Das Andere der Zivilgesellschaft: Zur Archäologie eines Begriffs [1. Aufl.] 9783839400883

Das Vokabular der »Zivilgesellschaft«, das in den 80er und 90er Jahren für starke Impulse zur Erneuerung einer kritische

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German Pages 102 [104] Year 2015

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Inhalt
»Zivilgesellschaft« – Vom historischen Kampfbegriff zur Worthülse
Gegenbild I: Fantasten, Sektierer und Barbaren
Jean Calvin: Wider die Fantasten
Weber und Gramsci: Animalität als Bedrohungsmetapher
Hannah Arendt: Das Tier im Europäer
Gegenbild II: Krieger, Menschenplaner, Bürokraten
Zwischen Staatskritik und Barbareikritik
Entzivilisierung durch den Staat
Der Orientalismus-Verdacht
Ein Kippbild: Die Welt der materiellen Produktion
»Citoyen ou Producteur?«
Eine außereuropäische Perspektive
Zur Semiotik des Zivilgesellschaftsdiskurses
Trug- und Suchbilder: Zwei aktuelle Metamorphosen des Zivilgesellschaftsdiskurses
Die globale Zivilgesellschaft
Symbolische Codes in der Demokratie
Anmerkungen
Literatur
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Das Andere der Zivilgesellschaft: Zur Archäologie eines Begriffs [1. Aufl.]
 9783839400883

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Volker Heins Das Andere der Zivilgesellschaft

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Volker Heins, geb. 1957, ist Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) und lehrt zurzeit Politikwissenschaft an der Universität Essen.

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Volker Heins

Das Andere der Zivilgesellschaft Zur Archäologie eines Begriffs

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) T00_03 titel.p 327066700972

Die deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heins, Volker: Das Andere der Zivilgesellschaft : zur Archäologie eines Begriffs / Volker Heins. - Bielefeld : Transcript, 2002 (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft) ISBN 3-933127-88-2 © 2002 transcript Verlag, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Digital Print, Witten ISBN 3-933127-88-2

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Inhalt »Zivilgesellschaft« – Vom historischen Kampfbegriff zur Worthülse | 7 Gegenbild I: Fantasten, Sektierer und Barbaren | 19 Jean Calvin: Wider die Fantasten | 21 Weber und Gramsci: Animalität als Bedrohungsmetapher | 26 Hannah Arendt: Das Tier im Europäer | 34

Gegenbild II: Krieger, Menschenplaner, Bürokraten | 41 Zwischen Staatskritik und Barbareikritik | 42 Entzivilisierung durch den Staat | 45 Der Orientalismus-Verdacht | 52

Ein Kippbild: Die Welt der materiellen Produktion | 57 »Citoyen ou Producteur?« | 58 Eine außereuropäische Perspektive | 61 Zur Semiotik des Zivilgesellschaftsdiskurses | 63

Trug- und Suchbilder: Zwei aktuelle Metamorphosen des Zivilgesellschaftsdiskurses | 71 Die globale Zivilgesellschaft | 72 Symbolische Codes in der Demokratie | 79

Anmerkungen | 87 Literatur | 93

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die Zivilgesellschaft und ihr Anderes | 65 Abbildung 2: Träger der Zivilgesellschaft und ihre Gegner | 66 Abbildung 3: Sorels Kritik der Zivilgesellschaft | 68 Abbildung 4: Ulrich Becks globale Zivilgesellschaft | 78

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»We are ruled by defunct modern utopias« (Gray 1997: 161). Von dem Briten John Gray stammt die Einsicht, dass die politische Theorie in einer Sackgasse steckt, weil ihr seit geraumer Zeit nichts anderes mehr einfällt, als entweder die Befreiung des Einzelnen vom Staat und anderen Quellen der Bevormundung zu fordern oder aber die nostalgische Sehnsucht der befreiten Individuen nach Gemeinschaft und Bindung zum Ausdruck zu bringen (vgl. Gray 1997: 161). Während man häufig eine Pendelbewegung zwischen diesen entgegengesetzten Polen beobachten kann, haben die neueren Philosophen der »Zivilgesellschaft« das Kunststück fertig gebracht, beide Tendenzen, die Fortsetzung des Aufklärungsprojekts und die romantische Reaktion dagegen, in einer einzigen Formel zusammenzupressen: Sie wird – gelegentlich von ein und demselben Autor – bemüht, um für eine Stärkung des republikanischen Gemeinsinns in den westlichen Marktgesellschaften oder umgekehrt für die Anerkennung des radikalen Wertepluralismus in einer Gesellschaft der Minderheiten zu plädieren. Die unüberhörbare Rede von der Zivilgesellschaft kann damit als symptomatisch für einen Denkstil gelten, von dem Gray festgestellt hat, dass er seit langem nichts Neues mehr zutage fördert. Dabei hatte alles so gut angefangen. Die in den achtziger Jahren einsetzende Debatte um die Zivilgesellschaft griff instinktsicher den

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unverkennbaren Trend zu größerer politischer Selbstständigkeit der Bürgerschaft in Ost und West auf. Zwar gilt noch immer der Satz Otto Kirchheimers, dass in der modernen Gesellschaft persönlicher und politischer Erfolg weniger der eigenen Arbeit zu verdanken ist als vielmehr dem »Zugang zu Organisationen« (Kirchheimer 1964: 80). Es ist heute jedoch vergleichsweise einfach geworden, Organisationsmacht auf die Beine zu stellen, indem man sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt und »vernetzt«. Anders als vor hundert oder fünfzig Jahren macht es keine großen Umstände mehr, räumlich entfernte Geistesverwandte oder Mitbetroffene zu identifizieren, sich mit ihnen zusammenzutun und ein Anliegen öffentlich zu kommunizieren. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, billige Flugtickets, die Bildungsexpansion, das Auftreten moralischer Unternehmer und Sponsoren, die Schwächung des Politikmonopols der großen Parteien und Verbände – alle diese Veränderungen haben bewirkt, dass sich auch randständige Anliegen und Bevölkerungsgruppen unschwer organisieren lassen. Umgekehrt heißt das, dass es schwieriger geworden ist, missliebige Gruppen durch die bloße Monopolisierung von Organisationsmitteln auszubooten und mundtot zu machen. Die Aktivität sozialer Gruppen, so meinte noch Kirchheimer, »erreicht selten die politische Ebene; sie verschwindet für immer im Meer gestaltloser Unzufriedenheit« (ebd.: 60). Solche Aussagen der Kritischen Theorie bedürfen der Korrektur. Das Vokabular der Zivilgesellschaft wurde neu belebt und vom Staub der schottischen Aufklärung und des klassischen Liberalismus befreit, um den von Kirchheimer für unmöglich gehaltenen Aufstieg einer Vielzahl von neuen gesellschaftlichen Themen und Impulsen aus dem Meer vorpolitischer Gestaltlosigkeit zu bezeugen. Es gibt jedoch auch eine – aus der Sicht engagierter Beobachter – schlechte Nachricht. Sie lautet, dass die Vervielfältigung und Ausdehnung der Netze und Vereinigungen, teilweise über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus, nur selten etwas zur Belebung des bürgerschaftlichen Engagements in der Demokratie beiträgt. Das inzwischen globalisierte Assoziationswesen kennt zwar auch Menschenrechtsgruppen, Friedensaktivisten und Urwaldschützer, aber die große Masse der Neugründungen besteht aus Organisationen, die einander gleichgültig sind, weil sie Spezialinteressen verfolgen, oder aus sol-

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chen, die sogar Besorgnis erregen. Die erste Gruppe umfasst reine Zweckvereine – der Ameisenforscher, Inline-Skater oder der Hersteller von rückstoßfreien Jagdgeräten –, die das Bild der inzwischen grenzüberschreitenden Verbändelandschaft zu einem großen Teil bestimmen. Die zweite Gruppe besteht zwar aus Gesinnungsvereinen, die im Diskurs der Zivilgesellschaft als Ferment einer Radikalisierung der Demokratie gedacht werden. Aber auch dieser Gruppe kann unmöglich als Ganzer eine demokratisierende Wirkung zugeschrieben werden. Denn was ist mit denjenigen Zusammenschlüssen, in denen die Kooperationsbereitschaft und die Überwindung eng definierter Eigeninteressen gefördert werden, gleichzeitig aber auch der Hass, die Bigotterie und die Fremdenfeindlichkeit? Die politische Antwort auf diese Frage sind zum Beispiel »Antidiskriminierungsgesetze«, deren Paradoxie darin besteht, dass sie ausgehend von einem hohen Zivilgesellschaftsideal staatliche Instanzen zu sehr weit gehenden korrigierenden Eingriffen in die Vertrags- und Organisationsfreiheiten der Bevölkerung ermächtigen.1 Als ein Instrument zur Diagnose gesellschaftlicher Zustände ist die These der Zivilgesellschaft untauglich, weil sie den größten Teil der freiwilligen Vereinigungen, deren Demokratiepotenzial sie beschwört, gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Darin ähnelt sie der melancholischen These vom Verlust des »Sozialkapitals«, die Robert Putnam (2000) am Beispiel des Niedergangs von Bowlingvereinen und Chorgruppen in den USA analysiert hat – ohne freilich den gleichzeitigen Aufstieg von Selbsthilfegruppen, Informationszentren, NewAge-Bewegungen, Milizen, NGOs und ethnischen Brüderschaften zur Kenntnis zu nehmen. In ähnlicher Weise ist die »Zivilgesellschaft« immer wieder aus der virtuellen Perspektive der Teilnehmer von Bewegungen definiert worden, die sich mit diesem Label gleichsam selbst adeln und andere ausschließen wollten. Immer wieder konnte man in den vergangenen Jahren Diskussionen hören, die ungefähr wie folgt klangen. A sagt zu B: »Die Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft. Daher muss man die Bereitschaft der Menschen stärken, sich in Vereinen und sozialen Bewegungen zusammenzuschließen. ›Werdet aktiv!‹ muss man ihnen zurufen.« B erwidert: »Aber Vereine können doch auch Schlechtes im Schilde führen und der Demokratie schaden. Dafür gibt es doch genügend Beispiele.« »Ja

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schon«, entgegnet A, »aber solche Vereine gehören nicht zur Zivilgesellschaft.« Gegen ein solches Ausweichen in metasprachliche Definitionsübungen kann B keinen sachlichen Einwand mehr erheben. Dem Wunsch, Recht zu behalten, kann man dadurch nachkommen, dass man anstelle von Behauptungen über Sachverhalte nur noch sprachliche Erläuterungen gibt. Behauptungen in der Sprache werden dann von Behauptungen über Sprache abgelöst. Der Preis dieses Vorgehens besteht in der vorzeitigen Ermüdung der Diskutanten. Tatsächlich ist die öffentliche und akademische Debatte um die Zivilgesellschaft unter anderem deshalb weitgehend erlahmt, weil die sprachliche Form, in der Äußerungen über die »Zivilgesellschaft« gemacht wurden, oft kaum erkennen ließ, ob die Sprecher Bedeutungen erläutern oder nachprüfbare Behauptungen aufstellen wollten. Bis in die jüngste Zeit diente die Zivilgesellschaftsformel in erster Linie der positiven Selbstidentifikation von politischen Gruppen und diffusen Theorieströmungen, die lange darüber stritten, wer nach Maßgabe welcher Kriterien »dazugehört« und wer nicht. Diese Diskussionen erinnerten stark an die spätmarxistischen Klassentheorien der siebziger Jahre, in denen darum gestritten wurde, ob nur die Arbeiter in der unmittelbaren Produktion oder nicht vielleicht auch Ingenieure, Hausfrauen oder Hochschulassistenten zum »Proletariat« gezählt werden dürften. Ähnlich wie jenen Klassentheorien droht heute dem Diskurs der Zivilgesellschaft ein früher Tod infolge empirischer Belanglosigkeit. Die zunächst radikaldemokratisch gemeinte Formel hat sich, mit einem Wort, in ein ideologisches schwarzes Loch verwandelt. Das Problem ist dabei weniger die Mehrdeutigkeit als die Vagheit des Terminus. Er ist mehrdeutig, insofern er sich manchmal auf unterschiedliche institutionelle Ordnungsmuster bezieht; viel häufiger aber ist er vage, da er sich auf ein und denselben Gegenstandsbereich – das rechtlich geschützte nichtstaatliche Assoziationswesen in Demokratien – bezieht, ohne in kohärente Aussagen über die Grenzen, Gegner und Leistungen dieses Assoziationswesens überführt zu werden.2 So kommt es, dass britische Konservative, deutsche Postkommunisten, das Goethe-Institut, die EU-Kommission und die Weltbank allesamt die Formel Zivilgesellschaft wie ein Mantra anstimmen. Ein erkennbarer normativer Gehalt der Formel bleibt dabei auf der Stre-

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cke, und häufig scheint die Botschaft lediglich auf eine allgemeine Beschwichtigung und den Wunsch nach Konfliktentschärfung hinauszulaufen: »Niemals habt ihr es so gut gehabt, seid nett zueinander und, vor allem, werft den Karren nicht um« (Kirchheimer 1981: 116). Vor dem Hintergrund dieser Malaise soll der vorliegende Essay einen Beitrag zur »intellectual history« des Zivilgesellschaftskonzepts leisten. Das Buch erfüllt seinen Zweck, wenn es die von vielen Fürsprechern der »Zivilgesellschaft« mitverschuldete Unbestimmtheit des Konzepts reduziert und damit ein wenig zum Programm einer Kontextualisierung dieses Schlüsselbegriffs der Gegenwart beiträgt (vgl. Kocka et al. 2001). Dies geschieht im Wesentlichen dadurch, dass ich mich auf den Umweg einer Rekonstruktion der Gegenbegriffe begebe, die seit jeher in den Diskurs der Zivilgesellschaft eingebaut sind, ohne im Normalfall benannt zu werden. Im Einzelnen verfolge ich drei Ziele: 1. Zunächst möchte ich zeigen, wie es dazu gekommen ist, dass der ursprünglich reiche Begriff Zivilgesellschaft zu einem hohlen Wortkörper verkommen ist, in den keinerlei Vergangenheit und konkrete Erfahrung mehr eingehen. »Jeder Begriff hängt an einem Wort, aber nicht jedes Wort ist ein sozialer und politischer Begriff« (Koselleck 1979: 119). 2. In den folgenden Kapiteln sollen dann unter dem Schutt der begriffslosen Floskeln die Kontrastphänomene freigelegt werden, gegen die in unterschiedlichen historischen Kontexten einst der Ruf nach einer »Zivilgesellschaft« laut wurde. Das erste klassische Kontrastphänomen zum Zivilen und seinen politischen Ordnungsbildungen ist das Fanatische, Animalische und Barbarische. Später wurde das Militärische und Staatliche als Gegensatz zur »zivilen« Gesellschaft entdeckt – oder genauer: der Übergriff des Militärischen, des Bürokratischen und des planerischen Kalküls auf die Lebensäußerungen der Gesellschaft. Während Fantasten, Barbaren und Irre einen Verlust an Ordnung bedeuten, der sich in Krisenzeiten in den Gesellschaftskörper hineinzufressen droht, signalisieren umgekehrt die Kräfte des Militärischen und der Bürokratie ein Zuviel an Ordnung, das zur Erstarrung führt und die Handlungsfähigkeit der Einzelnen und Gruppen bedroht.

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Diesen beiden Gegenbildern zur Zivilgesellschaft steht ein weiterer Antagonist zur Seite, nämlich der Produzent, der mit Stoffen arbeitet und von jeher dem Bürger suspekt war, wie auch umgekehrt in bestimmten historischen Phasen der Bürger dem Produzenten suspekt wurde. Interessanterweise jedoch steht die Arbeitswelt – anders als die Welt des Krieges oder der stammelnden Schwärmerei – in keinem notwendigen Ausschlussverhältnis zur Zivilgesellschaft. Statt von einem Gegenbild müsste man eher von einem Kippbild sprechen, das je nach Lesart einen anderen Sinn ergibt. 3. Schließlich wird meine Darstellung auf die zwei wichtigsten aktuellen Wandlungen in der Verwendungsweise des Schlagworts »Zivilgesellschaft« eingehen. Die erste Wandlung ist die der »globalen Zivilgesellschaft«, ein Begriff, der hauptsächlich von den Vertretern der These einer »zweiten Moderne« in Umlauf gebracht worden ist. Während ich diesen Begriff als unbrauchbar und ideologisch verwerfe, werde ich eine Lanze brechen für eine zweite jüngere Verwendungsweise von »civil society«. So haben amerikanische Kultursoziologen den Begriff empirisch umdefiniert und in einer Weise methodisch zugespitzt, dass die historischen Frontstellungen der älteren Semantik gegen Krieger, Irre oder Produzenten aufgegeben werden. Im Mittelpunkt dieser Perspektive stehen öffentliche Narrative, in denen ausgehandelt wird, welche Gruppen mit welchen anderen solidarisch sind und wo – gerade im Zeitalter weltumspannender Vergesellschaftungsprozesse – die Grenzen dieser Solidarität liegen.3 Bevor ich mich den unterschiedlichen Gegen-, Kipp- und Trugbildern zuwende, die dem Zivilgesellschaftsvokabular in der Vergangenheit eine bis heute spürbare Bedeutung gesichert haben, möchte ich zunächst den dramatischen Bedeutungswandel und -verlust des Begriffs Zivilgesellschaft in Erinnerung rufen. Am Anfang der spezifisch modernen Begriffsgeschichte von »civil society« standen die Intellektuellen der so genannten Progressive Era in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts (John Dewey, Mary Beard, Walter Lippmann, Thorstein Veblen und andere). Wie der Historiker Friedrich Jaeger (2001) gezeigt hat, bildete der Begriff der Zivilgesellschaft in dem vorwiegend New Yorker Milieu den Fokus einer Theorie der Politik, in deren Mittelpunkt ein aktivistisches Verständnis von Bürgerschaft und die Idee der Selbstorganisation der Gesellschaft

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durch »voluntary associations« standen. Neben diesem Konzept der gesteigerten bürgerschaftlichen Aktivität und Selbsterziehung wurde zugleich ein aktiver, interventionistischer Staat gefordert – oder anders herum ausgedrückt: die Verabschiedung des Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts zugunsten von mehr »Kontrolle« und »Planung« sozialer Abläufe. In einem völlig anderen Sinn tauchte die »Zivilgesellschaft« in den siebziger Jahren als ein antistaatlicher Kampfbegriff wieder auf. Hier ist die Erfahrung der polnischen Solidarnos´c´ zu nennen, die nicht an die großstädtischen Intellektuellen der USA, sondern eher an Motive der europäischen Revolutionen von 1848 anknüpfte, in denen sich das Bürgertum mit der »Gesellschaft« identifizierte und damit »seine Distanz zum Staate« (Forsthoff 1972: 117) zum Ausdruck brachte. In ähnlicher Weise aktualisierten 130 Jahre später Arbeiter und andere Unzufriedene in Polen die Formel der civil society, um ihren Unmut über einen autoritären und inkompetenten Staat zu artikulieren. Während der großen Streiks im Jahre 1980 erlebte das Land eine beispiellose Phase organisatorischer Kreativität und das Erwachen aus einem sozialen Zustand, der immer wieder in klinischen Begriffen als gesellschaftliche Schizophrenie oder als Koma gekennzeichnet wurde. Der Journalist Ryszard Kapus´cin´ski hat die wunderbare Ironie beschrieben, mit der die Arbeiter in Danzig und Stettin nunmehr tatsächlich jene führende Rolle beanspruchten, die ihnen im Lichte der kommunistischen Parteidoktrin immer schon zukam. Die beiden Hafenstädte verwandelten sich in Orte, »an denen eine neue Moral Platz griff. Keiner trank, keiner machte Ärger, keiner wachte morgens mit einem Kater auf. Die Verbrechensrate sank auf Null, die Gewalt verschwand. Die Leute wurden freundlich zueinander, hilfsbereit und offen. Vollkommen Fremde empfanden plötzlich, dass sie einander brauchten« (zit. nach Ost 1990: 9). In dieser Momentaufnahme blitzt das Bild eines auf gemeinsame Werte gegründeten republikanischen Gemeinwesens auf, in dem die Einzelnen ihre moralische Frustration überwinden und ein öffentliches Gesicht zeigen, um im selben Zuge kollektiv handlungsfähig zu werden.4 Von hier aus ist es ein weiter Weg zu den Verwendungsweisen, die der Begriff in der Bundesrepublik der frühen neunziger Jahre

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gefunden hat. Zunächst war von Zivilgesellschaft immer dann die Rede, wenn ganz buchstäblich die »Radikalisierung« der westdeutschen Demokratie im Sinne ihrer Verwurzelung im gesellschaftlichen Leben gefordert wurde. »Zivilgesellschaft« war der Name für eine solche nachträgliche Verwurzelung der demokratischen Institutionen in den Praktiken und Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger, die begonnen hatten, sich verstärkt in Parteigliederungen, Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen zu engagieren. Der enge Zusammenhang von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Modernisierung, demokratischen Institutionen und demokratieförderlichen Einstellungen, der theoretisch in den sechziger Jahren aufgelöst worden war – man denke an den berühmten Soziologentags-Vortrag von Lepsius (1969) –, schien in der reifen Bundesrepublik empirisch wiederhergestellt worden zu sein. Von einigen Sprechern wurde dabei freilich der Begriff der Zivilgesellschaft für ein Gesellschaftsbild beansprucht, dessen Unterschied zu der zitierten Situationsschilderung in den polnischen Städten des Jahres 1980 nicht größer hätte sein können. Den Gesellschaften des Westens wurde nämlich nahe gelegt, in das Entwicklungsstadium einer Demokratie einzutreten, in der auf »jede – und noch so schwache – Suggestion von Einheit« (Dubiel 1994: 113) verzichtet und insbesondere die Idee der Nation als Haftungs- und Kommunikationsgemeinschaft überwunden werden sollte. Der Schwund jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalts konnte aus dieser Sicht nur von erweiterten demokratischen Verfahren begleitet werden, die den unumkehrbar auseinander strebenden Erwartungen der sozialen Gruppen wenigstens das eigene Bild der »normativen Desintegration« (ebd.) vorhalten würden. Indem die deutschen Interpreten die »Zivilgesellschaft« auf die ihrer Ansicht nach unvermeidliche normative Desintegration moderner Gesellschaften gründeten, liefen sie Gefahr, eine ebenso zusammenhanglose wie im Ernstfall politisch wehrlose Organisationslandschaft zu idealisieren, wie sie übrigens bereits während der Weimarer Republik existierte. So hat die Historikerin Sheri Berman (1997) eindrucksvoll gezeigt, dass sich damals große Teile der Bevölkerung sehr zum Schaden ihres Landes in Vereinen und Verbänden eingekapselt hatten, ohne daran zu denken, gemeinsam auf der Basis einer imagi-

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nären Einheit der Gesellschaft an klassenübergreifenden politischen Institutionalisierungsprozessen mitzuwirken. Ganz ähnlich haben deutsche und französische Forscher die bohrende Frage, warum die Demokratie in Deutschland 1933 der Herrschaft Hitlers weichen musste, während in Frankreich die politische Rechte und der Antisemitismus innenpolitisch gebändigt werden konnten, mit dem Hinweis auf den viel stärker ausgeprägten Basiskonsens der Dritten Republik und der entsprechend großen Integrationskraft der französischen Demokratie beantwortet.5 Nun weisen die von mir stilisierten Kerne eines »polnischen« und eines »westdeutschen« Diskurses über die Zivilgesellschaft immerhin noch die Gemeinsamkeit auf, dass sie sich beide ihrem Anspruch nach auf die Herstellung oder Radikalisierung demokratischer Verhältnisse bezogen haben. An anderen Stellen konnte jedoch zugleich beobachtet werden, wie sich der Bedeutungsgehalt der »Zivilgesellschaft« von jeglichem Bezug auf demokratiepolitische Fragestellungen ablöste. Symptomatisch hierfür ist die Aufmerksamkeit, die man im Zeichen des interkulturellen Dialogs zum Beispiel für die Bemühungen der chinesischen Staatsführung und ihrer Intellektuellen aufbrachte, eine Zivilgesellschaft ohne Demokratie zu schaffen. In China war seit Beginn der neunziger Jahre die Rezeption der mittlerweile globalen Debatte um die Zivilgesellschaft von der Weigerung begleitet, »westliche« Demokratievorstellungen zu übernehmen. Ganz im Sinne dieser Lesart erklärte eine chinesische Gelehrte auf einer Tagung der evangelischen Akademie in Loccum im Sommer 1998 die spezifisch chinesische, kulturell eingebettete Zivilgesellschaft zur Abwehrformel gegen überzogene Demokratisierungsansprüche. Die Errichtung einer Zivilgesellschaft habe in China nichts mit »Opposition gegenüber staatlicher Autorität und Verwaltung« (Mao 1999: 39) zu tun. Solche außereuropäischen Importe haben dazu beigetragen, die Zivilgesellschaft als eine Sozialtechnik der Streitvermeidung vorzustellen, während sie von anderen ganz im Gegensatz dazu als Kampfbegriff gegen die kontinentaleuropäische Konsensgesellschaft verstanden wird.6 Im benachbarten Ausland, etwa in Frankreich, machte die semantische Entleerung des Zivilgesellschaftsbegriffs in den neunziger Jahren gleichfalls Riesenfortschritte. Von der Zivilgesellschaft im Irak sagen die einen, dass Saddam Hussein sich auf sie stützen konnte,

