sich identifizieren.40 Die eigene Identität müsse dabei durch Mythisierung und Symbolisierung in den Fokus gerückt werden41. Diese Symbolisierungsstrategie kann ebenfalls am Beispiel des Programmheftes der Session von 2011 beleuchtet werden. Im Vorwort bezeichnet Bürgermeister Giorgio Orsoni das Fest als eine Veranstaltung, die seit jeher den Namen Venedigs in die ganze Welt trägt, Symbol der Venezianität selbst. Der Karneval stellt einen der wichtigsten Momente im Festkalender unserer Stadt dar. Eine Zusammenstellung von Veranstaltungen und kulturellen Initiativen richtet sich sowohl an die zahlreichen Touristen, die unsere Schönheiten besuchen, als auch an die Bürger des Historischen Zentrums und des Festlands, die das Wunder dieser Tradition mit Stolz zu schätzen wissen42.
Beabsichtigt die offizielle Stadtpolitik durch die Konstruktion eines positiven Mythos43, den Karneval für lukrative Touristenprogramme44 zu instrumentalisieren, argumentieren die Stadtbürger jedoch aus einer anderen Position heraus. Die Interviews ergeben ein eindeutiges und weitaus weniger positives Bild. Bei der Frage nach dem persönlichen Stellenwert des Karnevals ähneln sich die Antworten der Befragten zum Großteil. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass der Karneval, welcher auf stadtpolitischer Ebene als wichtigstes identifikatorisches Merkmal Venedigs hervorgehoben wird, für die meisten Venezianer wenig Identifikationspotential bietet. Vielmehr definieren sie die „Venezianität“, wie auch der Besitzer eines Schreibwarengeschäfts, über andere Feste, an deren erster Stelle das „Festa del Redentore“45 steht. 39 Vgl. Prisching 2011, 98. 40 Vgl. Lipp 1994, 567f. 41 Vgl. Prisching 2011, 87. 42 Orsoni 2011, 4. 43 Zum „Venedigmythos“ in der Forschungsliteratur vgl. u.a. Burke 2011, Landwehr 2007 u. Lebe 2003. 44 Auffallend in der Ansprache des Bürgermeisters ist die Erstnennung der Touristen vor den Stadtbewohnern. 45 Ursprung des „Festa del Redentore“, auch das „Erlöserfest“ genannte, ist das Ende einer Pestwelle, die von 1575 bis 1577 in Venedig herrschte. Als Dank für die Befreiung von der Epidemie erbaute die Stadt die gleichnamige Kirche auf der Insel
94 | JULIA G EHRES Meiner Meinung nach ist, was die Venezianität betrifft, Redentore das bedeutendste Fest und auch die Regata Storica, aber das Redentorefest wird noch immer sehr intensiv gefeiert, auch von jungen Leuten, Redentore ist ein wunderschönes Fest, vielleicht sogar das schönste, es ist venezianischer. Aber das bedeutsamste Fest ist der Karneval […] er ist auf touristischer Ebene am bedeutsamsten46.
Widersprüchlich mag an dieser Stelle erscheinen, dass sich die assoziative Verbindung zwischen Venedig bzw. einer Venezianität und dem Karneval seitens der Venezianer selbst auf den touristischen und kommerziellen Aspekt beschränkt und damit vorwiegend als Verdienstquelle verstanden wird, während das Fest in anderen Ländern aufgrund seiner Einzigartigkeit und vermeintlich typisch venezianischen Eigenart verklärt wird. In Anlehnung an den Translokalitätsbegriff erfolgt daher eine erweiterte Raumanalyse, die ihren Blick von dem konkret lokalisierbaren Ort Venedig auf weitere Zentren des venezianischen Karnevals richtet. Als translokale Phänomene können nach Ulrich Beck soziale Erscheinungen charakterisiert werden, die an „mehreren Orten zugleich“47 existieren. Kaiser beschreibt Translokalisierung als einen Ent- und Einbettungsprozess „fremder Elemente in einen neuen Kontext“48. Folgt man diesen Definitionen, so lässt sich der venezianische Karneval im dreifachen Sinn als translokal bezeichnen. Zunächst übt das Fest ausgehend von Venedig eine „translokale Anziehungskraft“49 aus, da er verschiedene Personen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen anzieht. Darüber hinaus ist er insofern ein translokales Phänomen, weil er sich an verschiedenen Orten gleichzeitig konstituiert. Dies lässt sich an der Existenz diverser Venedigveranstaltungen sowie Karnevalsgruppen belegen, welche nach venezianischem Vorbild einen eigenen Karneval u.a. in Paris, Hamburg und Bonn gründeten. 50 In diesem Sinne wird das kulturelle Phänomen Karneval aus einem abgegrenzten Territorium, der Stadt Venedig, losgelöst und in eine neue Umgebung eingebettet. An dieser Stelle liegt die Formulierung einer provokanten These nahe. Sie geht davon aus, dass der venezianische Karneval einem DeterritorialisierungsGiudecca und zelebrierte ein Fest zu Ehren des „Erlösers“, das heutzutage am dritten Juliwochenende stattfindet. Vgl. Hello Venezia 2013. 46 Interview vom 24.03.2013. 47 Beck 1997, 86. 48 Kaiser 2006, 28. 49 Hepp 2001, 81. 50 Vgl. Carnevale di Venezia Bonn 1997 e.V. 2013, Le Carnaval Vénitien de Paris 2013, Ludwigsburg 2013, Maskenzauber an der Alster 2013, Schwäbisch Hall 2013.
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prozess51 unterliegt, infolge dessen Venedig als Ort für die Inszenierung des venezianischen Karneval nicht mehr erforderlich erscheint. Hinweise zur Unterstützung dieser These finden sich im Terminus selbst: Das vor dem Karneval stehende Adjektiv „venezianisch“ verweist nicht nur auf eine lokale, regionale oder nationale Variante des Festes, sondern steht als eigene Marke für sich. So betitelte beispielsweise die Onlineausgabe der Mainzer Allgemeinen Zeitung am 17.01.2012, dass sich „bei der Kostümwahl der Mainzer Narren [...] ein Trend zum venezianischen Karneval“ abzeichne.52 Hier ist weder die Rede von einem Trend zum venezianischen Stil oder zu venezianischen Elementen, sondern hin zum venezianischen Karneval. Die Verwendung des Ausdrucks signalisiert die Entwicklung des Festes zu einem eigenen „Produkt“, das je nach Bedarf in andere Kontexte implementiert werden kann. Bezugnehmend auf die formulierte These hieße dies, dass sich der „venezianische Karneval“ als feste Institution auf europäischer und globaler Bühne etabliert hat und nicht mehr zwangsläufig an den Ort Venedig gebunden sein muss, um gleichwohl als venezianischer Karneval zu existieren. Schließlich lässt sich das Fest auch noch auf einer in einem medialen Bereich verorteten dritten Ebene als „Translokalitätsphänomen“ bezeichnen. Medien stellen ein bedeutsames Fundament für die Entstehung von Events dar. Kaum eine Veranstaltung kommt heutzutage ohne ihre Präsenz aus. Dadurch, dass Medien unterschiedliche Lokalitäten weltweit miteinander kommunikativ vernetzen und somit ortsübergreifend fungieren, ermöglichen sie sowohl die Herstellung translokaler Kommunikationsbeziehungen als auch die Konstitution deterritorialer Kommunikationsräume. Die verschiedenen, im Karneval entstehenden Interessensgemeinschaften wie beispielsweise Maskenträger oder Maskenfans müssen sich demnach nicht mehr nur an einem realen Ort zusammenfinden, um den venezianischen Karneval „erleben“ zu können. Indem sie in neu erschaffenen, virtuellen Räumen interagieren und über diverse Netzwerke und Fotogalerien kommunizieren, biete sich ihnen die Möglichkeit einer Vergemeinschaftung, die orts- und sogar zeitfern vom eigentlichen Festgeschehen stattfinden kann.53 Abschließend kann festgehalten werden, dass der venezianische Karneval seit dem Ende des 20. Jahrhunderts einem Wandel unterworfen ist, der verschiedenartige Entwicklungen impliziert. Vor dem Hintergrund von Eventisierungs-, 51 Mit Deterritorialisierung wird Hepp zufolge auf „die mit der Globalisierung verbundenen verschiedenen Tendenzen der Aufweichung der Beziehung zwischen Kultur und Territorium“ verwiesen (Hepp 2004, 136). 52 Vgl. Back 2012. 53 Vgl. Hepp u.a. 2010, 16-20.
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Touristifizierungs- und Deterritorialisierungsprozessen erhält das Fest neue Strukturen, welche wiederum modifizierte Wahrnehmungsmuster und Performanzen auf kollektiver und individueller Ebene hervorrufen. In Anbetracht dessen, lässt sich der Karneval als ein temporärer gesellschaftlicher Handlungsraum bezeichnen, welcher als Bühne für diverse Inszenierungspraktiken genutzt wird – sei dies in Form von kultureller Grenzziehung und/oder Vergemeinschaftung. Interessant bleibt in diesem Zusammenhang die Frage nach einer möglichen Verschiebung des Karnevals von der Stadt Venedig als „Festspielplatz Europas“ hin zum „Festspielplatz Europa“, auf dem die Lagune dann neben vielen weiteren – realen oder virtuellen – Kulturräumen nur noch einen von vielen Aufführungssorten für das venezianische Fest darstellen würde.
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H ISTORISCHE PERSPEKTIVEN : EUROPA UM 1900
Grenzen setzen, Grenzen überschreiten Eine theaterhistorische Perspektive auf Wien als porta Orientis C AROLINE H ERFERT
„Europa? Wo ist es in der Tat zu finden? Was ist seine Umgrenzung? Viele Europas scheint es zu geben, viele politische, aber auch viele gelehrte,“ konstatiert der Historiker Gerald Stourzh in Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung.1 Inspiriert von dieser Ausgangsfrage befasst sich dieser Beitrag mit der Um- und Abgrenzung Europas in Relation zum sogenannten Orient und nimmt dabei Wien als Schauplatz von Grenzsetzungen sowie Grenzüberschreitungen in den Blick. Die vielzitierte Feststellung, der Balkan beginne am Rennweg, markiert eine Straße im Südosten Wiens als vermeintliche Grenzlinie zu Südosteuropa. Ob die Äußerung, die Fürst Metternich (1773-1859) zugeschrieben wird, tatsächlich auf den berüchtigten Staatsmann zurückgeht, ist in diesem Kontext einerlei.2 Umso bedeutender erscheint vielmehr, dass sie bis heute als geflügeltes Wort im österreichischen Sprachgebrauch präsent ist: Dabei wird der Beginn des Balkans als Quasi-Orient alternativ auch am Naschmarkt, am Südbahnhof oder ganz allgemein in Wien verortet. 3 Die Phrase steht symptomatisch für die wirkmächtige Assoziation der Donaumetropole als „Grenzposten“ des Okzidents und „Schwelle“ zum Orient. Die Vorstellung einer durch Wien ver1
Stourzh 2002, ix.
2
Der Ausspruch Metternichs lässt sich nicht belegen, was der häufigen Bezugnahme auf die angebliche Aussage in unterschiedlichsten Kontexten jedoch keinen Abbruch tut. Für den Verweis auf das kolportierte Metternich-Zitat vgl. z.B. Wietschorke 2010, 79-80 u. Weithmann 1995, 235.
3
Zu den mental maps des Balkans und „Balkanismus“ vgl. Todorova 2002.
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laufenden Scheidelinie, die Mittel- von Ost- und Südosteuropa trennen würde,4 spiegelt die historisch gewachsenen Wahrnehmung der Stadt als „die alte porta Orientis für Europa“ wider, wie Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) es formulierte. 5 Über Jahrhunderte war das Selbstverständnis Wiens geprägt durch die geographische Nähe und die vielfältigen Verbindungen zum Orient, die von aussenpolitischen und diplomatischen Beziehungen, aber auch militärischen Konfrontationen mit dem Osmanischen Reich – man denke an die Türkenbelagerungen Wiens (1529 und 1683) oder die österreichische Okkupation (1878) und Annexion (1908) Bosnien-Herzegowinas –, bis hin zu ökonomischen Beziehungen reicht. Ferner erscheint Wien als Knotenpunkt der europäischen Orientmode um 1900 und impulsgebendes Zentrum der Orientalistik. 6 Die Hofmannsthal'sche porta Orientis reflektiert diese vielfältigen Beziehungen zum „Osten”, denn der Begriff ist mehrdeutig lesbar: Zum einen markiert er eine Abgrenzung – das Abund Ausschließen des Orients von Europa; zum anderen lässt sich porta Orientis auch als geöffnetes Tor zum Orient hin interpretieren.7 Um es im Anklang an Bernhard Waldenfels' Topographie des Fremden zu formulieren: Anhand der Denkfigur der porta Orientis lässt sich das Fremde ebenso erschließen, wie es sich verschließen lässt.8 Das Spannungsverhältnis zwischen Er- und Verschließen, das der porta Orientis inhärent ist, beschäftigte auch den konservativen Monarchisten Hofmannsthal, der diese Ambivalenz zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung zum Charakteristikum der „österreichischen Idee” stilisierte: Das Wesen dieser Idee […] liegt in ihrer inneren Polarität: in der Antithese, die sie in sich selbst schließt: zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluß zu sein zwischen dem europäischen Imperium und einem, dessen Toren vorlagernden, stets chaotisch bewegten Völkergemenge Halb-Europa, Halb-Asien und zugleich fließende Grenze zu sein, Ausgangspunkt der Kolonisation, der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen, ja empfangend auch wieder und bereit zu empfangen die westwärts strebende Gegenwelle.9
4
Zur Problematisierung der Begriffe Mittel- bzw. Zentral-, Ost-, Südosteuropa vgl. Csáky 2010, 37-61 u. Stourzh 2002, xx.
5
Hofmannsthal 1979, 195.
6
Vgl. Mayr-Oehring 2003.
7
Vgl. Csáky 2010, 130-133.
8
Vgl. Waldenfels 1997, 33.
9
Hofmannsthal 1979, 456.
G RENZEN SETZEN , G RENZEN ÜBERSCHREITEN
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Die porta Orientis Wien erscheint somit als ambivalenter Ort der Verhandlung und Aneignung des Fremden, der sich vor allem über die Auflösung und Ziehung von Grenzen definiert. Wien gerät damit zum Schau-Platz der Auseinandersetzung Europas mit dem Anderen – sei es als Nora'scher Erinnerungsort der Türkenbelagerungen oder als „Fenster“ zum Orient, wie sich die Wiener Weltausstellung von 1873 verstand. 10 Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Funktion als Erinnerungsort aus einer (theater-)historischen Perspektive und fokussiert dabei die breit angelegte Inszenierung Wiens 1883 als „Bollwerk des Abendlandes“ anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Zweiten Türkenbelagerung.
D IE K ONSTRUKTION W IENS ALS „ BOLLWERK “ E UROPAS Das Gedenken der Türkenbelagerungen von 1529 und insbesondere 1683 nimmt eine besondere Stellung in der Erinnerungskultur Wiens ein. In der ganzen Stadt vergegenwärtigen Gedenktafeln, Straßennamen oder Denkmäler Schauplätze der Belagerungen sowie involvierte Personen. Die historischen Ereignisse sind tief in die Topographie Wiens eingeschrieben: So markiert die Zeltgasse angeblich die Stelle, an welcher der osmanische Oberbefehlshaber Kara Mustafa (1634/351683) sein Zelt aufgeschlagen hatte; der seit 1888 bestehende Türkenschanzpark erinnert an den Ort, wo 1683 die osmanischen Truppen eine große Schanze gegen das Entsatzheer aufgeworfen hatten.11 Zahlreiche Denkmäler ehren Protagonisten des Entsatzes wie den Stadtkommandanten Graf von Starhemberg (16381701);12 nach dem Kundschafter Georg Franz Kolschitzky (1640-1694) wurde eine Gasse benannt.13 Zudem belegen zahlreiche säbelschwingende Türkenfiguren und -symbole wie Halbmond und Stern sowie Häuserfassaden zierende „Türkenkugeln“ als sichtbare Spuren der Türkenbelagerungen die Begegnung mit dem Anderen.14 „Performatives Erinnern“ durch die Tradierung von Legenden um die Belagerungen, Dramatisierungen des Entsatzes in sogenannten „Türkenstücken“ oder öffentliche Gedenkveranstaltungen anlässlich von Jubiläen
10 Weltausstellung vgl. Samsinger 2006, 24-26; zu Pierre Noras Konzept des lieu de mémoire vgl. Nora 1989. 11 Vgl. Csendes 1983, 42f. 12 Vgl. Csendes 1983, 14f. 13 Vgl. Csendes 1983, 40. 14 Vgl. Csendes 1983, 10, 18, 23f., 26 u. 28.
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komplementieren das Gedenken. 15 Bereits die Centenar-Feier 1783, doch insbesondere das 200-jährige Jubiläum 1883 wurde mit enormem Aufwand und außerordentlicher medialer Präsenz begangen. Die bisher letzte große Gedenkfeier fand 1983 statt. Auch im Zuge dieses Jubiläums entstand eine Reihe von Publikationen, Ausstellungen, mehrere „Türkenstücke“, Denkmäler etc. 16 Durch die ostentative Abgrenzung vom Anderen und die Projektion des Triumphes von 1683 auf die Gegenwart wurde die lokale und nationalkulturelle Identität bewusst bestärkt und bestätigt. Zur lokalen bzw. nationalen Bedeutung kommt eine weitere Bedeutungsdimension des Erinnerungsortes hinzu, die der Belagerung Wiens eine herausragende Position als Wendepunkt in der europäischen Geschichte einräumt: Die osmanischen Heere standen zweimal, 1529 und 1683, vor Wien. In beiden Jahren fielen hier die Entscheidungen, ob das muslimische Weltreich auch auf Mitteleuropa ausgreifen konnte. Die beiden Belagerungen erhielten dadurch eine politische Bedeutung, die sie weit über jene lokaler militärischer Ereignisse hinaushob.17
In diesem Narrativ wird die Türkenbelagerung zum supranationalen Glaubenskrieg stilisiert, die das christliche Abendland in Opposition zum muslimischen Morgenland setzt. Das „Bollwerk“ Wien wird zur europäischen „Grenzfestung“ und der Sieg über die Osmanen zum konstitutiven Bestandteil einer (pan-)europäischen Identität als vermeintlich homogenes, christliches Abendland erhoben. Das Gedenken 1883 anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Zweiten Türkenbelagerung manifestierte sich in verschiedensten Veranstaltungen und Projekten, welche die Vergangenheit imaginieren, beschwören und in der Gegenwart präsent machen sollten: Es wurden Denkmalprojekte initiiert, welche einige Jahre später eingeweiht werden sollten. 18 Am Kahlenberg, wo 1683 die entscheidende
15 Beispielsweise wurde fälschlicherweise immer wieder die Einführung des Kaffees in Wien sowie die Erfindung des Kipferls mit der Belagerung von 1683 in Verbindung gebracht. Vgl. Csendes 1983, 44-50. Zu den „Türkenstücken“ vgl. Got 1983. 16 Für das Gedenken und die Feierlichkeiten seit 1783 vgl. Rauscher 2006. 17 Csendes 1983, 4; Hervorhebung im Original. 18 Vgl. Rauscher 2006, 19-22 sowie Heiss/Feichtinger 2013. Gerade die Gedenkfeierlichkeiten 1883 zelebrierten besonders die Rolle des Bürgertums und des 1683 amtierenden Bürgermeisters Johann Andreas von Liebenberg. Vgl. Csendes 1983, 4: „Das Jahr 1883 ließ in Wien die Ereignisse von 1683 wieder deutlich ins allgemeine Bewußtsein treten, gefördert von einem liberalen Bürgertum, das damals bereits große Probleme hatte, die Mehrheit im Gemeinderat zu behaupten. Aus ideologischen Moti-
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Schlacht stattfand, wurde am Jahrestag des Entsatzes ein Festgottesdienst mit 600 geladenen Gästen gefeiert. Dabei wurde nicht nur dem lokalen Schauplatz der Belagerung als Erinnerungsort Reverenz erwiesen, sondern der militärische Triumph galt als Beweis für die grundsätzliche Überlegenheit des Christentums über den „Erbfeind“ Islam und wurde als absolut auf das gegenwärtige und zukünftige Verhältnis zwischen Orient und Okzident projiziert. Im Stephansdom fand ein großer Dankgottesdienst mit Kaiser und Hofstaat statt und der Fürsterzbischof gab ein Galadiner für die Kirchenfürsten. Im festlich geschmückten Prater wurde ein rege besuchtes Volksfest mit Feuerwerk veranstaltet. Eine Kollektivausstellung der führenden Hof-Theatermaler der Zeit im Kunstverein zeigte nicht nur Szenenbilder und Dekorationsskizzen, sondern bewarb aus aktuellem Anlass auch das eigens geschaffene „Collosal-Gemälde: ‚Wiens Todesangst 1683’“, welches „auf das Publikum besondere Anziehungskraft“ entfaltet haben soll.19 Den Höhepunkt des Gedenkens an den erfolgreichen Entsatz der Stadt am 12. September 1683 bildete jedoch die Einweihung des neuen Rathauses am Ring, das symbolisch eng mit der Erinnerung an 1683 verknüpft wurde. In seiner patriotischen Rede zur Schlusssteinlegung betonte der liberale Bürgermeister Eduard Uhl (1813-1892), „dass Wien seit dem Tage seiner glorreichen Befreiung in dem mächtig emporgewachsenen Oesterreich ‚seiner historischen Mission getreu, stets eine Vormauer deutschen Geistes und deutscher Kultur’ gewesen“ sei und dies auch in Zukunft sein werde.20 Gleichzeitig eröffnete im neuen Rathaus eine historische Ausstellung zum Jubiläum, die u.a. „orientalische Objekte“, Rüstungen und Waffen, Medaillen, Ölbilder und Stiche der Türkenbelagerung sowie Druckschriften zeigte. 21 Außerdem erschien eine Flut von Publikationen und Gedenkschriften. Die Zeitungen berichteten nicht nur über die diversen Jubiläumsfeierlichkeiten, sondern druckten auch ganze Sonderbeilagen zur Geschichte Wiens, welche
ven hat man daher den Anteil der Wiener Bürger an der Verteidigung der Stadt entgegen den realen Verhältnissen betont, in Gedenktafeln darauf hingewiesen und Denkmäler errichtet.“ 19 Neue Freie Presse 14.9.1883, 6 u. 11. Das Kolossalgemälde zeigte laut Annonce des Oesterreichischen Kunstvereins den „Ausblick von einem Zelte der Osmanen, vor welchem Wien in der letzten Nacht der Bedrängniß, von der Uebermacht der Türken bestürmt, wie ein düsteres Traumbild unter der magischen Erscheinung eines vom Stephansdome in die Wolken ragenden Lichtkreuzes sich ausbreitet.“ 20 Neue Freie Presse 13.9.1883, 1. 21 Vgl. Rauscher 2006, 16.
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die (rückprojizierte) bürgerliche Tapferkeit glorifizierten und eindeutige Feindbilder konstruierten: Oesterreich und speciell Wien feiern gegenwärtig eine mehr als denkwürdige Erinnerung. Diese Feier gilt der vor zweihundert Jahren erfolgten Befreiung vom Türkenjoche; der Entsatz von Wien darf mit Fug und Recht ein entscheidender Wendepunct im Entwicklungsgange der Civilisation genannt werden. […] Wien war das letzte Bollwerk der Christenheit gegenüber dem grausamsten Feinde. 22
Hier verschränken sich lokale, nationale und supranationale Narrative des Entsatzes: Die Belagerung der Stadt und ihrer Bewohner_innen erscheint zugleich als militärische Konfrontation zwischen Habsburgermonarchie und Osmanenreich bzw. als übergeordneter „Glaubenskrieg“ zwischen Orient und Okzident. Der Lokal- und Nationalpatriotismus weitet sich auf ein diffuses Europa-Bewusstsein im Sinne eines christlichen Abendlandes aus: Diese volksthümliche, herzerhebende Feier unserer Vorfahren zum dankbaren Andenken der Errettung vom Sclavenjoche möge auch uns aufmuntern zur würdigen Jubelfeier am zweihundertsten Gedächtnißtage der Befreiung Wiens, ohne welche Deutschland und mit ihm Europa, des mächtigsten Bollwerkes gegen türkische Gewaltherrschaft entblößt, unrettbar eine Beute der raubsüchtigen türkischen Heere geworden wäre.23
Im Diskurs des „Türkengedenkens“ wird nationalkulturelle Identität durch Differenz und Abgrenzung vom Anderen konstruiert, wobei konfessionelle Grenzen die Umgrenzung Europas definieren: Die „Glaubensgrenze“ zwischen Islam und Christentum gleicht dem Grenzverlauf zwischen dem osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie, wobei Wien als „mächtigstes Bollwerk“ an dieser Grenzlinie positioniert wird. Der Sozial- und Kulturanthropologe Andre Gingrich erachtet eine solche Identitätskonstruktion als Charakteristikum von frontier orientalism oder Grenzland-Orientalismus.24 Typisch ist dessen Verwurzelung in der Populärkultur, wie das folgende theaterhistorische Fallbeispiel illustrieren soll.
22 Volksblatt für Stadt und Land 13.09.1883, 1. 23 Volksblatt für Stadt und Land 13.09.1883, 1. 24 Vgl. Gingrich 1999, Gingrich 2003 u. Gingrich 2006. Als „Spielart“ von klassischem Orientalismus ist bei frontier orientalism die Wahrnehmung und Aneignung des Orients v.a. durch die geographische Nähe zum Anderen und militärische Konfrontationen geprägt.
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I NSZENIERTE G RENZ -E RFAHRUNG : D IE T ÜRKEN VOR W IEN IM T HEATER IN DER JOSEFSTADT Besonders deutlich äußert sich der frontier orientalism in den sogenannten Türkenstücken, die v.a. die Zweite Türkenbelagerung thematisieren, wobei die Osmanen zugleich als bedrohliche Barbaren und faszinierende Fremde aus dem Morgenland dargestellt werden. 25 Türkenstücke lassen sich bereits wenige Jahre nach 1683 in verschiedenen Theaterformen und Spielstätten oder als Lesedramen nachweisen. Besonders stark war die Dichte solcher Dramen, die sinnlich wahrnehmbare Grenz-Erfahrungen und exotisch-sehnsuchtsvolle Fantasien in einem offerierten, im Jubiläumsjahr 1883. Der Wiener Gemeinderat debattierte im Vorfeld des Jubiläums sogar die Ausschreibung eines „Türkenpreisstückes“ Doch auch ohne Beschluss eines städtischen Preisstücks schien die Türkenbelagerung der „gegenwärtig populärste Stoff“26 auf den Bühnen Wiens zu sein. Sowohl das Burgtheater als auch das Theater in der Josefstadt bekräftigten anlässlich des Jahrestages „das kampfesfreudige Fühlen für Vaterland, Freiheit und Gesittung, welches die Erinnerungen dieser Septembertage neu in allen Bürgern Wiens“27 anfachen sollte, und setzten Türkenstücke auf den Spielplan. Während dem fünfaktigen Schauspiel 168328 im Burgtheater wenig Erfolg beschert war aufgrund seines „oft ermüdenden Pathos“,29 genoss das im Theater in der Josefstadt gegebene vaterländische Volksstück hingegen enorme Popularität. Sein Autor, der „wohlaccreditirte Wiener Volksschriftsteller“30 Carl Costa fungierte zugleich als Direktor des Theaters. 31 Die zeitgenössischen Theaterkritiken berichten von überschwänglichem Premierenapplaus im vollbesetzten Haus und prognostizieren dem Stück einhellig einen langen Erfolg: Der Kassenschlager Die Türken vor
25 Vgl. Got 1983, 1-3. Die erste Dramatisierung im deutschsprachigen Raum ist Lucas von Bostells Singspiel Cara Mustapha (1686). Zwischen ca. 1720-1983 zählt Got 35 „Türkenstücke“ in Österreich bzw. im Gebiet der Habsburgermonarchie – ca. die Hälfte davon wurde aufgeführt. Zu den Türkenstücken des Jahres 1883 vgl. 47-64. 26 Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 2.9.1883, o.S. 27 Die Presse 15.9.1883, 1f. 28 Für den Theaterzettel vgl.: anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wtz&datum=188309 12&zoom=33 (letzter Zugriff: 01.12.2019). Das Schauspiel von Hippolyt Schauffert war 1869 uraufgeführt worden und wurde trotz miserablem Erfolg 1883 erneut auf den Spielplan gesetzt. 29 Neue Freie Presse 13.9.1883, 6. 30 Die Presse 2.9.1883, 15. 31 Vgl. Bauer/Kropatschek 1988, 79.
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Wien hatte die Spielsaison am 1. September 1883 eröffnet und wurde bis Jahresende 71 Mal aufgeführt, davon 66 Vorstellungen en suite. 32 Im Folgenden sollen sowohl die stückimmanenten Strategien der Abgrenzung vom Anderen und Affirmation der eigenen nationalkulturellen Identität im Modus des frontier orientalism als auch die Einbettung dieser Inszenierung in den größeren Kontext des Erinnerungsortes Wien und der Gedenkfeierlichkeiten 1883 in den Vordergrund gerückt werden. Speziell zum Jahrestag des Entsatzes erfolgte eine Festvorstellung im mit nationalen Insignien dekoriertem Theater: „Das Theater in der Josephstadt hatte heute zur Feier der Befreiung Wiens von den Türken festlichen Schmuck angelegt. An dem Theatergebäude prangten kaiserliche Fahnen und der äußere Schauplatz war festlich beleuchtet.“33 Das Publikum im ausverkauften Haus „befand sich in gehobener Stimmung, applaudirte mit localpatriotischem Eifer“.34 Basierend auf den historischen Begebenheiten, jedoch ohne Anspruch auf Akkuratesse thematisiert das Volksstück die Ereignisse der letzten Tage der fast zwei Monate währenden Belagerung und rückt die Tugenden und Heimatverbundenheit des Wiener Bürgertums in den Mittelpunkt: Es verhandelt u.a. Proteste der Bürger_innen gegen die Nahrungsmittelknappheit, die Einberufung aller verfügbaren Männer gegen den zahlenmäßig hoch überlegenen Feind, der Minenkrieg der osmanischen Belagerer, die Entsendung von Spionen ins gegnerische Lager sowie die Entsatzschlacht am Kahlenberg.35 Die der Geschichte entnommenen Figuren, u.a. Graf von Starhemberg als Oberkommandant der Stadt, der Spion Kolschitzky, der Anführer des Entsatzheeres Jan III. Sobieski (1629-1696) und der osmanische Oberbefehlshaber und Großwesir Kara Mustafa „fanden auf der Bühne eine sehr gelungene Darstel-
32 Vgl. Got 1983, 50: „Das Stück wurde bis zum 7. November sechsundsechzigmal en suite aufgeführt.“ Danach lassen sich noch weitere, vereinzelte Aufführungen für 11.13.11., 27.11. sowie 16.12. anhand der Spielplananzeigen der Neuen Freien Presse belegen. Vgl. online unter: anno.onb.ac.at (letzter Zugriff: 01.12.2019). 33 Das Vaterland 13.9.1883, 6. 34 Die Presse (Beilage) 13.9.1883, o.S. 35 Historische Details zur Zweiten Türkenbelagerung, die vom 14.7. bis 12.9.1683 dauerte, werden in einer schier unüberschaubaren Anzahl an Publikationen dargestellt. Viele davon erschienen 1983 zum 300-Jahr-Jubiläum. Vgl. u.a. Dürigl 1981, Waissenberger 1983, Barker 1982, Kreutel/Teply 1982 u. Wheatcroft 2009.
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lung, und es errang das von patriotischem Geiste durchseelte Bühnenwerk den lebhaften Beifall des sehr zahlreich anwesenden Publikums“.36 Als eigentliche Handlungsträger treten jedoch weniger die historischen Charaktere auf, welche eher als gravitätische Staffage erscheinen, sondern fiktive, zumeist komische Figuren aus dem Bürgertum. Der Theatertext bietet ein buntes Potpourri aus militärischen Tableaus und Massenszenen. Diese werden begleitet von unzähligen Kanonenschüssen, ostentativem Spott und Schmähung der osmanischen Truppen, Meta-Kommentaren zur Sprachverwirrung und Verständigung zwischen Belagerern und Verteidigern, Gesangseinlagen, komischen Dialogen und Verwechslungsszenen, mehreren Liebeshandlungen sowie prunkvoll ausgestatteten Szenen im Zeltlager Kara Mustafas mit seinen Haremsdamen und deren Eunuchen. „[S]elbst wenn es nicht den strengsten Ansprüchen der Aesthetik und historischen Wahrheitsliebe gerecht wird“, so sei dieses vaterländische Volksstück immerhin geeignet, dem Publikum als „zeitgemäße, interessante und in mancher Beziehung auch lehrreiche Augenweide zu dienen“.37 Die aufwendige Ausstattung, welche „für eine Vorstadtbühne geradezu splendid“38 war, trug wohl nicht unwesentlich zum Erfolg der Inszenierung bei. Einen weiteren Erfolgsfaktor stellte vermutlich die allegorische Figur der Vindobona dar, welche als Schutzgeist der Stadt die zentrale Rolle des Stückes einnimmt. Es handelt sich um eine kollektive Symbolfigur, deren bildliche Darstellung Jahrhunderte zurückreicht. 39 Sie eröffnet Die Türken vor Wien mit einem Prolog. Laut Regieanweisung zeigt ein Hintergrundprospekt die Stadt im Jahr 1683 aus der Vogelperspektive, wobei Rauch, Verwüstung und Türkenzelte vor den Stadtmauern auszumachen sind. Vor dem Prospekt, erhöht auf einem Felsen sitzend blickt Vindobona mit ihren Insignien – Szepter und Schild mit Wiener Wappen – ausgestattet auf „ihre“ Stadt:
36 Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), 02.02.01.01.05: NÖ Reg., Präs. Theater – Theaterzensur, ZA 1883/5720 K 26. Dem Zensurakt ist der hier zitierte Premierenbericht des zuständigen Zensors beigelegt. 37 Die Presse 2.9.1883, 15. 38 Das Vaterland 2.9.1883, o.S. Der Theaterzettel listet über 80 Darsteller_innen auf. Österreichisches Theatermuseum (ÖTM), Programmarchiv, Theater in der Josefstadt, Theaterzettel „Die Türken vor Wien” (Carl Costa), 13.9.1883. 39 Vgl. Jaworski 2009, 227f. Die Allegorie der Austria, die jünger ist als die der Vindobona, kann nach Jaworski seit der Frühen Neuzeit auf Wandgemälden nachgewiesen werden, seit dem 19. Jahrhundert als Skulptur im öffentlichen Raum.
112 | C AROLINE HERFERT Mein armes Volk, mit wehmuthsvollem Blicke Schau ich hinab in's Thal – so schreckensreich Bedroht von der Osmanen Räubertücke Liegt hilflos da mein schönes Österreich. […] Und Du, mein Wien, Du Urquell froher Lieder, Liegst nun gefesselt in des Feindes Bann, Nicht heit'rer Sang hallt jetzt im Echo wider, Nur Jammerrufe dringen himmelan! (erhebt sich) Doch nicht vergebens sei der Kinder Flehen, Verzaget nicht, die treue Mutter wacht, Und siegreich soll im Kampfe nun erstehen Mein theures Wien, durch Vindobona's Macht! Mit Euch will all' das schwere Leid ich tragen, Das prüfend euch bestimmt in Gottes Rath, Und wenn entmuthigt bang die Herzen schlagen, Will ich begeistern euch zur frischen That In eurer Mitte will ich tröstend walten, Euch stärken in der herben Lebenspein Und schirmend in verschiedenen Gestalten Als Vindobona euer Schutzgeist sein […] Will führen dich, mein Volk, mit fester Hand, Der Halbmond falle nun, das Kreuz es siege, Frei sei mein Wien und frei das Vaterland! 40
Wie im Prolog angekündigt, erscheint Vindobona in jedem der folgenden vier Bilder in anderer Gestalt, um den Bewohner_innen Wiens schützend und lenkend zur Seite zu stehen: als Bäuerin aus dem Vorort Perchtoldsdorf, die vor den Osmanen fliehen musste, bangt sie als Mutterfigur nicht nur um ihr Kind, sondern zugleich auch die Stadt; als heldenhafter Student, der furchtlos die Sprengung der Stadtmauer durch osmanische Minen vereitelt, bewahrt sie Wien vor der Einnahme; als Zigeunermädchen versorgt sie die Verteidiger mit Essen und prophezeit ein glückliches Ende der Belagerung; als gekränkte Geliebte Kara Mustafas belegt sie den Großwesir mit einem Fluch und besiegelt damit sein persönliches Unglück ebenso wie die osmanische Niederlage. Vindobona ist stets zur rechten Zeit am rechten Ort. Sie rühmt unaufhörlich die „heimatliche
40 Costa o.J., Prolog, 4f.
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Erde“,41 die „schöne Kaiserstadt“42 Wien und besingt die Stadt als Ort der Weinkultur, des Humors und des fröhlichen Gesangs. Dagegen verhöhnt Vindobona die „Türkenhunde“, welche als unkultivierte „Wasserköpfe“ – im Gegensatz zu den Wiener_innen – keinen Wein trinken.43 Die Figur des allgegenwärtigen Schutzgeistes fand bei der Kritik ambivalente Aufnahme: „Die poetische Personificirung der Vindobona […] war von eminenter Wirkung“,44 schwärmte die Neue Freie Presse. Die Presse hingegen empfand die von Rosa Costa, der Gattin des Autors, dargestellte Figur zu dominant: Dem sonst ganz hübsch gedachten und volksthümlich-operettenhaft geführten Stücke gereicht es just nicht zum Vortheile, daß der allegorischen Figur der Vindobona, die überall schützend und schirmend hervortritt, gar so viel Raum gegönnt wird. Gewiß, der Localpatriotismus, den diese Vindobona in fest gebundener Sprache stets im Munde führt, ist sicherlich sehr schön und berechtigt und dürfte zweifellos seine Wirkung auf das Publikum der Josefstadt nicht verfehlen, doch scheint es uns fast, daß hier etwas weniger bedeutend mehr gewesen wäre.45
Auch abgesehen von den Elogen und dem Spott Vindobonas strotzt der Stücktext vor (Lokal-)Patriotismus und Nationalismus: Soldaten- und Marsch-Chöre verherrlichen die „Fahne Oesterreichs“, die tapferen Krieger bzw. deren heldenhaften Tod im Kampf gegen die Barbaren. 46 Überdies wird das „Bollwerk“ als symbolische Grenzfestung der Habsburgermonarchie bzw. des christlichen Abendlandes deutlich in Szene gesetzt: Als Schauplatz der Handlung ist die Stadtbefestigung omnipräsenter Bestandteil des Bühnenbildes. Beispielsweise handelt das zweite Bild innerhalb der Stadtmauer, als die Sprengung der Basteimauer droht. Die Regieanweisung rückt dabei die Befestigung markant ins Bild: „Die Breite der Bühne, nach quer über den Hintergrund als prakticabel befestigte Basteimauer mit Schanzkörben, Kanonen u.s.w.“47 Das dritte Bild wechselt die Perspektive und zeigt einen Wachposten außerhalb der Stadtmauer auf den Hügeln vor Wien: „Die Spitze des Leopoldsberges. […] In der Mitte der Bühne gleichfalls erhöht, ein Bollwerk zum Abbrennen von Raketen. – Im Vordergrun-
41 Costa o.J., II/9, 37. 42 Costa o.J., II/9, 37. 43 Vgl. Spottlied „Beglerbeg Bimbambo“. Costa o.J. II/9, 39. 44 Neue Freie Presse (Morgenblatt) 2.9.1883, o.S. 45 Die Presse 2.9.1883, 15. 46 Vgl. u.a. Costa o.J., I/6, 13; III, 43; III/4, 49f. 47 Costa o.J. II, 26.
