Andere Modernen: Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs [1. Aufl.] 9783839426265

The concept of »Modernity«: Is a generalization possible? This volume is intended as an experiment, and it investigates

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German Pages 286 Year 2015

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Inhalt
Einleitung
TEIL I: VERGANGENE MODERNEN?
Föderalismus als politische Vision und Praxis im antiken Griechenland
Mittelalterliche Weltveränderungsanstrengungen angesichts des nahenden Endes des Alexander von Roes Programm für ein vereinigtes Europa
Moderne als Mode. Ästhetik, Kommerz und Konsum in der frühen Neuzeit
Vergangene Moderne der Demokratie. Individualistische Demokratievorstellungen in der Französischen Revolution
Mission zwischen Modernekritik und Moderneförderung. Beispiele aus Südindien
TEIL II: ALTERNATIVE MODERNEN?
Modernisierung in Siam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein eigenständiger thailändischer Weg oder eine Kopie europäischer Vorbilder?
Trans-Modernen: Süd-Süd-Kooperationen als Alternative zu Nord-Süd-Entwicklungskonzepten? Bildungstransfer zwischen Kuba und Angola
Der „Animismus-Spiritismus-Streit“. Der deutsche Spiritismus in den 1880er Jahren
Architektur und Stadtplanung in der SBZ/DDR bis 1951. Kommunikationsräume einer sozialistischen Moderne
TEIL III: GESCHEITERTE MODERNEN?
Koloniale Moderne in Nederlandsch-Indië. Grenzen und Gegenströme
Föderalistische Reformprojekte in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie. Eine gescheiterte Modernisierung
Schweigen ist Gold. Die Modernetheorie und der Kommunismus
Die DDR als „sozialistische (Menschen) Gemeinschaft“. Aufstieg und Transformation eines Narrativs
Autorinnen und Autoren
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Andere Modernen: Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs [1. Aufl.]
 9783839426265

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Wolfgang Kruse (Hg.) Andere Modernen

Histoire | Band 54

Wolfgang Kruse (Hg.)

Andere Modernen Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs

Im Auftrag des Historischen Instituts der FernUniversität in Hagen herausgegeben von Wolfgang Kruse. Tagung und Drucklegung wurden unterstützt durch das interne Forschungsförderprogramm der FernUniversität in Hagen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Wolfgang Matthauer, Hinter den sieben Bergen (1973). © VG Bild-Kunst, Bonn 2014 Lektorat: Pierre Shirvan, Claudia Scheel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2626-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2626-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Wolfgang Kruse | 7

TEIL I: VERGANGENE MODERNEN ? Föderalismus als politische Vision und Praxis im antiken Griechenland

Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer | 21 Mittelalterliche Weltveränderungsanstrengungen angesichts des nahenden Endes des Alexander von Roes Programm für ein vereinigtes Europa

Felicitas Schmieder | 41 Moderne als Mode Ästhetik, Kommerz und Konsum in der frühen Neuzeit

Christof Jeggle | 55 Vergangene Moderne der Demokratie Individualistische Demokratievorstellungen in der Französischen Revolution

Wolfgang Kruse | 73 Mission zwischen Modernekritik und Moderneförderung Beispiele aus Südindien

Reinhard Wendt | 89

TEIL II: ALTERNATIVE MODERNEN ? Modernisierung in Siam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ein eigenständiger thailändischer Weg oder eine Kopie europäischer Vorbilder?

Suphot Manalapanacharoen | 111

Trans-Modernen: Süd-Süd-Kooperationen als Alternative zu Nord-Süd-Entwicklungskonzepten? Bildungstransfer zwischen Kuba und Angola

Christine Hatzky | 129 Der „Animismus-Spiritismus-Streit“ Der deutsche Spiritismus in den 1880er Jahren

Eva Ochs | 153 Architektur und Stadtplanung in der SBZ/DDR bis 1951 Kommunikationsräume einer sozialistischen Moderne

Frank Hager | 179

TEIL III: G ESCHEITERTE MODERNEN ? Koloniale Moderne in Nederlandsch-Indiɺ Grenzen und Gegenströme

Vincent Houben | 209 Föderalistische Reformprojekte in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie Eine gescheiterte Modernisierung

Hans Peter Hye | 219 Schweigen ist Gold Die Modernetheorie und der Kommunismus

Stefan Plaggenborg | 241 Die DDR als „sozialistische (Menschen) Gemeinschaft“ Aufstieg und Transformation eines Narrativs

Arthur Schlegelmilch | 259

Autorinnen und Autoren | 281

Einleitung W OLFGANG K RUSE

Dieses Buch ist die Dokumentation eines Experiments. Es versucht auszuloten, ob bzw. inwieweit eine universalgeschichtliche Historisierung des aus der europäisch/nordamerikanischen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts entwickelten Konzeptes der Moderne resp. der Modernisierung möglich und für die die historische Forschung heuristisch zweckmäßig sein kann. Dabei geht es nicht allein um die Untersuchung von „multiple modernities“, wie sie Smuel N. Eisenstadt konzeptionell entwickelt hat, um die Verschiedenartigkeit sich modernisierender Gesellschaften mit ihren vielfältigen wechselseitigen Bezügen und Wirkungsverhältnissen im globalen Kontext begrifflich fassen zu können.1 Auch steht hier nicht die Analyse der Ambivalenzen der Moderne im Spannungsfeld von Emanzipationszielen und Vernichtungspotentialen im Anschluss an Zygmunt Baumann im Mittelpunkt der Betrachtung.2 Vielmehr handelt es sich um den Versuch, den Moderne-Begriff von seinen spezifischen, mit dem neuzeitlichen Modernisierungsprozess seit der „europäischen Doppelrevolution“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts verbundenen Inhalten3 zu lösen und auf seine strukturellen Grundlagen zurückzuführen, um ihn so für die Untersuchung grundlegender historischer Wandlungsprozesse und die Entstehung neuartiger Verhältnisse generell nutzbar machen und auf historische Beispiele aus allen Epochen und Räumen der Weltgeschichte anwenden zu können. Den Autoren ist bewusst, dass es

1

Vgl. Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Multiple Modernities, New Brunswick NJ 2002; zur Vielfalt der Moderne und ihrer Erforschung vgl. auch U. Schneider u. L. Raphael (Hg. unter Mitarb. v. S. Hillerich), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt/M. u. a. 2008.

2 3

Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 1992. Vgl. klassisch Eric J. Hobsbawm, Europäische Revolutionen 1789 bis 1848, Zürich 1962.

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sich bei einer solchen Historisierung und Universalisierung eines modernen Konzeptes um ein höchst problematisches Unterfangen handelt. Sie gehen jedoch von den anregenden Erfahrungen mit epochal und geographisch übergreifenden Fragestellungen und Konzepten am Historischen Institut der FernUniversität in Hagen aus, das mit nur drei Lehrgebieten große Teile der mit Europa verbundenen Weltgeschichte von der vorindustriellen Geschichte Alteuropas über die europäische Moderne bis zur Geschichte Europas in der Welt behandelt und deshalb in besonderem Maße auf die Verwendung Epochen und Räume übergreifender Konzepte angewiesen ist. Die geschichtswissenschaftliche Arbeit mit Theorien und Konzeptbegriffen steht generell nicht nur in einem Spannungsverhältnis zwischen theoretischem Ideal und Realität, wie es Max Weber mit seiner idealtypischen Methode forschungsstrategisch nutzbar zu machen versucht hat.4 Vielmehr ist damit auch die doppelte Problematik verbunden, mit begrifflichen Ordnungsvorstellungen zu arbeiten, die in aller Regel normativ aufgeladen sind und darüber hinaus in hohem Maße von gegenwärtigen Deutungsmustern geprägt werden, deren Anwendung auf historische Verhältnisse mit innerer Notwendigkeit Spannungsverhältnisse zum zeitgenössischen Bewusstsein hervorruft. Für die Begriffe „Moderne“ und „Modernisierung“ gilt beides zweifellos in besonderem Maße. In der Hoffnung, diese vielschichtigen Spannungsverhältnisse zwischen konzeptionellem Denken und historischer Vielfalt und Alterität für geschichtswissenschaftliche Forschung fruchtbar machen zu können, haben wir für eine Tagung im Frühsommer 2013 Kolleginnen und Kollegen aufgefordert, Phänomene aus verschiedensten historischen Epochen und Bereichen unter der Fragestellung nach ihrer im Verhältnis zum üblichen Verständnis der modernen europäisch/nordamerikanischen Moderne andersartigen „Modernität“ zu untersuchen. Dafür wurde ein aus der ‚modernen‘ Modernisierungstheorie abgeleiteter, aber strukturell verallgemeinerter Begriff der Moderne/Modernisierung zugrunde gelegt, der auf andere grundlegende historische Wandlungsprozesse und aus ihnen hervorgehende, qualitativ neuartige historische Verhältnisse, Vorstellungen und Projekte übertragen werden sollte. Den Autorinnen und Autoren lag als Grundlage für ihre Ausarbeitungen der folgende konzeptionelle Entwurf vor, der auch als theoretischer Rahmen für diese Publikation gelten soll.

4

Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 146-214.

E INLEITUNG |°9

D AS K ONZEPT

DER

„ANDEREN M ODERNEN “

Üblicherweise bezieht sich der Begriff der Moderne auf die industriekapitalistisch fundierte, auf marktbedingten Erwerbsklassen beruhende, in den Weltdeutungen rationalisierte und säkularisierte, von einer liberalen Öffentlichkeit bestimmte und zunehmend demokratisch verfasste bürgerliche Gesellschaft, wie sie sich vor allem in Europa, aber auch in Nordamerika durch den Übergang von der agrarisch geprägten, feudal-ständisch geordneten und monarchischabsolutistisch regierten Gesellschaft des Ancien Régime im Laufe des „langen 19. Jahrhunderts“ als ganz neuartige historische Formation herausgebildet hat und dabei zugleich in einen anhaltenden Prozess weiterführender Veränderungen eingetreten ist. Der Moderne-Begriff ist dementsprechend eng verbunden mit dem Prozessbegriff der Modernisierung aller Bereiche der Gesellschaft, dessen beschleunigte Umgestaltungsdynamik neue historische Erwartungshorizonte eröffnet und zu oft positiven, oft aber auch kritischen oder ambivalenten Bewertungsformen im Zusammenhang des Fortschritts-Paradigmas geführt hat.5 Dieser inhaltlich gefüllte Begriff der Moderne soll strukturell verallgemeinert und so universalhistorisch anwendbar gemacht werden. Dabei wird weder eine geschichtstheoretische Einordnung der Moderne in eine Protomoderne6 und eine Postmoderne7 angestrebt, noch soll primär die globale Vielfältigkeit und Wechselwirkung der Moderne in den Blick genommen oder die Problematik der normativen Verbindung von Moderne und Fortschritt reflektiert werden.8 Anstelle von letztlich teleologisch konzipierten Einordnungen, epochal gebundenen Differenzierungen und normativen Bestimmungen gehen wir vielmehr von einem historisch verallgemeinerten Modernebegriff aus, der durch Abstraktion von den konkreten Inhalten und Konzentration auf die allgemeinen Strukturprinzipien der ‚modernen‘ Moderne gewonnen wird und in globalgeschichtlicher Pers-

5

Vgl. immer noch grundlegend H.-U. Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975; zur Beschleunigungserfahrung als Grundlage der Moderne vgl. Reinhart Koselleck (Hg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankf./M. 1979.

6

Vgl. dazu jüngst I. Broch/M. Rossiler (Hg.), Protomoderne. Schwellen früherer Modernität, Würzburg 2008.

7

Vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Sicht grundlegend D. Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge 1990.

8

Vgl. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders. u. a. (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203-32.

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pektive für die Untersuchung vielfältiger Prozesse und Verhältnisse genutzt werden kann, ohne dabei beliebig zu werden. Unser in dieser Form neuartiger Moderne-Begriff macht dafür aus der spezifischen Gestalt der bürgerlichindustriekapitalistischen Moderne in allgemeinerer Weise historisch neuartige gesellschaftliche Verhältnisse und kulturelle Weltdeutungen; er verallgemeinert den Prozess der Modernisierung zu beschleunigten Wandlungsprozessen auf ökonomischem, sozialem, politischem und/oder kulturellem Gebiet; und er verwandelt das Fortschritts-Paradigma zur qualitativen und/oder normativen Bewertbarkeit der Veränderungen und der neu entstehenden Verhältnisse schlechthin. Dementsprechend werden historisch jeweils neuartige gesellschaftliche Verhältnisse, lebensweltliche Erfahrungsformen und kulturelle Deutungsmuster untersucht, die auf beschleunigten Wandlungsprozessen beruhen und zugleich qualitativ und/oder normativ bewertet wurden bzw. rückblickend bewertet werden können. An die Stelle der Einordnung in einen mehr oder weniger linear und einheitlich konzipierten Modernisierungsprozess treten dabei generell, d. h. auch in der neueren Geschichte, Untersuchung und Vergleich der qualitativen Eigenständigkeit und Vielfalt relativ abgeschlossener, für sich stehender „Modernen“. Wir möchten auf diese Weise historische Wandlungsprozesse und qualitativ neuartige historische Verhältnisse auf innovative, konzeptionell angeleitete Weise beleuchten und zugleich Möglichkeiten für eine differenzierte Neubewertung der traditionellen Moderne eröffnen. Drei spezifizierende inhaltlich-konzeptionelle Perspektiven sollen dabei in besonderem Maße erkenntnisleitend sein: •





Zum Ersten wird der – im Vergleich zur europäischen Moderne – Alterität vormoderner und außereuropäischer Verhältnisse und Entwicklungen eine zentrale Bedeutung zugesprochen. Zum Zweiten wird die Vielfalt der historisch realisierten Modernen thematisiert, wobei zugleich auch die Wirkungs-, Aneignungs- und Ablehnungsverhältnisse insbesondere zwischen gleichzeitigen, aber unterschiedlich gestalteten und entwickelten Erscheinungsformen in den Blick geraten. Zum Dritten sollen anstelle von aus der Rückschau zielgerichteten, auf die entwickelte europäische Moderne zulaufenden Prozessen insbesondere historisch abgeschlossene, abbrechende, krisenhafte oder auch gescheiterte Modernen untersucht werden, verbunden mit der Betrachtung so nicht realisierter Modernevorstellungen und Modernisierungsprojekte.

E INLEITUNG |°11

D IE B EITRÄGE

UND IHRE

S YSTEMATISIERUNG

Für die Tagung wie für die Präsentation in diesem Band wurden die Beiträge unter etwas veränderten Kategorien eingeordnet, wobei verschiedene inhaltliche Konzepte zur Betrachtung anderer Modernen jeweils mit epochalen und regionalen Schwerpunktsetzungen verbunden, aber auch für darüber hinausgehende Beiträge geöffnet wurden. Dabei handelt es sich zum ersten um „Vergangene Modernen“, die als historisch weitgehend abgeschlossen begriffen werden und ihren Schwerpunkt in den Epochen der älteren, im traditionellen Geschichtsverständnis vormodernen Geschichte haben.9 In der zweiten Sektion geht es um „Alternative Modernen“, worunter wir programmatische Gegenentwürfe zur europäischen Moderne verstehen, wie sie sowohl in der außereuropäischen Welt als auch innerhalb der europäischen Moderne selbst feststellbar sind.10 Zum dritten schließlich werden „Gescheiterte Modernen“ behandelt, die sich nicht einfach historisch überholt haben, sondern beim Versuch ihrer Verwirklichung gescheitert sind und hier ihren Schwerpunkt in der modernen europäischen Geschichte finden. Dass diese Einteilung vielfältige Übergänge, Zuordnungs- und Abgrenzungsprobleme aufweist, ist evident, weshalb wir die drei Kategorien von Anfang an mit Fragezeichen versehen haben. Trotzdem erschien und erscheint sie uns weiterhin sinnvoll, sowohl um Schwerpunkte setzen und unterschiedliche Perspektiven auf die „Anderen Modernen“ werfen zu können, als auch um zu Diskussionen und neuem Nachdenken über die jeweilige Zuordnung und damit auch die spezifische Qualität der behandelten Gegenstände anzuregen. Vergangene Modernen? Die Sektion über die „vergangenen“, als historisch weitgehend abgeschlossen begriffenen „Modernen“ wird eröffnet von einem Beitrag des Althistorikers Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, der den staatenbündischen Föderalismus der antiken griechischen Stadtstaaten zum Inhalt hat. Er sieht die Durchsetzung der griechischen Staatenbünde als Ergebnis eines politischen Wandlungsprozesses an, der zuerst innerhalb der Polis zur Ausbildung demokratischer Herrschafts- und

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Der Begriff ist inspiriert von Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der Frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 17-37.

10 Vgl. zum Begriff auch Dilip P. Goankar (Hg.), Alternative Modernities, Durham 2001; in Bezug auf die deutsche Kulturkritik des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880--1933, Paderborn u. a. 1999.

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Verfassungsstrukturen und führte und diese dann auf föderale Formen des Zusammenschlusses nach außen, mit anderen Poleis übertrug. Diese bereits zeitgenössisch als fortschrittlich begriffene, den traditionellen Strukturen in mancher Hinsicht überlegene Organisationsform ging schließlich, so Meyer-Zwiffelhoffer, im 2. Jahrhundert nicht an ihren inneren Widersprüchen zugrunde, sondern sie fiel der militärischen Intervention Roms zum Opfer. Im folgenden Beitrag setzt sich die Mediävistin Felicitas Schmieder mit endzeitlich inspirierten Prophetien des Hochmittelalters auseinander. Sie begreift sie nicht nur als Ausfluss beschleunigter Wandlungserfahrungen, sondern sie entkleidet die Prophetien auch ihres rein eschatologischen, eine jenseitige Welt anvisierenden Charakters. Es ging dabei im Gegenteil, so argumentiert Schmieder, jeweils um „die Zeit zwischen dem Jetzt und dem Auftreten des Antichrists“, mehr noch, die Prophetie habe sich tatsächlich auf „die Zukunft der Menschheit in der Zeit, in dieser Welt, die es zu verändern gilt“, bezogen. Damit haben wir ein geradezu hochmodern anmutendes politisches Gestaltungsszenarium vor uns, das sich jedoch im Zusammenhang allgemeiner eschatologischer Denkmuster auszuprägen vermochte, die dem üblichen, auf das Diesseits bezogenen geschichtspolitischen Bewusstsein der Moderne in vieler Hinsicht fremd waren. Für die Frühe Neuzeit arbeitet Christof Jeggle heraus, wie das wachsende Bedürfnis nach Luxus und die Reflexion über seine Bedeutung zu einer Neubewertung des zeitgenössischen historischen Selbstbildes geführt hat. Nachdem bereits im späten Mittelalter eine Ausweitung der Produktion und Verbreitung von Luxuswaren zu beobachten war, die allerdings noch primär von der Nachahmung höherwertiger Güter geprägt waren, setzte sich im 16. Jahrhundert zunehmend der Anspruch einer gestalterischen Innovation durch, die mit der Produktion von Massenware eine neuartige, sich selbst als modern begreifende Kultur hervorgebracht habe. Die Popularisierung des Konsums ästhetisch gestalteter und ansprechender Luxuswaren habe, so Jeggle, ein Verständnis von „Mode“ hervorgebracht, das insbesondere im 18. Jahrhundert als Kennzeichen der Gegenwart mit einer Modernität gleichgesetzt wurde, die als kurzlebiger Zyklus noch nicht linear und langfristig auf die Zukunft ausgerichtet war. Aus dem Bereich der Neueren Geschichte folgt ein Beitrag des Herausgebers Wolfgang Kruse, der am Beispiel eines Themas, das in der Regel der sich entwickelnden Moderne zugeordneten wird, zu zeigen versucht, wie auch im Modernisierungsprozess selbst „vergangene Modernen“ zurückbleiben können. Es geht dabei um die ausgesprochen individualistischen Demokratievorstellungen der Französischen Revolution, die aus der Dynamik von Aufklärung und Umsturz der überkommen Privilegienordnung hervorgingen und im weiteren Prozess der revolutionären Neugestaltung schnell in Widerspruch zu den Anforderungen ei-

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ner modernen Massendemokratie mit ihren typischen Formen der organisierten Interessenvertretung einerseits, der repräsentativen Herrschaft andererseits gerieten. Während diese Widersprüche in der Französischen Revolution selbst nicht aufgelöst werden konnten, wurden im weiteren Verlauf der modernen Demokratiegeschichte die individualistischen Vorstellungen demokratischer Mitwirkung und Gestaltung zunehmend von ebenso organisierten wie arbeitsteiligen Verfahren in den Hintergrund gedrängt. Die Sektion schließt mit einem Beitrag des Neuzeithistorikers Reinhard Wendt über das Verhältnis von Mission und Moderne im 19. Jahrhundert am Beispiel der Basler Mission in Südindien, der die Thematik aller drei Sektionen berührt und hier generell auch für die Offenheit des konzeptionellen Übergangs von den „vergangenen“ zu den „alternativen“ wie zu den „gescheiterten“ Modernen steht. Ausgehend von den Ambivalenzen der pietistischen Reaktion auf die „europäische Doppelrevolution“ des späten 18./frühen 19. Jahrhunderts, analysiert Wendt die Aktivitäten der Basler Mission für den Aufbau von lokaler Sprach- und Kulturkompetenz, Schulwesen, Unterrichtsmaterialien und einem funktionierenden Gemeindeleben im Spannungsverhältnis von rückwärtsgewandtem Antimodernismus, partieller Modernität, alternativen Gestaltungsentwürfen und Anstößen zu einer Erneuerung der hinduistischen Religion und Weltsicht. Alternative Modernen? In der Sektion über alternative Modernen finden sich Aufsätze aus der außereuropäischen Geschichte und aus der Geschichte der europäischen Moderne selbst. Die Vormoderne bleibt hier unberücksichtigt, weil die Kategorie der Alterität die Absetzung von bzw. den Gegenentwurf zur europäischen Moderne und damit ihre Existenz voraussetzt. Obwohl auch die nordamerikanische Moderne als Alternative zur europäischen Moderne betrachtet werden könnte, bleibt sie hier aus rein pragmatischen Gründen ausgespart. Der erste Beitrag des Südostasien-Historikers Suphot Manalapanacharoen behandelt die Modernisierung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Siam/Thailand als Prozess der selbständigen Aneignung europäischer Vorbilder. Er zeigt, wie die siamesische Monarchie unter dem Druck der durch das britische „informal empire“ ausgelösten Abhängigkeit und Veränderungsdynamik den Versuch unternahm, durch eine umfassende Modernisierung eigenständige Entwicklungsmöglichkeiten zu gewinnen. Im Ergebnis konstatiert Manalapanacharoen die Entstehung einer eigenständigen siamesischen Moderne, die äußere

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Formen der westlich-europäischen Moderne übernommen, zugleich aber den inhaltlichen Kern thailändischen Selbstverständnisses bewahrt habe. Christine Hatzky untersucht im folgenden Beitrag die Entwicklungshilfe im Bildungsbereich zwischen Kuba und Angola in den Jahren 1975 bis 1991. Ausgehend von der Dynamik der kubanischen Revolution und der weltweiten antikolonialen Befreiungsbewegungen, interpretiert sie diese Entwicklungshilfe in Gegensatz zu traditionellen Konzepten nordamerikanisch-europäischer Entwicklungspolitik als Versuch, „Moderne neu zu defenieren, sie sich anzueignen, sie zu transferieren, verbunden mit dem Ziel, daraus an die eigenen Realitäten angepasste Entwicklungsmodelle zu gestalten.“ Dabei ging es nicht nur um die Ablösung der traditionellen, durch Überlegenheit gekennzeichneten Nord-SüdPerspektive durch eine auf Gleichheit basierende Süd-Süd-Kooperation. Vielmehr war damit auch das Ziel verbunden, eine spezifisch sozialistische, aber den Bedingungen auf dem „Trikont“ angepasste Moderne zu entwickeln. Daraus habe sich, so Hatzky, für beide Seiten, für Kubaner wie Angolaner, ein Modernisierungsschub ergeben, dessen Ergebnis sie mit Enrique Dussel begrifflich als „alternative Transmoderne“ zu fassen versucht. Alternative Modernen im Kontext der europäischen Moderne selbst stehen im Fokus der beiden folgenden Aufsätze. Eva Ochs arbeitet am Beispiel des „Animismus-Spiritismus-Streits“ der 1880er Jahre heraus, wie der zeitgenössische deutsche Spiritismus den Versuch unternahm, seinen Glauben an „übernatürliche Phänomene“ durch rationale empirische Forschung zu beweisen und so im wissenschaftlichen Diskurs der Moderne anschlussfähig zu werden. Diese fanden einen Höhepunkt in einem von Alwxsander Aksakow 1886 in London durchgeführten Experiment, bei dem der vom Medium Eglinton herbei gerufene Geist „Abdullah“ fotografiert wurde. Die erhoffte wissenschaftliche Anerkennung für diesen „Beweis“ des Transzendenten konnte Aksakow allerdings trotz aller Bemühungen um eine rationale Versuchsanordnung nicht erlangen. Erfolgreicher war in der Folgezeit dagegen die „Parapsychologie“, die sich allein auf die Medien und ihre besonderen psychischen Kräfte konzentrierte. Diese Sektion abschließend, beschäftigt sich Frank Hager mit der Entwicklung von Architektur und Stadtplanung in der frühen SBZ/DDR. Nicht nur aus den alternativen Ansprüchen von Antifaschismus und Aufbau des Sozialismus, sondern auch aus der Dynamik des kommunikativen Aushandelns im Spannungsfeld von offiziellen Vorgaben, Interessen der Bevölkerung und informeller Gestaltungsmacht der Architekten während der Entwurfs- und Planungsphase leitet er die Entstehung einer spezifischen Stadtarchitektur mit eigenständigen Qualitäten in der DDR ab. Hager bewertet sie zum einen als Bestandteil der städ-

E INLEITUNG |°15

tebaulichen Moderne insgesamt, zum anderen aber auch als Gegenentwurf zu westlichen Modellen eines modernen Städtebaus mit eigenständigen Qualitäten. Gescheiterte Modernen? Gescheiterte Modernen zeichnen sich im Unterschied zu historisch vergangenen Modernen dadurch aus, dass sie schon in ihrer Ausgestaltung misslungen sind. Die Tatsache, dass sich auch in dieser Sektion nur Beiträge aus der modernen europäischen und außereuropäischen Geschichte finden, ist nicht konzeptionell begründet. Eigentlich sollte hier zuerst eine Abhandlung über religiöse Reformbewegungen im späten Mittelalter folgen, die jedoch kurzfristig ausgefallen ist. Als eine gescheiterte Moderne hätte ferner auch der Nationalsozialismus interpretiert werden können. Doch sein Verhältnis zur Moderne ist schon so intensiv und vielschichtig diskutiert worden, dass uns die Begrenzung auf einen Beitrag fragwürdig erschien und wir das Thema deshalb ausgeklammert haben.11 Stattdessen beginnen wir mit einer Untersuchung des österreichischen Historikers Hans Peter Hye über föderalistische Reformprojekte in der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie. Ausgehend von den wachsenden Steuerund Verwaltungsproblemen des modernen Interventionsstaates, arbeitet Hye die zu Anfang des 20. Jahrhunderts ventilierten Programme für eine stärkere föderale Selbständigkeit der einzelnen Kronlande und ihrer Landtage heraus. Die Gründe für das Scheitern dieser Föderalisierung waren zweifellos vielfältig. Hye weist abschließend auf die grundlegenden Widersprüche partieller Modernisierungsprojekte hin, wenn er die fehlende Parlamentarisierung sowohl der Landesals auch der Zentralverfassungen als strukturelles Hindernis der Reformbestrebungen anspricht. Der folgende Beitrag von Vincent Houben rückt mit der niederländischen Reformpolitik in „Nederlandsch-Indie“, im späteren Indonesien, ein koloniales Modernisierungsprojekt des frühen 20. Jahrhunderts und sein Scheitern in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Kolonialverwaltung habe hier das ambitionierte Ziel verfolgt, „eine stolze, koloniale Moderne zu etablieren. Doch trotz einer ausgebauten „Entwicklungstechnokratie“ führten vielfältige innere Begrenzungen und Widersprüche dazu, dass diese Moderne am Ende nicht gelingen konnte. Die gescheiterte koloniale Moderne aber wurde, so Houben, gleichzeitig zur Voraussetzung für die Entstehung einer eigenständigen, jedoch tiefgehend von ihrer

11 Vgl. einführend Axel Schild, NS-Regime, Modernisierung und Moderne. Anmerkungen zur Hochkonjunktur einer andauernden Diskussion, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. XXIII (1994), S. 3-22.