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während die anderen behaupten, er habe sie zerstört. Auch extremistische Koranschulen in Zentralasien und anderswo werden inzwischen mit dem Etikett einer »islamischen Zivilgesellschaft« versehen.7 Die jüngsten Indizien dafür, dass vom historischen Begriff der Zivilgesellschaft nur noch Schall und Rauch übrig geblieben sind, bieten die folgenden zwei Beispiele. Während des Krieges gegen das Taliban-Regime in Afghanistan erklärte der Geschäftsführer einer Hilfsorganisation in Frankfurt, nun würden durch die gewaltsame Herstellung einer minimalen staatlichen Ordnung und die Invasion von humanitären Großorganisationen jene fragilen »zivilgesellschaftlichen Strukturen« ruiniert, die sich im Untergrund gebildet hätten. Mit demselben Argument hätte man wohl auch von zivilgesellschaftlichen Strukturen im Warschauer Ghetto sprechen können, die im Falle einer Befreiung von außen zerstört worden wären. Das andere Beispiel bot die Anti-Rassismus-Konferenz der Vereinten Nationen im südafrikanischen Durban im September 2001. Aufgrund eines zunehmend großzügigen Akkreditierungsverfahrens gelang es einer Vielzahl von freiwilligen nichtstaatlichen Organisationen aus islamischen Ländern, sich als »NGOs« und als Sprecher der weltweiten Zivilgesellschaft an der Formulierung von Resolutionen zu beteiligen. Einige dieser Gruppen nutzten allerdings den Wohlklang dieser Termini, die längst zum offiziellen Wortschatz der UN-Bürokratie gehören, um den Staat Israel mit antisemitischen Attacken zu überziehen oder auch gelegentlich mit Hitler-Bildern auf Flugblättern für Aufsehen zu sorgen.8 Mit einem Wort: Während in der Sozialphilosophie lange Zeit der Beitrag des Zivilgesellschaftskonzepts zu einer Radikalisierung des etablierten Modells liberaler Demokratie diskutiert worden ist, sind wir inzwischen Zeugen einer Entwicklung, in der das Konzept verwendet wird, um die legitimatorischen Mindestanforderungen liberaler Demokratie zu unterbieten. Das Label »Zivilgesellschaft« wird heute in Anspruch genommen, um eine herrschaftskompatible soziale Unterfütterung der chinesischen Parteidiktatur zu begründen, um die vermeintlichen Freiheitsspielräume unter dem Regime der Taliban in Afghanistan vor westlichen Interventionen in Schutz zu nehmen oder um in den nichtstaatlichen Foren der Vereinten Nationen für die

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Auslöschung Israels – und damit der einzigen Demokratie im Nahen Osten – zu streiten. Das Problem ist nicht nur, dass die Vertreter einer Theorie der Zivilgesellschaft zwischen harmoniebetonten und streitlustigen, republikanischen und prozeduralistischen Varianten einer radikaldemokratischen Kritik schwanken. Das »polnische« Ideal einer neuen kommunitären Moral steht unvermittelt dem späten »westdeutschen« Modell einer nicht länger wehrhaften Demokratie gegenüber, deren Intellektuelle gut gelaunt dem vermeintlichen Zerfall aller einheitsstiftenden politischen Gemeinsamkeiten und Werte beiwohnen. Wirklich schwanken kann jedoch nur der Bedeutungsgehalt von Ausdrücken, die noch über ein Minimum an Verankerung in den Überlieferungen einer historischen Semantik verfügen. Davon kann im Falle der »Zivilgesellschaft« gar keine Rede mehr sein. Vielmehr sind wir am Nullpunkt einer semantischen Verfallsgeschichte angekommen. Um zu rekonstruieren, wonach der Wortkörper »Zivilgesellschaft« einmal geklungen hat, werde ich im Folgenden die zu wenig beachteten Kontrastphänomene beleuchten, gegen die immer wieder die Forderung nach einer »zivilen« politischen Ordnung erhoben wurde.

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Gegenbild I: Fantasten, Sektierer und Barbaren

Societas civilis, civil society, Zivilgesellschaft – bei allen diesen Ausdrücken handelt es sich um Begriffe, die negativ bewertete Gegenbegriffe mitkommunizieren. Die Zivilgesellschaft tritt als Glied von Begriffspaaren auf und ist darüber hinaus so angelegt, dass es zwischen ihr und ihrem Anderen keine Ebenbürtigkeit und keine »wechselseitige Anerkennung« (Koselleck 1979: 213) geben kann. Reinhart Koselleck spricht in solchen Fällen von polemisch aufgeladenen, »asymmetrischen Gegenbegriffen«, die die moderne politische Sprache kennzeichnen. Ähnlich wie der prominente Dualismus von Freund und Feind bieten die Begriffspaare, in denen die »Zivilgesellschaft« auftaucht, ein inhaltlich offenes Spektrum von Ausschlussmöglichkeiten des jeweils Unzivilen: »ein Raster möglicher Antithesen« (ebd.: 258), die als solche gar nicht benannt werden müssen. Ein Gegensatz zum »Zivilen« der Zivilgesellschaft ist offenkundig das Unzivilisierte im Sinne des Rohen, Animalischen und Barbarischen. Diese Antithese ist allerdings bereits in der griechischen und römischen Antike geläufig, also lange bevor es zu einer Differenzierung von Staat und Gesellschaft und damit zur modernen Idee der Zivilgesellschaft kam. Gleichwohl begleitet der Assoziationshof des Animalisch-Unzivilisierten und haltlos Fantastischen auch die moderne Semantik. Eine Beschäftigung mit diesen Kategorien ist außerordentlich bedeutsam, wenn man bedenkt, dass Konzepte des Animalischen und Wilden immer wieder die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft durchbrochen haben und mehr oder weniger bewusst zur

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kollektiven Repräsentation sozialer Verhältnisse und Hierarchien zwischen Menschengruppen verwendet wurden.9 Mit Blick auf die antike Vorläuferschaft moderner Diskurse über das Animalische und Barbarische lässt sich der Unterschied zwischen dem Zivilen der jeweils eigenen politischen Gemeinschaft und ihrem Gegenpol anhand von drei unterschiedlichen Dimensionen feststellen: Die Barbaren werden von anderen Handlungsmotiven beherrscht, sie pflegen andere soziale Beziehungen und haben andere Institutionen. Die griechischen Dichter waren besonders von der barbarischen Psychologie angetan, die sie teils den Persern andichteten, teils aber auch den übernatürlichen Geschöpfen ihrer eigenen Fantasie, den Zentauren, Zyklopen und Amazonen. Als barbarisch galt die Gutgläubigkeit, durch die die Feinde im Ernstfall zur leichten Beute listenreicher griechischer Seefahrer und Krieger wurden, ihre Neigung zu panischer Flucht in Spannungssituationen im Unterschied zur Disziplin der Griechen, überhaupt ihre unkontrollierte Emotionalität und ihre Unfähigkeit, sinnlichen Reizen zu widerstehen. Das vorherrschende soziale Beziehungsmuster, das in den griechischen Trägodien als barbarisch galt, war der übertriebene Sinn für schroffe Hierarchien, gepaart mit vollendeter Gesetzlosigkeit. Typische Institutionen der Barbarei waren der vermeintliche Kannibalismus und die Herrschaft der Frauen. Vergleichbare Stereotype haben später römische Autoren auf die »wandernden« Germanenvölker angewendet und ihnen auf diese Weise eine literarische Existenz verliehen. Während man später in einem metaphorischen Sinne von der Zivilgesellschaft als einem besonderen Bereich oder einer Sphäre innerhalb der modernen Gesellschaft sprechen wird, ist in der Antike die Scheidung zwischen dem Zivilen und dem Barbarischen noch in einem ganz buchstäblichen Sinne eine räumliche. Auch hier jedoch tritt neben die räumlich-»bereichslogische« eine »interaktionslogische« Bestimmung der Differenz von Zivilisation und ihrem Gegenteil, insofern die Barbaren auch durch ihre Gesetz- und Zügellosigkeit definiert werden. Bereits bei den Griechen erfuhr der Topos der Barbarei eine gewisse Vergeistigung, da er eben nicht durchgängig territorialisiert und auf die verfeindeten Perser gemünzt war.10 Politisch prägend wirkte diese Vergeistigung allerdings erst in der frühen Neuzeit, als sie unter ganz anderen Namen gefasst und erstmals auch

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ausdrücklich in Gegensatz gebracht wurde zu den Grundlagen einer zivilen politischen Lebensform.

Jean Calvin: Wider die Fantasten »Thus, engagement in politics entails a d i s c i p l i n e d imagination« (Oakeshott 1975: 164). Luhmann hat in seinem posthum veröffentlichten Hauptwerk über Politik in der modernen Gesellschaft zu Recht festgestellt, dass das Vokabular der Zivilgesellschaft im Zuge seines jüngsten publizistischen Booms jeglichen empirischen Bezug verloren hat: »Die heutige Wiederaufnahme dieses Begriffs auf Grund historischer Rekonstruktionen trägt so deutlich schwärmerische Züge, dass man, wenn man fragt, was dadurch ausgeschlossen wird, die Antwort erhalten wird: die Wirklichkeit« (Luhmann 2000: 12). Interessant ist der Vorwurf des »Schwärmerischen«. Luhmann scheint nicht zu ahnen, dass er die »Zivilgesellschaft« durch diese Kritik mit einem der Begriffe verknüpft, gegen den sie historisch eingeführt worden war. Er legt damit zugleich eine Spur, der es nachzugehen lohnt. Bevor die Idee der Zivilgesellschaft als Kampfbegriff gegen die Bedrohung durch einen übermächtigen Staat abgerufen wurde, richtete sie sich umgekehrt gegen die Gefahr der Abwesenheit jeglicher staatlichen Ordnung. Am Anfang war die Angst vor den Folgen haltloser Schwärmerei und vor dem »Fanatismus«. Das Wort »fanatisch« kommt vom lateinischen fanum und bedeutet: Tempel, heilige Stätte. Die ebenfalls nachweisbare ältere Schreibweise »phanatisch« könnte auf das griechische phantasma verweisen, dessen Wurzel phos, das Licht, ist. Hier berühren wir bereits das Bedeutungsfeld der Halluzination, des Visionären und anderer argumentationsresistenter Vorstellungskräfte.11 Fanatismus ist das Gegenteil von Kritikfähigkeit: das Gegenteil der Kunst der Unterscheidung. Es ist kein Zufall, dass es Vertreter der kritischen Theorie waren, die im Verlust der Fähigkeit zu differenzieren ein bedrohliches Merkmal ihrer Zeit sahen. Theodor W. Adorno entdeckte dieses Merkmal ironischerweise auch an der Studentenbe-

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wegung, die sich teilweise ganz zu Unrecht viel auf ihre Kritikfähigkeit zugute hielt. In einer Diskussion im Dezember 1967 verwarf der Frankfurter Soziologe beispielsweise die Neigung studentischer Gruppen, den Unterschied zwischen dem faschistischen und dem demokratischen Staat zu nivellieren. »Und ich würde sagen«, so Adorno, »dass es abstrakt wäre und in einem problematischen Sinn fanatisch, wenn man diesen Unterschied übersehen würde« (Adorno et al. 2000: 167).12 Adorno plädiert an dieser Stelle für nüchterne Realitätserkenntnis gegen die radikalen Kerzenträger politischer Bigotterien, die Gesellschaftskritik mit ihrem Gegenteil verwechseln: der Entdifferenzierung komplexer Sachverhalte. Der Fanatiker, so die Botschaft, ist derjenige, der sich dadurch unterscheidet, dass er keine Unterschiede macht. Die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft zur Differenzierung bildet zugleich das semantische Bindeglied zwischen dem Fanatiker und dem Barbaren. Wenn man nach der Herkunft dieses Kritikmusters sucht, stößt man auf die frühneuzeitlichen Konfessionsstreitigkeiten, in denen das gesamte Bedeutungsfeld des Fanatisch-Fantastischen politisch aufgeladen wurde (vgl. Colas 1992). Jean Calvin und Philipp Melanchthon bekämpften die anabaptistischen Sekten ihrer Zeit, die die Erwachsenentaufe und urkommunistische Lebensstile propagierten, sowie andere Häretiker als Fanatiker, Fantasten und Schwärmer. Ungeachtet der Tatsache, dass calvinistische Sekten im 17. Jahrhundert ihrerseits als fanatisch galten, weil sie nicht zwischen Sünde und Verbrechen zu unterscheiden wussten (vgl. Oakeshott 1993: 17), ist Calvin ein Pionier der Kritik des Fanatismus und damit zugleich ein früher Analytiker der modernen Politik. In seinem 1535 vollendeten Hauptwerk Institution de la religion chrétienne formuliert Calvin unter anderem die Grundgedanken des reformatorischen Bildersturms gegen den Überschwang der »fantasie« und gegen die »fantosmes« der Katholiken (Calvin 1964, Bd. 3: 129f.). Dabei gerät auch die alte Lehre von den Wundern in Mitleidenschaft. Wie viele Protestanten beteiligte sich Calvin an der Entwicklung des Begriffs der reinen Tatsache. Von wahren Wundern erwartete er, dass sie allen evident seien und sich nicht im Geheimen zutragen durften. Auf den Teufel folgte der abergläubige Sektierer als Gefahr für die nüchterne Erkenntnis, als Störquelle des festen Glaubens und als Vergifter der Vorstellungskraft.

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In verschiedenen Zusammenhängen ist zudem die Rede von den »sectes phantastiques«, die durch ihre pseudo-christliche oder offen gottlose Lebensführung nicht nur die reine Lehre des Evangeliums in Frage stellen, sondern auch die Einheit des politischen Gemeinwesens in Calvins Wahlheimat Genf bedrohen. Die Fanatiker und Fantasten sind Gegner einer »zivilen« Regierungspraxis, weil sie die Einfältigen und Wankelmütigen zu einer »unordentlichen Lebensführung« (vie dissolue) verführen und die Grundunterscheidung von Recht und Unrecht außer Kraft setzen. Dies hat zur Folge, dass »jeder ohne Skrupel seinen Regungen nachgibt, die christliche Freiheit missbraucht, um sich jegliche fleischliche Zügellosigkeit zu gestatten und Gefallen daran findet, die ganze Welt in Unordnung zu bringen und das Gemeinwesen und jeglichen menschlichen Anstand [toute police, ordre et honnesteté humaine] über den Haufen zu werfen« (ebd., Bd. 7: 155). Ähnlich wie moderne politische Denker von Weber bis Gramsci oder Hannah Arendt betrachtet Calvin den Irrlauf einer durch keinerlei Empirie und Argumentation disziplinierten Vorstellungskraft als Auslöser einer Vielzahl von zivilisationsgefährdenden, »barbarischen« Praktiken. In Buch IV, Kapitel 20 (»Du gouvernement civil«) seines Werkes begründet Calvin systematisch und in polemischer Frontstellung gegen die »fantastiques« die Notwendigkeit, himmlische und irdische Dinge sorgfältig auseinander zu halten und sich um beide gleichermaßen zu kümmern. Die Fantasten, die er kurzerhand mit Barbaren in eins setzt, werfen stattdessen die beiden Sphären durcheinander und halten es für unter ihrer Würde, sich mit den »schmutzigen und profanen Angelegenheiten zu befassen, die mit dem Treiben auf dieser Welt zu tun haben« (ebd., Bd. 4: 1127). Entsprechend sieht nach Calvin ihre politische Bilanz aus. Wer unter Verweis auf die Eitelkeit aller irdischen Bemühungen im Lichte der Ewigkeit den Nutzen einer wohlgeordneten »ordonnance civile« bestreitet, wird von ihm einer »unmenschlichen Barbarei« (ebd.: 1126, 1128) geziehen. Hier scheint bereits ein Begriff von Diesseitsorientierung auf, von »worldliness«, wie Hannah Arendt viel später sagen wird. Modern ist Calvin darin, dass für ihn die gerechte Ordnung der Dinge nicht länger kosmologisch gegeben ist, sondern aktiv durch Macht und Willensanstrengung hergestellt werden muss. Den Kern einer solchen zivilen Ordnung

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sieht er in Institutionen, die gemeinnützige Tätigkeiten der Bürger würdigen und entlohnen, während sie verwerfliche bestrafen. Nur so lasse sich die elementare »Disziplin der menschlichen Gesellschaften« (ebd.: 1137) aufrechterhalten. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass erst mit Calvin ein Bewusstsein der Notwendigkeit von Politik im modernen Sinne entsteht. Das »Treiben auf dieser Welt« wird auf einmal nicht nur aufmerksam betrachtet und bewertet, es gilt auch als reformierbar.13 Noch wichtiger: Die Religion fungiert nicht länger als ein Instrument der bestehenden Herrschaft, sondern als Medium der Herstellung eines zivilen Gemeinwesens unter den Bedingungen extremer Turbulenzen. Ein kurzer Blick auf die Stadt Genf in der Mitte des 16. Jahrhunderts macht die Ausgangslage für die Geburt der modernen Politik aus dem Geist des reformatorischen Christentums deutlich. Genf war zu jener Zeit eine Stadt, die in jeder Hinsicht das Bild einer aus heutiger Sicht unvorstellbaren sozialen Desintegration geboten haben muss. Menschen starben an der Pest, es herrschte eine große religiöse Unruhe, manchmal – etwa im Jahr 1546 – zogen schwer bewaffnete spanische Truppen vorbei und lösten panische Angst aus, während man zugleich von den Türken und Tataren gehört hatte, die zur selben Zeit Budapest belagerten. Die Stadt lag an der Schnittstelle verschiedener expansionistischer Mächte und konnte sich lange Zeit keiner sicheren Grenzen erfreuen. Bern, Frankreich und der Herzog von Savoyen machten territoriale Ansprüche geltend. Beherrscht wurde die Gemeinde von reichen Familienclans, die ihrerseits im Austausch standen mit einer Vielzahl überaus reger religiöser Gruppierungen. Diese wiederum erhielten immer wieder Zulauf besonders aus dem benachbarten Frankreich. Auch Calvin war bekanntlich ein Asylsuchender, der sich jedoch sogleich mit den Alteingesessenen der Stadt anlegte (vgl. Naphy 1994). Wie andere Zeitgenossen betrat er als ein religiöser Virtuose den noch ungeschützten öffentlichen Raum, um mit den Mitteln der advokatorischen und prophetischen Rede die Bevölkerung zu agitieren und letztlich zu einem proto-modernen Staatsvolk zu formen. Wie kein anderer hat Calvin dabei die städtische Umwelt seiner Zeit als barbarisches Gegenbild einer politisch verfassten Zivilgesellschaft gedeutet. Seine öffentlichen Predigten sind voller Anklagen

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eines moralischen Verfalls, der oft drastisch ausgemalt wird. Ruchlose Briganten, ausschweifende Gotteslästerer und Dunkelmänner aller Art prägen Calvins Gegenwartsbild. Häufig handelt es sich freilich bei den farbigen Verfallsschilderungen um »self-denying prophecies«, die Gegenkräfte zur Abwendung eines drohenden Schicksals mobilisieren sollen – eine rhetorische Form, die wir auch aus modernen Zeitdiagnosen kennen. Manchmal richten sich die ungezügelten Brandreden gegen die Patrizierfamilien der Stadt: »Auf den Straßen von Genf kann man mehr Ehrgefühl und Loyalität unter den Hunden finden. Die Läden sind Höhlen für Räuber, die jederzeit bereit sind, einem armen Mann die Kehle durchzuschneiden« (zit. nach Naphy 1994: 157). Bei anderen Gelegenheiten zieht Calvin über nicht näher bestimmte Mitbürger her: »Sie sind so frech geworden, dass sie die Straßen entlang stolzieren und mit ihren Untaten auch noch prahlen. Oh, möge uns Gott diesen Anblick ersparen. Doch wie stehen die Dinge? Ein ehrlicher Mann traut sich kaum auf die Straße. Er wird beschimpft und verächtlich gemacht, belästigt und verspottet. Wenn er angegriffen wird, kann er sich kaum verteidigen. Und was passiert mit den Übeltätern, diesen Galgenvögeln? Man hätte sie schon vor Jahren aufhängen sollen« (ebd.). Calvin beklagt sowohl die mangelnde öffentliche Fähigkeit, überhaupt zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, als auch die institutionelle Schwäche und den Gleichmut der Stadträte und Richter, die nicht willens sind, das Unrecht, sofern sie es erkennen, zu bekämpfen. Er verweist damit auf das Fehlen von Grundbedingungen nicht nur des modernen Staates, sondern jeglichen zivilen Miteinanders.14 Gerne geht Calvin auch zu offener Publikumsbeschimpfung über. Immer wieder schmäht er die Genfer als wilde Tiere und als Bestien ohne Moral, was gelegentlich zu offenen Tumulten und anschließenden Festnahmen unter den Zuhörern führt. Nicht mit Blick auf eine bevorstehende Endzeit, sondern auf einen erst noch herzustellenden politischen Zusammenschluss der Bürger fordert Calvin sein Publikum zur moralischen Umkehr auf. Darin unterscheidet er sich von den alttestamentarischen Propheten, die er sich häufig zum Vorbild nimmt. Die politische Absicht der Errichtung einer wohlgeordneten Republik erklärt auch die enorme Bedeutung

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des scheinbar rein theologischen Streits um das Bilderverbot. Damit nämlich das Gemeinwesen Bestand hat, muss es nach Calvin auf dem Fundament eines einfachen, für alle nachvollziehbaren religiösen Bekenntnisses ruhen, das als solches ohne substanziellen Streit – »sans controverse« (Calvin 1964, Bd. 3: 55) – akzeptiert wird. Hier liegt letztlich auch der politische Sinn des Bilderverbots. Calvin weiß, dass das Verhältnis von Sprechen und Sehen, Sagbarem und Sichtbarem ein spannungsvolles ist und dass sich das Verständnis von Bildern niemals durch einen Metadiskurs vollständig kontrollieren lässt. Bilder sind ein schlechtes Mittel der religiösen Unterweisung, weil sie einen Raum für fantasiegesteuerte Deutungskontroversen schaffen, die dann gefährlich sind, wenn das religiöse Bekenntnis selbst die Definitionsgrundlage des »bonum civile« bildet und folglich aus dem öffentlichen Streit der Sekten und Fraktionen herausgehalten werden muss. Der im Kern politische Charakter der Predigten Calvins, die auf die Herstellung ziviler Formen des politischen Zusammenlebens zielen, wird schließlich auch daran deutlich, dass er seine wütenden Anklagen unter den Vorbehalt mäßigender Selbstbeschränkung stellt. Sie sollen nämlich keinesfalls die Herstellung der politischen Einheit durch die Anstachelung von Rachegefühlen und Verfolgungsgelüsten beschädigen. Auch wenn sich dies aus heutiger Perspektive angesichts seiner eigenen Tiraden (und Untaten) kaum mehr erkennen lässt: Calvin unterscheidet mit großem Nachdruck zwischen politischen Redegenres, bei denen selbst die gerechteste Sache der Welt durch Fanatisierung in ihr Gegenteil verkehrt wird, und solchen »iustes plaidoyeurs« (ebd., Bd. 4: 1148), die zur Mäßigung der öffentlichen Leidenschaften beitragen, indem sie ihrerseits eine solche Mäßigung zum Ausdruck bringen.