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de transparente Wachtfeuer. Seitwärts Kanonen mit brennenden Lunten an langen Stangen.“48 Neben der Symbolfigur der Vindobona und der Hervorhebung des Bollwerks als Strategien der nationalkulturellen Identitätskonstruktion rekurriert das Volksstück immer wieder auf die sprachliche und visuelle Abgrenzung vom feindlichen Anderen: Einerseits betont der Theatertext die konfessionelle Abgrenzung von Christen und Muslimen und stellt das christliche Abendland dem muslimischen Orient gegenüber. Der Grenzverlauf Europas (gegen Osten) wird durch „Glaubensgrenzen“ markiert und die Belagerung als Glaubenskrieg dargestellt – visuell unterstützt mit den Symbolen Halbmond und Kreuz. Zum anderen thematisieren und betonen Fahnen als nationale Insignien nationalstaatliche Identitäten: Halbmond-Fahnen und die auf der Bühne wesentlich häufiger dargestellten Flaggen Wiens und Österreichs setzen die Habsburgermonarchie in Opposition zum Osmanischen Reich. 49 Nach der entscheidenden Schlacht, der anschließenden Flucht der osmanischen Truppen und der Rückkehr der siegreichen Verteidiger mit Trophäen und Fahnen aus dem türkischen Lager gipfelt das Volksstück in einem „militärische[n] Bild“ 50 , welches den festlichen Einzug des Entsatzheeres unter Jan Sobieski und Stadtkommandant Starhemberg in die befreite Stadt nachstellt. Sämtliche Truppen und Heerführer, eine Militärkapelle, alle Bürger_innen, die Wiener Ratsherren sowie der der Historie entnommene Bischof Kollonitsch bilden ein imposantes Schlusstableau, das pathetisch das Ende der Belagerung feiert: LORI (auf einer Tasse einen Silberbecher, tritt zu Sobiesky): Herr König, hier der Ehrentrunk, kredenzt von einer echten Wienerin! SOBIESKY (nimmt den Pokal und trinkt daraus): Hoch, der Kaiser! Hoch, Wien! ALLE: Hoch! STARHEMBERG (nach dem Hintergrund zu commandirend): Und nun löst die Kanonen, daß Wiens Befreiung weithin sie verkünden! KOLLONITSCH: Laßt uns vor Allem dem dort oben danken, der uns mit so mächtiger Hand zum Sieg geführt!51
48 Costa o.J. III, 43. 49 Vgl. u.a. Costa o.J, III/1, 43 u. IV/1, 51. 50 Costa o.J. IV/13, 69. 51 Costa o.J. IV/13, 69.
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Begleitet von Kanonendonner heben alle zum Te Deum an. Doch bevor der Vorhang fällt, erscheint der Schutzgeist Vindobona noch ein letztes Mal, um sich mit einem Epilog an das Publikum zu wenden: Die Wolkenschleier heben sich allmählich und es wird als Decoration ein Neu-Wien, correspondierend mit jener von Alt-Wien im Prologe nur durch Versetzstücke zusammengesetzt […]. Bei Aufzug des ersten Schleiers verstummt der Kanonendonner und das Te Deum wird nur wie aus weiter Ferne hörbar. Mit Aufzug des letzten Vorhanges sieht man Vindobona auf demselben Punkte stehen, wie im Prolog.52
Vindobona erhebt nun als Schutzgeist der Gegenwart anno 1883 das Wort und stimmt zum „Dankessang“ anlässlich des Jubiläums an. Die Gegenwart „NeuWiens“ – visuell korrespondierend mit dem Hintergrundprospekt von „AltWien“ im Prolog – erscheint unlösbar mit der Vergangenheit verknüpft und ist symbolisch stark als Erinnerungsort aufgeladen. Die Präsenz der identitätsstiftenden Vergangenheit wird bewusst gesucht, die Erinnerung wachgehalten zur Affirmation der eigenen kulturellen Identität: Zweihundert Jahre sind nunmehr verflossen, Als das Te Deum auf zum Himmel klang, Und wieder schaaren sich der Ahnen Sprossen, Um fromm zu einen sich zum Dankessang. […] (Im Orchester Adagio: „O Du mein Oesterreich”) O du so schöne Stadt am Donaubette, Mein liebes Wien, das Aller Herz erfreut, Bleib' fürder auch der Deutschen traute Stätte, Und sei gesegnet denn für alle Zeit! Dem theuren Oesterreich Ehr' und Ruhm, Und hoch, das wackere Bürgerthum! (Einige starke Accorde. Der Vorhang fällt.)53
52 Costa o.J., Epilog, 69. 53 Costa o.J., Epilog, 69.
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E PILOG Wie eingangs zitiert, gibt es je nach Blickwinkel und Zeitpunkt viele mögliche (Umgrenzungen) Europas. Die spezifische Perspektive auf Wien als porta Orientis rückt die Stadt vor allem als Erinnerungsort der Türkenbelagerung und „Grenzfestung“ Europas ins Blickfeld. Das in diesem Kontext konstruierte Europa definiert Zugehörigkeit in erster Linie über „christliche Werte“ und zieht seine Demarkationslinie entlang konfessioneller Grenzen. Dieses historisch gewachsene Narrativ des europäischen Bollwerks, das sich vor jeglichem Fremden verschließt, schreibt sich bis heute fort – nicht nur in der anfangs eingeführten Phrase, der Balkan beginne in Wien. Ganz eindeutig wird es beispielsweise in der plakativen Wahlwerbung der rechtspopulistischen FPÖ instrumentalisiert. Mit Slogans à la „Wien darf nicht Istanbul werden“54 oder „Abendland ins Christenhand“55 hetzt die Partei bewusst gegen muslimische Migrant_innen und konstruiert ein utopisches Bild eines vermeintlich homogenen, christlichen Europas, in dem es keinen Platz für komplexe gesellschaftliche Strukturen, Hybridität und fragmentierte Identitäten gibt. Diesem klar umgrenzten Europa-Entwurf halten gegenwärtige künstlerische, sozialkritische Entwürfe eines anderen Europas entgegen, u.a. die Wiener freie Theatergruppe daskunst. Deren Produktion Wiener Blut (2011) 56, setzt sich nicht
54 Plakat für die Wiener Gemeinderatswahlen 2005; www.demokratiezentrum.org/ index.php?id=173 (letzter Zugriff: 01.12.2019). 55 Plakat für die EU-Parlamentswahl 2009 online unter: www.demokratiezentrum.org/ index.php?id=25&index=1915 (letzter Zugriff: 01.12.2019). 56 Der Untertitel „Oper-rette sich wer kann“ lässt erkennen, dass der Titel der Produktion sich bewusst auf die Strauss-Operette Wiener Blut (Libretto: Victor Léon/Leo Stein) bezieht: Einer Gruppe von Migrant_innen bzw. Österreicher_innen mit Migrationshintergrund wird von der Obrigkeit ein Walzerkurs sowie Gesangsstunden verordnet, um zur Integration in Österreich besagte Operette einzustudieren. daskunst thematisiert nicht nur Heimatkitsch und Walzerseligkeit der Operette als Stereotype österreichischer Identität, sondern bezieht sich damit ferner auf einen Wahlkampf-Slogan der FPÖ („Mehr Mut für unser ‚Wiener Blut‘. Zu viel Fremdes tut niemandem gut“). Der Slogan zur Wahl des Wiener Gemeinderats 2010 nahm implizit Bezug auf den bekannten Refrain der Strauß-Operette: „Wienerblut, Wienerblut,/ eigner Saft, voller Kraft, voller Glut/[…] Wienerblut, Wienerblut,/ Was die Stadt Schönes hat, in dir ruht!/ Wienerblut, heiße Flut,/allerorts gilt das Wort: Wienerblut!“. (Zit. nach Klotz 2004, 700). Zur Produktion vgl. die Homepage der Gruppe: http://www.daskunst.at/ wiener_blut.html (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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nur mit Heimatkitsch und Operettenseligkeit, sondern auch explizit mit dem gegenwärtigen Bollwerk-Narrativ in Wien auseinander. Sie reflektieren kritisch die Politik der FPÖ, deren Instrumentalisierung des Bollwerk-Narrativs und den gegenwärtigen Umgang mit Migrant_innen in Österreich. Es ist daskunst dabei ein Anliegen einen „Beitrag zu leisten, dass sich mehr Menschen in Österreich wohl fühlen und Europa als Heimat und als Ort der Selbst- und Mitverantwortung betrachten können.“ 57 Dieser gegenwärtige, optimistische Gegenentwurf eines offeneren Europas, das sich dem Fremden nicht verschließt, sondern sich vielmehr der Öffnung und der Sprengung von Trennlinien verschreibt, soll nicht nur auf die produktive Ambivalenz der porta Orientis Wien – sei es historisch oder gegenwärtig – verweisen, sondern auch der Vielfalt existierender bzw. möglicher Europa-Entwürfe Rechnung tragen.
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57 Vikoler 2009.
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„Heißblütige Italiener“ und „lymphatische Deutsche“ Nationale Grenzen und Virtuosentum im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts S TEFANIE W ATZKA
„Von den Bühnenvirtuosen hört man so viel Schlimmes sagen wie von – den Schwiegermüttern.“1 Dieser Ausspruch des Schauspielers Ludwig Barnay (18421924), selbst ein „Bühnenvirtuose“, bringt die im deutschen Diskurs immer wieder geäußerte Ablehnung eines Theaterphänomens ironisch auf den Punkt, das im 19. Jahrhundert zwar vehement in der Kritik stand, damit aber gleichzeitig in der Öffentlichkeit äußerst präsent war: das so genannte Schauspielvirtuosentum. Als transnationales und transkulturelles Phänomen der Theatergeschichte stellt sich dieses hinsichtlich der Frage nach Grenzüberschreitungen wie auch Grenzziehungen im Europa des 19. Jahrhunderts als besonders interessant dar. Zu einer Zeit, zu der sich Nationalstaaten bildeten und konstituierten, 2 zu der Ländergrenzen verschoben und gesetzt wurden, und der Wunsch nach nationaler Identität in den Künsten verstärkt laut wurde, etablierten und professionalisierten die Schauspielvirtuosen ein im Gegensatz dazu transnationales Gastspielwesen. Zugleich allerdings lassen sich an diesen gesamteuropäisch und international agierenden Akteuren auch Grenzen aufzeigen, die offenbar nicht oder nur schwer überschritten werden konnten, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 1 2
Barnay 1913, 31. Man denke etwa an die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wie auch an das zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Risorgimento in Italien mit der Folge der Gründung eines italienischen Nationalstaats und der 1871 erfolgenden Proklamation Roms als italienische Hauptstadt.
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Eine große Anzahl an Grenzen hatte für das Virtuosentum Bedeutung: regionale und nationale Grenzen, die bei Gastspielen überschritten wurden, Sprachbarrieren, die bei internationalen Tourneen ein Problem darstellten, Grenzen des Publikumsgeschmacks, an die Virtuosen stießen, Einschränkungen im schauspielerischen Können, die vonseiten der Zuschauer und Kritiker bemängelt wurden, sowie finanzielle Beschränkungen, denen die Schauspieler während ihrer Gastspiele unterworfen waren. Allgemein lässt sich festhalten, dass das Wirken der transnational agierenden Virtuosen durch ästhetische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen geprägt war. Solche Vorgänge untersucht der vorliegende Beitrag am Beispiel der Rezeption von Deutschland-Gastspielen italienischer Virtuosen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ziel ist es, die Rolle des Virtuosentheaters nicht nur als ein ästhetisches, sondern vor allem als ein transnationales und transkulturelles Theaterphänomen im Europa des 19. Jahrhunderts zu fassen und einen Anstoß dahingehend zu geben, die Bedeutung der Schauspielvirtuosen gerade auch für die europäische (Theater-)Geschichte neu zu überdenken.
G RENZGÄNGER IM T HEATERDISKURS – D AS S CHAUSPIELVIRTUOSENTUM IM 19. J AHRHUNDERT Zunächst soll eine kurze grundlegende Betrachtung des Schauspielvirtuosentums im 19. Jahrhundert erfolgen. 3 Hatte der Begriff „Virtuose“, dessen Geschichte bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreicht, im 18. Jahrhundert noch eine überwiegend positive Bedeutung – schließlich verstand man darunter ein aus der Masse an Künstlern herausragendes Talent – veränderte sich dies im Folgejahrhundert.4 Ihm wurde verstärkt eine pejorative Konnotation zugeschrieben, so dass die Bezeichnung eher eine Ab- als eine Aufwertung des künstlerischen Schaffens implizierte. Gerade im deutschen Sprechtheaterdiskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand eine intensive Auseinandersetzung mit solchen Schauspielerpersönlichkeiten statt, die stets mit einer Devaluation der beim Publikum beliebten und erfolgreichen Akteure gekoppelt war:
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Das historische Phänomen des Schauspielvirtuosentums im 19. Jahrhundert ist ein bisher noch nicht sonderlich gut erforschtes Feld. Zwar gibt es einzelne Untersuchungen sowie einzelne Aufsätze, dennoch stellt das Thema bis heute ein Forschungsdesiderat dar. Vgl. dazu Schmitt 1990, 194-207, Stettner 1998, Watzka 2012 u. Wiesel 2002.
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Vgl. Wiesel 2002, 560.
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Das Virtuosentum in der Schauspielkunst wird Mitte des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort. Bis es dazu kommt, hat der Begriff Virtuosität einen Wandel durchgemacht; die ursprünglich lobende Bedeutung weicht der Assoziation des Mißbrauchs, der Scheinkunst.5
Wie kam es zu dieser Wende? Wieso hatten es die Virtuosen nun verdient, von Barnay – wie eingangs zitiert – ironisch mit den Schwiegermüttern, und damit augenscheinlich dem Grund jeden Übels, gleichgesetzt zu werden? Das so genannte Schauspielvirtuosentum entwickelte sich im 19. Jahrhundert als ein Produkt von Industrialisierung, Urbanisierung, (Massen-)Medialisierung, Internationalisierung und einer dadurch ansteigenden Mobilität der Menschen (beispielsweise durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes6 sowie des Schiffsverkehrs) wie auch der sich verändernden Theatersituationen in den einzelnen Ländern.7 Als transnationales Phänomen insbesondere in Westeuropa und Nordamerika, brachte es eine Reihe von Schauspielern hervor, die sich durch eine häufig herausragende, da besonders elaborierte Schauspieltechnik und hohe künstlerische Qualität auszeichneten. Zugleich verstanden sie geschickt die Mittel der stetig an Bedeutung gewinnenden Vermarktung ihrer Kunst und ihrer Selbst zu gebrauchen.8 In ihren Heimatländern sehr erfolgreich, wurden die Virtuosen in der zunehmend globalisierten Welt des 19. Jahrhunderts mittels internationaler Gastspiele Teil eines transkulturellen und transnationalen Austauschs. Durch gut organisierte Tourneen außerhalb ihres Heimatlandes und geschickte Marketingstrategien ihrer Impresarios machten sie ihre Kunst dem Publikum auch in anderen Län5
Stettner 1998, V.
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Vgl. den Beitrag von Volz im vorliegenden Band.
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In Deutschland beispielsweise kann man eine Veränderung in der Theatersituation vor allem nach dem Beschluss der Gewerbefreiheit im Jahre 1869 feststellen, die gleichzeitig eine Theaterfreiheit bedeutete. Eine enorm wachsende Anzahl an Theatern wie auch eine zunehmende Kommerzialisierung veränderte die Situation grundlegend. Vgl. dazu beispielsweise Baumeister 2009, Freydank 1995a, Freydank 1995b, Marx 2007a, Marx 2007b, Marx 2008 u. Watzka 2012.
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Im Folgenden soll sich auf Betrachtung der (süd-)europäischen Virtuosen beschränkt werden, da diese im deutschen Diskurs deutlich den nordeuropäischen, vor allem aber den englischen und nordamerikanischen Bühnenkünstlern vorgezogen wurden. So konnte man letzteren aufgrund der stärkeren kommerziellen Orientierung nur wenig abgewinnen, wie die Reaktionen auf das Deutschland-Gastspiel des US-amerikanischen Schauspielers Edwin Booth im Jahr deutlich wird, und sah in ihnen nur wenig Potenzial zur Nachahmung. Vgl. dazu Commeret 1980.
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dern zugänglich. 9 Gerade diese internationalen Gastspiele brachten den Bühnenkünstlern häufig nicht nur künstlerischen Ruhm, wie es hauptsächlich bei den innereuropäischen Gastspielreisen, beispielsweise denen der italienischen Virtuosen, der Fall war, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit ihrer ‚typisch italienischen‘ Schauspielkunst einen nicht unerheblichen Einfluss auf das deutsche Theater der Zeit hatten, wie im Folgenden noch diskutiert werden soll.10 Auch brachten solche Reisen den Schauspielern nicht selten einen finanziellen Gewinn, wie unter anderem Stettner exemplarisch an Reisen deutscher Virtuosen in die Vereinigten Staaten aufzeigt hat.11 In dem ohnehin sehr kritischen deutschen Theaterdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts stand das hier angewandte Prinzip der Kunst- und Selbstvermarktung beharrlich in der Diskussion. So schrieb ein Rezensent des Berliner Lokal-Anzeigers hinsichtlich des ersten Berlin-Gastspiels der italienischen Schauspielvirtuosin Eleonora Duse (1858-1924), deren ‚Deutschland-Premiere‘ im Jahre 1892 erfolgte und die bis zu ihrem ersten Bühnenrücktritt im Jahre 1909 nahezu jährlich in Deutschland gastierte: Eleonora Duse erscheint auch mir als eine hervorragende Künstlerin, mit der Wenige sich messen können, ob sie aber werth sei des ungeheueren Aufwandes von Reclame, der für nöthig erachtet wurde, um die Verdoppelung der Eintrittspreises zu rechtfertigen, das däucht mir nach der einen Rolle doch sehr fraglich. 12
Wie hier deutlich wird, wurde das kommerziell orientierte Vorgehen der Schauspieler, ihrer Agenten und der Bühnendirektoren von den Kritikern auf das Ärgste abgelehnt: Kunst und Kommerz galten als zwei Größen, die nicht miteinander in Einklang gebracht werden durften. 13 Demnach entsprachen weder die kommerziell ausgerichteten Privattheater, an denen Virtuosengastspiele oft stattfanden, dem bürgerlichen deutschen Ideal von Theater als Stätte der Kunst, noch die Akteure, die augenscheinlich Geld verdienen wollten, den Vorstellungen dessen, was man als die eigentliche Aufgabe eines Bühnenkünstlers ansah, nämlich sich 9
Vgl. dazu Hildebrand 2000, Stettner 1998 u. Watzka 2006.
10 Vgl. zu den Gastspielen der italienischen Virtuosen im ausgehenden 19. Jahrhundert ausführlicher Watzka 2012. 11 Vgl. dazu Stettner 1998. 12 Berliner Lokal-Anzeiger vom 23.11.1892. 13 Vgl. dazu etwa die sich explizit mit diesem Thema auseinandersetzende Streitschrift Geschäftstheater oder Kulturtheater von Ludwig Seelig aus dem Jahre 1914 sowie u.a. Epstein 1911, Epstein 1914, Epstein 1927, Freydank 1995a, Freydank 1995b u. Möller 1996.
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der dramatischen Kunst eines Dichters zu unterwerfen. 14 Die Herausstellung der eigenen Schauspielerpersona sollte dabei nicht gefragt sein. Dies macht ein zeitgenössischer Zeitungsartikel deutlich, in dem zu lesen ist, dass die Virtuosen „sich nicht in den Dienst der Kunst“ stellen, sondern „die Kunst in ihre Dienste“ zwingen würden.15 Dabei suchten sie insbesondere „nach einem Rahmen für ihre Person. Je äußerlicher, je flitterhafter die Einfassung ist, desto besser für sie, desto schärfer kann ja ihr liebes Ich hervortreten“ 16. Scheinkunst statt Kunst, kommerzielle Ausrichtung statt Ehrfurcht vor dem Dichterwerk – dies waren die häufigsten Kritikpunkte gegenüber den Virtuosen. 17 Diese Ablehnung des Virtuosentums verdrängte allerdings die Tatsache, dass viele gerade der über Ländergrenzen hinweg erfolgreichen Virtuosen eben nicht nur geldgierige Blender waren, die eine ‚flitterhafte Scheinkunst‘ pflegten. Vielmehr verdankten sie ihre Berühmtheit ihren herausragenden schauspielerischen Qualitäten. Dazu schrieb der Autor und Theaterkritiker Theodor Fontane: Es ist Mode, ja geradezu guter Ton geworden, von dem Virtuosentum als von etwas Schrecklichem, als von der Wurzel allen Übels zu sprechen. Ich finde dies einfach absurd und bekenne mich offen und beinah uneingeschränkt zu der entgegengesetzten Ansicht. Alles, was mich von Personen auf der Bühne noch interessiert, sind Virtuosen oder doch solche, die wenigstens in der einen oder anderen Rolle virtuos aufzutreten verstehn. Ein paar Ausnahmen laß ich gelten. Wenn ich aber im großen und ganzen überschlage, was in den letzten sechs, acht Jahren schauspielerisch überhaupt noch einen Eindruck auf mich gemacht hat, so waren es immer virtuose Leistungen. Es gibt keine Kunst ohne Virtuosität.18
Trotz der durch antikommerzialistische Ideologien geleiteten Absage an das Virtuosentum und die Unterstellung der Scheinkunst erkannte man im deutschen Diskurs dennoch die künstlerische Qualität, die auch Fontane hier herausstellt. Insbesondere in den vor allem südeuropäischen Bühnenkünstlern, namentlich 14 So heißt es in einer Zeitungskritik: „Sie [die Virtuosen] kümmern sich wenig um die Meisterwerke unserer großen Dichter, deren Verkünder zu sein ihnen nicht genug Ehre scheint“ (Das Kleine Journal vom 09.12.1893). 15 Das Kleine Journal vom 09.12.1893. 16 Das Kleine Journal vom 09.12.1893. 17 Dies machte F.C. Paldamus bereits im Jahre 1857 deutlich: „Dem Virtuosentum klebt eine materialistische Tendenz an, es übt seine Kunst oder besser gesagt, es zeigt seine Kunststücke, um Ruhm und was noch lockender ist als Ruhm, um Geld zu gewinnen“ (Paldamus 1857, 291). 18 Fontane 1926, 520.
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den berühmten Italienern, sah man ein Potenzial, positiven Einfluss auf die ‚heimische’ Theatersituation und den Schauspielstil der deutschen Akteure zu nehmen, mit dem man in hohem Maß unzufrieden war. Nicht selten kam es daher zum Vorschlag, die ‚eigenen‘ Akteure sollten sich die ‚fremden‘ Gäste zum Vorbild nehmen, um die als deklamatorisch und statisch verurteilte deutsche Schauspielkunst zu verbessern. Unter Berücksichtigung der Auftritte dieser europäischen Künstler in Deutschland sollten im deutschen Theater bestehende Grenzen der Kunst und des schauspielerischen Könnens bzw. der schauspielästhetischen Konventionen überschritten und die Möglichkeiten künstlerischen Handelns erweitert werden. Die Virtuosen standen demnach in einem Spannungsverhältnis im deutschen Theaterdiskurs: An den über die nationalen Grenzen der europäischen Länder hinweg agierenden Schauspielkünstlern wurden Diskussionen über die ‚fremde’ wie die ‚eigene’ Schauspielkunst sowie über die Frage, wie kommerziell Theater generell sein dürfe, geführt.
G RENZÜBERSCHREITUNGEN , G RENZZIEHUNGEN – I TALIENISCHE V IRTUOSEN IN DEUTSCHLAND Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereisten italienische Virtuosen Deutschland in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen und gaben dort ihre international anerkannte Schauspielkunst zum Besten. Im Folgenden stehen die Virtuosen Tommaso Salvini (1829-1915) und Ernesto Rossi (1827-1896) sowie die bis heute wohl bekannteste italienische Virtuosin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Eleonora Duse im Mittelpunkt der Betrachtung. 19 Diesen italienischen Bühnenkünstlern eilte seit ihren ersten Auftritten in Deutschland – trotz ihres Status als Virtuosen – der Ruf voraus, qualitativ hochwertige Schauspieler zu sein. 20 Dass ihr Schauspielstil die deutschen Kritiker
19 Natürlich kamen auch andere italienische Schauspieler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Deutschland, nicht zuletzt als Teil des jeweils mitreisenden Ensembles der Stars. 20 Dies lässt sich unter anderem an unterschiedlichen zeitgenössisch erschienenen Darstellungen wie Richard Nathansons 1893 erschienener Schrift Schauspieler und Theater im heutigen Italien. Erlebnisse und Beobachtungen aus sechzehn Jahren (vgl. Nathanson 1893) und Eugen Zabels Die italienische Schauspielkunst in Deutschland. Adelaide Ristori, Tommaso Salvini, Ernesto Rossi, Eleonore Duse aus demselben Jahr (vgl. Zabel 1893) sowie an den häufigen Auseinandersetzungen anderer bekannter
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begeisterte und man ihre Gastspiele in Deutschland schon bald als eine Art von ‚Tradition‘ empfand, macht eine Rezension aus der Berliner Zeitung Das Kleine Journal deutlich, in der explizit auf diese Tatsache hingewiesen wird: „Die italienischen Theater-Koryphäen haben seit je in Berlin ein freundliches Gast-Asyl gefunden, nicht nur die Meister und Meisterinnen des bel canto, sondern auch Künstler wie Rossi und Salvini […].“21 Gerade den beiden letztgenannten sprach man hinsichtlich ihrer Schauspielkunst und deren ästhetische Einwirkung auf die deutsche Theatersituation eine besondere Rolle zu. So heißt es in einem zeitgenössischen Zeitschriftenartikel: Die Italiener Salvini und Rossi haben uns seit zwei Jahrzehnten durch zahlreiche Gastspiele daran gewöhnt, den Ausbruch der Leidenschaft ungemildert über uns ergehen zu lassen, und die deutsche Schauspielkunst verdankt ihnen eine erhebliche Mehrung ihrer Darstellungs-Mittel.22
Dem Zitat zufolge nahmen die beiden Schauspieler gleich auf zwei Ebenen großen Einfluss auf die Theatersituation in Deutschland: Einerseits veränderten ihre Auftritte die Sehgewohnheiten des offenbar an andere Theaterereignisse gewöhnten deutschen Publikums; andererseits profitierten auch ihre deutschen Kollegen von den Gastspielen der beiden Virtuosen: Durch ihre Schauspielkunst und die daraus resultierende Nachahmung derselben durch die deutschen Akteure wurde das darstellerische Vokabular auf den deutschen Bühnen erweitert. 23 Insbesondere die hier erfolgte starke Betonung der „Leidenschaft“ im Spiel der italienischen Virtuosen ist interessant: Dieses Charakteristikum, welches das deutsche Publikum (wie die deutschen Schauspieler) augenscheinlich als fremd und gewöhnungsbedürftig, aber dennoch als hochgradig ansprechend empfanden, deutet auf die in der deutschen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert vorherrschende stereotypische Vorstellung von der besonders stark ausgeprägten Leidenschaftlichkeit ‚der Italiener‘ generell hin. Sich selbst hingegen empfand man als weitaus rationaler, zurückhaltender, aber auch gehemmter und so wurde in diesem Punkt eine große Differenz zwischen ‚den Italienern‘ und ‚den Deutschen‘ festgestellt. Der zeitgenössische Kulturhistoriker und ItalienKritiker wie Oscar Blumenthal oder Julius Bab mit den italienischen Virtuosen feststellen. 21 Das Kleine Journal vom 22.11.1892. 22 Werner 1892, 168. 23 „Jeder [= Ernesto Rossi und Tommaso Salvini] gewann seinem Publikum gleich beim ersten Auftreten einen vollen Eindruck ab, fesselte und streute Anregungen aus, die sich noch jetzt ununterbrochen als gute Saat erweisen.“ (Zabel 1983, 24).
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kenner Victor Hehn schrieb diesbezüglich, ‚der‘ „Italiener ist im Vergleich mit dem lymphatischen Deutschen ein empfindlich reizbares, heissblütiges, heftig begehrendes und verabscheuendes Geschöpf“ 24. Wo Hehn ‚den Deutschen‘ generalisierend als „lymphatisch“, also sehr träge schildert, stellte er diesem das Bild des unberechenbaren, aktiven, „heißblütigen“ Italieners entgegen – ein Klischee, das einen seit Jahrhunderten angestammten Platz im deutschen kollektiven Gedächtnis hatte.25 Die in der deutschen Rezeption der italienischen Virtuosen immer wieder zum Ausdruck kommende Stereotypisierung ‚der Italiener‘ als besonders leidenschaftlich, wie sie im obigen Zitat deutlich wird,26 veranschaulicht den Tatbestand, dass unter dem Deckmantel einer ästhetischen Auseinandersetzung mit der italienischen Schauspielkunst gesellschaftlich tief reichende Stereotype über die europäischen Nachbarn verhandelt und durch die feuilletonistische Presse distribuiert wurden. Hier kamen klischierte Vorstellungen von, wie es im Kontext des 19. Jahrhunderts oft heißt, ‚Nationalcharakteristika‘ zur Sprache, anhand derer nicht nur eine generalisierende Charakterisierung ‚des Anderen‘ erfolgte. 27 Im Zuge der Zuschreibungen bestimmter nationaler oder ethnischer Eigenschaften an eine Fremdgruppe wurde auch eine Eigencharakterisierung und damit die Feststellung ‚typisch deutscher Nationalcharakteristika‘ vorgenommen, was eine affirmative Wirkung haben sollte. Zu der Zeit der sich gerade auf gesellschaftlicher Ebene im Vollzug befindlichen Reichsgründung, die nominell-politisch im Jahre 1871 vonstattengegangen war, dienten solche hetero- wie autostereotypisierenden Zuschreibungen auf der Ebene der Auseinandersetzung mit künstlerischen Ereignissen im Theater zugleich der (politischen) Selbstkonstituierung. Im Prozess Zuordnung von ‚Nationalcharakteristika‘ erfolgte eine Grenzziehung, deren Durchlässigkeit aufgrund der Starrheit der Stereotypisierungsmechanismen minimal erschien. Dieses Prinzip der Selbstdefinition unter Verwendung von Stereotypen lässt sich an einem Zitat aus dem Buch Die italienische Schau24 Hehn 1992, 86. 25 Vgl. zum Italienerbild unter anderem Münch 2004, 21-47, vor allem 43. 26 Für weitere Beispiele, an denen sich zeigen lässt, wie die vermeintliche Leidenschaftlichkeit im Spiel der Italiener vor allem zum Spiel der ‚ruhigeren Deutschen‘ abgegrenzt wird, vgl. Watzka 2012. 27 Zu diesem heute als äußerst kritisch zu bewertenden Begriff schreibt Manfred Beller „Im Kompositum ‚Nationalcharakter‘ wird diese psychische Disposition des Charakters vom Individuum auf das Kollektivum der Nation übertragen. Auf solcherart trügerischem Analogieschluß beruhen die generalisierenden Zuschreibungen von Eigenschaften, die als Stereotypen die ‚Bilder‘ von sozialen Gruppen, Ethnien, Völkern und Nationen prägen“ (Beller 2006, 46). Vgl. dazu auch Münch 2004.
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spielkunst in Deutschland von Eugen Zabel aus dem Jahre 1893 verdeutlichen. Der Autor geht von der Voraussetzung aus, daß die Bühnenkunst der Germanen vom Geiste herkommt und sich an der Hand einer mühsam erworbenen Technik in das Sinnliche hineinarbeitet, während die Romanen vom sinnlichen Bilde ausgehen und das technische Rüstzeug mit viel größerer Leichtigkeit gebrauchen lernen. Es erklärt sich hieraus, daß unsere Schauspieler das Hauptgewicht auf den Träger des Geistes, die Sprache legen, während die Romanen virtuos sind in der Beweglichkeit des Gesichts, der Arme und Hände, der Bewältigung des ganzen Körpers.28
Das hier vorherrschende Klischee vom „sinnlichen Romanen“, der grundsätzlich ein bewegliches, körperbetontes Spiel pflege, sowie vom „vergeistigten Germanen“, der sich eher durch Geist, Willen und Fleiß auszeichne, stützt eine im Deutschland des 19. Jahrhunderts immer wieder zur Sprache kommende Dichotomie von Natur versus Kultur, von Körper und Intellekt, die auf ‚die Italiener‘ und ‚die Deutschen‘ zum Zweck der stereotypisierenden Zuschreibung übertragen wurde.29 Auf diese Weise wurden bestimmte Merkmale zugeordnet, die für einen Großteil der deutschen Rezipienten verständliche Bedeutungen und Bewertungen implizierten. In diesem Kontext ist auch eine weitere Zuschreibung an ‚die Italiener‘ einzuordnen, nämlich die der ‚Natürlichkeit‘30, unter welcher ihr Schauspielstil in den deutschen Feuilletons häufig firmierte. So liest man in einer zeitgenössischen Zeitungskritik: Die Italiener sind ächt [sic!], da sie sich selbst spielen. Da ist kein Theaterflitterkram, […] Und dies ohne alle schauspielerischen Mätzchen: nur wahr und natürlich; darin liegt das Geheimniß ihrer so großen Kunst, das sich aber so vielen Menschendarstellern nicht offenbart.31 28 Zabel 1893, 11-12. 29 Hierbei wurde auf den kartesianischen Dualismus von Geist und Körper verwiesen, welcher hinsichtlich des Theaters unter anderem bei Julius Bab expliziert wird. Vgl. dazu Bab 1915. 30 Das Diktum eines ‚natürlichen‘ Schauspielstils lässt sich wohl zurückführen auf die Verhandlungen der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, bspw. auf Theorien von Lessing oder Diderot. Was genau im 19. Jahrhundert allerdings als ‚natürlich‘ galt, dies ist schwer zu ergründen und wird in den Quellen auch nicht eindeutig definiert. Vgl. dazu Watzka 2012. 31 Neuester Mainzer Anzeiger vom 06.05.1895.
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Jenseits von starrer Deklamation und übertriebener Gestik – Charakteristika, die als typisch für das Spiel der deutschen Akteure galten – näherte sich die italienische Schauspielkunst in den Augen vieler deutscher dem vorherrschenden Ideal an. Die italienischen Virtuosen, die diesen ‚natürlichen‘ Schauspielstil perfektioniert zu haben schienen, avancierten auf Grundlage dessen zu Vorbildern auch für ihre deutschen Kollegen. In der von großer Leidenschaftlichkeit geprägten Körperlichkeit ‚der Italiener‘ und ihrer trotzdem so ‚natürlichen‘ Spielweise erkannte man in Deutschland einen großen Vorteil für die Umsetzung einer qualitativ auch den eigenen Maßstäben entsprechenden Schauspielkunst. Daher forderte man die ‚heimischen‘ Schauspieler auf, sich an diesen ‚typisch italienischen‘ Eigenschaften zu orientieren und diese in das eigene, weitaus ruhigere Spiel zu integrieren. Allerdings stieß man dabei auf ein Problem, nämlich auf eine Grenze hinsichtlich der Umsetzbarkeit: Hinter der größeren Leidenschaftlichkeit und der freieren Körperlichkeit behauptete man nämlich ein ‚den Italienern‘ generell (d.h. nicht nur den Bühnenkünstlern) immanentes, angeborenes Schauspieltalent, das man als Teil des italienischen ‚Nationalcharakters‘ bewertete und ‚den ruhigeren Deutschen‘ dementsprechend in einem solchen Maße nicht gegeben sah. Das nationale Talent ‚der Italiener‘ zum Schauspiel wurde auf eine genetische Prädisposition zurückgeführt, die bei besonders talentierten Personen wie den Virtuosen noch intensiver ausgebildet sei. Dementsprechend schrieb Zabel, die italienischen Bühnenkünstler hätten darin etwas gemeinsames, daß sie die natürlichen Gaben der romanischen Rasse als glückliche Vorbedingung ihrer Kunst besitzen. Was im Grunde genommen den Schauspieler ausmacht, daß er auf die Anschauung wirkt, indem er seinen Körper zum Ausdruck seelischer Stimmungen stempelt, ist eine Eigentümlichkeit, die der Italiener bereits in der Wiege als ererbten Besitz empfindet und mühelos ausbildet, je mehr er zur Reife des bewußten Menschen kommt.32
Wie das Gros seiner Zeitgenossen behandelt auch Zabel die italienische Schauspielkunst nicht als ein Handwerk, das zu erlernen sei, sondern er führt die Fähigkeit dazu auf eine quasi-evolutionäre Entwicklung ‚der Italiener‘ zurück. Vor diesem Hintergrund musste sich die Nachahmung durch die deutschen Schauspieler erschwert, wenn nicht sogar unmöglich darstellen, selbst wenn sie immer wieder angestrebt oder von der feuilletonistischen Presse gar gefordert wurde. Sich dieses nahezu paradoxen Zwiespalts von der festen Vorstellung biologistisch begründeter nationaler Eigenschaften und dem Wunsch nach Verbesserung 32 Zabel 1893, 11.