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Auseinandersetzung mit dem holländischen Modernisierungsprojekt geprägten indonesischen Moderne. Die beiden letzten Aufsätze behandeln den „real existierenden Sozialismus“ und sein Scheitern. Der Osteuropa-Historiker Stefan Plaggenborg geht der Frage nach, warum die Theorie der Moderne/Modernisierung den sowjetischen Kommunismus weitgehend ausgespart hat, obwohl er doch ganz offensichtlich ein Phänomen der europäischen Moderne war. Ausgehend von einer Kritik der wenigen Ansätze zu ihrer modernisierungsheoretisch angeleiteten Analyse, fragt er nach der Spezifik der sowjetischen Moderne, deren Schwäche und letztliches Scheitern in einer rein äußerlichen, technisch-instrumentell verkürzten Aneignung der Errungenschaften moderner „bürgerlicher“ Wissenschaft und Kultur erkannt wird. Als Folge davon habe, so Plaggenborg, die sowjetische Variante der Moderne „keine hinreichenden Entwicklungsmöglichkeiten und Reformpotentiale entwickelt“, um auf Dauer überlebensfähig zu sein. Für die DDR behandelt Arthur Schlegelmilch abschließend den Anspruch, neue Formen der Vergemeinschaftung als Kern einer spezifisch sozialistischen Moderne hervorzubringen. Am Beispiel des Programms einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“, der Rolle des Kollektivs in Wirtschaft und Gesellschaft der DDR sowie des Städtebaus „im Geist der sozialistischen Gemeinschaft“ arbeitet Schlegelmilch die oftmals eklatanten Widersprüche zwischen ideellem Anspruch einerseits, sozialer Realität heraus, deren Formulierung nicht zuletzt durch Künstler und Intellektuelle im politischen System der DDR keine produktive Aufnahme fand. Vor ihren eigenen Ansprüchen war die sozialistische Neuordnung deshalb schon gescheitert, bevor die DDR als Staat unterging.

D IE D ISKUSSION : S TÄRKEN DES K ONZEPTS

UND

S CHWÄCHEN

In der abschließenden Gesamtdiskussion wurden sowohl Stärken als auch Schwächen des Konzeptes der „Anderen Modernen“ zum Ausdruck gebracht. Bereits die einzelnen Beiträge und ihre Diskussion hatten deutlich werden lassen, dass es auf dieser Grundlage möglich ist, den Blick auf historische Veränderungen zu schärfen und beschleunigte Wandlungsprozesse sowie aus ihnen hervorgehende, qualitativ neuartige Gestaltungformen und Gestaltungsprojekte in verschiedenartigen, insbesondere auch „vormodernen“ historischen Kontexten klarer zu fassen, zu problematisieren, zu untersuchen und in ihrer historischen Bedeutung zu bestimmen. Auch für Zusammenhänge der Moderne seien, so wurde betont, neue und erkenntnisträchtige Perspektiven auf abgebrochene, al-

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ternative oder gescheiterte Entwicklungsmöglichkeiten deutlich geworden. Eine weitere Stärke des Konzepts wurde in der Möglichkeit erkannt, so konstruierbare historische Gegenstände in einer Epochen und Räume übergreifenden Weise aufeinander zu beziehen und gemeinsame Diskussionszusammenhänge für Historikerinnen und Historiker mit unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Schwerpunkten zu schaffen. Gerade in Zeiten wachsender Spezialisierung und Arbeitsteilung liege darin bzw. in ähnlich strukturierten übergreifenden Konzepten, so wurde argumentiert, eine Chance, zur Aufrechterhaltung der Einheit des Faches Geschichte beizutragen. Die an dem Konzept vorgebrachte Kritik bezog sich zum einen auf die relative Unschärfe und Beliebigkeit der Unterkategorien der „vergangenen“, „alternativen“ und „gescheiterten“ Modernen, zum anderen und grundsätzlicher auf die kaum aufhebbare Bindung des Moderne-Begriffs an die „moderne“ Moderne, wie in den Diskussionsbeiträgen immer wieder zur Abgrenzung formuliert wurde bzw. formuliert werden musste. Dabei ging es nicht nur um ihre konkreten Inhalte, sondern auch um die auf’s engste damit verbundenen Normen und Werte, wie sie etwa in verwandten Begriffen wie Fortschritt oder Emanzipation auf höchst moderne Weise deutlich werden. Zweifellos bieten die gewählten Unterkategorien keine vollständige Abbildung aller möglichen Unterteilungen des Konzeptes der „Anderen Modernen“. Daraus ergab sich eine Versuchung zur Bildung weiterer Formen von unterschiedlich charakterisierbaren „Modernen“: Thematisiert wurden vor allem ambivalente, paradoxe und hybride Modernen, Hoch-, Trans- oder Anti-Modernen, doch viele weitere Bindestrich-Spezifizierungen wären möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass insbesondere im Begriff der „Alternativen Modernen“ eindeutig ein direkter inhaltlicher Bezug auf das klassische Konzept der Moderne angelegt ist, der dem ursprünglich formulierten Anspruch einer Reduktion des Begriffs der „Anderen Modernen“ auf rein strukturelle Muster widerspricht. Eine mögliche Konsequenz aus diesen Problemen könnte darin liegen, von der relativen Vagheit der „Anderen Modernen“ insgesamt Abschied zu nehmen und das Konzept noch stärker zu historisieren: Auf diese Weise könnten allein „Vergangene Modernen“ in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden. Damit würde allerdings das zweite angesprochene Problem, die letztlich trotzdem kaum aufhebbare Bindung an die Inhalte und Werte des klassischen Moderne-Begriffs, nicht gelöst, vermutlich sogar noch verschärft werden. Demgegenüber wurde in der immer wieder Diskussion nachdrücklich die Forderung vertreten, den Moderne-Begriff generell fallen zu lassen und auf andere, weniger inhaltlich und normativ belastete Begrifflichkeiten zurückzugreifen. Die Verwendung jeweils zeitgenössischer Terminologien bietet dafür allerdings, wie

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schnell deutlich wurde, keine überzeugende Perspektive: nicht nur wegen der fehlenden kritischen Distanz, sondern auch wegen der mangelnden Generalisierbarkeit. Als eine für viele überzeugendere Möglichkeit, einschneidende Wandlungsprozess ein verschiedenartigen universalgeschichtlichen Kontexten übergreifend zu thematisieren, kristallisierte sich schließlich die Konzentration auf „Narrative des Wandels“ heraus, also die Untersuchung von zeitgenössischen Darstellungsmustern erfahrener Veränderungsprozesse. Mit der Beschränkung auf die Narrativität sind allerdings auch, wie eingewendet wurde, gravierende Beschränkungen verbunden, weil die „Realgeschichte“ jenseits der Darstellungsmuster aus dem Fokus der Betrachtung rückt. Und auch der Begriff des „Wandels“ ist letztlich nicht vollständig von seiner Verbindung mit modernen Konnotationen zu lösen. Allerdings stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Bindung von Forschungskonzepten an gegenwärtige Deutungsmuster überhaupt vollständig aufgegeben werden kann und sollte. Denn weiterführende Erkenntnis ist, zumal in historischen Kontexten, letztlich doch nur aus der Konfrontation verschiedenartiger Weltsichten zu gewinnen, die wechselseitig aufeinander bezogen werden. In diesem Sinne läge dann auch in der Historisierung eines hochgradig normativ aufgeladenen Begriffs wie der „Moderne“ für eine methodisch bewusste Geschichtswissenschaft nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance. Denn warum sollten wir daraus nicht die Forschungsfrage ableiten können, ob und wie beschleunigte, neuartige Verhältnisse hervorbringende Wandlungsprozesse in anderen historischen Zusammenhängen von ihren jeweiligen Zeitgenossen bewertet worden sind? Die Phase des Experimentierens mit Konzepten für die Erforschung von „Anderen Modernen“ sollte jedenfalls noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden.

Teil I: Vergangene Modernen?

Föderalismus als politische Vision und Praxis im antiken Griechenland* E CKHARD M EYER -Z WIFFELHOFFER

I E INLEITUNG In der Diskussion über die Rettung Griechenlands im Rahmen der europäischen Staatsschulden- und Bankenkrise wurde gerne daran erinnert, dass die antiken Griechen doch immerhin die Demokratie entdeckt und damit das Fundament der europäischen Wertegemeinschaft gelegt hätten – sie gehörten also genuin zu Europa, wie selbstverschuldet ihre desolate Lage derzeit auch sein mag. Mit gleichem Recht – und für die europäischen Einigungsbestrebungen von größerer Relevanz – könnte man darauf verweisen, dass die Griechen auch den politischen Föderalismus – den ‚Bundesstaat‘ – entdeckt haben. Warum dieses Faktum in der gegenwärtigen Erinnerungskultur kaum mehr präsent ist, kann ich in diesem thematischen Rahmen nicht weiter erörtern. Ich behaupte aber, dass die politische Föderation im antiken Griechenland engere Parallelen zur Europäischen Union aufweist als die antike Demokratie zur modernen. Die Herausbildung des ‚Bundesstaates‘ in Griechenland lässt sich wie der Übergang zur Demokratie in Athen als Modernisierungsprozess verstehen. Man kann gute Gründe dafür anführen, dass beide politischen Organisationsmodelle innovativ waren, auf die politischen Verhältnisse ihrer Zeit stark einwirkten und die Mentalität der Zeitgenossen prägten. Dies können wir nicht nur als Historiker zurückblickend feststellen. Bei den Zeitgenossen selbst ist das Bewusstsein eines Wandels greifbar, das nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass die Veränderungen in der politischen Praxis auch kritisiert und bekämpft wurden. Wenn ich daher in meinem Beitrag von „politischer Vision“ spreche, so um anzudeuten, dass dieser Wandel politisch gewollt war und einen Bruch mit Traditionen bedeutete.

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Doch sind die Demokratien wie die ‚Bundesstaaten‘ Griechenlands als politische Praxis bereits in der Antike wieder gescheitert. Jene mussten oligarchischen oder monarchischen Regierungsformen weichen, diese dem römischen Imperium. Auf der Ebene der historischen Erinnerung allerdings konnte man an beide politischen Organisationsformen über eineinhalb Jahrtausende hinweg in der Frühen Neuzeit wieder anknüpfen.1 Die These meines Beitrages lautet: Die politische Föderation bei den Griechen, der sogenannte ‚Bundesstaat‘, ist das Ergebnis einer bewussten Übertragung des Ordnungsmodells der selbstverwalteten Bürgergemeinde, der Polis, auf die ‚zwischenstaatliche‘ Ebene. Damit sollten kleinere Gemeinwesen in die Lage versetzt werden, sich gegenüber hegemonialen Bündnissen und großräumigen Monarchien zu behaupten. Für die Poleis und andere Gemeinwesen bedeutete die föderative politische Organisation daher eine dritte Option neben dem Anschluss an ein hegemoniales Imperium oder der Unterwerfung unter einen Monarchen. Um diese These im Folgenden zu begründen, werde ich zunächst einige Bemerkungen zum Modell der Polis machen (2), dann den ‚Bundesstaat‘ als politisches Projekt vorstellen (3) und schließlich die politische Praxis der Föderationen skizzieren und die Gründe ihres letztlichen Scheiterns darlegen (4).

II D AS M ODELL DER SELBSTVERWALTETEN B ÜRGERGEMEINDE (P OLIS ) Die griechische Polis, wie sie sich bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. herausgebildet hatte, beruhte auf dem Prinzip der politischen Freiheit – auch dies eine Entdeckung der Griechen.2 Das bedeutet, dass alle indigenen Bewohner der Gemeinde das Bürgerrecht und persönliche Freiheit besaßen, also nicht mehr in die Schuldknechtschaft von Aristokraten geraten konnten oder einer gesell-

*

Ich habe die thesenhafte Vortragsform beibehalten und die Nachweise auf das Nötigste beschränkt.

1

Dazu Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Die griechischen ‚Bundesstaaten‘ als Modell in der frühneuzeitlichen politischen Theorie und Geschichtsschreibung, in: Werner Daum u. a. (Hg.), Politische Bewegung und symbolische Ordnung. Hagener Studien zur Politischen Kulturgeschichte. Festschrift für Peter Brandt, Bonn 2014, S. 261-291. Fußnote komplett auf eine Seite?

2

Moses I. Finley, The Freedom of the Citizen in the Greek World, in: Talanta 7 (1976), S. 1-23 (= Moses I. Finley, Economy and Society in Ancient Greece, Harmondsworth 1981, S. 77-94).

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schaftlichen und damit auch politischen Mediatisierung unterworfen waren. Und da die meisten Bürger in den Poleis als Bauern Grundbesitzer waren, gab es keine halbfreien bäuerlichen Klassen; vielmehr stellten diese Bauern sogar den größten Anteil der Bürgermiliz – beides gleichfalls eine, weltgeschichtlich betrachtet, seltene Konstellation in der Vormoderne. Freilich gab es auch Poleis wie Sparta oder die griechischen Kolonien in Kleinasien, in denen bei der Landnahme die indigenen Gruppen unterworfen und in abhängigem Status gehalten wurden. Hier bildete die Bürgerschaft dann einen engeren Kreis der Einwohnerschaft. Abb. 1: Die griechische Polis

Eigene Darstellung Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer

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Modell einer selbstverwalteten Bürgergemeinde (Polis) Mit der politischen Freiheit aller Polisbürger ging das Prinzip der politischen Autonomie und Freiheit der gesamten Bürgergemeinde einher. Die Polis war niemals – wie in den altorientalischen Stadtherrschaften – monarchisch, sondern immer nur oligarchisch oder demokratisch verfasst – die sogenannte Tyrannis war eine ‚Entartung‘ oligarchischer Herrschaft. Das bedeutet, dass die vermögenderen Klassen der Bürgerschaft oder alle Bürger zur Herrschaft berechtigt waren, was freilich nur für die Männer zutraf. Dieses Recht war in langen Auseinandersetzungen institutionell abgesichert worden: Von einer Polis oder selbstverwalteten Bürgergemeinde konnte man in klassischer Zeit nur dann sprechen, wenn alle Bürger die Volksversammlung, in der Beschlüsse gefasst und Gesetze verabschiedet wurden, besuchen konnten. Durften auch alle Bürger in die Ratsversammlung, die die politischen Geschäfte führte, gewählt oder gelost werden und konnten sie als rechenschaftspflichtige Magistrate amtieren, die jährlich wechselten, so war dies eine Demokratie. Sofern dies nicht allen Bürgern offen stand, sondern nur den höheren Zensusklassen, war die Verfassung oligarchisch. Die Bürger amtierten auch als Geschworene in den Gerichtshöfen, wobei alle Bürger vor den Gesetzen der Polis gleich waren und direkten Zugang zu den Gerichten hatten. Und schließlich bestand das städtische Heeresaufgebot aus allen Klassen der Bürgerschaft. So betrachtet kann man die griechische Polis mit dem modernen Staatsbegriff fassen, was sonst für kaum eine vormoderne Herrschaftsordnung möglich ist: Erstens besaß die Polis mit ihrem städtischen Zentrum (ásty) und ihrem ländlichen Territorium (ch۸ra) ein einheitliches Staatsgebiet, dessen Untergliederungen in Phylen und Demen keine gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse widerspiegelten. Zweitens hatte die Polis in ihrer Bürgerschaft ein einheitliches Staatsvolk persönlich freier Bürger („die Athener“), und drittens lag das staatliche Gewaltmonopol ebenfalls bei der ganzen Bürgerschaft. In der Polis gab es demnach keine institutionalisierten Klientelverhältnisse wie in Rom und auch keine feudalen oder lehensrechtlichen Abhängigkeitsbeziehungen wie in fast allen vormodernen Gesellschaften. Mentalitätsgeschichtlich betrachtet bedeutete der plötzliche Übergang zur Demokratie, wie er in Athen, und nur dort, um 460 v. Chr. erfolgte – andere Poleis ahmten diese ‚Verfassung‘ nach oder wurden zur Verfassungsänderung gezwungen – einen massiven Bruch mit traditionellen Denkweisen und ethischen Haltungen: Die Vorstellung von einer politischen Gleichheit aller Bürger, einer – um mit Aristoteles zu sprechen – arithmetischen Gleichheit, widersprach dem Herkommen, das von Vorstellungen proportionaler (geometrischer) Gleichheit

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geprägt war,3 nämlich dass der Wert einer Person von ihrem Geschlecht, ihrem Stand, ihrer Würde und ihrer Autorität abhänge. Dieses Argument benutzten deshalb die Gegner der Demokratie, ob oligarchisch gesinnte Aristokraten oder Philosophen wie Platon.

III F ÖDERALISMUS

ALS POLITISCHES

P ROJEKT

Wie die Demokratie in Athen eingeführt wurde, wissen wir nicht aus zeitgenössischer Überlieferung – es ist dazu weder ein Verfassungsdokument noch ein historischer Bericht überliefert. Eine halbe Generation später aber begannen die Athener festzustellen, dass sie nun in einer Demokratie lebten.4 Auch für die Gründung der politischen Föderationen ist kein Vertragsdokument überliefert, doch immerhin ein historischer Bericht zur Entstehung des Arkadischen Bundes 370 v. Chr.5 Beginnen aber möchte ich mit der einzigen Reflexion über das Phänomen der politischen Bundesbildung, die wir kennen – nicht einmal Aristoteles hatte sich in seiner Politik dazu geäußert.6 Sie stammt von dem ehemaligen Reiterkommandanten (Hipparchen) des Achaiischen Bundes und späteren Geschichtsschreiber Polybios, der in seinen Historien die allmähliche Integration sämtlicher peloponnesischer Poleis in das Achaiische Koinon bis zum Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. so kommentiert:7 „Eine reinere Gesinnung (prohaíresis) und Verfassung (sýstƝma) der Rechtsgleichheit (isƝgoría), der Redefreiheit (parrhƝsía), kurz, einer wahren Demokratie (dƝmokratía) wird man nicht leicht finden, als sie bei den Achaiern besteht. […] Hinsichtlich des Achaiischen Bundes (tò tôn Achaiôn éthnos) aber […] wird es angemessen sein, etwas weiter in

3

Aristoteles, Nikomachische Ethik, V 7-9.

4

Christian Meier, Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr., in: R. Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S. 193-227 (= Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1983, S. 275-325).

5

Xenophon, Hellenika, VI 5,6-22 und Diodor, Bibliothek, XV 59 schildern die (gewaltsamen) politischen Auseinandersetzungen bei der gegen Sparta gerichteten Bundesbildung; dazu Thomas Heine Nielsen, Arkadia and its Poleis in the Archaic and Classical Periods, Göttingen 2002, S. 474-499.

6

Gustav Adolf Lehmann, Ansätze zu einer Theorie des griechischen Bundesstaates bei

7

Polybios, Historien, II 38,6 und 37,7-11.

Aristoteles und Polybios, Göttingen 2001, S. 34-45.

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die Vergangenheit zurückzugehen. […] Denn während in früheren Zeiten viele versucht haben, die Peloponnesier auf ein gemeinsames Interesse hin zusammenzuführen (symphéron agageîn), keiner dies aber zu erreichen vermocht hat, weil die einzelnen Städte nicht auf die gemeinsame Freiheit (koin‫ ں‬eleuthería), sondern auf die eigene Herrschaft (sphétera dynasteía) bedacht waren, wurde zu unserer Zeit in dieser Richtung ein so bedeutender Fortschritt (prokop‫ )ڼ‬erzielt, ja eine vollständige Verwirklichung (syntéleia), dass nicht nur eine Gemeinschaft des Bündnisses und der Freundschaft (symmachik‫ ں‬kaì philik‫ ں‬koinǀnía) in politischen Angelegenheiten (prágmata) bei ihnen entstand, sondern sie befolgten sogar dieselben Gesetze (nómoi), bedienten sich der gleichen Maße (stathmoí), Gewichte (métroi) und Münzen (nomísmata), hatten dieselben Amtsträger (árchontes), Ratsherren (bouleutaí) und Richter (dikastaí). Kurz, die ganze Peloponnes unterschied sich nur darin von einer einzelnen Stadt (pólis), dass ihre Bewohner nicht von einer Mauer umschlossen waren.“

In dieser Betrachtung des Polybios wird das Bewusstsein vom innovativen Charakter der Bundesbildung ebenso deutlich wie der Prozess der Übertragung von politischen Institutionen der Polis auf die Bundesebene: 1. Die Analogie von Polis und Bund: Der Achaiische Bund ist gleichsam eine große Polis, denn die gemeinsamen politischen Institutionen, die Bundesgesetze und das Ziel der Bundespolitik – Autonomie und Freiheit zu bewahren – sind dieselben wie auf der Ebene der Polis.8 Das Gleiche gilt für die Münzprägung sowie das Maß- und Gewichtssystem, die normalerweise in der Verantwortung der Städte lagen. Hier zeigt sich, dass die Griechen die politische Gemeinschaft nur als eine Polis denken konnten – so, wie wir heute in der Vorstellung vom demokratisch verfassten Nationalstaat gefangen sind. 2. Das Fortschrittsbewusstsein: Polybios unterscheidet ausdrücklich zwei Perioden politischer Herrschaftsorganisation. Scheiterten bisher alle Versuche eines gemeinsamen politischen Handelns der Peloponnesier seit der Zeit Alexanders des Großen daran, dass jede Polis nur an ihrer eigenen Herrschaftssicherung (sphétera dynasteía) auf Kosten der anderen interessiert gewesen sei, so sieht Polybios nun auf der Grundlage politischer Bundesinstitutionen die Interessen aller peloponnesischen Städte an gemeinsamer Freiheit nach außen wie innen gewahrt (koin‫ ں‬eleuthería). Er betrachtet dies ausdrücklich als einen Fortschritt (prokop‫ )ڼ‬und sieht das Ziel einer demokratischen Bundesbildung als verwirklicht an.

8

Analog zur ‚Verfassung‘ einer Polis (politeía) spricht Polybios von der politeía tôn Achaiôn (II 38,4).

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Abb. 2: Der Achaiische Bund (281-146 v. Chr.)

Eigene Darstellung Eckard Meyer-Zwiffelhoffer

Den Achaiischen Bund bezeichnet Polybios hier als éthnos. Was die Griechen unter einem Ethnos verstanden, macht Herodot in Bezug auf die Griechen (tò HellƝnikón) deutlich: Ihre Identität beruhe auf gleicher Abstammung („Blut“: hómhaimon), gleicher Sprache (homóglǀsson), gemeinsamen religiösen Praktiken (theǀn idrýmata koinà kaì thysíai) und gemeinsamen Sitten (koinà ‫ڼ‬thea).9 Dieselben Kriterien treffen auch auf die regionalen Siedlungsgemeinschaften von Völkern innerhalb der griechischen Welt zu, deren Mitglieder sich ebenfalls durch Sprache (Dialekt), Abstammung, Kulte, Mythen und Sitten als ein Volk (éthnos) betrachteten, so die Boioter, Arkader, Aitoler, Achaier und Lykier, um nur die am besten dokumentierten ethnischen Gemeinschaften zu nennen. Alle sogenannten Bundesstaaten der klassischen und hellenistischen Zeit sind aus solchen éthnƝ hervorgegangen, die bereits in archaischer Zeit eine Kult- und Wehr-

9

Herodot, Historien, VIII 144, 2. Zum Problem der Ethnizität Allan A. Lund, Hellenentum und Hellenizität: Zur Ethnogenese und zur Ethnizität der antiken Hellenen, in: Historia 54 (2005), S. 1-17; Klaus Freitag, Ethnogenese, Ethnizität und die Entwicklung der griechischen Staatenwelt in der Antike, in: Historische Zeitschrift 285 (2007), S. 373-399.