Weber und Gramsci: Animalität als Bedrohungsmetapher Gegen das populäre Zerrbild des pedantischen, eisern disziplinierten Pflichtmenschen, dessen einzige Lust die Arbeitslust ist, hat schon Weber darauf hingewiesen, dass die calvinistisch geprägte Askese tatsächlich zum Ziel hatte, die Einzelnen mental und politisch in die

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Lage zu versetzen, ein »waches bewußtes helles Leben führen zu können« (Weber 1986: 117). Die Voraussetzung hierfür wurde in der Bändigung der inneren Natur gesehen. Eine naturalistische Metapher für diese unbändige innere Natur, die in der Soziologie und Zeitkritik Webers anklingt, ist die der »bête humaine«, des Tiers im Menschen. Auch Weber konzipiert die Normalität einer selbstbewussten bürgerlichen Gesellschaft ausgehend von ihrem bedrohlichen Anderen. Wenn man den Blick auf einzelne gesellschaftliche Ordnungen verengt, erscheint bei Weber die Überwindung von Tradition und Regellosigkeit durch asketisch-rationalistische Selbsterziehung durchaus als »Fortschritt«. Im Zuge der frühen Modernisierung sind nämlich Habitusformen entstanden, die sich erstmals gegen die feudale und fatalistische »Selbstverständlichkeit der Sklaverei und der Hörigkeit« einschließlich der traditionellen »Art der Frauenverachtung und -domestikation« (Weber 1976: 376) richteten. Weber würdigt den Beitrag religiöser sozialer Bewegungen zur Herstellung elementarer Voraussetzungen des zivilen Miteinanders. Gleichwohl kann er nicht als ein optimistischer Soziologe des Zivilisationsprozesses gelten. Wenige moderne Denker haben mit vergleichbarem Nachdruck die Unvermeidlichkeit und Unüberwindbarkeit von Gewalt und Zwang im Zusammenleben der gesellschaftlichen Gruppen und Staaten betont. Der Zivilisation ist es nach Weber zwar gelungen, Dämme gegen den Ausbruch von spontaner Gewalt zu errichten, nicht jedoch das Ausmaß der Gewalt selbst, wo sie in »legitimen« Formen ausgeübt wird, einzuschränken oder erträglicher zu machen. Auch sonst ist Weber dem Anblick des ›Anderen der Zivilgesellschaft‹ nicht ausgewichen. Auf die Bürokratiekritik werde ich noch zu sprechen kommen. Zunächst soll jedoch seine politische Zeitdiagnose auf Metamorphosen jener Barbareikritik an den Folgen einer losgelassenen inneren Natur befragt werden, als deren moderner Pionier Calvin gelten kann. Indem Weber keinen Zweifel daran lässt, dass demokratische Politik allein »mit dem Kopf« gemacht wird – und nicht etwa auch mit dem Herzen, das traditionellerweise als Sitz der Fantasie und der Emotionen gilt –, führt er eine Grundunterscheidung fort, die auch dem Begriff der Zivilgesellschaft innewohnt (vgl. Weber 1984: 549). Nur eine Politik, die mit dem Kopf gemacht wird, ist demnach zur

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Selbstbeschränkung und Regelbefolgung fähig, während Gefühle als ufer- und grenzenlos und damit als bestandsbedrohend für politische Ordnungen betrachtet werden. Weber hat den Begriff der »Affektpolitik« geprägt, um Formen regelwidriger emotionaler Mobilisierung zu bezeichnen. Seine politische Kritik speziell an der zeitgenössischen Linken ist über weite Strecken eine Kritik ihrer »Affektpolitik«.15 Ähnliches gilt für die Kritik an der wilhelminischen Monarchie und den monarchistischen »Literaten«. Emotionalisierte Politik ist nach Weber nicht nur notorisch erfolglos, sondern auch undemokratisch. Das Argument lautet dabei wie folgt: Zwar treibe die Affektpolitik von Monarchisten, Syndikalisten und Spartakisten ein zur Masse reduziertes Volk auf die Straßen, aber diese Masse sei unfähig, ihrer eigenen Außensteuerung durch »emotionale und irrationale Beeinflussung« entgegenzutreten. Weber sieht das Paradox, dass die »Demokratie der Straße« gar keine ist, weil sie lediglich den Einfluss von politischen Spekulanten, Putschisten und »Zufallsdemagogen« steigert, ohne zum Aufbau rationaler Verbandsstrukturen beizutragen (Weber 1984: 549f., 392). Der enge Zusammenhang von Annahmen über Massen, Emotion und Demokratie wird auch daran deutlich, dass Weber die populär-rationalistische Idee einer Hydraulik entladungsfähiger Emotionen unvermittelt in die ebenso gängige Metapher vom politischen »Druck« der Straße übersetzt. Großstädtische Masse und kollektive Emotion stehen nicht nur in einem Verhältnis statistischer Korrelation, sondern spiegeln einander als Kategorien politischer Reflexion. Der Druck von kollektiven Emotionen auf die politischen Institutionen und der individualpsychologische Druck von Emotionsschüben auf das nervöse Stellwerk rationaler Handlungsorientierungen werden analog gesetzt und durch dasselbe Vokabular bezeichnet. Sowenig das affektuelle Handeln ein echtes Handeln ist, sowenig ist die emotionsgetriebene Masse zu handeln imstande. Vielmehr agiert sie im Modus des Anschwellens, Ausbruchs, Aufflammens – wiederkehrende Weber’sche Wortbilder, die Heftigkeit und Flüchtigkeit zugleich signalisieren. Weber sah das kaiserliche, dann das revolutionäre Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Griff von demagogisch angeheizten Affektepidemien, die auf eine durch Entbehrung und Kriegsnot emotional erregbare Bevölkerungsmasse trafen. In Deutschland rationale

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Politik treiben zu wollen, schreibt er Anfang 1920, sei so lange unmöglich, »als – von links und rechts – Irrsinnige in der Politik ihr Wesen treiben können« (Weber 1988: 273). In der kurzen Phase seines eigenen politischen Engagements hat sich Weber selbst gerne demagogischer Stilmittel bedient, um dieser Auffassung Ausdruck zu verleihen. So ist er in den Monaten unmittelbar nach den revolutionären Ereignissen des Novembers 1918 in vielen Städten als prominenter und wortgewaltiger Wahlkampfredner für die neugegründete liberale Deutsche Demokratische Partei aufgetreten. Diese öffentlichen Reden, die teilweise von Reportern mitgeschrieben wurden, erinnern durchaus an die maßlosen Zornesausbrüche des Jean Calvin auf den Straßen von Genf: »Man sieht nichts als Schmutz, Mist, Dünger, Unfug und sonst nichts anderes. Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten« (ebd.: 441). Kollektive Emotionen sind für Weber dann eine Gefahr für rationale Politik, wenn sie Fantasmen generieren, die realistische Situationsbeschreibungen und eine Abwägung von praktikablen Handlungsalternativen unmöglich machen. Nun könnte das kleine böse Zitat zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg den Schluss nahe legen, Weber habe die Anfälligkeit für Bilder treibende Emotionen vor allem auf der politischen Linken seiner Zeit gesehen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die viel größere Gefahr sieht er in der Fixierung auf das Fantasma des »roten Gespenstes« und in der irrationalen Angst des deutschen Bürgertums vor diesem imaginären Gespenst. Wie später Gramsci, der nach 1926 mehr als zehn Jahre unter Mussolini im Gefängnis saß, erkennt Weber frühzeitig, dass der radikale Sozialismus im »Westen« niemals eine echte Chance hatte. Das Angstbild vom roten Gespenst führte jedoch dazu, dass sich das Bürgertum mental einigelte und auch den gemäßigten Führern der Arbeiterbewegung größtenteils feindselig gegenüberstand. Webers gesamte politische Kritik lässt sich als eine Kritik an der habituellen Unfähigkeit des wilhelminischen Bürgertums lesen, im eigenen Interesse über den Schatten der eigenen Fantasmen zu springen und nach langfristig tragfähigen Verfassungskompromissen mit der damals aufstrebenden Arbeiterbewegung zu suchen. Solche Verfassungskompromisse sollten Deutschland auch in die Lage versetzen, überseeische Kolonien zu erwerben und zu halten. In

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diesem Zusammenhang spricht Weber von der Riege der »Herrenvölker«, zu denen auch die Deutschen gezählt werden müssten (vgl. z. B. Weber 1984: 593ff.). Darin klingt der Gegenbegriff des Barbarischen an, der allerdings für Weber weniger eine territoriale als eine psychosoziale Größe bezeichnet. Die Eigenschaften des Destruktiven, rational Unmotivierten und Regellosen, die einmal ganzen Völkern zugeschrieben wurden, dienen jetzt der Charakterisierung sozial wirksamer Emotionslagen und ihrer fantasmatischen Grundlagen. Diese Emotionslagen möchte Weber vor allem durch rationale politische Verbandsstrukturen disziplinieren und umformen lassen. Das politische Anspruchsniveau an die Fähigkeit zur öffentlichen Kommunikation soll zum einen durch die »Parlamentarisierung« des Regierens erhöht werden, zum anderen durch starke Gewerkschaften, aber auch durch kleinräumigere Strukturen der »Wutkontrolle« und der »Kanalisierung« unbeherrschter destruktiver Emotionen, wie sie ungefähr zur selben Zeit amerikanische Unternehmer und Betriebswirte als Instrumente der Menschenführung unter den Bedingungen rapider gesellschaftlicher Modernisierung empfahlen (vgl. Stearns 1988). Das Modell der Kanalisierung kollektiver Emotionen durch Verbände unterscheidet sich sowohl von der liberalen Vorstellung einer Zurückdrängung des Emotionalen in den Bereich der Privatsphäre und des Familienlebens wie auch von der rousseauistischen Vorstellung einer totalen Verwandlung des Gefühlshaushalts und der Interessendefinition der Einzelnen durch affektuelle Vergemeinschaftung. Während Zwang und Außensteuerung als Elemente herrschaftsförmiger Erziehung unverkennbar sind, plädiert Weber sehr wohl auch für institutionelle Formen der Selbsterziehung, deren Idealtypus er im exklusiven »amerikanischen Club« sieht, der wiederum nur aus dem Geist des puritanischen Sektenwesens zu verstehen sei (vgl. Flitner 2001: 280). Dem »radikalen Idealismus« der Sekten verdanken wir nach Weber die Gewissensfreiheit ebenso wie die grundlegenden Menschenrechte, die die Voraussetzung jeglicher Art von ziviler Selbstorganisation bilden.16 Es ist aufschlussreich, an dieser Stelle den Blick auf Antonio Gramsci zu richten, der als ein marxistischer Weber gelten kann. Anders als Weber, der freilich auch die erzieherische Aufgabe herr-

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schaftlicher Institutionen betont, verwendet Gramsci explizit den Terminus »Zivilgesellschaft« (società civile). Damit werden solche Institutionen bezeichnet, die in modernen Gesellschaften das politische und soziale Handeln der Individuen durch Lernanreize regulieren, ohne dabei unmittelbaren staatlichen Zwang anzuwenden. Das Material, das in den Institutionen der Zivilgesellschaft bearbeitet und raffiniert wird, fasst Gramsci offen in die Begriffe des Barbarischen und Animalischen. Im Unterschied zu Marx jedoch, für den Barbarei und Zivilisation noch territoriale Zuschreibungen waren, finden wir bei Gramsci eine weitgehende Entterritorialisierung dieser Etiketten, mit denen die innere Natur des industriell noch nicht optimal angepassten Menschen bzw. des voll funktionstüchtigen Arbeiters der modernen taylorisierten Wirtschaft gekennzeichnet werden.17 Interessanterweise zeigen sich in diesem Zusammenhang sowohl Weber als auch Gramsci vom amerikanischen Gesellschaftsmodell beeindruckt, in dem sie eine historisch ganz unwahrscheinliche Verbindung von umfassender sozialer Rationalisierung und missionarischem Idealismus verwirklicht sehen. Gramsci interessiert am Fall der Vereinigten Staaten der direkte Beitrag der großen und kleinen Institutionen der Zivilgesellschaft – von der empirischen Sozialforschung bis zum Rotary Club – zur produktiven Rationalisierung der Gesellschaft im Zeichen des »Fordismus«. Das Resultat ist ein zweifaches: erstens ein ›schlanker‹ Staat, und zweitens eine systematische psychophysische Anpassung der arbeitenden Bevölkerung an die Erfordernisse der industriellen Massenproduktion. Ich gehe auf beide Aspekte kurz ein. In einer Sprache, die man heute als ›neoliberal‹ bezeichnen würde, kritisiert Gramsci in seinen 1934 geschriebenen Notizen über Americanismo e fordismo den italienischen Staat seiner Zeit als »Quelle des absoluten Parasitismus«, der es zahllosen Einwohnern erlaube, trotz bester Gesundheit und relativer Jugend als Frührentner zu leben (Gramsci 1975: 2143f.). Die europäische »Zivilisation« – Gramsci selbst verwendet hier Anführungszeichen – leide am Bleigewicht ihrer Traditionen, an verkrusteten Sozialstrukturen und parasitären Mentalitätsmustern. Anders die Vereinigten Staaten, über die sich das europäische Bildungsbürgertum zu Unrecht erhaben wähne: Dort sei es gelungen, »das Leben des gesamten Landes auf die Produktion zu

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gründen« (ebd.: 2146) und die Erfordernisse der Produktivitätsentwicklung zum Maß aller übrigen Dinge zu machen. Gramsci glaubt aus der Ferne der Entstehung einer neuen neopuritanischen Zivilisation beizuwohnen, die nicht nur fortschrittliche Produktionsmethoden hervorbringe, sondern auch eine neue Art und Weise, die Produktion von Gütern zu denken. Diese positiv gemeinte Charakterisierung amerikanischer Industrie, Verwaltung und Sozialtechnik durch einen modernen Marxisten findet eine Entsprechung in Gramscis Faible für die aggressiv traditionsfeindliche Kunst und Ideologie des italienischen Futurismus. Einige Nachgeborene haben in seiner Amerikaapologie sogar Parallelen zu Ernst Jüngers Eloge des neuen »Arbeiter«Menschentyps im Gegensatz zum liberalen Bourgeois des 19. Jahrhunderts gesehen.18 Ähnlich wie Weber, der die »Kaffeehausintellektuellen« und »Tagediebe« der modernen Großstädte als Profiteure und Anheizer einer irrationalen Affektpolitik denunziert, sieht Gramsci bei denjenigen sozialen Gruppen, die nicht der Disziplin produktiver Arbeit unterworfen sind, die Gefahr einer »regressiven« Propaganda moralischer Haltlosigkeit und sexueller Libertinage (ebd.: 2163; vgl. Weber 1984: 391). Das Amerika der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts ist für ihn vorbildlich, weil hier ein progressives Industriebürgertum auf dem »Schlachtfeld des Begehrens« (vgl. Stearns 1999) entscheidende Siege davongetragen habe, ohne in erster Linie auf staatliche Repression zu setzen. Stattdessen seien neue Instrumente der zivilen Menschenführung und der feinmaschigen »Regulierung« (regolamentazione) des Alltags zum Einsatz gekommen, die im Unterschied zur Militarisierung der Arbeit im revolutionären Russland nicht nur das äußere Verhalten, sondern auch die moralischen Motive und Überzeugungen der Arbeiter beeinflusst hätten. Gramsci unterscheidet damit genau wie Weber zwischen der messbaren Arbeitseignung und der mentalen Neigung zur Arbeit.19 Die Überbetonung des staatlich-militärischen Zwangs durch die Bolschewiki – ihren »mechanischen Utopismus«, wie es später bei einem amerikanischen Soziologen heißt (Lerner 1957: 942) – ist aus Gramscis Sicht nicht moralisch fragwürdig, sondern schlicht ineffektiv. In dem Maße, wie er den autoritären Staat für unfähig hält, die neuen Produktionsmethoden dauerhaft zu verankern, plädiert der Mitbegründer der

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kommunistischen Partei Italiens daher indirekt für »demokratische« Formen der politischen Steuerung.20 Zusammenfassend kann man feststellen, dass Gramscis einflussreicher Begriff der Zivilgesellschaft sein eigentümliches Profil in der Auseinandersetzung mit der Frage erhalten hat, wie sich die Triebnatur der Massen den Anforderungen der industriellen Massenproduktion und des Massenverbrauchs unterordnen lässt, ohne auf die ineffektiven Zwangsmaßnahmen zurückzugreifen, die von den russischen Kommunisten favorisiert wurden. Die Zivilgesellschaft zielt nicht allein auf die Schaffung eines korrekten ›Bewusstseins‹ der Bevölkerung durch Überzeugung und Erziehung, sondern dringt buchstäblich vor bis ins Nervensystem der Einzelnen, indem die barbarischen und »animalischen« Anteile der Persönlichkeit gezähmt werden. Gramsci spricht wörtlich von der »Unterwerfung der natürlichen, das heißt der tierischen und primitiven Instinkte« durch einen Kranz von Institutionen, die die moderne Industrie umgeben (Gramsci 1975: 2160). Ferner legt er den an Calvin erinnernden Schluss nahe, dass die mangelnde Selbstkontrolle über die sexuellen und gewalttätigen Instinkte einhergeht mit Erscheinungen des »religiösen Fanatismus« (ebd.: 2148), wie man sie besonders in einigen ländlichen Provinzen des südlichen Italien beobachten könne. Kenner haben immer wieder darauf verwiesen, dass Gramsci seine Zivilgesellschaft außerhalb der Ökonomie und jenseits von Hegels »System der Bedürfnisse« im »Überbau« ansiedelt (vgl. Bobbio 1977). Diese zutreffende Einordnung muss allerdings durch den Hinweis ergänzt werden, dass erst die Einrichtungen der Zivilgesellschaft – die schon von Weber geschätzten »amerikanischen Clubs«, die puritanischen Abstinenzbewegungen, das moralpolizeiliche Inspektionswesen etc. – die Unordnung der kollektiven »animalischen« Triebnatur in ein geregeltes System der Bedürfnisse transformiert haben. Insofern trägt die Zivilgesellschaft, wie Gramsci sie konzipiert, unmittelbar zur Konstitution einer modernen Ökonomie bei.

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Hannah Arendt: Das Tier im Europäer Hannah Arendt möchte ich als die dritte Autorin einführen, deren Analysen moderner Formen von Barbarei die Kontrastfolie einer normativ anspruchsvollen Idee der Bürgergesellschaft bilden. Ihre Leidenschaft galt dem zweifachen Ziel, »to differentiate man from nature and save man from phantasm« (Kateb 1984: 3). Was diese Formulierung bedeutet, zeigt insbesondere ihre schlaglichtartige Analyse des europäischen Kolonialismus in Afrika, die ich kurz skizzieren werde. Das Pathos einer zivilen öffentlichen Sphäre des Politischen steht für Arendt im Gegensatz zum Bild einer »barbarischen« Situation, in der eine Gemeinschaft ihre Fähigkeit einbüßt, die eigene Zukunft durch selbst gegebene Regeln zu gestalten. Es ist dieser Gegensatz des Bürgerlich-Bäuerlichen zum »Barbarischen«, der den republikanischen Diskurs der Demokratie bestimmt. Der »Mob«, wie es in Arendts Totalitarismus-Studien heißt, besteht aus reizbaren sozialen Atomen, die zwar den »Fremden« hassen und jederzeit auf ihn einzuschlagen bereit sind, zugleich aber den Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden, den die klassischen nationalen Bewegungen beschworen, gar nicht mehr kennen und laufend verwischen. Als Metapher für einen Zustand der zerstörten Selbstorganisationsfähigkeit formell freier Bürger kann die ansonsten zweifellos fragwürdige Kategorie des »Mobs« auch heute verwendet werden. Arendt nimmt mit diesem suggestiven Wortbild Annahmen der Sozialwissenschaft vorweg, die darüber diskutiert, inwiefern moderne Gesellschaften ihren sozialen und politischen Zusammenhalt verlieren und damit ihr »soziales Kapital« verschleißen.21 Es ist die Grenzverwischung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die aus der Sicht Arendts den Beitrag des europäischen Kolonialismus zur Genese des modernen totalitären Denkens und seiner herrschaftspraktischen Konsequenzen darstellt. Während für Habermas die Kolonialisierung der Lebenswelt nicht mehr ist als eine metaphorische Redensart, ist für Arendt die Erfahrung des modernen Kolonialismus maßgeblich für das Verständnis der Verfallsgeschichte der europäischen Bürgergesellschaft. Sie tritt damit als jene Autorin in Erscheinung, die zentrale transnationale und transkulturelle Voraus-

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setzungen und Implikationen des europäischen Demokratieideals herausarbeitet. Vor allem die Vorgänge im Süden Afrikas im 19. und frühen 20. Jahrhundert spielen in dieser Perspektive eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der Mentalität des europäischen »Mobs«. Die Besonderheit der kolonialen Situation in Afrika kann darin gesehen werden, dass die Radikalität der Differenz zwischen Buren, Deutschen und Engländern auf der einen und den schwarzen Ureinwohnern auf der anderen Seite jegliche Dialektik von Herr und Knecht unmöglich machte. Die Kategorien von Herrschaft, Konflikt und Fortschritt, wie sie der europäischen Geschichte entsprachen, konnten keine Anwendung finden in der subtropischen Welt der Kapkolonie, die Arendt unter dem Einfluss von Schriftstellern wie Joseph Conrad als »schemenhaft« und »halb irreal« charakterisiert. Hinzu kam die besondere Erfahrung einer »unberührten Natur, deren überwältigende Feindseligkeit niemals sich in menschliche Landschaft gewandelt und gemildert hatte« (Arendt 1986: 316). Wie bei Conrad erscheint auch bei Arendt die tropische und subtropische Natur als Instanz letzter Sinnabweisung, als ein Ort reiner Kontingenz, an dem das Kulturwesen Mensch nichts zu suchen hat. Diese übermächtige Natur, in der prähistorisch anmutende Raub- und Herdentiere umherwandern und eine geordnete bäuerliche Urbarmachung und Bewirtschaftung lange Zeit unmöglich schien, wird in Analogie gesetzt zu den ebenso zahlreichen wie kulturell unansprechbaren Eingeborenenstämmen, die den europäischen Eindringlingen keinerlei Aussicht auf eine Herrschaft ließen, die auch nur entfernt europäischen Modellen feudaler Treue oder kapitalistischer Vertragsarbeit glich. Die demographische Entwicklung der Bantuvölker verhinderte zudem einen Entwicklungspfad, wie ihn Nordamerika und Australien nahmen, wo die Urbevölkerung nach der Ankunft der Europäer zahlenmäßig zusammenschrumpfte. Auch im Amerika des späten 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Gefahr, von der gewaltigen Wildnis verschluckt und – beispielsweise durch die Intimität mit Squaws – von einem »zivilen« in einen Zustand der »Barbarei« zu regredieren, scharf wahrgenommen (vgl. Axtell 1981). Nur der Süden Afrikas ist jedoch für Arendt das Laboratorium, wo sich ein solches kulturelles Abgleiten vom Königs-

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weg der erfolgreichen Neugründung eines republikanischen Gemeinwesens tatsächlich studieren lässt. Die Schwarzen Afrikas hielten ihrer Verdrängung durch die Weißen stand und benahmen sich dabei ganz und gar nicht wie Robinsons Freitag, der einen zentralen Platz in der Vorstellungswelt des vorimperialistischen Europa einnahm und in hohem Maße die interkulturellen Erwartungen der zukünftigen Siedler prägte (vgl. Zantop 1997). Das paradoxe Resultat dieser Differenzerfahrung waren teils Massaker, teils eine eigentümliche Dynamik leerlaufender Herrschaftsambitionen, die neben der Verrohung der Europäer durch die alltägliche Praxis hemmungsloser Gewaltanwendung zuletzt ein Aufgehen der weißen Siedler in der unbeherrschbaren »einsamen Wildnis« Afrikas bewirkte. Arendt bindet ihren Zivilisationsbegriff an die ursprünglich agrikulturellen Bedeutungen des Wortes »Kultivierung«. »Kultur« kommt vom lateinischen cultus und bedeutet ›den Acker bearbeiten‹ oder auch ›hüten und pflegen‹. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Arendt die »barbarische« Situation in großen Teilen Afrikas letztlich an die vermeintliche Unmöglichkeit einer rationalen Landwirtschaft bindet, wie das folgende Zitat zeigt: »Der schlechte Boden, der intensive Bewirtschaftung und dichte Siedlungen verbot, brachte die aus einer festen, bodengebundenen, dörflichen Organisation stammenden holländischen Bauern in kürzester Zeit sehr nahe an die nomadisierende Hirten- und Jägerexistenz ihrer barbarischen Umgebung … Keine Organisationsform irgendeiner Art hielt das eroberte Volk zusammen; kein Territorium wurde definitiv gewonnen und definitiv besiedelt. Weder Schwarze noch Weiße hatten ein Gefühl für den Boden, auf dem sie lebten; weder die einen noch die anderen brachten es zu einer staatlichen oder auch nur kommunalen Organisation. ›Each man fled the tyranny of his neighbour’s smoke‹ blieb das Gesetz des Landes, in dem sich das ausdrückte, was die Buren unter Freiheit verstanden. Jede Organisation bedeutete ihnen Freiheitsberaubung, und sie bildeten eine Gesellschaft, die außer der Familie kein Band zwischen Menschen anerkannte und die nur eine gemeinsame Gefahr zusammenhalten konnte« (Arendt 1986: 317f.). Die südafrikanischen Kolonialherren, so kann man diesen Gedanken zusammenfassen, erkauften ihren Erfolg damit, dass sie den