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der eigenen Kunst bewusst, schlug der Journalist Leopold Schönhoff zum Gastspiel Eleonora Duses daher folgende Alternative vor: Nicht die Unarten der Duse, nicht die mancherlei Absichtlichkeiten im Spiel, nicht ihr besonderes sensibles Temperament, das sich ja nicht nachäffen läßt, nicht ihre eminent nationale Geberdensprache, die mitunter so naturalistisch wir, daß sie an animalische Heftigkeit und Unmittelbarkeit erinnert, mögen unsere Schauspieler, die so häufig an den Duse-Abenden im Lessingtheater als Gäste weilten, vorbildlich wirken; vielmehr die modern-verfeinerte Art der Künstlerin, ein Menschenschicksal, das nicht allein von den größten Püffen, sondern auch von zarteren und um so verwickelteren Einflüssen beherrscht wird, in seiner Entwicklung schauspielerisch darzustellen […].33
Schönhoff verlangte von den deutschen Akteuren nicht, sich die ohnehin unerreichbaren ‚typisch italienischen Eigenarten‘ der Duse anzueignen; vielmehr soll das Moderne, hier offenbar im Sinne einer Universalität verstandene und damit von nationalcharakterisierenden Grenzziehungen Unabhängige im Spiel der Duse zum Wohle einer ‚deutschen Schauspielkunst‘ nachgeahmt werden. Ob diese Orientierung letzten Endes einen positiven Effekt hatte, ist heute schwer nachvollziehbar. Allerdings schrieb der zeitgenössische Kritiker Heinrich Stümcke diesbezüglich: In Italien ging meteorgleich der Stern Eleonora Duses auf, die auf ihren ausgedehnten Wanderzügen als Künderin des modernen Seelendramas allmählich alle Rivalinnen überstrahlte und auf die jüngste deutsche Generation ihrer Berufsgenossinnen von ebenso entscheidendem Einfluß wurde, wie ein und zwei Jahrzehnte früher die großen Italiener Rossi und Salvini auf die Männer des Theaters.34
Wie anhand der Beispiele deutlich wird, wurden die italienischen Virtuosen Duse, Rossi und Salvini im deutschen Theaterdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts trotz ihrer eigentlich ästhetisch orientierten Profession zu Objekten der gesellschaftspolitischen Verhandlungen von stereotypen Darstellungen nationaler Identitäten. Zwar galten sie als Vertreter ihrer Nation und ihnen wurden damit ‚typisch italienische‘ Eigenschaften auf den Leib geschrieben, dennoch dienten sie als nachzuahmende Vorbilder für ihre deutschen Kollegen, auch wenn jene nicht dieselben (guten) Voraussetzungen für das Spiel mitbrachten wie ihre italienischen Vorbilder.
33 Schönhoff 1893/94, 200-201. 34 Stümcke 1905, 49.
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Trotz der im deutschen Diskurs stetig wahrnehmbaren Kritik an den ‚eigenen‘ Akteuren erkannte man in ihnen jedoch auch einen Vorteil, den wiederum die Schauspieler anderer Nationen (und damit auch die Italiens) übernehmen sollten:35 Wie es bereits bei Zabel der Fall war, der in der oben zitierten Äußerung den Geist der deutschen Schauspieler im Gegensatz zur ‚typisch italienischen‘ Körperlichkeit herausstellte, so schrieb auch sein Kritikerkollege Adolph Winds, der deutsche Bühnenkünstler sei „lebhafter an der Dichtung interessiert als sein fremdsprachiger Kollege, weil […] der Deutsche kritisch veranlagt ist und im Theater verlangt, daß ihm die Dichtung etwas sagen, ihm eine Anregung bieten soll“36. Da, wo man im Spiel der Italiener die Körperlichkeit favorisierte, schrieb man – wiederum in einem Akt der Generalisierung – den deutschen Bühnenkünstlern die Fähigkeit zu, sich auf mehr intellektueller Ebene mit dem Sujet auseinanderzusetzen. Eine Kombination aus dem ‚natürlichen‘ Körperspiel und der geistigen Beschäftigung mit dem Theater wie auch dem Dramentext – darin sah man eine perfekte Paarung für den idealen Schauspielstil. Würde man es demnach schaffen, die Vorzüge der beiden Schauspielkünste miteinander zu verbinden und harmonisch in Einklang zu bringen, so läge darin ein enorm großes Potenzial, wie der Autor und Übersetzer Richard Nathanson zur Diskussion stellte: Italien und Deutschland haben noch manches von einander zu lernen. Durch die Exkursionen der bisher über die Alpen gekommenen großen Schauspieler des Südens haben die deutschen Künstler schon eine beträchtliche Dosis Natürlichkeit gewonnen. Was ihnen noch fehlt, ist der naturgetreue, nicht übertriebene Ausdruck der großen Leidenschaften und die Abstreifung des traditionellen Pathos im Affekt.37
Wie viele andere seiner Kollegen fand auch Nathanson die Schauspielsituation in Deutschland durch den Einfluss der Virtuosen auf die einheimische Theatersituation als Resultat ihrer Gastspiele verbessert; allerdings bedürfe es seiner Meinung nach noch Verfeinerungen, gerade aufseiten der deutschen Bühnenkünstler. Nathansons Begeisterung für die Idee der Verschmelzung beider Schauspielstile ging sogar so weit, dass er in seinen Überlegungen auch die politische Ebene mit einbezog, was seinen Vorstellungen eine geradezu utopische Komponente gibt. So schrieb er: 35 Auf die Tatsache, dass dies wiederum eine paradoxe Situation aufzeigt, denn gerade den deutschen Virtuosen wurde ja vorgeworfen, sie stellten den Text hintan, um sich selbst in Rampenlicht zu drängen, soll an dieser Stelle explizit verwiesen werden. 36 Winds 1907, 771-772. 37 Nathanson 1893, 208-209.
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Es muss in nicht zu ferner Zeit gelingen, die gegenwärtigen Vorzüge des Theaters beider Nationen miteinander zu vereinen und zu verschmelzen. Die politische Annäherung des neuen Deutschlands und des neuen Italiens wird sich dann auch auf dem Gebiete der dramatischen Kunst als eines der schönsten und bedeutungsvollsten Kulturmomente unserer Zeit erwiesen haben. 38
Die im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits erfolgte außenpolitische Annäherung Italiens und des Deutschen Reiches, beispielsweise in Form des Dreibunds zwischen Italien, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, solle der Meinung Nathansons nach idealerweise auch zu einer baldigen kulturellen Annäherung der Länder führen, auf dass es zu einer jeweiligen Aneignung der „Vorzüge des Theaters beider Nationen“ komme. Die durch die internationale Politik bereits abgeschlossenen multilateralen Pakte sollten demnach ein Vorbild auch für den Austausch auf der Ebene des Theaters sein und dem kulturellen Wohle beider Nationen dienen. Die von der ansonsten im deutschen Diskurs häufig vorherrschenden stereotypischen Vorstellung von starren und schwer überbrückbaren Nationalcharakteristika abweichende Prophezeiung des Autors, beide Nationen könnten von einer solchen Annäherung profitieren, denn die Übernahme der guten Eigenschaften des jeweils anderen werde schließlich zu den „schönsten und bedeutungsvollsten Kulturmomente[n]“ für beide führen, wirkt zwar vielmehr wie ein idealistisches Konstrukt eines vehement optimistischen Italien- und Theaterbegeisterten denn wie eine zu realisierende oder gar realistische Zukunftsaussicht. Dennoch zeigt die Äußerung Nathansons – aller Utopie zum Trotz –, in welch hohem Maße man zumindest in einem Teil des zeitgenössischen Diskurses ein (nationale wie kulturelle) Grenzen überschreitendes Potenzial des Theaters erkannte. Gleichzeitig deutet sie an, dass das internationale Gastspielwesen mit seinen impliziten Transnationalisierungstendenzen als ein wichtiger Schritt in die Richtung eines „Spiels ohne Grenzen“ oder zumindest eines „Spiel jenseits von Grenzen“ in Europa bewertet wurde. Unter diesen Vorzeichen muss die unter den Zeitgenossen, aber selbst bis in die neueste Theatergeschichtsforschung oft vorherrschende Meinung, das Schauspielvirtuosentheater sei reine, auf Kommerz basierende Unterhaltung von egomanischen Selbstdarstellern gewesen, revidiert werden. Wie anhand der berühmtesten italienischen Stars des ausgehenden 19. Jahrhunderts gezeigt wurde, eignet dem Virtuosengastspiel eine politische, transnationale Komponente. Gleichzeitig jedoch lassen sich anhand der Rezeption der international bekannten Schauspieler auch klare nationalisierende Tendenzen innerhalb des deutschen Theaterdiskurses aufzeigen. 38 Nathanson 1893, 209-210.
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Auf den Rücken der Virtuosen sowie ihrer ausgeübten Kunst wurden demnach nationale Belange ausgelotet, Grenzen gezogen wie auch überschritten, es wurde sich verbrüdert oder distanziert, Identifizierungsmöglichkeiten geschaffen und Abgrenzungsmechanismen praktiziert. Auf diese Weise erfuhren das (Virtuosen)Theater wie das dazugehörende innereuropäische Gastspielwesen eine Politisierung und trugen – wohl eher unfreiwillig – sowohl zu einer Europäisierung als auch zu einer Nationalisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert bei was sowohl zu (inner-)europäischen Grenzüberschreitungen als zugleich auch zu (inner-)europäischen Grenzziehungen führte.
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Mobiler (T)raum: Mit dem Orientexpress durch Europa D OROTHEA V OLZ
Am 4. Oktober 1883 verlässt der Orientexpress den Pariser Bahnhof Gare de l’Est für seine offizielle Jungfernfahrt in Richtung Konstantinopel1 – und nimmt zugleich rasant Fahrt auf als Topos westlicher Imagination. Nicht die wechselnden Abfahrts- und Ankunftsorte oder mögliche Zwischenstopps prädestinieren ihn als Sujet der Kulturgeschichte; der „Zug der Träume“2 ist weniger als Transportmittel spannend, denn als das eigentliche Ziel und die Attraktion der Reise. War das Reisen selbst bis dato keine Freizeitbeschäftigung, wird der Orientexpress zum Geburtshelfer für diese Art von Tourismus.3 Auch heute noch kann im Rahmen einer ‚Nostalgiefahrt‘ den Spuren seiner Geschichte bis in die Gegenwart gefolgt werden. Die luxuriöse Inneneinrichtung erinnert dabei an eine glorreiche Vergangenheit.4 Auf diese Weise wird der Zug heute, konserviert im ver-
1
Vgl. Cars/Caracalla 1998, 8. In den ersten Jahren konnte noch nicht direkt mit dem Orientexpress bis Konstantinopel gereist werden, sondern musste umgestiegen und schließlich noch eine Fähre benutzt werden. Ab 1888 war die komplette Strecke für den Zug erschlossen. Vgl. Honold 2010, 169.
2
So der Buchtitel von Parvulescu 2007. Hierbei handelt es sich um einen Bildband und, wie bei so vielen Publikationen zum Thema Orient-Express, um keine Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch.
3
Vgl. Cappella 2007, 6: „On voyageait, oui, pour le commerce, les affaires et la science, mais le tourisme tel qu’on le pratique aujourd’hui est né avec L’OrientExpress […]“.
4
Reisen unter dem Label Orient-Express werden zum Beispiel von London oder Paris nach Venedig von Orient-Express Hotels Ltd angeboten, vgl. web.archive.org/web/
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meintlichen Originalzustand, zum Erinnerungsträger seiner eigenen Geschichte, aber auch zum Referenzpunkt westlicher Phantasien: Bereits das Innere der Waggons, kunstvoll, teils mit exotisch anmutenden Motiven verziert, transportiert die Idee einer Aneignung der bzw. des Fremde(n). Der Name Orientexpress impliziert es mehrfach: Hier wird die Richtung vorgegeben und die Geschwindigkeit, die Idee einer schnellen Raumdurchdringung hin zum fernen Orient. Durch Fortschritt und Technik wird folglich Raum „erobert“. Abenteuer suggeriert das Label, wenngleich darunter unterschiedliche Züge und verschiedene Fahrtrouten subsumiert wurden und werden.5 Zwischen Luxus und Gefahr auf der Reise vom ‚Okzident‘ in den ‚Orient‘ oszilliert der Mythos, der in zahlreichen Zeitungsartikeln, Bildern, Büchern und Filmen inszeniert und re-inszeniert wird. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Agatha Christies Krimi Murder on the Orient Express (1934), von dessen anhaltender Vitalität neben Sidney Lumets berühmter Verfilmung von 1974 auch eine aktuellere Sendung des deutschen Kinderkanals zeugt, in der die Handpuppe „Bernd das Brot“ auf den Spuren Hercule Poirots wandelt. Statt Mord findet sich hier nun Brot im Orientexpress (2006). Im Folgenden will ich die Geburtsstunde des Mythos Orientexpress anhand der Jungfernfahrt dieses Zuges untersuchen. Mit Blick auf die Erstrezeption dieses Abenteuers auf Schienen werde ich nachvollziehen, wie der durchfahrene Raum wahrgenommen und verhandelt wurde, um dadurch Rückschlüsse auf die Konstruktion nationaler bzw. transnationaler Räume zu ziehen. Meine These lautet, dass der Orientexpress real und imaginär als mobiler Grenz- und Verhandlungsraum kultureller Identitäten zwischen Europa und seinen Anderen gesehen werden kann. Zuvor sollen aber allgemeiner die Umwälzungen in den Fokus rücken, die der Siegeszug der Eisenbahn in Europa mit sich brachte.
D IE E ROBERUNG E UROPAS DURCH DEN Z UG Der massive Ausbau des Schienennetzes im 19. Jahrhundert veränderte durch die damit einhergehende neue Mobilität nicht nur den Warentransport und das Reiseverhalten, sondern hatte, begleitet von einer Steigerung der Geschwindigkeit, 20140510140310/http://www.belmont.com/web/luxury/journeys/europe/to_venice. jsp (letzter Zugriff : 01.12.2019). 5
Unter anderem beeinflussten Kriege und Konflikte die Fahrtrouten: Nach dem Ersten Weltkrieg z.B. durchquerte der Express keine deutschen Gebiete mehr, sondern fuhr unter dem Namen Simplon-Orient-Express über die Schweiz und Venedig in Richtung Türkei. Vgl. Honold 2010, 174.
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Folgen für die Geographie des Raumes und vor allem für dessen Wahrnehmung.6 In der kulturwissenschaftlichen Abhandlung Geschichte der Eisenbahnreise (1977), auf die ich mich im Weiteren beziehe, beschreibt Wolfgang Schivelbusch diesen tiefgreifenden Umbruch und belegt, dass auch die Zeitzeugen ihn als solchen empfanden.7 Als kostengünstige Reisemöglichkeit erlaubte die Eisenbahn einer großen Anzahl von Menschen, sich rasch von A nach B zu bewegen und beflügelte zudem soziale Utopien. So schrieb der französische Frühsozialist Constantin Pecqueur: Die gemeinschaftlichen Reisen in der Eisenbahn und auf den Dampfschiffen sowie die großen Ansammlungen der Arbeiter in den Fabriken befördern außerordentlich das Gefühl und die Gewohnheiten der Gleichheit und Freiheit. Die Eisenbahnen werden in wunderbarer Weise für die Herrschaft wahrhaft brüderlicher sozialer Beziehungen wirken und mehr leisten für die Gleichheit als die übertriebenen Prophezeiungen der Volksredner der Demokratie; und all dies wird möglich werden, weil man gemeinsam reist, weil alle Klassen der Gesellschaft hier zusammenkommen, weil sich eine Art lebendiges Mosaik bildet, das sich zusammensetzt aus den verschiedensten Schicksalen, gesellschaftlichen Positionen, Charakteren, Verhaltensweisen, Gebräuchen und Trachten, die jede Nation beisteuert. So verringern sich nicht nur die Entfernungen zwischen den Orten, sondern gleichermaßen die Abstände zwischen den Menschen. 8
Deutlich abzulesen ist die Pecqueursche Vereinnahmung der Eisenbahn für die Ideale der französischen Revolution, wenn er von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit spricht. Er glorifiziert die Industrialisierung als Instrument der Völkerverständigung und warnt bereits vor neuen Möglichkeiten der Distinktion, mit Bezug auf die Bahn etwa durch ein System unterschiedlicher Reiseklassen, wie es bald auch in Frankreich eingeführt werden sollte.9 Die Distanz zwischen den Schichten verringerte sich so zwar nicht, jedoch die Distanz zwischen Ländern und Nationen, da Entfernungen nun in kürzerer
6
Vgl. Schivelbusch 2011, vgl. ebenso Buschauer 2010. Alexander Honold führt dies noch weiter und beschreibt die Lokomotive nicht nur als Sinnbild der Dynamik der Moderne, sondern (in Anlehnung an Lothar Gall und Manfred Pohl und in Bezug auf das Deutsche Reich) als modellhaft für den Aufbau wirtschaftlicher und sozialer Kollektive. Vgl. Honold 2010, 156.
7
Vgl. Schivelbusch 2011, 16-17 . Kaschuba spricht sogar für die Zeitgenossen von
8
Zit. nach Schivelbusch 2011, 67-68.
9
Vgl. Schivelbusch 2011, 68-69.
„Geschwindigkeitsrausch und Wahrnehmungsrevolution“, ders. 2004, 90.
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Zeit überwunden werden konnten. Der Raum schien zu schrumpfen bzw. er wurde, wie es Heinrich Heine ausdrückte, durch die Eisenbahn gar „getötet“: In viereinhalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel [sic] Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.10
Auf diese weit rezipierte Replik bezieht sich auch Paul Virilio, wenn er über die technische Beschleunigung der Bewegung schreibt und sie als eine zerstörerische Kraft bezeichnet: „Die Dampfmaschine ist eine Kriegsmaschine, sie destruiert beziehungsweise dekonstruiert das gesellschaftliche Kontinuum; die Bewegung ist nicht mehr bloß die Seele des Krieges, sondern wird zu der des technischen Fortschritts, der sich dem Mythos der Omnipräsenz nähert.“ 11 Alles ist in Bewegung und mit der Bewegung der Fortschritt allgegenwärtig. Damit verbunden ist die Idee geographischer Eroberungen: „Der Illusionseffekt der Beherrschung des Raumes geht einher mit dem nicht minder illusionären Moment seiner Unerschöpflichkeit.“ 12 Ein scheinbar unendliches Schienennetz entzieht sich am Horizont den Augen, ohne dort zu enden. Dieses Netz strukturiert den Raum und macht ihn durchdringbar, steigert seine „Leitfähigkeit“ für die Bewegung – und erhöht damit das Tempo seiner „Auflösung und Zerstreuung“.13 Zwischen der Erschließung neuer Räume und ihrer Vernichtung, der Entdeckung neuer Gegenden und ihrer Zerstörung bewegt sich die Eisenbahn durch Europa und die europäische Geistesgeschichte.14 Sie verändert den Raum und „bildet den Ursprung eines neuen Katasters“.15 Die europäischen Nationen rücken näher zusammen und müssen die Idee und Markierung ihrer Grenzen neu verhandeln.
10 Weiter schreibt Heine: „Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.“ Das Zitat stammt von 1843, hier zit. nach Schivelbusch 2011, 39. Zur Interpretation und historischen Verortung sowie zur Rezeption der Heine-Replik vgl. Buschauer 2010, 27f. 11 Virilio 1978, 27. Zu Virilio und zur Problematik der Passage im Allgemeinen vgl. den Beitrag von Wehrle im vorliegenden Band. 12 Honold 2010, 157. 13 Vgl. Virilio 1978, 28. 14 Vgl. Buschauer 2010, 27-74. 15 Vgl. Virilio 1978, 28.
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Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson definiert Nationen in seinem vielrezipierten Buch Imagined Communities „als begrenzt und souverän“.16 Für solch eine „vorgestellte politische Gemeinschaft“17 sind Grenzen sowohl territorialer als auch kultureller Art konstitutiv. Diese werden markiert und durch die Re-Inszenierung von Geschichte oder die Erfindung von Traditionen belebt.18 Folgten Grenzkontrollen lange dem Prinzip der „‚Kontrolle im Raum‘“19, beispielsweise durch Überprüfungen an Gasthöfen, so werden mit der Industrialisierung die Grenze zu einem „permanenten ‚Ort im Raum‘, fixiert als Kontrollerfahrung“.20 Territorien werden verfestigt und konkreter gerahmt. Zudem erfolgen durch die Erhöhung der Reisegeschwindigkeit Grenzkontrollen nun in kürzeren Abständen. Damit verbindet sich das Gefühl einer geographischen Annäherung mit der bewussten Wahrnehmung nationaler Grenzen, die im Moment ihrer Übertretung klarer erfahrbar werden. So beschleunigt sich auch der Prozess einer Differenzierung, da eine nationale Vereinnahmung von „Landschaften, Baustilen, Sprachräumen und Atmosphären“ stattfindet.21 Deutlich wird die Ambivalenz und Parallelität von Raumschrumpfung und Raumöffnung. Für die Passagiere des Orientexpress war Reisen eine komfortable Angelegenheit, war dies doch „umstiegslos“ möglich, auch wenn ein Grenzübertritt ein technisches Hindernis bedeutete, dass einen Wechsel von „Fahrdienstpersonal und Lokomotiven“ zur Folge hatte.22 Dennoch markiert bereits der Beginn der Reise eine Art Grenzübertritt, wird der Zug zu einem besonderen Raum, von dem und in dem Ideen des Eigenen und Fremden, auf der Fahrt von Paris, später London, bis Konstantinopel, verhandelt werden.
16 Anderson 2005, 15. 17 Anderson 2005, 15. 18 Vgl. hierzu Assmann 1992 u. Hobsbawm/Ranger 1983. 19 Kaschuba 2004, 77 20 Kaschuba 2004, 77. 21 Vgl. Kaschuba 2004, 77. 22 Honold 2010, 169.
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D IE ERSTE R EISE DES O RIENTEXPRESS 1872 wurde die Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL), unter deren Führung die Geschichte des Orientexpress begann, vom Belgier Georges Nagelmackers gegründet.23 Als europaweites Transportmittel sollte der Orientexpress es Reisenden ermöglichen, lange Strecken bequem zu überwinden.24 Damit war er Teil der „Vision […] einen modernen Transportweg in den Orient zu errichten, entlang seiner alten, sagenumwobenen Städte“.25 Der belgische Unternehmer erwies sich geschickt in der Generierung von Öffentlichkeit und lud zur offiziellen Jungfernfahrt Geschäftsmänner und Politiker, aber auch Pressevertreter und Schriftsteller ein. 26 Auch wenn es sich dabei überwiegend um Franzosen handelte, waren ebenso Belgier, Ungarn, Österreicher, Holländer und Deutsche an Bord, zudem ein türkischer Diplomat. 27 Trotz oder gerade aufgrund der internationalen Reisegesellschaft beschreibt der Journalist Edmond About das Unternehmen als „belgisch“, denn „la Belgique est synonyme de neutralité.“ 28 Die mitreisenden Journalisten schrieben ausführlich und berichteten positiv, publizierten aber nicht nur Zeitungsartikel, sondern auch Bücher wie De Pointoise à Stamboul (1884) von About oder Une Course a Constantinople (1884) von Henri de Blowitz. Letzterer beschreibt die Abfahrt in Paris und den Beginn der Reise wie folgt: A ce moment, le conducteur de mon wagon m’appelle d’un signe impérieux. Je m’élance sur le marchepied, la porte qui le protége [sic] se ferme, le sifflet retentit; le bruit formidable de la locomotive couvre tous les autres bruits, et, sans transition aucune, nous nous élançons avec une rapidité inattendue vers le tunnel voisin qui, en un instant, nous enlève la vue de la gare et nous dérobe, nous aussi, aux regards anxieux qui nous suivent. 29
23 Vgl. Honold 2010, 169. Hier widersprechen sich die Quellen. Vgl. Hampel 2010, 9. 24 Voraussetzung hierfür waren der Ausbau des Streckennetzes und der Bau mehrerer Tunnel, die die Alpen bezwingbar machten, vgl. Honold 2010, 168. 25 Honold 2010, 164. Honold bezieht sich bei seinen Ausführungen im Wesentlichen auf das Bagdadbahnprojekt des Deutschen Reiches. 26 Vgl. About 2007, 19.Die Einweihung erster Eisenbahnstrecken in Europa hatte durchaus Event-Charakter. Nagelmackers folgte also einer Tradition der Inszenierung technischer und mobiler Neuerungen. Vgl. Kaschuba 2004, 81. 27 Vgl. About 2007, 19-20. 28 About 2007, 15. 29 Blowitz 1884, 10.
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Begeistert von der Technik, dem „fantastischen Lärm“ der Lokomotive und der unerwarteten Geschwindigkeit beschreibt Blowitz den Zug als unwirklichen Ort, der die Reisenden ihrer gewohnten Umgebung geradezu entreißt. Von einem Tunnel verschluckt, verschwindet der Bahnhof bzw. entzieht sich der Zug den „ängstlichen Blicken“ der Zurückbleibenden.30 Da es galt, den ‚gefährlichen Balkan‘ und ‚unberechenbaren Orient‘ zu durchqueren, waren die Passagiere gewarnt und hatten sich bewaffnet.31 Doch die Reise verläuft ruhig, fast zu ruhig. Die Landschaft erscheint vor allem aus zwei Gründen eintönig: Zum einen aufgrund der Baumaßnahmen, die für das Schienennetz der Eisenbahn notwendig geworden waren, die die Landstriche aber „denaturalisiert“ und „entsinnlicht“ zurücklässt.32 Die Einschnitte in die Natur sind dabei Zeugen einer Raumaneignung, die Rückschlüsse auf Machtverhältnisse – ähnlich der Grenzziehung in kolonialisierten Gebieten – erlaubt.33 Zum anderen entsteht der Eindruck der Eintönigkeit aufgrund der Geschwindigkeit, die eine detaillierte Betrachtung verhindert. Vor den Augen der Reisenden verschwimmt die Außenwelt, nur Punkte, die sich in weiter Entfernung befinden, können länger anvisiert werden. Das neue Reisen verlangt eine neue Art zu Sehen, einen „panoramatischen Blick“ (Dolf Sternberg), mit dem sich das grobe Ganze erfassen lässt.34 So beeinträchtigt in der visuellen und auch körperlichen Erfahrung des Raumes,35 wird dennoch ein physisches Erleben evoziert, wie der Blick in den Speisewagen zeigt: Dieser Wagen etabliert sich als Ort der Begegnung und Herzstück des 30 Die Trennung von der Außenwelt durch die Fortbewegung im Eisenbahnwaggon als Erfahrung einer „tunnelartigen Innenwelt“ und die Angst, daraus nicht mehr zu entkommen, beschreibt Honold als „das klassische Eisenbahntrauma“. Vgl. Honold 2010, 165. 31 Vgl. Cars/Caracalla 1998, 12. Auch Honold weist darauf hin, dass jenseits der Schienen das Unbekannte beginnt und Gefahr vermutet wird. Vgl. Honold 2010, 158. 32 Vgl. Schivelbusch 2011, 24. Der Autor bezieht sich hier „auf den Prozeß der Mechani sierung der ehemals organischen Triebkräfte“ und deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen. Das Argument wird dann weiter hinsichtlich der Veränderungen der Natur durch den Schienenbau verfolgt. Vgl. ders. 2011, 25. 33 Vgl., mit Bezug auf das Verhältnis von Raumaneignung und Macht, Honold 2010, 154. 34 Vgl. Sternberger 1938. Vgl. ebenso Schivelbusch 2011, 59 u. Virilio 1978, 22. 35 Die Möglichkeit der Durchquerung des Raumes, so Wolfgang Kaschuba, macht größere Raum-Zusammenhänge erst erlebbar; zugleich wird dieses Erlebte aber nicht mehr körperlich wahrgenommen, es verunmögliche die „psychophysische Speicherung von Körpererfahrungen und Sinneseindrücken entlang einer linearen Raum- und Zeitschiene.“ Kaschuba 2004, 94.
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Zuges, der die Isolierung der Einzel-Abteile auflöst und Austausch ermöglicht. Dabei findet auch eine sinnliche Annäherung an die Außenwelt statt, indem die landestypischen Mahlzeiten des durchreisten Raumes auf dem Speiseplan stehen36 – oder das, was der Küchenchef dafür hält. Zudem wird der geschützte Raum genutzt, um sich z.B. über Musik bzw. Folklore der Außenwelt zu nähern, so reist eine ungarische Musikgruppe einige Stationen lang mit.37 Auch rücken Momente des Stillstandes oder der Entschleunigung, Haltestellen, besonders in den Fokus, nicht zuletzt, da Bahnhöfe bereits als Ereignisse angelegt sind und dem Sichtbaren eine Bühne bieten: Die ersten Bahnstrecken und Bahnhöfe sind in den Landschaften und Städten fast wie Theaterbühnen inszeniert, um die herum sich das staunende Publikum sammelt. […] Die Reisekultur der Eisenbahn wird als ein zentrales gemeinsames und öffentliches Kulturmuster der Moderne erfahren – und propagiert.38
Blicken die Einheimischen neugierig auf die Anreisenden, so auch die Reisenden auf das Bahnhofsvolk. Bei Blowitz scheinen sich die Menschen in das Panorama einzufügen, er beschreibt das bunte Treiben auf den Bahnsteigen als ‚tableaux vivants‘. Mit dem Verlassen des Budapester Hauptbahnhofes artikuliert er eine Grenzüberschreitung; hier realisiert sich für ihn das „Tor zum Orient“. „Aussitôt que l'on franchit Budapest“, so Blowitz, „les costumes, les physionomies, l'aspect de la campagne et des villages se transforment à vue d'œil. Évidemment, à partir de là, c'est la porte d'Orient qui s'entr'ouvre sous nos yeux.”39 Der „europäische“ Einfluss scheint zu schwinden, wenn bunte Trachten das Außenbild prägen: „primitive“ und „wilde“ Kleidung statt edler europäischer Monotonie.40 Und Blowitz’ Unterscheidungen enden damit nicht: „Toutes ces races que nous rencontrons semblent brulées aux chauds rayons de l’Orient, et protestant contre la brume pâlissante dans laquelle les a plongées le hasard des migrations nationales.”41 Der Orient, so meint Blowitz, zeige seine Strahlkraft. Seine Unterscheidungskriterien unterstreichen eine privilegierte Stellung und Identität der 36 Vgl. About 2007, 18. 37 Vgl. About 2007, 29. 38 Kaschuba 2004, 96. 39 Blowitz 1884, 24. 40 Vgl. Blowitz 1884, 27: „En dehors de ce costume, vraiment pittoresque et d'une originalité primitive et sauvage, la foule est diverse, curieuse à observer, mais n'offre à l'œil rien de gracieux, rien qui se puisse fixer comme un tableau riant au souvenir de ceux qui passent.“ 41 Blowitz 1884, 25.
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europäischen Reisegesellschaft. Was für den Raum gilt, nämlich dass dieser nicht einfach nur beschrieben, nicht nur „durch performative Akte des Benennens und Beschreibens, sondern bereits durch die Bewegung selbst“42 markiert und erschaffen wird, gilt auch für das beschriebene Gegenüber. Der Berichterstatter ist Quelle und Ursprung des von ihm beschriebenen ihn Umgebenden und bestätigt in der Abgrenzung vom anderen die eigene Reisegruppe. Solche Konstruktionen der Abgrenzung von einem imaginierten Orient lassen sich in Anlehnung an Edward Saids Thesen zum Orientalismus (1979) in die Logik einer westlichen Selbstbestätigung einfügen: „The Orient was almost a European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences.“43 Said zufolge wird über die Fremde auf das Eigene verwiesen, so erzählen die westlichen Bilder weniger von einer ‚Entdeckung des Orients‘ als von einer Imagination eines ‚Anderen‘, durch das das ‚Eigene‘ bestätigt und verstärkt wird. Als „one of its deepest and most recurring images of the Other“44 wurde der Orient nicht nur Kontrastfläche, sondern identitätsstiftende Imagination Europas, „the Orient has helped to define Europe“. 45 Die Fahrt mit dem Orientexpress war auch Prozess einer solchen Verhandlung, indem sich die Reisenden im Zug ihrer selbst in Abgrenzung zur Außenwelt bestätigten. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Eisenbahn die Menschen zwar weniger im Pecquerschen Sinne zusammenbrachte, also nicht zur Verwirklichung der Utopie einer soziale Grenzen überwindenden Gesellschaft wurde – besonders im Hinblick auf den Orientexpress blieb Reisen eine teure und exklusive Angelegenheit.46 Doch wie ich gezeigt habe, beeinflusst die Veränderung der Raumwahrnehmung auch den Blick auf Grenzen, die gerade im Hinblick auf den Orientexpress weniger zwischen nationalen Gruppierungen, als zwischen Innen und Außen sowie zwischen Ost und West verliefen. Der Orientexpress erschuf eine kulturelle Imagination, die sich auch diejenigen aneignen können, die selbst nie die Reise antreten. So hat bereits Blowitz im Vorwort seines Buches darauf verwiesen, dass er dieses für diejenigen schrieb, die dieselbe Fahrt planen, die sie bereits gemacht haben – und für all jene, die davon träumen. 47 Dass es sich dabei um eine Orientreise handelt, die sich im Dienste einer „ima-
42 Honold 2010, 155. 43 Said 2003, 1. 44 Said 2003, 1. 45 Said 2003, 1. 46 Vgl. Hampel 2010, 10, ebenso 16. 47 Vgl. Blowitz 1884, 1
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ginative geography“48 bewegt, zeigt auch der Bau des Pera Palace, ein Luxushotel, das die Reisenden des Orientexpress mit dem (gewohnten) europäischen Komfort am Ankunftsort Konstantinopel erwartete. In dem 1892 eröffneten Hotel soll Agatha Christie ihren berühmten Krimi über den Orientexpress geschrieben haben.49 Wie der Blick auf die Rezeptionsgeschichte zeigt, ist die Wechselbeziehung von Luxus und Gefahr für den Mythos besondere Quelle seiner Vitalität. So reist z.B. auch James Bond (in From Russia with Love von 1963) mit dem Orientexpress. Ende der 1960er Jahre kann der ‚reale‘ Orientexpress diese Phantasien nicht mehr erfüllen; die Strecke wird nun v.a. von türkischen Gastarbeitern genutzt und entwickelt sich zu einem luxusfreien ‚Okzidentexpress‘.50 Während die Imagination weiter zirkulierte, konnte der Zug erst nach der offiziellen Einstellung der Linie als Transportweg eine (Wieder-)Aufwertung als ‚EventReise‘ und seine reale luxuriöse Wiederbelebung erfahren.
O RIENTEXPRESS REVISITED Längst hat sich der Name vom Zug emanzipiert und zirkuliert selbständig durch die Vorstellungswelten. Die Implikationen der Idee „Orientexpress“ machte sich 2009 auch ein Projekt des Staatstheater Stuttgarts zueigen und startete mit einem entsprechend benannten Theaterzug eine Reise von Ankara nach Stuttgart. Das Projekt brachte sechs Ensembles zusammen, die an unterschiedlichen Bahnhöfen und in verschiedenen Kombinationen in der Türkei, Rumänien, Kroatien, Serbien, Slowenien und schließlich im Rahmen eines Festivals gemeinsam am badenwürttembergischen Zielort Erstaufführungen zeigten. Der Zug verfügte über einen zur Bühne umgebauten Waggon, in dem für die ‚Europäische Theaterreise‘ neue Stücke aufgeführt wurden, die sich mit dem Thema Mobilität und Migration, mit Europas Grenzen und Möglichkeiten auseinandersetzen.51 Ebenso spannend wie der Blick auf einzelne Produktionen ist im vorliegenden Kontext die
48 Vgl. Said 2003, 49 49 Vgl. Honold 2010, 170. 50 Vgl. Cars/Caracalla 1998, 31. 51 Vgl. hierzu und zu den Informationen im Folgenden den für das finale Theaterfest vom Schauspiel Stuttgart herausgegebenen Festivalflyer und die Festivalzeitung. Vgl. ebenso den Blog des Projekts, online unter: orientexpressfestival-de.blogspot.de (letzter Zugriff: 19.12.2013).
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Reise selbst. Die filmische Dokumentation der Fahrt 52 legt den Schwerpunkt auf Momente des Kulturkontakts – und weist auf die Schwierigkeiten des Austauschs hin, vor allem durch Sprachbarrieren bedingt, die, trotz Übertitelung der Theaterproduktionen, auch den Publikumszuspruch beeinflussten. 53 Neben schwankendem Interesse vor Ort kämpfte das Projekt zudem mit verschiedenen nationalen Verkehrsgesellschaften, die es fast zum Scheitern brachten. Allein die Erlaubnis der Schienennutzung erwies sich als teuer erkaufte Mobilität, zumal der Theaterzug durch manche Länder ohne Projektteilnehmer fuhr, denn nicht überall entsprach er den offiziellen Bestimmungen für den Passagiertransport.54 Am Ende blieb von der Idee eine faktische Durchquerung europäischen Raumes, vor allem aber die Symbolik einer Reise, hier nicht von West nach Ost, sondern von Ost nach West, der Versuch einer Annäherung unter der Schirmherrschaft und unter Umkehrung eines westlichen Mythos, allerdings weit entfernt vom Luxus der Wagon-Lits-Abteile. Mit Referenz auf den berühmten Namensgeber und in der symbolischen und faktischen Überwindung nationaler Grenzen schreibt das Stuttgarter Projekt an diesem Mythos weiter und erneuert ihn – durchaus nicht unproblematisch –, auch wenn die Definitionen des Fremden und Eigenen verschoben werden. Folgt man dem Blog, mit dem die Reise dokumentiert wurde, so wird beispielsweise Istanbul wesentlich westlicher markiert als Gebiete des Balkans.55 Zudem fügte sich das Internationale Theaterfestival, das am Ende des Projekts stand, auf sehr spezifische Weise in eine Konstruktion des transnational Europäischen ein: Das Festival sollte „auch der Internationalität der Stadt Stuttgart […] Rechnung tragen“56; neben den Inszenierungen gab es „Balkan-Beats und Gypsy Jazz sowie von unseren Partnerländern inspirierte gastronomische Angebote“. 57 Im Stuttgarter Neckarhafen lokalisiert wurde zudem auf eine „spektakuläre Kulisse“ zwischen „Industrielandschaft und Weinbergen“58 52 Vgl. die Produktion Orient-Express. Theater in einem Zug (2010) des ZDFtheaterkanals. Aus dieser Dokumentation und dem Blog sind die Informationen zum Ablauf des Projekts und den im Weiteren benannten Schwierigkeiten entnommen. 53 Über die Sprachbarriere erklärte sich das Stuttgarter Ensemble die verhaltenen Reaktionen auf das eigene Stück „80 Tage, 80 Nächte“ (Sören Voima), die Geschichte der Odyssee eines gefälschten Teddybären durch Europa. Der Sprachwitz sei via Übertitel nicht übertragbar gewesen. Positive Resonanz auf dem Balkan erfuhr das türkische, sehr melancholische Stück „Ex-Press“ von Mustafa und Övül Avkiran. 54 Vgl. ZDFtheaterkanal 2010. 55 Vgl. orientexpressfestival-de.blogspot.de (letzter Zugriff: 19.12.2013). 56 Schauspiel Stuttgart, Programmflyer des Festivals „Orient-Express“ 2009 57 Schauspiel Stuttgart, Programmflyer des Festivals „Orient-Express“ 2009. 58 Schauspiel Stuttgart, Programmflyer des Festivals „Orient-Express“ 2009.