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gemeinschaft gebildet hatten, bevor sie ihre politischen Institutionen in Anlehnung an die Organisationsform der Polis seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. entwickelten.10 Unter einer ‚politischen Föderation‘, einem koinón im engeren Sinne, verstehe ich im Folgenden die Organisationsform eines Ethnos am Modell der Polis und unterscheide diese vom ‚ethnisch‘ bestimmten Kult- und Wehrverband (éthnos), auch wenn die Quellenterminologie keineswegs so eindeutig ist. Die Besonderheit der politischen Föderation bestand nicht nur in der Schaffung einer handlungsfähigen Bundesebene, sondern gerade in dem Umstand, dass sie ethnisch fremde Gemeinwesen in ihren Bund aufzunehmen vermochte, wie dies zum Beispiel die Achaier getan hatten, als sie nach und nach die gesamte Peloponnes in ihren Bund integrierten, oder die Aitoler, deren Bund in Mittelgriechenland expandierte. Die Griechen hatten für die politischen Föderationen keinen einheitlichen Begriff; sie sprachen von éthnos, koinón oder sympoliteía, womit unterschiedliche Aspekte solcher Gemeinwesen zum Ausdruck gebracht wurden: deren ethnische Identität, deren gemeinsame Bundespolitik oder deren Bundesbürgerrecht. Wenn wir diese Föderationen heute als „Bundesstaaten“ bezeichnen und sie von bloßen „Staatenbünden“ unterscheiden, so folgen wir damit einer begrifflichen Differenzierung, die sich erst im 19. Jahrhundert bei der polemischen Diskussion um die Gestalt des Deutschen Reiches herausgebildet hat. Die Verwendung dieser Begriffsalternative für die antiken Verhältnisse birgt die Gefahr, dass mit den Kategorien des modernen Staats- und Völkerrechts die politischen und rechtlichen Verfassungsprobleme des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert werden. Deshalb spreche ich hier von politischen Föderationen.11

10 1. Boiotischer Bund (447-386 v. Chr.), 2. Bund (378-335), 3. Bund (313-146); Arkadischer Bund (371/0-362 v. Chr., dann geteilt 362-324); Aitolischer Bund (367/6-167 v. Chr.); Achaiischer Bund (281-146 v. Chr.); Lykischer Bund (167 v.-43 n. Chr.). 11 Zu dieser Begriffsalternative Siegfried Weichlein, Europa und der Föderalismus. Zur Begriffsgeschichte politischer Ordnungsmodelle, in: Historisches Jahrbuch 125 (2005), S. 133-152 und Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 129 (2004), S. 81-120.

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Abb. 3: Die Expansion des Achaiischen Bundes

Aus: Der Neue Pauly. Supplemente 3: Historischer Atlas der antiken Welt, Stuttgart & Weimar 2007, S. 103.

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Bevor ich nun auf die Motive zu sprechen komme, die bei der Bildung politischer Föderationen wirksam waren, möchte ich zunächst hervorheben, dass die Poleis untereinander ‚Ausland‘ waren: Jede Stadt hatte ihr eigenes Bürgerrecht; deren Bürger waren in einer anderen Stadt schutzlose Fremde; ließen sie sich dort nieder, waren sie als sogenannte Metoiken rechtlich benachteiligt; nur Bürger durften in ihrer Stadt Grundbesitz erwerben; rechtswirksame Ehen oder Verträge konnten nicht zwischen den Bürgern verschiedener Poleis geschlossen werden; bei Delikten und Verbrechen hielt sich der Geschädigte an einem beliebigen Bürger aus der Stadt des Delinquenten schadlos; es galten in den Städten je eigene Kalender und Zeitrechnungen, Münz- und Gewichtssysteme. Und schließlich lagen die Poleis – und gerade Nachbargemeinden – miteinander häufig im Krieg, vor allem wegen Grenzstreitigkeiten. Unter solchen Voraussetzungen hatte es schon seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. Bestrebungen gegeben, mittels bi- oder multilateraler Verträge unterschiedlicher Art die Rechtsbeziehungen zwischen einzelnen Städten und deren Bürgern auf gemeinsamer Grundlage zu regeln:12 durch Friedens- und Bündnisverträge zur Abwehr äußerer Gefahren, Rechtshilfeverträge zur gerichtlichen Streitbeilegung, Schiedsverfahren auswärtiger Richter zur Entscheidung territorialer Konflikte, gegenseitige Verleihung von Bürgerrechten, aber auch durch die Vereinheitlichung von Münz- und Gewichtsstandards. Gerade die sich als Ethnos verstehenden Verbände, die sich zum Teil – wie die Aitoler – nicht nur aus städtischen, sondern auch aus dörflichen oder stammesartig organisierten Gemeinden zusammensetzten,13 hatten schon früh zur Friedenswahrung nach außen wie innen föderative Strukturen als Kult- und Wehrverband entwickelt. Solche Bestrebungen hatten zum Teil auch über die Ebene des Ethnos hinausgeführt wie in der Delphischen Amphiktyonie, einem Kultverband aller mittelgriechischen Poleis und Ethne, der auch als Schiedsgericht seiner Mitglieder fungierte.14 Dass sich nun seit Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. einzelne Ethne, beginnend mit den Boiotern, über die traditionellen föderativen Strukturen als Kultoder Wehrverband hinaus als politisch organisierte Gemeinwesen organisierten,

12 Zusammenfassender Überblick bei Ernst Baltrusch, Außenpolitik, Bünde und Reichsbildung in der Antike, München 2008, S. 14-37 und 97-130. 13 Peter Funke, Polisgenese und Urbanisierung in Aitolien im 5. und 4. Jh. v. Chr., in: M. H. Hansen (Hg.), The Polis as an Urban Centre and as a Political Community, Kopenhagen 1997, S. 145-188. 14 Pierre Sánchez, L’amphictionie des Pyles et de Delphes. Recherches sur son rôle historique, des origines au IIe siècle de notre ère, Stuttgart 2001; François Lefèvre, L’amphictionie pyléo-delphique: histoire et institutions, Paris 1998.

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lag an der spezifischen Machtkonstellation dieser Zeit: Seit dem späten 6. Jahrhundert v. Chr. dominierten hegemoniale Kampfbündnisse (symmachíai) die griechische Welt, zunächst der Peloponnesische Bund unter Spartas Führung, nach den Perserkriegen seit 478 v. Chr. dann zusätzlich der Delisch-Attische Seebund unter der Führung Athens. Solange es dabei um die Abwehr der Perser ging, stellten diese Symmachien keine Gefahr für die innergriechische Politik dar. Doch mit dem Kampf Spartas und Athens um die Vorherrschaft in der griechischen Welt, der in den Peloponnesischen Krieg mündete, wurden die griechischen Gemeinwesen in allen Regionen in den Konflikt hineingezogen und mussten sich darin behaupten. Dies war die Geburtsstunde der politischen Föderationen, die sich dann vor allem im 4. Jahrhundert als Protagonisten in den Hegemonialkämpfen bewährten – die Boioter wurden unter der Führung Thebens gar eine Zeit lang selbst eine griechische Hegemonialmacht (371-362 v. Chr.). Die Mächtekonstellation in der griechischen Welt veränderte sich in den folgenden 150 Jahren dann noch zwei Mal grundlegend: in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, als mit den Makedonenkönigen Philipp II. und Alexander dem Großen sowie deren Nachfolgern sich großräumige Monarchien als politische Akteure in der Poliswelt etablierten, und um 200 v. Chr., als die Römer in Griechenland intervenierten und innerhalb von 50 Jahren die gesamte Ägäis unter ihre Kontrolle brachten. Die Übertragung der Polis-Verfassung auf die zwischenstaatliche Ebene des Bundes geht deutlich aus der ausführlichsten Beschreibung hervor, die uns für die Organisation eines Koinon überliefert ist, nämlich der Skizze des 1. Boiotischen Koinon, die ein unbekannter Historiker mit Bezug auf das Jahr 395 v. Chr. verfasst hat:15 „Die Verhältnisse waren in Boiotien aber damals wie folgt: Es gab damals in jeder der Städte (póleis) vier Ratskollegien (boulaí), an denen nicht alle Bürger (polîtai) sich beteiligen durften, sondern nur jene, die über eine gewisse Menge an Besitz verfügten (kekt‫ڼ‬menoi). Abwechselnd hatte je eines dieser Ratskollegien den Vorsitz und beriet in vorbereitender Sitzung (probouleúousa) über öffentliche Angelegenheiten (prágmata), trug ihr Ergebnis den anderen drei vor, und was alle Gremien beschlossen, das bekam Gültigkeit (kýrion). Und ihre eigenen Angelegenheiten (tà ídia) regelten sie stets auf die genannte Art. Der Bund der Boioter (tò tôn Boiǀtôn toûton) aber war wie folgt verfasst (syntetagménon): Sämtliche Landesbewohner waren in elf Kreise (mérƝ) gegliedert, und von diesen benannte jeder einen Boiotarchen, wie folgt: Die Thebaner stellten vier, zu-

15 Hellenika von Oxyrhynchos 19, 2-4 (ed. Behrwald); dazu Pierre Salmon, Étude sur la Confédération béotienne (447/6-386), Brüssel 1976.

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nächst zwei für die Polis, dann zwei für die Einwohner von Plataiai und für Skolos, Erythrai, Skaphai und die anderen Ortschaften (chǀría), die früher zu jenen gehört hatten (sympoliteúein), damals aber Theben steuerpflichtig waren (synteleîn). Zwei Boiotarchen benannten die Orchomenier und Hysiaier, zwei die Thespier zusammen mit Eutresis und Thisbai, einen die Tanagraier, einen weiteren die Einwohner von Haliartos, Lebadeia und Koroneia, den abwechselnd immer eine dieser Poleis entsandte. Auf gleiche Weise kam einer aus Akraiphnion, Kopai und Chaironeia. So ernannten die Kreise ihre obersten Amtsträger (árchontes). Sie stellten aber auch je Boiotarch 60 Ratsherren (bouleutaí) und ersetzten ihnen ihre täglichen Unkosten. Jedem Kreis war ferner die Stellung eines Kontingents von ungefähr 1000 Schwerbewaffneten (hoplítai) und 100 Reitern (hippeîs) aufgegeben. Allgemein gesagt: Entsprechend der Zahl der Boiotarchen hatten sie am Bundesschatz (tà koiná) teil, zahlten ihre Beiträge (eisphoraí), entsandten ihre Richter (dikastaí) und nahmen gleichermaßen teil an Schlechtem wie Gutem. Das gesamte Volk (éthnos) hatte nun diese Verfassung (epoliteúeto), und die Versammlungen (synhédria) und die Bundeseinrichtungen der Boioter (tà koinà tôn Boiǀtôn) waren auf der Kadmeia (Stadtburg in Theben) angesiedelt.“

Abb. 4: Der 1. Boiotische Bund (395 v. Chr.)

Eigene Darstellung Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer

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Was die Bundesebene betrifft, so lassen sich folgende Charakteristika der politischen Föderation festhalten: 1. Das Prinzip der politischen Bundesbildung war die Gleichbehandlung aller Bundesglieder. Dabei setzte man – anders als in den Vereinigten Niederlanden der Frühen Neuzeit oder den USA heute – allein auf proportionale Gleichheit: Sowohl bei den Amtsträgern des Bundes wie im Bundesrat wurde die Anzahl der delegierten oder gewählten Magistrate und Ratsherren proportional zur Größe der Städte festgelegt.16 Dazu nahm man in der Regel eine Kreis- oder DistriktEinteilung vor, in der kleinere Gemeinden in einem Kreis zusammengefasst wurden, während größere einen oder mehrere Kreise erhielten. Auf dieser Grundlage wurden in den meisten Bünden auch die Beiträge zur Bundeskasse entrichtet, das Heeresaufgebot bestellt oder Richter an einen gemeinsamen Gerichtshof delegiert. Hier herrschte das Prinzip der Repräsentation, das für Bürgerversammlungen in den Städten wie im Bund nie galt. Abb. 5: Distrikte im Boiotischen Bund

Aus: Der Neue Pauly. Supplemente 3: Historischer Atlas der antiken Welt, Stuttgart & Weimar 2007, S. 101.

16 Thomas Corsten, Vom Stamm zum Bund. Gründung und territoriale Organisation griechischer Bundesstaaten, München 1999; Emily Mackil, Creating a Common Polity. Religion, Economy, and Politics in the Making of the Greek Koinon, Berkeley, Los Angeles & London u. a. 2013, S. 370-384.

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2. Eine wichtige Frage war die nach dem Hauptort des Bundes, das heißt dem Sitz des Bundesrates oder der Bundesversammlung. War dies die mächtigste Polis im Bund, so konnte diese leicht eine hegemoniale Stellung erringen wie Theben im Boiotischen Bund. Daher gründete man entweder ein neues Bundeszentrum wie Megalopolis im Arkadischen Bund,17 oder die Bundesversammlung rotierte zwischen mehreren Bundesstädten wie später im Achaiischen oder im Lykischen Bund.18 In fast allen ‚Bundesstaaten‘ nahm man auch eine Trennung zwischen dem alten Kultzentrum des Ethnos und dem politischen Hauptort des Koinon vor.19 3. Die Bundesorganisation war ein Spiegel der Polisorganisation: Das erste griechische Koinon, der Boiotische Bund, war wie seine Mitgliedpoleis oligarchisch verfasst, das heißt, dass in den Ratsversammlungen seiner Poleis wie im Bundesrat nur die grundbesitzenden Bürger vertreten waren.20 Eine Bundesversammlung gab es nicht. Als es dann 378 v. Chr. zum demokratischen Umsturz in den boiotischen Poleis kam, wurde auch der Bund demokratisch organisiert (2. Boiotischer Bund): An Stelle des Repräsentativorgans eines Bundesrates lag nun die Entscheidungsbefugnis bei einer Bundesversammlung, zu der alle Bürger der Bundestädte direkten Zugang hatten. Damit gingen auch die Wahl und die Kontrolle der Bundesmagistrate vom Bundesrat auf die Bundesversammlung über. In anderen Föderationen wirkten – wie in den Poleis auch – Rats- und Volksversammlung bei der Beschlussfassung zusammen.21 4. Was die ‚Bundesstaaten‘ von einer Symmachie oder einem losen ‚Staatenbund‘ unterschied, war das Bundesbürgerrecht und damit die Doppelbürger-

17 Zum Synoikismos von Megalopolis im Jahr 368 v. Chr. siehe Xenophon, Hellenika, VI 5,3-5; Diodor, Bibliothek, XV 72,4 und 94,1-3; Pausanias, Beschreibung Griechenlands, VIII 27,1-8; dazu Nielsen, Arkadia, S. 414-442 (wie Anm. Fn. 5). 18 War Aigion traditionell Versammlungsort des Achaiischen Bundes gewesen, so wechselte dieser seit 188 v. Chr. zwischen verschiedenen Poleis des nun deutlich größer gewordenen Bundes; vgl. Livius, Römische Geschichte, XXXVIII 30,2-5; Lykier: Strabon, Geographie, XIV 3,3. 19 Zur Frage des Kultzentrums P.eter Funke & M.atthias Haake (Hgg.), Greek Federal States and their Sanctuaries. Identity and Integration, Stuttgart 2013; Mackil, Polity, S. 147-236 (wie Anm. Fn. 16). 20 Thukydides, Der Krieg der Peloponnesier und Athener, III 62,3, spricht von oligarchía isónomos. 21 Nur Ratsversammlung: 1. und 3. Boiotischer sowie Lykischer Bund; nur Volksversammlung: 2. Boiotischer Bund; beide Versammlungen: Arkadischer, Achaiischer und Aitolischer Bund.

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schaft in Gliedstaat und Bund22 – seltsamerweise wird dieser Aspekt weder von Polybios noch dem Verfasser der Hellenika von Oxyrhynchos hervorgehoben. ‚Bundesbürgerrecht‘ bedeutete, dass die Bürger der einzelnen Poleis das Recht hatten, Amtsfunktionen im Bund zu bekleiden und an den Bundesgremien teilzunehmen. Damit wurde auch eine Gleichstellung der Bürger aller Bundesstädte in ‚privatrechtlichen‘ Bereichen verbunden: Das Recht der Bundesbürger, in den anderen Städten des Bundes Grundbesitz erwerben (énktƝsis) und untereinander Ehen schließen zu können (epigamía), in den Städten des Bundes der gleichen steuerlichen Belastung zu unterliegen (isotéleia) und persönlich sowie für ihren Besitz Rechtssicherheit vor gewaltsamen Repressalien zu genießen (asylía und aspháleia). Solche ‚privatrechtlichen‘ Regelungen stärkten – zusammen mit der Harmonisierung der Münz- und Gewichtsstandards – die Wirtschaftskraft innerhalb des Koinon erheblich, weil – wie man heute sagen würde – die Transaktionskosten deutlich sanken.23 5. Fragt man nach den Kompetenzen der Bundesorgane, so lässt sich zunächst festhalten, dass die Beschlüsse des Bundesrates und/oder der Bundesversammlung entweder für die Mitglieder des Bundes verpflichtend waren oder von ihnen ratifiziert werden mussten.24 Sie betrafen vor allem ‚außenpolitische‘ Entscheidungen wie die Kriegserklärung und den Friedenschluss, die Vereinbarung von Bündnissen,25 das Gesandtschaftswesen,26 die Aufnahme neuer Mitglieder in den Bund,27 die Verleihung der Bundesproxenie (eine Art Ehrenbürgerrecht),28 die Verleihung des Bürgerrechts an Städte außerhalb des Bundes (isopoliteía),29 aber auch die Verabschiedung von Bundesgesetzen, Regelungen für den Kult im

22 Hans Beck, Polis und Koinon. Untersuchungen zur Geschichte und Struktur der griechischen Bundesstaaten im 4. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1997, S. 174-181. 23 Mackil, Polity, S. 237-325 (wie Anm. Fn. 16). 24 Polybios, Historien, XXII 12,3. 25 Vertrag zwischen den Koina der Boioter und Aitoler (StV III 463), der Boioter und Phoker (IG IX 1,98), der Aitoler und Akarnanen (IG IX 12,1,3A), dem Koinon der Aitoler und Sparta (SEG LI 449). 26 Lykischer Bund (SEG XVIII 570). 27 Epidauros und Orchomenos in den Achaiischen Bund (IG IV 12,70; IG V 2,344). 28 Mit dem Status eines próxenos und Wohltäters (euergétƝs) verlieh etwa das 2. Boiotische Koinon das Recht, Grundbesitz und ein Haus erwerben zu können sowie die Privilegien der Steuerfreiheit (atéleia) und Unversehrtheit (asoulía; vgl. IG VII 2407; SEG XXV 553; SEG XXXIV 355); das 3. Boiotische Koinon verlieh die Privilegien der isotéleia, aspháleia und asylía (SEG XXIV 347; XXXI 496). 29 Aitoler (StV III 508; IG IX 12,1,173; SEG XXXVIII 1476).

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Bundesheiligtum30 oder in Notzeiten wirtschaftspolitische Maßnahmen wie das Verbot, Getreide auszuführen.31 Das Bundesgericht befasste sich mit den Grenzkonflikten und anderen Streitigkeiten unter den Bundesmitgliedern,32 mit Streitfällen zwischen einem Bürger und einer Mitgliedspolis sowie zwischen Bürgern oder Poleis des Bundes und fremden Gemeinden oder Koina.33 6. Fragt man nun umgekehrt, wie es um die Autonomie der Poleis innerhalb des Koinon bestellt war, so verblieb den Städten ihre Finanzhoheit (sie konnten freilich keine Kredite beim Bund aufnehmen oder von diesem finanzielle Hilfe erwarten); sie kontrollierten ihre städtischen Heiligtümer; sie lebten nach ihren traditionellen Gesetzen und verfügten über eine eigene Gerichtsbarkeit; schließlich bestimmten sie mittels des Stadtbürgerrechts über die Zugehörigkeit zur Polis und mittelbar dadurch auch zum Bund (Bürgerrechtsverleihungen, ProxenieVerleihungen). 7. Die Sanktionsmöglichkeiten des Bundes gegenüber unbotmäßigen Mitgliedern bestanden einerseits in fiskalischen Strafen, die zumeist nach einem Gerichtsverfahren ausgesprochen wurden,34 reichten aber auch bis zu militärischen Zwangsmaßnahmen durch das Bundesheer.35 Umgekehrt konnte eine Polis, die vom Koinon nicht unterstützt wurde – etwa bei dessen Hauptaufgabe, dem militärischen Schutz – ihre Beitragszahlungen einstellen.36

IV D IE

POLITISCHE P RAXIS UND DAS DER ‚B UNDESSTAATEN ‘

S CHEITERN

Bisher habe ich die politischen Föderationen in ihrer institutionellen Ordnung skizziert, die aufgrund von historischen Erfahrungen immer wieder neu justiert

30 Achaia (IG IV 12,73; SEG L 470). 31 IG VII 2383. 32 Achaier (SEG XIII 278; IG IV 12,72); Boioter (SEG XXIII 297; IG VII 2792); Aitoler (IG IX 12,1,3B; IG IX 12,1,188); vgl. Kaja Harter-Uibopuu, Das zwischenstaatliche Schiedsverfahren im achäischen Koinon. Zur friedlichen Streitbeilegung nach den epigraphischen Quellen, Köln 1998. 33 IG VII 3172; Polybios, Historien, XXII 4,6-8. 34 Nino Luraghi & Anna Magnetto, The Controversy between Megalopolis and Messene in a New Inscription from Messene, in: Chiron 42 (2012), S. 509-550, hier S. 512; SIG3 665. 35 Mackil, Polity, S. 355-370; 390-397 (wie Anm. Fn. 16). 36 Polybios, Historien, IV 60,4-5.

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werden musste. Man kann auch feststellen, dass bei neuen Bundesbildungen bereits bestehende zum Beispiel dienten. Für die politische Praxis der ‚Bundesstaaten‘ stellt sich nun die Frage, wie erfolgreich die Überschreitung des traditionellen Rahmens der städtischen Politik im Rahmen eines Bundes war. Anders gefragt: Welche Probleme ergaben sich bei der Verwirklichung dieser Vision von einer gemeinsamen und gleichberechtigten Politik? Ich skizziere im Folgenden die wichtigsten Problemfelder, bevor ich abschließend auf das Scheitern der griechischen Föderationen eingehe. 1. Die Initiative zur politischen Bundesbildung ging häufig von der mächtigsten Polis eines Ethnos aus (Theben, Olynth, Mantineia). Insofern diente die Bundesorganisation von Anfang an den Interessen seiner Führungsmacht, doch war sie zugleich attraktiver für die kleineren Städte als eine Symmachie, in der diese von vornherein der hegemonialen Polis untertan waren. Aufgrund dieser Ausgangskonstellation gab es in vielen Bünden Bestrebungen einer einzelnen Polis oder zweier Poleis, trotz der institutionalisierten Gleichstellung aller Bundesglieder eine hegemoniale Stellung zu erringen, so Thebens im Boiotischen Bund oder Mantineias und Tegeas im Arkadischen Bund. Diese führten entweder zur Spaltung des Bundes wie bei den Arkadern oder zur faktischen Unterwerfung der übrigen Bundesmitglieder unter die Herrschaft einer einzelnen Polis wie im Falle Thebens, das den 2. Boiotischen Bund (378-335 v. Chr.) nach Belieben dominierte. Hier wirkte sich einerseits das traditionelle Politikmuster aus, dass besonders die größeren Städte immer bestrebt waren, ihr Territorium und ihre Herrschaft auszuweiten – auch auf Kosten von Bundesmitgliedern. Andererseits waren die griechischen ‚Bundesstaaten‘ – anders als die Vereinigten Niederlande – nie defensiv orientierte Bünde gewesen, sondern – wie die Vereinigten Staaten von Amerika – expansiv ausgerichtet. Sie tendierten daher dazu, andere Städte zum Anschluss an ihren Bund zu zwingen. 2. Die Homogenität der politischen Föderation hing nicht allein von den zuvor genannten ethnischen Merkmalen ab. Nicht erst in dem Moment, in dem die Bundesorganisation über ihren ethnischen Kern hinaus expandierte, drängte sich das Problem der Verfassungshomogenität in den Städten auf. Wie am zunächst oligarchisch, dann demokratisch verfassten Boio-tischen Bund deutlich wird, setzte man in den Städten des Bundes häufig gewaltsam gleichartige Verfassungen durch, die auch den Charakter der Bundesverfassung prägten. Die Verfassungsfrage, die bereits in den Symmachien Spartas und Athens im 5. Jahrhundert eine große Rolle gespielt hatte, kam auch in den ‚Bundesstaaten‘ zum Tragen, denn damit war immer auch eine politische Option verbunden gewesen: Plädierte man etwa in Boiotien für die Oligarchie, war Sparta der natürliche Verbündete; wer für die Demokratie eintrat, wählte hingegen Athen; die je-

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weils unterlegene gegnerische Partei wurde dann vertrieben. Erst im Zweiten Attischen Seebund (377-338) spielte die Verfassung der Mitgliedspoleis keine Rolle mehr; diese wurde vielmehr ausdrücklich vor äußeren Eingriffen geschützt.37 3. Die Aufnahme neuer Mitglieder in den Bund war für diese häufig mit einem politischen Richtungswechsel verbunden, den zumindest eine Partei in der Stadt forciert hatte. Dies konnten interne Gründe sein wie in einigen Städten des Achaiischen Bundes, die zuvor von einer Tyrannis befreit worden waren.38 Oder man schloss sich einem Bund an, weil man einen gemeinsamen Gegner, etwa die makedonische Monarchie oder Sparta, hatte. Je mächtiger aber ein Bund in seiner Region wurde, desto schwieriger gestaltete sich die Lage für diejenigen Poleis, die noch nicht Mitglieder des Bundes waren. Der Dominanz des Aitolischen Bundes in Mittelgriechenland, vor allem aber des Achaiischen Bundes in der Peloponnes im 3. und beginnenden 2. Jahrhundert v. Chr. konnten kleinere Gemeinwesen nicht widerstehen; selbst Sparta als traditioneller Feind der Achaier musste schließlich deren Bund beitreten.39 Abb. 6: Die Expansion des Aitolischen Bundes

Aus: Der Neue Pauly. Supplemente 3: Historischer Atlas der antiken Welt, Stuttgart & Weimar 2007, S. 101.