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Kolonisierten immer ähnlicher wurden und das Ethos ihrer Herkunft verleugneten. Dabei ist zunächst nebensächlich, dass das extrem negative Image afrikanischer Bauern und Nomaden, das Arendt auf die weißen Siedler ausdehnt, typisch für die Sichtweise der Kolonialmächte war (vgl. Mackenzie 1998: Kap. 4). Entscheidend für den Gang ihrer weiteren Argumentation ist vielmehr Arendts Pointe, dass mit der Selbsttribalisierung der Afrikaander alle Fremden ebenfalls automatisch als Angehörige einer »Rasse« wahrgenommen wurden. Dies galt in erster Linie für die nach Südafrika eingewanderten Juden, die ihre Fremdheit gleichsam in weißer Haut zu verstecken schienen. Die kulturelle Mutation von Weißen in afrikanische Ureinwohner zweiten Grades und die imaginäre Einteilung von Menschengruppen in Rassen begann sich nach dem Burenkrieg auch auf Europa auszuwirken. Im Burenkrieg behandelten die Briten die weißen Siedler und ihre Familien ähnlich wie diese die Urbevölkerung behandelt hatten. Rohformen der zwangsweisen Zusammenfassung großer Menschenmengen wurden erfunden, die die Briten selbst als »concentration camps« bezeichneten. Bald darauf gingen auch in China und Indien die imperialistischen Verwaltungen dazu über, die unterworfenen Bevölkerungen ebenso wie sich selbst als »Rassen« zu begreifen und zu behandeln. In dieser Übertragung liegt für Arendt der Keim des Verderbens. Während sie die Fassungslosigkeit europäischer Pioniere angesichts afrikanischer Lebensformen teilt, sieht sie das »eigentliche Verbrechen« des Kolonialismus darin, »Asiaten ebenfalls wie Neger zu behandeln« (Arendt 1986: 334). In solchen entgleisten Formulierungen deutet sich eine Sichtweise an, in der man zumindest Ansätze einer gewissen Reterritorialisierung des Barbareibegriffs erkennen könnte. Wenn Arendt von »Zivilisation« spricht, meint sie die »westliche Zivilisation« – ein Begriff, der von populären britischen Schriftstellern gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, um weniger die Überlegenheit des »Westens« gegenüber dem »Osten« als vielmehr gegenüber dem wirtschaftlich stagnierenden und moralisch verkommenen tropischen »Süden« der Erde zu behaupten.22 Arendt ist geradezu entwaffnend eurozentrisch, wenn sie zu erkennen gibt, dass sie sich für den Kolonialismus ausschließlich unter dem Aspekt seiner korrumpierenden Rückwirkungen auf die Mentali-

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tät der europäischen Oberschichten und des »Mobs« interessiert. Die neben dem Rassegedanken zweite wichtige Lektion, die Europäer aus der kolonialen Erfahrung zogen, war eine wirtschaftliche. Südafrika lehrte, dass sich die Gesetze des kapitalistischen Marktes, die der Liberalismus als unhintergehbar betrachtet hatte, durch systematische Gewalt zugunsten einer »Herrenrasse« oder Bürokratenkaste aushebeln ließen. Produktivitätsverluste und wirtschaftlich irrationale Betriebsführung konnten demnach in dem Maße ausgeglichen werden, wie »fremde und rückständige Völker« (Arendt 1986: 335) ihrer Verwandlung in lebenden Rohstoff nichts entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich bestätigen Historiker, dass sich eigentümliche Rückwirkungen der kolonialen Erfahrung auf Europa erstmals im späten 19. Jahrhundert in Britannien feststellen lassen, bevor sie auf dem Kontinent einen weitaus fruchtbareren Boden fanden. Die koloniale Erfahrung eines Lebens in einem Vakuum der Kommunikation – »cut off from the comprehension of our surroundings« (Conrad 1995: 62) – unterminierte das aufklärerische Selbstverständnis europäischer Bürger. Eine pessimistische Anthropologie wurde ebenso einflussreich wie nachliberale Regierungsideale. Die Art und Weise, in der zum Beispiel Britisch-Indien verwaltet wurde, schien plötzlich nicht mehr nur ein Modell für das Empire, sondern auch für das Mutterland selbst abzugeben. Diese Ansätze einer Rückverpflanzung imperialistischer Herrschaftsmethoden scheiterten allerdings in diesem Fall am Widerstand einer robusten öffentlichen Meinung – ein Widerstand, der nur in Deutschland und Russland von den »totalitären Imperialismen« der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts gebrochen werden konnte. Erst dieser Typus des Imperialismus zerstörte alle bisherigen europäischen Regierungsideale, indem er dazu überging, den Kolonialismus auch in der Mitte Europas an unterdrückten Völkern zu erproben (vgl. Arendt 2000a: 73ff.). Insbesondere der Krieg gegen die Herero in ›Deutsch-Südwestafrika‹, bei dem mindestens 60 000 Angehörige dieses Volkes getötet wurden, war aus Arendts Sicht ein Vorbote der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus.23 Die Besonderheit der verfallstheoretischen Deutung des Schicksals der europäischen Bürgergesellschaft, die Arendt vornimmt, liegt in einer zweifachen Bewegung. Zunächst übernimmt sie ungeachtet

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ihrer grundsätzlichen Kritik an der Hybris der Europäer den kolonialen Blick auf das »barbarische« Afrika. Die Kolonialismuskritik wird folglich nicht aus der Perspektive der Kolonisierten geübt, sondern mit Rücksicht auf die untergegangene präkoloniale Bürgergesellschaft des alten Europa, die durch die moralischen Bumerang-Effekte der kolonialen Praxis großen Schaden genommen habe. Afrikas nicht mehr romantisierbare »Wildnis«, seine Überbevölkerung und die schiere Faktizität scheinbar unabänderlicher sozialer Daseinsformen verwandeln sich für Arendt zuletzt in ein Vexierbild jener heraufziehenden europäischen Massengesellschaften, die sie bezeichnenderweise mit einem »Dschungel« (Arendt 1986: 378) gleichsetzt. Das Bild vom Dschungel dient der metaphorischen Neubeschreibung der zerfallenen europäischen Gesellschaften im Lichte der kolonialen Erfahrung der Tropen. In demselben Sinne hat auch Alfred Döblin das Europa der dreißiger und vierziger Jahre als »neuen Urwald« charakterisiert (so der Titel des dritten Bandes seiner nach 1936 entstandenen Amazonas-Romantrilogie). Auch dieser deutsche Exilant sah in dem Versuch der kolonialen Unterwerfung und Besiedelung der tropischen und subtropischen Welt den Prolog zu jenem politischen Drama, das sich später auf dem europäischen Festland abspielen sollte. Wie Döblin deutet auch Arendt mit der Metapher des Dschungels den zentralen zeitdiagnostischen Befund an, dass gerade unter den Bedingungen der entfalteten Moderne die »nackte brutale Tatsache« (ebd.: 387) des bloßen Lebens aus allen zivilisierenden Umkleidungen gelöst wird und politische Relevanz gewinnt. Die kapitalistische Dschungelgesellschaft setzt eine Abwärtsspirale in Gang, die vom Verlust des vormals kollektiv geteilten Gefühls, einer »patria« anzugehören, zur Aufgabe jeglicher politischer Selbstbeschränkung und zur Entstehung ideologischer Fantasmen führt. Das objektive Pendant zur Praxis der Selbstbeschränkung wäre demgegenüber eine begrenzte Gemeinschaft, die sich als Staat organisiert. Der Raum des Öffentlich-Politischen ist ein endlicher Raum, weil sich die Selbstgesetzgebung des Volkes nicht ablösen lässt von den territorialen Bezügen, die überhaupt erst ein Staatsvolk konstituieren und vom seriellen Kollektiv beliebiger Menschenansammlungen unterscheiden.

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»Die Menschenmassen, in die Städte gelockt, kamen fest in die Hände ihrer eisernen Regenten« (Döblin 1980: 79). Die Art und Weise, in der ich bisher vorgegangen bin, unterscheidet sich von derjenigen Ernest Gellners (2001), der die politisch angeschlagenen »Rivalen« der Zivilgesellschaft identifiziert hat, damit wir uns an der Existenz dieser Gesellschaft umso mehr freuen können. Anders als ihm kommt es mir nicht darauf an, die Zivilgesellschaft als ein empirisches Phänomen auf einer moralischen Weltkarte zu verorten. Gellner geht es um die Selbstbeschreibung der »atlantischen« Demokratien nach 1945, die er in Gegensatz bringt zu den osteuropäischen Diktaturen des Kommunismus sowie zu den islamischen Ländern, in denen sich nicht einmal der Wunsch nach Freiheit rege und Vetternwirtschaft ebenso wie die Herrschaft von Familienclans als gottgegeben gälten. Im Unterschied zu dieser Verräumlichung politisch-moralischer Kategorien geht es mir um eine Aufhellung des semantischen Untergrunds des Zivilgesellschaftskonzepts, das im »Westen« entwickelt worden ist, um erst im Nachhinein auf die Welt als Ganze übertragen und projiziert zu werden. Wir haben gesehen, dass in der europäischen Geschichte die erste Negationsfigur eines »zivilen« Gemeinwesens in der kommunikationslosen, wahnhaften Entfesselung der Fantasie und den entsprechenden regellosen Handlungsfolgen entziffert wird. Die zweite Negationsfigur ist neueren Datums und speist sich aus der Zivilisations-

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angst vor einer Übermacht bürokratischer Verhaltensregeln über die Sinn stiftenden Ressourcen der Lebenswelt. Der Angst vor einem unaufhaltsamen Schwund der Ordnung steht demnach die Angst vor einem Zuviel an Ordnung gegenüber. Ich beginne das Kapitel mit einem kurzen Blick auf die wechselnden Konjunkturen dieser beiden Ängste, die immer wieder zu Impulsen für die Vision einer freien Bürgergesellschaft wurden.

Zwischen Staatskritik und Barbareikritik »Zwei Gefahren«, meinte einmal Paul Valéry, »bedrohen unaufhörlich die Welt: die Ordnung und die Unordnung.« Die Wiederaufnahme des Vokabulars der Zivilgesellschaft in den achtziger Jahren erfolgte noch ganz im Zeichen der Bedrohung durch zu viel »Ordnung«. In Ost und West verlor sogar die Linke den Glauben an die Emanzipation des Menschen durch den Staat, und auch der Glaube an den Schutz der Bevölkerung durch den Staat bzw. das militärische System der Staaten begann zu schwinden. Dieser zweite Aspekt gründete teils in einer Verharmlosung des sowjetischen Kommunismus, die besonders bei osteuropäischen Dissidenten auf Unverständnis stieß, teils aber auch auf einer Wiederbelebung der älteren Schreckbilder, die seit dem Zweiten Weltkrieg sowohl mit dem atomaren als auch mit dem Kalten Krieg verbunden waren. Die Vokabel des »kalten Krieges« tauchte erstmals im Oktober 1945 in einem Zeitungsartikel von George Orwell auf. Orwell zeichnete darin die Vision monströser Superstaaten, die aufgrund ihres Besitzes der Atombombe die Welt unter sich aufteilen und die Bevölkerungen zu andauernder politischer Passivität verurteilen könnten. »Uns könnte nicht der allgemeine Zusammenbruch, wohl aber eine Epoche schrecklicher Stabilität bevorstehen, einer Stabilität, wie sie die Sklavenreiche der Antike kannten« (Orwell 1945). Am Ende der von Orwell prophezeiten Epoche des Kalten Krieges tauchte dieses Motiv einer Schrecken erregenden Stabilität noch einmal in pazifistisch gestimmten Zeitdiagnosen auf, die mit dem Vokabular der Zivilgesellschaft das westliche Verteidigungsbündnis kritisierten. Diese friedensbewegte Stimmung wurde in der Bundesrepublik

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durch die Forderung ergänzt, im Namen der Zivilgesellschaft auch das Konzept der wehrhaften Demokratie zu den Akten zu legen (vgl. Rödel et al. 1989). Neue soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen festigten die Überzeugung, dass auch in Deutschland die Gesellschaft reif genug sei, sich um sich selbst zu kümmern. Hinzu kam die Einsicht, dass sich die Mittel der staatlichen Bürokratie keineswegs, wie noch Max Weber (1976: 128) glaubte, erfolgreich »auf alle Aufgaben« anwenden lassen. Was früher Anlass zu Pessimismus gewesen wäre – die Krise des allzuständigen Staates –, wurde jetzt als ein gutes Zeichen gewertet. »Ende des Staates – Anfang der Bürgergesellschaft« lautete in diesem Sinne das Thema der Frankfurter Römerberggespräche vor einigen Jahren. Wenn freilich im Diskurs der Zivilgesellschaft vom Ende des Staates gesprochen wird, so ist damit lediglich seine friedliche Transformation hin zu einem international vernetzten, standortsensiblen Wettbewerbsstaat mit zivilgesellschaftlicher Komponente gemeint. In weniger begünstigten Teilen der Welt jedoch endet der Staat in einem ganz buchstäblichen Sinne. In diesen Regionen beobachten wir Prozesse des Staatszerfalls im Zuge der Beseitigung oder der klientelistischen Instrumentalisierung von Amtsinhabern durch rivalisierende Clans und marodierende Privatarmeen. Diese schaffen sich ihre Gesetze selber und verfügen über keinerlei durch gemeinsam geteilte »nationale« Überzeugungen gefestigte Beziehungen zur Bevölkerung des Territoriums, in dem sie operieren. In Teilen Afrikas, Zentralasiens oder der Andenregion in Lateinamerika kehrt die Vergangenheit der Bürgerkriege und der politischen Anomie wieder, gegen die sich der klassische bürgerliche Verfassungsstaat in seiner Frühzeit definiert und behauptet hatte. Diese sinnbildliche Verräumlichung der eigenen Vergangenheit hat in den letzten Jahren mit dazu beigetragen, neben dem staatskritischen das barbareikritische Motiv, das im Begriff der Zivilgesellschaft anklingt, in die Erinnerung zurückzurufen. Sie hat zugleich an die Unersetzbarkeit des Staates und zwischenstaatlicher Bündnisse für die Erlangung bestimmter Kollektivgüter wie der Eindämmung externer und interner Gewalt erinnert. »Wer sich gelegentlich fragt, warum wir einen Staat brauchen, sollte eine Gegend aufsuchen wie den Kosovo«, lautete ein Kommentar von Timothy Garton Ash im Anschluss an den Nato-Krieg gegen Jugoslawien.24

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Tatsächlich haben die Schrecken des Bürgerkriegs und der »ethnischen Säuberungen« auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien nach 1992 maßgeblich zum Wechsel des dominanten Gegenbildes beigetragen, das man heute im Visier hat, wenn man an dem normativen Ideal einer »zivilen« Gesellschaft festhält.25 Mit den Bürgerkriegen in Jugoslawien tauchten auch die alten naturalistischen Bilder vom »Tier im Menschen« oder vom dünnen »Firnis der Zivilisation« wieder auf. Der britische General Michael Rose, zeitweise Kommandeur der UN Protection Force (UNPROFOR) in Bosnien, hat in einem eindrucksvollen Bericht geschildert, wie ihm klar wurde, dass es in den jugoslawischen Konflikten nicht nur um das Überleben einzelner Volksgruppen, sondern um das der »Zivilisation selbst« ging: »Es geschah, als ich einen Heckenschützen sah, der mit einem Simonow-Gewehr in der Hand seine Stellung in einem zerstörten Gebäudekomplex verließ. Er war ein gut aussehender Junge, blond und blauäugig, keine zwanzig Jahre alt. Als er mich jedoch anschaute, bemerkte ich, dass seine Augen tot waren – so tot wie die Augen des Kindes, das höchstwahrscheinlich dieser Mann am selben Tag in einer Straße in Sarajevo aus dem Hinterhalt getötet hatte. Dies war nicht mein Krieg, aber als Mensch war ich sehr wohl beteiligt. Ich verstand plötzlich, dass dieser Schütze für die Zivilisation selbst eine nicht minder große Gefahr darstellte wie für die Bürger von Sarajevo« (Rose 1999: 3). Seit diesem Krieg scheinen die älteren Negationsfiguren der Zivilgesellschaft – Webers stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit oder Orwells hyperstabile Atomstaaten – zugunsten einer Welt aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden zu sein, die nicht von einem Zuviel an Ordnung, sondern von unkontrollierbaren Zerfallsprozessen bedroht wird. Nicht der Orwell’sche Kontrollstaat, sondern Sekten, Seuchen und Separatisten werden wie in der frühen Neuzeit zum Anlass weit verbreiteter Ängste. Gefahr droht weniger von den Staaten als von den desintegrierten, territorial entgrenzten Gesellschaften. Hier hat auch die Ereignisikone des 11. September 2001 ihren Platz. Die MegaAttentate in den USA haben deutlich gemacht, wie die organisierte Zerstörungswut kleiner Gruppen vom gesamten technologischen und infrastrukturellen Leistungsprofil moderner Gesellschaften zehren kann, um Zivilisten in Kernregionen des Westens aus heiterem Him-

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mel zu Kriegsopfern zu machen. Die Verwandlung von zahlreichen Elementen des modernen Zivillebens – Bankverbindungen, Flugzeuge, Studentenaustauschprogramme usw. – in ebenso viele Elemente eines blutigen Kampfes unterscheidet die Attentäter des 11. September vom Kohlhaas-Typus des klassischen Fanatikers, der für eine vorgeblich gerechte Sache streitet.26 Zugleich steht jenes Datum für die Rückkehr einer Sorte von Kriegern, die als »Barbaren in der strengen moralischen Bedeutung des Begriffs« (Ignatieff 2002: 4) bezeichnet worden sind. Dieser wahrgenommenen Rückkehr barbarischer Bedrohungen im Zeitalter asymmetrischer Konflikte und hochgerüsteter proliferationsfreudiger Gangsterstaaten entspricht eine Veränderung der Verwendungsweise des Zivilgesellschafts-Topos, der jetzt nicht mehr nur bemüht wird, um im Namen des Friedens gegen Staat und Krieg zu streiten, sondern auch umgekehrt, um die Ergreifung kollektiver militärischer Maßnahmen und deren Ziele zu rechtfertigen.27 Aber nicht nur unsere kollektiven Ängste, auch unsere Wünsche und Hoffnungen werden heute wieder in Zusammenhang gebracht mit schwer kontrollierbaren Mächten der Unordnung, die das etablierte soziale Gefüge der Rationalität und des zivilen Umgangs anzugreifen drohen. So sieht Slavoj Zizek (1999: 11f.) unter Berufung auf Petrarca – er hätte auch Calvin anführen können – in der elektronisch erzeugten »Flut pseudokonkreter Bilder«, die unsere Selbst- und Fremdwahrnehmungen überschwemmen, ein ebenso zentrales wie irritierendes Merkmal der Gegenwart, das nach neuen Formen der Kritik verlange. Damit stellt sich die Frage, was aus den älteren Formen der Kritik wird, die nicht dem Mangel, sondern dem Übermaß an Ordnung und Integration gegolten haben. Diese Kritikformen, die stets einhergingen mit mehr oder weniger expliziten Vorstellungen einer wahrhaft zivilen Gesellschaft, wurden in besonders einflussreicher Weise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt.

Entzivilisierung durch den Staat Während moderne Barbarei und Fanatismus die »heißen« Antithesen zur Idee einer zivilen Gesellschaft sind, bilden starre staatliche Befehlsordnungen, unüberwindbare Hierarchien und seelenlose Diszip-

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lin den Stoff einer »kalten« Antithese. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war es diese kalte Antithese, die am stärksten die kognitive Fantasie von Soziologen und Schriftstellern beschäftigte. Unter den Soziologen ist natürlich als Erster Max Weber zu nennen, dessen Bild vom stahlharten Gehäuse der Hörigkeit zu den immer wieder variierten Standardfloskeln der Selbstalarmierung moderner Gesellschaften gehört. Obwohl die Weber’sche Bürokratiekritik hinlänglich bekannt ist, lohnt eine kurze Beschäftigung mit der Frage, was genau Weber eigentlich an der »Bürokratisierung« falsch findet und wo aus seiner Sicht die Rationalisierung in Prozesse der Entzivilisierung mündet. Weber war jedenfalls kein nostalgischer Verteidiger traditioneller Lebenswelten. Er war vielmehr durchaus ein Anhänger der groß angelegten Umwälzung des Alltagslebens durch Technik und Organisation. Was soll die »dilettantische Einzelkocherei« in privaten Wohnzellen, fragte er einmal, wo doch die Versorgung durch Großküchen viel praktischer ist (Weber 1984: 616)? Als er nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vom Heidelberger Garnisonskommando mit der Organisation der Lazarette für Kriegsopfer betraut wurde, beeilte er sich, ganz in Übereinstimmung mit seiner eigenen Theorie, den »Dilettantismus« freiwilliger Pflegerinnen zu kritisieren, dem er im Namen eines »rationalen« Sanitätswesens ein rasches Ende bereiten wollte. Die Vorstellung, die Kriegsopferversorgung ungeschulten freiwilligen Helferinnen zu überlassen, die ganz unbürokratisch Obstund Weingelee für die Appetitlosen kochten oder zwanglos mit den Verwundeten plauderten, war ihm ein Graus. Das Vordringen von Fachverwaltungen selbst in solche Bereiche, in denen gestorben wird, gilt zunächst als ebenso unververmeidlich wie unproblematisch. Die Kritik setzt, genau betrachtet, erst da ein, wo der betriebsförmige moderne Kapitalismus und die Bürokratie ihre ursprüngliche Wahlverwandschaft mit bestimmten aktivistischnonkonformistischen Subjektprägungen auflösen und die Moderne in die »Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale« zu münden scheint. Die Bürokratie wird zum Gegenstand einer indirekten Kritik, insofern sie eine neue Spezies antriebsarmer, klaustrophiler »Ordnungs-Menschen« hervorbringt – eine soziale Ökologie, in der allein Anpassungsverhalten prämiert wird (vgl. Weber 1998: 362f.). Es wird

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folglich unterschieden zwischen der fortschreitendenen objektiven »Bürokratisierung« moderner Staaten und der Zunahme der Macht von Fachverwaltungen über sozial wirksame »Lebensideale«. Erst dort, wo die allgegenwärtige Bürokratie beginnt, die Quellen solcher Vorstellungen über eine geglückte Lebensführung zu vergiften, besteht Anlass zur Beunruhigung. Webers politische Zeitkritik an den Zuständen speziell in Deutschland richtet sich gegen die autoritäre Zurichtung des gesellschaftlichen Lebens durch die Übermacht des preußischen Militärs und gegen das staatspolitische Konzept der »kasernierten Nation«. Die Kritik lässt sich allerdings nicht eintragen in die Alternative von »Zivilstaat« versus »Garnisonsstaat«, die in den dreißiger Jahren mit Blick auf die politische Entwicklung in Deutschland, Russland oder Japan formuliert wurde.28 Weber ist nämlich nicht einfach nur ein Gegner des Garnisonstaates, vielmehr zielt seine politische Kritik über den Militarismus hinaus auf die historisch noch mächtigere Tendenz zur Schematisierung der zivilen Lebensführung durch eine ausufernde Verwaltung und die ihr entsprechenden Mentalitätsmuster. Auf diese Weise gerät nicht zuletzt auch die rationalistische Sozialdemokratie, wie Karl Kautsky sie verkörperte, in Webers Visier. Weber verwarf ihre Wissenschaftsgläubigkeit, ihr kleinbürgerliches Vertrauen in die Bürokratie und ihre habituelle politische »Schwunglosigkeit« (Weber 1990: 172f.). Weber scheint darüber hinaus geahnt zu haben, dass die von Sozialisten und Konservativen gleichermaßen angestrebte bürokratische Überintegration der Gesellschaft auf eine hinterlistige Art und Weise mit ihrem scheinbaren Gegenteil, der Herrschaft der »Straße«, zusammenhängt. Die »Straße« ist die äußerste Verfallsform jeder Art von ziviler Selbstorganisation und als solche zugleich Metapher, Rekrutierungsbasis und Übungsgelände der totalitären Bewegungen. »Wer die Straße erobern kann, der erobert damit den Staat«, wird Joseph Goebbels wenige Jahre nach Webers Tod sagen. Als Antipode einer freien Bürgergesellschaft ist die Straße kein Gegensatz zur bürokratischen Durchrationalisierung des gesellschaftlichen Lebens, sondern vielmehr eine Konsequenz derselben. Bürokratie und Masse haben gemeinsam, dass das Individuum in ihnen aufgeht. Mit dem Entzug von Handlungskompetenz durch die Herrschaft der Verwal-