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gesetzt, die Internationalität mit Lokalkolorit verbinde. ‚Fremdes‘ wurde also inszeniert als etablierter Teil des Eigenen und zudem sinnlich erfahrbar, in geschütztem Rahmen. Spannend ist aber auch der Blick auf die mediale Rezeption des Projekts, denn hier zeigt sich die Dominanz des Wunschbildes, wenn die Idee als solche gefeiert wird. So war auf der Seite des Theaterportals nachtkritik zu lesen: Der Orient-Express hat es geschafft, Kulturen und Sprachen übers Theater miteinander zu verbinden. Zudem passierte seine Route EU-Staaten, Nicht-Mitgliedsländer und Länder im Status von Beitrittskandidaten. Damit ist der Orient-Express ein Beispiel dafür, wie dem Theater etwas gelingt, was die Politik nicht hinbekommt. 59
Die Imagination kultureller Grenzüberschreitung wird zur Vorstellung der transnationalen Verbindung. Die Pecqueursche Utopie scheint dieser Einschätzung Pate zu stehen, wenn eine Bahnreise Grenzen überwindet, hier über geographische Grenzen hinweg zu einer kulturellen transnationalen Annäherung europäischer Länder stilisiert wird.
L ITERATUR About, Edmond: L’Orient-Express [Orig.:. De Pointoise à Stamboul 1884]. Evreux: Magellan & Cie 2007. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts [2. Neuauflage der Neuausgabe von 1996]. Frankfurt am Main: Campus 2005 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. Blowitz, Henri de: Une Course a Constantinople. Paris: Librairie Plon 1884. Burkhardt, Otto P.: „Irrfahrt der Kuscheltiere.“ 2009, online unter: www.nacht kritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=3062:80-tage80-naechte-zum-festivalauftakt-faehrt-der-theaterzug-in-den-neckarhafenein&catid=361 (letzter Zugriff: 01.12.2019)
59 Burkhardt 2009, online unter: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content& view=article&id=3062:80-tage-80-naechte-zum-festivalauftakt-faehrt-der-theaterzugin-den-neckarhafen-ein&catid=361 (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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Schlaufen der Imitation Zur Rezeption des Cakewalk in Europa F REDERIKE G ERSTNER
An das noch heute gängige Vorurteil, Menschen mit schwarzer Hautfarbe1 würden besonders gerne tanzen, ist die Vorstellung gekoppelt, dass sie rhythmisch besonders begabt seien. Damit in Zusammenhang stehen tradierte Klischeebilder einer primitiven und ekstatischen Lebensführung. Selbstreflektion, und also auch die Fähigkeit zur Parodie, wird den Betroffenen dabei abgesprochen. Im kolonialen Europa um 1900 fungierte das Stereotyp der vermeintlich „ursprünglichen” schwarzen Tänzer_in als Authentizitätsversprechen an ein weißes Publikum. Der Cakewalk war einer der ersten schwarzen Tänze aus den USA, die in Europa schlagartig zur Mode wurden.2 Bezogen auf das Klischee der Ursprünglichkeit und Authentizität schwarzer Tänzer_innen ist die Geschichte des Cakewalk geradezu subversiv, denn im Entstehungskontext des Tanzes waren es schwarze Sklav_innen auf den amerikanischen Baumwollplantagen, die etwas taten, was ihnen aus weißer Sicht unmöglich war: sie parodierten das Gebaren ihrer Herrschaften. Von den Plantagen kam der Cakewalk auf die äußerst populäre Minstrelbühne der Nordstaaten, wo er eingegliedert wurde in den Stereotypen-Katalog lebenslustiger „darkies“ oder „coons“, wie er im amerikanischen Bewusstsein der Zeit fest verankert war. Damit wird das Verhältnis von 1
Die Begriffe „schwarz“ und „weiß“ werden in diesem Beitrag nicht als essentialistische Zuordnungen verwendet, sondern sollen als soziale und politische Konstruktionen spezifische Formen rassistischer Imaginationen und Projektionen in ihren gesellschaftspolitischen Dimensionen markieren und analysieren.
2
Zum Cakewalk im US-amerikanischen Kontext vgl. u.a. Baldwin 1981 sowie Krasner 1996; zu Cakewalking in Europa vgl. insbesondere Gordon 2009 sowie Kusser 2008 u. 2013.
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Theatralität und stereotyper Zuschreibung nochmal komplexer, denn in den Minstrel-shows des 19. Jahrhunderts, die aus Burlesken, Sketchen, Tänzen und Liedern zusammengesetzt waren, traten Weiße u.a. in der Maske des Blackface auf, um Schwarze durch Nachahmung der Lächerlichkeit auszusetzen: „In minstrel shows und coon songs konnte jener Rassismus eingeübt werden, der aus europäischen Migranten weiße Amerikaner machen sollte.“3 Um die Jahrhundertwende fanden immer mehr afro-amerikanische Performer_innen Zugang zu den Theaterbühnen, die zuvor Weißen vorbehalten waren. Gebunden an den rigiden Formenkanon traditioneller Minstrelshows schminkten sich viele AfroAmerikaner_innen ihre Gesichter schwarz und traten in der Blackface-Maske auf, um weißen Erwartungen zu entsprechen. Der bekannte schwarze Entertainer George W. Walker kommentierte auf eindrückliche Weise, was damals auf der Bühne geschah: „The one fatal result of this to the colored performers was that they imitated the white performers in their make-up as 'darkies'. Nothing seemed more absurd than to see a colored man making himself ridiculous in order to portray himself.“4 Freilich war die theatrale Performanz afro-amerikanischer Künstler_innen meist zwischen Unterordnung und Widerstand angesiedelt, d.h. zwischen der geforderten Anpassung an weiße Ideen schwarzer Unterlegenheit und der gefühlten Notwendigkeit, die rassistische Repräsentation von Schwarzen auf der Bühne zu unterminieren. Der Cakewalk spielte in der Emanzipationsbewegung afro-amerikanischer Künstler_innen eine zentrale Rolle, nicht zuletzt weil er eine Art Brückenfunktion innehatte zwischen der Minstrelshow und den darauffolgenden Black Musicals bis hin zum Vaudeville.5 Für den Moment allerdings soll die Feststellung genügen, dass er um die Jahrhundertwende eine weitere Wendung nahm: Nun waren es Schwarze im eng geschnürten Stereotypen-Korsett, die den weißen Minstrel-Tanz tanzten, der schwarze tanzende Sklav_innen imitierte, die wiederum das Verhalten ihrer weißen Herrschaften parodierten. So gesehen kam der Cakewalk als ein mehrfach gebrochener mimetischer Bewegungsablauf ins sich selbst als weiß identifizierende Europa, weshalb an ihm die „vielfältigen und widersprüchlichen Praktiken des WeißMachens und Schwarz-Werdens“6 in einer amerikanisch-europäischen Moderne abzulesen sind. Im Folgenden soll ein Blick auf die zeitgenössische, europäische Rezeption des Cakewalk in der Presse, der Kinematographie und im Zirkus geworfen werden. Es wird darum gehen, inwiefern in Europa um die Jahrhundertwende an3
Kusser 2008, 260.
4
Walker 1906, 566.
5
Vgl. Krasner 1997, 9.
6
Kusser 2008, 252.
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hand des Cakewalk Authentizität und Imitation als kulturelle Werte verhandelt wurden. Die Frage taucht auf, warum der Tanz immer wieder als grotesk beschrieben wurde, und was diese Zuschreibung mit gesellschaftlichen Positionierungen innerhalb und jenseits nationaler Ordnungsrahmen zu tun hat. Zunächst aber führt die Spur zurück zu den Baumwollplantagen der USA, wo das Mäandern des Cakewalk durch verschiedentlich markierte soziale und kulturelle Räume Europas seinen Anfang nahm.
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Die wenigen vorliegenden Berichte von ehemaligen Sklav_innen und deren Nachkommen geben Aufschluss darüber, wie der Cakewalk als Tanzveranstaltung auf den Plantagen ungefähr ausgesehen haben mag.7 Von zentraler Wichtigkeit war die Improvisation, jenes Element, welches offenbar eng zusammenhing mit dem Wettbewerbsgedanken. Vermutlich entstand der Name des Tanzes in Anspielung auf den Kuchen (prize cake), der den Sieger_innen von Seiten der Weißen gegeben wurde. Die Tänzer_innen nutzten das Mittel der Parodie, um das von ihnen beobachtete Verhalten der Weißen tänzerisch, ohne direkte Anklage ad absurdum zu führen. Dieser Subtext blieb den Weißen jedoch verborgen. William W. Cook beschreibt in einem Beitrag zu den Traditionen der afroamerikanischen Satire den Charakter des Cakewalk wie folgt: We see in that particular dance an exaggerated erectness and propriety, a mocking gentility. [...] we are looking at two extremes – African dance which is earth oriented and classical European dance which attempts to get away from the earth. In that dance structure, people looked funny. So we made fun of them in dance, and they [the whites] thought, 'Oh, the savages are attempting to imitate us.'8
Das Zitat erklärt den satirischen Gestus des Cakewalk, der die aufrechte Haltung als Charakteristikum für klassische europäische Tänze karikierte. Es behauptet außerdem, dass weiße Sklavenhalter_innen den Tanz nicht als Parodie, sondern als vergebliche Imitationsversuche auffassten, die „zivilisiertes Benehmen” zum Ziel hatten. Ein Auszug aus den Erzählungen einer ehemaligen Sklavin bestätigt demgegenüber die parodistische Intention der Tänzer_innen und liefert eine
7
Vgl. Baldwin 1981, 205-218.
8
Cook 1985, 109-134.
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mögliche Erklärung, warum die Weißen die Parodie nicht bemerkten oder nicht bemerken wollten: Us slaves watched white folks' parties where the guests danced a minuet and then paraded in a grand march, with the ladies and gentlemen going different ways and then meeting again, arm in arm, and marching down the center together. Then we'd do it, too, but we used to mock them, every step. Sometimes the white folks noticed it, but they seemed to like it; I guess they thought we couldn't dance any better. 9
Unter direkter Beobachtung der weißen Sklavenhalter_innen und doch als „verstecktes Transkript“ (hidden transcript) im Sinne von James Scott „jenseits der direkten Beobachtung der Machthaber“10 war der Cakewalk eine strategische Form verborgenen Widerstands. Er ermöglichte angesichts des „schrankenlosen Zugriff[s] auf die eigene Person, auf die Arbeits- und Reproduktionsleistung des Körpers […] prekäre Rückzugsräume.“11 Somit wurde neben dem weit verbreiteten Mythos des sorgenfreien Plantagenlebens ein „verstecktes Transkript“ mit Aussagen transportiert, die nicht für jedes Ohr bestimmt waren: „Everyone laughed during the dance [but] one side laughed differently from the other“.12 Wendet man sich ab vom Geschehen auf den Plantagen und wirft einen Blick in die Zeitungen des Deutschen Kaiserreichs, so stellt man fest, dass auch hier noch das Thema der Imitation und Parodie im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Cakewalk lebhaft diskutiert wurde. Es ging darum, wer denn nun ursprünglich wen imitiert habe und wer Anspruch auf Originalität erheben könne. Dabei wurde wiederum die Idee, dass im Cakewalk Schwarze Weiße „nachäffen” und damit der Lächerlichkeit preisgeben würden, zwar in Erwägung gezogen, doch den Schwarzen auch diesmal ein Bewusstsein für ihr Handeln abgesprochen: Die Tänze der Neger bestehen entweder in blitzschnellen, taktklopfenden Bewegungen der Füße oder – wie der Kuchentanz – in grotesken, verdrehenden Bewegungen, die eine ge9
Zit. nach Baldwin 1981, 208.
10 Scott 1990, 4f. Scott versteht unter „hidden transcript“ jenes Wissen, das Unterdrückte in Gegenwart ihrer Unterdrücker nicht aussprechen können oder wollen, sowie das nicht offen Kommunizierte auf Seiten der Unterdrücker. Beide Seiten verfügen somit über ein heimliches Reservoir an Ideen und Strategien, die einerseits das Überleben und andererseits die Aufrechterhaltung des status quo sichern. Scott stellt das „versteckte Transkript“ dem „öffentlichen Transkript“ gegenüber, womit die von allen wahrnehmbare Performance der Unterdrückten und Unterdrücker gemeint ist. 11 Kusser 2008, 256. 12 Kleinhans 1994, 198.
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zierte und überaus lächerliche Nachäffung der Gebärden der glücklichen weißen Rasse in ihren Salons sind. Der Hauptwitz liegt darin, daß den Schwarzen ihre Lächerlichkeit nicht zum Bewußtsein kommt, daß sie im Gegenteil sehr graziös und vornehm zu sein glauben [...].13
Andere Interpretationen des Tanzes ließen durchaus den Schluss zu, der Cakewalk sei eine bewusste Parodie, jedoch bezogen sie sich dann auf die „vergeblichen Versuche” Schwarzer, in die weiße Gesellschaft aufzusteigen. So übernahm die Berliner Morgenpost eine in der Presse gern zitierte Legende, nach der es anfangs Schwarze waren, die von den Tänzer_innen nachgeahmt wurden: Vor vielen Jahren gab ein Pflanzer ein Fest, zu dem er auch einen reichen Neger [...] und dessen Frau einlud. Das Negerpaar erschien so sonderbar gekleidet und trug einen so gespreizten Hochmut zur Schau, daß die Anwesenden nur mit Mühe das Lachen verbeißen konnten. […]. Einige Zeit nach ihrer Abreise gab der Pflanzer seinen Negersklaven ein Fest und versprach demjenigen einen großen Kuchen als Preis, der den Gang und die Gebärden des reichen New-Yorker Neger-Ehepaares am besten nachahmen würde. Das Spiel gefiel sehr; die Zuschauer wanden sich vor Lachen, und von dieser Stunde an blieb der Cake-walk ein beliebter Grotesk-Tanz der Neger [...].14
Auch wenn der Begriff der Nachahmung im vorangegangenen Zeitungszitat darauf hindeutet, dass es eine Ahnung davon gab, der Cakewalk könne eine dynamische Wechselbeziehung zwischen Schwarzen und Weißen widerspiegeln, war für die Berliner Kritiker der Cakewalk als etwas Fremdes letztlich reine Projektionsfläche.
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AUTHENTIZITÄT UND
Das weitreichende Interesse an Authentizität im Sinne einer „rassischen Authentizität”15 war um die Jahrhundertwende geprägt von einem natur- und sozialwis-
13 Berliner Illustrirte Zeitung 12, 1 (1903), 8. 14 Berliner Morgenpost 15 (1903), o.S. 15 Zum Konzept der „rassischen Authentizität“ im Kontext der Wissenschaften bzw. der Populärdiskurse im deutschen Kaiserreich vgl. beispielsweise Zimmerman 2001 und Dreesbach 2005.
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senschaftlichen Diskurs, der innerhalb eines evolutionistischen Forschungs- und Theorierahmens stand. Zugleich hatten Freizeit und Konsum den wachsenden Städten der modernen Welt ein neues Gesicht verliehen, nicht zuletzt weil es eine enorm steigende Zahl von Theatern und Varietés, Ausstellungen und diversen anderen Vergnügungsstätten mit modernen Werbestrategien gab, die Stereotypien und Klischees zu den Konzepten „rassischer Authentizität” aktivierten. Die Imagination des authentischen schwarzen Körpers stellte dabei eine Schnittstelle zwischen neuen Formen der Wissenschaftlichkeit und den diskursiven Effekten der auf Stereotypien gründenden Kommerzialität moderner Konsumgesellschaft dar. Am 16. Mai 1903 kam das Stück In Dahomey als eine aufsehenerregende „Negro Musical Comedy” aus den USA auf die Bühne des Londoner Shaftesbury Theatre, und wurde über acht Monate hinweg ca. 250 Mal vor ausverkauftem Haus gespielt. Für die Londoner Presse war eine Besonderheit des Stücks die „echte” schwarze Hautfarbe der insgesamt über neunzig Künstler_innen der Williams & Walker Company, denn das britische Publikum hatte derartiges offenbar noch nicht zu sehen bekommen. 16 Die Times beschrieb das Stück als ein Drama ohne Plot, als ein Stück, das seine Attraktivität aus dem „Schwarzsein“ der Schauspieler_innen und Tänzer_innen auf der Bühne bezog.17 Aufgrund der Hautfarbe der Künstler_innen erwartete man eine spezifische Authentizität des Bühnengeschehens, was unmittelbar an die Erfolgsaussichten beim Publikum gekoppelt war. Für manche wurden die Erwartungen denn auch erfüllt: „Here was the coon in music, naked and unashamed, merry, pathetic, eager, and alive with emotion; but always limited by a certain circle of not very wide ambitions [...].“18 „Ungeniert” und „fröhlich”, jedoch „ohne Ehrgeiz” waren/sind typische Attribute aus dem Stereotypen-Repertoire der weißen europäischen Öffentlichkeit gegenüber Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Insgesamt wurde der Arbeit des bekannten Komponisten Will Marion Cook große Aufmerksamkeit geschenkt, u.a. mit der Betonung auf die wahrgenommene Spontaneität in der Darbietung: The composer conducted with much vigour, singing most of the tunes with his band with a kind of untrammelled spontaneity that finds expression in the whole action of the piece,
16 Vgl. die bei Green 1983, 23-40 gesammelten Rezensionen zur Londoner DahomeyInszenierung; hier insbesondere St. James's Gazette vom 18.05.1903, zit. nach Green 1983, 24. 17 The Times vom18.05.1903, zit. nach Green 1983, 25. 18 Pall Mall Gazette vom 18.05.1903, zit. nach Green 1983, 32.
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and more particularly in the dancing, which seems the natural expression of a racial instinct, not the laboriously acquired art of the school.19
Explizit wird hier behauptet, dass ein „natürliches“ Talent hinter der Darbietung von schwarzen Künstler_innen stehe, ein Talent, welches deren „echten“ Emotionen qua Tanz und Gesang Ausdruck verleihe, ohne dass sie sich diesen Ausdruck hätten erarbeiten müssen. Implizit bedient das Zitat die Stereotypie des faulen und ehrgeizlosen Schwarzen gegenüber dem hart arbeitenden, zivilisierten Weißen. Man wollte eine naturnahe, von der europäischen Zivilisation noch weitgehend unbeeinflusste Bühnenkunst, und so zeigte sich denn der Kritiker des Globe im Hinblick auf die „Authentizität” der Inszenierung enttäuscht: We thought it was to be 'negro' from the beginning to end, […] negro in its conception, its development, its characterisation, its dialogue, its music. It was to be emphatically 'nigger', with nigger thoughts and expression, nigger dialect and melody, and, above all, nigger interpretation. But is this so? What we really get is negro-America. We do not get the negro in the rough; we get him with Yankee veneer. 20
Die Ablehnung richtet sich gegen einen Verlust von Authentizität schwarzer Kunst unter dem Einfluss „weißer Methoden”. Das vermeintlich Originale gehe in der Imitation weißer Kunst verloren und damit der Wert an sich. Am Ende des Artikels wurde dem Publikum eine gewisse Irritation angesichts der Bühnenkunst der „American-negroes” und „negroe-Americans” bescheinigt, eine Irritation, die offensichtlich Hand in Hand geht mit der Faszination über das koloniale „beinahe, aber doch nicht ganz Gleiche” eines Homi Bhabha: 21 „Certainly, what the American-negroes and negroe-Americans do, they do with all their might, and, though the quiet-minded Briton is apt to find them just a little disturbing and distracting, they attract and they amaze.“22 Interessanterweise wurde, u.a. als Reaktion auf den vermeintlichen Authentizitätsverlust, noch innerhalb der ersten Aufführungswoche der Cakewalk in die Show eingebaut. Hier seien die Publikumserwartungen vom Management falsch eingeschätzt worden, heißt es in The Era: „A real cake-walk has been introduced into 'In Dahomey' [...] by the Negro comedians, Williams and Walker. This item was omitted on the first night [...].
19 The Times vom 18.05.1903, zit. nach Green 1983, 25. 20 The Globe vom 18.05.1903, zit. nach Green 1983, 29. 21 Bhabha 1994, 86. 22 The Globe vom 18.05.1903, zit. nach Green 1983, 30.
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The number of letters received by the management requesting its introduction prove this idea to be inaccurate.“23 Der Tanz schien geeignet, der geforderten Authentizität der Inszenierung ein wenig nachzuhelfen, denn „cake-walks” und „ragtime” wurden als der natürliche Ausdruck der Schwarzen verstanden: The show should be a great success; for it is quite worth while to pass a few hours in a world where 'rag-time' is part of a natural and almost inevitable element in all music, and where coon songs and cake-walks are made to seem like the obvious expression of genuine, if somewhat elementary, emotions.24
Der Entwicklung des Cakewalk vom Bühnentanz in einer „Negro Musical Comedy” zum Modetanz in den gehobenen Schichten der englischen Gesellschaft liegt mitunter die in diesen Rezeptionszeugnissen offensichtliche Ignoranz zugrunde, dass neben der Bedienung weißer Stereotypien das parodistische Moment der Nachahmung weißer Verhaltensmuster im Cakewalk eine herausragende Rolle spielte.
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M ODERNE UND T RADITION
Im Oktober 1902 wurde den Pariser_innen im Nouveau Cirque die Revue Joyeux Nègres präsentiert, bei der ein weißes amerikanisches Künstlerpaar mit seinem Cakewalk viel Aufsehen erregte. Die Tanznummer von Mr. & Mrs. Elks in der Zirkus-Pantomime mit Clownerie, einem Boxkampf und Wasserakrobatik, wurde als Hauptattraktion des Abends gefeiert. In der Tanznummer wurde ein Cakewalk-Wettbewerb inszeniert, der beim Publikum äußerst beliebt war.25 In Jean Cocteaus Erinnerungen findet sich eine ausführliche Passage über die Joyeux Nègres, die er als 13-jähriges Kind zu sehen bekam. Flankiert von „seidenen Bannern in den amerikanischen Farben” wurde demnach der Cakewalk als Zirkusspektakel präsentiert. Schnelle, synkopierte, an den Ragtime angelehnte Marschmusik des Orchesters bildete den Hintergrund für die energischen, asymmetrischen Bewegungen der Tänzer_innen. Cocteau erinnert sich an gekrümmte Körper, rotierende Handgelenke und in die Luft geworfene Beine mit angewinkelten Knien, die offenbar im Scheinwerferlicht gebrochen wurden. Das veran-
23 The Era vom 23.05.1903, zit. nach Green 1983, 35. 24 The Times vom 18.05.1903, zit. nach Green 1983, 26. 25 Le Gaulois vom 01.01.1903, o.S.
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lasst ihn dazu, poetisch verdichtet von Körpern zu sprechen, die in verschiedene Teile auseinanderbrechen, um sich dann wieder zusammenzusetzen. Der Rhythmus der klappernden Schuhe der Tänzer_innen und der stampfenden Füße der Zuschauer_innen im Zusammenspiel mit den antreibenden Synkopen der Musik und den unruhigen Bewegungen der Scheinwerfer zeichnen das Bild eines beeindruckenden und mitreißenden Spektakels.26 Für Inge Baxmann liefert die Großstadt den Zugang zu einer neuartigen Erfahrung von Realität, die aus der Simultaneität und Rhythmisierung der unterschiedlichen Eindrücke resultiert: Im Erfahrungsraum der Großstadt bildeten sich prototypisch die neuen Wahrnehmungsmuster heraus. Die Wahrnehmungsgewohnheiten an die moderne technisierte Lebenswelt anzupassen, erforderte eine Beschleunigung des Zusammenspiels der Sinne und ihrer Übersetzung in Bewegung.27
Die „Beschleunigung des Zusammenspiels der Sinne“ entspricht für Baxmann dem, was u.a. auf den Bühnen der Zirkusarenen und der Varietés zu erleben war: Serpentinentanz, Cakewalk, Cancan, Tableaux Vivants, Gymnastik und Spitzentanz wechselten sich ab mit Tierdressuren, Sketchen und Gesangseinlagen. Die Rasanz der Nummernfolge als Strukturprinzip eines unterhaltsamen Abends war Ausdruck eines als schnelllebig wahrgenommenen Zeitalters. Von den Bühnen der Theater ausgehend wurde die neue Ragtime-Musik und mit ihr der Cakewalk eingespeist in das modische Repertoire europäischer Gesellschaftstänze, und kam in die bürgerlich-aristokratischen Salons und Clubs der Weißen. Ragtime bzw. Musik, die dem Ragtime musikalisch nahe stand, in Deutschland gespielt von Blasorchestern und Salonkapellen oder mit Klavierbegleitung aufgeführt, bildete den Anfang einer Reihe kommerziell vertriebener Tanzmusik aus den USA, die auf dem europäischen Parkett allmählich die Quadrille und den Walzer ablösen sollte. War der Blick ins vorangegangene Jahrhundert zuweilen auch mit Nostalgie aufgeladen, begegnete man den neuen Tänzen Cakewalk, Slow Drag, Turkey Trot oder auch Grizzly Bear gerne mit Witz und Ironie, zuweilen mit scharfer Satire. Der Cakewalk bot in der zeitgenössischen Karikatur auf Postkarten und Werbeillustrationen reichlich Gelegenheit, über sich selbst zu lachen. Schließlich nahm der Tanz ja alte „weiße“ Bewegungsmuster aufs Korn, was zum Teil sehr komisch ausgesehen haben muss: „Verbeugungen gerieten zu heftigen Schwankungen des Oberkörpers. Gebieterisches Stolzieren und abgezirkeltes Marschieren wurde in hohen Beinwürfen über-
26 Vgl. Cocteau 1977, 89-91. 27 Baxmann 2000, 132.
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spitzt.“28 Das nachahmende, komische Element des Tanzes verwies zugleich auf das selbstreflexive Moment: „[...] die seitlich ausgestreckten Arme wurden nach vorn gedreht, wobei die elegant den Arm verlängernde Handhaltung aufgegeben wurde, so dass die Hände wie leblos von den Handgelenken hingen.“ 29 Die Rezeption war für den Moment abgelöst von einer Suche nach dem Entstehungskontext in der afro-amerikanischen Kultur, wie Astrid Kusser bemerkt: Das Lachen veränderte sich hier noch einmal – das deutsche Publikum lachte über sich selbst, über das moderne Leben, das die Körper aus dem Gleichgewicht brachte, ebenso wie über seine Versuche, den populären Cakewalk nachzutanzen. Zugleich wurde hier der Tanz auf keinen Ursprung mehr zurückgeführt.30
In einer Berliner Satire wird der Cakewalk ironisch verknüpft mit dem damals viel diskutierten Krankheitskonstrukt der sogenannten Neurasthenie („Nervenschwäche“). Damit wurde der Tanz zu einem Symptom einer Zeit, in der ein schneller Rhythmus, ausgerichtet auf die Betonung des Wechsels, die Nerven nach immer neuen Reizen verlangen lässt und sie langfristig erschöpft: Ich habe geglaubt, meine Herren, meine Untersuchungen über die [...] Neurasthenie der Austern aufschieben zu müssen um mich mit der 'Cake-walk-Tollheit' zu beschäftigen. Diese aus Amerika kommende Krankheit hat sich äusserst ansteckend gezeigt. [...] Das zeigt leider mehr als alle Theorien, meine Herren, wie nahe der Mensch dem Tiere steht! Er stammt nicht vom Affen ab, wie man gesagt hat, sondern er will zu ihm aufsteigen! Denn der Cakewalk ist das Zwischenglied zwischen dem Gang des menschlichen Zweifüsslers und der verwirrten Gestikulation des Vierhänders. Der erstere behält zwar noch seine aufrechte Haltung bei, aber der Tänzer hat vom zweiten schon die Zusammenhangslosigkeit der Bewegung, die Wildheit der Haltung, die Schreie und Grimassen entlehnt. 31
Die „Tollheit”-Diagnose war offenbar ein scherzhaft zynischer Versuch, etwas schwer Greifbares einzuordnen. Das Neue und Aufregende des amerikanischen Ragtime galt dem synkopierten Grundrhythmus, der in zeitgenössischen Quellen die gefühlte Beschleunigung des europäischen großstädtischen Lebens verkörperte. Die Ankunft des Cakewalk als der Einbruch des Fremden in seiner vermeintlichen Unkontrollierbarkeit wurde als eine Bedrohung für die Gesellschaft 28 Eichstedt/Polster 1985, 13. 29 Kusser 2008, 258. 30 Kusser 2008, 278. 31 Das Echo 22, 1076 (1903), o.S.
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dargestellt. Es war die Zukunftsversion einer Gesellschaft, die unter enormen Modernisierungsdruck stand.
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Das Groteske des Cakewalk zu betonen, war oftmals Anliegen der Presse. Dabei dienten die als grazil beschriebenen Bewegungen des Walzers und des Balletts meist als Gegenpol, Tänze die dem traditionellen bildungsbürgerlichen Repertoire des 19. Jahrhunderts angehörten. Beide Kategorien waren als Bewertungsmaßstäbe für Kunst bzw. „Nicht-Kunst” bereits Teil eines vertrauten ästhetischen Vokabulars einer Gesellschaft, die über Altes und Neues, Fremdes und Eigenes diskutierte. In der Berliner Illustrierten Zeitung wird der Cakewalk als ein Tanz beschrieben, der, von „Negern” getanzt, charakterisiert sei durch ein „wildes” und „regelloses” Bewegungsschema. Dabei waren die Assoziationen mit dem Tierreich sicherlich nicht ungewollt. Den Beschreibungen der „Pariser Art“ ist eine deutliche Abmilderung des abstoßend Exaltierten anzumerken: Die Neger tanzen ihn wild, fast ganz regellos, stoßen dabei unartikulierte Schreie aus, verdrehen die Füße und Arme, strecken den Bauch vor und rasen wie wahnsinnig durcheinander. Die Hauptbedingungen der Ausführung nach Pariser Art sind: starkes Zurückbiegen des Oberkörpers, Steifhalten der Arme und Heben des Knies [...]. Der Herr behält beim Tanz den Hut auf dem Kopf, nimmt ihn zeitweilig ab und grüßt mit lächerlicher Steifheit.32
Auch der Wiener Tanzlehrer W. K. von Jolizza stellte in einer Abhandlung von 1907 eine allgemeine Anpassung des Tanzes an die Sitten im europäischen Salon fest, indem man die „grotesken Sprünge der Neger” verändert bzw. weggelassen habe: Dieser groteske, aus Amerika stammende Tanz, der entschieden mehr Anspruch auf Originalität als auf Schönheit machen kann, hat unbegreiflicherweise in allen Salons Eingang gefunden und sich auch schon über ganz Europa verbreitet. Einem Negertanz nachgebildet, liegt heute noch der Hauptreiz des Cakewalk in dessen charakteristischen Posen, während die plumpen Schritte und grotesken Sprünge der Neger größtenteils durch moderne Tanzschritte ersetzt wurden.33
32 Berliner Illustrirte Zeitung 12, 9 (1903), 136. 33 Jolizza 1907, 133.
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Die Betonung in Jolizzas Tanzanweisungen liegt auf dem Hinzugefügten, was seiner Ansicht nach denn auch das Moderne des Tanzes darstellte. Den Cakewalk zu einer Mode zu erheben und damit die Beliebtheit eines „Negertanzes” in der weißen europäischen Kultur zuzugestehen, war demnach nur möglich durch das Hinzufügen des Eigenen zum vermeintlich kulturlosen Fremden. Doch nicht allein in der Anpassung an das „grazile” Bewegungsrepertoire fand der moderne weiße Großstädter die Erklärung für die Anziehungskraft des Cakewalk. Er fand sie im Grotesken selbst, einer Kategorie, die nicht selten inhaltlich gefüllt wurde, indem die tänzerischen Bewegungen der Cakewalker_innen mit tierischem Gebaren gleichgesetzt wurden: Bei seiner Ausführung braucht man die Grazien nicht zu Hilfe zu rufen [...]. Nein, beim Cake walk muß man sich vielmehr alle Mühe geben, den Gang und die Haltung eines auf den Hinterfüßen einherstolzierenden und tänzelnden Pudels möglichst getreu nachzuahmen. […] Dafür ist eben der Cake walk ein Negertanz [...]. 34
Abzulesen an der oben angeführten Diskussion zum Cakewalk ist die Stilisierung des Tanzes zu einer modischen Erscheinung der Zeit, trotz einer spürbaren Ablehnung des „Fremden”. In der Zuschreibung grotesk bleibt das Fremde, und damit das bedeutend Differente des Cakewalk stets zu erkennen, denn das Groteske hat per se immer etwas Befremdliches. Dass der Cakewalk letztlich immer ein „Negertanz“ bleiben würde, ist häufig zu lesen in den deutschen Rezensionen. Die Differenz, die bleibt, füllt die Lücke, die sich zwischen Ablehnung und Vereinnahmung auftut, denn das Moderne erhebt den Anspruch, weiß zu sein. Die ästhetischen Bewertungen, die sich innerhalb der klassischen europäischen Parameter grotesk und grazil bewegen, sind damit eingeschrieben in die Diskussion um Moderne und Tradition und deren gegenseitige Bedingtheit.
D AS S TEREOTYP VOM
GROTESKEN SCHWARZEN
T ÄNZER
Im Kontext von Sklaverei, Kolonialismus und ethnographischer Repräsentation haben die grotesken Zuschreibungen des schwarzen Körpers Tradition: Indem Blackness als Abweichung von der Norm des weißen Körpers imaginiert und an den Topos des Grotesken gekoppelt wird, ist die visuelle Differenz in den Körper des Anderen eingeschrieben. 35 Dieses koloniale „Self-versus-Other syndro-
34 Illustrirte Zeitung 3110 (1903), 204. 35 Hobson 2003, 87f.
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me”36, so Brenda Gottschild, ermöglicht grundsätzlich auf beiden Seiten des kolonialen Diskurses Subjektivierungsprozesse, und ist demnach in seiner Repräsentation notwendigerweise „komplex, ambivalent und widersprüchlich”, wie es Homi Bhabha formuliert.37 Für Bhabha manifestiert sich die Ambivalenz der Stereotypisierung seitens der Kolonisator_innen sowohl in Lust wie auch in Abwehr, demnach in nicht uniformen Repräsentationskonstruktionen des Anderen: The black is both savage (cannibal) and yet the most obedient and dignified of servants (the bearer of food); he is the embodiment of rampant sexuality and yet innocent as a child; he is mystical, primitive, simple-minded and yet the most worldly and accomplished liar, and manipulator of social forces.38
Unter diesen theoretischen Voraussetzungen nimmt der grotesk-grazile Cakewalk in der kolonialen Konstellation eine außergewöhnliche Stellung ein. Zum einen legen die ästhetischen Bewertungen des Tanzes als grazil und grotesk deren gegenseitige Bedingtheit offen, und damit auch die Rezeption des Cakewalk zwischen Ablehnung und Vereinnahmung. Zum anderen liegt allein schon im Grotesken des Cakewalk sowohl die Anziehung des Fremden, die dem Tanz die Stilisierung zu einer weißen Mode ermöglichte, als auch die Ablehnung, die Schwarze innerhalb spezifischer kolonialer Machtverhältnisse erfuhren. Denn das Groteske ist exzentrisch, es ist ausgegrenzt und damit ein Randphänomen.39 Im Bild des grotesken schwarzen Cakewalkers kann sich das „Sowohl-als-auch” entfalten, ohne als explizit widersprüchlich wahrgenommen zu werden. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Varieté-Nummer Le Cake-Walk Infernal40 des Filmemachers und Zauberers George Méliès. Hier tanzen die Cakewalker_innen ihren Tanz in der Hölle; mit dabei sind ein Cakewalk tanzender Mephisto, eine Truppe junger Tänzerinnen, ein Solotanzpaar und diverse kleinere Teufel, die offenbar sämtlich in Mephistos Bann stehen. Die artistischen Szenen konnten durch Montage und Überblendung im Nachhinein verändert werden und erzeugten die Spezialeffekte, aus denen sich neben seinen Zaubertricks viele seiner Filme zusammensetzen. Die Dynamik bezieht der Film aus spektakulären Zaubertricks und grotesk zappelnden Bewegungen vom Körper gelöster Arme und Beine vor stilisiertem Himmel/Hölle-Dekor. Die Exaltiertheit 36 Gottschild 2003, 41. 37 Bhabha 2002, 70. 38 Bhabha 2002, 82. Vgl. auch Varela/Dhawan 2005, 88. 39 Fuß 2001, 32. 40 Der Kurzfilm Le Cake-Walk Infernal von 1903 ist auf der bei Arte France erschienenen DVD Méliès le Cinémagicien (2001) zu finden.