37 IG II2,43, Z. 20-21. 38 Plutarch, Aratos, 4-9. 39 Livius XXXVIII, 30-34.

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4. Eine charakteristische Schwäche der griechischen Polis, die nicht selten in einen Bürgerkrieg mündende politische Spaltung der Bürgerschaft (stásis), war auch auf der Bundesebene wirksam.40 Wie in der Polis, so suchte auch die im Bund unterlegene Partei Unterstützung bei äußeren Mächten, um ihre Stellung zu behaupten. Verwandtschaftliche Beziehungen und politische Verbindungen führender Politiker in den Städten und im Bund zu anderen Poleis oder Herrschern hatten ein vielfältiges Loyalitätsgeflecht geschaffen, das immer wieder zu Konflikten führte, wenn die Bundesmitglieder eine gemeinsame Entscheidung treffen und tragen sollten.41 5. Ein Problem jeder politischen Föderation schließlich lag darin, wie man sich gegenüber austrittswilligen Bundesmitgliedern verhalten sollte. Deren Austritt bedeutete immer eine ökonomische und militärische Schwächung des Bundes und einen Ansehensverlust. In der Regel versuchten die Bünde, solchen Abspaltungsgelüsten mit mehr oder weniger nachdrücklichen Methoden zuvorzukommen. So konnte der Bund beschließen, eine Garnison in die sezessionswillige Stadt zu legen oder – wie in Sparta geschehen – die traditionelle Verfassung abzuschaffen. Notfalls setzte man das Bundesheer gegen die abtrünnige Stadt ein.42 Betrachtet man nun die auf der Bundesebene wirksamen politischen Muster mit ihren zentrifugalen Tendenzen, so lässt sich meiner Meinung nach aus ihnen keine hinreichende Erklärung für den Untergang der ‚Bundesstaaten‘ seit dem zweiten Drittel des 2. Jahrhunderts v. Chr. gewinnen. Denn diese politischen Muster waren schon immer auf der Ebene der Poleis wirksam gewesen, und sie bestimmten auch das Handeln der hegemonialen Symmachien und der hellenistischen Herrscher. Zwar sind manche Bünde daran frühzeitig zerbrochen wie der Arkadische Bund oder der Chalkidische Bund unter der Führung Olynths, doch haben sich andere lange Zeit als politische Akteure behauptet und sogar neben den hellenistischen Monarchien eine führende Stellung eingenommen. Auch das Konfliktpotential, das in der – zum Teil gewaltsamen – Ausdehnung der politischen Föderationen über ihr ethnisches Kerngebiet hinaus lag, reicht nicht zur Erklärung ihres Scheiterns aus: Der Konflikt zwischen dem Achaiischen Bund und Sparta zum Beispiel wurde erst durch Rom entschieden.

40 Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., München 1985. 41 Livius, Römische Geschichte, XXXI 19-23; XXXV 31-33; 43-46. 42 Mackil, Polity, S. 355-370; 390-397 (wie Anm. Fn. 16).

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In der Intervention Roms in der griechischen Welt – nicht in Verfassungsproblemen oder Politikmustern der politischen Föderationen – liegt meiner Ansicht nach der Grund für den Untergang der politischen Föderationen wie auch aller hellenistischen Monarchien. In der Zeit nach Alexander dem Großen hatte sich in der griechischen Welt ein multilaterales, häufigen Veränderungen unterworfenes Gleichgewicht der Mächte insofern etabliert, als keine der großen Monarchien ihre Gegner ausschalten konnte. In diesem Machtspiel agierten neben den größeren autonomen Poleis wie Athen oder Rhodos auch die Koina durchaus erfolgreich. Trotz mancher internen Probleme behaupteten sich einige Bünde dauerhaft und boten damit neben der Monarchie und der Polis eine dritte Organisationsform politischen Handelns an, die die Vorzüge der Polisordnung mit der räumlichen Ausdehnung von Herrschaft, wie sie für die Monarchie typisch ist, vereinigte. Unter diesem Gesichtspunkt sprach sich später auch Montesquieu für eine république fédérative aus.43 Ohne die Römer also wäre die Geschichte der griechischen Gemeinwesen ganz anders verlaufen. Während Rom die hellenistischen Monarchien nach und nach seinem Imperium einverleibte, reduzierte es die föderalen Bünde der Griechen auf ihren ethnischen Kern, die nun ohne politische Rechte zumeist in Provinziallandtage umgewandelt wurden, deren Hauptaufgabe in der Kaiserzeit dann die Pflege des Kaiserkultes wurde.44 Erst in der frühen Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert in den Vereinigten Niederlanden und am Ende des 18. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika, erinnerten sich Politiker und Gelehrte wieder der griechischen ‚Bundesstaaten‘ als eines Vorbilds oder (warnenden) Beispiels für die Bildung einer politischen Föderation.

43 Montesquieu, De l’Esprit des Lois, IX 1-3; dazu Meyer-Zwiffelhoffer, Bundesstaaten, S. 282-285 (wie Anm. Fn. 1). 44 Jürgen Deininger, Die Provinziallandtage der römischen Kaiserzeit von Augustus bis zum Ende des 3. Jhs. n. Chr., München 1965.

Mittelalterliche Weltveränderungsanstrengungen angesichts des nahenden Endes des Alexander von Roes Programm für ein vereinigtes Europa F ELICITAS S CHMIEDER

Im Jahre 1288 suchte der Kölner Kanoniker Alexander von Roes angesichts immer neuer Katastrophennachrichten nach Erklärungen und fand sie in einem auf 1205 datierten prophetischen Text, den er in seiner eigenen Schrift Notitia seculi/„Kenntnis des Jahrhunderts/ der Welt“ interpretierte. Aus der älteren Prophetie schloss er, dass ein Zeitalter der Vernichtung der Simonisten (derer also, die ihr kirchliches Amt für Geld erworben hatten) als letztes Zeitalter vor dem Auftreten des Antichrist nun bald anbrechen werde.1 „Über diese Zeit liest man in einem Buch mit dem Titel ‚Von der Saat der Buchstaben‘ (De semine scripturarum) […] daß innerhalb der hundert Jahre, die mit dem Jahr 1215 begannen [dem Jahrhundert mit dem Buchstaben X], das heilige Land zurückerobert und die Kirche vom Laster der Simonie gereinigt werden soll. […] [Es heißt da:] ‚Denn Christus mit seiner Geißel stieß die Tische der Taubenhändler und Käufer im

1

Notitia Seculi c.6-7, ed. in: Die Schriften des Alexander von Roes, hg. und übers. von Herbert Grundmann/Hermann Heimpel, Weimar 1949 (MGH. Deutsches Mittelalter. 4), S. 72-75 (Übersetzung angepasst F.S.); vgl. Alexander von Roes, Schriften, ed. Herbert Grundmann/ Hermann Heimpel, Stuttgart 1958 (MGH Staatsschriften 1, 1).; Harald Horst, Weltamt und Weltende bei Alexander von Roes, Köln 2002; Beatrice Hirsch-Reich, Zur „Notitia Saeculi“ und zum „Pavo“. Mit einem Exkurs über die Verbreitung des pseudojoachimitischen Büchleins „De semine scripturarum“, in: MIÖG 38 (1920), S. 571-610.

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Tempel um.2 Wie wird er das tun [in gleicher Weise nun die Simonisten vernichten]? Er wird die Winde und die Meere erregen, ein Reich wider das andere, mit Feuer und Raub wird alles verwüstet, bis daß Simon unter dem Zwange höchster Not seine Flügel verliert.‘ Das sind die Worte des Verfassers, die im Jahre 1205 geschrieben sind; zehn Jahre später begann das Jahrhundert seinen Lauf, für das er dies voraussagte. Jetzt, da wir dies schreiben, sind wir im Anfang des Jahres 1288. Also müsste die Bedrängnis (tribulatio) der Simonisten, von der hier die Rede ist, innerhalb der nächsten 27 Jahre erfolgen, was ja auch dadurch bestätigt wird, dass die [restlichen Teile der] Weissagung schon jetzt alle Tage in Erfüllung geht. So hat der Herr im vergangenen Jahre einen Nordsturm geschickt, der das Friesenmeer [die Nordsee] über die Ufer und Küsten warf und den größten Teil Seelands, Hollands und Frieslands in die Meerestiefe versinken ließ.3 Ferner sind, wie man hört, die Tartaren [die Mongolen], die unter Papst Martin IV. [1281-1285] von den Christen unter schweren Verlusten aus dem Königreich Ungarn vertrieben wurden, jetzt während der Vakanz des päpstlichen Stuhls nach dem Tode Honorius‘ IV. [1285-1287] mit frischen Kräften wiedergekommen und haben Polen unmenschlich verwüstet und verheert.4 Ganz davon zu schweigen, daß Michael Palaiologos, der gewalttätige Usurpator des griechischen Kaiserthrons, schon vor vier Jahren mit ganz Griechenland den christlichen Glauben nicht nur verleugnet, sondern ihn sogar bekämpft hat und dass seine Erben ihn noch immer bekämpfen.5 Ferner hat zur gleichen Zeit Abiut, der

2

Christi Reinigung des Tempels, die sich in allen vier kanonischen Evangelien findet:

3

Gemeint ist die Lucia-Sturmflut am 13.12.1287, die viel stärker als andere nicht nur

Mt. 21, 12 ff., Mk. 11, 15 ff., Lk. 19, 45 ff., Joh. 2, 13-16. zahllose Menschenleben kostete, sondern auch massive Küstenverluste in Friesland nach sich zog, vgl. Dirk Meier, Land unter! Die Geschichte der Sturmfluten, Ostfildern 2005. 4

Peter Jackson, The Mongols and the West 1221–1410, Harlow 2005, S. 198/99.

5

Der byzantinische Kaiser Michael VIII. Palaiologos hatte von 1259–1282 regiert und 1261 die alte Hauptstadt Konstantinopel zurückerobert. Diese war seit 1204 in westlich-lateinischer Hand gewesen, weshalb die Rückeroberung aus lateinischer Sicht als Usurpation gesehen werden konnte. Ebenso musste das Ende der Kirchen-Union zwischen griechischer und römischer Kirche, die Michaels Gesandte aus politischen Gründen auf dem zweiten Konzil von Lyon 1274 eingegangen waren, die aber in Byzanz nie akzeptiert und 1285 (bereits unter der Regierung des Nachfolgers Andronikos II.) bei einem Konzil in Konstantinopel verdammt worden war, als Verleugnung und Bekämpfung des (richtigen) Christentums erscheinen. Zu den Kontexten Joseph Gill, Church Union: Rome and Byzantium (1204–1453), London 1979; John Haldon, Das

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größte Herrscher in Afrika, mit starker Macht Spanien überzogen und sengend und raubend das ganze Küstengebiet von Sevilla zur Einöde gemacht.6 Es widerstrebt einem, auch die inneren Kriege ins Gedächtnis zu rufen, die die christlichen Könige und Fürsten mehr als sonst gegeneinander führen. Und wenn wir hier nur die Nöte Europas schildern, von denen wir Kunde haben, so zweifeln wir doch nicht, dass Ähnliches oder noch Schlimmeres auch in Asien und Afrika geschieht. Da also mancherlei von dem, was der erwähnte Prophet voraussagte, bereits eingetroffen ist und jetzt geschieht, so müssen wir das Übrige wohl in naher Zukunft erwarten.“ Alexander von Roes hat das Gefühl, in unruhigen Zeiten zu leben – Zeiten, in denen sich die Ereignisse überschlagen, sich alles beschleunigt. Wenn plötzlich alle möglichen Katastrophen auf einmal und in schneller Folge hereinbrechen, dann wird "gefühlt" schnell alles schlimmer, irgendetwas kündigt sich an: Diese Art der Deutung kennen wir noch heute. Alexander wendet sich daraufhin (und hier weicht er von dem den meisten unter uns gewohnten Denken ab) wie viele seiner Zeitgenossen unter den politischen Denkern, Deutern und Propagandisten7 an eine alte eschatologische (d.h. endzeitliche) prophetische Schrift. Es

Byzantinische Reich. Geschichte und Kultur eines Jahrtausends, Düsseldorf u.a. 2003 (engl. Orig. 2000), S. 194/95. 6

Die Rede ist von Abu Jusuf Jaqub (1258–1286 Sultan von Marokko), der zeitenweise das muslimische Restreich von Granada auf der Iberischen Halbinsel unterstützte. Zum Kontext der Einfälle Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 282/83; Ulrich Haarmann, Geschichte der arabischen Welt, München 3. Aufl. 1994, S.308.

7

Zur Bedeutung prophetischer und enger gefaßt apokalyptischer Schriften als Ratgeber habe ich selbst einige Überlegungen vorgelegt: Felicitas Schmieder, Gewaltbewältigung in einem ,Zeitalter der Gewalt‘. Mittelalterliche Prophetie als Sprache politischen Krisenmanagements, in: Peter Burschel/ Christoph Marx (Hg.), Gewalterfahrung und Prophetie, Köln u. a. 2013, S. 415-444; dies., Zukunftswissen im mittelalterlichen Lateineuropa. Determinanten sozialen und politischen Handelns, wenn die Zeit gemessen ist, in: Andreas Hartmann / Oliwia Murawska (Hg.), Repräsentationen der Zukunft. Zur kulturellen Matrix des Prognostischen, im Druck 2014. Grundsätzlicher zum Problem, in Auswahl: Brett E. Whalen, Dominion of God: Christendom and Apocalypse in the Middle Ages, Cambridge MA. 2009; Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, hg. von Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder, Berlin 2008; Renate Blumenfeld-Kosinski, Poets, Saints, and Visionaries of the Great Schism 1378 – 1417, Pennsylvania State University 2006; André Vauchez, Saints, Prophètes et visionnaires. Le pouvoir surnaturel au Moyen Age, Paris

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sei jedoch ebenfalls vermerkt, dass Alexander explizit unterstreicht, dass Prophetie nur eine Möglichkeit ist, sich mit dem Zukünftigen zu beschäftigen. Alternativen zum inspirierten Prophezeien (per infusam scientiam prophetare) sind, Folgerungen aus angeeignetem Wissen zu ziehen (per acquisitam scientiam argumentare) und aus den Erfahrungen der Vergangenheit Schlüsse aus die Zukunft zu ziehen (per rerum experientiam ex preteritis argumenta futurorum trahere).8 Alexander aber wendet sich in seiner Schrift an eine Prophezeiung und findet heraus, dass eine ganze Reihe der darin vorhergesagten Ereignisse bereits geschehen sind und dass zentraler Epochenwandel bevorsteht: einer von vier Einschnitten im Zeitalter der Gnade, das wiederum das vierte von fünf Zeitaltern der Weltgeschichte ist. Weil es wichtig ist, dieses Geschichtsbild zu verstehen, um einschätzen zu können, in welcher Weise Alexander von Roes hier seine eigene Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft einordnet, sei ein etwas genauerer Blick darauf geworfen. Diese Weltgeschichte hat nach christlichen Vorstellungen einen Anfang gehabt und wird ein Ende haben. Sie ist auch Heilsgeschichte, deren Ablauf Gott dem Menschen prophetisch verbrämt zu erkennen gegeben hat. In der Heiligen Schrift nämlich ist im Alten das Neue Testament vorgebildet und im Neuen – in Christi Lebens- und Leidensgeschichte – der Rest der Menschheitsgeschichte. Diesen typologischen Zugriff auf die Bibel, die Idee also, dass man aus dem

1999 ; Robert E. Lerner, The Powers of Prophecy: The Cedar of Lebanon Vision from the Mongol Onslaught to the Dawn of Enlightenment, Berkeley 1983; Bernard McGinn, Visions of the End: Apocalyptic Traditions in the Middle Ages, New York 1979, 2. Aufl. 1998; Roberto Rusconi, L’attesa della fine. Crisi della società, profezia ed apocalisse in Italia al tempo del grande scisma d’Occidente (1378–1417), Rom 1979. 8

Alexander (Notitia Seculi c.20, ed. (wie Fn. 1), S. 96/97) kennt hier im 13. Jahrhundert Alternativen, die sehr ähnlich denen sind, die Reinhard Koselleck als charakteristisch unterscheidend für den mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Umgang mit der Zukunft beschreibt (Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft in der frühen Neuzeit. In: ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, TB 1989, S. 17-37, hier v.a. S. 33, dazu 29/30). Nach Koselleck impliziert die erst frühneuzeitliche Prognose „eine Diagnose, die die Vergangenheit in die Zukunft einbringt“. Vgl. hierzu Felicitas Schmieder, Eschatologische Prophetie im Mittelalter: Ein Mittel „politischer“ Kommunikation?, in: Politische Bewegung und symbolische Ordnung. Hagener Studien zur Politischen Kulturgeschichte. Festschrift für Peter Brandt, hg. von Werner Daum/ Wolfgang Kruse/ Eva Ochs/ Arthur Schlegelmilch, Berlin 2014, 17-31.

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Gewesenen und ins Heilige Buch Eingeschriebenen das Zukünftige herauslesen könne, war schon uralt und war in (aus Alexanders Sicht) jüngerer Zeit durch den großen kalabresischen Propheten Joachim von Fiore (+ 1202) spezifiziert und machtvoll ins Gespräch gebracht worden. Joachim, auf den Päpste und Herrscher hörten, hatte eine Geschichtstheologie ausgebildet, nach der drei Zeitalter – das des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, das des Alten und des Neuen Testaments und das ohne Schrift – in der Gesamtheit der Weltgeschichte einander ablösen würden, dabei intensiv ineinander verschlungen durch Kontingenz, durch Konsequenzen und Referenzen.9 Alexander von Roes war kein Anhänger des Joachim – dessen Anhängerschaft (nicht zuletzt im Franziskanerorden zu finden waren, der Franz von Assisi und sich selbst in Joachims Prophezeiungen vom kommenden Zeitalter des Geistes wiedererkannte – zu seinen Zeiten bereits von der Amtskirche und der Pariser Theologie mit mehr und mehr Misstrauen beäugt wurde, weil von ihr nicht allein theologische Herausforderungen kamen, sondern zwischen Kleruskritik und sozialer Revolte eine Menge lebensweltlich-politische Probleme drohten.10 Aber unberührt von den Überlegungen des Joachim war im 13. Jahrhundert kein Denker geblieben. Joachims Schriften und nicht zuletzt all die Schriften, die nach seinem Tod in seinem Namen zu kursieren begonnen hatten und durch Kommentierung immer aktuell gehalten wurden, waren weit verbreitet, seine Gedanken allgemein bekannt und niemand konnte sich gänzlich entziehen. Auch die Schrift, die Alexander seiner Notitia seculi zugrunde gelegt hat, klingt hie und da ein wenig joachitisch, ohne es von der Lehre her oder gar explizit zu sein. Sie ist durch und durch typologisch, denn die fünf Zeitalter der Weltgeschichte – das (ganz kurze) der Unschuld (Schöpfung bis Sündenfall), das des Naturgesetzes (Adam bis Moses), das des geschriebenen Gesetzes (Moses

9

Zu Joachim und seiner Geschichtstheologie ist viel Literatur erschienen. Hier sei nur verwiesen auf Gian Luca Potestà, Il tempo dell’Apocalisse. Vita di Gioacchino da Fiore, Mailand 2004; Matthias Riedl, Joachim von Fiore. Denker der vollendeten Menschheit, Würzburg 2004; A. Patschovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003.

10 Nach wie vor maßgeblich zu den Joachiten, wenngleich sehr viel seither getan wurde: Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages: A Study in Joachimism, Oxford 1969, Notre Dame 2. Aufl. 1993. Die um 1300 sich zuspitzenden theologischen Auseinandersetzungen fasst kenntnisreich zusammen Manfred Gerwing, Johannes Quidort von Paris (+ 1308). De antichristo et de fine mundi: lateinisch – deutsch = Vom Antichrist und vom Ende der Welt, Regensburg 2011, S. 45-100.

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bis Christus), das der Gnade (bis zum Ende der Welt) und schließlich das der Verklärung (zugleich die Ewigkeit) – sind biblisch bestimmt.11 Das Zeitalter der Gnade ist, wie bereits angedeutet, ebenfalls in vier Abschnitte aufgeteilt, die in Christi Leben und damit in den Evangelien vorgebildet sind.12 Zwei davon, die Verfolgung der Märtyrer und die Niederwerfung der Ketzer (antizipiert in der Flucht der Heiligen Familie vor dem Kindermord von Bethlehem nach Ägypten, Mt. 2, 13-14, bzw. der Widerlegung von Pharisäern und Sadduzäern durch den zwölfjährigen Jesus im Tempel, Lk. 2, 40-52) sind bereits geschehen, jetzt steht der dritte Einschnitt an, die Vernichtung der Simonisten (die geistliche Ämter für Geld kaufen und verkaufen), die Christus eben durch Vertreibung der Händler aus dem Tempel vorgelebt hatte. Bevor das Zeitalter der Gnade zu Ende geht, werden noch die wahren Christen die Verfolgungen Antichrists erleiden so, wie Christus selbst zu Tode gemartert wurde (Mk. 15, Lk. 23, Mt. 27, Joh. 19). Die prophetische Schrift, aus der Alexander seine Hoffnung zieht, herausfinden zu können, in welchem Stadium sich die Weltgeschichte gerade befindet, datiert er selbst auf den Anfang des 13. Jahrhunderts. De semine scripturarum teilt die Welt in ebenso viele Jahrhunderte ein, wie das Alphabet Buchstaben hat. Die Jetztzeit im X-Jahrhundert macht auch deutlich, dass der vierte und letzte Epocheneinschnitt, die Verfolgung durch Antichrist, noch in relativ ferner Zukunft liegt – und damit das Ende der Zeit oder doch der Welt, wie wir sie kennen, denn dass dieses mit Antichrists Auftreten einhergeht, muss für Alexanders Publikum nicht eigens ausgesprochen werden.13 Doch wofür sich die Weltgeschichte bislang sehr viel Zeit gelassen hat (zwei große Wandlungen in fast 1300 Jahren seit Christi Geburt), steht jetzt unmittelbar bevor: Man lebt in entscheidenden Zeiten, die Welt neigt sich ihrem Ende entgegen – was soll der Christ nun tun? Kann er überhaupt etwas tun? Und wozu? Ist nicht das nahe Ende eben auch die Ankündigung des Endes allen menschlichen Lebens, unterstreicht es nicht die Vergeblichkeit jeglichen Handelns und nimmt ihm von seinem nahen Ende

11 Notitia Seculi c.3, ed. (wie Fn. 1), S. 68-71. – Weltalterlehren gehen bereits auf die Spätantike zurück (Eusebios, Hieronymus) und wurden maßgeblich durch Beda Venerabilis (672-735) geprägt, vgl. Peter Darby, Bede and the End of Time, Farnham 2012, bes. S. 17-34. 12 Notitia Seculi c.5, ed. (wie Fn. 1), S. 70-71. 13 Zu den Erwartungen des und vom Antichrist ist gerade in jüngerer Zeit einiges geforscht worden: M. Delgado/V. Leppin (Hg.): Der Antichrist. Historische und Symbolische Zugänge, Stuttgart 2010; W. Brandes/ F. Schmieder (Hg.), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, Berlin 2010; G. L. Potestà/M. Rizzi (Ed.), L’Anticristo, 2 vol. (1: Il nemico dei tempi finali, 2: Il figlio della perdizione), Milano 2005/2012.

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her seinen Sinn? Das würde dem Ruf entsprechen, in dem mittelalterliche Eschatologie und allgemeiner „das Mittelalter“ bei vielen steht: Jenseitsbezogen, weil die diesseitige Welt kaum etwas und nicht mehr viel zu bieten hat.14 Der Text Alexanders sieht das Auftreten Antichrists in weiterer Zukunft als die meisten seiner endzeitlich-prophetisch gestimmten Zeitgenossen. Ihm zufolge wäre also noch mehr Zeit als gewöhnlich. Doch er ist typisch in einer entscheidenden Hinsicht: Mit wenigen Ausnahmen beschäftigen sich er wie vergleichbare Texte nicht mit dem eigentlichen Ende der Welt, mit dem Auftreten Antichrists und seiner Vernichtung durch den wiederkehrenden Christus selbst, der anschließend zum Jüngsten, dem letzten Gericht sitzt. Dieses ist aus der Bibel und weiteren Schlüsseltexten seit der Spätantike, aus der Apokalypse des Pseudo-Methodius aus dem 7. Jahrhundert und dem „Brief über Ursprung und Zeit Antichrists“ (Epistola de ortu et tempore Antichristi) des Adso von Montieren-Der aus dem 10. Jahrhundert bekannt.15 Es kann Hoffnungsszenario oder Drohkulisse sein, doch nur selten wird es selbst zum Gegenstand der Prophetie – selbst Identifikationen des Antichrist in der eigene Gegenwart treffen die Propheten nicht zum Zweck der genaueren Schilderung, was der nun anstellen wird: Sie dienen vielmehr der assoziativen Erinnerung, die unkommentiert im Raum stehenbleiben kann, weil eben jeder Christ weiß, was Antichrist tun wird.