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tung wächst nämlich die Stimmungsanfälligkeit und demagogische Reizbarkeit von Teilen der Bevölkerung ebenso wie die Neigung, außeralltäglichen Reizen unkontrolliert nachzugeben. Für den Zeitdiagnostiker Weber war demnach die Zivilgesellschaft nur mehr der abwesende Referent eines Diskurses über durchsetzungsstarke Varianten einer aufsteigenden unzivilen, staatlich dominierten Gesellschaft, die der Soziologe in Analogie zum Schreckbild des altägyptischen Fronstaates beschrieb. Dabei ist interessant zu sehen, in welchem Maße Webers pessimistische Gegenwartsdiagnose Teil eines Zeitgeistes war, der sich in ganz unterschiedlichen Genres und politischen Lagern niederschlug. »Kein Mensch an der Industriemaschine ist Herr seines Handelns«, lässt z. B. Jack London den Helden seines Romans Die eiserne Ferse sagen, »außer den Großkapitalisten, und die sind es letzten Endes auch nicht« (London 1978: 71). Die sozialistische Kritik an der »eisernen Ferse« von Kapitalismus und Staat taucht in den zwanziger Jahren bei einigen russischen Revolutionären auf, etwa in Nikolai Bucharins Schrift Imperialismus und Weltwirtschaft. Sie kehrt noch in den Vorlesungen Adornos nach dem Krieg wieder, und zwar in Formulierungen, die an Jack London erinnern: »Die Menschheit hat heute einen Punkt erreicht, wo selbst oberste Kommandohöhen an ihrer Position keine rechte Freude haben, weil sie selbst zu Funktionen ihrer eigenen Funktion geworden sind« (Adorno 2001: 12).29 Das vielleicht beeindruckendste literarische Zukunftsbild einer modernen Gesellschaft, deren Mitglieder zugleich bürokratisch kontrolliert werden und zügellos ihren Impulsen folgen, ist Alfred Döblins expressionistischer Roman Berge, Meere und Giganten aus dem Jahr 1924. Döblin zeichnet darin das Bild des Niedergangs der alten europäischen Nationalstaaten unter dem Einfluss einer grenzüberschreitenden multikulturellen Massengesellschaft. Wie bei Weber oder Jack London sind bei Döblin die Massen, nachdem alle Aufstände gescheitert sind, nur noch ein unfreies Anhängsel des »Industriekörpers« und der »großen Verbände«. Sie sind verweichlicht, mitleidlos und durch Massenspektakel und Scheinparlamente leicht verführbar. Und auch hier herrscht eine »ungeheure völlig luxushafte Bürokratie« (Döblin 1980: 21), die freilich keinerlei Gemeinwesen mehr organi-

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siert, sondern ihrerseits ein Opfer der gigantischen technischen Kräfte wird, die sie einst zu beherrschen glaubte. Weber, London, Döblin: alle drei sehen die europäisch-amerikanische Moderne als Wegbereiter einer anthropologischen Mutation, in der die rationale Angst aufhört, eine Kraft zu sein, die, wie noch bei Thomas Hobbes, eine civitas begründen kann; vielmehr hat die Angst selbst ihren Ursprung in einer ebenso falschen wie unüberwindbaren politischen Ordnung. Bürokratie und Masse, Staat und Bewegung, Kalkül und Fanatismus bilden in diesen großflächigen Zukunftsportraits die beiden Lesarten ein und desselben Kippbilds. Auch Gramsci pflegt dieses zweifache Kritikmuster. Man hat zu Recht von einer doppelten Frontstellung seines Zivilgesellschaftsbegriffs gegen Staatsvergötterung und Bewegungsfetischismus gesprochen, einer »duplice battaglia« (Bobbio 1977: 36). Bereits Weber sah in der syndikalistischen Brüderlichkeitsethik freier Gewerkschaften ein unabdingbares Gegengift gegen die Herrschaft der Parteibosse und den »Kasernencharakter unserer Fabrikbetriebe« (Weber 1998: 279). Auch beim jüngeren Gramsci findet sich ein starker antiautoritärer und staatskritischer Impuls, der auf die damals einflussreiche Kritik von Georges Sorel an der Herrschaft der »Politiker« zurückgeht. Gramsci kritisiert ausdrücklich das »deutsche« Ideal des allmächtigen Staates, der über den Interessen der Einzelnen und der Gesellschaft steht und alle ihre Lebensäußerungen überwacht und kontrolliert. »Die Sozialisten«, so schreibt er im September 1918, »haben erkannt, welchen Fehler sie begingen, als sie dazu beitrugen, mit ihrer Doktrin eine monströse Staatsauffassung zu stärken … Sie haben sich getäuscht, als sie annahmen, das sozialistische Regime sei eine Weiterentwicklung des zentralisierten despotischen Staates der Bourgeoisie, der den Einzelnen die Autonomie und jegliche Fähigkeit zum revolutionären Schwung nimmt« (Gramsci 1984: 298f.).30 Jahre später wird auch Gramsci unter den Einfluss der allgemeinen »Bolschewisierung« der kommunistischen Bewegung geraten und eine Synthese zwischen Sorel und Lenin, zwischen reformistischer Arbeiterbewegung und kommunistischer Partei suchen – eine Synthese, die auch von sehr gutwilligen Interpreten als illusorisch bezeichnet worden ist (vgl. Paggi 1984: 372). Für den Gramsci dieser

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späten Phase ist der autoritäre Staat nicht mehr ›das Andere‹ der Zivilgesellschaft, sondern deren Verlängerung und Kristallisation. In den schwächsten Momenten seiner praktischen politischen Tätigkeit – in den Jahren 1925 und 1926 – verurteilte der berühmte italienische Marxist den Syndikalismus freier Gewerkschaften als konterrevolutionär und pries die »granitharte« kommunistische Partei der Sowjetunion und ihre »unzerstörbare« Ideologie.31 Anders als Weber und Gramsci habe ich Hannah Arendt eingeführt als eine Kritikerin, die heute die Hauptgefahr für die Freiheit nicht in der staatlichen Ordnung, sondern in der sozialen Unordnung im Gefolge von Modernisierungsprozessen sieht. Dies bedeutet nicht, dass Formen unkontrollierter bürokratischer Herrschaft bei ihr keinerlei Rolle spielen. Vielmehr hat Arendt gerade auch in ihren Kolonialismusstudien betont, dass sich die Herrschaft der Europäer nicht in gelegentlichen Massakern an den Kolonisierten erschöpfte, sondern ihren stärksten Ausdruck in der Etablierung einer desinteressierten, vollkommen weltabgeschiedenen Bürokratie fand. Arendt unterschied folglich sehr wohl zwischen dem Schwund und dem Übermaß an Ordnung. Das Besondere der bürokratischen Herrschaft erkannte sie darin, dass sie es ihren Trägern erlaubt, den direkten Kontakt mit den Beherrschten zu vermeiden und damit jeden Konflikt zu unterbinden. Der modernen Bürokratie gelingt es buchstäblich, sich in einer anderen sozialen Welt als der der Beherrschten einzurichten (vgl. Arendt 1986: 343). In ihrem berühmten Buch über den Prozess gegen Adolf Eichmann, den ehemaligen Leiter des so genannten Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt, greift Arendt diese Vorstellung von der Bürokratie als einer gesellschaftsfernen Sphäre der emotionslosen Exekution von Entscheidungen wieder auf. Der Text steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Thesen ihres TotalitarismusBuches, in dem Arendt die Ursprünge der totalen Herrschaft in der Krise der europäischen Massengesellschaften identifiziert hat. In dem 1963 veröffentlichten Buch über den Eichmann-Prozess in Jerusalem gibt Arendt eine Erklärung für die technische Organisation des Holocaust, die in hohem Maße unabhängig ist von der sozialpsychologischen Lage der Massen und ihren Fantasmen. Arendt zeichnet von Eichmann das Bild eines Mannes, der keineswegs desorientiert war,

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sondern als braver Familienvater seine Pflichten erfüllte, im Übrigen jedoch völlig gesinnungslos seiner Arbeit der Verschickung von Millionen Juden in die Vernichtungslager nachging. Das Bild des karrieristischen Technokraten ohne Weltanschauung war ein Fortschritt gegenüber der Dämonisierung der Nazi-Mörder und der damit einhergehenden Einschränkung der Täterschaft auf eine kleine Gruppe von SS-Männern. Eine neuere Untersuchung von Irmtrud Wojak legt jedoch den Schluss nahe, dass Arendt teilweise auf die Selbsttrivialisierung des Angeklagten hereingefallen ist. In Wirklichkeit findet man bei Eichmann, was die Täterforschung generell für das jüngere SS-Personal festgestellt hat, nämlich eine eigentümliche Mischung von bürokratischer Pedanterie und einer Entscheidungsfreude, die der vom israelischen Geheimdienst gekidnappte Deutsche selbst gelegentlich als »fanatisch« bezeichnete (vgl. Wojak 2001). Arendt sieht in den Mechanismen einer politisch funktionalisierten und vollständig entmoralisierten Bürokratie das Gegenbild der menschlichen Freiheit und einer freien Gesellschaft und vernachlässigt dabei andere Antriebsenergien, die hinter den modernen Makroverbrechen stecken könnten. An anderer Stelle deutet sie jedoch an, dass besonders der NS-Staat die älteren Differenzen von staatlicher Ordnung und politischer Fantasterei, von Disziplin und Willkür, Rationalität und Irrsinn aufhebt. Dieser Kollaps überlieferter Unterschiede zeigt sich überdeutlich in der Institution des Konzentrationslagers, in der Arendt »das richtunggebende Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft überhaupt« findet (Arendt 1986: 677). Insbesondere die alte puritanische Kritik an den politischen Handlungsfolgen einer undisziplinierten, überschießenden Vorstellungskraft wird obsolet in einer Welt des Lagers, in der unvorstellbarer Terror herrschte. »Die Phantasie des Grauens«, so bemerkt Koselleck, »wurde hier von der Wirklichkeit überboten« (1979: 290). Im Rückblick wird deutlich, dass auch das Gegenmodell des sozialistischen Staates in Osteuropa, gegen den sich das Leitbild einer zivilen Gesellschaft richtete, weit entfernt war von Webers oder Orwells Vision eines effizienten, allwissenden und daher unüberwindlichen bürokratischen Staates. Melanie Tatur hat von einem gleichzeitig autokratischen und unwirksamen Staat in Osteuropa gesprochen, der sich auf keinerlei kollektiv geteilte Normen stützen konnte und damit

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die eigene Desorganisation systematisch mitproduzierte. An die Stelle des stahlharten Gehäuses der Hörigkeit trat somit gegen Ende des 20. Jahrhunderts die durchaus bezwingbare, hybride Realität einer »anomischen Ordnung« (Tatur 1989: 97f.).

Der Orientalismus-Verdacht »I wish, in other words, to send back the concept of civil society to where I think it belongs – the provincialism of European social philosophy« (Chatterjee 1990: 120). Das ›Andere‹ der Zivilgesellschaft infiziert die moderne Gesellschaft nicht von außen, sondern entsteht in ihrem Inneren. Darin sind sich alle bisher vorgestellten politischen Denker einig. Das gilt auch für Arendt, die den Begriff des Barbarischen noch am großzügigsten mit sozialräumlichen Konnotationen versieht und dabei gelegentlich sogar in die Nähe kolonialer Stereotype gerät. Die Bilder der afrikanischen Savanne, des antiken ägyptischen Fronstaates, der alles beherrschenden russischen Staatsbürokratie, die wir bei Arendt, Weber oder Gramsci finden, dienen allesamt dazu, die Besonderheit des historischen Westens gegenüber einem Nichtwesten zu betonen, ohne damit die Andersheit dieses Nichtwestens zu einer ewigen und unabänderlichen Tatsache zu erklären. Die Behauptung, dass es viele gute Dinge »nur im Westen« gibt, ist nicht als solche problematisch. Sie ist zudem meistens einer empirischen Überprüfung zugänglich. Weber konnte die rationale Mönchsaskese für etwas spezifisch Okzidentales halten, weil bestimmte Quellen z. B. über die arabischen Wurzeln des Mönchtums als einer gruppenspezifischen Lebensweise überhaupt noch nicht erschlossen waren (vgl. Oexle 2001: 215). Fragwürdig wird jene Behauptung erst dann, wenn sie in einen Diskurs eingebettet ist, die den Westen im Lichte eines imaginären Ostens definiert und gleichzeitig den Osten zu einer ungeschichtlichen Wesenheit verdinglicht. Erst in Verbindung mit einem solchen Denkstil der Dichotomisierung und Essenzialisierung gerät die These, dass es heute eine robuste Zivilgesellschaft nur in westlichen Regionen gibt, in den Geruch dessen, was Edward Said (1981) als »Orienta-

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lismus« bezeichnet hat. Dichotomisierung und Essenzialisierung sind Verfahren zur Herstellung einer reinen Polarität zwischen imaginären Weltregionen. Sie haben den Preis, dass kulturelle Mischphänomene und Grauzonen zwanghaft vereindeutigt werden, während das Fremde im Eigenen unsichtbar gemacht und in den »Orient« evakuiert wird. Zwei Fragen drängen sich auf. In welchem Maße ist der Diskurs der Zivilgesellschaft orientalistisch? Und wie kann man die Falle des Orientalismus umgehen? Häufig gehen in die Definition von Zivilgesellschaft Elemente der Selbstbeschreibung moderner westlicher Gesellschaften wie etwa der Individualismus ein.32 Die Nennung solcher Merkmale lässt andere, nichtwestliche Gesellschaften zwangsläufig als defizitär erscheinen. Wer so verfährt, handelt sich den Vorwurf ein, die gesamte Welt am unreflektierten Idealbild einer europäischen Entwicklung zu messen und diese Entwicklung damit als ebenso einzigartig wie universal zu unterstellen.33 Wäre der Begriff der Zivilgesellschaft Teil einer abstrakter ansetzenden Sozialtheorie, müsste man stattdessen als Erstes das Bezugsproblem bestimmen, das die Einführung des Begriffs Zivilgesellschaft überhaupt notwendig macht. Wenn »Zivilgesellschaft« die Antwort ist, was war dann die Frage? Ein solches Bezugsproblem besteht in der Frage danach, wie in modernen Gemeinwesen ohne Rückgriff auf physischen oder psychischen Zwang die Verbindung zwischen den Einzelnen und der Allgemeinheit und damit der Zusammenhalt und die Solidarität der Mitglieder dieses Gemeinwesens hergestellt werden. Dieses Problem stellt sich für die Gesellschaft als Ganze ebenso wie für ihre ausdifferenzierten Teilbereiche. Oft wird die Zivilgesellschaft selbst als ein solcher relativ autonomer Teilbereich »jenseits von Markt und Staat« apostrofiert, in dem Einzelne und Verbände in öffentlichen Auseinandersetzungen politisch tragfähige Gemeinsamkeiten entdecken oder entwickeln. Jenseits dieser produktiven Funktion wird einem öffentlichkeitswirksamen Assoziationswesen die Förderung von Einstellungen zugeschrieben, durch die sich liberale Demokratien gegen totalitäre und fanatische Tendenzen immunisieren. Nun ist es so, dass auch Gesellschaften, deren Modernisierung erst eine Spätfolge ihres Kontakts mit den europäischen Kolonial-

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mächten war, das genannte Bezugsproblem der Herstellung von Solidarität und der Vermeidung einer totalitären Selbstzerstörung häufig recht gut lösen. Und dies gelingt ihnen, ohne dass sie auf das Repertoire an Institutionen und Einstellungen zurückgreifen können, das wir zivilgesellschaftlich nennen. Ein exemplarisches Untersuchungsfeld wäre beispielsweise Indien, jene andere große Exkolonie des britischen Königreichs, die wie ›Amerika‹ auf einer eigenen Art der Demokratie beruht, ohne jedoch eine starke individualistische Zivilgesellschaft im westlichen Sinne ausgebildet zu haben. Wichtige Integrations- und Schutzleistungen, die in europäisch geprägten Gesellschaften eine demokratische Öffentlichkeit und eine pluralistische Organisationslandschaft erbringen, werden in Indien auf andere Weise erzeugt. Für die Wirksamkeit dieser Schutz- und Integrationsleistungen gibt es viele eindrucksvolle Belege. So haben während des Zweiten Weltkriegs in Indien jüdische Flüchtlinge eine Zuflucht gefunden, die von der vermeintlichen Kulturnation der Deutschen der Vernichtung überlassen worden wären (vgl. Bhatti/Voigt 1999). Ähnlich wie die amerikanische definiert sich die indische Zivilisation nicht durch harte Außengrenzen gegenüber dem Fremden und verfügt über eine enorme Integrationskraft, die allerdings nicht in den politischen Prinzipien der Verfassung ihre Wurzel hat, sondern in den Grundlagen einer Kultur ohne Spitze und Zentrum (vgl. Nandy 1980: 48f.; Fuchs 1999). Der indische Sozialpsychologe Ashis Nandy hat darüber hinaus die These aufgestellt, dass die kulturellen Traditionen des Landes selbst bereits »intrinsisch moderne« Elemente enthalten, die skeptische und pragmatische Einstellungen fördern, welche wiederum der Demokratie zugute kommen. Die Flexibilität geschlechtspezifischer Rollenzuschreibungen mag als ein Indikator für diese gleichsam in die Tradition eingebaute Offenheit angesehen werden (vgl. Nandy 1980: 53, 38f.). Die in ihren Wirkungen »zivilen« Integrations- und Schutzleistungen sind das Resultat wenig erforschter Mechanismen im Grenzland zwischen Politik und Kultur, und ohne Zweifel hätten sie dieselbe Beachtung von Seiten der Sozialwissenschaften verdient, wie sie den Gegenständen der neueren Demokratietheorie und der Verbändeforschung zuteil wird. Stattdessen wird die Abspaltung der westlichen von der nichtwestlichen Welt in der disziplinären Trennung der Sozio-

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logie von der Kulturanthropologie und ähnlichen »Orchideenfächern« forschungsstrategisch festgeschrieben (vgl. Randeria 1999). Zahlreiche Beiträge zur Diskussion um die Zivilgesellschaft signalisieren keinerlei Widerstand gegen die ungeprüfte Eintragung des Anderen der Zivilgesellschaft in fremde »Kulturkreise«. Das schiere Desinteresse an der Frage, wie nichtwestliche Gemeinwesen institutionelle Äquivalente zivilgesellschaftlicher Leistungen erbringen, macht den offiziellen Diskurs anfällig für eine ›orientalistische‹ Weltsicht, derzufolge Ost und West, wie es in einem berühmten Gedicht von Rudyard Kipling heißt, einander niemals treffen werden.34

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Als zentralen Ort und Quelle der Demokratie privilegiert der Diskurs der Zivilgesellschaft solche öffentlichen Foren und Bühnen, auf denen über Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geredet wird und verbindliche politische Entscheidungen kritisiert oder vorbereitet werden. Die theoriegeschichtlichen Basisunterscheidungen von Arbeit und Interaktion, von Herstellen und Handeln gehen dabei als unproblematische Prämissen in die gängigen Konzeptionen der Zivilgesellschaft ein. Neben dem Krieg und der sozialen Anomie scheint damit die Welt der materiellen Produktion ein drittes Gegenbild zur zivilisierten Rede und ihrer institutionellen Formen darzustellen. Der häufig vorgetragene Anspruch auf eine Radikalisierung der liberalen Demokratie durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft ist bei näherer Betrachtung recht bescheiden, da es den Anwälten dieses Programms nur um die Chance geht, auch solche Fragen des Zusammenlebens zum Gegenstand der kommunikativen Beratung zu machen, die von der offiziellen Politik bisher vernachlässigt wurden. Kritiker, denen dieser Ansatz zu dürftig erscheint, haben folgerichtig das Vokabular der Zivilgesellschaft, sofern es demokratietheoretisch gemeint ist, insgesamt verworfen und dafür plädiert, die Kritik am politischen Liberalismus nicht mehr am Idealbild einer entgrenzten öffentlichen Konversation, sondern am Modell erweiterter Formen der gesellschaftlichen Kooperation zu orientieren (vgl. Honneth 2000). Der bei Emile Durkheim angelegte, später von John Dewey entwickelte Gedanke einer demokratischen Lebensform, die im vorpolitischen Problemlösungshandeln arbeitsteilig miteinander verbundener Indi-

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viduen ihr Fundament hat, überwindet die Entgegensetzung von Kommunikation und Arbeit und deren Zuordnung zu unterschiedlichen ›Sphären‹ des sozialen Handelns.35 Historisch können französische und britische Syndikalisten, amerikanische Pragmatisten und italienische Neomarxisten als Zeugen für eine Perspektive zitiert werden, in der sich die Welt der materiellen Produktion und Kooperation in den Strukturen einer selbstbestimmten politischen Lebensform wiederfindet, anstatt institutionell ausgeblendet zu werden. Von ferne klingt diese Tradition auch in der von Wolfgang Streeck so genannten »produktivistischen Wende« einer nach-sozialdemokratischen Demokratiekonzeption an, deren Ziel nicht mehr die Befreiung von den Zwängen des Marktes und der internationalen Arbeitsteilung ist, sondern umgekehrt die Integration aller Bürgerinnen und Bürger in sozial verantwortliche »Produktionsgemeinschaften«, die von einem »Ethos der Effizienz« bestimmt werden (Streeck 1998: 46). In dieselbe Kerbe schlägt Hartmut Elsenhans, wenn er darauf hinweist, dass jede »autonome Zivilgesellschaft« die Verknappung und damit die Konfliktfähigkeit des Faktors Arbeit in einer entfalteten Marktökonomie zur Voraussetzung hat (Elsenhans 2001: 24). In diesen produktivistischen Konzeptionen und ihren geschichtlichen Vorläufern sind es nicht mehr nur die ›Citoyens‹, sondern auch die ›Produzenten‹, die als Trägerschichten und als Inspiratoren der Demokratie auftreten. Die Welt der materiellen Produktion erscheint in ihrem Verhältnis zur Zivilgesellschaft nicht als ein weiteres Gegenbild, sondern als ein Kippbild. In Kippbildern wird symbolisch ausgedrückt, dass ein Sachverhalt je nach Situation eine förderliche Wirkung oder ihr Gegenteil zeitigen kann. Bevor jedoch Bürger und Produzenten in neueren demokratietheoretischen Beiträgen in ein solches Austauschverhältnis gebracht worden sind, wurden sie lange Zeit als unversöhnliche Widersacher stilisiert.