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der Tanzbewegungen und die übertriebene Kostümierung des weißen SoloTanzpaars, das bezeichnenderweise in Blackface auftritt, gipfelt im typischen Motiv der grotesken Umkehrung, wenn der Tänzer die Tänzerin mit ihren rauschenden Röcken auf seinen Armen von der Bühne trägt, während ihre Beine wild in der Luft zappeln. Die bocksbeinige Gestaltung der zentralen Bühnenfigur eines Cakewalk tanzenden Satyrs in Méliès' Film stellt die Ästhetik des grotesken Körpers ein weiteres Mal ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Ausbuchtungen in dessen Kostüm an Armen und Beinen sowie der Buckel und der dicke Bauch lassen den Körper krumm und asymmetrisch wirken. Der groteske Körper konzentriert sich auf Körperöffnungen und Höhlungen, auf alles was über eine geglättete Idealsilhouette hinausragt.41 Indem er über seine Grenzen hinausdrängt vermischt er sich chimärisch mit seiner Umgebung und ist damit eine stets im Werden begriffene Einheit, die gleichzeitig ihre Differenz umfasst. Dem „Entweder-oder” der dichotomen Struktur klassischer Ordnung setzt das Groteske seine Unentscheidbarkeit des „Sowohl-als-auch” entgegen.42 Das Groteske besitzt damit eine eigentümliche Analogie zu derjenigen Grenze, die zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen wird. Als Groteske rezipiert, verweist der Cakewalk auf seine Zwischenstellung, die er einnimmt. Die mimetischen Schlaufen lassen kulturelle Differenzen uneindeutig erscheinen: „Cakewalking war eine Form der Kommunikation über eine geteilte Situation, die beständig zwischen dem Sichtbarmachen von Differenz und der Frage nach dem Gemeinsamen changierte.“43 In den sich vielfach überlagernden Imitationsprozessen findet sich die dauernde Re-Artikulation angenommener Identitäten durch Wiederholung. Das prozessual zu denkende Ergebnis ist eine Identitätsvermengung, die immer wieder Lücken in das vorgebliche Original schlägt, in das Authentische, das hinter der schwarzen Haut behauptet wird.44 An dieser Stelle schließt sich der Kreis, denn der Cakewalk in seiner Subversion dichotomer Strukturierung von Hautfarbe ist logisch situiert im Grotesken. Die komische Komponente des Grotesken regt zum Lachen an: „Das Spiel gefiel sehr; die Zuschauer wanden sich vor Lachen“ 45, wie es in der Berliner Morgenpost heißt. Das Lachen aber ist zugleich ein verhaltenes Lachen, denn das Groteske löst Irritation aus durch das ihm eigene Moment des Infragestellens hegemonialer Ordnungen.46 Der Cakewalk eröffnet ein Verhandlungsfeld auf den 41 Vgl. Bachtin 1987, 357. 42 Fuß 2001, 154. 43 Kusser 2008, 279. 44 Bhabha 1994, 224. 45 Berliner Morgenpost 15 (1903), 8. 46 Fuß 2001, 101.
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kolonialen Bühnen Europas, in dem identitäre Grenzen auf spielerische Weise neu ausgelotet werden können: Zwischen Imitation und Parodie sich bewegend ermöglicht der Tanz Akte der Vereinnahmung und Repression ebenso wie der Emanzipation und des Widerstands. Auf diese Weise wird der Cakewalk zum Spiegel oder, besser gesagt, Zerrspiegel einer weißen, europäischen Gesellschaft mit ihren ein- und ausgrenzenden Werturteilen.
L ITERATUR Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M: Suhrkamp 1987 [1965]. Baldwin, Brook: „The Cakewalk: A Study in Stereotype and Reality.” In: Journal of Social History 15:2 (1981), 205-218. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London: Routledge, 1994. Baxmann, Inge: Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München: Fink 2000. Cocteau, Jean: Portraits-souvenir 1900-1914 [orig. 1935]. Paris: Grasset 1977. Cook, William W.: „Change the Joke and Slip the Yoke: Traditions of AfroAmerican Satire.” In: The Journal of Ethnic Studies 13:1 (1985), 109-134. Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung 'exotischer' Menschen in Deutschland 1870-1940. Frankfurt/M.: Campus 2005. Eichstedt, Astrid/Polster, Bernd: Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit. Berlin: Rotbuch1985. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln: Böhlau, 2001. Gordon, Rae Berth: „Natural Rhythm. La Parisienne Dances with Darwin. 18751910.” In: Modernism / Modernity 10:4 (2003), 617-656. Gottschild, Brenda Dixon: The Black Dancing Body. A Geography from Coon to Cool. New York: Macmillan 2003. Green, Jeffrey P: „,In Dahomey’ in London in 1903.” In: The Black Perspective in Music 11:1 (1983), 23-40. Hobson, Janell: „The ,Batty’ Politic: Toward an Aesthetic of the Black Female Body” In: Hypatia 18:4 (2003), 87-105. Jolizza, W.K. von: Die Schule des Tanzes. Leichtfaßliche Anleitung zur Selbsterlernung moderner und alter Gesellschaftstänze. Wien: Hartleben 1907.
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Kleinhans, Chuck: „Taking Out the Trash: Camp and the Politics of Parody.” In: Meyer, Moe (Hg.): The Politics and Poetics of Camp. London: Routledge 1994. Krasner, David: „Rewriting the Body: Aida Overton Walker and the Social Formation of Cakewalking.” In: Theatre Survey 37:2 (1996) 68-92. Kusser, Astrid: „Cakewalking. Fluchtlinien des Schwarzen Atlantik um 1900.” In: Becker, Ilka/Cuntz, Michael/Dies. (Hg.): Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht? München: Fink 2008, 251-282. Kusser, Astrid: Körper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900. Bielefeld: transcript, 2013. Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance:Hidden Transcripts. New Haven: Yale University Press 1990. Varela, Maria do Mar Castro/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript 2005. Walker, George W.:„The Real Coons on the Stage.“ In: Theatre Magazine 65:6 (1906), 224-226. Zimmerman, Andrew: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. University of Chicago Press 2001.
M IGRATION UND GRENZZIEHUNG
Europa, Migration und Spiel Überlegungen zu einer reflexiven Europaforschung A STA V ONDERAU
Der vorliegende Essay beruht auf ethnographischen Beobachtungen1 an zwei sehr unterschiedlichen Orten, welche die Frage nach den Grenzen und die nach Ein- und Ausschluss im heutigen Europa auf je spezifische Weise aufwerfen. Beide Orte können als heterotopisch im Sinne von Michel Foucault 2 charakterisiert werden: als wirkliche und wirksame Orte, die zwar innerhalb spezifischer politischer oder symbolischer Ordnungen verankert sind, zugleich aber auf besondere – in diesem Falle spielerische – Weise gesellschaftliche Hierarchien reflektieren und den Regeln dieser Ordnungen trotzen. Bei dem ersten der „Orte“ handelt es sich um ein Computerspiel namens Frontiers (2009), das von der österreichischen Künstlergruppe Goldextra entwickelt wurde. Der zweite Ort ist ein Spiel namens Gangsterläufer, das Jugendliche auf den Dächern und Straßen des Berliner Stadtteils Neukölln praktizieren, d.h. in einem Bezirk, der sich dem medial-öffentlichen Diskurs als „sozialer Brennpunkt“ eingeschrieben hat. 3 Meine Betrachtung dieser Orte geht von der Frage aus, wie Europa in künstlerischer sowie alltagsweltlicher kultureller Praxis thematisiert, konstituiert und damit auch beobachtbar wird. Was bringt eine reflexive und kritische Forschungsperspektive auf die vielfältigen Praktiken der Europäisierung mit sich? Und wie ist die Forscherin selbst innerhalb dieser Prozesse positioniert? 1
Diese Beobachtungen wurden im Sommer 2011 durchgeführt und stellen eine Momentaufnahme dar. Spätere Entwicklungen an den genannten Orten wurden nicht berücksichtigt.
2
Vgl. Foucault 1992.
3
Dazu Niedermüller 2004.
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F RONTIERS : E INE KÜNSTLERISCHE I NTERVENTION EU- EUROPÄISCHE G RENZREGIME
IN DAS
Das Computerspiel Frontiers bildet Fluchtrouten und illegale Migrationswege in die EU mit quasi dokumentarischer Genauigkeit nach. Damit bietet Frontiers den Spieler_Innen die Möglichkeit, in die Rolle eines oder einer afrikanischen oder arabischen Flüchtenden zu schlüpfen, um zu versuchen, die EU-Außengrenze zu durchqueren, oder umgekehrt auch die Rolle eines oder einer Grenzbeamt_In anzunehmen und den Grenzübertritt der Fliehenden zu verhindern. Im ersten Level des Spiels beginnt die Reiseroute in der Wüste Sahara, sie führt über die in Nordafrika gelegene spanische Exklave Ceuta. Der zweite Fluchtweg führt vom Irak aus durch die Türkei und Ukraine nach Europa. Die Route geht dann über Spanien zum holländischen Containerhafen Rotterdam weiter. Das Spielszenario beruht auf mehrmonatigen Forschungsexpeditionen der Künstler an die Außengrenzen Europas sowie auf Gesprächen mit Grenzsoldaten, Geflüchteten, Aktivisten und anderen beteiligten Gruppen. Landkarten und Graphikdesign sind so wirklichkeitsgetreu wie die Originaltöne, zu denen die Warnsignale militärischer Überwachungsgeräte, die Stimmen von Flüchtlingen und die von ihnen erzählten Berichte gehören.4 Wenn die sozialen Realitäten an den EU-Außengrenzen auf diese Weise künstlerisch transformiert werden, provoziert das die Frage, was es bedeuten mag, wenn die Grenze – als eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt, wie Georg Simmel einmal schrieb 5 – in den virtuellen Raum verlagert, unabhängig vom geographischen Ort abrufbar, spielbar und erfahrbar wird. Relativiert es die angenommene Festigkeit der im medial-öffentlichen Diskurs verbreiteten Imagination der „Festung Europa“, wenn man im Körper eines Avatars die Grenze immer wieder überqueren und jegliche Hindernisse, den eigenen Tod sogar, beim wiederholten Versuch überwinden kann? Wenn man in Anlehnung an Michel de Certeau Orte als Sammlungen fester Punkte und Regeln versteht, und Raum als einen durch die Handlungen historischer Subjekte geleiteten Prozess, 6 dann wird die der festen Regeln und Bedeutungen unterliegende EU-Grenzzone durch das Spielen immer wieder in einen offenen Raum verwandelt, wodurch sich neue Möglichkeiten für seine Deutung und Gestaltung eröffnen.
4
Informationen zum Spiel Frontiers unter: http://www.frontiers-game.com
5
Vgl. Simmel 1992, 772ff.
6
Vgl. de Certeau/Voullié 1989.
(Letzter Zugriff: 01.12.2019).
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Kritiker_Innen ebenso wie die Spieleentwickler_Innen selbst ordnen Frontiers der Kategorie sogenannter serious games zu.7 Dabei handelt es sich um Spiele, die neben der rein unterhaltenden eine pädagogische und informative Absicht verfolgen. In diese Kategorie gehören für den Schulunterricht programmierte Spiele, wie zum Beispiel eines des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen mit Namen Last Exit Flucht,8 in dem Jugendliche die Rolle eines Flüchtlings übernehmen und seinen Integrationsweg im Aufnahmeland virtuell durchlaufen. Hierzu gehören überdies zahlreiche, im Internet zu findende Modifikationen bestehender Spiele, die sich kritisch mit gesellschaftlich-politischen Ereignissen wie dem 11. September oder dem Krieg gegen den Terror auseinandersetzen. Ferner gehören eine Reihe von Strategiespielen in diese Kategorie, die eingesetzt werden, um Beamte, Politiker, Manager, Agenten oder Militärs auszubilden.9 Die Schöpfer von Frontiers wählen in diesem heterogenen Kontext die Gattungsbezeichnung Games for Change. Im Gegensatz zu Spielen, die mit einer rein pädagogischen Absicht entwickelt wurden, wollen sie nicht nur über die Situation der Geflüchteten an den militarisierten EU-Außengrenzen informieren, sondern auch in die soziale Realität intervenieren, indem sie eine spielerische Grenzüberschreitung und die Produktion einer „anderen“ Grenze ermöglichten. Dafür entwickelten sie eine eigene Kommunikationsstrategie: Frontiers wurde als ein Internet-Gruppenspiel und als Modifikation eines der populärsten Ego-Shooters namens Half-Life produziert, der im Einzelhandel um die neun Millionen mal verkauft wurde. So kann jeder, der Half-Life spielt, diese kostenlos vertriebene Modifikation ausprobieren. Daran knüpft sich die erklärte Absicht der Künstler_Innen, das Spiel nicht nur kollektiv zu produzieren, sondern auch möglichst vielen Personen und Gruppen zugänglich zu machen. Man soll darauf in der Mod-Database stoßen, es austesten und auch weiter modifizieren können. Zugleich ist die virtuelle Grenze gezielt so gestaltet, dass sie sich auf die Regeln des europäischen Grenzmanagements und jene des ComputerspielGenres bezieht, diese aber auch hinterfragt. So werden die Spieler zum Beispiel als Grenzbeamt_In mit einer Waffe ausgestattet, doch anders als in einem konventionellen Egoshooter wird das Erschießen des Gegners nicht belohnt, sondern unter Verweis auf die Menschenrechtskonvention mit Punkteabzug bestraft.10
7
http://www.frontiers-game.com (letzter Zugriff: 01.12.2019).
8
http://www.lastexitflucht/againstallodds/ (letzter Zugriff: 01.12.2019).
9
Siehe z.B. Butler 2007.
10 http://www.frontiers-game.com (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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2009 veröffentlicht, versteht sich Frontiers als offenes Projekt, das kontinuierlich entwickelt und mit neuen Levels versehen wird. Seit seiner Veröffentlichung erfährt das Spiel große mediale Aufmerksamkeit. Bislang wurden um die hundert Artikel in verschiedensten Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht (darunter Die Zeit, Amnesty Journal, Spiegel Online, Greenpeace Magazin), rund zwanzig Radio- und Fernsehreportagen bei ARTE, dem ORF oder der ARD thematisierten das Spiel, eine ähnliche Anzahl von Demonstrationen fand in der Öffentlichkeit statt, so etwa anlässlich des Europa-Tags im Wiener Museumsquartier, im Rahmen des Europäischen Media Art Festival oder dem Games for Change Festival in New York City. 2010 wurde das Spiel in die Ausstellung des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe übernommen und konnte drei Jahre lang von dort aus angespielt werden. Angesichts seiner musealen Verortung und dem regen öffentlichen Diskurs, der sich um Frontiers herum formiert, ist es naheliegend, das Spiel mitsamt seines Themas – Grenze, Flucht, Migration und Europa – als boundary object zu betrachten, wie Kerstin Poehls es in Bezug auf aktuelle Ausstellungen zum Thema Migration vorgeschlagen hat. 11 Mit boundary object ist hier ein Objekt gemeint, das in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und für verschiedene soziale Gruppen bedeutungsvoll ist, obwohl diese Gruppen sehr unterschiedliche Bedeutungen mit ihm verbinden. Im Prozess der Konstruktion und Präsentation eines boundary object können aus der Heterogenität der Meinungen und Haltungen produktive Auseinandersetzungen und Irritationen sowie neuartige Kommunikations- und Handlungsräume entstehen. Natürlich kann dieser Prozess unter Umständen aber auch zur Reproduktion hegemonialer Diskurse, sozialer Hierarchien und symbolischer Ordnungen in den Dienst genommen werden.
D IE S CHWIERIGKEIT EINER KRITISCHEN R EFLEXION
KOLLEKTIVEN
Der mediale Diskurs zum boundary object des Spiels erweist sich bei genauerer Betrachtung als recht homogen. Alle Beteiligten, Künstler_Innen, Spieler_Innen, Wissenschaftler_Innen, Journalist_Innen, Aktivist_Innen und andere Experten in Sachen Migration oder Computerspiel, zeigen sich überzeugt, dass man sich für die Schicksale der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen interessieren müsse. Sie scheinen sich gleichermaßen darin einig, dass Flucht und Migration, milita-
11 Vgl. Poehls 2010. Zum Begriff des boundary object siehe Leigh Star/Riesemers 1989.
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risierte Grenzzonen und die dramatischen Situationen, die sich aus ihnen ergeben, ein passendes Setting für ein Computerspiel darstellen.12 Kaum zufällig beginnt das Spiel an den Zäunen der spanischen Enklave Ceuta, die militärisch aufgerüstet, von einem auf sechs Meter erhöht und mit NATO-Draht versehen wurden, mit Richtmikrofonen, Scheinwerfern und Anlagen zum Einsatz von Tränengas, alle vierzig Meter steht ein Wachturm, die Chancen, sie zu durchbrechen, gelten als äußerst gering. Medienberichte beschreiben das Spiel auf positive Weise, in der Regel jedoch ohne die im Spiel abgebildeten Praktiken der Inund Exklusion kritisch zu betrachten oder die diesen Praktiken unterliegenden politischen Rationalitäten einer Diskussion zu unterziehen, wie es die dem Spiel zugrunde liegende Absicht ist.13 Die zentrale Idee einer Grenzüberschreitung und kollektiven Produktion einer „anderen“ Grenze, die von der Künstlergruppe im Spiel Frontiers angelegt war, geht in der öffentlichen medialen Diskussion zum Spiel verloren. Stattdessen wird der Grundgedanke einer kollektiven Produktion, die alle Beteiligten, Künstler wie Geflüchtete, als aktive und handlungsfähige Subjekte vorstellt, vereinfacht und im medienpädagogischen Sinne uminterpretiert: als ein Informationsangebot für Jugendliche, die sich normalerweise nicht mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigen. Im Rahmen des Mediendiskurses erhält das Spiel immer wieder die Funktion eines moralischen Alibis, das den an diesem Diskurs Beteiligten die Option bietet, sich als politisch interessierte und kritisch denkende Bürger_Innen zu verstehen und als solche darzustellen. Die Geflüchteten, die ihre Fluchtgeschichten für Frontiers geliefert hatten, verschwinden hingegen allmählich als Subjekte aus dem Diskurs. Selten nur findet in der Berichterstattung Erwähnung, dass sie keineswegs eine einheitliche Meinung zu dieser Inszenierung ihrer Flucht hatten und von deren Richtigkeit zum Teil erst überzeugt werden mussten. So scheint Frontiers trotz des positiven Tons der medialen Berichterstattung weitgehend nicht ernst genommen und eben ‚bloß als Spiel’ betrachtet zu werden, insofern den Spielautor_Innen und den Spielern und Spielerinnen die Fähigkeit aktiver politischer Gestaltung nicht zugetraut und die gängige Konstruktion der Festung Europa als einer homogenen und abgeschlossenen Ordnung unhinterfragt bleibt. Die virtuelle Grenze erscheint im Rahmen diesen Diskurses weniger als Intervention in hegemoniale Rationalitäten und Praktiken des europäischen Grenzregimes, sondern vielmehr als elitärer Raum einer scheinbar
12 http://www.frontiers-game.blogspot.com/search/label/Reviews (letzter Zugriff: (letzter Zugriff: 01.12.2019). 13 Die gesamten Medienberichte zum Spiel, auf denen die vorliegende Analyse basiert, sind auf den Webseiten von Goldextra und Frontiers zu finden(vgl. Anmerkung 12).
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kritischen Wissensproduktion: Es ist dort jedem möglich, in den Körper eines oder einer afrikanischen Geflüchteten zu schlüpfen und über die Grenze zu laufen, aber ebenso möglich ist, wieder damit aufzuhören und in die eigene, weiße, europäische Haut zurückzukehren. Die Schwierigkeit und potenzielle Problematik von künstlerischen, wissenschaftlichen, medialen oder anderen (Re-)Präsentationen von Europa und Migration ist auch in den Bildern, Szenen und Hintergrundmaterialien von Frontiers präsent. Einerseits zeigt das Spiel sehr beeindruckend wie Menschen, die seit Jahren auf der Flucht sind und weder einen Platz noch eine Stimme in der Gesellschaft besitzen, eine solche Stimme wiedergewinnen in dem ihre Lebens- und Fluchterfahrungen eine Aufmerksamkeit erfahren und weitererzählt werden. Anderseits aber stehen Interviewer_Innen und Beobachter_Innen (Künstler und Wissenschaftler_Innen) in diesem Moment als privilegierte Helfer und Helferinnen aus Europa den hilfsbedürftigen Geflüchteten aus dem globalen Süden gegenüber. Angesichts der eigenartigen Zwiespältigkeit solcher (Re-)Präsentationen warnt Gayatri Chakravorty Spivak, die „Übertragung der Bürde des weißen Mannes zu der Bürde des Stärkeren“ zu machen, also einem Sozialdarwinismus nachzugeben, demzufolge die Schwächeren sich weder selbst helfen noch regieren können. 14 Ohne den Wert solcher (Re)Präsentationen und Auseinandersetzungen mit Migration und Flucht in Europa mindern zu wollen, ist hier doch darauf hinzuweisen, wie fragil das boundary object als kritische künstlerische oder auch wissenschaftliche Intervention ist, weil es immer der Gefahr ausgesetzt bleibt, zum „ignoranten Wohlwollen der ersten Welt“ beizutragen oder so gedeutet zu werden, wie Spivak treffend festhält.15
G ANGSTERLÄUFER : ALLTAGSWELTLICHE V ERHANDLUNGEN VON Z UGEHÖRIGKEIT Parallel zu den Beobachtungen an den virtuellen Frontiers bzw. Grenzen Europas suchte ich zugleich auch im ‚wahren Leben’ nach Menschen, die beides besitzen: Flucht- wie Spielerfahrung. Weniger um die virtuellen Fluchtbilder auf ihren Wahrheitsgehalt oder die Spielqualitäten von Frontiers zu überprüfen, sondern um weitere Stimmen in die Verhandlung des boundary object Europa einzubeziehen. Bald fand ich mich in dem migrantisch und proletarisch geprägten Berliner Bezirk Neukölln wieder, in dem ich über eine Streetworkerin Kon-
14 Vgl Spivak 2008, 35. 15 Vgl. ebd., 8.
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takt zu einer Gruppe von mehreren fünfzehn bis zwanzig Jahre alten männlichen Jugendlichen bekam, die als Flüchtlinge, Asylbewerber oder Illegale in Deutschland lebten.16 Ich befragte die Jugendlichen auf ihre Migrations- und Spielerfahrungen hin. Was die Gespräche prägte, waren die Ausgrenzungen, Enttäuschungen und Differenzierungen, die die Jugendlichen tagtäglich als Effekt ihrer eigenen Migration oder der Migration ihrer Eltern und sogar Großeltern erlebten. Selbst dann, wenn sie in Deutschland geboren waren, selbst wenn sie sich nie im Herkunftsland ihrer Familie aufgehalten hatten und die Herkunftssprache nicht sprachen, selbst wenn sie gute Noten, Ausbildungsplätze und eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung für Deutschland besaßen. Die Jugendlichen berichteten von den als rassistisch erlebten Haltungen ihrer Lehrer, die arabische Mädchen fragten, wozu sie ein Abitur bräuchten; sie berichteten von Orten, in die sie aufgrund ihres Aussehens nicht eingelassen oder denen sie zugeordnet wurden, so etwa bei der Bewerbung um eine Lehrstelle im Kaufhaus, wo „Ausländer“ in einem anderen Raum als „Deutsche“ auf ihr Gespräch hätten warten müssen. Eine Vielfalt unterschiedlichster Grenzen und Zäune wurde sichtbar im Lauf dieser Gespräche, Variationen des Ein- und Ausschlusses, geknüpft an verschiedene rechtliche Zustände, an Illegalität, Duldung, befristete oder unbefristete Aufenthaltserlaubnisse, Staatenlosigkeit und Asyl. Jeweils war die rechtliche Situation mit Formen sozialer Teilhabe verbunden, die den Jugendlichen einen marginalen Platz innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zuwiesen, ihre Handlungsmöglichkeiten regulierten, sie immer wieder von Neuem in Illegalität und Prekarität drängten und sie antrieben, die Grenzen erneut zu überwinden. So sprach ich zum Beispiel mit einem Jungen, dessen kurdische Eltern vor seiner Geburt aus der Türkei nach Deutschland geflohen waren. Er war stolz darauf, ein guter Schüler zu sein, unter anderem weil ihm dies den Erwerb des deutschen Passes erleichterte. Er freute sich auf ein künftiges Studium als Flugzeugingenieur, doch wusste er zugleich, dass sein Vater nach seinem achtzehnten Geburtstag in die Türkei würde ausreisen müssen, weil seine befristete Aufenthaltserlaubnis ihm lediglich erlaubte, bis zum Erwachsenenalter seiner Kinder legal in Deutschland zu bleiben. Ich sprach mit der Mutter eines Jugendlichen, die ähnliche Grenzerfahrungen bereits vor fünfzehn Jahren gemacht hatte. Damals hatte sie ihr Publizistikstudium beginnen wollen und erfahren, dass sie als Mitglied einer geduldeten Flüchtlingsfamilie nicht studieren durfte, sondern arbeiten und Auflagen für ihren Aufenthalt in Deutschland erfüllen musste, bis es für sie schließlich mit dem Studium zu spät war: „Ich habe geheult, ich habe
16 Die Beochbachtungen und Interviews mit den Jugendlichen wurden im Juni 2011 durchgeführt. Die Namen der interviewten Personen sind anonymisiert.
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getobt, ich habe mich aggressiv angestellt“, berichtete sie mir. Schließlich sprach ich mit dem zwanzigjährigen Murat, der während des Bürgerkriegs im Libanon geboren worden war und mit seinen palästinensischen Eltern als Säugling nach Europa kam. Sein Vater, ein ehemals erfolgreicher Geschäftsmann, durfte wegen seines unsicheren rechtlichen Status’ vierzehn Jahre lang keine Arbeitstätigkeit ausüben. Mittlerweile haben die Familienmitglieder deutsche Ausweise, doch Murat ist vorbestraft, weshalb ihm der Ausweis verweigert wird. Er behauptet, sich bessern und einen Beruf lernen zu wollen, doch die Antwort der Behörden sei, dass es im öffentlichen Interesse liege, ihn in den Libanon abzuschieben: Es sei ihm nicht erlaubt zu lernen, zu arbeiten, oder Berlin zu verlassen. Murat ist als libanesischer Palästinenser staatenlos, die libanesische Botschaft weigert sich, ihm einen Pass auszustellen. Die Ausländerbehörde legte ihm zuletzt eine Ausreise in die Ukraine nahe. Solche Grenz- und Grenzüberschreitungserfahrungen erwiesen sich im Kontext meines Gesprächs mit den Jugendlichen als alltäglich und allgegenwärtig, über Generationen hinweg. Die Grenze stellte dabei eine „totale soziale Tatsache“17 dar, die alle Bereiche des menschlichen Lebens durchdringt. Eben auf diese Weise wird das europäische Grenzregime in der neueren kritischen Migrationsforschung18 charakterisiert. Im heutigen Europa werden die Grenzen mit ihren Ein- und Ausschlussmechanismen zunehmend deterritorialisiert und fragmentiert. Sie sind in hohem Maße flexibel, wirken nicht nur an den territorialen Rändern, sondern außer- und innerhalb des EU-Territoriums, wobei sie einen höchst heterogenen Raum von Bürgerschaftsrechten und Teilhabeformen produzieren. Innerhalb der EU wird der Differenzierungsprozess zum größten Teil durch die politischen und rechtlichen Strukturen der jeweiligen Nationalstaaten vorangetrieben. Der Umgang mit diesem netzartigen Grenzregime gehört gerade für die sozial benachteiligten Migranten und Migrantinnen der ersten, zweiten und dritten Generation zur alltäglichen Praxis. Genauso wie die Geflüchteten an den Außengrenzen Europas entwickeln auch sie immer neue Strategien, die ihnen helfen, Hindernisse zu überwinden und ein Stück weit Souveränität über ihr eigenes Leben zurückzugewinnen. Auch bei meinen Gesprächen mit den Jugendlichen stieß ich auf solche Strategien, die auf spielerische Weise die Ein- und Ausgrenzungsmechanismen in Deutschland und Europa verhandeln und daher ebenfalls als serious games beschrieben werden können. Dazu gehörte das Spiel namens Gangsterläufer, das die (vor allem männlichen) Jugendlichen, die ich in Neukölln interviewte, seit
17 Vgl. Durkheim 1991. 18 Siehe z.B. TRANSIT MIGRATION 2007 und Hess/Kasparek 2010.
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Jahren jede Woche in großen Gruppen von bis zu fünfzig Personen in ihrem Stadtteil praktizieren. Die Spieler werden dabei von einem Fänger gejagt und müssen versuchen, vor diesem über Straßen, Zäune, Dächer, Bäume und andere Hindernisse zu fliehen. Wer gefangen wird, bekommt von dem Fänger dreißig Sekunden lang „Todesschläge“. Dann fängt er mit und kann seine Wut an den anderen auslassen. Wer als letztes gefangen wird, bekommt Prügel von der ganzen Gruppe der früher Gefangenen, ist aber auch der Beste und Schnellste – eben der „Gangsterläufer“. In gewissem Sinne ist Gangsterläufer ein ernstgemeintes Spiel (ernsthaft brutal), es setzt Stärke, Ausdauer, Körperbeherrschung voraus, man muss dabei sein Bestes geben und alle möglichen Hindernisse und Grenzen überwinden. Beim Spielen schaffen die Jugendlichen zugleich ihre eigenen, für Außenstehende unzugänglichen Orte in der Stadt. Wenn die Polizei versucht, das Spiel zu unterbinden, müssen sich die Jugendlichen nicht vor ihnen in acht nehmen, aus der Erfahrung heraus, dass die Polizisten nicht den nächsten Zaun überspringen, geschweige denn sie fangen können. In diesem Sinne bietet das Spiel den Jugendlichen Freiraum und Anerkennung, die zwar hart zu erreichen sind, doch nicht (oder kaum) von Außen gesteuert werden. Ähnlich wie Frontiers provoziert auch dieses Spiel eine öffentliche Reaktion, indem es laut und aggressiv auftritt, eigene Regeln setzt und die öffentliche Ordnung stört. Der Berliner Filmemacher Christian Stahl hat einen Dokumentarfilm gedreht,19 der sowohl das Spiel als auch die Situation der ausgegrenzten, in Kriminalität und Prekarität geratenen Jugendlichen thematisiert. Seit diesem Film werden die Jugendlichen von Journalisten interviewt, die über ihre Grenzerfahrungen schreiben wollen, und sie werden von Politikern kontaktiert, die im Zuge der Berliner Imagepflege die soziale Situation verbessern oder das brutale Spiel unterbinden wollen. Bisher haben die Jugendlichen diese durch das öffentliche Interesse sich ergebenden Kommunikations- und Handlungsräume vorteilhaft für sich nutzen können, etwa um einen Ausbildungsplatz zu erhalten oder um ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland und Europa zu verbessern. Allerdings bleibt es offen, ob sie durch die Berichterstattung am Ende nicht doch in die übliche inkriminierte Opferrolle gedrängt werden, die ihnen einen marginalisierten Platz in der Gesellschaft zuweist und Handlungsfähigkeit abspricht. Es genügt, eine Suche auf Youtube durchzuführen, um die vielen Dokumentationen zu sehen, die das Thema sozial benachteiligter jugendlicher Migrant_Innen in Berlin Neukölln ausschlachten und nach dem Abebben öffentlichen Interesses wieder vergessen machen. Ge-
19 web.archive.org/web/20160422082647/http://www.gangsterlaufer.de/ (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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nauso wie im Falle der Diskussion um Frontiers bleibt auch mit Bezug auf den ganz anderen sozialen Kontext des Gangsterläufers die Frage nach einer reflektierten Forschungsperspektive auf das europäische Grenzregime und die alltäglichen Praktiken dessen Aushandlung relevant.
E UROPA ALS BOUNDARY SUBJECT Gangsterläufer und Frontiers: Beide Spiele beruhen auf gelebten Migrationserfahrungen und hinterfragen auf eigene, spielerische wie ernsthafte Weise die hegemoniale politische und symbolische Ordnung Europas. Beide Spiele schaffen heterotopische Orte, an denen marginalisierte gesellschaftliche Positionen und nicht-anerkannte Mobilitäten ins Zentrum gestellt werden und soziale Sichtbarkeit erhalten. Die Frage und Herausforderung für eine kritische und reflexive Perspektive auf Europa als künstlerische und kulturelle Praxis ist damit folgende: Wie lassen sich diese Orte verbinden, ohne den Gestus des weißen Europäers gegenüber den als hilfsbedürftig verstanden Subalternen nicht einfach nur ein weiteres Mal zu wiederholen? Wichtig scheint es, in Anlehnung an die kritische Migrationsforschung gängige Dichotomien unseres Denkens abzulegen, wie die des Staats als Subjekt der gesellschaftlichen Regulierung und der Migrant_Innen als seiner passiven Objekte. Die Grenze wäre dann nicht nur als totale soziale Tatsache zu betrachten, sondern gleichzeitig auch als soziales Verhältnis zu verstehen, das verhandelbar und gestaltbar ist, und das durch und in den Alltagspraxen der verschiedenen Akteure und Akteurinnen konstituiert wird, auch wenn diese Akteure hierfür sehr unterschiedliche Möglichkeiten und Voraussetzungen mitbringen. 20 Die Migration an den Außengrenzen Europas erscheint in dieser Perspektive nicht nur als boundary object, sondern auch als ein boundary subject. Als ein kollektives Subjekt also, das durch Grenzübertritte im rechtlichen, politischen und ökonomischen Status festgeschrieben wird. Zugleich erhält dies Subjekt auch durch das Spiel mit den Grenzen und durch die Flucht vor hegemonialen Subjektivierungsweisen gesellschaftsgestaltende Kraft,21 insofern es die Beobachter_In (ob nun Forscher_In oder Künstler_In) mit der Situiertheit ihres eigenen Blickes konfrontiert.
20 Vgl. Hess/Kasparek 2010. 21 Vgl. ebd.
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L ITERATUR Butler, Mark: Would You Like to Play a Game? Die Kultur des Computerspielens. Berlin: Kadmos, 2007. de Certeau, Michel/Ronald Voullié: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1980. Durkheim, Émile: Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Foucault, Michel: „Andere Räume“. In: Barck, Karlheinz et.al. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1992, 34-46. Hess, Sabine/Bernd Kasparek (Hg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin: Assoziation A. 2010. Niedermüller, Peter (Hg.): Soziale Brennpunkte sehen? Möglichkeiten und Grenzen des ethnologischne Auges. Münster: LIT-Verlag, 2004 (=Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge No 31). Poehls, Kerstin: „Zeigewerke des Zeitgeistes. Migration, ein boundary object im Museum“. In: Zeitschrift für Volkskunde, 106:2 (2010), 224-246. Simmel, Georg: „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1908)“. In: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Bd. 11. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 687790. Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten: Über die Zutailung von Menschenrechten. Zürich: Diaphanes 2008. Star, Susan Leigh/James R. Riesemers: „Institutional Ecology, ‚Translation’ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkleys Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39“. In: Social Studies of Science, 19:3 (1989), 387420. TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript 2007. Vonderau, Asta: „’State and nation seeking to cannibalize one another’. Die Zeitungsdebatte über die doppelte Staatsangehörigkeit“. In: Irene Götz (Hg.) Zündstoff doppelte Staatsbürgerschaft. Beobachtungen zur Veralltäglichung des Nationalen. Münster/Hamburg/Berlin: LIT 2000, 21-35 (=Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge 21).
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Vonderau, Asta: „Yet Another Europe? Constructing and Representing Indentities in Lithuania Two Years after the EU Accession“. In: Tsypylma Darieva/Wolfgang Kaschuba (Hg.): Representations on the Margins of Europe. Politics and Indentities in the Baltic and South Caucasian States. Frankfurt a.M./New York: Campus 2008, 220-241.
Theater und Migration Überlegungen zu einer europäischen Perspektive des postmigrantischen Theaters A ZADEH S HARIFI
Migration ist ein Phänomen, das Europa prägt und durch seine grenzüberschreitenden Bewegungen fortschreibt.1 Gerade in den letzten zwanzig Jahren sind die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der europäischen Länder maßgeblich von den Migrationsbewegungen außer-europäischer Länder beeinflusst worden.2 Die einzelnen europäischen Länder besitzen jedoch einen unterschiedlichen Umgang mit Migration, der aus ihrem jeweiligen nationalen Selbstverständnis und ihrer Position zu dem „Anderen“ hervorgerufen wird.3 Auch im europäischen Theater hinterlassen die Wanderungsströme ihre Spuren. Dabei wirken die politischen Rahmenbedingungen für Migration immer als Parameter für Künstler_innen, ihre künstlerische Arbeit und ihre Anwesenheit in den jeweiligen Theaterszenen. Großbritannien kann beispielsweise eine eher vielfältige Theaterszene aufweisen, die die Heterogenität der Gesellschaft recht stark repräsentiert. In der deutschen Theaterlandschaft steht eine Homogenität der institutionalisierten Häuser einer Heterogenität der Freien Szene gegenüber. Die Freie Szene ist international und Migration wird als ein wichtiger biografischer Aspekt der Künstler_innen in vielen Produktionen ästhetisch und formal reflektiert. Dagegen wird in den institutionalisierten Häusern Migration oft als soziales Phänomen aufgefasst und auf den Bühnen bislang meist in Form von sozial-partizipatorischen Projekten verhandelt. Obwohl die Trennung zwischen 1
Vgl. Römhild 2009, 225.
2
Vgl. Bade 2011, XIX.
3
Vgl. Bloomfield 2003, 2.
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postmigrantischem Freiem Theater und institutionalisierten Häusern in Deutschland am Stärksten zum Ausdruck kommt, lässt sich in ganz Europa beobachten, dass die Präsenz von „migrantischen“ Künstler_innen im Mainstream geringfügig, wenn nicht sogar marginal ist.4 Im Folgenden möchte ich mich mit Theater und Migration aus einer europäischen Perspektive auseinandersetzen. Es ist meine These, dass sich die Fragmente einer Geschichte der Migration in der fragmentarischen Form jenes Theaters, das durch Migration gekennzeichnet ist, widerspiegeln. Eine skizzenhafte Darstellung der Theatergeschichte in Deutschland und England soll die Differenz in der Wahrnehmung und Selbstverständnis der nationalen Theaterlandschaften in Bezug auf Migration aufzeigen. Das Einschreiben von postmigrantischen Theatergeschichten in das kollektive Kulturgedächtnis der europäischen Theaterlandschaft kann dabei durch Theaterprojekte wie EUROPE NOW erreicht werden. Im Blick darauf möchte ich meinen Text mit Überlegungen zu der Rolle des postmigrantischen Theaters für die zeitgenössische europäische Theaterszene abschließen. Bereits an dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass auch der vorliegende Text nicht mehr als ein Fragment sein kann. Nicht so sehr in der Form, als in den Überlegungen und Darstellungen einer Geschichte des Subalternen im Theater. Es ist der Versuch, das Aufkommen von Theatermacher_innen sichtbar zu machen, deren Position theatergeschichtlich in der Peripherie angesiedelt war. So wie deren Biografien einzig Fragmente von Geschichten sind, wird auch dieser Versuch nur ein Bruchstück von Möglichkeiten der Einordnung bleiben können. Ausgehend von Überlegungen Stuart Halls, Paul Mecherils und Depash Chakrabartys, denen gemeinsam ist, dass sie Europa ebenso wie ihr „europäisch“ geprägtes Denken kritisch reflektieren, soll hier die europäische Theatergeschichte „provinzialisiert“ werden.