14 Vgl. Felicitas Schmieder, Zukunftswissen (wie Fn. 7). Grundsätzlicher zum Problemkreis Hans-Joachim Schmidt (Hg.), Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter, Berlin u.a. 2005. 15 Biblisch: das Buch der Offenbarung des Johannes („der Apokalypse“) und eine ganze Reihe weiterer prophetischer Stellen; spätantik vgl. Wilhelm Bousset, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apocalypse, Göttingen 1895 sowie die einschlägigen Aufsätze in Delgado/Leppin (wie Fn. 12); Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: von Tychonius bis zum Deutschen Symbolismus, Münster 1973, 2. Aufl. 1979. – Ps.-Methodius Revelationes, ed. in: Ernst Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen. Pseudomethodius, Adso und die Tiburtinische Sibylle, Halle/Saale 1898, S. (1-)59-96, neu: Die Apokalypse des Pseudo-Methodius. Die ältesten griechischen und lateinischen Übersetzungen, ed. W. J. Aerts und G. A. A. Kortekaas, Bd.1: Einleitung, Texte, Indices Locorum et Nominum; Bd.2: Anmerkungen, Wörterverzeichnisse, Indices, Löwen 1998 (Corpus scriptorum christianorum orientalium 569570 = Subsidia 97-98); vgl. auch Apocalypse Pseudo-Methodius/ An Alexandrian World Chronicle, ed. and transl. Benjamin Garstad, Cambridge MA. u.a. 2012; Adso von Montier-en-Der (Adso Dervensis), De ortu et tempore Antichristi necton et tractatus qui ab eo dependunt, ed. Daniel Verhelst, Turnhout 1976 (CCCM. 45).

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Der Spannungsbogen, der erzeugt wird, betrifft hingegen regelmäßig die Zeit zwischen dem Jetzt und dem Auftreten Antichrists, betrifft die Zukunft der Menschheit in der Zeit, in dieser Welt, die es zu verändern gilt. Man wusste, dass die Zeit gemessen war, doch je stärker darauf verwiesen wurde, dass das Ende nahe sei (etwa dass Figuren oder Ereignisse aus jenem festgelegten Endzeitszenario bereits in der Welt zu erkennen seien), desto größerer Druck konnte auf die gesellschaftlich und politisch Handelnden ausgeübt werden, desto dringlicher wurde es, die Welt tatsächlich zu einem besseren Platz zu machen, die Feinde zu vernichten, das Unrecht zu bekämpfen, das Leiden zu mindern. Zwar lässt sich das von Gott bestimmte Ende nicht ganz verhindern, doch der allmächtige Gott ist frei, es ggf. aufzuschieben – oder mit Alexander: Antichrist wird nicht kommen, bevor das Römische Reich nicht vernichtet ist (eine Anspielung auf die biblische Danielprophetie von den vier Weltreichen, und so müssen sich eben Papst und Kaiser bemühen, es nicht untergehen zu lassen!16 Mehr noch, und wichtiger: Was aus den Seelen der einzelnen Menschen vor dem Gericht und in aller Ewigkeit wird, ist keineswegs unabänderlich vorherbestimmt, es hängt maßgeblich von den Handlungen, Entscheidungen und vor allem der Glaubenstreue der Menschen zu Lebzeiten ab. Mit Alexander gesprochen: „Wenn es so kommt, wie es vorausgesagt worden ist, so ist es gut, die Zukunft (futura) vorauszuwissen, damit wir unser Tun danach richten und uns für die künftige Bedrängnis rüsten können“.17 Es gibt also gerade keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen, wenn einem jemand vor Augen hält, wie nahe das Ende sei. Und zwar gibt der Herr bekanntlich dem, dem er ein Amt gegeben hat, auch den Verstand dazu, es zu bewältigen – er hat ihm aber auch den freien Willen gegeben, es gut oder schlecht zu machen. Und da eher ein Kamel durchs Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt [Mk. 10, 25; Lk. 18,25, Mt. 19,24] – und damit auch ein Mächtiger, denn potens und pauper, mächtig und arm, kommen nur uns als Gegensatzpaar schief vor, nicht den mittelalterlichen Menschen18 – ist gerade der Mächtige aufgerufen, die Propheten zu hören (auch wenn alles Handeln noch keine Erlösung garantierte19).

16 Notitia Seculi c.20, ed. (wie Fn. 1), S.98/99 – Zum Problem der Allmacht Gottes vgl. z.B. für die Zeit nur kurz nach Alexander: Georg Dietlein, Macht und Allmacht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Eine philosophisch-theologische Untersuchung der Frage nach Allmacht und Freiheit, München 2008. 17 Notitia Seculi c.22, ed. (wie Fn. 1), S. 102-103. 18 Karl Bosl, Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum „Pauperismus“ des Hochmittelalters, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, Göttingen

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Alexander von Roes selbst – um bei dem einen Beispiel zu bleiben –, der der Menschheit ja noch gut zwei Jahrhunderte zubilligt, analysiert nicht allein seine Jetztzeit als ungeheure Ansammlung von einander jagenden Missgeschicken und Katastrophen, sondern er hat eine politische Botschaft. Denn wenn sich Prophetie an die Menschen richtet mit der dringlichen Aufforderung, vor dem Ende noch die Welt zu verbessern, dann kann sie eine zutiefst politische Sprache sein. Auch an zahlreichen anderen Beispielen der Zeit ließe sich wie an Alexander die Art der Argumentation und der Öffnung einer wenngleich letztendlich begrenzten hoffnungsvollen Zukunft in der Zeit verdeutlichen. Damit lässt sich in unserem Zusammenhang vorschlagen, prophetische Sprache auch als eine Sprache der Modernisierung aufzufassen, Endzeitprophezeiungen als einen wichtigen mittelalterlichen Ort zu begreifen, an dem wir nach Analysen unruhiger, beschleunigter Zeiten und nach Programmen für eine bessere Zukunft zu suchen haben.20 Es wurde schon eingangs anhand von Alexanders Datierung erneuter Mongolenangriffe deutlich: Die entscheidenden Ereignisse der Weltgeschichte hängen irgendwie mit dem Papsttum zusammen. Aber Alexander, Kleriker und zugleich Angehöriger des Heiligen Römischen Reiches, setzt keineswegs Hoffnung

1963, S. 60-87; wieder in ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München 1964, S. 106-134. 19 In Spannung zueinander stehen die paulinische Mahnung, dass Gott nicht nach Verdienst, sondern aus Erbarmen erlöse (Röm. 9, 15-16), und das Christuswort, dass die Gerechten an ihren Früchten zu erkennen seien (Matth. 7, 16); die theologische Diskussion war zu allen Zeiten rege und kann hier nicht aufgerollt werden. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass die Christen eine Chance sehen und entsprechend handeln konnten. 20 Dieser Zusammenhang zwischen eschatologischen Erklärungen und Beschleunigung ist für bestimmte Epochen immer wieder einmal beschrieben worden – so erst jüngst, um nur ein Beispiel zu nennen, von Thomas Kaufmann: „Ungeachtet dieser Kontinuitäten dominierte in der christlichen Türkenliteratur seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aber doch das Bewußtsein einer akzellerierenden Not, einer dramatischen, endzeitlichen Zuspitzung“ (Thomas Kaufmann, Aspekte christlicher Wahrnehmung der ‚türkischen Religion‘ im 15. und 16. Jahrhundert im Spiegel publizistischer Quellen, in: L. Grenzmann u.a. (Hg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Teil II: Kulturelle Konkretionen (Literatur, Mythographie, Wissenschaft und Kunst), Berlin u.a. 2012, S. 247-277 hier S. 258).

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auf das Papsttum. Nein, in seinen Augen sitzen gerade in Rom die Simonisten. Das wird nicht zuletzt klar an der Selbstbestätigung, die Alexander seiner prophetischen Analyse gibt, indem er zu einem weiteren traditionellen Bild der Zeitabläufe greift. „Man weiß, daß antike Denker auch eine Einteilung der Zeit nach sieben Jahres-Wochen kannten, das heißt in Perioden von neunundvierzig Jahren, so daß im fünfzigsten Jahr ein „Jubeljahr“ folgte … denn man glaubte, daß sich im Laufe von fünfzig Jahren das Gemeinwesen des römischen Reiches gänzlich zu wandeln pflegte. Wenn wir nun zurückblicken, so finden wir, daß seit der Zeit, als Friedrich II. im Jahre 1220 von Honorius III. gekrönt wurde und das Römische Reich machtvoll bestand, bis zum letztvergangenen Konzil, das Gregor X. leitete [Lyon 1274], etwa fünfzig Jahre vergangen sind. In diesem Zeitraum war das römische Kaisertum so entkräftet worden, daß man sich kaum noch daran erinnerte, und umgekehrt war das römische Papsttum an weltlicher und geistlicher Macht so gewachsen, daß ihm nicht nur das christliche Volk und die Kirchenfürsten zu Füßen lagen, sondern auch die reges mundi, die Könige der Welt, da die Juden, Griechen und Tartaren übereinstimmend dem römischen Papsttum die Weltherrschaft zuerkannten.21 Da nun das Kaisertum tiefer nicht mehr sinken kann, wenn es nicht gänzlich zunichte werden soll, und da das Papsttum kaum noch höher steigen kann, wenn es nicht geradezu seine apostolische Würde preisgeben und zur rein weltlichen Macht werden soll, so ist es, wenn die Dinge ihren üblichen und gebührlichen Gang gehen, wahrscheinlich, daß das Papsttum vom Gipfel wieder zur Tiefe herabsteigt und das Kaisertum aus der Tiefe wieder zur Höhe emporsteigen wird. Das findet sich auch vorgezeichnet im Schicksal jener beiden Häupter der Welt, Gregors X. und Rudolfs I. […]“22 Wie auf dem antiken Rad der Fortuna23 also bewegen sich die Mächte der Welt auf und ab, in Kombination mit der eschatologischen Prophetie allerdings

21 Dies bezieht sich wiederum auf das zweite Konzil von Lyon 1274, auf dem nicht allein eine Griechenunion zustandekam, sondern auch berichtet wurde, dass sich eine mongolische Gesandtschaft habe taufen lassen. Zur eschatologischen Einordnung von Alexanders Konzils-Interpretation vgl. Felicitas Schmieder, Nota sectam maometicam atterendam a tartaris et christianis – The Mongols as non-believing apocalyptic friends around the year 1260?, in: Journal of Millenial Studies 1, 1 (1998) http://www.mille.org/publications/summer98/summer98.html. 22 Notitia Seculi c.8, ed. (wie Fn. 1), S. 76-77. 23 Siebert, Anne Viola, Fortuna und ihr Rad. Die Bedeutung eines antiken Symbols im Mittelalter, in: M. Fansa (Hg.), Der sassen speyghel. Sachsenspiegel – Recht – Alltag,

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eher in Form einer Schraube auf das Ende zu statt im endlosen Kreislauf. Und durch und durch eschatologisch formt Alexander auch diese Heranziehung eines antiken Kreislauf-Modells: Die Päpste haben den höchsten Punkt erreicht, als sie sogar von den Juden, den schismatischen Griechen und den heidnischen Tartaren auf dem Lyoneser Konzil als Herren der Welt anerkannt wurden, eine eschatologische Anspielung auf bestimmte Ereignisse, die für die Endzeit erwartet wurden. Diese Päpste, auf höchstem Gipfel weltlicher Macht, werden nun – endlich, so denkt Alexander – stürzen zurück in apostolische Bescheidenheit, die Kaiser wieder auf die ihnen gebührenden Höhen aufsteigen, wenn nun jener dritte Epochenwandel ansteht. Ganz untergehen nämlich kann das Römische Reich noch nicht: Alexander zitiert wie gesagt an anderer Stelle die in seiner Zeit wohlbekannte Tatsache, dass das Römische Reich als viertes Weltreich der Weltgeschichte auch das letzte sein wird, das aber bis zum Ende bestehen bleibt24 – und man befindet sich ja erst im Jahrhundert X. Hoffnung in Zeiten der Krise und des immer schneller herankommenden Wandels – doch weitere Bedrohungen kommen (man erinnere sich an das Anfangszitat) von außen: Neben der Nordsee sind es Mongolen und marokkanische Muslime, und sind es die verräterischen griechischen Christen. Sie kommen von allen Seiten: aus dem Norden, dem Osten, dem Südosten und Südwesten … und sie bedrängen das, was es zu verteidigen gilt: Die eigentliche, die wahre Christenheit, die Alexander aber nicht – wie es die Päpste seiner Zeit tun – als christianitas bezeichnet. Nein, das politische Wir, das angegriffen wird und das es zu verteidigen gilt, nennt er Europa. Dieses Europa, gelenkt vom Kaiser, besteht aus vier hauptsächlichen Reichen (regna principalia), dem regnum Romanorum im Süden, dem regnum Francorum im Norden, dem regnum Hispanorum im Westen und dem regnum Grecorum im Osten.25 Gerade letzteres erscheint Alexander bedroht: Die Griechen gehören eigentlich zur wahren Christenheit, sind aber abgefallen. Jener Michael Palaiologos, der magnus usurpator, ist der byzantinische Kaiser, der das 1204 in Konstantinopel errichtete Lateinische Kaiserreich 1261 zurückerobert und 1274 eine zu Hause nie akzeptierte Kirchenunion geschlossen hatte, die bald wieder zerbrach26: für Alexander ein massiver Schlag gegen die Einigkeit Europas.

Bd. 2: Beiträge und Katalog zur Ausstellung Aus dem Leben gegriffen – ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit, Oldenburg 1995, S. 91-96. 24 Notitia Seculi c.19, ed. (wie Fn. 1), S. 96-97. Bezug genommen ist auf eine Prophezeiung des alttestamentlichen Propheten Daniel (2, 31-45). 25 Zu den vier Teilen Europas vgl. Notitia Seculi c.9, ed. (wie Fn. 1), S. 78-79. 26 Vgl. Fn. 5.

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Alexander schließt anders als andere Zeitgenossen27 das Abweichende und das Fremde aus in einer Zeit, in der Nachrichten aus Asien mehr und mehr gerade die Durchgangslandschaft Köln erreichten: Er überlässt es anderen, über Afrika und Asien zu reden, so sagt er28, und das heißt, er hält diese Gebiete jenseits der Grenzen Europas nicht für relevant. Er will, dass diejenigen, die zu Europa gehören, zusammenrücken. Möglicherweise geht man nicht zu weit, wenn man unterstellt, er schreibe nicht nur gegen ein Papsttum als Hort der Simonie an, sondern auch gegen ein Papsttum, das Weltmission betreibt. Die Welt ist größer und bedrohlicher geworden, und dagegen gilt es sich auf Europa zu besinnen, Europa wiederherzustellen und zu stärken. Zu einem gewissen Grad ist das eine Antizipation einer „Europa“-Idee, wie sie im 15. Jahrhundert im Angesicht der Osmanen Allgemeingut werden sollte.29 Bis hierher ist Alexanders Notitia Seculi in vielem typisch für andere prophetische Texte – doch zugleich wurde sie in der Forschung meist eher als Schrift der politischen Theorie, als Streitschrift eingeordnet. Dies aber zeigt gerade die Nähe der Genera zueinander, die moderne Wissenschaft, nicht zeitgenössische Wahrnehmung trennen. Im gegebenen eschatologischen Rahmen bewegte sich planerisches Handeln in der fraglichen Zeit ebenso wie Krisenbewältigung des Einzelnen, sozialer Gruppen oder der Gesamtgesellschaft, war gegeben. Das eschatologische Argument, das uns heute eher theologisch oder randständig erscheint, lag dementsprechend ebenso nahe wie jedes andere, das uns heute genuin politisch vorkommt. Neue Visionen oder aber Interpretationen von früherer, durch ihr Eintreffen zusätzlich autorisierter Prophetie halfen sich zu orientieren: Auch diese beiden – Visionen und ihre Interpretationen – aufzuspalten in unterschiedliche literarische Genera ist wenig hilfreich, weil viele der interpretierten Prophetien vom Interpreten selbst verfasst worden sein können, der ihnen hohes Alter und damit höhere Glaubwürdigkeit verleihen wollte. Prophetien wurden mit einer diesseitigen Agenda geschrieben, doch das heißt nicht, dass sie beliebig gewesen wären: Ihre Autorität zogen sie aus dem Wissen ihres Publikums ebenso wie ihrer Autoren um das göttliche Eingreifen in der Welt und ebenso aus der Tatsache, dass es laut dem Apostel Paulus in jeder Gemeinde auch Propheten

27 Vgl. Felicitas Schmieder, Der mongolische Augenblick in der Weltgeschichte oder: Als Europa aus der Wiege wuchs, in: Produktive Kulturkonflikte, hg. von ders. = Das Mittelalter 10/2 (2005), S. 63-73. 28 Notitia Seculi c.4, ed. (wie Fn. 1), S. 70-71. 29 Locus classicus ist hier der Humanistenpapst Enea Silvio Piccolomini/ Pius II., vgl. die kommentierte Übersetzung G. Frank/ P. Metzger/ A. Hartmann (Hg.), Enea Silvio Piccolomini. Europa, Heidelberg 2005.

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geben musste, Menschen also, die Gott begnadet hatte, seine Zeichen zu lesen und seine Stimme zu sein.30 Mit dieser Gabe aber spielte man nicht – sie verlor auch nicht an Gewicht, wenn der Mensch, der der Prophet ja auch war, irrte. Es gab ein breites Spektrum an prophetischen Äußerungsformen – oft waren sie viel kryptischer als Alexander von Roes31, und auch andere Themen wurden aufgegriffen: Soziale Ungerechtigkeit und protonationalistische Hetze32 konnten dabei sein, Durchhalteparolen im Krieg und Hoffnungen auf eine neue, eine bessere Menschheit. Immer entstanden sie aus und bewegten sie sich in Zeiten der Ängste, die sie befeuern, die sie aber auch zu dämpfen versuchen konnten. Sie konnten soziale Missstände ebenso anprangern wie persönliche Verfehlungen bestimmter Personen. Mit alldem konnte Stimmung erzeugt werden, die die Mächtigen der Welt unter Zugzwang setzte. Sie redeten einer Modernisierung das Wort in dem Sinne, dass sie einen festgestellten beschleunigten Wandel aufgriffen, um sie (die Modernisierung) zu bestätigen und weiterzutreiben, oder das Ruder herumzureißen zu einer besseren Zukunft, die zu gestalten jetzt die Gelegenheit war, die in Angriff zu nehmen aber auch gerade jetzt bitter nottat – während die Chance zu verpassen größtes Unheil versprach. Insofern kann man, so meine ich, das Genus eschatologischen prophetischen Schrifttums des Mittelalters als Sprachrohr alternativer Modernisierungsprozesse sehen. Weniger klar ist, ob es eher in die Kategorie Modernekritik oder Modernepropaganda sortiert werden sollte, ja, ob die Anwendung dieser Sortierung sinnvoll wäre: Denn die Zeichen der Zeit werden dann erkannt, wenn sich rasch alles ändert und dies beängstigend wirkt – zugleich aber soll es ja voran gehen, soll sich noch mehr ändern, auch wenn das meist eher als ein Zurück zum Richtigen formuliert wird.

30 1. Kor. 12,28 und Eph. 4, 11-12. 31 Ein schönes Beispiel einer auch zeitgenössisch stark interpretationsbedürftigen Prophetie aus dem 13. Jahrhundert ist die Sibylla Erithea Babylonica: Christian Jostmann, Prophetie an der Kurie des 13. Jahrhunderts, in: Endzeiten (wie Fn. 7), S. 215-229; vgl. ders., Sibilla Erithea Babilonica Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert [mit Edition], Hannover 2006. 32 Französischer Proto-Nationalismus bei Johannes von Rupescissa vgl. Felicitas Schmieder, Prophetische Propaganda in der Politik des 14. Jahrhunderts: Johannes von Rupescissa, in: Endzeiten (wie Fn. 7), S. 249-60; Deutschtum als endzeitliche Qualität dagegen bei Frances Courtney Kneupper, German Identity and Spiritual Reform at the End of Time: Eschatological Prophecy in Late Medieval Germany, Diss. phil. masch. Chicago 2011.

Moderne als Mode Ästhetik, Kommerz und Konsum in der frühen Neuzeit C HRISTOF J EGGLE

E INLEITUNG : M ODERNE O RDNUNGEN DER W IRTSCHAFTSGESCHICHTE Der Begriff der „Moderne“ hat zusammen mit seinen lateinischen Vorgängern im Lauf seines historischen Gebrauchs einen Bedeutungswandel durchlaufen, der bei historischen Untersuchungen zu Vorstellungen der „Moderne“ bzw. des „Modernen“ berücksichtigt werden muss – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Verwendung des Begriffs mit sich verändernden Ordnungsvorstellungen der historischen Epochen und deren Bewertung verbunden war und zum Teil auch noch ist. Nachdem dieser historische Bedeutungswandel bereits Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen war, bildet er nun den Rahmen für einige Überlegungen, wie die Umbrüche hin zu jeweils „modernen“ Zeitordnungen mit Prozessen verbunden werden können, die in den letzten 30 Jahren in der Wirtschaftsgeschichte zunehmend Aufmerksamkeit gefunden haben.1

1

Zur Begriffsgeschichte der Moderne Hans Robert Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: Ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970, S. 11-57; Ders., Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ,Querelle des Anciens et Modernes‘, in: Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, Faksimile-Druck der Ausgabe Paris 1688-1697, München 1964, S. 8-64; Ders., Antiqui/moderni (Querelle des Anciens et des Modernes), in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 410-414; Hans-Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: O. Brunner / W. Conze / R. Kosseleck (Hg.), Geschichtliche

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Die Darstellungen der Wirtschaftsgeschichte sind stark geprägt von den historischen Ordnungsvorstellungen „der Moderne“, wie sie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt haben. In dieser Zeit kam die Vorstellung einer Epoche der Moderne auf, die sich im Streben nach gesellschaftlichem Fortschritt auf die Zukunft orientierte. Die bis dahin zirkulär gedachten Konzepte von jeweils aufeinanderfolgenden Modernen wurden von der Vorstellung einer linearen Entwicklung der Moderne als Konzept zur Beschreibung gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen, als einer von Menschen gestalteten, auf die Zukunft gerichteten Erfolgsgeschichte, die sich von ihrer Vorgeschichte absetzt, abgelöst. Zyklische Konzepte von gesellschaftlicher Ordnung und Ästhetik wurden dabei historisiert und in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Die neue historische Ordnung setzte sich vom Gegenpol einer „traditionellen Vormoderne“ ab.2 Historiographisch führte diese Vorstellung zu teleologisch-linearen Narrativen einer auf die Moderne gerichteten Fortschrittsgeschichte, die einen Bruch zwischen „moderner“ und „vormoderner“ Zeit um 1800 postulierte, der sich politisch in der Französischen und wirtschaftlich in der Industriellen Revolution manifestierte. Adam Smiths „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ von 1776 gilt als Umbruch und Grundlage der „modernen“ klassischen Wirtschaftstheorie.3 In der Wirtschaftsgeschichtsschreibung sind bis heute Narrative linearer Modernisierungen verbreitet, wobei die Rezeption von Karl Polanyi zu einem nachhaltig etablierten Wahrnehmungsmuster führte, das von einer „traditionellen Vormoderne“, die von einfachen Formen der Personenbeziehungen geprägt war und der marktwirtschaftliche Wirtschaftspraktiken abgesprochen werden, und einer sich um 1800 revolutionär etablierenden „modernen“ kapitalistischen

Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131; Jochen Schlobach, Anciens et Modernes (Querelle), in: M. Delon (Hg.), Dictionnaire Européen des Lumières, Paris 1997, S. 75-79; Cornelia Klinger, Modern, Moderne, Modernismus, in: K. Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart 2002, S. 121167; Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013. 2

Assmann, Zeit (wie Fn. 1), S. 131-207.

3

Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Roy H. Campbell / Andrew S. Skinner, 2 Bde., Oxford 1979.

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Marktwirtschaft ausgeht.4 Die Suche nach Vorläufern der modernen bürgerlich kapitalistischen Wirtschaft prägte lange die Forschungsschwerpunkte und Relevanzkriterien.5 So folgt ein Masternarrativ der teleologischen Abfolge von jeweils dominierenden Handelsmetropolen – norditalienische Stadtrepubliken, Brügge, Antwerpen, Amsterdam, London – wobei Lyon und Paris geflissentlich ausgelassen werden und alle anderen Ökonomien – und damit praktisch das gesamte Heilige Römische Reich – als peripheres Hinterland betrachtet werden.6 Die Fokussierung der Wirtschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts auf die Republik der Niederlande sowie auf den anschließenden Aufstieg Englands hat zu einem vergleichsweise geringen Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung des europäischen Kontinents und Südeuropas und zu deren Unterschätzung für die gesamteuropäische Entwicklung geführt.7 Ebenso wenig wurde beispielsweise das Diktum von Werner Sombart hinterfragt, dass doppelte Buchführung per se

4

Karl Polanyi, The Great Transformation, New York 1944; K. Polanyi/C. W. Arensberg/H. W. Pearson (Hg.), Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory, Glencoe 1957. Polanyi hat diese Unterscheidung nicht neu eingeführt, sondern wohl eher von den Wirtschaftsstufentheorien der Historischen Schule der Nationalökonomie übernommen. Er wird insbesondere in neueren sozialwissenschaftlichen Arbeiten als Referenz für den Gegensatz einer modernen und einer traditionellen Wirtschaftsweise herangezogen, ohne diese zu hinterfragen. Dabei besteht Polanyis Verdienst vor allem darin, Studien angeregt zu haben, die sich auf die Sozialität des Wirtschaftens richten.