»Citoyen ou Producteur?« Die sozialmoralische Entgegensetzung von Bürger und Produzent – »citoyen ou producteur« – taucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts im

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Umkreis besonders der französischen Variante der syndikalistischen Arbeiterbewegung auf. Diese unübersichtliche internationale Strömung, die durch einen ihrer prominentesten Vertreter, den späteren Faschisten Georges Sorel, zu Unrecht in Misskredit gebracht worden ist, steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zu den normativen Ansprüchen des Zivilgesellschaftsdiskurses. Mit teils reformerischen, teils revolutionären Absichten kritisieren die Syndikalisten zunächst die liberale repräsentative Demokratie als unzureichend. Der Bürger, so eine verbreitete Kritik, sei heute vor allem ein Wahlbürger, der von Repräsentanten regiert werde, die seiner Kontrolle vollkommen entzogen seien. Da dieser Freiheitsentzug dem modernen Citoyen allem Anschein nach durchaus behage, wird er als nur »unvollständig entmonarchisiert« (mal démonarchisé) kritisiert (Leroy 1919: 676). Im Denken, wird Michel Foucault später sagen, ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt. Gemäßigte Schriftsteller wie Maxime Leroy plädieren vor diesem Hintergrund dafür, andere, über die Institutionen der politischen Demokratie hinausweisende Gestalten der zivilen Freiheit zu fördern. An diesem Punkt kommt, wie in der politischen Theorie John Deweys, der kooperative Charakter der modernen Arbeitsverhältnisse ins Spiel: »La liberté prendra, grâce au travail, un caractère coopératif« (ebd.: 679). Die Gesellschaft soll ausgehend von der arbeitsteiligen Produktion erneuert werden, und zwar in einer Weise, dass »Kompetenz« an die Stelle von »Autorität« tritt. Die heute als zivilgesellschaftlich bezeichneten Werte des gegenseitigen Respekts und der Einhaltung moralischer Regeln sollen den Kasernencharakter der Arbeitswelt aufbrechen. Die durch die Syndikate umgeformte neue Gesellschaft überwindet die beiden Übel der bürokratischen Überorganisation und der sozialen Desintegration. Die selbst auferlegte Disziplin einer aktiven, professionalisierten Bevölkerung ersetzt die alten Hierarchien ebenso wie die bloß romantische Kritik an diesen.36 Auch im Umkreis der nichtkommunistischen deutschen Rätebewegung nach 1918 wird über eine Umorganisation der künftigen Gesellschaft nachgedacht, in der die Arbeit nicht länger eine schmutzige, im Verborgenen sich vollziehende Tätigkeit ist, sondern sich zu einem »ethischen Faktor« des sozialen Lebens entwickeln soll. Räte werden als politischer Ausdruck dieser Neugewichtung der Produzententätig-

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keit betrachtet und sollen dementsprechend als ergänzende Kammer neben den Parlamenten bestehen (vgl. Gutmann 1922: 88). Unmittelbar an französische syndikalistische Vorbilder schließt auch der englische Gildensozialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, der versucht, bestimmte demokratische Prinzipien auf die Industrie zu übertragen (vgl. Lovell 1973). Während es sowohl in Britannien als auch in Frankreich viele gemäßigte Anhänger des Syndikalismus gab, die einen gewissen Einfluss hatten auf die Rechts- und Staatslehre, haben andere dem Gedanken der demokratischen Potenziale der gesellschaftlichen Kooperation eine radikalere Wendung gegeben. Die Gesellschaft der Zukunft, so formuliert etwa der italienische Syndikalist Arturo Labriola im denkbar größten Gegensatz zu Hannah Arendt, soll »die Kunst, die Erde zu bearbeiten oder Eisenbahnen zu lenken als eine öffentliche Angelegenheit« behandeln, anstatt das Feld der Öffentlichkeit allein den Intellektuellen und Beamten zu überlassen (Labriola 1914: 420). Vergleichbar übrigens mit den jüngsten globalisierungskritischen Thesen von Michael Hardt und Antonio Negri (2002) feiern die revolutionären Syndikalisten die technischen Produktivkräfte und die welterschließende Funktion des Kapitalismus, während sie nur Hohn und Spott übrig haben für die »sentimentale und humanitäre Demokratie« (Labriola 1914: 441) der produktionsfernen Bürgerschaft. Wenn man zu einer Ehrenrettung der halb vergessenen, in vieler Hinsicht fragwürdigen politischen und intellektuellen Strömung des Syndikalismus ausholen möchte, lässt sich folgendes Fazit ziehen. Der Wert dieser Strömung liegt darin, dass sie, wie Axel Honneth mit Blick auf John Dewey formuliert, das »Bewußtsein der vorpolitischen Assoziation aller Bürger« (Honneth 2000: 303) durch die Anforderungen kooperativer Arbeitszusammenhänge zum Ansatzpunkt politischer Bewegungen gemacht hat. Die mehr oder weniger entstofflichte, in ihren Bezügen häufig transnationale produktive Arbeit wurde als eine unverzichtbare Quelle der Selbstachtung, als ein Feld der Einübung experimenteller und kooperativer Fähigkeiten hervorgehoben und zugleich als ein Ziel von notwendigen Demokratisierungsmaßnahmen ausgezeichnet. Da jene Bewegungen manchmal einen Beitrag zur politischen Zivilisierung der Staaten leisteten, manchmal aber

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auch das Gegenteil, habe ich von einem Kippbild gesprochen, das mehr als eine Lesart zulässt.

Eine aussereuropäische Perspektive Nicht nur das Konzept der Zivilgesellschaft, sondern auch die syndikalistische Kritik an diesem Konzept im Namen der Produzenten offenbart ›orientalistische‹ Tendenzen. Am deutlichsten wird dies bei Georges Sorel, dem revolutionären Syndikalisten und Bewunderer Lenins und Mussolinis. Wie kein anderer hat nämlich Sorel seine Kritik an der geschichtlichen Rolle des liberalen Citoyen mit einem Lob der Einzigartigkeit des »Abendlandes« verknüpft, das in schroffem Gegensatz zu allem Asiatischen definiert wird. Auch die aus seiner Sicht neobarbarischen, finanzkapitalistischen Mächte England und Amerika werden dafür verurteilt, dass sie den echten Soldaten ebenso wie den Produzenten abschaffen und ihre Kriege führen mit Hilfe unritterlicher »asiatischer Horden, die sich beständig erneuern und überlegen ausgerüstet sind« (zit. nach Freund 1972: 241). Der rassistische Eurozentrismus, der in solchen Sätzen zum Ausdruck kommt, steht in einem spiegelverkehrten Verhältnis zu jener Kritik an der westlichen Zivilgesellschaft, die wenig später Gandhi im Rahmen des antikolonialen Kampfes gegen die britische Herrschaft in Indien entwickelt hat. Nach Gandhis Verständnis richtete sich dieser Kampf weniger gegen die physische Präsenz der Briten in Südasien als vielmehr gegen die illusorische Fortschrittlichkeit ihrer Zivilisation. Gandhi rezipierte die damalige romantische Zivilisationskritik im Westen und war darauf bedacht, den von ihr aufgerissenen kulturellen Spalt hervorzuheben, um im selben Zuge den Abstand zwischen der eigenen und der westlichen Kultur zu verkleinern. Im diametralen Gegensatz zu den amerikanischen Intellektuellen des Progressive Movement, die ungefähr zur selben Zeit das Programm einer Neugründung der Civil Society auf der Basis eines professionellen Expertentums und eines interventionistischen Staates verfolgten, sah Gandhi in solchen Mächten eine viel ärgere Bedrohung als in der Kolonialherrschaft selbst. Der weltweite Ruf des »Mahatma«

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(große Seele) gründet bis in die Gegenwart darin, dass westliche Leser bestimmte Elemente ihres eigenen kulturellen Gedächtnisses wieder erkennen. So erinnert Gandhis Kritik an der technischen Rationalisierung der Produktion an puritanische Motive der Mäßigung und Selbstbescheidung. An der planvollen Steigerung der industriellen Produktivität durch Maschinen und andere wissenschaftliche Hilfsmittel kritisierte Gandhi, dass sie einhergehen mit einer noch rascheren, fantasmatischen Steigerung der Wünsche und Ansprüche, die als Bilder eines falschen Glücks den menschlichen Geist in die Irre leiten. Gramscis optimistische These, dass die Mechanisierung und Automatisierung der materiellen Produktion den Kopf des Arbeiters »frei und leer« mache für beliebige andere gedankliche Beschäftigungen (Gramsci 1975: 2171), wäre von Gandhi als ein Alarmsignal verstanden worden. Die von Gandhi im Rahmen des nationalen Unabhängigkeitskampfes geforderte Wiederbelebung der Baumwollspinnerei war somit nicht nur ein volkswirtschaftliches, sondern zugleich ein moralisches Programm zur Zähmung jenes »unruhigen Vogels«, den er sinnbildlich in den Vorstellungskräften des menschlichen Geistes sah (zit. nach Chatterjee 1994: 158). Noch beängstigender fand Gandhi die Aussicht, dass immer mehr Menschen überhaupt nicht mehr arbeiten würden, weil die moderne Maschinerie die menschliche Arbeitskraft überflüssig macht. An die Stelle der traditionsbewussten Produzenten drohte ein untätiger, politisch leicht zu beeinflussender »Mob« zu treten. Die Modernität Gandhis kann darin gesehen werden, dass er dieses Problem der Disziplinierung einer Bevölkerung, die sich nicht mehr an die Vorgaben einer unbefragt hingenommenen Tradition hält, ins Zentrum seiner politischen Reflexion rückte. Unter Verwendung eines Vokabulars, das an Arendt oder Weber erinnert, formulierte Gandhi sein postkoloniales Programm als Alternative zwischen »Demokratie« und »Mobherrschaft«. Ein viel zitierter Aufsatz aus dem Jahr 1920 trägt tatsächlich den Titel »Democracy Versus Mobocracy« (vgl. Guha 1993: 107). Gandhi lehnte den technischen Fortschritt, die repräsentative Demokratie und den Individualismus ab, und doch zeigt seine Kritik am Phänomen des modernen Masseneinflusses – wenn man von den idiosynkratischen und elitären Anteilen dieser Kritik absieht – eine Sensibilität für genau jene vorpolitischen Grundlagen einer demokra-

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tischen Gesellschaft, die andernorts »zivilgesellschaftlich« genannt werden. Vor allem hat Gandhi auf der Basis spezifisch südasiatischer Traditionen eine Konzeption des selbstdisziplinierten und sich selbst beschränkenden politischen Widerstands gegen ungerechte Gesetze oder Herrschaftsformen entwickelt, die in anderen Erdteilen im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder mit dem Ideal einer Zivilgesellschaft verknüpft worden sind.37 Nicht nur ist Gandhi bekanntlich ein Vertreter der Gewaltfreiheit, er hat zudem sorgsam unterschieden zwischen legitimen und illegitimen Formen des gewaltfreien Widerstands, etwa des Boykotts: »Boycott is of two kinds, civil and uncivil. The former has its roots in love, the latter in hatred« (zit. nach Guha 1993: 92). Der zivile Boykott besteht darin, jeden Kontakt mit den Repräsentanten oder Unterstützern der anderen Seite zu vermeiden und keinerlei Dienste von ihnen in Anspruch zu nehmen. Der unzivile Boykott zielt umgekehrt darauf ab, anderen dadurch zu schaden, dass man ihnen den Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen, z. B. medizinischer Hilfe oder Trinkwasser, abschneidet. Diese zweite Form bezeichnete Gandhi als »eine Art der Barbarei« (ebd.). Solche Differenzierungen in der Hitze eines nationalen Befreiungskampfes weisen Gandhi als apokryphen Intellektuellen einer zivilen Gesellschaft aus, so sehr er sich auch selbst als ein Kritiker derselben gesehen haben mag. Gandhi oder einige seiner heutigen Verteidiger in Asien sitzen möglicherweise einem ›okzidentalistischen‹ Vorurteil auf, wenn sie den normativen Gehalt überlieferter Zivilgesellschaftskonzepte pauschal einem fremden Kulturkreis zurechnen. In Wirklichkeit steht Gandhi in einer Tradition, die sich sehr wohl einfügt in eine Serie von kosmopolitischen Denkern, die im Schwund sozialer Ordnung – oder besser: in der Kombination von Gesetzlosigkeit und staatlichem Zwang – den größten Feind der menschlichen Freiheit gesehen haben.

Zur Semiotik des Zivilgesellschaftsdiskurses Dieser Essay zielt darauf ab, das »Raster möglicher Antithesen« (Koselleck 1979: 258) zu entfalten, das in den neuerlich aufgewärmten

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Begriff der Zivilgesellschaft eingelassen ist. Damit möchte ich zugleich einer beiläufig von Adorno gestellten Forderung nachkommen, derzufolge man »noch im Negativen differenzieren muß« (Adorno/ Mann 2002: 102f.) und keineswegs alle Übel der Welt über einen Kamm scheren darf. Man kann das Vorhaben auch noch ein Stück weitertreiben. Es ist nämlich reizvoll zu versuchen, das bisher zusammengetragene Material einer »intellectual history« des Zivilgesellschaftsbegriffs im Sinne einer strukturalen Bedeutungsanalyse zu sortieren, wie sie beispielhaft von A. J. Greimas und seiner Schule entwickelt worden ist. In dieser einflussreichen Tradition werden Bedeutungsanalysen als differenzielle Analysen betrieben. Einzelne Bedeutungsträger sind demnach durch ihre Stellung in einem System kultureller Einheiten und damit durch ihre Differenz zu anderen Bedeutungsträgern definiert (Greimas/Courtés 1979).38 Greimas legt seinen Analysen unterschiedlicher kultureller Hervorbringungen den Begriff einer elementaren oppositionellen Bedeutungsstruktur zugrunde. Die Ausgangsrelation seines berühmtem ›semiotischen Vierecks‹ bildet die Beziehung zwischen zwei entgegengesetzten Termen. Der Witz dabei ist, dass Greimas nicht einfach von Gegensatzpaaren spricht, sondern verschiedene Weisen der Entgegensetzung sorgfältig unterscheidet. Dies ist außerordentlich hilfreich, wenn es darum geht, die Bedingungen der Bestimmtheit eines politisch inflationierten Begriffs wie dem der Zivilgesellschaft zu rekonstruieren. Das klassische semiotische Viereck etabliert zunächst eine Achse zwischen konträren Termen wie z. B. ›weiß‹ und ›schwarz‹. Diese Terme sind konträr, da sie entgegengesetzt sind, zugleich aber keineswegs einander ausschließen. Zwischen den entgegengesetzten Termen ›weiß‹ und ›schwarz‹ ist Platz für so genannte komplexe Terme wie ›grau‹. Ein Viereck entsteht, sobald man den konträren Termen der Ausgangsrelation jeweils kontradiktorische Terme zuordnet, also ›nicht-weiß‹ bzw. ›nicht-schwarz‹. Man kann diese Farbbestimmungen nun durch Begriffe der modernen politischen Theorie ersetzen, etwa durch Arendts zentrale Begriffe von »Freiheit« (freedom) und »Macht« (power), wobei »Macht« ein Synonym für verfassungsmäßige »Ordnung« (constitution) ist (vgl. Arendt 1990). Die Begriffe Freiheit und Ordnung ergeben eine elementare Bedeutungsstruktur aus zwei konträren Termen, die sich

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durch die Bildung homologer Gegenbegriffe in ein semiotisches Viereck einfügen lassen, wie Abbildung 1 zeigt.39 Abb. 1: Die Zivilgesellschaft und ihr Anderes

Freiheit s1

Ordnung s2

-s2 Unordnung

-s1 Unfreiheit

(civil society)

(uncivil society)

s1/s2 = konträr s1/-s1 = kontradiktorisch s2/-s2 = kontradiktorisch

»Freiheit« und »Ordnung« sind konträre Begriffe, die einander nicht ausschließen, sondern wechselseitig voraussetzen und ein Spektrum von Übergängen zulassen. Es gibt auch andere, analoge Begriffspaare im politischen Denken, etwa das Begriffspaar ›Gerechtigkeit/Ordnung‹ in der Lehre von den internationalen Beziehungen (vgl. Bull 1977). Wichtig ist, dass in allen diesen Fällen die beiden Begriffe einen Bereich umfassen, in dem unterschiedliche normative Konzepte von Zivilgesellschaft Gestalt annehmen, während ›das Andere‹ der Zivilgesellschaft erst in den ausschließenden Verneinungen von ›Freiheit‹ und ›Ordnung‹ erscheint, die im semiotischen Viereck durch die beiden diagonalen Achsen veranschaulicht werden. Die Beziehung zwischen ›Unordnung‹ und ›Unfreiheit‹ schließlich kann ebenso wie die Ausgangsrelation von ›Freiheit‹ und ›Ordnung‹ als konträr bezeichnet werden, wird jedoch häufig ganz vernachlässigt. Die abstrakten Begriffe der politischen Theorie lassen sich nun durch andere lexikalische Einheiten ersetzen, die es leichter machen, das in den voranstehenden Kapiteln durchgesehene Gedankenmaterial auf das Viereck zu projizieren. Die Zivilgesellschaft und ihre Negationsfiguren können dann wie in Abbildung 2 dargestellt werden.

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Abb. 2: Träger der Zivilgesellschaft und ihre Gegner

Citoyen s1

Soldat s2

-s2 Barbar (Mob)

-s1 Produzent

Die Terme dieses Vierecks repräsentieren historische Kampfbegriffe, die in unterschiedlichen Diskursen abwechselnd positiv oder negativ besetzt sind. Bis in die Gegenwart ist offensichtlich der ›Citoyen‹ eine moralisch positiv bewertete Leitfigur, die sich selbst und anderen nur verständlich wird in Opposition zu Kriegern, Barbaren oder Handarbeitern. Gleichwohl ist es immer wieder zu Umwertungen gekommen, die im Übrigen das Gerüst der semantischen Ordnung nicht beschädigen. So wurden in der jüngeren Geschichte die Tatkraft des Produzenten oder die Selbstlosigkeit des Soldaten gepriesen, das Animalische galt weithin als Symbol einer Befreiung der Menschen von Zucht und Dressur, und auch in der Gegenwart sind die Stimmen derer nicht verstummt, die von einem Sturm der »Barbaren« gegen die neue Weltordnung träumen (vgl. Hardt/Negri 2002). Spezialisten für Zeichentheorie haben verdeutlicht, dass in der Praxis der Textanalyse der geschilderte Normalfall einer Kombination konträrer und kontradiktorischer Begriffspaare durch eine Vielzahl anderer Relationen ersetzbar ist (vgl. Ohno 1995: 337f.). Das skizzierte semiotische Viereck lässt sich wie eine Kontrastfolie auf verschiedene Texte legen, um deckungsgleiche oder voneinander abweichende Bedeutungsstrukturen sichtbar und damit diskutierbar zu machen. Ich habe bereits angedeutet, dass sich Hannah Arendts impliziter Zivilgesellschaftsbegriff – tatsächlich bevorzugt sie Termini wie »civilized government« usw. (Arendt 1990: 149) – zwanglos auf das Urmodell des semiotischen Vierecks abbilden lässt. Tatsächlich rückt sie die europäischen Bürgerinnen und Bürger als Trägerschichten eines zivilen Gemeinwesens in den Mittelpunkt ihrer normativen politischen Theorie. Indem sie die alteuropäische Scheidung zwischen

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Geburts- und Berufsständen, bewaffneten Rittern und waffenlosen Bauern, Adligen und Bürgern aufnimmt, bringt sie das Bürgertum in Gegensatz zur bewaffneten Macht der ›Soldaten‹. Dies ist jedoch keine kontradiktorische, sondern eine konträre Beziehung einander wechselseitig voraussetzender Einheiten. Der Schutz von territorial gebundenen Gemeinwesen wie auch von bedrohten Minderheiten setzt nämlich eine bewaffnete Macht voraus. Man lese hierzu etwa die kämpferischen Texte, die Arendt während des Zweiten Weltkriegs in New York in der deutsch-jüdischen Exilzeitung »Aufbau« veröffentlicht hat (Arendt 2000b). Außerdem gilt, dass es zwischen beiden Termen Übergänge gibt, vom »Bürger in Uniform« bis hin zu den auch semantisch folgenreichen Transformationen des Verhältnisses von Zivilisten und Kombattanten, die wir gegenwärtig in der internationalen Politik beobachten.40 Arendts Verteidigung Ernst Jüngers spricht ebenfalls dafür, dass für sie die Ausdrücke ›Bürger‹ und ›Soldat‹ nicht kontradiktorisch sind. Ihre Jünger-Apologie lässt sich zudem eintragen in die kontradiktorische Relation zwischen ›Soldat‹ und ›Barbar‹. Jüngers Kriegstagebücher dienen Arendt als Beweis für die prinzipielle Integrierbarkeit von Wahrheit und Moral in ein soldatisches Ethos, das freilich unter den antizivilen Bedingungen totaler Herrschaft keinerlei Rückhalt mehr findet in einer Realität, in der mit dem Citoyen auch der klassische Soldat und seine Ehrbegriffe untergegangen sind (vgl. Arendt 2000a: 52). Ein kontradiktorisches Verhältnis besteht schließlich auch zwischen ›Citoyen‹ und ›Produzent‹. Nicht die Produzenten in ihrer Eigenschaft als Bürger und als Träger eines spezifischen Arbeitsethos, wohl aber in ihrer existenziellen Bindung an die stofflichen, körpergebundenen Vorgänge des Herstellens und Konsumierens von Gütern vertragen sich für Arendt nicht mit dem öffentlichen Handeln des politisch Engagierten. Die Rollen des Bürgers und des »animal laborans« schließen einander aus. Kaum behandelt wird das untergeordnete konträre Begriffspaar ›Produzenten/Barbaren‹ (oder ›Mob‹), das dem Verhältnis von Herstellen und Zerstören, von Schmerz und Gewalt entspricht. Das Kapitel im Totalitarismus-Buch über die Buren in Südafrika zeigt allerdings, dass Arendt im Arbeitsethos sesshafter Bauern oder anderer

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Produzenten ein sicheres Gegenmittel gegen die Gefahr der moralischen Verwahrlosung sieht. Hier besteht Übereinstimmung mit Gramsci und Weber, die ebenfalls die Arbeiter in den Fabriken typologisch von den »Tagedieben« auf der Straße unterscheiden. Kommen wir zu den Syndikalisten. Diese teilen in der Regel die kontradiktorische Lesart der Relationen von ›Citoyen‹ und ›Produzent‹ sowie von ›Soldat‹ und ›Mob‹. Die revolutionären, später teilweise linksfaschistischen Wortführer des Syndikalismus pflegen darüber hinaus eine Semantik, in der die homologen Beziehungen zwischen Bürgern und Barbaren sowie zwischen Produzenten und Soldaten eine herausragende Rolle spielen. Sie entwickeln damit die von mir bisher nicht berücksichtigten möglichen Beziehungen, die im semiotischen Viereck häufig als Pfeile repräsentiert werden, welche von -s2 nach s1 bzw. von -s1 nach s2 zeigen. Damit sollen zusätzlich zu den konträren und kontradiktorischen Beziehungen solche der Komplementarität oder Implikation angezeigt werden. Bei Sorel und einigen seiner Genossen ist nämlich der Soldat eine Verkörperung des Produzenten, und zwar in derselben Weise, wie der Bürger (besonders in seiner merkantilen britisch-amerikanischen Ausprägung) eine neue Gestalt des kulturlosen Barbarentums darstellt.41 Diese in der europäischen politischen Geschichte folgenreiche Kritik an der Zivilgesellschaft illustriert Abbildung 3. Abb. 3: Sorels Kritik der Zivilgesellschaft

Citoyen s1

Soldat s2

-s2 Barbar

-s1 Produzent

s1/s2 = kontradiktorisch s1/-s1 = kontradiktorisch s2/-s2 = kontradiktorisch -s1/s2 = komplementär -s2/s1 = komplementär

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Solche Beziehungen werden implizit auch von Gandhi und den jüngeren Autoren des Postkolonialismus mit besonderer Sorgfalt bedacht, die mit ganz anderen Absichten als Sorel den ›Produzenten‹ räumlich woanders ansiedeln als den ›Citoyen‹, nämlich in den seit Ende des Zweiten Weltkriegs so genannten Entwicklungsländern. Bei Gandhi sind allerdings die Soldaten, gegen die der gewaltfreie Widerstand geübt wird, ebenso wie die Trägerschichten der Civil Society und überhaupt der »Zivilisation« ausländische Kolonialherren, die nichts Gutes im Schilde führen. Die koloniale Politik der Einführung moderner Technologien hat ferner zur Folge, dass mit den einheimischen ›Produzenten‹ das Gegengewicht zum ›Mob‹ verschwindet. Würde man ein semiotisches Viereck konstruieren, so wäre es in der Mitte von einer horizontalen, geographisch-moralischen Trennlinie in zwei Hälften geteilt. Gramsci schließlich folgt der syndikalistischen Kritik insofern, als er die Produzenten den liberalen Bürgern und traditionellen Intellektuellen zunächst unversöhnlich gegenüberstellt. Die konträre Relation ›Citoyen/Soldat‹ spielt eine sinnstiftende Rolle, da Gramsci in der relativ großen Autonomie der »società civile« im Westen gegenüber dem staatlichen Zwangsapparat eine prekäre Errungenschaft der Demokratie sieht, die er in seinen besseren Tagen auch nach dem Sieg des Sozialismus nicht kassiert sehen will. Die untergeordnete konträre Beziehung ›Barbar/Produzent‹ ist ebenso bedeutsam, wie Gramscis Beschäftigung mit dem fordistisch-tayloristischen Programm der Zähmung und Austreibung »animalischer« Energien aus den Körpern der Arbeitskräfte belegt. Anders als Sorel ist Gramsci aber weit davon entfernt, den Barbareitopos wörtlich zu nehmen oder gar zur Schürung von Kriegsgelüsten auf ganze soziale Klassen oder Erdteile zu übertragen. Ebenso wenig ist er trotz seiner Vorliebe für ein Denken in militärischen Analogien der Versuchung erlegen, den ›Produzenten‹ in ein komplementäres Verhältnis zum ›Soldaten‹ zu setzen. Generell kann der reife Gramsci als ein Denker konträrer Relationen gelten, da sich letztlich auch die Produzenten organisch zu Citoyens und damit zu Trägerschichten einer neuen hegemonialen Zivilgesellschaft entwickeln, ohne darum ideologisch zu »verbürgerlichen«. Ein Großteil des Kopfzerbrechens, das die Wiederaufnahme des Zivilgesellschaftskonzepts in den achtziger Jahren bereitete, ist nun

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darauf zurückzuführen, dass diese teils zeitdiagnostischen, teils programmatischen Versuche deutlich weniger komplex und strukturiert waren als ihre klassischen Vorlagen. Das Buch von Ulrich Rödel und anderen über die »demokratische Frage« (1989) ist dafür ein gutes Beispiel. Wo in anderen Texten ein Viereck mit unterschiedlichen Gegensatzpaaren die Bestimmtheit von Bedeutungen sichert, gibt es hier letztlich nur noch den Gegensatz von Citoyen und Staat, von Bürger und Soldat. Alle anderen Unterscheidungen werden zugunsten dieses einen »Hauptwiderspruchs« nahezu vollständig eingeschmolzen. Ähnlich wie Carl Schmitt für die Weimarer Republik konstatieren die Autoren für die alte Bundesrepublik einen »Sieg des Bürgers über den Soldaten« (Schmitt 1934). Unter dem Eindruck der Parolen der damaligen Friedensbewegung (»Soldaten sind Mörder« etc.) verschwimmt dabei der Unterschied zwischen Soldat und Barbar, und lediglich das schwach beleuchtete Verhältnis von Citoyen und Produzent wird – wie bei Arendt, die tatsächlich als Kronzeugin angerufen wird – als ein kontradiktorisches interpretiert. Erst die so genannte Globalisierung und die neuerdings produktivistisch uminterpretierte »transnationale Zivilgesellschaft« (Streeck 1998) haben auch diese Diskursgestalt blass werden lassen.