4
Vgl. Bloomfield 2003, 109.
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E UROPAS M IGRATIONSGESELLSCHAFTEN Für die aktuelle gesellschaftliche Realität Europas sind Ein- und Auswanderung, Pendeln und Transmigration konstitutiv. Einige europäische Länder haben aufgrund ihrer Kolonialgeschichte früher anerkannt, dass sie postkoloniale Gesellschaften bilden, als beispielsweise Deutschland, das sich damit bis heute schwertut. Trotzdem sprach auch hier die Migrationswissenschaft bereits in den 1990er Jahren von Deutschland als Migrationsland.5 Migration wird als Gegenstand des Diskurses und als Gegenstand politischer und alltäglicher Auseinandersetzungen verstanden. Sie hat eine derartige Präsenz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der europäischen Länder, dass der Ausdruck Migrationsgesellschaft angemessen erscheint.6 Dabei ist die Hegemonie West-Europas durch die postkolonialen, post-sozialistischen und mediterranen Migrationsbewegungen längst infrage gestellt und transformiert worden. Transnationale Bewegungen erweisen sich als treibende Motoren einer Transformation Europas, denn sie gestalten die innere Globalisierung und damit auch die „Kosmopolitisierung“ der national verfassten europäischen Gesellschaften. 7 Die Staaten sehen Migration jedoch nicht als „kosmopolitische Kraft“, sondern vielmehr als eine Randerscheinung an der Peripherie der Gesellschaft. Diese gilt es folglich entweder mit den Instrumenten von nationalstaatlicher und gegenwärtig auch europäischer Macht zu regulieren bzw. abzuwehren oder aber partiell zu fördern, kulturell zu integrieren und bisweilen sogar zu assimilieren.8 Migration in all ihren Erscheinungsformen betrifft dabei nicht einzig die stigmatisierten „Migrant_innen“, sondern muss als gesamtgesellschaftliches Phänomen gedacht werden. Durch Migration werden die „natio-ethno-kulturellen“ Zugehörigkeitsverhältnisse im Allgemeinen problematisiert. Dabei geht es nicht so sehr darum, wie Gesellschaftsgruppen miteinander existieren, sondern wer überhaupt zur Gesellschaftsidentität gezählt wird.9
5
Vgl. Münz u.a. 1999, 149f.
6
Vgl. Mecheril/Broden 2007, 7.
7
Vgl. Römhild 2009, 225f. Mit dem Begriff der „Kosmopolitisierung“ bezieht sich Römhild auf Ulrich Beck und Natan Sznaider, die statt von postmodernen Bedingungen von einer „cosmopolitan condition“ ausgehen. Damit wollen sie der steigenden Interaktion zwischen sozialen Akteuren über nationale Grenzen hinweg gerecht werden. Vgl. Beck/Sznaider 2006, 6f.
8
Vgl. Römhild 2009, 225f.
9
Vgl. Mecheril/Broden 2007, 8.
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Folgt man Stuart Hall, ist Identität nicht über das Sein, sondern über die Nutzung von Ressourcen der Geschichte, Sprache und Kultur im Prozess des Werdens begriffen. Sie bezieht sich also weniger auf die Fragen, „wer wir sind“ und „woher wir kommen“ als auf das, was wir darstellen und wie wir repräsentiert werden bzw. wem diese Repräsentation zugestanden wird. Identitäten funktionieren deshalb nur innerhalb von Repräsentationen.10 Repräsentationsverhältnisse wirken als Machtstrukturen, denn in den vorherrschenden Verhältnissen sind die Differenz- und Dominanzverhältnisse einer Gesellschaft angelegt. Die systematische Ungleichheit in der Anerkennung „natio-ethno-kultureller“ Identitäten und Zugehörigkeiten ist ein Ausdruck dieses Repräsentationsschemas. 11 An der aktuellen Debatte zum blackfacing und zur Nutzung des N-Wortes12 im deutschen Theater zeigt sich, welche Position postmigrantische und People of Color (PoC)-Künstler_innen in diesem Diskurs einnehmen dürfen.13 Die Diskussion in Deutschland begann 2011 mit Plakaten zu einer Inszenierung von Herb Gardners I'm Not Rappaport an Dieter Hallervordens Schlosspark Theater, die den weißen Schauspieler Joachim Bliese mit schwarz angemalten Gesicht zeigten. Das dabei verwendete Stilmittel des blackfacing wird im akademischen Diskurs sowie in angel-sächsischen Ländern im historischen Kontext der amerikanischen minstrel shows verortet und als rassistische Theaterpraxis identifiziert. Im deutschen Theater hingegen findet blackfacing mit Verweis auf die Freiheit der Kunst und einem in der deutschen Theatergeschichte angeblich fehlenden Rassismus weiter Verwendung.14 Eine rassistische Theaterpraxis wird zum Mittelpunkt eines von weißen männlichen Theatermachern dominierten Diskurses, der die rassistische Geschichte und Kontextualisierung des blackfacing aberkennt und die Kritik daran auf „Befindlichkeiten“ der PoC-Künstler_innen reduziert. Deren Positionen werden zur Marginalie und gleichsam peripheren Erscheinung erklärt, da ihre Grundlagen nicht „Kunstwissen“ und „Kunstfreiheit“, sondern
10 Vgl. Hall 1996, 4. 11 Vgl. Mecheril/Broden 2007, 9. 12 Vgl. Kilomba 2009. 13 Die Verwendung der Begriffe Postmigrantisches Theater und postmigrantische Künstler_innen folgt einer emanzipatorisch gedachten Selbstbezeichnung, die von Shermin Langhoff, der ersten „postmigrantischen“ Intendantin, eingeführt wurde. Der Begriff People of Color (PoC) ist ebenfalls eine „gemeinsame Selbstbezeichnung, die Solidarität unter allen rassistisch Diskriminierten herstellt und quer zur rassistischen Politik des Teilens und Herrschens verläuft“ (Ha u.a. 2007, 31f.). 14 Vgl. Strausbaugh 2006 sowie den Beitrag von Gerstner im vorliegenden Band.
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„private Erfahrungen“ seien. 15 So wird ihnen das Recht auf Historisierung abgesprochen und stattdessen auf ihre subalterne Subjektpositionen verwiesen. Dipesh Chakrabarty beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit Geschichtsschreibung, dass Historiker_innen aus der Dritten Welt sich verpflichtet fühlen, die europäische Geschichte zu berücksichtigen, wohingegen Historiker_innen aus Europa keine Notwendigkeit erkennen, dieses Interesse zu erwidern. Deshalb würden diese ihre Werke in relativer Unkenntnis nicht-westlicher Geschichte verfassen, „ohne dass dies offenbar die Qualität ihrer Arbeit beeinträchtigt, das sei jedoch eine Geste, die ‚wir’ nicht erwidern können“.16 Europa herrscht als Subjekt der Geschichte. Chakrabarty führt an, dass „wir“ alle, die mit unseren unterschiedlichen und häufig nicht-europäischen Archiven „europäische“ Geschichte(n) schreiben, die Möglichkeit einer Bündnispolitik und eines Bündnisprojekts zwischen den herrschenden metropolitanen Geschichten und den subalternen Vergangenheiten der Peripherie hätten. Das dabei entstehende Projekt wäre die „Provinzialisierung Europas“. Es würde die bislang privilegierten Erzählungen mit erträumten Vergangenheiten und Zukunftsentwürfen überschreiben, in denen Kollektivitäten weder durch europäisch geprägte Staatsbürgerschaften noch durch die von der Moderne erfundenen Traditionen definiert werden. Da in den bestehenden Strukturen keine Orte existieren, an dem sich solche „Träume“ institutionalisieren lassen, müssen diese so lange wiederkehren bis die „Themen Staatsbürgerschaft und Nationalstaat unsere Erzählungen vom historischen Übergang beherrschen, denn genau jener Unterdrückung dieser Träume verdankt die Moderne ihre Existenz“.17 In dieser Differenz und der Unmöglichkeit des Projektes der Provinzialisierung Europas ist auch ein Theater der Migration einzuordnen. Aus der Position eines „provinzialisierten Europas“, in dem auf den Bühnen Geschichten von Rassismus, Exklusion und Trauma verhandelt werden, soll eine Überschreibung der europäischen Theatergeschichte angegangen werden, die sich jedoch nur an ihren eigenen Parametern abarbeiten kann.
15 Die Debatte ist von der Gruppe Bühnenwatch dokumentiert. Vgl. buehnenwatch.com (letzter Zugriff: 01.12.2019). 16 Chakrabarty 2010, 41f. 17 Chakrabarty 2010, 309.
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T HEATER UND M IGRATION : E INE G ESCHICHTE DER F RAGMENTE ? Die migrantisch-europäische Theaterlandschaft unterscheidet sich je nach Land dadurch, wie präsent und wie umfangreich sie ist sowie seit wann sie existiert. Die einzelnen Länder haben die Partizipationsrechte von migrantischen Künstler_innen unterschiedlich ermöglicht bzw. sanktioniert.18 Dabei lassen sich letztlich immer wieder ähnliche Problematiken erkennen. Ich möchte mit Deutschland und Großbritannien an dieser Stelle zwei Länder herausgreifen, deren Selbstwahrnehmung in Bezug auf die gesellschaftliche Realität zwar stark voneinander abweicht, deren Repräsentationsschemata jedoch zeitversetzt in ähnlichen Bahnen verlaufen. In den 1980er Jahren, rund zehn Jahre nach dem Anwerbestopp und damit dem Familiennachzug der in Deutschland gebliebenen Gastarbeiter begannen Literatur- und Theaterwissenschaftler_innen sich mit den künstlerischen Aktivitäten der sogenannten Gastarbeiter_innen zu beschäftigen. Manfred Braunecks Studie Ausländertheater in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin war die erste Forschungsarbeit zu Theater und Migration in Deutschland.19 Die zu der Zeit regierende CDU/CSU verfolgte eine restriktive Ausländerpolitik, bei der unter anderem die künstlerischen Aktivitäten der „Eigeninitiative und Selbstorganisation der Ausländer“20 überlassen wurden. Das herrschende Integrationsverständnis zielte, „auf die Auflösung der ursprünglichen nationalen und kulturellen Identität der Ausländer“ und strebte „eine umfassende Assimilation anstrebt“21 an. Daher wurde die künstlerische Arbeit der Migrant_innen nicht gefördert. Es waren gesellschaftspolitisch engagierte Einrichtungen, die die Theaterarbeit der Migrant_innen der ersten Generation unterstützten. Es war die keineswegs selbstverständliche Möglichkeit zur politischen, sozialen und ästhetischen Artikulation. So blieb auch die Theaterarbeit der Migrant_innen in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende der 1990er nahezu unerforscht.22 Boran spricht in seiner Auseinandersetzung mit deutsch-türkischem Theater von einem deutschen Rezeptionsrahmen, der den kulturellen Erzeugnissen von Migrant_innen „kein Verständnis“ entgegenbringt und deren Möglichkeiten zu eng gesteckt, die kulturelle Szene zu exklusiv und zu national ausgerichtet sei. Das
18 Vgl. Bloomfield 2003, 2-18. 19 Vgl. Brauneck 1983, 6. 20 Kommission „Ausländerpolitik“ der CDU/CSU, zit. nach Brauneck 1983, 12. 21 Brauneck 1983, 12. 22 Vgl. Sappelt 2000, 276.
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deutsche Theater ist Borans Ansicht nach eine geschlossene Gesellschaft.23 Diese Aussage trifft vor allem auf die institutionalisierten Häuser und damit die Stadt- und Staatstheater in Deutschland zu. Die Freie Szene war, wie bereits erwähnt, wegen ihrer internationalen Ausrichtung und ihrer Flexibilität von Künstler_innen mit diversen Migrationsbiografien durchsetzt. Mit der Erkenntnis, dass nur eine Institutionalisierung eine Öffnung und damit eine Sichtbarmachung von postmigrantischen Künstler_innen gewährleiste, wurde in Berlin das Ballhaus Naunynstraße von Shermin Langhoff gegründet. 24 Bereits 1983 und nach umfassender Restaurierung fand die Eröffnung des Ballhauses als Spielstätte des Kunstamtes Kreuzberg statt. In Kreuzberg, in einem von Gastarbeiter_innen stark besiedelten Stadtgebiet, wo „Arbeitsmigration […] zu diesem Zeitpunkt bereits Spuren hinterlassen“25 hatte, traten folglich die ersten migrantischen Theatergruppen auf. Shermin Langhoff war zuvor beim Hebbel am Ufer in Berlin als Kuratorin unter anderem für das Festival Beyond Belonging – Migration zuständig, das sich mit Kunst und Politik im Kontext von Migration beschäftigte. Ein Hauptgrund für die Schaffung eines eigenen Hauses war, dass (post-)migrantische Künstler_innen und Kulturschaffenden fast ausschließlich in der Freien Szene tätig waren und ihre Theaterarbeit unzureichend institutionalisiert war. Aufgrund der großen Nachfrage von künstlerischer Seite wurde über eine feste Plattform für postmigrantische Kulturpraxis und die Gründung eines „postmigrantischen Theaters“ nachgedacht.26 „Das Haus hat sich einer postmigrantischen Positionierung verschrieben, den die Künstler_innen bewusst ‚Beyond Belonging‘ nennen.“27 Beyond Belonging kann im Sinne Chakrabartys als Geschichtsschreibung jenseits von Staatsbürgerschaften verstanden werden, in der eine Translokalität von Theatergeschichte(n) gesucht wird. Das postmigrantische Theater ist eine solche Suchbewegung von vielfältigen, kulturellen Perspektiven, die „sich von erträumten Vergangenheiten und Zukunftsentwürfen nähren“.28 23 Vgl. Boran 2004, 200. 24 Im Herbst 2012 haben Tuncay Kulaoglu und Wagner Carvalho die künstlerische Leitung des Ballhaus Naunynstraße übernommen. Sie haben einen neuen Schwerpunkt auf Schwarze Perspektiven gelegt. Seit 2013 ist Shermin Langhoff Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters und damit die erste Künstlerin of Color, die ein Stadttheater leitet. Sie hat ihre im Ballhaus Naunynstraße entwickelten Konzepte eines „Migration Mainstreaming“ in den gesamten Strukturen des Theaterhauses implementiert. 25 www.ballhausnaunynstrasse.de/ HAUS.8.0.html (letzter Zugriff: 05.07.2012). 26 Vgl. Sharifi 2011a, 39. 27 Langhoff 2009, 21. 28 Chakrabarty 2010, 309.
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Seit dem Erfolg von Verrücktes Blut (2010) von Jens Hillje und Nurkan Erpulat hat das Ballhaus Naunynstraße große Erfolge gefeiert und als erste sowie bis dahin einzige postmigrantische Institution Eingang in die institutionalisierte Theaterlandschaft Deutschlands erhalten: 2011 wurde Verrücktes Blut zum Berliner Theatertreffen eingeladen, es erhielt den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage und wurde laut Kritikerumfrage in der Zeitschrift Theater heute zum „Deutschsprachigen Stück des Jahres“ gewählt. Seit dem langsamen Sichtbarwerden von postmigrantischen Künstler_innen in der deutschsprachigen Theaterlandschaft – und damit auch in Österreich und in der Schweiz – lässt sich deren Präsenz nicht mehr seitens der Politik, der Medien und der weißen Theatermacher_innen leugnen. Trotzdem nehmen die institutionalisierten Häuser das Phänomen Migration zumeist noch immer als soziales „Gesellschaftsproblem“ wahr und begegnen ihm auf den Bühnen im Sinne eines social turn.29 Auf den Bühnen der Stadt- und Staatstheater werden „Laiendarsteller_innen“ als Vertreter_innen einer – von den institutionalisierten Theaterhäuser zumindest implizierten – Authentizität vermeintlich mit ihren „eigenen“ Geschichten auf die Bühnen gestellt. In den Strukturen der Häuser bleibt ihnen ein fester Platz jedoch weiterhin verwehrt.30 2009 gaben deutsche Kulturinstitutionen auf die Frage nach den Gründen, warum sie sich mit Migrant_innen als Publikum beschäftigen, an, dass sie dies tun würden, weil es sinnvoll (73,9%) und gesellschaftlich erwünscht sei (44,4%) sowie einen Beitrag zur Integration leiste (69,4%).31 Mark Terkessidis kritisiert diese Haltung als „paternalistisch“, da über die „Hälfte der öffentlichen Kultureinrichtungen […] Personen mit Migrationshintergrund“ nur deshalb „auf der Agenda“ hätten, weil „auch sie ‚einen Beitrag zur Integration’ leisten wollen.“32 Es wird deutlich, dass die Aneignung des Migrationsdiskurses im deutschen Theater sehr langsam, dafür aber unaufhörlich geschieht. Der (Theater-)Autor Deniz Utlu hat vor nicht allzu langer Zeit in einem Artikel ein „Archiv der Migration“ gefordert. Dabei griff er die Gedanken von Antonio Gramscis zur subalternen Klasse auf, die per Definition fragmentiert und nicht zu vereinen sei. Die Geschichte der subalternen Gruppen sei episodisch und schwierig nachzuvoll29 Vgl. Michaels 2011, 124. 30 Eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2012 zeigt, welche Position die institutionalisierten Theater in Deutschland zu Migration beziehen. Vgl. www.sued deutsche.de/kultur/zur-interkulturellen-wirklichkeit-an-den-theatern-herkunft-spielt-ke ine-rolle-1.1315732 (letzter Zugriff: 01.12.2019). 31 Die Umfrage wurde am Zentrum für Audience Development (ZAD), einer transdisziplinären Einrichtung der FU Berlin, durchgeführt. Vgl. Allmanritter 2009. 32 Terkessidis 2010, 174.
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ziehen, folglich auch schwierig zu archivieren. Dieser Missstand einer NichtZugänglichkeit zu den Mitteln, mit denen ihre eigene Repräsentation begrenzt und gesteuert wird, führe auch zum Fehlen eines Zugangs zu sozialen und kulturellen Institutionen des Staates.33 Über seine eigene Arbeit als (Theater-)Autor und Herausgeber des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext nachdenkend, stellt Deniz Utlu fest, dass es Medien wie freitext seien, die „die gesellschaftliche Bedeutung von Gruppen mit subalternen Strukturen anerkennen.“ Dabei fehlen ihnen, den Herausgebern von Zeitschriften, die wiederum die Geschichten der Migration präsentieren, der direkte Zugriff auf ein Archiv. „Vielleicht blieb deshalb ihre Arbeit bisher im Sinne Gramsci fragmentiert und episodisch.“34 Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern hat Großbritannien aufgrund seiner kolonialen Geschichte viele Künstler_innen und Kulturschaffende angezogen, die aus dem ehemaligen Commonwealth stammen. Sie kamen nach Großbritannien, da sie auf künstlerische Freiheit und den Austausch mit europäischen Künstler_innen hofften. Bis in die 1960er Jahre gewährte Großbritannien den Einwanderer_innen jedoch keine Partizipationsrechte. Die rassistischen Übergriffe und politischen Ausschließungen in den 1960er und 1970er Jahren führten zu einer politischen Mobilisation und Selbstorganisation der Einwander_innen. Die in den 1960er Jahren entstandene Menschenrechtsbewegung bildete den Antrieb, auch in der Kunst- und Kulturszene Großbritanniens eine Bewegung von schwarzen Künstler_innen in Gang zu setzen. 35 In den 1970er Jahren begann das britische Arts Council auf Grundlage des von Naseem Khan verfassten Reports The Arts Britain Ignores, der „community ethnic art“ schwarzer Künstler_innen untersuchte, diese gezielt zu fördern. Daran hat Rasheed Araeen kritisiert, dass jede Kunst von schwarzen Künstler_innen unter dem Deckmantel der „Ethnie“ statt aufgrund ihrer künstlerischen Qualität beurteilt werde. Anders als bei weißen Künstler_innen würden sozio-politische Parameter mit der ästhetischen Ebene vermischt. 36 In den 1980er Jahren wurde durch die neoliberale Regierung unter Margaret Thatcher die Privatisierung und Kommerzialisierung der Kultur vorangetrieben,
33 Vgl. Gramsci 1971. 34 Utlu 2011, o.S. 35 Nach Gilroy wird schwarz bzw. black hier als politische Kategorie verstanden, die als Selbstbeschreibung aller von rassistischer Diskriminierung Betroffenen in Großbritannien gilt. Vgl. Gilroy 2002. 36 Araeen 1999.
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was auch als „Thatcherising of the Arts Council“37 bezeichnet wurde. Unter dem new social movement gegen Thatchers neo-liberale Regierung, an der sich viele schwarze Künstler_innen beteiligten, wurden demgegenüber Festivals veranstaltet, die die Vielfältigkeit des kollektiven Gedächtnisses in Großbritannien durch die Umsetzung von schwarzen Künstler_innen und Kulturinstitutionen förderten.38 Dieses wiederbelebte black art movement, dessen Vertreter_innen hauptsächlich der zweiten Generation angehörten und in Großbritannien aufgewachsen waren, beschäftigte sich mit Fragen der Identität und Repräsentation in der britischen Gesellschaft. Sie wurden unterstützt von Wissenschafter_innen der cultural studies, die sich auf Gramsci, das black movement und die feministische Theorie beriefen. Nach Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie39 lassen sich Künstler_innen nicht mehr als Mitglied einer „ethnischen” Minderheit in der Öffentlichkeit definieren, sondern als schwarze Künstler_innen mit ihren je individuellen Geschichten und ästhetischen Herangehensweisen.40 Um die Jahrtausendwende hat das Arts Council schließlich cultural diversity mit „specific reference to ethnicity“ als einen seiner Schwerpunkte festgelegt, u.a. als Reaktion auf die Veröffentlichung des MacPherson-Reports (1999) zum Mord an dem schwarzen britischen Teenager Stephen Lawrence und dessen nur zögerlicher Aufklärung. 41 Wie der Arts Council schreibt, markiert der MacPherson-Report „a sea change in the understanding of the significance of institutional racism“.42 Um dem institutionellem Rassismus zu begegnen, wurden Anti-Dis37 Chin-Tao 2002, 65. Der Begriff Thatcherism wird unter anderem Stuart Hall zugeschrieben, der in einem Artikel für Marxism Today den Terminus in kulturtheoretischem Zusammenhang verwendet. Vgl. Hall 1979. 38 Vgl. Jermyn/Desai 2000, 11f. 39 Gramsci hat im Zusammenhang mit seinem Konzept der (kulturellen) Hegemonie festgestellt, dass jede Person in ihrer „sozialen Klasse“ lebe, auch wenn diese nicht bewusst wahrgenommen werde. Vgl. Martin 1998, 161f. 40 Sharifi 2011b, 219. 41 Nach der Ermordung von Lawrence 1993 kam es zu einem großen Eklat. Bei den Polizeiuntersuchungen wurden zwar fünf Verdächtige verhaftet, aber wegen Mangels an Beweisen zunächst (und teilweise bis heute) nicht verurteilt. Der unter dem Richter William McPherson entstandene Bericht deckt sowohl die rassistische Motivation des Mordes auf wie auch den institutionellen Rassismus bei der Londoner Polizei, deren Vorgehensweise an der schwachen Beweislage Mitschuld war. Erst 2012 wurden zwei der fünf mutmaßlichen Täter zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Vgl. auch news.bbc. co.uk/vote2001/hi/english/main_issues/sections/facts/newsid_1190000/1190971.stm (letzter Zugriff: 01.12.2019). 42 Arts Council: London Arts’ Cultural Diversity Action Plan. London 2001, 11.
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kriminierungs-Maßnahmen in allen öffentlichen Einrichtungen Großbritanniens eingeführt. Der Förderschwerpunkt cultural diversity sollte gegen die Unterrepräsentation „ethnischer Minderheiten“ in der Kunst angehen.43 Ziel war eine signifikante Vergrößerung des Anteils schwarzer Künstler_innen an der Kunstund Kulturszene. Obwohl die Bekämpfung von institutionalisiertem Rassismus in allen Gesellschaftsbereichen inklusive des Theaters sinnvoll erscheint, haben die Maßnahmen – ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren – auch Kritik hervorgerufen, da ein der Plan zur Separation zwischen Künstler_innen aus der Mehrheitsgesellschaft und „ethnischen Minderheiten“ führe. Der sogenannten Decibel Initiative des Arts Council, so die Kritik, sei es nicht gelungen, die bestehende Polarisierung zwischen ethnic arts und mainstream arts aufzuheben. Außerdem würden die Maßnahmen zu keiner Veränderung des nationalen Profils führen, sondern seien vielmehr Alibi-Aktionen:44 „And will showcasing culturally diverse work – as the decibel initiative purports to do – help [...] critic[s] to drop [their] ethnic lens? I very much doubt it.“45 Kritisiert wird auch die inkonsistente Bezeichnung von afrikanischen, afrikanisch-karibischen und asiatischen Gruppen durch das Arts Council. Es wird der Vorwurf erhoben, dass alte imperialistische Begriffe eingesetzt würden, um die Kunst von schwarzen britischen Künstler_innen zu beschreiben, und so rassistische Strukturen fortgeführt würden. Dadurch werde den Künstler_innen ein „ethnischer Stempel“ aufgedrückt, der ihnen weder den Raum noch das Recht überlasse, sich selbst und ihre Kunst zu definieren. Das Arts Council würde weiterhin Ethnizität und Inklusion über die ästhetische Qualität stellen. Um den eurozentristischen Blick auf Kunst aufzuheben brauche es aber vor allem schwarze Kulturpolitiker_innen, die sowohl kulturelle Kompetenz als auch das Wissen über schwarze kulturelle Traditionen mitbringen.46 Schwarze Künstler_innen haben weitreichende Veränderungen in der britischen Theaterlandschaft hervorgerufen, deren Archivierung und Tradierung durch Kulturtheoretiker_innen wie Stuart Hall, aber auch durch die umstrittenen kulturpolitischen Maßnahmen des Arts Councils vorangetrieben werden. Trotzdem haben – wie meine Ausführungen zeigen – die Künstler_innen in Großbritannien ebenso wie in Deutschland mit Stereotypisierung und einer Reduzierung ihrer Arbeit auf die „Ethnie“ zu kämpfen. Diese Konstante, der in beiden Ländern stattfindende Kampf um die Beurteilung und Anerkennung der „migrant43 Vgl. auch web.archive.org/web/20080222125451/www.artscouncil.org.uk/aboutus/ project_detail.php?rid=3&id=79 (letzter Zugriff: 01.12.2019). 44 Vgl. Hylton 2007, 19. 45 Verma 2003, o.S. 46 Vgl. Graves 2003.
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ischen“ Künstler_innen nach ästhetischen Kriterien, ohne die es keine Gleichstellung mit weißen Künstler_innen gibt, lässt sich auch auf die anderen europäischen Länder übertragen. Dagegen arbeitet das im Folgende dargestellte Projekt.
E UROPE NOW ! P OSTMIGRANTISCHES T HEATER IN E UROPA ? In einer vom International Network for Contemporary Arts veröffentlichten Studie zu Multicultural Performing Arts in Europe (2003) wird festgestellt, dass interkulturelles europäisches Theater sich vom politischen und sozialen Engagement in eine eher ästhetisch definierte Richtung entwickelt habe, deren Ziel eine Auseinandersetzung mit sozialen Hindernissen wie kultureller Marginalisierung oder rassistische Diskriminierung bleibe. Neben den nationalen Unterschieden, die es zu berücksichtigen gilt, ist auffallend, dass die aktuelle Entwicklung Gemeinsamkeiten und gemeinsame Wege impliziert. Der wichtigste Aspekt, der dem sozialen und kulturellen Wandel zugrunde liegt, ist die künstlerische Entfaltung der Zweiten Generation, die sich eine eigene Position in der Theaterlandschaft und ihren Diskursen aneignet. 47 Ein 2011 ins Leben gerufenes Projekt, das sich mit dem postmigrantischen Europa auf im oben genannten Sinn ästhetische Weise auseinander setzen wollte, war das Projekt EUROPE NOW.48 Dabei handelte es sich um eine Kollaboration von Theatern, die Interkulturalität auf ihre Agenda gesetzt haben. Autor_innen, Regisseur_innen und Produzent_innen mit einem tiefreichenden, interkulturellen Verständnis wurden zusammen geführt, um im Dialog künstlerisch zu arbeiten. Entwickelt wurden fünf Theaterstücke und Inszenierungen, die in je mindestens zwei Ländern gezeigt wurden. Es sollten neue Geschichten erzählt und ein größeres Publikum erreicht werden sowie eine europäische Mobilität für postmigrantische Theatermacher_innen entstehen . Die fünf beteiligten Theater waren das Riksteatern aus Schweden, Talimhane Tiyatroso aus der Türkei, Theater RAST aus den Niederlanden, Arcola Theatre aus Großbritannien und das Ballhaus Naunynstrasse aus Deutschland. Die beteiligten Künstler_innen waren der Ansicht, dass eine weiße Mittelklassen-Elite das europäische Theater dominiere, die wiederum Künstler_innen und Zuschauer_innen anderer Kulturen oder Klassen ausschließe. In Europa sei
47 Vgl. Bloomfield 2003, 109f. 48 Vgl. auch web.archive.org/web/20131221075927/http://europenowblog.org/ (letzter Zugriff: 17.12.2013).
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jedoch eine kulturelle Diversität vorhanden, die nicht ausreichende Repräsentation finde. Darüber hinaus würden migrantische Künstler_innen – wie auch im vorliegenden Artikel gezeigt wurde – „ethnisiert“, wie Özkan Gölpinar im Blog von EUROPE NOW schreibt: „Diversity in my view should be interpreted beyond the current fetishism for ethnicity.”49 Die Überwindung von rassifizierenden Zuschreibungen sollten durch die Universalität der Geschichten überwunden und die Perspektive der Künstler_innen auf die Gesellschaft sichtbar werden. Darüber hinaus ging es denTheatermacher_innen um die Re-Imagination des europäischen Theaters wie auch einer zukünftigen europäischen Gesellschaft in ihrer Diversität.50 Bei EUROPE NOW haben sich die postmigrantischen Theatermacher_innen ihrer lokalen Verortung bzw. Zuschreibung entzogen und ihre Theaterpraxen in einen transnationalen Kontext gesetzt. Durch die Europäisierung wurde ihre Arbeit zugleich auch internationalisiert. Die Ansätze eines postmigrantischeuropäischen Theaters wurden durch Austausch und gemeinsame Ideenentwicklung vorangetrieben. Das Tournee-Prinzip ermöglicht eine größere Öffentlichkeit und damit Sichtbarkeit im zeitgenössischen europäischen Theater. Das Projekt EUROPE NOW hat einen Anstoß zu Überlegungen zu einer europäischen Perspektive des postmigrantischen Europas und des postmigrantischen Theaters gegeben. Eine europäische Perspektive, in der die strukturellen Ausschlüsse von postmigrantische Künstler_innen, aber auch andere rassifizierte Personen künstlerisch thematisiert werden und die politischen und gesellschaftlichen Diskurse beeinflussen. Ist dies eine Möglichkeit, das europäische Theater im Sinne Chakrabartys zu provinzialisieren? Wie können die Geschichten, Ästhetiken und Formate, denen der Fetisch des Ethnischen aufgedrückt wird und die in der Peripherie existierten, sichtbar gemacht werden? Eine der Künstler_innen des Projektes EUROPE NOW, Özkan Gölpinar aus den Niederlanden, beantwortet die Frage folgendermaßen: Then how should we deal with it? Just look at what we are doing as theatre makers. By taking refuge in a dream, aided by imagination and a bit of poetic exuberance. When the borders of the political reality no longer play a role, the scene of action also changes, irrevocably, and faster than you could believe. Only then does the viewer regain his free-
49 Özkan Gölpinar ist Programmmanagerin für Cultural Diversity der Netherlands Foundation for Visual Arts Architecture and Design, zit. nach europenowblog.org/blog/69 (letzter Zugriff: 17.12.2013). 50 Vgl. Özkan Gölpinar unter: europenowblog.org/blog/69 (letzter Zugriff: 17.12.2013).
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Um Chakrabartys pessimistische Sichtweise auf eine neue Geschichtsschreibung, deren Grenzen bzw. Unmöglichkeit er mitbedenkt, heranzuziehen, muss die Forderung darauf zielen, dass Theater „bereits in der Struktur [seiner] narrativen Formen [seine] eigene[n] repressiven Strategien und Praktiken bewusst sichtbar macht.“52 Es würde dann nicht mehr darum gehen, was das postmigrantische Theater in den Theaterlandschaften der einzelnen Länder oder in Europa an ästhetischen und strukturellen Veränderungen hervorrufen kann, sondern wie theatrale Perspektiven zu Utopien für gesellschaftliche Positionen werden können, die nicht einer realpolitischen Tradierung folgend „Ethnie“, „Rasse“ oder auch „Gender“ als Distinktions- und damit auch Exklusionsmerkmale setzen, sondern sich ihrer ästhetische Mittel bedienen, um weiterzudenken und die Re-Imagination Europas voranzutreiben: „If the future of the intercultural has to be posited in tangible terms, and not just as an empty fantasy, we will have to open ourselves to those realities that resist being imagined easily.”53
L ITERATUR Allmanritter, Vera: Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen: Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite. Berlin: ZAD 2009, online unter www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/zad/ publikationen/studien/index.html (letzter Zugriff: 1.12.2013) Araeen, Rasheed: The Art Britain Really Ignores. Making Myself Visible. London: Kala Press 1984. Bade, Klaus J. u.a. (Hg.): The Encyclopedia of European Migration and Minorities. From the Seventeenth Century to the Present. Cambridge: Cambridge University Press 2011.
51 Özkan Gölpinar, zit. nach: europenowblog.org/blog/69 (letzter Zugriff: 17.12.2013). 52 Chakrabarty 2010, 65. 53 Bharucha 2001, 162.
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Ankommen im Museum, Ankommen in Europa? Migration im musealen Raum K ERSTIN P OEHLS
Innerhalb der EU stehen die Relevanz und Handhabung von Grenzen neu auf dem Spiel, und zwar im Kontext der Schengener Verträge sowie des EU-Grenzund Migrationsregimes.1 Derzeit beobachten wir, wie fragil selbst solche fundamentalen Verträge sind und dass Grenzen keinesfalls unumkehrbar unsichtbar werden: Im Frühjahr 2011 zogen Frankreich und Dänemark Sonderklauseln hinzu, um nationale Grenzkontrollen innerhalb der Schengenzone de facto wieder einzuführen, und zwar angesichts Tausender von Nordafrika in die europäischen Mittelmeerstaaten übersetzender Migrant_innen. Insofern sind auch innereuropäische Grenzen keineswegs im Schwinden begriffen, sie werden vielmehr immer wieder neu ausgehandelt und wirkmächtig gemacht. 2 Die Empörung und kontroverse Debatte, die von den national- und innenpolitisch bedingten Schritten Frankreichs und Dänemarks ausgelöst wurde, aber reflektiert darüber hinaus die Allgegenwart transnationaler Milieus und die komplexen Realitäten grenzüberschreitender Alltage, Strukturen, Institutionen, Bewegungen. Angesichts dieser vielfältigen Verflechtungen ist offensichtlich, dass Nationalstaaten Migrationsprozesse nicht durch den Einsatz von Grenzkontrollen zu verhindern vermögen; auch die EU-Kommission spricht längst von Migrationsmanagement3. Dieses 1
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung von
2
Vgl. Green 2010.
3
ec.europa.eu/home-affairs/policies/immigration/immigration_intro_en.htm (letzter Zu-
Poehls 2011.
griff: 27.03.2013).
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‚Management’ ist nicht mehr auf jene Grenzlinien beschränkt, die in Atlanten und auf Karten die Grenzen repräsentieren – EU-Grenzen bestehen vielmehr aus einer Filterfunktion, die sie innerhalb und außerhalb des EU-Territoriums ausüben.4 Vor diesem komplexen gesellschaftlichen und politischen Hintergrund – und im Kontext national sehr unterschiedlicher Geschichten und Strukturen im Umgang mit Migration – entstehen seit der Jahrtausendwende immer mehr museale Repräsentationen von Migration: 2007 eröffnete mit der Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI) in Paris das erste nationale Migrationsmuseum in Europa. In München beginnen Stadtmuseum und Stadtarchiv, ihre Bestände im Licht transnationaler Verflechtung und vielfältiger Wanderungsbewegungen neu zu betrachten. Das Stadtmuseum in Stuttgart, das Historische Museum in Frankfurt am Main, das Stadtmuseum in Antwerpen: Alle bereiten ihre Bestände derzeit so auf, dass sie zukünftig Auskunft über Migrationsrouten und Fragen der Mobilität geben können. Von London aus laufen Planungen für ein britisches Migrationsmuseum, das seinen Platz ausdrücklich im Mainstream sieht – als eine „high-profile, symbolic, declarative institution that treats immigration not as a difficult or tiresome subject, but as a major event in its own right“ 5. Diese Entwicklungen sind schon jetzt ablesbar und werden seit einigen Jahren angetrieben von einer Vielzahl temporärer und wandernder Ausstellungen. Migrant_innen kommen an in Europa – nicht alle dauerhaft, sondern viele von ihnen in stetigem Transit. Migration ‚kommt‘ allmählich auch ‚an‘ bei Ausstellungskurator_innen und beim Publikum – es hat Konjunktur. Diese „Hausse“ räumlichen Denkens, das auch in musealen Räumen zum Ausdruck kommt, ist „nur vor dem Hintergrund der Globalisierung und Europäisierung sowie der Einsicht in die simultane Existenz multipler Modernitäten adäquat zu begreifen. Verräumlichung“ – und eine solche sind Ausstellungen ja in mehrfacher Hinsicht – „[...] soll augenscheinlich dazu verhelfen, den Dingen ‚ihren Platz‘ zuzuweisen, Modernitäten zu pluralisieren“.6 Aber wie kommt nun Migration an im Museum, einer genuin europäischen und nationalen Erfindung? Während die Nation im Museum die erste ideologische Leitkategorie war und damit der Grenzziehung zwischen „Innen“ und „Außen“ publikumswirksam Vorschub leistete, scheint diese nun zusehends vom Paradigma der Mobilität abgelöst zu werden. Linien, im musealen Raum gezo-
4 5
Vgl. Fischer-Lescano/Tohidipur 2007 u. Laube 2010. www.migrationmuseum.org/wp-content/uploads/2011/04/Migration-Museum-Propos al.pdf (letzter Zugriff: 14.06.2011).