5

So wurden die Handelsgesellschaften des 16. Jahrhunderts zu Vorläufern der Unternehmer des 19. Jahrhunderts stilisiert, vgl. Richard Ehrenberg, Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Kreditverkehr im 16. Jahrhundert, 2 Bde., Jena 1896 und Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München 1913; Ders., Der moderne Kapitalismus, 2 Bde., Leipzig 1902, wo Sombart den Begriff „Frühkapitalismus“ prägte, während das 17. Jahrhundert lange Zeit als Krisenzeitalter wenig Aufmerksamkeit fand und das 18. Jahrhundert eher unter dem Gesichtspunkt staatlicher Wirtschaftspolitik betrachtet wurde.

6

Ein besonders prägnantes Beispiel sind die Arbeiten von Immanuel Wallerstein, The Modern World System, 1. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York 1974, 2. Mercantilism and the consolidation of the European world-economy, 1600-1750, New York 1980.

7

Für Italien vgl. die Neubewertung der Venezianischen Wirtschaft in P. Lanaro (Hg.), At the Centre of the Old World. Trade and Manufacturing in Venice and on the Venetian Mainland, 1400-1800, Toronto 2006. Für die deutschen Territorien fehlen neuere Überblicke und Neubewertungen.

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ein Modernitätsindikator der kaufmännischen Betriebsführung sei.8 Ähnliches gilt für die Geschichte des Konsums, bei der insbesondere deutsche Darstellungen zur Konsumgeschichte „der Moderne“ des 19./20. Jahrhunderts von einem grundlegenden Umbruch um 1800 ausgehen und „vormodernen“ Konsum als wenig entwickelt betrachten, während in der angelsächsischen Historiographie die Konsumgeschichte zu einem Element der Fortschrittsgeschichte hin zur Moderne wurde.9 Hier werden zugleich zwei mögliche Varianten des historischen Narrativs sichtbar: einerseits der Umbruch, der historische Entwicklungen ganz auf das moderne Zeitalter fokussiert und der vormodernen Geschichte entweder geringe Bedeutung zuweist oder deren Alterität betont und andererseits die vormoderne Vorgeschichte, die zur Entwicklung „der Moderne“ beigetragen hat.10 Obwohl dieses Geschichtsbild „der Moderne“ schon lange hinterfragt wird und als gesellschaftlich dominierendes Konzept seine Bedeutung verloren hat, sind dessen Vorstellungen gerade in den Sozialwissenschaften, die sich nach wie vor stark auf die klassischen Autoren „der Moderne“ wie Max Weber oder Karl Polanyi beziehen, und in Teilen der Geschichtswissenschaft immer noch verankert.11 Erst langsam wird die weit reichende Prägung des Zeitregimes der Moderne auf die Wahrnehmung, aber auch als Triebkraft gesellschaftlicher Ent-

8

Die These Sombarts wird gerne in Überblicken referiert. Dabei wird übersehen, dass doppelseitige Buchführung nicht unbedingt einer doppelten Buchführung im heutigen Sinn dienen muss, sondern die Art der Buchhaltung von der Unternehmensorganisation abhängt. Zur Kritik an Sombart vgl. Basil S. Yamey, Essays on the History of Accounting, New York 1978.

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Vgl. zum Beispiel M. Prinz (Hg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003; zur Kritik vgl. Frank Trentmann, Beyond Consumerism: New Historical Perspectives on Consumption, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 373-401. Die im internationalen Vergleich wenig entwickelte frühneuzeitliche Konsumgeschichte Deutschlands ist allerdings nicht zwangsläufig eine Folge des postulierten Umbruchs, eine fundierte Neubewertung ist beim gegenwärtigen Forschungsstand jedoch nur teilweise möglich.

10 Daneben ist der weitgehend unreflektierte Gebrauch des Adjektivs „vormodern“ weit verbreitet. 11 Siehe zum Beispiel Patrik Aspers, How Are Markets Made?, MPIfG Working Paper 09/2, Köln 2009, S. 9-12. Zur Kritik siehe zum Beispiel Margaret R. Somers / Gloria D. Gibson, Reclaiming the Epistomological „Other“: Narrative and the Social Construction of Identity, in: C. Calhoun (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, Cambridge, MA 1994, S. 37-99, 45-47.

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wicklungen deutlich. Zugleich werden neue Zeitregimes sichtbar, die jedoch in der „postmodernen“ Pluralität gesellschaftlicher Deutungen keine Grundsatzdebatten einer gesamtgesellschaftlichen Orientierung mehr auslösen.12 Im Sinne einer Historisierung von historischen Ordnungsvorstellungen, die auf die Begrifflichkeit der Moderne bezogen werden, ist es das Ziel des Beitrags, zeitgenössische Vorstellungen von ‚Moderne‘ hinsichtlich des heuristischen Potentials zum Verständnis der Beziehungen zwischen der jeweiligen ästhetischen Moderne und wirtschaftlichen Entwicklungen der frühen Neuzeit zu untersuchen. Damit wendet sich die folgende Untersuchung jenen zirkulären Modellen der Moderne(n) zu, die das lineare Modell später abgelöst hat. Obwohl Werner Sombart bereits 1913 den Luxus als Antriebsmoment der kapitalistischen Entwicklung hervorgehoben hatte, galt die Erforschung von Luxus als ökonomischer Faktor bis in die 1970er Jahre als erklärungsbedürftig,13 hat sich seither eine Forschungsrichtung entwickelt, die sich mit der Entstehung des Konsums und der Konsumgüter befasst und dabei deren Anfänge in den norditalienischen Stadtrepubliken des 13. Jahrhunderts sieht.14 Während der Konsum populärer Gebrauchsgüter bei diesen Forschungen keine große Bedeutung hat, richtet sich das Interesse vielmehr auf die zunehmenden Investitionen gesellschaftlicher Eliten in Gebäude, Kunstwerke und hochwertiges Kunsthandwerk.15 Diese Investitionen waren mit der humanistischen Rezeption antiker Tugendvorstellungen verbunden, waren also Teil einer materiellen Repräsentation

12 Vgl. dazu zum Beispiel Assmann, Zeit (wie Fn. 1). 13 Werner Sombart, Luxus und Kapitalismus, München u.a. 1913. Eine zweite Auflage erschien 1922 und wurde in verschiedenen Ausgaben nachgedruckt. Sombart hatte allerdings auch die Verschwendung betont und diese vor allem den Frauen zugeschrieben. Aus ökonomischer Sicht dürfte das Thema damit als Beispiel einer besonders ineffizienten Wirtschaft und damit wenig zukunftsorientiert erschienen sein. Zur Bewertung in den 1970er Jahren vgl. die Bemerkung von Michael Stürmer, Handwerk und höfische Kultur. Europäische Möbelkunst im 18. Jahrhundert, München 1982, S. 9, er habe „mehr Verständnis für dieses Buch [gefunden], als bei einem so frivolen Gegenstand wie dem Luxus im 18. Jahrhundert an vielen Hohen Schulen Deutschlands es heute zu erwarten wäre.“ 14 Grundlegend dazu Richard A. Goldthwaite, Wealth and the Demand for Art in Italy, 1300-1600, Baltimore 1993. 15 Evelyn Welch, Shopping in the Renaissance. Consumer Cultures in Italy 1400-1600, New Haven 2005.

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eines auf die Antike bezogenen Geschichtsbildes.16 In einer zweiten Phase, die mit dem 17. Jahrhundert einsetzte, wurden von zeitgenössischen Autoren der politischen Ökonomie Luxuswaren als Wirtschaftsgut betrachtet, das gemessen am Bedarf der Grundversorgung überflüssig sei und sich deshalb gut zum Export eigne. Hintergrund dieser Überlegungen war die Ausstrahlung des französischen Hofes Ludwig XIV. und der ostentative Luxuswarenkonsum der höfischen Gesellschaft, die eine große Nachfrage nach Pariser Luxuswaren an den europäischen Höfen auslöste. Da insbesondere für die deutschen Höfe mit ihren oft kleinen, wirtschaftlich nur begrenzt leistungsfähigen Territorien ein dem Pariser Hof vergleichbarer Luxus ruinös und auch gegenüber der Bevölkerung im Sinne einer vorbildlichen tugendhaften Sparsamkeit fragwürdig gewesen wäre, wurde die Ansiedlung entsprechender gewerblicher Produktionen im eigenen Territorium gefördert.17 Im 18. Jahrhundert weitete sich der Konsum von Luxuswaren generell aus und war eher auf eine gegenwartsbezogene Bequemlichkeit bürgerlichen Lebens gerichtet als auf eine tugendhafte Rezeption der Antike.18 Diese derzeit in der Forschung etablierten Phasen der Geschichte des Konsums von Luxuswaren korrespondierten zeitlich mit zwei Phasen von Ordnungsvorstellungen, die mit zeitgenössischen Begriffen der Moderne verbunden werden. Im Rahmen der spätmittelalterlichen Debatten über antiqui und moderni setzte sich die humanistische Vorstellung der Wiedergeburt der Antike als Kennzeichen eines modernen Zeitalters durch, während das Mittelalter als dunkle Zeit des Übergangs betrachtet wurde.19 Ein zweiter Umbruch wurde dann von Charles Perrault eingeleitet, der 1687 die Gleichwertigkeit des gegenwärtigen Siècle de Louis le Grand postulierte und eröffnete damit die Querelles des anciens et modernes, die nach 20 Jahren zu der Ansicht führten, dass keine Epoche absolute, überzeitliche Vorbildhaftigkeit beanspruchen könne, sondern dass es neben zeit-

16 Vgl. zum Beispiel M. Ajmar Wollheim / F. Dennis (Hg.), At Home in Renaissance Italy, London 2006; James R. Lindow, The Renaissance Palace in Florence. Magnificence and Splendour in Fifteenth-Century Italy, Aldershot 2007. 17 Torsten Meyer, Zwischen sozialer Restriktion und ökonomischer Notwendigkeit. »Konsum« in ökonomischen Texten der Frühen Neuzeit, in: R. Reith / Ders. (Hg.), „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung, Münster 2003, S. 61–82. 18 John E. Crowley, The Sensibility of Comfort, in: The American Historical Review 104 (1999), S. 749–782; MEYER, „Konsum“ (wie Fn. 17), S. 77–81. 19 Jauß, Literarische Tradition (wie Fn. 1), S. 23–29; Gumbrecht, Modern (wie Fn. 1), S. 98f.

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los Schönem auch zeitlich bedingte Schönheit gäbe.20 Die Frage nach möglichen Bezügen dieser Entwicklungen ist interessant, weil es im Fall der gelehrten Diskurse über das jeweils Moderne, um Fragen einer zeitgemäßen Ästhetik geht, die durch Ordnungen historischer Epochenbildungen strukturiert wird, während es beim Konsum von Luxuswaren in vielen Fällen um den Gebrauch von ästhetisch gestalteten Objekten geht. Dabei wird der zunehmende Genuss von Kolonialwaren wie Schokolade, Tee, Kaffee und Tabak ebenfalls von ästhetisch gestaltetem Gerät, das zum Konsum notwendig ist, wie Geschirr, Service, Tabaksdosen usw., zum Teil auch von neuen Lokalitäten wie dem Kaffeehaus begleitet.21 Als die Querelles des anciens et modernes im frühen 18. Jahrhundert zu Ende gingen, setzte mit der Veröffentlichung der Bienenfabel von Bernard de Mandeville eine Debatte zur Bewertung des Luxus ein. Hier stellt sich die Frage nach möglichen Zusammenhängen. Der Bezug zur der Ästhetik ist der Beobachtung geschuldet, dass der Begriff der Moderne in ästhetischen Debatten besonders präsent ist und begriffshistorische Studien bieten kaum andere Belege bieten. Die Vorstellungen der Ordnungen geschichtlicher Abläufe sind bis in „die Moderne“ des 19. und 20. Jahrhunderts eng mit ästhetischen und künstlerischen Programmen der jeweiligen Zeit verknüpft, deren materielle Umsetzung wiederum mit wirtschaftlichen Entwicklungen verbunden ist.22

ANTIQUI

UND

M ODERNI

IM

S PÄTMITTELALTER

Das Verhältnis von antiqui und moderni wurde im Mittelalter in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet, um zeitliche Prozesse und kulturelle Umbrüche zu reflektieren. Bis heute hat sich das von Bernhard von Chartres im 12. Jahrhundert entworfene Bild gehalten, dass die moderni als Zwerge auf den Schultern der antiqui stünden und deshalb weiter als diese schauen könnten.23 Während dieses Bild impliziert, dass die gegenwärtige Epoche auf der vorherge-

20 Jauß, Literarische Tradition (wie Fn. 1), S. 29–35; siehe auch Ders., Ästhetische Normen (wie Fn. 1); Schlobach, Anciens et Moderns (wie Fn. 1); Klinger, Modern (wie Fn. 1), S. 125–129. 21 Vgl. Annerose Menninger, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), 2. Aufl. Stuttgart 2008. 22 Vgl. auch Klinger, Moderne (wie Fn. 1), S. 125, die Modernisierungsschwellen nach 1500 durch Überschneidungen von wissenschaftlich-technologischen und politischgesellschaftlichen Innovationen charakterisiert sieht. 23 Jauß, Literarische Tradition (wie Fn. 1), S. 20.

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henden aufbaut, kommt es seit dem 13. Jahrhundert zum Bruch mit den Vorstellungen einer kontinuierlichen Abfolge der Epochen. Die Humanisten betonten die Antithese der antiqui und der moderni und sahen ihre Vergangenheit nicht mehr im später so genannten Mittelalter, das sie als eine Zeit der Finsternis empfanden. Sie entwickelten ein neues Verständnis der antiquitas der griechischen und römischen Autoren. Petrarca formulierte die Hoffnung, dass das Licht der antiken Kultur nach einer Überwindung des Dunkels in einer besseren Zukunft wieder neu und rein erstrahlen könne.24 Es wurde das Bewusstsein eines Abstandes zwischen der Antike und der eigenen Gegenwart geschaffen. Dieser Abstand wurde im Bereich der Künste als eine Distanz zum Vollkommenen wahrgenommen und führte zu einem neuen Verhältnis von imitatio, Nachahmung, und der aemulatio, dem Überbieten der Vorbilder.25 Fast 150 Jahre später sah Ficino seine Epoche als eine Wiederkehr eines goldenen Zeitalters, das die fast schon erloschenen freien Künste wieder ins Licht zurückgeführt hat.26 Diese Veränderungen fanden nicht nur in der Wahrnehmung zeitgenössischer Gelehrter statt, sondern auch in der Herstellung und im Konsum von künstlerisch gestalteten Produkten bzw. von Kunstwerken. In einer Serie von Beiträgen stellte Richard A. Goldthwaite die These auf, dass die Eliten der norditalienischen Stadtrepubliken zunehmend in Kunstwerke und hochwertiges Kunsthandwerk investierten und damit wiederum deren Produktion förderten.27 In diesem Luxuskonsum werden aus Sicht einiger Autoren erste Grundlagen für den Warenkonsum gelegt.28 Allerdings ging es hier erst

24 Ebd., S. 27. 25 Ebd., S. 26. 26 Ebd., S. 28. 27 Richard A. Goldthwaite, Wealth and the Demand for Art in Italy, 1300–1600, Baltimore u.a. 1993; vgl. auch Ders., The Renaissance Economy: The Preconditions for Luxury Consumption, in: Aspetti della vita economica medievale. Atti del Convegno di Studi nel X Anniversario della morte di Federigo Melis, Firenze – Pisa – Prato, 10– 14 marzo 1984, Firenze 1985, S. 659–675, erneut in: I Tatti Studies 2 (1987), S. 15– 39; Ders., The Empire of Things. Consumer Demand in Renaissance Italy, in: Francis W. Kent / Patricia Simons (Hg.), Patronage, Art, and Society in Renaissance Italy, Oxford 1987, S. 153–175. 28 Welch, Shopping (wie Fn. 15); vgl. dazu Bruno Blondé, Shoppen met Isabella d’Este. De Italiaanse renaissance als bakermat van de consumptiesamenleving?, in: Stadsgeschiedenis 2 (2007), S. 139–151; Franco Franceschi / Luca Mola, L’economia del Rinascimento: dalle teorie della crisi alla ,preistoriadel consumismo, in: M. Fantoni (Hg.), Il Rinascimento italiano e l’Europa, Bd. 1, Storia e storiagrafia,, Treviso 2005,

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einmal um die praktische Etablierung der Produktion und Distribution von hochwertigen Qualitätsprodukten. In dieser Entwicklung manifestierte sich die Rezeption der Antike auf zwei Ebenen: Objekte, denen ein antiker Ursprung zugeschrieben wurde, waren sehr begehrt und die Gestaltung neuer Kunst- und Bauwerke orientierte sich teilweise an antiken Vorbildern. Ausgehend von antiken Autoren wurde diese Entwicklung von Diskursen zum moralischen Umgang mit Reichtum begleitet.29 Dabei bildeten Überlegungen im vierten Buch der Nikomachischen Ethik eine wesentliche Grundlage, in denen Aristoteles Freigiebigkeit (liberalitas) als tugendhaften Umgang mit Vermögen beschrieb, der zwischen Habsucht und Verschwendung angesiedelt ist. Dementsprechend ist die Angemessenheit des Aufwands vom gesellschaftlichen Rang abhängig, wobei es tugendhafter ist, dasjenige zu geben, was man zu geben hat, als zu nehmen, was einem zusteht. Die Großzügigkeit (magnificentia) besteht darin, große, angemessene Ausgaben zu tätigen und dabei weder falschen Pomp noch übermäßige Sparsamkeit zu treiben. Die Ausgaben sind eine soziale Verpflichtung, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind und der moralischen Schönheit dienen sollten.30 Mit zunehmender Rezeption von Aristoteles wurden vom 15. Jahrhundert an ethische Reflexionen zur magnificentia angestellt, die sich zuerst vor allem auf architektonische Werke bezogen.31 War die magnificentia auf dauerhafte Werke und besondere Anlässe bezogen, so wurde sie im frühen 16. Jahrhundert durch splendor ergänzt, der in häuslicher Dekoration, Körperschmuck, Möblierungen und vielen anderen Dingen zum Ausdruck kam.32 Für den glanzvollen Menschen gab es keine überflüssigen Güter mehr, sondern nur noch splendor, womit der Objektbesitz als Tugend betrachtet werden konnte. Eine bedeutende Persönlich-

S. 185–200; Mathieu Arnoux, Nascita di un’economia del consumo?, in: P. Braunstein / L. Molà (Hg.), Il Rinascimento italiano e l’europa, Bd. 3, Produzione e techniche, Treviso 2007, S. 35–57. 29 Guido Guerzoni, Liberalitas, Magnificentia, Splendor: The Classic Origins of Italian Renaissance Lifestyles, in: N. De Marchi / C. D. W. Goodwin (Hg.), Economic Engagements with Art, Durham u.a. 1999, S. 332–378, hier 360, siehe auch Ders., Apollo e Vulcano. I mercati artistici in Italia (1400–1700), Venedig 2006, S. 105–131. 30 Guerzoni, Liberalitas (wie Fn. 29), S. 340–346. 31 Ebd., S. 357. 32 Guerzoni, Appollo (wie Fn. 29), S. 124–126; James R. Lindow, The Renaissance Palace in Florence. Magnificence and Splendour in Fifteenth-Century Italy, Aldershot 2007.

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keit musste sich stets mit außergewöhnlichen Objekten repräsentieren.33 Während die magnificentia ein Privileg der Wohlhabenden blieb, führte die Ausweitung auf den splendor zu einem permanenten Prozess der Nachahmung von Objekten, die eigentlich die soziale Distinktion und Distanz zu den niederen Schichten zum Ausdruck bringen sollten. Dieser Prozess der aemulatio löste einen ständigen Druck aus, neue Produkte einzuführen, um die Repräsentation der sozialen Distinktion wiederherzustellen.34 Wie neuere Forschungen zeigen, konnte die Nachahmung der aemulatio nicht nur als trickle-down Prozess ablaufen, sondern die Imitation von Objekten konnte in verschiedenen Richtungen innerhalb der sozialen Hierarchie stattfinden.35 Der Kreis potentieller Käufer nahm mit der zunehmenden Verflechtung der europäischen Wirtschaft seit dem späten 14. Jahrhundert, die auch vom Begehren nach Rohstoffen zur Herstellung von Luxuswaren und entsprechenden Produkten selbst angetrieben wurde, langsam zu. Neben den Adeligen und ihren Höfen sowie kirchlichen Kreisen dürften vor allem bürgerliche Eliten dazu beigetragen haben, denn die Expansion des europäischen Handels nach Übersee seit dem 15. Jahrhundert muss auch im Kontext des Begehrens nach Luxuswaren gesehen werden. Der verbesserte Zugang zu Gewürzen und anderen Produkten aus Asien gehörte zu den Antriebskräften zur Erkundung neuer Seewege.36 Bis ins 16. Jahrhundert hinein dürfte der Konsum von hochwertigen und damit vergleichsweise teuren Luxuswaren auf relativ kleine und entsprechend vermögen-

33 Vgl. Evelyn Welch, Public Magnificence and Private Display: Giovanni Pontano’s „De splendore“ (1498) and the Domestic Arts, in: Journal of Design History 15 (2002), S. 211–221, verweist darauf, dass das einschlägige Werk von Pontano De splendore vor allem als Teil der gelehrten Diskurse im Umfeld der zeitgenössischen Neapolitanischen Eliten gesehen werden sollte und weniger als eine Beschreibung der tatsächlicher Praktiken und Verhaltensformen. 34 Guerzoni, Liberalitas (wie Fn. 29), S. 358f., der hier auf Giovanni Pontano verweist. 35 Vgl. Veerle De Laet, Brussel Binnenkamers. Kunst- en luxebezit in het spannigsveld tussen hof en stad, 1600–1735, Amsterdam 2011; Bartolomé Yun Casallila, The History of Consumption of Early Modern Europe in a Trans-Atlantic Perspective. Some New Challenges in European Social History, in: V. Hyden-Hanscho / R. Pieper / W. Stagl (Hg.), Cultural Exchange and Consumption Patterns in the Age of Enlightenment. Europe and the Atlantic World, Bochum 2013, S. 25–40; Alida Clemente, Il lusso „cattivo“. Dinamiche del consumo nella Napoli del Settecento, Rom 2011, S. 14–16. 36 M. A. Denzel (Hg.), Gewürze: Produktion, Handel und Konsum in der Frühen Neuzeit, St. Katharinen 1999.

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de Kreise der gesellschaftlichen Eliten beschränkt gewesen sein. Doch selbst der Bedarf dieser kleinen Gruppe, die mit den Fernhandelskaufleuten auch aktiv an diesen Geschäften beteiligt war und von diesen profitierte, reichte als Antriebskraft zur Entwicklung eines wachsenden Sektors zur Produktion und Distribution von Luxuswaren aus.37 Bereits im Spätmittelalter entstanden die für Luxuswaren charakteristischen parallelen Produktionslinien einerseits für exklusive und in jeder Hinsicht hochwertige Produkte und andererseits für seriell produzierte, deren Gestaltung und Materialqualität vereinfacht waren. Dieser Luxuswarenkonsum ging sicherlich über die Rezeption der Antike hinaus, dennoch blieb diese in vieler Hinsicht stilbildend und als Ideal für humanistische Gelehrsamkeit auch darüber hinaus prägend.38 Der Florentiner Karnevalszug präsentierte 1513 den Triumph des Goldenen Zeitalters auf dem letzten Wagen mit dem Kommentar, dass wie der Phoenix aus der eigenen Asche aus Eisen ein goldenes Zeitalter geboren würde. Die Einrichtung von Sammlungen und studioli folgte der Rezeption antiker Tugenden und etablierte eine Kultur der ästhetischen Gestaltung und Ausstattung von Häusern und Wohnräumen. Im 16. Jahrhundert wurde die Erfindungsgabe, die inventio des Künstlers, diskutiert und die Vorstellung der gestalterischen Innovation etabliert.39 Damit löste diese als „modern“ betrachtete Kultur die skizzierte wirtschaftliche Dynamik mit aus,40

37 Vgl. H. Cools / M. Keblusek / B. Noldus (Hg.), Your Humble Servant. Agents in Early Modern Europe, Hilversum 2006; M. Keblusek / B. V. Noldus (Hg.), Double Agents. Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe, Leiden u.a. 2011; Mark Häberlein / Magdalena Bayreuther, Agent und Ambassador. Der Kaufmann Anton Meuting als Vermittler zwischen Bayern und Spanien im Zeitalter Philipps II., Augsburg 2013. 38 So war beispielsweise die Wahrnehmung des Fuggerfaktors Hans Dernschwam auf seiner Reise ins Osmanische Reich von der Suche nach Spuren der Antike geprägt, vgl. Christof Jeggle, Die fremde Welt des Feindes? Hans Dernschwams Bericht einer Reise nach Konstantinopel und Kleinasien 1553–1556, in: M. Kurz u.a. (Hg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Neuzeit. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Wien 22. bis 25. September 2004, Wien 2005, S. 413–426. 39 Maurice George Poirier, Studies on the Concept of Disegno, Invenzione, and Colore in Sixteenth and Seventeenth Century Art, Ann Arbor 1976, S. 14–24. 40 Richard Goldthwaite The Painting Industry in Early Modern Italy, in: R. E. Spear / P. Sohm (Hg.), Painting für Profit. The Economic Lifes of Seventeenth-Century Italian Painters, New Haven u.a. 2010, S. 276–301, hier 289, kommt aufgrund der Ausführungen von Vasari sogar zu dem Schluss, dass die Idee des „Wettbewerbs“ erstmals

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deren Wirkung langfristig anhielt, die jedoch im Lauf der frühen Neuzeit auch einige Modifikationen erfuhr.