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Trug- und Suchbilder: Zwei aktuelle Metamorphosen des Zivilgesellschaftsdiskurses

Abschließend möchte ich zwei aktuelle Varianten der Verwendung des Theorieschlagworts Zivilgesellschaft vorstellen: erstens die Redeweise von der »globalen Zivilgesellschaft«, die maßgeblich von dem Soziologen Ulrich Beck und im Umkreis der London School of Economics eingeführt worden ist, und zweitens die ganz anders gelagerten Versuche des amerikanischen Soziologen Jeffrey Alexander und seiner Mitarbeiter, das überzogen idealistische Vokabular der »civil society« konflikttheoretisch umzuformulieren und für die empirische Untersuchung von Institutionen und öffentlichen Narrativen brauchbar zu machen. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie keineswegs auf eine Überbietung der Institutionen der liberalen Demokratie durch deliberative oder republikanische Alternativen abzielen. Die Autoren der »globalen Zivilgesellschaft« sehen Anzeichen für die zunehmend weltweite Geltung von Menschenrechtsstandards und anderen liberalen Schutzvorkehrungen, als deren Träger sie neue transnationale Bürgervereinigungen – Nichtregierungsorganisationen (NGOs) – identifizieren. Die Kultursoziologen, die sich besonders mit Mediennarrativen und anderen Diskursen in »realen Zivilgesellschaften« (Alexander 1998a) beschäftigen, setzen ebenfalls konsolidierte liberale Demokratien voraus, ohne erkennbar an deren Überwindung oder Radikalisierung zu denken. Allerdings wird bei ihnen der Diskurs der Zivilgesellschaft selbstreflexiv, da die in diesen Diskurs eingeschrie-

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benen asymmetrischen Oppositionen des Citoyens gegenüber Soldaten, Fantasten oder Wilden nicht länger unbefragt übernommen, sondern selbst zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht werden.

Die globale Zivilgesellschaft »… the wider the world under investigation, the more we need conceptual tools that are able to travel« (Sartori 1970: 1034). Wer die Diskussion um die Zivilgesellschaft von einzelnen Nationalstaaten auf die Weltgesellschaft übertragen will, beginnt unweigerlich mit der Diagnostik der »Globalisierung«. Unter diesem nicht minder vagen Begriff werden gemeinhin zwei unterschiedliche Entwicklungen verstanden: zum einen die Ausdehnung der strategischen Reichweite von transnationalen Konzernen, elektronischen Medien oder politischen Organisationen; zum anderen die unvorhersehbare Häufung von nichtintendierten Nebenfolgen industrieller und anderer Handlungsstrategien, die auf die Ausgangsakteure zurückschlagen und eine Vielzahl unerwarteter Reaktionen hervorrufen. Unter dem Titel »Reflexive Modernisierung« haben Ulrich Beck und Anthony Giddens besonders diesen Aspekt des gesellschaftlichen Wandels durch Nebenfolgen, die rationaler Kontrolle entgleiten, akzentuiert. Becks zweifellos zutreffende Beobachtung richtet sich auf die immer offenkundiger werdende Schwierigkeit, die ungewollten Nebenprodukte unseres Handelns dadurch zu entsorgen, dass wir sie in einem Jenseits der eigenen Handlungs- und Erlebnishorizonte verschwinden lassen. Anders gesagt: Die Industriegesellschaft entgeht nicht dem Karma ihrer eigenen Handlungslogik. Selbst Satelliten, so meldet beispielsweise die amerikanische Raumfahrtbehörde, sind inzwischen durch herumfliegenden Weltraumschrott gefährdet. Beck erwähnt auch andere Problemfelder, etwa die wachsende Schwierigkeit, Armut an Stadträndern zu konzentrieren, ohne dass sie in die Innenstädte zurückschwappt (vgl. Beck 1997: 106).42

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Die Lage wird deshalb als kompliziert angesehen, weil die Globalisierung die unterstellte Machtfülle und die Gestaltungsspielräume des klassischen Nationalstaats einschränkt, während die Befugnisse zu weit reichenden Entscheidungen mehr und mehr in anonyme, global vernetzte Systeme und Institutionen diffundieren. Damit wird der eigentliche Gegenstand der demokratischen Kontrolle und Beeinflussung undeutlich und immer weniger greifbar. Die so beschriebene Situation wird aber auch zum Anlass genommen, die Chancen einer erweiterten Demokratie auszuloten, deren Träger den erreichten Grad der Transnationalisierung wirtschaftlicher und politischer Macht einzuholen versuchen und die räumlichen Maßstäbe von Solidarisierung und Organisation selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung machen. Das Resultat einer solchen Ausweitung und Vertiefung von Solidarisierungsmustern wäre im günstigsten Fall eine globale Zivilgesellschaft, die sich aus der Schwächung des Zugriffs des Nationalstaats auf die Selbstdefinition der Bürgerschaft speist. Interessanterweise spielt in diesen Versuchen einer engagierten Gegenwartsdiagnostik die institutionell noch ungenau bestimmte globale Zivilgesellschaft eine ähnliche Rolle, wie man sie früher dem europäischen Nationalstaat zudachte. Auch die Zivilgesellschaft soll nämlich eines Tages die Kräfte des globalisierten Kapitalismus »eindämmen«, so wie man die Fluten eines über seine Ufer tretenden Flusses eindämmt. Das Bild von den Dämmen und Fluten wird gelegentlich auch ersetzt durch ein Vokabular der Zähmung und »Zivilisierung« losgelassener Mächte. Problematisch an dieser Bildersprache, die wir bei vielen Soziologen finden, ist freilich, dass sie den Kapitalismus als dieselbe unbändige Naturgewalt erscheinen lässt, die Bestandteil seiner eigenen Apologie wie auch seines unverwüstlichen Appeals in der Populärkultur ist. Man denke nur an das Bild von den ostasiatischen Aufsteiger-Ökonomien der diversen »Tiger« und »Drachen«. Der französische Globalisierungskritiker Philippe Saint Marc (1994) spricht offen von der »barbarischen Ökonomie« einer rücksichtslosen Weltmarktkonkurrenz, die im Diskurs der globalen Zivilgesellschaft die Stelle des radikal Anti-Zivilen einzunehmen scheint.43 Andere, etwa der bereits erwähnte Wolfgang Streeck (1998), sehen umgekehrt in den weltmarktgehärteten Leistungsträgern der OECD-

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Länder die Trägerschicht einer transnationalen Zivilgesellschaft. »Turbo-capitalism«, so auch John Keane, »is undoubtedly among the principal energisers of global civil society« (Keane 2001: 29). Während die älteren Varianten des Zivilgesellschaftsbegriffs neben dem interaktionslogischen Aspekt (»Zivilisierung« von Verhaltensweisen) einen bereichslogischen Aspekt haben (Stellung der Zivilgesellschaft »zwischen« Staat und Ökonomie), fällt bei der globalen Zivilgesellschaft dieser zweite Aspekt weg. Da es keinen die Weltwirtschaft regelnden Weltstaat gibt, entfällt auch der imaginäre Zwischenraum, in dem man die Träger einer globalen Zivilgesellschaft ansiedeln könnte. Damit wird zugleich unklar, worauf sich eventuelle Demokratisierungsbemühungen im globalen Raum richten könnten. Nur wo regiert wird, kann auch demokratisiert werden. Man mag einwenden, dass das System der Vereinten Nationen oder die globalen Finanzinstitutionen durch zivilgesellschaftliche Anstrengungen demokratisiert werden könnten. Dies würde jedoch nur zu einer relativen Stärkung bestimmter Staatengruppen zulasten anderer führen, keineswegs aber zu einer Stärkung der Gesellschaften gegenüber den Staaten. Vieles spricht dafür, dass NGOs im Weltsystem eine andere Rolle spielen als bürgerschaftliche Vereinigungen innerhalb von konsolidierten Demokratien. Der Verdacht drängt sich auf, dass die globale Zivilgesellschaft das Resultat einer Anstrengung ist, die Giovanni Sartori schon vor mehr als dreißig Jahren treffend als »conceptual stretching« kritisiert hat (Sartori 1970: 1034). Sartori, der damals die Frage nach der Modernisierung in postkolonialen Gesellschaften aufwarf, war ein vorzüglicher Beobachter der Konfusion, die entsteht, wenn Terminologien von einem Kontext auf einen anderen übertragen werden, ohne dass diese wechselnden Kontexte als solche genügend Beachtung finden. Solche grundsätzlichen methodischen Einwände fechten freilich die enthusiastisch gestimmten Soziologen der globalen Zivilgesellschaft nicht an. Die Beiträge von Ulrich Beck und einigen seiner britischen Kollegen haben sich bis vor kurzem durch einen geradezu überschwänglichen Ton ausgezeichnet. Die euphorische Begrüßung der Globalisierung als Zeitenwende, nach der die Menschheit aus der platonischen Höhle der »ersten« Moderne ans Licht einer »zweiten« Moderne geführt wird, erinnert an Autoren, die bereits in den fünfzi-

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ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen ganz ähnlichen Ton anschlugen. Viele Passagen in den Schriften Becks könnten von dem österreichischen Anthropologen Wilfried Daim stammen, der meines Wissens als Erster den Begriff der »Globalisierung« im deutschen Sprachraum eingeführt hat. Daim sah schon Ende der fünfziger Jahre in der »Globalisierung der Gesellschaft« ein Hauptresultat der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und ihrer (atomaren) Gefahrenpotenziale. Und er diagnostizierte ähnlich wie Beck die Neigung der Nationen, unter dem Eindruck dieser neuen Gefahren einen »Affekt der Grenzenlosigkeit« (Daim 1960: 466ff.) auszubilden und zusammenzurücken. Nun sind es heute allenfalls noch hartgesottene Schmittianer, die bestreiten würden, dass die Existenz einer »Sphäre, die über den Nationen stünde« (Arendt 1986: 465), wünschenswert wäre. Umstritten ist allerdings die Frage der Realisierbarkeit einer solchen Sphäre. Einige befürchten, dass durch das Wirken einer unüberschaubaren Vielfalt verständigungsunfähiger, eifersüchtiger NGOs der Effekt einer quasi-mittelalterlichen, institutionell verfestigen Desintegration der internationalen Gemeinschaft noch verstärkt werden könnte (vgl. Lipschutz 1992: 419). Andere sehen in der globalen Zivilgesellschaft und ihrer vermeintlichen Leistungsfähigkeit eine »kosmopolitische Fantasmagorie« (Drainville 1998). Beck glaubt stattdessen daran, dass die Globalisierung der Warenströme, Bilder und Informationen – auf dem Umweg über die Eigendynamik unkontrollierbarer Nebenfolgen – eine höhere Einheit der Weltgesellschaft unausweichlich machen werde. Nicht die empirische Überprüfung dieser Annahme soll mich jedoch an dieser Stelle interessieren, sondern allein die formale Konstruktion der Zivilgesellschaft, die sich aus den Schriften Becks herausfiltern lässt. Aufschlussreich sind zunächst Becks verstreute Bemerkungen zum Verhältnis westlicher und nichtwestlicher Weltregionen, und zwar besonders vor dem Hintergrund meiner knappen Ausführungen zu Hannah Arendt. Arendts Kolonialismus-Diskurs und seine herrschaftstheoretischen Weiterungen sind durch eine Reihe wiederkehrender homologer Gegensatzpaare strukturiert: Europa/Afrika, sesshafte Bauern/Nomaden, Arbeit/Nichtarbeit, Kommunikation/nacktes Leben, patria/Internationalismus. Interessanterweise kehren diese

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Gegensatzpaare in abgewandelter Gestalt bei Beck wieder. Seine Texte über den Zusammenhang von Globalisierung und Zivilgesellschaft lassen sich als ein Versuch lesen, an Arendts Dualismen anzuknüpfen, wenngleich unter umgekehrten normativen Vorzeichen. Dies soll nun gezeigt werden. Die Diagnose von Bumerang-Effekten der Operationen westlicher Gesellschaften, die den Ausgangspunkt der These der reflexiven Modernisierung bildet, findet eine Parallele in Arendts politischer Krisendiagnose der Auswirkungen des Kolonialismus auf Europa. Wie bei Arendt die außereuropäische Welt – versinnbildlicht durch die Wirren der südafrikanischen Kapkolonie – zum bloßen Kontrastbild des alten Europa verschwimmt, erscheint bei Beck Afrika als Kulisse individualistischer Lebensstil-Experimente. Beck gibt an einer Stelle seines Buches Was ist Globalisierung? (1997) das Beispiel einer älteren Dame aus dem bayerischen Tutzing, die seine Globalisierungsthese vorlebt, indem sie je nach Saison zwischen Bayern und Kenia pendelt, ohne eindeutig die Frage beantworten zu können, wo sie denn nun eigentlich »zu Hause« sei. In Ostafrika »amüsiert« sie sich jedenfalls mehr als in Tutzing (Beck 1997: 128). Die Textstelle ist symptomatisch, weil sie zu den wenigen gehört, an denen Afrika oder andere außereuropäische Regionen im Werk von Beck überhaupt Erwähnung finden. Sie dient der Illustrierung der Behauptung, dass sich im Gefolge der Globalisierung das soziale Band von territorialen Bezügen und den Gewissheiten geographischer Herkunft löst. Anders als bei den Millionen von Vertriebenen und Verschleppten der Neuzeit erfolgt diese lebensweltliche Deterritorialisierung heute zu einem guten Teil freiwillig und ohne Gewalt. Darüber hinaus findet die Soziologie Becks hier Anschluss an einen Diskurs, in dem Regionen außerhalb Europas unter dem Gesichtspunkt ihrer Reize, ihrer gefahrlosen Zugänglichkeit und ihrer ebenso gefahrlosen Andersheit erscheinen. Becks Modellbürgerin gilt als Repräsentantin eines soziologisch relevanten »Nomaden-Lebens« (ebd.: 129), das ausdrücklich als Existenzform einer höheren, »zweiten« Moderne begrüßt wird, die von den bäuerlich-bürgerlichen Sesshaftigkeitsidealen des alten Europa denkbar weit entfernt ist: »Posttraditionales, eigenes Leben heißt im Globalen Zeitalter: Nomadenleben, ein Leben im Auto, im Flugzeug, in der Bahn oder am Telefon, im Internet …« (Beck 1998: 50).

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Becks rüstige Seniorin ist natürlich das Produkt einer spezifischen Entwicklung dynamischer Rentenanpassungen, starker Wechselkurse und anderer Faktoren, die bewirken, dass umgekehrt Kenianer weitaus seltener die Gelegenheit haben, sich in Deutschland zu amüsieren. Wichtiger ist jedoch zu sehen, wie Beck die Bestimmungen Arendts modifiziert. Vor allem betrachtet Arendt in der Abkehr vom Arbeitsethos – ähnlich wie Gramsci oder Weber – einen sicheren Weg zur »Verwilderung« (Arendt 1986: 318) der Europäer, während Beck hierin einen Fortschritt und ein Spezifikum der zweiten Moderne sieht. Der normativen Umkehrung des Gegensatzes von Nomadentum und Sesshaftigkeit entspricht Becks Umwertung der Rolle der Arbeit für das Selbstverständnis gegenwärtiger Zivilgesellschaften. An die Stelle der alten »produzentenorientierten Demokratie« soll eine »verbraucherorientierte Demokratie« (Beck 1998: 35) treten, in der alle gemeinsam für gesunde Lebensmittel streiten. Mit dieser Aufwertung marktkompatibler Bedürfnisse und Wünsche hört auch das »Tier im Menschen« auf, eine plausible Bedrohungsmetapher zu sein. Wo Arendt vom europäischen Ethos spricht, das in der »Wildnis« Afrikas bezugslos und irrelevant wurde, wählt Beck Bilder, die diese Bewertung umkehren, indem er von den westlichen Normalarbeitnehmern als den »Eingeborenen der Arbeitsgesellschaft« (Beck 1997: 207) spricht, die noch nicht auf dem Niveau der zweiten Moderne leben. Schließlich bewertet Arendt die »eigentümliche Individualisierung« (Arendt 1986: 515) der modernen Massengesellschaft sehr kritisch, während Beck in den reiselustigen individualistischen »Ich-Suchern« der Gegenwart eine nachbürgerliche Pionierschicht sieht und zugleich die politische Speerspitze der Herausbildung einer kulturübergreifenden Weltzivilgesellschaft (vgl. Beck 1997: 250f.). Die Individualisierung geht dabei einher mit einem verfeinerten Sensorium für neue großtechnische und ökologische Gefahrenlagen. »Gefahren stiften Gesellschaft; globale Gefahren stiften globale Gesellschaft« (ebd.: 74). Wiederum ergibt sich eine Parallele zu Arendt. Wie die von ihr geschilderten Buren auf ihren weit auseinander liegenden Farmen in Südafrika gilt nämlich auch für die einzelgängerischen Pioniere der transnationalen Moderne, dass sie »nur eine gemeinsame Gefahr zusammenhalten« kann (Arendt 1986: 318). Eine semiotische Lektüre des Diskurses der globalen Zivilgesell-

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schaft, wie ihn Beck präsentiert, ist mit der Konstruktion eines Idealbürgers konfrontiert, den man als zivilen Nomaden bestimmen könnte. Diese Figur steht in einem kontradiktorischen Verhältnis zu den Produzenten, die Beck auch als »Eingeborene« einer vergleichsweise primitiven Gesellschaftsepoche, nämlich der »ersten« Moderne, bezeichnet. Die Frage ist nun, ob den ›zivilen Nomaden‹ wie im klassischen semiotischen Viereck ein konträrer Term entspricht, der dem Ausgangsterm entgegengesetzt ist, ohne ihn auszuschließen. Tatsächlich hat Beck im Rahmen seiner Globalisierungssoziologie und vor dem Hintergrund tagespolitischer Geschehnisse die Figur des Soldaten in »humanitären Interventionen« eingeführt. So bildet der ›humanitäre Soldat‹ das Pendant zu den ›zivilen Nomaden‹, den Aktivbürgern ohne Uniform. Beck misstraut der westlichen Rhetorik der weltweiten Menschenrechte und diagnostiziert eine »neue Mischform« (Beck 1998: 42) von Universalismus und Imperialismus in der internationalen Politik; gleichwohl hält er daran fest, dass es kein Zurück zu einer Moral gibt, »die am eigenen (nationalen) Gartenzaun endet« (ebd.: 47). Weder die zitierte Rentnerin aus Tutzing noch die Soldaten der globalen Friedenssicherung sind umherschweifende blonde Bestien, vielmehr personifizieren beide im Sinne des semiotischen Vierecks konträre, sich wechselseitig voraussetzende Terme innerhalb des Diskurses der globalen Zivilgesellschaft (vgl. Abbildung 4). Abb. 4: Ulrich Becks globale Zivilgesellschaft

zivile Nomaden s1

humanitäre Soldaten s2

-s2 nackte Überlebensinteressen

-s1 eingeborene Produzenten

Während die Eingeborenen der Arbeitsgesellschaft den ausschließenden Gegensatz zu den nomadisierenden Individualisten bilden, stehen

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die humanitären Soldaten in Opposition zu einer diffusen globalen Unterschicht, von der Beck sagt, sie verkörpere nur noch »nackte Überlebensinteressen« und damit das »Gegenteil der Zivilisation« (Beck 1996: 91) sowie jeglicher Zivilgesellschaft. Hier schließt der Soziologe an den einflussreichen Diskurs über die Rückkehr des Barbarentums an – ein Diskurs, der angesichts des Staatszerfalls und einer Vielzahl neuartiger »ethnischer« Bürgerkriege in Teilen der Welt sowohl in konservativen wie auch in linken Varianten vorkommt (vgl. Nederveen Pieterse 2002: 20). Der mit der »Zivilgesellschaft« wiederbelebte Topos der »Barbarei« wird eindeutiger als bei den Autoren der klassischen Moderne territorialisiert, zugleich aber auch dadurch entschärft, dass den neuen Barbaren unterstellt wird, sie wollten nur so werden wie »wir«, ohne dieses Ziel jedoch zu erreichen. Ein Großteil der außereuropäischen Welt, so Beck, »hechelt mehr oder weniger aussichtslos« danach, wenigstens das niedrige Niveau einer primären Modernität zu erreichen (Beck 1996: 28). Auch bei Beck wird demnach das semiotische Viereck in der Mitte von einer unsichtbaren geo-moralischen Trennlinie in eine obere und eine untere Hälfte geteilt, die jeweils Niveauunterschiede auf einer imaginären Leiter der globalen Gesellschaftsentwicklung repräsentieren. Anders allerdings als in der Älteren soziologischen Modernisierungstheorie, deren Fortschrittsglaube heute allenthalben kritisiert wird, sind die Sprossen, die vom Parterre der ersten Moderne zur Dachterrasse des ›Globalen Zeitalters« führen, zerbrochen.

Symbolische Codes in der Demokratie Bisher habe ich die »Zivilgesellschaft« als einen Gegenstand der Textanalyse, nicht als ein Werkzeug von Realanalysen betrachtet. Ziel war es, die notorische Unbestimmtheit des Konzepts durch eine Rekonstruktion der Gegenbegriffe aufzulösen, die in den Diskurs der Zivilgesellschaft eingelassen sind. Zum Schluss möchte ich den Vorschlag machen, über diesen Versuch einer diskursgeschichtlichen Rekonstruktion hinaus den Zivilgesellschaftsbegriff für empirische Untersuchungen zu schärfen. Die entscheidenden Stichworte hierzu hat Jeffrey Alexander (1998a) gegeben.