6
Geppert u.a. 2005, 17.
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gen und abgebildet, verweisen damit nicht länger auf nationalstaatliche Grenzlinien – stattdessen handelt es sich immer öfter um Linien, die Migrationsrouten nachvollziehbar machen und epochenübergreifende Kontinuitäten der Mobilität aufzeigen sollen. Das Museum selbst scheint zum Transitmigranten zu werden. Um genau diese bemerkenswerte Liaison geht es hier: Das Museum, eine klassische Institution des Hin- und Stillstellens, des Eingrenzens und Abgrenzens – des Klassifizierens mithin – geht eine Verbindung mit dem Diskurs über Mobilitäten und Migration ein. Dadurch werden eben jene Ein- und Abgrenzungen fragwürdig. Migrationsausstellungen, fordern das Museum heraus, seine Spielregeln zu ändern – oder gleich ein ganz anderes Spiel zu spielen. Nun gibt es diverse Formen von Migrationsausstellungen, implizite und explizite. Ich nehme in meinem Beitrag ganz bewusst scheinbar abseitige Migrationsausstellungen – auf der griechischen Insel Lesbos – und deren Umfeld in den Blick. Denn genau so wie es stimmt, dass man aus jeder musealen Sammlung, ja aus jedem einzelnen Objekt Geschichten der Migration generieren könnte, so lässt sich gerade an den nicht ganz so expliziten Beispielen herausarbeiten, wie Migration im Museum ‚ankommt‘.
D IE ANDERE KÜSTE ZUM G REIFEN NAH ? Hoch auf ihrem Sockel reckt sie den rechten Arm gen Sonnenaufgang. Der Wind zerrt an ihren Haaren, das Gewand wird von der Meeresbrise gebauscht und entblößt die Füße, mit denen sie den Ankommenden entgegen zu schreiten scheint. Sie, das ist die Freiheitsstatue von Mytilini. In ihrer Faust brennt eine Fackel – all jenen, die an Küsten und in Häfen weiter östlich an Bord gingen, will sie so den Kurs in den Freiheit und Sicherheit verheißenden Stadthafen in ihrem Rücken erleichtern.7 Bei guter Sicht zeichnen sich die Landmassen jenseits des Meeres scharf ab, die Siedlungen am gegenüberliegenden Ufer scheinen zum Greifen nah. Das passt nicht ins Bild, wie auch einiges andere nicht passt: Diese in Metall gegossene Verkörperung der Freiheit lässt den Strahlenkranz der berühmten New Yorker Schwester vermissen, zu ihren Füßen begrüßt kein Sonett die „geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,͒den elenden Unrat eurer gedrängten 7
Einer anderen Deutung zufolge, die mir in Gesprächen vor Ort begegnete, streckt die Statue ihre Hand den mit dem Vertrag von Lausanne (1923) an die Türkei gefallenen Gebieten entgegen, die nun „unfrei“ waren – abermals ein Verweis auf einen Raumbezug und „Verräumlichung“.
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Küsten“ und genau so wenig „die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen“. Stattdessen verzeichnet eine marmorne Tafel auf dem Sockel die Namen von Gefallenen der Jahre 1940 und 1941. Weiter unten befindet sich auch nicht der Fähranleger zum Prototypen aller Migrations- und Immigrationsmuseen auf Ellis Island.8 Vielmehr erwarten eine allmählich vor sich hin rostende Dusche und eine etwas windschiefe blaue Umkleidekabine die Badegäste (Abb. 1).
Abb. 1: Freiheitsstatue in Mytilini. Wir befinden uns nicht in der Anfahrt auf Manhattan, sondern in Mytilini. In dem urbanen Zentrum der Insel Lesbos in der griechischen Nordägäis machten Tausende und machen immer noch einige Migrant_innen auf ihrem langen Weg in die Europäische Union Station. Im Sichtfeld der 1930 errichteten Freiheitsstatue wird eine erhebliche Anzahl von Menschen schon auf dem Wasser von den patrouillierenden Schnellbooten der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX aufbzw. abgefangen.9 Oberhalb der Hafenmole, in Metall gegossen, ist die Freiheitsstatue als mehrdeutige Repräsentation von Migration für Tourist_innen und Migrant_innen, Fährbesatzung und Inselbewohner_innen gleichermaßen präsent. Wenn Migrant_innen heute auf dieser drittgrößten griechischen Insel ihren Fuß
8
Vgl. Baur 2009.
9
Vgl. Fischer-Lescano/Tohidipur 2007 u. Laube 2010.
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an Land setzen,10 ist die Erinnerung an Migration als individuellem Handeln im Raum, als gesellschaftlichem und politischem Phänomen also immer schon da. Migration ist vor Ort zunächst einmal in Familiengeschichten allgegenwärtig – einerseits in den Erzählungen über den Bevölkerungsaustausch von 1922, der über eine Million Griech_innen aus dem dann türkischen Kleinasien nach Westen zwang und zugleich rund 400.000 Türk_innen aus ihrer nun griechischen Heimat vertrieb.11 Das war auch der Anlass für die Errichtung der Statue. Näher an der Gegenwart liegen die Erzählungen von Gastarbeiter_innen, die aus Deutschland wieder nach Griechenland heimgekehrt sind. Oder die Erfahrungen derer, die als Kinder der griechischen Diaspora aus Kanada oder nach dem Ingenieursstudium aus Großbritannien zurückkehrten. Im Alltag bilden diese Erinnerungen die immer wieder zutage tretenden Seitenstränge in Gesprächen über heutige Migration – wenn es um die Frage geht, wie man hier aus Afghanistan, Marokko oder Bulgarien ankommt, wie man bleiben kann und wie man weiter kommt in andere europäische Länder. Migration als Phänomen von sozialer Prägekraft hat sich hier seit einigen Jahren auch in musealen Erzählungen, in oder neben den Vitrinen Platz verschafft.
D AS M USEUM VON S KÁLA L OUTRÓN Im Jahr 2006 eröffnete in der kleinen Hafensiedlung Skála Loutrón ein Museum, das an die Geschichte des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches erinnert. Das „Museum zur Erinnerung an die Flucht aus Kleinasien von 1922“ (Μουσείο Προσφυγικής Μνημής 1922) versteht sich einerseits als Ort der – durchaus auch sentimentalen – Erinnerung an die Anfänge des Dorfes, folgt aber in seiner systematischen Dokumentation der Objekte auch dem Anspruch, die Sozial- und Alltagsgeschichte von Griech_innen in Kleinasien und deren unfreiwillige Migration nach Westen einzuordnen. In den Vitrinen zeigen opulente, filigran verarbeitete Kleider, wie man in bürgerlichen Kreisen des großteils griechischsprachigen12 Smyrna um 1900 der allerneuesten Pariser Mode folgte. Handgemalte, wandfüllende Karten veranschaulichen die Vielzahl griechischer
10 Vgl. Lauth Bacas 2010. 11 Vgl. Clogg 1992, 47 u. 112f. 12 Es ist strittig, ob die Bevölkerung Smyrnas/Izmirs zur vorletzten Jahrhundertwende nun überwiegend griechisch oder türkisch sprach. In jedem Falle lebten dort (und auch in Istanbul, dem damaligen Konstantinopel) mehr Griechen als in der Hauptstadt Athen. Vgl. Clogg 1992, 94.
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communities von der türkischen Ägäis über Anatolien bis zum Pontus am Schwarzen Meer, Dokumente in arabischen Schriftzeichen wurden von den ehemaligen Nachbarn in der heutigen Türkei überreicht. Das kleine Museum in Skála Loutrón vervielfältigt die aus Objekten in den Vitrinen ablesbaren Lebenswege der 1922 geflohenen Griech_innen. Es will zwei Dimensionen verbinden – die emotional aufgeladene Erinnerung an Migration und die gesellschaftliche und sozialstrukturelle Bedeutung von Migration. Zwei Vitrinen wecken besondere Aufmerksamkeit. Sie korrespondieren still miteinander: Die eine präsentiert silberne Ohrringe, ein kleines Kännchen, einige Löffel, alles, wie betont wird, von ganz unerheblichem materiellem Wert. Die Vitrine zeigt, wie ein urbaner, bürgerlicher Lebensstil mittels Salz- und Pfefferstreuern in eine winzige, ärmliche Hafensiedlung mitgebracht wurde. Einige Schritte weiter sind in einer Wandvitrine Briefe in arabischen Schriftzeichen, ein Umhang und offizielle Dokumente aufgebaut, die auf „die andere Seite“ verweisen – bis heute, das sagt die Vitrine aus, besteht eine Verbundenheit mit dem ottomanisch-türkischen ehemaligen Zuhause. Diese Verbundenheit wird auch von den Nachkommen des jeweiligen Flüchtlings am Leben gehalten. Die türkische Festlandküste steht zudem auf andere Weise in Verbindung zu den östlichsten griechischen Inseln, denn heute setzen von dort Migrant_innen an zu dem entscheidenden Schritt über die EU-Außengrenze, bewegen sich auf ihrer Transitroute über die Inseln auf das Ziel – Athen, EU, Westen – zu oder durchqueren die Region auf dem Weg über das Evros-Delta, wo die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland verläuft. Das Arrangement der Dinge hat suggestives Potential, 13 es operiert in Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen, denn auch heute gibt es enge Beziehungen zur türkischen Küstenregion, die ebenso kompliziert wie dauerhaft sind. Hier wird also nichts weniger als die Existenz eines verbindenden sozialen Raumes an diversen geographischen Orten vor Augen geführt, der umkämpfte und mehrfach neu gezogene Nationalgrenzen zumindest teilweise überdauert. Die Ausstellung macht einerseits deutlich, dass die Migration von 1922 den absoluten Ausnahmezustand und jene „Katastrophe“ bedeutete, als die sie auch heute noch häufig bezeichnet wird, dass andererseits jedoch der soziale und kulturelle Kosmos der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Griechen schon vorher weit über die lokalen Gegebenheiten hinausreichte. Vor diesem Hintergrund erscheint das heutige Grenzregime der EU, verkörpert durch die grauen FRONTEX-Patrouillenboote im Hafen von Mytilini, wie ein bizarrer Versuch, die Vorstellung von „Grenze“ als Linie zu beschwören.
13 Vgl. dazu Korff 2006.
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Schon das Gewirr an alltäglichen Verbindungen und die sichtbaren historischen Kontinuitäten – erkennbar hier im Museum und an den täglichen Fährverbindungen ans andere Ufer gleichermaßen – entlarvt dies als Illusion. 14
T RACES FROM L ESVOS Dass Ausstellungen nicht notwendig der umgebenden Mauern eines Museums bedürfen, zeigt ein Beispiel, das mit Fotografien arbeitet und die individuellen Pläne und Träume heutiger Migrant_innen ins Zentrum rückt. Protagonisten sind hier minderjährige Migranten, die in einem ehemaligen Sanatorium für Lungenkranke oberhalb des Bergdorfes Agiásos leben, wohin sich die Straße von Mytilini aus in Richtung Olymp schlängelt. Bei einer Kulturveranstaltung anlässlich der erneut bewilligten Gelder für den Unterhalt dieser Unterkunft, in der unbegleitet nach Griechenland einreisende Kinder und überwiegend männliche Jugendliche leben, verwandelt sich die alltägliche Wanddekoration in eine namenlose kleine Ausstellung: Verstreut zwischen selbst gemalten Bildern und allmählich vergilbenden Werbeplakaten, die Griechenland als Urlaubsdestination anpreisen, sind rund zwei Dutzend Bewohner dieses Heims abgebildet, wie sie eine beschriftete Tafel vor sich in die Kamera halten. Dieser ist auf Griechisch, Englisch oder Arabisch zu entnehmen, welche Berufswünsche die Jugendlichen haben: Arzt, Automechaniker, Musiker oder Regisseur, Elektriker oder Bodybuilder. Was im Alltag die Wände des sonst recht schmucklosen Gebäudes etwas weniger kahl erscheinen lässt, wird für die Zeit der Veranstaltung und für das teils studentische, teils ältere und bürgerliche Publikum zu einer Foto-Ausstellung, die mit der Ästhetik polizeilicher Ermittlungsfotografien spielt. Das im europäischen Diskurs nach wie vor präsente Bild von Einwanderern, deren Bezeichnung als „Illegale“ sie allein schon in einen sozialen Raum am Rande der Gesellschaft oder darüber hinaus rückt, wird hier ironisch gebrochen. Die kleine Wanderausstellung Traces from Lesvos through Europe hatte letztes Jahr vor dem ehemaligen Gefängnis in Paganí ihren Auftakt (Abb. 2).15
14 Sarah Green stellt am Beispiel der östlichen Ägäis Überlegungen zur Fragilität von Grenzkonzepten – und folglich von Grenzen – an, um daraus ein theoretisches Verständnis von Grenzen als performativem Akt zu entwickeln, dem „performing of borderness“. Vgl. Green 2010. 15 Vgl. die Dokumentation unter w2eu.net/2010/09/13/pagani-last-good-bye (letzter Zugriff: 01.12.2019). Dort wurden bis vor einiger Zeit Migrant_innen untergebracht,
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Abb. 2: Traces from Lesvos. Man darf sich sowohl die Allgemeinheit als auch die auf den Bildern Abgelichteten selbst als Zielpublikum vorstellen – für die einen konterkariert es die Bilderflut von den in kleinen Plastikbooten strandenden Migrant_innen, die unter so prekären Bedingungen leben, dass Träume keinen Platz zu haben scheinen. Die Protagonisten selbst können die ausgestellten Bilder an die Existenzberechtigung und Notwendigkeit dieser Träume erinnern, die im Alltag und angesichts einer ungewissen Zukunft womöglich verblassen. Die Fotos vom Alltag auf engstem Raum machen deutlich, dass die Ankunft auf griechischem und damit EU-Territorium für die Abgebildeten und Befragten nur einen Schritt auf der Suche nach einem besseren Leben bedeutet – und dass die Praktiken des Europäischen Grenzregimes, die ja nichts anderes als der Versuch sind, die EU als Raum festzuschreiben, dieser Suchbewegung keineswegs ein Ende zu bereiten vermögen. Wenn Migration hier im Format der Ausstellung ‚ankommt‘, ist der Effekt ein doppelter: Zum einen vermögen die Fotografien, das Massenphänomen gegenwärtiger Migration zu personalisieren und setzen so einen Kontrapunkt zur medialen Berichterstattung: Auch in den griechischen die sich nach ihrer Ankunft auf Lesbos der Polizei gestellt und damit ihrerseits den ersten Schritt im Prozedere nach der Dublin-II-Verordnung getan hatten. Diese aus unterschiedlichen Richtungen in der Kritik stehende Verordnung regelt, in welchem EU-Mitgliedsstaat Migrant_innen einen Asylantrag stellen können und bildet einen Grundpfeiler
der
EU-Asylpolitik.
Vgl.
den
Wortlaut
der
Verordnung:
www.unhcr.de/fileadmin/unhcr_data/pdfs/rechtsinformationen/476.pdf (letzter griff: 24.03.2011).
Zu-
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Medien machen die abgedruckten und über den Bildschirm flimmernden Zahlen und Bilder mit Menschenaufläufen individuelle Migrationsmotive unkenntlich. Zweitens veranschaulichen die Interviewaussagen und Fotografien aber auch die persönlichen Ziele, die viele Migrant_innen einen und die nur vor dem globalen Wohlstandsgefälle, geopolitischen Entwicklungen und Spannungen verständlich werden. Walter Benjamin bezeichnete Ausstellungen als die „vorgeschobensten Posten auf dem Terrain der Veranschaulichungsmethoden“16 – genau dies sehen wir hier in zugespitzter Form. Den Macher_innen in der von Paganí aus durch Europa wandernden Ausstellung geht es aber natürlich nicht um Musealisierung als solche. Vielmehr bedienen sie sich der bürgerlichen Repräsentationspraxis, für die Ausstellungen immer noch stehen. In diesem Raum ist der Diskurs um Migration einem Publikum zugänglich, dem die Initiativen politischer Aktivist_innen „extrem“ vorkommen mögen oder das die Details des EU-Migrationsregimes nicht kennt. Dieser kulturelle Raum scheint nach wie vor mit einem Versprechen von Objektivität verbunden zu sein – er ist umgeben von einer Aura der Nüchternheit, im Unterschied zu einer Demonstration, einer hitzigen Fernsehdebatte oder einem bissigen Zeitungskommentar. Das Genre „Ausstellung“ ist hier auch pädagogisches Medium, dessen physische Begehbarkeit es von anderen abhebt. Es bündelt Phänomene, die sonst ungleich schwerer zu überblicken sind, in einem Raum, der für „geordnete Verhältnisse“ steht. Natürlich gaben ganz andere Ideen den Anstoß für die Fotoausstellung – sie ist explizit und bewusst parteiisch und macht aus den politischen Zielen der Organisator_innen keinen Hehl: Für sie ist die Grenze „das Problem“. Zugleich und ohne dies zu intendieren, beeinflussen sie indes, wie Migration auch im Museum „ankommt“, wie sie verhandelt und „verräumlicht“ werden kann – gerade weil die Fotografien auf ein Neues vor Augen führen, dass Objektivität eine Illusion bleibt.
D AS M USEUM Á GIA P ARASKEVÍ Das in diesem Beitrag zuerst behandelte Museum von Skála Loutron steht dafür, wie die Ankunft von Migration im Museum die Geschlossenheit sozialer Räume unterminiert. Das Beispiel Paganí zeigt, wie Migration mit seiner Ankunft im Ausstellungsgenre den universalen Anspruch musealen Zeigens hinfällig macht. Aus einer ganz anderen Richtung kommt Migration in dem finanziell wohl am
16 Benjamin 1980, 527.
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besten ausgestatteten Museum der Insel Lesbos an: In Ágia Paraskeví wurde im Jahr 2004, finanziert unter anderem von der Europäischen Union und unterhalten von der Kulturstiftung der Piräus Bank Gruppe, das Museum für industrielle Olivenöl-Produktion (Μουσείο Βιομηχανικής Ελαιοργίας Λέσβου ) eröffnet (Abb.3).
Abb. 3: Agia Paraskevi Das zentrale Thema des Museums sind die sozialen und technischen Rahmenbedingungen, unter denen Olivenöl seit dem späten 19. Jahrhundert auf Lesbos hergestellt wurde. Das Museum befindet sich in einer ehemaligen Ölmühle, und ein Ausstellungskapitel verdeutlicht, wie deren Entstehung maßgeblich von Migrationsbewegungen beeinflusst wurde. Denn initiiert wurde die genossenschaftlich organisierte Ölmühle zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Handvoll aus dem Ausland zurückkehrender Bürger, die vornehmlich zu den Gutsituierten der Dorfbevölkerung zählten. Sie einte das Interesse am Kommunitarismus, mit dem sie während ihres Studiums in England und den Vereinigten Staaten in Berührung gekommen waren. Die Entstehung der kommunalen Ölmühle in Ágia Paraskeví zeugt von der räumlichen Bewegung dieser politischen Idee und ihrer lokalen Umsetzung. Bei der Finanzierung des Baus waren wiederum die transnationalen Netzwerke der örtlichen Familien unabdingbar, Zuschüsse trafen unter anderem aus Khartoum und Konstantinopel, aus London, Paris und Boston ein.
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Auch die maschinell betriebenen Pressen aus englischer Fertigung, angeliefert aus Smyrna, zeugen von Mobilität. En passant werden hier die Alltäglichkeit von Mobilität und Migration, aber auch die Notwendigkeit dieser ständigen Bewegung von Menschen, Wissen und Waren für gesellschaftliche Veränderungen und ökonomisches Wachstum thematisiert. Die Olive gilt heute nicht nur in den Tourismusbroschüren als das genuin lokale Produkt – doch gerade sie ist aufs Engste mit den politischen und technischen Entwicklungen an weit entfernten Orten verbunden. Die Verbindungen schufen griechische Migranten durch ihre Xeneteia17 und den mehrere Kontinente umspannende Wissenstransfer, welchen sie so etablierten. Die in den Ausstellungsräumen platzierten Objekte verweisen auf einen ungleich größeren sozialen Raum.
ANGEKOMMEN UM ZU
BLEIBEN ?
Die drei Ausstellungen befinden sich außerhalb des Sichtfeldes der Freiheitsstatue von Mytilini – diese lässt aber all jene nicht aus dem Blick, die gerade unterwegs sind nach Lesbos und in die Europäische Union. Sie, die Migrantinnen und Migranten der Gegenwart, sind es auch, die durch ihre prekäre Allgegenwart im Inselalltag, im medialen und im politischen Diskurs überhaupt erst die Verbindungen zwischen den Ausstellungen – zwischen kleinen silbernen Löffeln auf Samtkissen, Fotografien von Jugendlichen mit ihren Lebensträumen und tonnenschweren Olivenölpressen – hervorkehren. Die musealen Erzählungen zeugen davon, dass die Migrationsrouten, welche den Repräsentationen zugrunde liegen, zunächst einem impliziten Versprechen von Museen entgegenzukommen scheinen: Die große Welt soll im Kleinen abgebildet werden. Doch das Detail in der Vitrine verlangt dann wieder nach einer Verbindung nach Draußen, in die Welt in Originalgröße. Migrationsrouten sind genau diese Verbindungslinien durch den Raum, manchmal verworren, oft unsichtbar. Sie durchziehen die musealen Räume, verweisen auf „Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit“18. Die Ankunft von Migration im Museum bedeutet vor allem dies: 1. Vom „Ablagern“ der Dinge, durch die sie erst zu musealen Objekten würden, kann im Kontext von Migration keine Rede sein. Migration widersetzt sich
17 Xeniteia: „sojourning in foreign parts, [which] has long been a fundamental part of the historical experience of the Greek people” (Clogg 1992, 112). 18 De Certeau 1980, 218.
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der traditionellen musealen Abfolge von „dissociation, classification, storage, acquisition of meaning“19 – die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas sorgt vielmehr dafür, dass Migrationsprozesse der Vergangenheit fortwährend „assoziiert“, neu „klassifiziert“ und in ihrer sozialen Tragweite sichtbar werden. Wenn Migration also ‚ankommt‘, unterwandert das Thema die taxonomische Ordnung, welche Museen etabliert haben und die Sammlungssystematiken nach wie vor dominiert: Dinge und Phänomene geographisch zu verorten, sie Regionen und Zeiträumen zuzuordnen. 2. Museale Darstellungsformen und Erzählweisen bringen die soziale Wirkmacht von Mobilität vor Ort ans Licht die eigentliche Bewegung der Menschen, Dinge oder Ideen selbst und deren longue durée sind in einer Museumsvitrine, diesem gläsernen Gerät zum Hin- und Stillstellen, schlechterdings nicht abbildbar. Während das Museum also stets „verräumlicht“, um die Gegenstände seines Interesse zu verorten oder einzugrenzen, „verräumlicht“ auch Migration – allerdings mit dem Effekt, dass Grenzen verwischen, soziale Räume ungleich größer und damit auch diffuser werden, und dass die Bedeutung eines Ortes erst in Abhängigkeit von anderen Orten verständlich wird. Damit fördern sie – gewollt oder nicht – auch die Position zutage, von der aus museal erzählt wird. Migration kommt also an. Das geschieht sehr allmählich und in einer für kritische Beobachter_innen und Akteur_innen weiter viel zu geringen Geschwindigkeit – vor allem aber ruft die implizite Kritik an bisherigen musealen Arbeitsweisen ein Beharren auf den Sammlungsbeständen und ihrer Aussagekraft hervor. Dennoch: Drei Beispiele aus Griechenland, das derzeit durchweg anderweitig in den Medien präsent ist, zeigen, durch welche Impulse das Museum sich allmählich in Bewegung setzt – womöglich auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis.
19 Lidchi 2006, 98.
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L ITERATUR Baur, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation. Bielefeld: transcript 2009. Benjamin, Walter: „Jahrmarkt des Essens.“ In: Ders.: Gesammelte Schriften. 11. Band. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 527-532. Clogg, Richard: A Concise History of Greece. Cambridge: Cambridge University Press 1992. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1980. Fischer-Lescano, Andreas/Tohidipur, Timo: „Europäisches Grenzkontrollregime. Rechtsrahmen der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX.“ In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 67 (2007), 1219-1276. Geppert, Alexander C.T u.a.: „Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930.“ In: Dies. (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2005, 15-49. Green, Sarah: „Performing Border in the Aegean. On relocating political, economic and social relations.” In: Journal of Cultural Economy 3:2 (2010), 261-278. Korff, Gottfried: „13 Anmerkungen zur aktuellen Situation des Museums.“ In: Tschofen, Bernhard u.a. (Hg.): Museumsdinge: deponieren – exponieren. 2. Aufl., Köln: Böhlau 2006, IX-XXIV. Laube, Lena: „Wohin mit der Grenze? Die räumliche Flexibilisierung von Grenzkontrolle in vergleichender Perspektive.“ In: TranState Working Papers 112 (2010). Online unter: www.smau.gsss.uni-bremen.de/index.php ?id=laube (letzter Zugriff: 6.5.2011). Lauth Bacas, Jutta : „No Safe Haven: The Reception of Irregular Boat Migrants in Greece.” In: Ethnologia Balkanica 14:2 (2010), 147-168. Lidchi, Henrietta: „Culture and Constraints: Further Thoughts on Ethnography and Exhibiting.” In: International Journal of Heritage Studies 12:1 (2006), 93-114. Poehls, Kerstin: „Ankommen. Wie Migration in der nordöstlichen Ägäis verräumlicht wird.“ in: Bose, Friedrich von u.a. (Hg.): Museumx. Zur Neuvrmessung eines mehrdimensionalen Raumes. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge 57 (2011), 77-86.
Europa als Grenze Flüchtlingspolitik beim Zentrum für Politische Schönheit A NIKA M ARSCHALL
V ORSPIEL : E NTWENDUNG
DER
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Acht weiße, von Rost angegriffene, stählerne Kreuze sind in Brusthöhe an ein Geländer gegenüber des Kanzleramts am Ufer der Spree montiert. Auf ihnen stehen zum Gedenken die Namen und Todesdaten von Opfern, die beim Versuch der Flucht in die BRD an der ehemaligen innerdeutschen Grenze ums Leben gekommen sind. Zeitgleich zu den Vorbereitungen und Presseberichten für den 25.Jahrestag des Falls ebenjener Berliner Mauer, veröffentlicht das in Berlin sesshafte Zentrum für Politische Schönheit Fotos von dieser Gedenkstätte Weiße Kreuze (Berliner Bürger-Verein). Die Fotos, die die Gruppe im Internet auf social media zirkuliert, zeigen Vorher- und Nachher-Aufnahmen, wobei die Nachher-Aufnahmen transparente Lücken an der Stelle enthüllt, wo vorher die weißen Kreuze montiert waren. An ihrer Stelle kleben kleine, gelbe Post-ItNotes, auf denen mit dunklem Filzstift u.a. „Es wird nicht gedacht“ steht, sowie der Name Toumani Samake. Dass hier nicht gedacht würde, meint wohl nicht nur das Gedenken an die Mauertoten, sondern ebenso das Reflektieren über zeitgenössisches politisches Geschehen. Zur Erklärung der Bilder veröffentlicht das Zentrum für Politische Schöneinheit eine Meldung, die die Kreuze personifiziert und als eigenständig handelnde Akteure inszeniert. Sie melden, [d]ie Installation Weiße Kreuze ergriff vor den Gedenkfeiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls kollektiv die Flucht aus dem Regierungsviertel in Berlin. Die Mauertoten flüchteten in einem Akt der Solidarität zu ihren Brüdern und Schwestern über die Außengrenzen der
212 | A NIKA M ARSCHALL Europäischen Union, genauer: zu den zukünftigen Mauertoten. 30.000 Tote forderten die EU Außenmauern seit dem Fall des Eisernen Vorhangs.1
Die KünstlerInnen sprechen hierin sozusagen stellvertretend für die Kreuze und begründen deren „Flucht“, sie verschleiern dabei spielerisch ihre eigene künstlerischen Handlungsmacht. Laut ihnen, haben es die Kreuze darauf abgesehen, gegen die absurden Feierlichkeiten des Mauerfalls zu protestieren, die auf anachronistische Weise das zeitgenössische Sterben und Flüchten von Menschen an der Europäischen Außengrenze zeitweise vergessen machen sollen. Die Mauerkreuze gewinnen hier öffentliche Aufmerksamkeit und wieder eine symbolische Bedeutung im Prozess des Gedenkens, die laut dem Zentrum für Politischen Schönheit scheinbar in den Jahren zuvor vergessen oder ignoriert wurde. Politisch verbinden sie mit dieser Inszenierung die deutsche Geschichte der Teilung und die Opfer der militärischen Sicherung der DDR-Grenze, mit zeitgenössischer europäischer Migrationspolitik. Ethisch verbinden sie mit dieser Inszenierung die Frage nach historischer Verantwortlichkeit, der Frage nach aktivistischen Mitteln zum Zweck, sowie nach emotionaler Distanz zu den Menschen, die bei dem Fluchtversuch an europäischen Außengrenzen sterben. Das Zentrum für Politische Schönheit veröffentlichte neben Bildern der deinstallierten Mauerkreuze, auch Fotos von Menschen, die laut Bildunterschrift in Marokko auf einen günstigen Moment warten, über die spanische Grenze nach Europa zu fliehen.2 Auf den Fotos halten sie vermeintlich dieselben Kreuze in die Kamera, die von Berlin zu ihnen geflohen sind. Zwar ist die hintergründige Präsenz der Künstler eindeutig; diejenigen, die die Kreuze entwendet und Kopien erstellt haben, die Fotos inszeniert und sie über ihre Netzwerke und Distributionskanäle veröffentlicht haben. Jedoch entsteht über die Personifizierung der Mauerkreuze eine symbolische und materiell-dingliche Verbindung zwischen den Flüchtlingen an der Außengrenze Europas und den getöteten DDRFlüchtlingen. Die Mauerkreuze in den Händen der Menschen an der spanischmarokkanischen Grenze steht auch für die politische Verbindung zwischen ihnen und denjenigen Repräsentant_Innen mit Handlungsmacht über die deutscheuropäischen Einwanderungsgesetze. Die Menschen auf den Fotos werden vom Zentrum für Politische Schönheit fatalistisch als zukünftige „Mauertote“ benannt, als lebende Tote.3 Performativ erzeugt diese Bezeichnung eine imaginäre, aber wenig pragmatische Allianz 1 2 3
Zentrum für Politische Schönheit(ZPS), https://politicalbeauty.de/mauerfall.html, (letzter Zugriff: 01.12.2019). Vgl. Annuß 2014, 8. ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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zwischen Menschen auf der Flucht nach Europa heute und den seit 25 Jahren toten DDR-Flüchtlingen. Strategisch emotionalisiert das Zentrum für politische Schönheit diese Verknüpfung und stiftet womöglich gerade diejenigen zu anderem Handeln und Ge-Denken an, deren persönliche Geschichte mit der innerdeutschen verknüpft ist. Die Provokation, die Flüchtlinge als zukünftige Mauertote zu bezeichnen, erzeugt zwar eine wichtige Sprachgewalt innerhalb des “daily spectacle of refugees in motion”4, aber ignoriert deren Lebenswirklichkeiten, Beweggründe und notwendige Dringlichkeiten, ihr Leben auf der Flucht zu riskieren. In gewisser Weise funktioniert diese fatalistische Provokation entpersonifizierend; sie befeuert ein öffentliches, stigmatisierendes Nicht-Wissen rund um die bedeutsamen Differenzen zwischen den Flüchtlingen selbst und ihren Geschichten, sowie den systemischen, politischen, sozialen, ökonomischen Gründen für ihre Flucht. Die Entwendung der Weißen Kreuze erzeugt eine theatrale Öffentlichkeit, in der sowohl über Flüchtlings- und Erinnerungspolitik, als auch die künstlerische Freiheit und Legitimation der Aktion als künstlerischer Eingriff in die Wirklichkeit diskutiert wird. Sie schafft in jedem Fall mediale Aufmerksamkeit und inszeniert die Frage nach politischer Verantwortung als zivile Handlungsbereitschaft affektiv. Diese Inszenierung der Weißen Kreuze markiert den Auftakt des Zentrums für Politische Schönheit in die militärische „Sicherung“ der europäischen Außengrenzen zu intervenieren.
AUFTAKT : E RSTER E UROPÄISCHER M AUERFALL Die öffentliche Aufmerksamkeit rund um den „Diebstahl“5 der Mauerkreuze durch das Zentrum für Politische Schönheit ermöglicht erst ein diskursives Spielfeld, auf dem die Künstlergruppe ihr Hauptstück ankündigen, den Ersten Europäischen Mauerfall (Abb. 1). Die Ankündigung erfolgt auf social media und durch Pressemitteilung und enthält einen Link zu ihrer Crowdfunding-Plattform, auf der sie ihr Vorhaben veröffentlichen: am 07.11.2014 eine Reise von Berlin bis an die bulgarisch-türkische Grenze anzutreten, und vor Ort gemeinsam mit ihrem mitgereisten Publikum den zwei Monate zuvor erbauten Maschendrahtzaun zur Sicherung der europäischen Außengrenze einzureißen.6
4 5 6
McIvor/King 2015. Vgl. Graf 2014; Kaul 2014. Vgl. ZPS, https://www.indiegogo.com/projects/erster-europaischer-mauerfall#/ (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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Abb. 1:„Vor dem Maxim-Gorki-Theater nehmen Teilnehmer_Innen des Ersten Europäischen Mauerfalls Platz in den Bussen, die sie an die europäische Außengrenze fahren soll.“ © Ruben Neugebauer 2014. Dieses Kapitel analysiert die Inszenierungsstrategien der Intervention Erster Europäischer Mauerfall. Im Folgenden untersuche ich ihre Rhetorik, inszenierten Bilder, und Dramaturgie, und frage nach ihrem Potential, einen Paradigmenwechsel innerhalb des Diskurses um Migrationsbewegungen anzustoßen. Dabei steht im analytischen Vordergrund, inwiefern das Zentrum für Politische Schönheit ästhetische, politische und geographische Grenzen überschreitet und markiert, und sich dabei jenseits des institutionellen Theaterbetriebs positioniere. Auf welche Art und Weise verhandeln die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit die Idee von politisch wirkmächtigen Akteuren auf europäischer und/oder internationaler Ebene? Inwiefern ermöglichen ihre Inszenierungsstrategien eine Erweiterung, Zuspitzung oder Verschiebung des öffentlichen Diskurses um Flüchtlingspolitik und welche Rolle spielt darin die Institution Theater? Deutlich wird die performative Macht von Sprache und linguistischen Kategorien bereits in der Kapiteleinleitung. Innerhalb der Analyse, bringe ich die ästhetischen Kategorien Performance, Aktion und Intervention in ein produktives Spannungsverhältnis, je nachdem welche Perspektive auf die Inszenierungsstrategien ich in den Fokus rücke. Alle drei Begriffe stehen sich theaterhistorisch, definitorisch nahe und weisen Überschneidungen auf. Dennoch ziele ich in der
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vorliegenden Betrachtung beim Verwenden des Begriffs Performance auf das ephemere, situationsorientierte und körperbasierte Spannungsverhältnis zwischen Akteur_Innen und Zuschauenden. Hingegen verwende ich den Begriff Aktion im Bezug auf kunsthistorische Beziehungen zwischen Theater, öffentlichem Raum und Kritik institutionalisierter Kunstpraxis. Der Begriff Intervention, den ich bisher im Text verwendet habe, macht das „inter“ der Sphären von Politik und Kunst transparent, sowie die Art und Weise, wie sie aufeinander einwirken.7 Intervention ist ein politisch und juristisch nicht festgelegter, im Völkerrecht umstrittener Begriff, und hier das Kompromittieren national-staatlicher Angelegenheiten durch Außenstehende bedeutet. In Bezug auf das Zentrum für Politische Schönheit und als ästhetische Kategorie, verwende ich Intervention, um in den Fokus zu rücken, wie sie einen politischen Konflikt dramaturgisch öffnen, bebildern und dadurch strategisch neu framen. Die Intervention Erster Europäischer Mauerfall vollzieht eine politische Grenzüberschreitung zwischen institutionellen Räumen und öffentlichem Raum. Matthias Warstat erklärt, inwiefern der Interventionsbegriffs mit seinen Wurzeln im therapeutisch-psychologischen Bereich, das Moment einer Krise mit einschließt, und in diesem Anwendungsbereich theatrale Methoden und Vorgänge gänzlich hinter dem übergeordneten therapeutischen Sinne als zweckdienlich und nicht ästhetisch konzipiert und verwendet werden.8 Vor diesem Begriffshintergrund wird evident, inwiefern das Zentrum für Politische Schönheit zugleich gegenwärtige und tradierte Ideen des Zugangs zum öffentlichen Raum und der Freiheitlichkeit darin, sowohl in der Sphäre des Theaters oder der Kunst, und der Politik infrage stellen. Bereits im Titel der Aktion Erster Europäischer Mauerfall wird deutlich, dass das Zentrum für Politische Schönheit eine konkretes politisches, materielles Ziel artikuliert. Jedoch rufen sie ebenso sehr an zivile Theatergänger_Innen dazu auf, mitzumachen, wie sie sich an staatliche Repräsentanten wenden, und sie zu einer anderen Flüchtlingspolitik aufrufen. Dabei bestätigen politische Hierarchien, anstatt sie wie in der historischen Tradition der eher antitheatralen, direkten Aktion zu negieren. Dieses bewusst populistisch inszenierte Zusammenspiel von Propagandaästhetik und konkreten Einforderungen an mächtige Akteur_Innen im politischen Amt auf der einen, und dem doppelbödigen Anklagen politischer Strukturen auf der anderen Seite, hat für mich einen faszinierenden, pragmatischen Kern, der die Systemik einer repräsentativen Demokratie voraussetzt und ernst nimmt. Mit dieser Ambiguität stellt sich ebenso die Frage nach
7 8
Vgl. Warstat 2015, 6f. Vgl. Warstat 2015, 8f.