N EUBEWERTUNGEN : ET DES M ODERNES

DIE

Q UERELLE

DES

ANCIENS

Im späten 16. Jahrhundert wurde in England begonnen, sich gezielt Kompetenzen zur Herstellung begehrter Güter anzueignen,41 und im 18. Jahrhundert wurden diese gewerblichen Produktionen massiv ausgebaut.42 Dabei setzte sich die Tendenz zur Herstellung günstiger Massenware durch, die dann im großen Stil exportiert wurde,43 während sich die Produktion auf dem Kontinent eher auf die Herstellung hochwertiger Produkte richtete. Die Republik der Niederlande entwickelte eine Kultur der bürgerlichen Repräsentation, die als Vorbild wirkte.44 Der französische Hof etablierte sich unter Ludwig XIV. als stilprägendes Zentrum für Mitteleuropa und löste eine große Nachfrage nach Pariser Luxuswaren bei den anderen europäischen Höfen aus.45

explizit als Konzept wirtschaftlicher Praxis in Vasaris Künstlerbiographien ausgeführt worden sei. 41 Joan Thirsk, Economic Policy and Projects. The Development of a Consumer Society in Early Modern England, Oxford 1978. 42 Zum diesem Thema hat Maxine Berg zahlreiche Beiträge veröffentlicht, siehe vor allem Maxine Berg, Luxury and Pleasure in Eighteenth Century Britain, Oxford 2005. 43 Maxine Berg, From Imitation to Invention: Creating Commodities in EighteenthCentury Britain, in: The Economic History Review, N. S. 55 (2002), S. 1–30. 44 Simon Schama, The Embarrasment of the Riches, New York 1987; Michael North, Kunst und Kommerz im goldenen Zeitalter. Zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln u.a. 2001. 45 Vgl. Ulrich-Christian Pallach, Materielle Kultur und Mentalitäten im 18. Jahrhundert. Wirtschaftliche Entwicklung und politisch-sozialer Funktionswandel des Luxus in Frankreich und im Alten Reich am Ende des Ancien Régime, München 1987; Cissie Fairchilds, The Production and Marketing of Populuxe Goods in Eighteenth-Century Paris, in: J. Brewer / R. Porter (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993, S. 228–248; Carolyn Sargentson, Merchants and Luxury Markets. The Marchands Merciers of Eighteenth-Century Paris u.a. 1996; Natacha Coquery, L’hôtel aristocratique. Le marché du luxe à Paris au XVIIIe siècle, Paris 1998; R. Fox / A. Turner (Hg.), Luxury Trades and Consumerism in Ancien Régime Paris, Aldershot 1998, S. Castelluccio (Hg.), Le commerce du luxe à Paris aux XVIIe et XVe siècles.

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Nach dem Dreißigjährigen Krieg standen die Obrigkeiten der deutschen Territorien vor der Aufgabe, die Wirtschaft wieder auf- bzw. auszubauen. Dabei verfolgten sie merkantilistische Wirtschaftspolitiken, die darauf zielten, Luxuswaren möglichst nicht zu importieren, sondern selbst herzustellen und eher zu exportieren. Damit war eine Neubewertung von „Luxus“ als Wirtschaftsgut verbunden, das dem Gemeinwohl dienen konnte. Die luxuriöse Prachtentfaltung des französischen Hofes wurde zwar mit Faszination verfolgt und, soweit möglich, auch nachgeahmt, aber sie war auch mit praktischen und moralischen Problemen verbunden. Während deutsche Kameralisten in ihren Schriften die consumptio interna als wesentliches Bindeglied zwischen den wirtschaftlichen Akteursgruppen der Bauern, Handwerker und Kaufleute sahen, die auch den fiskalischen Interessen der jeweiligen, in der Regel adeligen Herrschaft dienen würden, so bewerteten sie die Luxusökonomie des französischen Hofes als verschwenderisch. Daher konnte diese aus Sicht der Autoren kein Vorbild für deutsche Fürsten sein, denn aufgrund der ökonomischen Situation von deren meist kleinen Territorien hätte ein entsprechender Luxusaufwand diese durch Überschuldung wirtschaftlich ruiniert. Das allein wäre schon unter moralischen Gesichtspunkten problematisch gewesen, vielmehr aber sollte aus Sicht der Kameralisten das ökonomische Verhalten des Fürsten den Untertanen gegenüber hinsichtlich seiner moralischen Integrität vorbildlich sein. Daher orientierten sich die kameralistischen Autoren auch eher am Wohlstand der niederländischen Republik, den sie als mustergültig ansahen. Diese gelehrten Vorstellungen haben die Fürsten und andere Adelige nicht von größeren Investitionsprogrammen in neue repräsentative Objekte abgehalten, wie sie sich in den barocken Bauten und Kunstwerken materialisierten. Diese Investitionen waren mit dem Anspruch der Tugendhaftigkeit verbunden, der an die älteren Vorstellungen angemessener herrschaftlicher Repräsentation zugunsten des gemeinen Guten anknüpfte. Zugleich wurden sie aber auch bewusst als Investitionen in den Landesausbau betrachtet, die zum Aufschwung von gewerblicher Produktion und des Handels im eigenen Territorium

Échanges nationaux et internationaux, Frankfurt a. M. 2009. Zum Transfer an andere Höfe Corinne Thépaut-Cabasset, Diplomatische Agenten und der Luxuswarenhandel im späten 17. Jahrhundert, in: M. Häberlein / C. Jeggle (Hg.), Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2013, S. 157–174; Martin Pozsgai, Die Gesandten am französischen Hof als Kunstagenten. Daniel Cronström aus Schweden und Ernst-Ludwig Carl aus Brandenburg-Ansbach in: ebd. S. 175–192; Veronika Hyden-Hanscho, Reisende, Migranten, Kunstmanager. Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730, Stuttgart 2013.

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und damit zu besseren Fiskaleinkünften führen sollten.46 Während die Verbreitung von Luxuswaren bislang den Restriktionen der Aufwandsgesetze unterlegen hatte, führte die positive Neubewertung dazu, dass die Obrigkeiten die Restriktionen zumindest lockerten, um durch entsprechende Steuern vom Luxuskonsum zu profitieren.47 In zahlreichen Territorien wurden Anstrengungen unternommen, für begehrte Produkte eigene Hersteller anzusiedeln bzw. bei der Ausstattung des Hofes auf Anbieter aus dem eigenen Territorium zurückzugreifen. In der Praxis konnten diese Erwerbungen dann durchaus eher zufälligen Logiken folgen, dennoch siedelten sich im Umfeld von Höfen häufig spezialisierte Handwerker an, die eine eigene Ökonomie der Qualität entwickelten.48 In diesem Zusammenhang gewann die ästhetische Schulung von Handwerkern zur Verbesserung der Produktqualität und als Kompetenz zur Invention kunsthandwerklicher Produktgestaltung an Bedeutung. Diese Entwicklung hat John U. Nef insbesondere anhand des Beispiels der Niederlande in der These zusammengefasst, dass sich im Laufe des 17. Jahrhunderts eine neue „Ökonomie der Freude“ entwickelt habe, die sich auf Produktion, Vertrieb und Konsum qualitativ hochwertiger Güter richtete, die er auch als „Ökonomie der Qualität“ bezeichnete.49 Die von Charles Perrault auf einer Sitzung der Académie Française am 27. Januar 1687 mit dem Vortrag seines Gedichts Le Siècle de Louis le Grand ausgelöste Querelle des Anciens et des Modernes muss vor diesem Hintergrund gesehen werden.50 In dieser Auseinandersetzung, die von der historischen Bewer-

46 Meyer, Konsum (wie Fn. 17). 47 Vgl. Michael Stolleis, Luxusverbote und Luxussteuern in der frühen Neuzeit, in: Ders., Pecunia Nervus Rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1983, S. 9–61; zu den Verboten generell M. G. Muzzarelli / A. Campanini (Hg.), Disciplinare il lusso. Le legislazione suntuaria in Italia e in Europa tra Medioevo ed Età moderna, Rom 2003; Maria Giuseppina Muzzarelli, Reconciling the Priviledge of a Few with the Common Good: Sumptuary Laws in Medieval and Early Modern Europe, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 39 (2009), S. 597–617. 48 Vgl. Michael Stürmer, Handwerk und höfische Kultur. Europäische Möbelkunst im 18. Jahrhundert, München 1982. 49 John U. Nef, Cultural Foundations of Industrial Civilization, Cambridge 1958, S. 128–139. 50 Das Folgende nach Jauß, Literarische Tradition (wie Fn. 1), S. 29–32; zu Perrault vgl. auch Ders., Ästhetische Normen (wie Fn. 1); zur Querelle Gumbrecht, Modern (wie

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tung des französischen Klassizismus der Epoche Ludwigs XIV. ausging, stellten Les Modernes die überzeitliche Vorbildhaftigkeit der Antike in Frage. Perrault wandte sich unter anderem gegen das „Vorurteil“, dass Altertum und Neuzeit in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis stünden; vielmehr befand er, dass Römer und Griechen zu Unrecht als Les Anciens galten, da ihre Nachfahren die Kenntnisse ihrer Vorgänger beerben könnten und die gegenwärtigen Modernes am Gipfelpunkt aller bisherigen Erfahrungen der Menschheit stünden und mit dieser größeren Erfahrung dann auch die tatsächlichen Anciens seien. In Perraults Sicht hatte damit der Homme universel auch nach dem zyklischen Durchlaufen der anderen historischen Lebensalter das Greisenalter erreicht, mit der Aussicht, dass es nach dem Höhepunkt des Siècle de Louis XIV. auch wieder abwärts gehen könne. Mit dem Modell der Lebensalter setzte sich Perrault von der Heilsgeschichte ab. Er vertrat zudem die Auffassung, dass sowohl génie als auch die Kenntnis der Regeln der Kunst zum Gelingen eines Kunstwerks betrügen. Diese Regeln hätten gegenüber der Antike fortschreitend an Qualität und Quantität zugenommen und daher sei zu erwarten, dass die Modernes vollkommenere Werke schaffen könnten, wenn ein vergleichbares Maß an génie vorausgesetzt werden dürfe.51 Gut zwei Jahrzehnten der Debatte führten die Querelles zu der Ansicht, dass Künste und Wissenschaft getrennt zu betrachten seien, denn Wissenschaft kann Wissen akkumulieren und ist daher im Vergleich größer als in der Vergangenheit, während der wachsende Reichtum hingegen für die Kunst eher als Hindernis der Entwicklung gesehen wurde. Kunst sei weniger eine Angelegenheit des Wissens und der Regeln als des Gefühls. Künstlerisches Genie kann daher zu jeder Zeit auftreten und das ästhetische Urteil sei von ganz anderer Art als wissenschaftliches Wissen. Wissenschaft und Künste folgen demnach unterschiedlichen Ablaufgesetzen.52 Zudem wurde ein neues historisches Bewusstsein dahingehend entwickelt, als die Problematik, die die Modernes hinsichtlich der Nachfolge des erreichten Greisenalters der zyklischen Lebensalter aufgeworfen hatten, durch ein stärker von linearem Fortschritt geprägtes Konzept abgelöst wurde.53 Während die Anciens auf die Vorwürfe der Modernes, dass die antiken

Fn. 1), S. 99–101; Schlobach, Anciens (wie Fn. 1); Klinger, Modern (wie Fn. 1), S. 125–129. 51 Klinger, Modern (wie Fn. 1), S. 125; zu Begriff und Konzepten des Genies vgl. Eberhard Ortland, Genie, in: Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe (wie Fn. 1), Bd. 2, S. 661–709, hier 675–677. 52 Gumbrecht, Modern (wie Fn. 1), S. 101. 53 Klinger, Modern (wie Fn. 1), S. 127–129.

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Dichter häufig gegen die Regeln des guten Geschmacks verstoßen hätten, mit deren Historisierung reagierten und befanden, da andere Sitten geherrscht hätten, könnten die antiken Dichter nicht an den Maßstäben der Gegenwart gemessen werden. Beide Seiten konzedierten letztendlich, dass es neben dem zeitlos Schönen auch zeitbedingtes Schönes gäbe.54 Mit dieser Relativierung der Zeitalter verdiene jedes von ihnen – und damit auch das Mittelalter – das Interesse der Nachwelt, während die Einsicht in die Unwiederholbarkeit der Epochen jeden Versuch einer historisch rückwärtsgewandten Nachahmung disqualifizierte. Dieses neue Geschichtsverständnis setzte sich erst sukzessive im Lauf des 18. Jahrhunderts durch.

S CHLUSS : M ODERNE

ALS

M ODE

Trotz aller Distanzierungen in der Debatte blieb die Antike als wesentliche Grundlage in Kunst und Kultur präsent.55 Während die Überlegenheit des eigenen Zeitalters neben dem Herrscherlob für Ludwig XIV. vor allem mit Erkenntniszuwachs der Wissenschaften begründet wurde, boten Kunst und Kunsthandwerk zumindest implizit Anlass, über eine Neubewertung von deren Bedeutung nachzudenken. Während die Modernität während der Renaissancezeit im Bereich der Kunst sehr stark auf eine Rezeption der Antike gerichtet war, hatte sich die Situation um 1700 grundlegend geändert. Durch den Überseehandel und die arbeitsteilige Produktion zwischen Europa und Asien bei kunsthandwerklichen Produkten, Textilien und Porzellan hatten sich die Möglichkeiten der ästhetischen Gestaltung signifikant erweitert und waren von gegenwartsbezogenen modischen Präferenzen geprägt.56 Damit gab es Alternativen und Ergänzungen zu

54 Klinger, Modern (wie Fn. 1), S. 128f.; Jauß, Literarische Tradition (wie Fn. 1), S. 31f. 55 Schlobach, Anciens (wie Fn.1), S. 75. 56 M. North (Hg.), Artistic and Cultural Exchanges between Europe and Asia, 1400– 1900. Rethinking Markets, Workshops and Collections, Farnham 2010; Bartolomé Yun Casallila, The History of Consumption of Early Modern Europe in a TransAtlantic Perspective. Some New Challenges in European Social History, in: V. Hyden-Hanscho / R. Pieper / W. Stagl (Hg.), Cultural Exchange and Consumption Patterns in the Age of Enlightenment. Europe and the Atlantic World, Bochum 2013, S. 25–40; MAXINE BERG, Luxury, the Luxury Trades, and the Roots of Industrial Growth: A Global Perspective, in: F. Trentman (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford 2012, S. 173–191.

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der an der Antike ausgerichteten Ästhetik und Produktgestaltung, die die Tendenz einer Relativierung überzeitlicher Vorbildhaftigkeit gefördert haben dürfte. Ausgehend von der Bienenfabel von Bernard de Mandeville wurde im frühen 18. Jahrhundert eine Debatte über die ökonomische Nützlichkeit von Luxus geführt.57 Von Voltaire abgesehen, scheint es jedoch kaum Autoren gegeben zu haben, die sich sowohl an den Debatten zur politischen Ökonomie des Luxus als auch denjenigen zum Verhältnis der Anciens et Modernes beteiligt haben.58 Die Popularisierung des Konsums von ästhetisch gestalteten Luxuswaren hatte dennoch Einfluss auf die Rezeption des bislang vor allem in gelehrten Diskursen verwendeten Begriffs der Moderne, die zu seiner Popularisierung beitrug. Um das Distinktionsbedürfnis der Konsumenten und Konsumentinnen zu bedienen und um den Absatz durch Produktinnovationen anzutreiben, wurden Moden ein wichtiges Instrument der Warenproduktion und -distribution.59 Zur Information der Kundinnen und Kunden wurden zunehmend Werbemedien wie das Journal des Luxus und der Moden eingeführt.60 Dass die jeweilige Modernität dabei ein wichtiges Bewertungskriterium war, lässt sich am Beispiel Nürnbergs sehen, unter dessen Herkunftsbezeichnung eine breite Palette von Konsumgütern weltweit vertrieben und dessen Produkte im späten 18. Jahrhundert von Gelehrten ver-

57 Joseph Vogl, Luxus, in: Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe (wie Fn. 1), S. 694– 708, hier 698–703. 58 Voltaire, Luxe, in: Dictionnaire Philosophique Portatif, London 1764, S. 243–245; Ders., Anciens et Modernes, in: Questions sur l’Encyclopédie, o. O. 1770, S. 277– 305. 59 Maxine Berg, From Imitation to Invention: Creating Commodities in EighteenthCentury Britain, in: The Economic History Review, N. S. 55 (2002), S. 1–30; Marco Belfanti, Civilita della moda, Bologna 2008. 60 Susann Trabert, Popularisierung der Luxuswerbung im „Journal des Luxus und der Moden“ 1786–1795, in: M. Häberlein u.a. (Hg.), Luxusgegenstände und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Produktion – Handel – Formen der Aneignung, Konstanz 2014; im Druck; Heidrun Homberg, Warenanzeigen und Kundenwerbung in den „Leipziger Zeitungen“ 1750–1800. Aspekte der inneren Marktbildung und der Kommerzialisierung des Alltagslebens, in: D. Petzina (Hg.), Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, Berlin 1991, S. 109–131, Dies., Werbung – „eine Kunst, die gelernt sein will“. Aufbrüche in eine neue Warenwelt 1750–1850, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/1, S. 11–52; Maxine Berg / Helen Clifford, Selling Consumption in the Eighteenth Century. Advertising and the Trade Card in Britain and France, in: Cultural and Social History 4, (2007), S. 145–170.

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ächtlich als veraltet beschrieben wurden.61 In den Enzyklopädien und Lexika des 18. Jahrhunderts wird zwar das Lemma Modern aufgeführt, die eher knappen Einträge setzen Moderne jedoch weitgehend mit Mode gleich und verweisen auf die entsprechenden Einträge, wo dann die Mode sehr viel ausführlicher gewürdigt wird.62 In den populären Sprachgebrauch wird der Begriff der Moderne allem Anschein nach zuerst einmal über die Mode aufgenommen, wobei in den Begriffserklärungen generell der Aspekt der kurzlebigen Innovation betont wird, während die gelehrten Diskurse über antiqui und moderni praktisch keine Erwähnung finden. Immerhin können diese Debatten jedoch dazu beigetragen haben, dass es zur Rezeption von Moderne als kurzlebiger Modezyklus gekommen ist, bevor „die Moderne“ sich als wirkungsvolles Modell sozialer Ordnung etablieren konnte, das linear und langfristig auf die Zukunft gerichtet war.63

61 Thomas Eser, Que dizen de Nirumberga. Wahrnehmung und Wertschätzung des Produktionsortes Nürnberg, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (2002), S. 29–48. 62 Johann Heinrich Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 21, Leipzig 1739, Sp. 700–712 (Mode), Sp. 727 (Moderne / Modernus); Allgemeine Schatzkammer der Kaufmannschaft Oder Vollständiges Lexicon Aller Handlungen und Gewerbe, Bd. 3, Leipzig 1742, Sp. 203f. (Mode), Sp. 205 (Moderne); Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Neuchâtel 1765, S. 598f. (Mode), 601 (Moderne); Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1884, Bd. 12, Sp. 2435–2437 (Mode), Sp. 2446 (Modern); Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, Bd. 92, (Ort?) 1803, S. 367–519 (Mode), S. 588 (Moderne). 63 Vgl. Assmann, Zeit (wie Fn. 1).

Vergangene Moderne der Demokratie Individualistische Demokratievorstellungen in der Französischen Revolution W OLFGANG K RUSE

„Es gibt keine Korporationen mehr im Staat; es gibt nur noch das partikulare Interesse jedes Individuums und das allgemeine Interesse.“ (Guy Isaac Le Chapelier, 14.6. 1791)

Die Französische Revolution wird in der Regel – und zu Recht – als Grundlegung der modernen Demokratie, als entscheidender Schritt zur Durchsetzung von Volkssouveränität und bürgerlicher Selbstregierung begriffen.1 Die Demokratievorstellungen der Revolutionäre allerdings waren keineswegs identisch mit unserem heutigen Demokratieverständnis. Sie waren vielmehr durchdrungen von einem höchst individualistischen Gesellschaftskonzept, nach dem das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Individuums nicht nur die Grundlage des Politischen bilden, sondern auch seine konkrete Praxis bestimmen sollte. Die in der Französischen Revolution entwickelten Demokratiemodelle wiesen so keineswegs den direkten Weg zur modernen, repräsentativen Parteiendemokratie, wie sie uns gerade in Deutschland oft als Normfall erscheint, sondern sie sperrten sich in vieler Hinsicht dagegen. Ganz im Sinne Rousseaus war die direkte, unmittelbare, durch keine oder jedenfalls möglichst wenige intermediäre Institutionen und Verbände vermittelte bzw. beschränkte Mitwirkung des Bürgers an Gesetzgebung und Regierung das Ziel der revolutionären Neuordnung von Staat und Gesellschaft. Vor allem auf zwei Ebenen waren damit Visionen und Potenti-

1

Vgl. z. B. Walter Grab, Die Französische Revolution. Aufbruch in die moderne Demokratie, Stuttgart 1989.; Rolf E. Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfurt am Main 1998.

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ale zur demokratischen Neugestaltung des Politischen verbunden, die historisch nicht verwirklicht werden konnten und im weitergehenden Prozess der modernen Demokratisierung weitgehend verlorengegangen sind. Dabei handelte es sich um Vorstellungen von einer Organisation des politischen Lebens, das 1) ohne organisierte Parteien, und 2) auf der Basis direktdemokratischer Entscheidungsrechte eines jedes Bürgers funktionieren sollte.

1. B ÜRGERLICHES I NDIVIDUUM UND KOLLEKTIVE I NTERESSENVERTRETUNG : Ö FFENTLICHKEIT UND D EMOKRATIE OHNE ORGANISIERTE P ARTEIEN Organisierte politische Parteien im heutigen Sinne gab es in der Französischen Revolution noch nicht. Das gesellschaftliche und politische Leben wurde dagegen in hohem Maße geprägt von politischen Klubs und Gesellschaften, d. h. von Zusammenschlüssen einzelner Bürger zur Diskussion der öffentlichen Angelegenheiten und zur Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, wie sie mit Beginn der Revolution in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Namen entstanden waren.2 Man kann ihre Geschichte im Modernisierungsparadigma als Experiment auf dem Weg zur Entstehung moderner politischer Richtungsparteien mit programmatischer Ausrichtung und formalen Strukturformen analysieren, den sie zweifellos angestoßen und vorangetrieben haben. Umgekehrt kann man aber auch danach fragen, welche alternativen Demokratievorstellungen den doch nur begrenzten Parteibildungsprozessen und nicht zuletzt ihrer grundsätzlichen Ablehnung durch einen großen Teil der Revolutionäre zugrunde lagen. Kurz vor der Verabschiedung der neuen französischen Verfassung kam es Mitte 1791 zu großen, von der Forschung oft vernachlässigten politischen Auseinandersetzungen über die Bedeutung von organisierten Formen der Interessenvertretung in politischen Klubs. An der politischen Oberfläche ging es dabei um Konflikte zwischen den gemäßigt liberalen Verfassungsstiftern, die mit der Ver-

2

Vgl. Patrice Gueniffey u. Ran Halévi, Klubs und Volksgesellschaften, in: F. Furet u. M. Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, 2 Bde., Frankf./M. 1988, hier Bd. 2, S. 769-92; Michael L. Kennedy, The Jacobin Clubs in the French Revolution, 3 Bde. Princeton 1982, 1988 u. New York 2000; Patrice Higonnet, Goodness beyond Virtue. Jacobins during the French Revolution, Cambridge/Mass. u. London 1988; Gary Kates, The Cercle Social, the Girondins and the French Revolution, Princeton 1984; Albert Mathiez, Le Club des Cordeliers pendant la crise de Varennes et le massacre du champ de mars, Paris 1910.