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Der amerikanische Kultursoziologe wendet sich zunächst gegen die Idealisierung des Begriffs, die dazu geführt hat, dass die Zivilgesellschaft auf einen hochabstrakten normativen Maßstab reduziert worden ist, an dem die institutionelle Realität der liberalen Demokratie oder anderer Ordnungen gemessen wird. Die aktuelle Zivilgesellschaftsnorm besagt, dass alles zur Sprache kommen muss, dass niemand ausgeschlossen werden darf, dass territoriale Grenzen und institutionelle Schließungsmechanismen generell schlecht sind. Im Lichte dieser Norm zerfällt die Welt in zwei symbolische Hälften, eine reine und eine unreine. Wenn man einigen deutschen Autoren folgt, kamen die Friedensbewegung der achtziger Jahre und die diversen »Organisationen der Ökologen und der Frauen« (Dubiel 1994: 118) dem Himmel der Zivilgesellschaft am nächsten. Symbolisch rein war auch die Parole »Wir sind das Volk« der DDR-Bevölkerung. Unrein sind dagegen die großen Interessenverbände, der Nationalstaat, das Militär, der Krieg. Unrein war die Parole »Wir sind ein Volk«, denn wo »ein« Volk ist, drängt sich der Gedanke auf, dass es auch andere Völker gibt, von denen man sich unterscheiden oder gar abgrenzen möchte (ebd.: 40f.). Abgrenzung aber ist schlecht. Unrein waren auch die Motive derjenigen sozialen Bewegungen in den europäischen Großstädten, die nicht nur eine verfehlte Wohnungspolitik zur Sprache bringen wollten, sondern selbst Häuser besetzten, um sie zu renovieren und in ihnen zu wohnen (vgl. Rödel et al. 1989: 27). Gleichsam im Zeitraffer wurde hier das Pandämonium der Krieger, Irren und Produzenten noch einmal vorgeführt, um im Gegenlicht dieser Figuren die wahre Zivilgesellschaft umso deutlicher erscheinen zu lassen. Die Ironie liegt darin, dass dieser sozialphilosophische Diskurs in demselben Zug, in dem er für die Öffnung und Entgrenzung des politischen Raums plädierte, zu einem Instrument der Schließung, der Grenzziehung und der symbolischen Entzweiung wurde. Der normativistische Diskurs der Zivilgesellschaft dementierte sich unmittelbar selbst, indem er das Gegenteil dessen realisierte, wovon er sprach. Gesprochen wurde von Pluralisierung und kommunikativer Öffnung, realisiert wurde die »Volksgemeinschaft der Gutwilligen«, um ein böses Wort des Publizisten Friedhelm Grützner (2001) zu zitieren. Man könnte auch von Fantasten in dem Sinne sprechen, wie Calvin das Wort vor fünfhundert Jahren benutzte, um all jene zu charakteri-

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sieren, die sich einem reinen Gesellschaftsideal verschrieben hatten, ohne sich mit den »schmutzigen und profanen Angelegenheiten zu befassen, die mit dem Treiben auf dieser Welt zu tun haben« (Calvin 1964, Bd. 4: 1127). Die politische Kultursoziologie entgeht diesem Paradox der symbolischen Grenzziehung durch Entgrenzungsrhetorik, da sie die Zivilgesellschaft von vornherein als einen sozialen Bereich bestimmt, in dem universalistische und partikularistische Gemeinschaftsbildungen unauflöslich miteinander verwoben sind. Partikularistische Selbstbehauptungstendenzen gehören zum Feld der Zivilgesellschaft, auch dann, wenn sie im Namen der Zivilgesellschaft von universalistisch motivierten Gruppen ausgegrenzt werden sollen.44 Diese unvoreingenommene Einbeziehung partikularistischer, interessengebundener, »schmutziger« Anliegen in das Untersuchungsfeld von Zivilgesellschaftsstudien ist keine Frage des persönlichen Temperaments oder einer willkürlichen Methodenwahl. Vielmehr betrifft sie den Kern der Frage, ob sich der »kritische« Charakter einer Sozialwissenschaft allein an der Entschlossenheit zeigen soll, mit der das Reine vom Unreinen geschieden und diesem als starres Ideal entgegengehalten wird. Wie es »schmutzbejahende« und »schmutzverneinende« Philosophien gibt (Douglas 1988: 213), so gibt es auch entsprechende Denkstile in den Sozialwissenschaften. Sie zeigen sich besonders deutlich in der Debatte um den Begriff Zivilgesellschaft. Durchaus noch in Übereinstimmung mit dem Mainstream definiert Jeffrey Alexander (1998a) das Feld der Zivilgesellschaft als einen eigenständigen Handlungsbereich in modernen Gesellschaften, in dem Solidarität generiert wird und der sich von anderen – staatlichen, wirtschaftlichen, familiären – Handlungsbereichen unterscheidet, ohne von ihnen gänzlich unabhängig zu sein. Die Zivilgesellschaft besteht zum einen aus Institutionen wie den Vereinen und Verbänden, den Gerichten sowie den Einrichtungen der Massenkommunikation einschließlich des Internet. Die meisten dieser Institutionen organisieren Kommunikation unter Abwesenden, wenngleich vieles dafür spricht, dass die Zusammenkunft von Bürgern in raumzeitlich begrenzten Versammlungen einen unersetzbaren Kern liberaler Demokratien bildet (vgl. Hurrelmann et al. 2002). Über solche sich wandelnden institutionellen Bedingungen hi-

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naus sind reale Zivilgesellschaften durch eine subjektive Dimension gekennzeichnet, die unterhalb der Institutionen und der ausgesprochenen Interessen bestimmter Schichten wirksam ist. An dieser Stelle weicht Alexander von der Hauptströmung der Debatte ab, um ein eigentümlich agonales, polarisierendes Element in den Begriff einzuführen: »Um diese subjektive Dimension der Zivilgesellschaft zu erkennen, müssen wir die besonderen symbolischen Codes beachten und untersuchen, die von entscheidender Bedeutung sind für das, was es heißt, einer bestimmten Gesellschaft anzugehören oder nicht … Die Codes stellen strukturierte Kategorien des Reinen und des Unreinen bereit, die jedes tatsächliche oder potenzielle Mitglied einer Gesellschaft anzuerkennen veranlasst wird« (Alexander 1998b: 97f.). Es gibt keinen zivilen Diskurs, der nicht über Kriterien der Inklusion von Fremden in das jeweilige Gemeinwesen verfügt. Solche Kriterien unterscheiden, wer der Inklusion würdig ist oder nicht. Die von mir kurz vorgestellte normativistische Engführung des Zivilgesellschaftsbegriffs mag politisch funktionstüchtig gewesen sein, indem sie der genannten Volksgemeinschaft der Gutwilligen ein Identitätsgefühl und Kriterien der Selbstabgrenzung gegenüber einer symbolisch unreinen Welt verschaffte; für die Zwecke der systematischen Erkundung der politischen Wirklichkeit hingegen war dieser Ansatz ganz ungeeignet, weil er die normativen Präferenzen empirischer Akteure im Feld der Zivilgesellschaft in die Definition derselben eingehen ließ. Öffentliche Diskurse innerhalb realer Zivilgesellschaften klassifizieren die Welt der Motive, Beziehungen und Institutionen in legitime und illegitime, reine und unreine. Der soziologische Diskurs über die Zivilgesellschaft jedoch kann sich an diesen Klassifikationskämpfen ebenso wenig beteiligen wie der zoologische Diskurs über den Hund bellen kann. Eine Arbeitsdefinition, die dies berücksichtigt, lautet wie folgt: Unter »Zivilgesellschaft« ist der öffentliche Gebrauch zu verstehen, den Bürgerinnen und Bürger von ihren Grundrechten und Kommunikationsfreiheiten machen, um sich ihrer Solidarität untereinander und/oder gegenüber Fremden zu versichern. Ich nenne abschließend vier Merkmale, die diese Definition auszeichnen. Solidarität durch Grenzziehung. Die Inanspruchnahme der Grundrechte und Kommunikationsfreiheiten – der Entstehungsgrund realer Zivilgesellschaften – führt im selben Maße zur Herstellung von Soli-

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darität, wie Bedingungen und Grenzen dieser Solidarität ausgehandelt werden. Dies ist offenkundig bei Organisationen wie den Gewerkschaften, die sich eine an den eigenen Mitgliedern orientierte Solidarität auf die Fahnen schreiben. Mitgliederarme NGOs, die das heimische Publikum für das Leid von fernen Fremden sensibilisieren, belegen ebenfalls den engen Zusammenhang des öffentlichen Gebrauchs der Grundrechte mit der Herstellung von jeweils spezifischen Solidaritäten. Gesetze wie der »Alien Tort Claims Act« oder der »Torture Victim Prevention Act« in den USA erlauben sogar Schadensersatzklagen zugunsten von Ausländern, indem sie den Opfer/Täter-Code globalisieren. Aber auch der rein individualistische Gebrauch des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung belegt den engen Zusammenhang von Kommunikationsfreiheit, Solidarität und Grenzziehung. So pflegen als skandalös empfundene Meinungsäußerungen von Politikern oder Künstlern das Publikum zu spalten, indem sich die Mehrheit entsetzt abwendet, während andere Solidarität bekunden. In realen Zivilgesellschaften wird alltäglich ausgehandelt, mit wem wir vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen, Erinnerungen und Werte solidarisch sein sollen, welchen in- oder ausländischen Gruppen gegenüber wir besondere Verpflichtungen haben, wer als Dialogpartner auf dem einen oder anderen Gebiet in Frage kommt, schließlich: welche Gruppen von Menschen überhaupt zu Mitbürgern werden sollen, indem man die Einwanderungsbestimmungen entsprechend anpasst. Der letztgenannte Punkt macht das Grundproblem realer Zivilgesellschaften am deutlichsten: sie produzieren Solidarität durch symbolische Grenzziehungen.45 Reflexivwerden der historischen Semantik. Die vorgeschlagene Arbeitsdefinition ist mit Blick auf die in den voranstehenden Kapiteln skizzierte Diskursgeschichte reflexiv, da sie es erlaubt, die Figuren des Anderen der Zivilgesellschaft, die sich über einen langen Zeitraum herausgebildet haben, in den öffentlichen Kommunikationsprozessen realer Zivilgesellschaften erneut aufzuspüren. Bis heute spielen bei der öffentlichen Grenzziehung gegenüber einem imaginären Unten, Oben oder Draußen der Gesellschaft die Gestalten des Produzenten, Bürokraten oder Barbaren eine gewichtige Rolle. Dabei sind meistens nicht die symbolischen Codes selbst umstritten, wie Alexander am Beispiel von George Orwells 1984 zeigt, sondern die Frage, wie diese

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Codes konkret auf bestimmte Gruppen oder Sachverhalte anzuwenden sind: Ist der Überwachungsstaat nur im Kommunismus eine Realität oder droht er auch im Westen (vgl. Alexander 1998b: 104f.)? Ähnliche Konflikte um die situationsgerechte Anwendung symbolischer Codes, die als solche unumstritten sind und zumeist gar nicht thematisiert werden, sind bis heute weit verbreitet. Entprivilegierung der Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat. Die Zivilgesellschaft wird häufig als Nährboden der Demokratie bezeichnet. Die angegebene Definition besteht umgekehrt darauf, dass die Demokratie als staatliche Ordnung zunächst einmal die Voraussetzung realer Zivilgesellschaften bildet. Die Zivilgesellschaft kann sich im Ernstfall nicht selbst schützen. Ihre Ausdehnung über die Kernregionen Europas und Nordamerikas hinaus ist an die Wellen der weltweiten Demokratisierung gebunden. Hier gibt es einige gute Nachrichten.46 Weiterhin ist festzuhalten, dass Zivilgesellschaften nicht unbedingt großzügiger und dialogorientierter sind als Regierungen. Nach dem Massaker in der bosnischen Stadt Srebrenica im Juli 1995 waren es Menschenrechtsorganisationen, die das Ende des Dialogs und Militäreinsätze gegen serbische Stellungen gefordert haben. Umgekehrt erkannten in den dreißiger Jahren viele Regierungen nicht, dass die Nazis moralische Idioten waren, und betrachteten sie stattdessen als potenzielle Dialog- und Verhandlungspartner (vgl. Alexander 1998b: 106). Bereichslogik vor Interaktionslogik. Die Definition privilegiert den bereichslogischen gegenüber dem interaktionslogischen Aspekt von Zivilgesellschaft. In realen Zivilgesellschaften geht es nicht immer besonders »zivilisiert« zu, sofern man mit Kant »Manieren« und »Artigkeit« für unverzichtbare Kennzeichen zivilisierter Interaktion hält (Kant 1982: 707). Schon gar nicht findet hier ein wahres Leben im falschen statt. Die Zivilgesellschaft ist ein in analytischer Perspektive eigenständiger Bereich, der dadurch entsteht, dass die Bürger ihre verbrieften Grundrechte der Vereinigungsfreiheit sowie der Meinungs- und Informationsfreiheit tatsächlich nutzen. Der so verstandene Begriff der Zivilgesellschaft präjudiziert nicht die Inhalte und Richtungen der Grundrechtsverwirklichung. Er stellt auch nicht der »Freiheit« eine einschränkende »Verantwortung« als Aufpasser zur Seite, wie dies in einer spezifisch deutschen Tradition lange Zeit üblich war.

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Schließlich: Indem die Definition die Zivilgesellschaft entzaubert und als einen Handlungsbereich kennzeichnet, dessen solidaritätsstiftende Leistungen nicht von anderen Bereichen übernommen werden können, öffnet sie den Blick auf ein eigenständiges Genre von »civil society studies« – Untersuchungen, durch die das Feld erkundet wird, auf dem sich letztlich alle politisch anspruchsvollen Ideale einer menschlicheren Gesellschaft bewähren müssen.

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Zu den Protesten von Rechtsanwälten oder religiösen Gemeinschaften in Deutschland gegen einschlägige Gesetzesvorhaben und EU-Richtlinien vgl. z. B. »Rechtsanwälte sehen die Vertragsfreiheit in Gefahr«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Mai 2002, S. 17; »Antidiskriminierungsgesetz ungewiß«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 2002, S. 4. Grundsätzlich zum Problem der »schlechten« Zivilgesellschaft vgl. Chambers/Kopstein (2001). Zur Unterscheidung von »ambiguity« und »vagueness« vgl. Quine (1960: 129ff.). Ein gedanklicher Vorlauf und eine empirische Untersuchung zu diesen Überlegungen finden sich bereits in meiner Arbeit über politische Konflikte um die Nutzung von biologischen Ressourcen und Biotechnologien (vgl. Heins 2001). In diesem Sinne ist der Begriff der »Zivilgesellschaft« eingegangen in die weit verzweigte Demokratisierungsforschung (vgl. z. B. Arenhövel 2000). Zur polnischen Erfahrung vgl. besonders Tatur (1989); generell zur Zivilgesellschaftsdebatte Klein (2001). Vgl. dazu die vorzüglichen Beiträge in Möller/Kittel (2002); ferner die älteren mentalitätsgeschichtlichen Anmerkungen von Lucie Varga (1991: 121ff.) über die zahllosen Bünde, Vereine, Sekten und »Erlebnisgruppen« in der Weimarer Republik. In der chinesischen Rechtsgeschichte sollten nicht staatliche Gesetze, die stets als »barbarisch« galten, sondern die guten

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Sitten das Verhalten der Menschen regeln (vgl. dazu Foerste 1998). Zu verwandten Harmonie- und Gemeinschaftsidealen im heutigen Zivilgesellschaftsdiskurs vgl. Grützner (2001). So Gerhard Simon (Universität Köln) auf einem Symposium der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit in Regensburg am 23. Februar 2002 (unveröffentlicht). Zum IrakBeispiel vgl. die Nachweise in Colas (1992: 44). Hier stütze ich mich auf einen Zeitungsbericht von Brumlik (2001) sowie auf persönliche Mitteilungen dieses Autors. In Analogie zum »linguistic turn« spricht man in der Humangeographie neuerdings von einem »animal turn«, um das Studium der historischen Semantik des Gegensatzpaares Animalität/Humanität und ihrer teilweise dramatischen politischen Implikationen zu kennzeichnen. Vgl. dazu Anderson (2000) sowie den Katalog der Ausstellung »Das Tier in mir«, die Anfang 2002 in der staatlichen Kunsthalle Baden-Baden gezeigt wurde (Bilstein/Winzen 2002). Die Unterscheidung zwischen bereichs- und interaktionslogischen Aspekten der Begriffsbestimmung von Zivilgesellschaft übernehme ich von Jürgen Kocka. Zur Enträumlichung des Barbareibegriffs in der Moderne vgl. White (1978). Zahlreiche Belege zur Verwendung des Barbareibegriffs in der Antike finden sich bei Hall (1989). Ich stütze mich hier auf Colas (1992). Vgl. ferner die kleine Schrift von Höchheimer (1786). Ganz ähnlich hatte sich Adorno bereits in einem Brief an Thomas Mann vom 13. April 1952 geäußert: »Unter den Anforderungen, die an die historische Reaktionsfähigkeit heute gestellt werden, ist ja nicht die letzte, daß man noch im Negativen differenzieren muß; daß man das in Deutschland seinerzeit nicht genügend vermochte und Brüning mit Hitler gleichsetzte, war selber mit schuld an dem Unheil« (Adorno/Mann 2002: 102f.). Hierzu und generell zur Rolle von »Heiligen« als Modernisierern vgl. Walzer (1966) sowie Hancock (1989). Vgl. die einleuchtende begriffliche Bestimmung der »civil condition« bei Oakeshott (1975: 108-184).

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Zum Folgenden vgl. ausführlicher Heins (1999). Vgl. den Brief Webers an Harnack vom 12. Januar 1906, zit. nach Mommsen (1974: 76). Zur Besonderheit der amerikanischen Sekten in Webers Soziologie und zur demokratietheoretischen Differenz von Modernisierung und »Europäisierung« vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von Alexander (1989). Ein Tendenz zur Verräumlichung des Barbarei-Topos gibt es bei Gramsci freilich insofern, als die innere Unangepasstheit auf dem Land größer ist als in der Stadt (vgl. Gramsci 1975: 2148). Zu Marx muss man wissen, dass er sich 1848 im Namen der europäischen Freiheit für einen deutsch-französischen Militärschlag gegen Russland einsetzte: »Wenn die Preußen mit den Russen, werden die Deutschen sich mit den Franzosen alliieren und mit ihnen vereint den Krieg des Westens gegen den Osten, der Zivilisation gegen die Barbarei, der Republik gegen die Autokratie führen«, so zitiert einer der Mitherausgeber der MarxEngels-Gesamtausgabe aus unveröffentlichten Manuskripten (Herres 2002). So etwa Revelli (1998: 30). Zum Linksfuturismus in Italien vgl. Lista (1980). Vgl. Webers zwischen 1908 und 1909 entstandene Texte zur Psychophysik der industriellen Arbeit, z. B. Weber (1995: 242). Vgl. die Ausführungen von Dubla (1986: 168ff., bes. 173). Hier liegt die Hauptdifferenz zwischen Gramsci und Sorel. Sorel lobt am Bolschewismus gerade die gewaltsame Modernisierung Russlands und die Disziplinierung der Arbeiter, die er als »Europäisierung« versteht (vgl. Freund 1972: 253f.). Eine interessante indirekte Auseinandersetzung mit dem MobPhänomen findet man in Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft (1967). Darin definiert er die Welt der »seriellen« Kollektive als elementaren Typus von Sozialität, auf den jede Gruppe und Organisation zurückfallen kann. Der Mob wäre demnach ein Sonderfall des viel breiteren Bereichs kollektiver Hordenbildung, zu dem auch Phänomene zählen wie Panikverkäufe von Aktien, massenhaftes Gaffen bei Autobahnunfällen, Skandalisierungsprozesse im Feld der öffentlichen Meinung und andere Formen der lateralen Ansteckung durch Ideen und Gefühle. – Interessant

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auch die Formulierungen Theodor Geigers: die Masse ist »formfeindlich«, ihre Vorstellung von der Zukunft »vage und phantastisch« (Geiger 1967: 76). Der Begriff der »westlichen Zivilisation« stammt von dem Engländer Benjamin Kidd (1898). Je nach Nationalität wurde freilich der Hort der Barbarei immer woanders entdeckt. So sahen deutsche Englandhasser im Boxsport und den Fuchsjagden der Engländer sichere Zeichen ihrer Barbarei. Die Türken seien dagegen vergleichsweise zivilisiert (vgl. Paalzow 1823: 87f.). Zur Diskussion um Arendts These einer Kontinuität von Kolonialismus und Holocaust vgl. Conrad (2002: 161) und die dort genannte Literatur. Süddeutsche Zeitung, 7./8. August 1999. Dies zeigen etwa die Beiträge von Offe (1994), Kaldor (1999) oder Rüb (2000). Zu Kleists Michael Kohlhaas als einer typischen Fanatikerpersönlichkeit vgl. Bolterauer (1989). Unangebracht wäre diese Einordnung nur dann, »wenn Kohlhaas seinen Kampf ums Recht erst begonnen hätte, nachdem er auch die oberste rechtliche Instanz, seinen Landesfürsten, vom Versagen der niederen Gerichte verständigt hätte … Kohlhaas Lagebeurteilung, die gesamte Rechtsordnung im Lande sei zusammengebrochen, es herrsche das reine Faustrecht, war daher eine paranoide Wahnidee« (Bolterauer 1989: 90). Zur politischen Diskursanalyse zur öffentlichen Debatte um die Beteiligung Deutschlands an Militäreinsätzen nach den Terrorangriffen auf die USA vom 11. September 2001 vgl. Heins (2002a). Vgl. Lasswell (1937, 1941); zur »kasernierten Nation« vgl. Frevert (2001). Auch modernisierungstheoretische Widersacher Adornos haben zur selben Zeit die Möglichkeit einer Entzivilisierung und Entsubjektivierung der Gesellschaft durch die Zangenbewegung von Anomie und Bürokratie zumindest ins Auge gefasst: »There are many who feel similarly that, whether through conformism, fanaticism or rigidity, American society will succumb to the final impersonality of the Age of Insects« (Lerner 1957: 950).

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Gramsci stützt sich in diesem Zeitungsartikel auf Aussagen des Berliner Studenten Jakob Feldner, der 1916 in die Schweiz floh, um dem Kriegsdienst und der militaristischen Kultur des damaligen Deutschlands zu entgehen. Vgl. z. B. seinen Artikel »Die ohnmächtige Wut der Bourgeoisie und die Heiterkeit des Proletariats« in L’Unità vom 10. August 1926, zit. nach Paggi (1984: 371). Vgl. zusammenfassend Langenohl (2000: 141). Zu einer erweiterten, transkulturellen Lesart des Zivilgesellschaftskonzepts vgl. den Sammelband von Hann/Dunn (1996). So die Kritik von Randeria (2001: 86f.), die sich u. a. – und zu Recht – gegen frühere Ausführungen von mir richtet. Tatsächlich geht z. B. Dubiel so weit, die politisch selbstbewussten Kulturen der Erde mit auseinander driftenden »Inseln« zu vergleichen, »zwischen denen Passagen immer schwieriger und unwahrscheinlicher werden« (Dubiel 1997: 431). Genau genommen ist die Kritik an der kategorialen Entgegensetzung von Kommunikation und Arbeit schon bei Weber angelegt, der nicht umsonst der Industriesoziologie die Frage nahelegen wollte, »inwiefern Konversation bei der Arbeit möglich ist« und mit welchen Konsequenzen (Weber 1995: 149, Fn.). Ich beziehe mich hier auf die Darstellung von Clostermeyer, die Leroy als »Kathedersyndikalist« bezeichnet (1984: 51). Vgl. den Aufsatz über »zivilen Ungehorsam« in Arendt (2000a: 283-321). Vgl. hierzu die kompakte Darstellung von Ohno (1995), die die semiotische Tradition bis auf Aristoteles, Kant und vor allem Hegel zurück verfolgt. Ich vernachlässige an dieser Stelle die Beziehungen -s2/s1 und -s1/s2, die bei Greimas im Normalfall als solche der Komplementarität oder der Implikation bezeichnet werden (vgl. Ohno 1995: 331). Vgl. z. B. Rose (1999), Pugh (2000) sowie Heins (2002b). Der Soldat ist »nur ein Arbeiter in Uniform«, heißt es bei dem deutschen Syndikalisten Kurt Gerlach (zit. nach Clostermeyer 1984: 73).

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Im Folgenden stütze ich mich passagenweise auf das Kapitel 2.1 in Heins (2001). Saint Marc zieht eine direkte Linie von der »barbarischen Ökonomie« zur Arbeitslosigkeit und zur Sozialpathologie des Drogenkonsums, der wachsenden Gewaltbereitschaft und der Gefährdung der kulturellen Ordnung des »Westens«. In Deutschland hat in jüngerer Zeit Wilhelm Heitmeyer ähnlich argumentiert. Vgl. die Studie von Jacobs (2000) über multiple Öffentlichkeiten und konkurrierende Narrative im Umkreis der Rassenunruhen in den USA seit 1965. Zu den Bedeutungen von Grenzziehung als einer elementaren politischen Praxis vgl. Bredow (2001) sowie Schiffauer (1993). Habermas hat richtig gesehen, dass sich verfassungstheoretisch nicht klären lässt, wie sich die Gesamtheit der Personen, die ein politisches Gemeinwesen bilden, zusammensetzen soll. Diese Aufgabe muss letztlich die Zivilgesellschaft leisten, indem sie Kriterien dafür entwickelt, wo die kontingenten Grenzen einer gegebenen »Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen« (Habermas 1996: 140) zu ziehen sind. 1950 gab es 80 souveräne Staaten auf der Erde, weiterhin 43 Kolonien und eine Vielzahl von Protektoraten. Nur 22 Staaten, in denen 31 Prozent der Weltbevölkerung lebten, waren demokratisch. Heute zählen wir bereits 192 Staaten. Fast 60 Prozent der Weltbevölkerung leben in Staaten, deren Führungen demokratisch gewählt werden. 85 der 192 Länder gelten als »frei« in dem Sinne, dass elementare bürgerliche Rechte wie die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Organisationsgründung geschützt sind. Als teilweise frei gelten weitere 59 Länder, in denen trotz ethnischer Spannungen, Korruption und eines schwachen Staates die Grundrechte respektiert werden (vgl. Karatnycky 2000).

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