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dem Publikum, oder respektive den Publika, der Performance Erster Europäischer Mauerfall: an wen richtet sie sich, wer wird hier adressiert, wer wird für wen wie inszeniert? Die Ankündigung des Ersten Europäischen Mauerfalls inszeniert rhetorisch die „deutsche Zivilgesellschaft“ als Gegenspieler zum „politischen Berlin“.9 Laut den Künstler_Innen handele letzteres moralisch verwerflich, wenn allein zugange mit den Feierlichkeiten zum 25. Mauerfall, und erstere handele als Reaktion darauf moralisch in einem „Akt politischer Schönheit“ in Form der Intervention.10 Man mag Vermutungen und Bilder vom sogenannten „politischen Berlin“ haben: Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Staatsoberhaupt, abgeordnete Parlamentarier, Regierungsbeamte, Medienvertreter und/oder Journalisten? Die Frage nach dem Publikum und produktiven Gegen- oder Mitspieler der Performance, spielt die Idee des wahren Politischen gegenüber der Idee des scheinbehafteten Politischen gegeneinander aus. Das Zentrum für Politische Schönheit macht als Kollektiv selbst und durch seine Interventionen „politischen Differenz“ zur theatralen Denkfigur; die von Jan Deck und Angelika Siegburg für die Theaterwissenschaft analysierte Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen bzw. zwischen politischem Theater und politisch Theater machen.11 Je nach Perspektive macht das Zentrum für Politische Schönheit politisches Theater und/oder stellen politische Theatermachen dar. Ich argumentiere anhand meiner Analyse des Ersten Europäischen Mauerfalls, dass sie sich dieser Ambivalenz entziehen und gerade dadurch, ihre ästhetisch-politische Intervention an Bedeutsamkeit gewinnt – sowohl für Flüchtlingspolitik und Migrationsdiskurs, als auch für die politische Rolle von Theaterinstitutionen.
H AUPTSTÜCK : F RIEDLICHE R EVOLUTIONÄRE
EUROPÄISCHE
Der Erste Europäische Mauerfall findet maßgeblich unter dem Zeichen des Protests statt gegen den seit 1997 in Kraft getretenen völkerrechtlichen Vertrag des Dubliner Übereinkommens, der festlegt, dass derjenige Staat, auf dessen Territorium Asylbewerber_Innen zuerst ankommen, deren Asylverfahren durchführen muss. Zum Monitoring der AsylbewerberInnen wird u.a. das europäische Informationssystem EURODAC verwendet, das ein automatisiertes Vergleichen
9 10 11
ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019). ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019). Vgl. Deck/Sieburg (Hg.) 2011.
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der Fingerabdrücke von AsylbewerberInnen durchführt, und ein digitales Archiv ihrer Körper und anderer Identitätskategorien aufbaut.12 Mit Blick auf die gegenwärtigen Grenzpatrouillen, transnationale Überwachungstechnologien und Fotojournalismus, wird Grenzüberschreiten in diesem Kontext möglicherweise zu einer neuen Form politisch-kultureller Praxis. Die europäischen Außengrenzen und die errichteten Grenzzäune, werden in der Performance Erster Europäischer Mauerfall zu einer Mauer, zu einer materiellen und lokal-spezifischen Entität, die man kurzfristig, durch einfach strukturierte, klare körperbasierte Handlungen wieder abbauen oder einreißen kann. Im Gegensatz dazu wird die Grenze als sozio-politisches, juristisches und kulturelles Konstrukt, d.h. jenseits ihrer territorialen Eigenschaften, nicht spezifisch in der Performance verhandelt. Dramaturgisch vollzieht die Performance eine orchestrierte Prozession durch Europa, von Berlin hin zu den europäischen Außengrenzen in Bulgarien und Griechenland, sodass zeitgenössische Fluchtrouten hier sozusagen wörtlich rückverfolgt werden.13 Zur Inszenierung einer Prozession, halten Barbara Kirshenblatt-Gimblett und Brooks McNamara fest, dass sie „not simply a means of getting from Place X to Place Y“ ist, „but a means of getting there in ways that have ceremonial and symbolic importance“.14 Die Prozession „employs distinctive elements to distinguish it from everyday movement through space [and] is designed to compete with the existing environment around it, becoming for a time the dominant element.“ Mit anderen Worten: eine Prozession ist ein performatives und gesellschaftliches Ereignis.15 Wie auch die gegenwärtige kulturelle Praxis des Zelebrierens von der Ankunft von Flüchtlingen,16 reproduziert die prozessionelle Dramaturgie der Performance Erster Europäischen Mauerfall die Figur „des“ Flüchtlings als ein mobiles Subjekt17. Der Fokus allein auf die Mobilität riskiert, die Figur des Flüchtlings allein auf den Moment des erfolgreichen oder gescheiterten Ankommens zu reduzieren, und nicht danach zu fragen “what happens after the arrival, after we have reacted to images of migrants’ arrival or demise?”18 Emma Cox argumentiert, dass diese Bewegungsdramaturgie die Dinglichkeit einer Prozession als Ereignis ästhetisch erfahrbar macht.19 Sie problematisiert, inwie12 13 14 15 16 17 18 19
Vgl. Nield, 2008, 143. Vgl. Cox 2017. Kirshenblatt-Gimblett, McNamara 1985, 2. Kirshenblatt-Gimblett, McNamara 1985, 2. Vgl. Marschall, 2017, 89f. Jeffers 2011, 64. Cox/Zaroulia (2016), 142; vgl. Marschall 2018. Vgl. Cox 2017.
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fern eine Prozession erst über einen distanzierten, auf sie gerichteten Blick erfahrbar und markiert wird; und dass ebendieser Blick eine politische Hierarchie voraussetzt zwischen den Zuschauenden und deren Rezeptionsobjekt.20 Diese ästhetische Distanz reflektieren die Zuschauenden vermeintlich nicht, ebenso wenig die Leiblichkeit der Prozessierenden, deren potentielle Gefahr und/oder Gesundheitsrisiko und deren sozialen Interaktionen untereinander. Ästhetisierendes Zuschauenden ist hier, genau wie im Ersten Europäischen Mauerfall ein zutiefst politischer Akt. Die Performance beginnt offiziell an dem Gedenktag des Mauerfalls mit einer Versammlung vor dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Philipp Ruch, ein Sprecher des Zentrums für Politische Schönheit, eröffnet die Performance mit einer Rede vor hunderten von versammelten Zuschauenden. Sprechchöre skandieren „Die Mauer muss weg“. Shermin Langhoff, die Intendantin des MaximGorki-Theaters hält eine Rede und unterstützt darin die Intervention. Fotos dokumentieren das Ereignis und zeigen u.a. ein großes Schild vor dem Theater, das dazu auffordert, „VERHALTEN SIE SICH BEIM ABBAU DER AUSSENGRENZEN FRIEDLICH, ABER BESTIMMT“.21 Seine Typographie und Gestaltung erinnert an das Schild am Grenzübergang Checkpoint Charlie. Neben denen, die durch das Crowdfunding für die Prozession zu den Außengrenzen einen Platz in den Bussen erkauft haben, und einem erweiterten Kreis an Zuschauenden, Aktivisit_Innen und Journalist_Innen, befindet sich auch verstärkte Polizeipräsenz auf dem Platz. In schwarzen, breitschulterigen Schutzjacken gekleidet, durchsuchen laut Künstler_Innen über 100 Beamte von der Bundespolizei und dem Bundeskriminalamt ihr Gepäck und das ihrer Teilnehmer_Innen22 auf Bolzenschneider. Laut Polizeiberichten, nehmen sie „Gefahren abwehrende[…] Maßnahmen“23 vor, da das Zentrum für Politische Schönheit und ihre Teilnehmer_Innen zu „schweren Straftaten“24 aufgerufen hatten und ein nationales beziehungsweise EU-weites Sicherheitsrisiko darstellten. Die intervenierenden Polizeibeamten werden für die Künstler_Innen und ihre Teilnehmer_Innen zu einem Mit- beziehungsweise Gegenspieler. Das Einschreiten der Exekutive stellt dramaturgisch bereits vor Abfahrt einen medialen Höhepunkt der Intervention dar. Dabei hybridisieren Grenzen zwischen künstlerischer Freiheit und exekutiver Macht der Staatshoheit. Polizeipräsenz, aneinander ge20 21 22 23 24
Vgl. Cox 2017. ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019). Zur Problematisierung des Begriffs „TeilnehmerInnen“ siehe z.B. Harpin/Nicholson (Hg.) 2016. ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019). ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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reihte, wartende Reisebusse am Straßenrand, der Auftritt einer Popband, populistische Reden von Ruch und Langhoff, ein ausgerollter, roter Teppich, der vom Theatereingang bis hin zum Straßenrand und den Bussen reicht. Die Szene erinnert beispielsweise daran, wie nationale Sportler_Innen zu einem internationalen Großereignis abreisen oder Sänger_Innen Tourneen begehen. Die Fotoaufnahmen dokumentieren nicht nur die Performance, sondern inszenieren auch das Zentrum für Politische Schönheit als künstlerische HeldInnen und ihre Zuschauenden als Fans.25 Während das Zentrum für Politische Schönheit ihr Publikum als „friedliche Revolutionäre“ bezeichnet, schreiben TheaterkritikerInnen, Journalist_Innen und Blogger_Innen den Zuschauenden andere Rollen zu. Die Journalistin Anne Lena Mösken beschreibt die Teilnehmer_Innen, indem sie auf ihre sozial-gesellschaftliche Rollen eingeht, beziehungsweise ihre beruflichen Tätigkeiten in der Kulturbranche aufzählt: „der junge Drehbuchautor, der Netzaktivist, die Sozialwissenschaftsstudentin, Abgeordnete der Piraten, Castorgegner, Theaterpädagogen.“26 Die Journalistin Ines Kappert teilt die Teilnehmer_Innen für ihre Reportage in ein Spektrum vom passiven Theatergänger zum politischen Aktivisten ein: Die einen kommen eher aus der Kulturecke. Sie interessiert das Performative der Aktion, also die Busfahrt, die kommende Inszenierung am Grenzzaun, die Reaktion der Medien, kurzum der Diskurs – ihn wollen sie öffnen. Das Aufschneiden des Mauerzauns dagegen ist vor allem die Passion der PolitaktivistInnen. Allen gemeinsam sind die gute Laune und die Ungewissheit, was auf sie zukommen wird. Alle haben sie Demo-Erfahrung, viele waren bei Anti-Castor-Protesten.27
Die Theaterkritikerin Sophie Diesselhorst hatte für Nachtkritik an der Performance teilgenommen und über ihre Erfahrungen zunächst live getwittert. Ihre Erfahrungen hat sie zusätzlich im Nachhinein der Performance in Form einer Theaterkritik reflektiert. Sie beschreibt, wie sie unter den Teilnehmer_Innen große Verunsicherung miterlebt über ihre Rollen. Sie selbst nimmt eine „Doppelrolle der Nachtkritikerin“28 ein, zwischen „echter“ authentischer Nachtkritikrin und „journalistischen Mitspielerin“29. Ihr Rollenverständnis verschreibt sich
25 26 27 28 29
Vgl. Jenson 1992, 15. Mösken 2014. Kappert 2014. Diesselhorst 2014. Diesselhorst 2014.
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dabei einem Authentizitätsdiskurs ein, der in der „distribuierten Ästhetik“ 30 der Performance die metonymische Repräsentation der Teilnehmenr_Innen aufhebt. Die „Darstellung des Echten“ fungiert gerade auch für Diesselhorst in ihrer Rolle als Journalistin als ethisches und professionelles Handlungsprinzip. In ihrer Kritik schreibt sie, inwiefern die verschiedenen Teilnehmer_Innen ihre sozialen Rollen mit den potentiellen in der Performance abgleichen, und inwiefern sich das auf ihr Selbstverständnis als Theaterpublikum auswirkt. Für Diesselhorst waren die Künstler_Innen nicht an einer gemeinsamen Verständigung über diese Rollenfragen interessiert. Wie auch daran nicht, die demo-erprobten politischen Aktivisten, die die Masse der Busfahrer ausmachten, aus ihrer Vorstellung zu befreien, dass wir unterwegs zu einer Demo sind und dass das mit dem Theater nur ein Trick ist, um möglichst unbehelligt zum Ort der Demo zu gelangen. Was sich bei der ganzen Geheimniskrämerei um „die Aktion“ zuverlässig einstellte – die zermürbende Busreise tat wohl ihr Übriges – war eine Söldnermentalität, die sich zum Beispiel darin äußerte, dass ich, als ich im Rahmen einer konspirativen Besprechung in der Nacht zum Sonntagmorgen unserer Ankunft in Jambol zu fragen wagte, worin denn nun „die Aktion“ bestünde (wir sollten einschätzen, ob wir nach zwei Nächten im Bus körperlich dazu in der Lage sein würden, direkt zu ihr zu schreiten), sofort von einem „Mitrevolutionär“ zum Schweigen gebracht wurde: „Ist doch klar, dass die das nicht sagen können, hier herrscht einfach keine Funkdisziplin“.31
P AUKENSCHLAG UND W IDERHALL : D ISTRIBUIERTE ÄSTHETIK Die Idee der Rolle, ob theatral und/oder sozial, wird in Diesselhorsts und den anderen Theaterkritiken produktiv und zeigt wiederum die Ambiguität der Performance/Intervention/Aktion, die sich einer eindeutigen Zuschreibung entzieht. Die Rollenbeschreibungen der Kritikerinnen verhandeln Erwartungshaltungen gegenüber der theatralen Rahmung, inklusive Spielräume zum Erproben und Modifizieren von Rollen, und der interventionistischen Aktion, inklusive Handlungsräume zum Verinnerlichen und Ausfüllen von Rollen. Da das Quellenmaterial hier öffentliche Kritiken sind, wird außerdem interessant inwiefern der Erste Europäische Mauerfall genau jenes öffentliche Verhandeln von Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen in plurimedialer
30 31
Balme 2010, 30. Diesselhorst 2014.
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Form anstößt. Die plurimediale Form ist für die Performance, ihre Ästhetik und Analyse entscheidend, da hier „Medien die Verbindungen zwischen Zuschauern/Usern/Öffentlichkeit – oder wie auch immer wir sie nennen wollen – stiften.“32 Christopher Balmes Konzept der „distribuierten Ästhetik“ beschreibt, dass das „Verortet-Sein“ eines Publikums oder einer theatralen Gemeinschaft immer nur „vorübergehend“ gedacht werden kann und soll – es tastet sozusagen eine der Kerndefinitionen von Theater und Performance an. 33 Die Wirkungsästhetik funktioniert plurimedial und bezieht sich nicht nur auf ein dargestelltes Ereignis, sondern gerade auch auf dessen Rezeption. Wir müssen daher von Publikum im Plural sprechen; Publika werden also in spezifischen raumzeitlichen Situationen hergestellt. Balmes Konzept für die Theaterwissenschaft gründet sich auf Anna Muster und Geert Lovinks These, dass „[d]istributed aesthetics must deal simultaneously with the dispersed and the situated“.34 Die Ästhetik des Ersten Europäischen Mauerfalls ist sowohl situativ als auch distribuiert. Dadurch dass die social media Kampagne der KünstlerInnen in anderen Medienberichten, Kritiken und öffentlichen Debatten aufgegriffen und weiter vernetzt wird, schaffen sie gezielt einen zeitlich und örtlich ungebundenen, digitalen und analogen Raum, der diese Ästhetik erst bedingt. Die Bilder, Narrative und Rhetorik wirken über die zeitlich fein abgestimmte Ankündigung für ihre Intervention, auf öffentlichkeitswirksame Remedialisierungen ein. Journalist_Innen, Theaterkritiker_Innen, Politiker_Innen und Vereinsvorstände, sowie Medien an sich,35 werden zu Akteuren der Intervention durch ihre Distribution. Das diskursive Verhandeln der Intervention selbst ist ein ihr inhärentes theatrales Element. Interessant ist dabei jedoch auch, dass, obwohl sich Politiker_Innen und politische Verbände öffentlich zur Aktion äußern, die Aktion in Zeitungen im Feuilleton oder in Kulturberichten besprochen wird – und nicht im Politikteil. Wie bei ihrer späteren Intervention Die Toten Kommen (2015),36 in der sie u.a. dazu aufrufen symbolische Gräber auf dem Platz vor dem Kanzleramt auszuheben, schickt das Zentrum für Politische Schönheit in Erster Europäischer Mauerfall den Aufruf zu fiktiv-symbolischen Handlungen in den Äther, sozusagen an alle. Alle? Wer sind diese Teilnehmer_Innen, Zuschauer_Innen, User, Öffentlichkeiten, die die Künstler_Innen adressieren, und inwiefern werden sie zu „aktiven“, zu partizipativen Mitspieler_Innen? Inwiefern sind die Spielräume 32 33 34 35 36
Balme 2010, 48. Balme 2010, 48. Vgl. Munster/Lovink 2005. Vgl. Bidlo 2011, 51. Vgl. Marschall 2017.
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ihrer Rollen bestimmt durch die Dichotomie zwischen „aktiv“ und „passiv“ 37? Und inwiefern wird hier trotz der linkspopulistischen Selbstdarstellung des Zentrums für Politische Schönheit, das neoliberale, klassistische und in letzter Konsequenz rassistische Paradigma des moralisch-anthropologisch „guten“, das heißt produktiven und aktiven Bürgers innerhalb des theatralen Rahmens reproduziert? Zum dramaturgischen Material der Performance gehört ein simpler schwarz/weißer Comic gedruckt auf ein A4 PDF (Abb. 2). Der Comic funktioniert als eine Art Anleitung und Handlungsanweisung für den Ersten Europäischen Mauerfall, die ohne sprachliche Mittel auskommt. In acht Bildern, zeigt der Comic das technische Vorgehen beim Abreißen der europäischen Grenzzäune durch einen einzelnen Akteur. Im Comic ist zu sehen, wie ein einzelnes, „aktives“, Zaun einreißendes Comicmännchen mit lächelndem Gesicht einen Bolzenschneider zückt und an entsprechend markierten Stellen den Zaun aufschneidet. Im letzten Bild, steht das Comicmännchen am geöffneten Zaun, an den heran massenhaft andere unförmige, lächelnde, geschlechtsneutrale Figuren stürmen. Sie formen einerseits einen kollektiven Körper und führen eine invasive Bewegung aus, aber andererseits bereiten sie dem bereitwillig lächelnden Männchen keine Angst oder Unbehagen. Der Comic kommt ohne Verweise auf das Zentrum für Politische Schönheit aus, enthält kein Logo oder andere Hinweise auf die Künstler_Innen. Die Anleitung erinnert vielmehr an die für von IKEA für das Zusammenbauen von Möbeln.38 Justin Zhuang analysiert, dass die schablonenhaften IKEA Anleitungen gezielt wortlos gestaltet sind und dadurch international verstanden werden, unabhängig von Sprache, Kultur oder Erfahrung mit dem Möbelbauen. Die übergeordnete Designnachricht lautet: die zu vollziehenden Handlungen sind eindeutig, klar und so einfach wie möglich. Der Comic stellt Handgriffe so dar, dass er schrittweise für ein Erfolgsgefühl sorgt. Diese Beschreibung der IKEAAnleitung enthält sicherlich für diejenigen Leser_Innen auch eine satirische Komponente, die bereits am Zusammenbau eines IKEA-Möbels gescheitert sind. Interessant wird aber die Anlehnung an diese IKEA-Ästhetik durch das Zentrum für Politische Schönheit dadurch, dass das Prinzip der Produktfertigstellung (der Performance?) durch die Konsument_Innen (die Zuschauer_Innen?) selbst reproduziert und ebenso in den Wandel der neoliberalen Ökonomisierung des Alltagslebens (der Kunst?) einzuordnen ist.
37 38
Vgl. Wake 2009, 6. Vgl. Zhuang 2018.
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Abb. 2:„Comic des Ersten Europäischen Mauerfalls.“ © Zentrum für Politische Schönheit 2014. Mit Blick auf die Medialität dieses Comics, eröffnet sich ein für die Dramaturgie des Ersten Europäischen Mauerfalls entscheidendes Spannungsmoment zwischen Bewegung und Stasis. Ein Comic ist ein spezifisch unbewegliches Material, ein Print und Objekt, aber wird unter Einbezug der übergeordneten social media Plattformen zu einem raum-zeitlich unabhängigen, digitalen Material, zu einem Meme. Darüber hinaus ist einem Comic eigen, dass die Leser_Innen von Bild zu Bild springen können, und nicht an einen linearen Text gebunden sind – ohne zu übergehen, dass natürlich die habituelle, kulturspezifische Leserichtung
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auch in vielen Comics zur Narrativierung subtil vorausgesetzt wird. Gleichzeitig wird durch den Comic die Handlung, die Bewegung, das „In-die-Hand-Nehmen“ zu einer übergeordneten Dramaturgie der Künstler_Innen, die ihre Zuschauer_Innen dazu aufrufen, in Aktion zu treten, zu handelnden Akteur_Innen zu werden und der Anleitung zum Einreißen der Zäune Folge leisten – gegen die „Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit“.39 Diese Bewegungsvermittlung über statische Bilder funktioniert dabei auch über das Verweigern von Sprache und anderen Verweisen auf die Künstler_Innen selbst. Stattdessen verdeutlichen die Comicbilder ein international verständliches Schema zum Einreißen der Zäune, für das scheinbar nicht mehr benötigt wird als ein Bolzenschneider und eine able-bodied, männliche Person. Die übergeordnete Designnachricht lautet auch hier: die zu vollziehenden Handlungen sind eindeutig, klar und so einfach wie möglich. Der Comic stellt die Handgriffe zum Einreißen europäischer Grenzen so dar, dass er bei der schrittweisen Durchführung für ein Erfolgsgefühl sorgen könnte. Öffentlichkeiten ist ein für mich wichtiger Begriff, um ebendieses Spiel mit politischer und dramaturgisch-medialer Ambiguität der Intervention zu begreifen. Balme beschreibt, dass es wichtig ist, Öffentlichkeit “als ein Geflecht von Beziehungen zu verstehen. Öffentlichkeit, und unter Umständen auch die Sphäre der Öffentlichkeit in ihrer räumlichen Ausdehnung, wird als etwas betrachtet, auf das man einwirken, an das man appellieren kann; sie ist beeinfluss- und sogar manipulierbar.“40 Am Beispiel des Comics: Für mich zeichnet das Comic ein dramaturgisches Kernelement der Inszenierung aus, es wird lediglich über social media distribuiert und zwar in den Wochen vorab des Beginns der situativen Performance am Maxim-Gorki-Theater und der Reise zu den europäischen Außengrenzen. Paukenschlag und Widerhall: Die Theatralität in Der Erste Fall der Europäischen Mauer scheint nicht so sehr in der postdramatischen Konzeption des Hier und Jetzt, der Ko-Präsenz konstitutiv zu werden, sondern viel mehr in einer distanzierten Schauanordnung, die sich als distribuierte Ästhetik verorten lässt, das heißt in der über vernetzte Partizipation stattfindenden Imagination von Teilhabe und Kollektivität. Sie fragt dabei politisch nach dem „Verhältnis von nationalem Erinnerungsdiskurs und europäischer Gemeinschaftsrhetorik“.41 Die Performance erschafft einen doppelbödigen öffentlichen Diskurs, der auch ihren Kunststatus befragt, den wiederum die Künstler_Innen ethisch infrage stellen. Die scheinbar pragmatische Einfachheit, die europäischen Außengrenzen
39 40 41
ZPS, https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (letzter Zugriff: 01.12.2019). Balme 2010, 46. Vgl. Annuß 2014, 10.
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einzureißen, ist natürlich nur ein bildgewaltiges Motiv, um auf das eigentlich übergeordnete Ziel des Abschaffen der Grenzidee zu verweisen. Nicht zuletzt wird in der organistorischen Logik der Prozession Erster Europäischer Mauerfall deutlich, inwiefern die Aktion in einem trans-öffentlichen Raum vollzogen wird, der nur für exklusive Teilnehmer_Innen zugänglich wird. Damit meine ich nicht in erster Linie diejenigen, die mit den Bussen zu den europäischen Außengrenzen reisen, sondern explizit die Frage danach, welche Öffentlichkeit hier bespielt wird. Evelyn Annuß bezieht sich auf Hannah Arendt und deren Denken über ihre eigene Exilerfahrung als Staatenlose, wenn sie die „andere Seite der Volksfigur“, die „Kehrseite eines als integral begriffenen politischen Körpers“ anspricht.42 Einerseits stimme ich überein, dass der Erste Europäische Mauerfall einen effektiven „symbolischen Akt zur Fluchthilfe“ 43 leistet und die Europäische Gemeinschaft in Verantwortung nimmt für die schreckliche Normalität des Massensterbens an ihren Außengrenzen und die militarisierte und industrialisierte Abschottungspolitik. Andererseits wird für mich diese „andere Seite der Volksfigur“ als Kritik am Zentrum für Politische Schönheit produktiv. Anstatt dass sie (nicht konsequenzvermindert) in systemische politische Ordnungen interveniert, entwirft die Performance ein populistisches Narrative über die Figur, die heute mit Giorgio Agamben sprechend die „zur Regel gewordene Ausnahme [ist], an der sich die nationalstaatliche Voraussetzung der von der bürgerlichen Gesellschaft proklamierten, den Staatsbürger und Staatsbürger_Innen vorbehaltenen Menschenrechte und die territorialen Bedingungen unserer politisch-juridischen Ordnung“ zeigen.44 Diese Ordnung ist klassistisch, rassistisch und sexistisch, und ebenjene gewaltvollen Strukturen werden auch durch das Zentrum für Politische Schönheit reproduziert. Die Künstler_Innen inszenieren sich als weiße, intellektuelle, moralisch erhabene Held_Innen, die internationale mediale Reaktionen provozieren und mit einem stereotypen, homogenisierten und rassistischen Bild des Flüchtlings (an der spanischen-marokkanischen Grenze oder als Gesichtslose, die in Massen an die Grenzen stürmen), mehr öffentliche Aufmerksamkeit für ihre eigenen inszenatorischen Mittel erzeugen, als diese systemischen, gewaltvollen Strukturen des europäischen Asylsystems und des inhärenten Rassismus in Europa, die sich gerade nicht durch das Einreißen der militarisierten Grenzzäune umwerfen lassen. Ida Danewid fasst überzeugend zusammen, inwiefern der emotionalisierende Fokus auf die augenscheinlich universale Ethik hinter Erster Europäischer Mauerfall und anderen Arbeiten des Zentrums für Politische Schönheit, die 42 43 44
Annuß 2014, 9. Annuß 2014, 7. Annuß 2014, 10 und Agamben 2002.
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Verantwortung für das koloniale Erbe vergessen macht und über Differenzen hinwegsieht: In the context of the European migrant crisis, a variety of artists, activists, academics, and policymakers have harnessed the rhetoric of mourning to challenge the xenophobic and white nationalist discourses that figure migrants as vermin, pariah, and bogus – that is, as less-than-human. […] In contrast, I have argued that these interventions reproduce the underlying assumptions of the far right: namely, that migrants are ‘strangers’, ‘charitable subjects’, and ‘uninvited guests’. By focusing on abstract – as opposed to historical – humanity they contribute to an ideological formation that erases history and undoes the ‘umbilical cord’ that links Europe and the migrant who are trying to enter the continent. This replaces questions of responsibility, guilt, restitution, repentance, and structural reform with matters of empathy, generosity, and hospitality – a move that transforms the responsible colonial agent into an innocent bystander, confirming its status as ‘ethical’, ‘good’, and ‘humane’.45
S CHLUSSAKKORD : N EVER AGAIN Seit 2009 inszeniert sich das Zentrum für Politische Schönheit als bestmöglicher Akteur für das Erwirken von Menschenrechten durch interventionistische Kunst. Sie schreiben sich wörtlich selbst in eine bestimmte Tradition politischen Theaters ein, die die Aktionskunst von Schlingensief als Vorbild erachtet. 46 Sie grenzen sich jedoch gleichzeitig und explizit pejorativ von langjährig global operierenden NGOs wie Amnesty International ab, und verweisen auf die Ineffizienz dieser Organisationen. Die Künstler_Innen klagen an, dass diese sich unter allen Umständen an die Gesetze der Nationen halten würden, in denen die NGOs ansässig wären.47 Die Künstler_Innen verbinden mit dieser strikten und moralisierenden Abgrenzung von anderen Menschenrechtsorganisationen außerdem ein messianistisches Auftreten. Sie inszenieren sich gestisch und rhetorisch als weiße, friedensstiftende Erlöser_Innen. Beim Ersten Europäischen Mauerfall tritt Philipp Ruch zum Beispiel mit empor gestreckter Brust vor die Presse, gen Himmel geraffte Arme, und breitem, festem Stand. Er äußert in Persona absolutes Unver-
45 46 47
Danewid 2017, 1684. Vgl. Malzacher 2015, 16. Vgl. Langholf 2015; Kaestle 2015.
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ständnis gegenüber jedweder Kritik an der Aktion. 48 Er und andere Sprecher_Innen des Zentrums für Politische Schönheit bedienen sich rhetorischer Neologismen und Floskeln, um eine Exklusivität ihres Diskurses zu behaupten. Dabei verweigern sie aber eigentlich den plurimedialen Diskurs um die Wahl der „richtigen“ Methoden für das Erwirken von Menschenrechten. Sie greifen stattdessen auf Pathosformeln zurück wie beispielsweise „unsere moralische Grenze ist Humanität“.49 Aus ihrer Perspektive obliegt ihnen ein „Mandat“ der ansonsten „passiven“ Zuschauer_Innen, das sie zum Handeln ethisch und gesellschaftlich berechtigt.50 Über das widerständige Zusammen- und Gegenspiel von Aktion, Performance und Intervention lassen sich die Arbeiten des Zentrums für Politische Schönheit produktiv verhandeln. Erster Europäischer Mauerfall erzeugt eine theatrale Öffentlichkeit, indem die Performance politische und emotionalisierende Diskurse bildgewaltig inszeniert, z.B. die Aufarbeitung und Kollektivschuld am Zweiten Weltkrieg, die historische Verantwortung Deutschlands und der Nachkriegsgenerationen, und die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Insofern die Künstler sich konfrontiert sehen mit Vorwürfen, dass ihre Kunst ethisch problematisch sei, und ihr dadurch auch von verschiedenen politischen Akteuren ihr Kunststatus abgeschrieben wird, behelfen sie sich mit einem Spagat bzw. einem Fingerzeig auf die Politik, wegen der Menschen auf der Flucht nach Europa umkommen. Dabei funktioniert der Legitimationsversuch ihrer ästhetischen Mittel über den ethischen Vergleich zwischen den Konsequenzen der miliarisierten Sicherung europäischer Außengrenzen und der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer künstlerischen Eingriffe in diese Wirklichkeit. Das Zentrum für Politische Schönheit nennt sich selbst „Sturmtruppe zur Erichtung moralischer Schönheit“. Für Journalist_Innen sind sie „Provokteur[Innen]“,51 ein „Medium der neuen Art“,52 oder „Schocktherapeut[Innen]“.53 Auf Fragen von Journalist_Innen zur politisch-juridischen Legitimität ihrer Aktion, treten die Sprecher_Innen des Zentrums für Politische Schönheit dezidiert als Personae auf und verweisen rhetorisch immer wieder darauf, dass die Aktion ein Kunstwerk sei, Kunststatus habe. Sie treten zutiefst seriös, ironisch ungebrochen in der Öffentlichkeit auf und erinnern damit zum Teil eher an die Seriosität der 48 49 50 51 52 53
Vgl. ZPS, www.politicalbeauty.de/Zentrum_fur_Politische_Schonheit (letzter Zugriff 07.02.2016). Vgl. Langholf 2015; Kaestle 2015. Vgl. Langholf 2015; Kaestle 2015. Hollstein/Kogel 2014. Diez 2014. Laudenbach 2015, 16-18.
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Neoavantgarde,54 als an ihr selbst-erklärtes Vorbild Christoph Schlingensief. Sie treten in schwarzem Anzug auf, ihre Gesichter sind scheinbar rußbeschmiert und zeugen von harter, handwerklicher Arbeit oder erinnern an Tagebau (Abb. 3). Das vermeintlich feste dramaturgische Personal bzw. die Akteur_Innen sind aus ausnahmslos weiß, und können der deutschen Bildungs- und „Kulturelite“ angehören. Dennoch setzen sie sich in ihren Arbeiten und Auftritten nicht mit Fragen der eigenen Privilegiertheit, der postmigrantischen Kultur und Dekolonisierungsbewegungen,55 oder dem Diskurs um Klassizität und Prekarität auseinander. Bei der Verhandlung des Kunststatus und bei der versuchten Diskussion um die politische Radikalität der Aktion, verweisen die Künstler_Innen in empörter Geste über die Frage auf ihre eigentliche Motivation. Das Zentrum für Politische Schönheit sieht sich in der Verantwortung der Kollektivschuld am Zweiten Weltkrieg. Sie sehen sich durch diese Verantwortung dazu legitimiert, jegliche Mittel zum Zweck fürs Verhindern potentieller, zukünftiger Genozide anzuwenden: z.B. aktionistische Handlungen und künstlerische Freiheit.. „Never again“ ist ihr Credo.
Abb. 3:„Das Zentrum für Politische Schönheit spricht mit JournalistInnen über den Ersten Europäischen Mauerfall.“ © Ruben Neugebauer 2014.
54 55
Vgl. Warstat 2010, 94f. Vgl. Bieberstein/Evren 2016.
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Welches oder wessen „Zentrum“ behaupten die Künstler_Innen also? Einerseits wird im Titel des KünstlerInnenkollektivs auf eine imaginative kulturelle Spielstätte, ein Ort, eine Institution, eine Bühne verwiesen. Andererseits erzeugen sie ein politisches Spannungsverhältnis zwischen dem „Zentrum“ und den Anderen, der Peripherie, des Rands, der Marginalisierten. Diese Form der Abgrenzung reproduziert sich nicht nur in ihrer Rhetorik, im Diskurs und in ihren Vorträgen, sondern gerade auch durch die Interventionen, die motiviert davon sind, gesellschaftskulturell oder politisch korrigierend zu wirken, und ihre verschiedenen Publika zu dem einzig moralisch richtigen Handeln anzustiften. Aus dramaturgischer Perspektive erzeugt das Zentrum für Politische Schönheit eine Unschärfe ihrer ästhetischen Verortung. Diese strukturelle Unschärfe des Bezugsrahmens oszilliert zwischen Infragestellen der Aktion ob ihrer Kunsthaftigkeit, dem überhöhten Moralempören der Künstler_Innen, der Ethik ihrer Symbole und Bildsprache, sowie dem realpolitischen Paradigma ihrer Forderungen. Im gesellschaftspolitischen Kontext der aktuellen Migrationsbewegungen in/nach Europa, grenzen sich die Akteure des Zentrums für Politische Schönheit dabei klar von den Reaktionen institutionalisierter Theater(schaffenden) auf dieses „Krisenmoment“ ab. Letztere setzen u.a. durch die Gestaltung der Spielpläne und über institutionelle Dramaturgie den thematischen Schwerpunkt Migration/post-migrantische Gesellschaft. Doch engagieren sich einige deutsche Theaterinstitutionen in staatlicher Trägerschaft, über das dramatische Repräsentieren der Figur des Flüchtlings hinaus, explizit sozial. Sie sammeln Spenden, organisieren Sprachkurse und Theaterworkshops, oder stellen sogar Unterkünfte bereit.56Dabei transformieren staatliche Theaterinstitutionen und Theaterschaffende von ihrem ästhetischen Bezugsrahmen ausgehend zu sozialpolitischen Akteur_Innen und greifen in eine als krisenhaft wahrgenommene Wirklichkeit ein,57sie solidarisieren sich mit ehrenamtlichen Initiativen und sozialen Bewegungen.58 Erster Europäischer Mauerfall markiert als antifaschistische und linkspopulistische Intervention, wie sich eine Sehnsucht nach Realpolitischem und nach aktiver Gestaltungsfähigkeit von Politik im und durch das deutschsprachige Gegenwartstheater (institutionell in freier Wildbahn) Bahn bricht, und die Frage nach einem „Europäischen Wir“ für das 21.Jahrhundert neu stellt und insbesondere Antworten anbietet.59
56 57 58 59
Vgl. Marschall, 2016. Vgl. Castañeda/Holmes 2016, 5f, 2. Vgl. Marschall 2018, 155 u. 160f. Vgl. Malzacher 2015.
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Autorinnen und Autoren
Michael Bachmann ist Senior Lecturer (Associate Professor) für Theaterwissenschaft an der School of Culture and Creative Arts der Universität Glasgow. Kornelia Ehrlich promovierte am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2019 Geschäftsführerin der Research Academy Leipzig an der Universität Leipzig. Julia Gehres ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit einer Dissertation zur Inszenierung des venezianischen Karnevals im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Frederike Gerstner promovierte im Internationalen Promotionsprogramm „Performance and Media Studies“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitet als Übersetzerin in Kalifornien. Caroline Herfert ist wissenschaftliche Geschäftsführerin der DFG-KollegForschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“ an der Universität Hamburg. Anika Marschall promovierte an der Universität Glasgow, wo sie weiterhin als Graduate Teaching Assistant tätig ist. Zudem arbeitet sie als Assistant Lecturer für Drama und Performance an der Queen Margaret Universität, Edinburgh. Kerstin Poehls ist Juniorprofessorin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg.
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Regina Römhild ist Professorin und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Mitglied des Berliner Instituts für empirische Migrations- und Migrationsforschung (BIM) und gehört dem Rat für Migration an. Azadeh Sharifi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie an einem DFG Postdoc-Projekt zu (post-)migrantischem Theater arbeitet. Marcus Stiglegger ist Professor für Film und Fernsehen sowie Vizepräsident der DEKRA-Hochschule für Medien in Berlin. Dorothea Volz ist Akademische Rätin am Institut für Medienkultur und Theater sowie stellvertretende Direktorin der Theaterwissenschaftlichen Sammlungen an der Universität zu Köln. Asta Vonderau ist Professorin am Seminar für Ethnologie der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Stefanie Watzka promovierte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitet im Manager Training Development bei Berlitz Deutschland. Annika Wehrle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo sie zu Inszenierungen im öffentlichen Raum promoviert hat.
Soziologie Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0
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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
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