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abschiedung der neuen Verfassung in Form einer Konstitutionellen Monarchie die Revolution zum Abschluß bringen wollten auf der einen, den radikaleren, die Weiterführung der Revolution auf dem Weg zu Demokratie und Republik betreibenden Kräften in den Klubs der Jakobiner, der Cordelliers und des Circle Social auf der anderen Seite. Die gemäßigten Kräfte in der Nationalversammlung, die sich im von den Jakobinern abgespaltenen Klub der Feuillants organisiert hatten, konnten sich erst einmal durchsetzen, sie beschlossen Ende September 1791 mit großer Mehrheit, dass keine „Gesellschaft, Klub, Verbindung von Bürgern unter keinen Umständen eine politische Existenz annehmen, keine Handlungen in Bezug auf die Tätigkeit der konstitutionellen Gewalten und der legalen Autoritäten ausüben darf; dass sie unter keinen Umständen im kollektiven Namen auftreten dürfen …“3 Damit sollten politische Klubs aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und der Bereich des Politischen den gewählten Repräsentanten in der Nationalversammlung reserviert werden. Auf einer tieferen Bedeutungsebene wurde aber noch etwas anderes ausgehandelt, es ging grundsätzlich auch um das Verhältnis zwischen dem bürgerlichen Individuum auf der einen, organisierten Formen kollektiver Interessenvertretung auf der anderen Seite. Bereits im Frühjahr 1791 war es zu ähnlichen Auseinandersetzungen in Bezug auf den wirtschaftlich-sozialen Bereich gekommen, als in Paris eine Reihe von Arbeitergewerkschaften gegründet worden waren, um die Interessen ihrer Mitglieder kollektiv vertreten und regeln zu können. Die bürgerlichen Revolutionäre in der Nationalversammlung lehnten diese Organisationsform grundsätzlich ab, weil sie darin ein Wiederaufleben der gerade als Zwangskorporationen des alten Regimes verbotenen Zünfte sahen. „Es gibt keine Korporationen mehr im Staat“, so hatte bereits hier der Abgeordnete Guy Isaac Le Chapelier das nach ihm benannte, von der Nationalversammlung einstimmig verabschiedete gesetzliche Verbot von Gewerkschaften begründet, „es gibt nur noch das partikulare Interesse jedes Individuums und das allgemeine Interesse. […] Deshalb muß man sich auf das Prinzip zurückzie-

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Archives Parlementaire de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs & politiques des chambres françaises, première série (1787-1799), Nendeln 1969 (von nun an AP), Bd. 31, S. 624, 29.9.1791: „Nulle société, club, association de citoyens ne peuvent avoir, sous aucune forme, une existence politique, ni exercer aucune action ni inspection sur les actes des pouvoirs constitués et des autorités légales ; que, sous aucun prétexte, ils ne peuvent paraître sous un nom collectif …“

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hen, dass es freien Verträgen zwischen Individuen obliegt, die Arbeitsbedingungen jedes Arbeiters festzulegen.“4 Es ist zweifellos nicht abwegig, diesem in Frankreich lange nachwirkenden Verbot von Gewerkschaften und kollektiver Interessenvertretung, gegen das einzig Jean-Paul Marat öffentlich protestierte, ein bürgerliches Klasseninteresse eingeschrieben zu sehen. Und doch waren damit auch andere, noch grundlegendere Überlegungen verbunden, wie sie wenig später auch in der Ablehnung organisierter politischer Interessenvertretung in Klubs und Volksgesellschaften zum Ausdruck kamen. Es ging um die Rolle des bürgerlichen Individuums in einer demokratischen Ordnung. Erneut trat Le Chapelier in der Nationalversammlung als Wortführer auf, erneut berief er sich auf die Abschaffung der verhassten Zwangskorporationen der alten Ordnung, die nicht durch neue Formen der kollektiven, das Individuum ausschließenden oder unterordnenden Interessenvertretung durch die Hintertür wieder eingeführt werden sollten: „Es gibt keine Gewalten als die vom Willen des Volkes geschaffen, die durch seine Repräsentanten zum Ausdruck kommen“, argumentierte er, „es gibt keine Autoritäten als die in ihm gewählten“. „Um dieses Prinzip in seiner Reinheit zu bewahren, hat die Verfassung [...] alle Korporationen ausgelöscht und nur den Volkskörper und die Individuen anerkannt.“5 Dahinter stand die Vorstellung, dass organisierte Formen der politischen Interessenvertretung ihren Mitgliedern durch die Außenwirkung ein höheres Gewicht verschaffen würden, als es ihnen als Bürger im Zusammenhang aller anderen Individuen zukommen würde. Klubs würden, so argumentierte Le Chapelier und als aktives Mitglied des höchst einflussreichen, von „patriotischen“ Abgeordneten gebildeten „Bretonischen Klubs“, des Vorläufers der Jakobiner in der frühen Nationalversammlung, wusste er genau, wovon er sprach zur Usurpation der Macht tendieren: „Es liegt in der Natur der Sache, dass politische (beratende,

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AP 27, S. 210, 14.6.1791: „Il y a plus de corporation dans l’état; il n’y a plus que l’intérêt particulaire de chaque individu et l’intérêt general. […] Il faut donc remonter au principe, que c’est aux conventions libres, l’individu à l’individu, à fixer la journée pour chaque ouvrier.“ Vgl. Spiros Simitis, Die Loi Chapelier: Bemerkungen zur Geschichte und möglichen Wiederentdeckung des Individuums, in: Kritische Justiz, 22. Jg. (1989), H. 2, S. 176-83.

5

AP 31, S. 617, 29.9.1791: „In n’y a de pouvoirs que ceux constitutes par la volonté du peuple exprimée par leurs représentants; il n’y a d’autorités que celles délégués par lui; […] C’est pour conserver ce principe dans toute sa purété, que […] la Constitution a fait disparaître toutes les corporations, et qu’elle n’a plus reconnue que le corps social et les individus.“

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WK) Gesellschaften einen über sie hinausweisenden Einfluss zu gewinnen versuchen; dass perverse oder ambitionierte Männer sich ihrer zu bemächtigen und aus ihnen Instrumente ihrer Ambitionen [...] zu machen versuchen.“6 Auch die radikaleren Kräfte lehnten Korporationen grundsätzlich ab, bezogen dies aber nicht auf politisierende Zusammenschlüsse von Bürgern an sich, sondern nur auf solche mit einem exklusiven, formal privilegierten Charakter. So kritisierte Jacques-Pierre Brissot im Jakobinerklub den abgespaltenen Klub der Feuillants, der ausschließlich Abgeordnete der Nationalversammlung organisierte: „Jede Gesellschaft, die nur einer einzigen Klasse von Menschen [...] offensteht, ist bald vom Geist der Korporation infiziert.“7 Frei zugängliche Verbindungen von Bürgern zur Auseinandersetzung mit den öffentlichen Angelegenheiten dagegen waren aus Sicht der Radikalen sinnvolle, ja notwendige Organisationsformen einer demokratischen Gesellschaft, die zu bilden das unveräußerliche Recht jedes einzelnen Staatsbürgers darstellte. Und da jeder, so argumentierten sie, das Recht habe, sich mit anderen zusammenzuschließen, könne den Bürgern auch nicht das Recht genommen werden, über öffentliche Angelegenheiten zu diskutieren, ihre Meinungen öffentlich zu artikulieren und mit anderen Klubs in Verbindung zu treten. Die Verteidiger der politischen Klubs sprachen ihnen insbesondere drei grundlegende Aufgaben zu.8 Sie sollten zum ersten dies war das vor allem von Marat und den Cordeliers vertretene Konzept die öffentlichen Funktionsträger kontrollieren und ggf. ihrem Machtmissbrauch Widerstand leisten. Zum zweiten sollten Klubs wie die „sociétés fraternelles“ nach den insbesondere von François Lanthenas entwickelten Vorstellungen wie eine Art Volkshochschulen der politischen Bildung gerade auch der ungebildeten Teile der Bevölkerung dienen. Und zum dritten wurde den Klubs die Aufgabe zugesprochen, an der politischen

6

AP 31, S. 618f., 29.9.1791: „Il est dans la nature des choses que des sociétés délibérantes cherchent à acquérir quelque influence extérieure; que des hommes pervers ou ambitieux tentend de s’en emparer, et d’en faire les instruments utiles à leur ambition ou à leur vengeance.“

7

Extrait du Discours sur l’utilité des Sociétés patriotiques et populaires, sur la nécessité de les maintenir et de les multiplier par-tout, 28.9.1791, abgedr. in: Patriote Français, 5.10.1791: „Toute société qui n’admet qu’une seul classe d’hommes est bientôt infectée de l’esprit de corporation.“

8

Vgl. Wolfgang Kruse (Hg.), Die Französische Revolution. Programmatische Texte von Robespierre bis de Sade, Wien 2012, S. 98-109; Yannick Bosc u. Sophie Wahnich (Hg.), Les voix de la Révolution. Projets pour la démocratie, Paris 1990, S. 11017.

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Meinungs- und Willensbildung über Gesetzesvorhaben mitzuwirken, sie zu diskutieren und auch auf ihre Ausgestaltung Einfluss zu nehmen. Hinzu kam die öffentliche Vorstellung und Unterstützung von Kandidaten für Wahlämter.9 Doch auch diese am weitesten angelegte politische Konzeption, wie sie von Brissot und anderen führenden Jakobinern vertreten wurde, war noch sehr weit entfernt von der Vorstellung organisierter politischer Parteien als tragende Säulen einer demokratischen Verfassungsordnung. Denn auch die radikalen Verteidiger der politischen Klubs waren durchdrungen von der Vorstellung, dass die Klubs allen Bürgern offenstehen sollten, ihr Wirken auf die gesellschaftliche Ebene begrenzt bleiben müsse und sie keinen direkten Einfluß auf die staatlichen Funktionsträger ausüben dürften. Brissot etwa ging bei seinem Plädoyer für die Klubs von einer einheitlichen, nicht nach politischen Richtungen aufgeteilten Klubstruktur in Form öffentlicher Foren für die gemeinsame Diskussion von Bürgern und Abgeordneten aus, wie sie zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen auch Robespierres Konzept der Volksgesellschaften entsprach. Und Marat stellte in aller Deutlichkeit klar, dass auch für die radikalen Revolutionäre Klubs und Volksgesellschaften nur im vorstaatlichen, gesellschaftlichen Raum aktiv sein sollten, ohne selbst politisch gestaltend wirken zu dürfen: „Keine freie Vereinigung von Bürgern [...] hat das Recht, sich in die Staatsangelegenheiten einzumischen, um sie zu leiten oder zu verwalten.“10 In der Folgezeit schien die Entwicklung der terroristischen Diktatur unter dem prägenden Einfluss des Jakobinerklubs den Vorbehalten der gemäßigten Kräfte gegenüber organisierten Formen politischer Interessenvertretung Recht zu geben. Dementsprechend löste der Konvent 1795 nicht nur den Jakobinerklub auf, sondern er verband damit erneut auch das in der politischen Realität allerdings wiederum scheiternde11 – Verbot der Bildung politischer Klubs überhaupt, weil sie prinzipiell zur Machtusurpation tendieren würden. „Haben wir nicht gesehen“, so hieß es in der Begründung des Abgeordneten Jean-Baptiste Mailhe, der selbst lange im Klub aktiv gewesen war, „wie die Jakobiner [...] ganz wie die früheren Herren das Werk ihrer Ambitionen und Begierden ausgebildet haben, wie sie beanspruchten, selbst das souveräne Volk zu sein, sich als Gegner und

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Vgl. Reichardt, Blut der Freiheit, S. 180-89. Zu Wahlen allg. Patrice Gueriffey, Le nombre et la raison. La Révoltuion francais et les élections, Paris 1993.

10 L’Ami du Peuple, 4.3.1791, Des societies pour une résistance efficace à L’oppression: „Nulle association libre de citoyens, n’a le droit de s’immiscer dans les affaires publiques pour les gérer ou le administrer; çela est incontestable“. 11 Vgl. Pierre Serna, Comment être democrat et constitutionnel en 1797?, in: Annales historiques de la Révolution française, 1997/308, S. 199-219.

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Unterdrücker seiner Repräsentanten geriert haben, wie sie im Namen der Nation ein Szepter aus Eisen und Blut über die ganze Nation verbreitet haben!“12 Diese Ablehnung organisierter politischer Interessenvertretung in Klubs oder gar in politischen Richtungsparteien, selbst durch radikale demokratische Kräfte, wirft nun allerdings die Frage auf, wie sich die Revolutionäre die Praktizierung der individuellen bürgerlichen Mitwirkungsrechte an den öffentlichen Angelegenheiten konkret vorgestellt haben.

2. B ÜRGERLICHES I NDIVIDUUM , S ELBSTREGIERUNG UND G ESETZGEBUNG : D IREKTE D EMOKRATIE UND R EPRÄSENTATION Das Studium der direkten Demokratie in der Französischen Revolution hat sich zumeist auf die (Pariser) Sektionsversammlungen und ihre politische Praxis konzentriert, die von dem Anspruch geprägt war, den Gemeinwillen in der Form revolutionärer Massenbewegungen unmittelbar zum Ausdruck zu bringen und gegen die staatlichen Autoritäten durchzusetzen.13 Weniger bedeutsam erschienen demgegenüber die Konzepte für eine systematische Integration der direkten Demokratie in die verfassungspolitische Ordnung, die auf die politische Entwicklung der Revolution tatsächlich weniger Einfluss gewinnen konnten als die revolutionären Massenbewegungen. Für das politische Bewusstsein der Revolutionäre dagegen waren sie durchaus von zentraler Bedeutung und haben damit auf indirektem Wege auch die Entwicklung der Revolution und ihre politischen Neuordnungsversuche tiefgehend beeinflusst.

12 Mailhe im Namen des Wohlfahrtsausschusses, des Sicherheitsausschusses und des Gesetzgebungsausschusses am 23.8.1795 vor dem Nationalkonvent, abgedr. in: Bosc u. Wahnich (Hg.), Les voix, S. 116f.: „N’avons nous pas également vu les Jacobins, appelés d’abord à une simple surveillance, destinés à éclairer le peuple […] porter aussi loin que les antiques seigneurs, le délire de leur ambition et de leur cupidité, prétendre qu’ils étaient le peuple souverain, s’organiser en puissance rivale et oppressive de ses représentants, et, au nom de la nation, étendre un sceptre de fer et de sang sur la nation entière!“ 13 Vgl. R. B. Rose, The Making of the Sans-culottes. Democratic Ideas and Institutions in Paris, 1789-1792; Albert Soboul, Les Sans-culottes parisien de l’an II. Mouvement populaire et gouvernement révolutionnaire 2 juin – 9 thermidor an II, Paris 1962; ders. u. W. Markov (Hg.), Die Sansculotten von Paris. Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung 1793-1794, Berlin/DDR 1957.

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Die Mitwirkungsrechte des bürgerlichen Individuums in der politischen Demokratie sind während der Revolution vor allem im Spannungsfeld von direkter Mitbestimmung aller Bürger und ihrer Repräsentation durch gewählte, aber eigenverantwortlich handelnde Abgeordnete diskutiert worden.14 Vor allem zwei Phasen sind dabei zu unterscheiden: Eine erste Phase der politischen Diskussionen und Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung der neuen Verfassung, die in den Jahren 1790/91 stattfand, und eine zweite Phase während der Diskussionen um die neue, republikanische Verfassung von 1793, die mit so grundlegenden Konflikten wie der Auseinandersetzung zwischen Gironde und Bergpartei verbunden war. „Demokratische Republik“ versus „repräsentative Regierung“ 1790/91 Die Positionen vor allem in der ersten Phase können inhaltlich allerdings nur verstanden werden, wenn man sich von dem aus heutiger Sicht geläufigen Konflikt zwischen repräsentativer und direkter Demokratie löst und konstatiert, dass es dabei um einen politisch wie begrifflich-konzeptionell anders gestalteten Gegensatz ging. Auf der einen, gemäßigten Seite votierten die Vertreter einer „repräsentativen Regierung“ („gouvernement représentatif“ oder „démocratie représentative“), angeleitet vor allem von den Schriften und Interventionen des Abbé Sieyès, für eine konstitutionelle Monarchie mit einem nicht nur uneingeschränkt repräsentativen, sondern auch sozial auf die sog. Aktivbürger beschränkten und zugleich indirekten Wahlrecht. Auf der anderen, radikaleren Seite dagegen standen die Protagonisten einer „demokratischen Republik“, für die Demokratie weitgehend identisch war mit direktdemokratischen Mitwirkungsrechten aller Staatsbürger.15 Der gemeinsame Ausgangspunkt beider Richtungen war bereits in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 festgelegt worden, die in Art. 6 das Gesetz nicht nur in allgemeiner Form als „Ausdruck des Gemeinwillens“ bestimmte, sondern konkretisierend auch das Recht jedes Bürger festschrieb, „persönlich oder durch Vertreter an seiner Formulierung mitzuwir-

14 Vgl. einführend P. Brandt u. a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 214-335. 15 Vgl. Raymonde Monier, „Démocratie représentative“ ou „répuiblique démocratique“: De la querelle des mots (république) à la querelle des anciens et des modernes, in: Annales historiques de la Révolution française, 2001/325, S. 1-21.

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ken.“16 Für die gemäßigt-liberalen Kräfte erschien es dabei selbstverständlich, dass in Frankreich allein die Delegation dieses Rechts an Stellvertreter politisch möglich und wünschenswert sei, denn in einer großen Nation werde dies einfach, so Emmanuel Joseph Sieyès, „von der Natur der Dinge erzwungen.“17 Die direkt-demokratischen Vorstellungen der Republikaner dagegen kreisten um die Frage, wie auch in einem modernen Territorialstaat die unmittelbaren persönlichen Mitwirkungsrechte praktiziert werden könnten. Ihre Überlegungen brachte anfangs am klarsten der Journalist und spätere Pariser Konventsabgeordnete Pierre Joseph Robert zum Ausdruck. „Der Republikanismus oder die Demokratie ist die Regierung aller“, stellte er in seiner 1790 veröffentlichten Schrift über den Republikanismus fest18. „Um perfekt zu sein, müssen alle Bürger persönlich und individuell an der Herstellung des Gesetzes beteiligt sein.“ Davon ausgehend, charakterisierte er die von der Nationalversammlung beschlossene repräsentative Regierungsform als eine zwar zeitlich begrenzte und auf mehrere Personen verteilte, der Königsherrschaft also überlegene, aber letztlich doch noch immer despotische Form der Herrschaft. „Um die Idee der Freiheit mit der Idee der repräsentativen Regierung zu verbinden, ist es notwendig, dass die Repräsentanten nicht ihren partikularen Willen zum Gesetz erheben können, sondern nur den Willen aller oder der Mehrheit: Sonst ist das Ergebnis der Revolution nur die Einsetzung von Despoten anstelle eines Despoten, die Freiheit hat davon keinen Sinn, allein die Sicherheit kann davon einen Vorteil haben: Und alles, was man sagen kann, ist, dass 1.200 Despoten etwas weniger gefährlich sind als ein König. [...] Es gibt bereits diesen Vorteil in der französischen Verfassung, dass die 1.200 Gesetzgeber diese Funktion nur auf Zeit haben und dass sie sich davor hüten müssen, Gesetze zu erlassen, die allzu

16 Vgl. den Abdruck in Kruse (Hg.), Programmtische Texte, S. 26-28: „La loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont le droit de concourir personnellement, ou par leurs représentants, à sa formation.“ 17 Emmanuel Joseph Sieyès, Begründung der Verfassung (August 1789), abgedr. in: Kruse (Hg.), Programmatische Texte, S. 41-53, hier S. 51: „Chez un peuple nombreux, cette délégation est forcée par la nature même des choses.“ 18 Pierre Joseph Robert, Le Républicanisme, adapté à la France, abgedr. in: Aux Origines de la République 1789-1792, Paris 1991, Band II, hier S. 87-97; Übersetzung nach Kruse (Hg.), Programmatische Texte, S. 64-69); zur Praktikabilität hieß es S. 102 ergänzend, dass die Urwählerversammlungen nicht „über Zusätze beraten, unter Bedingungen akzeptieren, Teile zurückweisen, und schließlich einen Teilwillen hervorbringen dürfen“, sondern über einen Gesetzesvorschlag „mit ja oder nein entscheiden müssen“.

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bedrückend für die Klasse der gemeinen Bürger sind, weil sie wissen, dass sie selbst dorthin zurückkehren müssen; wohingegen ein Herr auf Lebenszeit, der immer oberhalb des Gesetzes steht, sich wenig darum schert, ob die Bürger zufrieden sind oder nicht [...] Man kann über Frankreich sagen, dass es in einer Hinsicht seine Herrschaftsform geändert hat, weil man besser behandelt wird, als man es früher wurde. Es ist etwa von der Art wie bei einem Diener, der einen harten, unmenschlichen, blutrünstigen Herren verlassen hat, um einer sensiblen, zarten und ehrenhaften Familie zu dienen. Und ich selbst, wenn es schon notwendig wäre zu dienen, würde die zweite Variante empfehlen. Aber es ist möglich, eine andere Art der repräsentativen Regierung einzuführen, und eine, die vollständig mit den Prinzipien der Freiheit übereinstimmt.“ Als gutem Schüler Rousseaus wie als politisch aktivem Zeitgenossen war Robert allerdings das Problem bewusst, dass die reine Form der direkten Demokratie nur in kleinen politischen Einheiten, nicht aber in einem großen, auf Formen der Delegation angewiesenen Territorialstaat wie Frankreich praktikabel sein konnte. „Doch weiß man nicht, dass die perfekte Demokratie nur in einem kleinen Staat möglich ist?“, fragte er rhetorisch, um dann fortzufahren: „Es wäre rein physisch unmöglich, dass die 25 Millionen Menschen, aus denen Frankreich besteht, sich an einem Ort versammeln, ihren Willen zu Gehör bringen und redigieren: man müsste verrückt sein, eine solche Regierungsform vorzuschlagen.“ Doch Robert blieb nicht bei dieser Kritik stehen, sondern er unternahm den ambitionierten Versuch, die repräsentative Regierungsform und die direkte Ausübung der souveränen Mitwirkungsrechte jedes einzelnen Bürgers miteinander zu verbinden, um so „eine andere Art der repräsentativen Regierung einzuführen, und zwar eine, die vollständig mit den Prinzipien der Freiheit übereinstimmt.“ Um dies gewährleisten zu können, griff er auf das versammlungsdemokratische Modell zurück, das bereits für die Wahl der Abgeordneten verabschiedet worden war, übertrug es aber auch auf die Bestätigung von Gesetzen. Der Nationalversammlung sollte demnach nicht nur die Aufgabe zufallen, Gesetze zu entwerfen, zu diskutieren und zu verabschieden, sondern sie auch aus eigener Verantwortung vorläufig in Kraft zu setzen. Die letzte Entscheidung über die dauerhafte Annahme oder Ablehnung jedes Gesetzes aber sollte den Staatsbürgern in ihren Urwählerversammlungen vorbehalten bleiben. „Ich wünsche“, erklärte Robert, „dass man alle Bürger darüber mit ja oder nein abstimmen lassen soll. Auf diese Weise würde ein Gesetz allen Urwählerversammlungen des Staates mitgeteilt werden, die einen würden es annehmen, die anderen würden es ablehnen. Zuerst würde jede Sektion das Votum ihrer Bürger auszählen, daraufhin die Gemeinden den Wunsch aller ihrer Sektionen; in den Kantonsversammlungen wür-

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de eine Auszählung der Voten aller Gemeinden erfolgen; jeder Distrikt würde die Voten der Kantone und Gemeinden auszählen, jedes Departement diejenige seiner Distrikte, und schließlich würde die Versammlung der Repräsentanten der Nation die allgemeine Auszählung der Voten der 83 Departements durchführen. Damit haben wir die Bestätigung, die wahrhafte Bestätigung, die einzige, von der in der französischen Verfassungsurkunde die Rede sein sollte.“ Mit der Niederschlagung der nach dem Fluchtversuch des Königs im Frühsommer 1791 hervortretenden republikanischen Bewegung waren solche Entwürfe erst einmal politisch obsolet. Der Sturz der Monarchie setzte die Ausgestaltung einer demokratisch-republikanischen Verfassungsordnung dann 1793 allerdings umso dringlicher auf die Tagesordnung der Revolution. Diese zweite Phase der Auseinandersetzungen über das Verhältnis von direkter und repräsentativer Demokratie war trotz der sich agonal zuspitzenden Konflikte zwischen den politischen Lagen insbesondere der Gironde und der Montagne von einem deutlich höheren Problembewusstsein und Reflexionsniveau geprägt, wobei nun alle Beteiligten programmatisch dem demokratischen Spektrum angehörten und wie selbstverständlich direkte Mitwirkungsmöglichkeiten aller Bürger in ihre verfassungspolitischen Konzeptionen einbezogen. Direkte Mitwirkung in einer demokratischen Verfassungsordnung 1793 Eine grundlegende Bedeutung für die Diskussionen über die neue, republikanische Verfassung gewann der weitgehend von Antoine de Condorcet formulierte Verfassungsentwurf, den das girondistisch dominierte Verfassungskomitee im Februar 1793 dem Nationalkonvent präsentierte.19 Auch dieser Entwurf ging trotz eines grundsätzlich repräsentativen Verständnisses der Gesetzgebung und der direktdemokratischen Wahl der Repräsentanten weiterhin vom unmittelbaren Recht jedes einzelnen Bürgers auf Mitwirkung an der Gesetzgebung aus und leitete daraus sehr weitgehende Forderungen ab. „Wenn ein Bürger“, so stellte Titel VIII zur „Zensur des Volkes über die Handlungen der Repräsentation und das Petitionsrecht“ klar, „es für nützlich oder notwendig hält, eine Prüfung der Volksvertreter über die Bestimmungen der Verfassung, der Gesetzgebung oder der allgemeinen Verwaltung auszuüben, die Reform eines Gesetzes zu prüfen oder ein neues vorzuschlagen, wird er das Recht dazu haben …“20 Jeder Bürger

19 Vgl. AP 58, S. 583-624, 15./16.2.1793. 20 AP 58, S. 619: „Lorsqu’un citoyen croira utile ou nécessaire d’exciter la surveillance des représentants du people sur les actes de Constitution, de legislation ou

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sollte demnach die Möglichkeit haben, über seine Urwählerversammlung ein Verfahren zur Neubefassung der Nationalversammlung mit einem schon verabschiedeten Gesetz oder die Befassung mit einem eigenen Gesetzesvorschlag anzuregen. Wenn sich dafür in einem Departement insgesamt eine Mehrheit fände, sollte das Gesetz neu diskutiert werden oder, im Falle der Ablehnung durch die Urwähler eines anderen Departements, durch Volksabstimmung eine Entscheidung herbeigeführt werden. Verfassungsänderungen sollten nicht nur generell alle 20 Jahre durch die Einberufung eines Verfassungskonvents möglich sein, sondern auch auf demselben Wege wie Gesetze initiiert werden können, wobei die Annahme einer neuen oder veränderten Verfassung nur durch eine Volksabstimmung legalisiert werden konnte. Darüber hinaus wollten Condorcet und das Verfassungskomitee des Konvents im Sinne einer strikten Gewaltenteilung neben den Abgeordneten auch die Wahl der Regierungsmitglieder „unmittelbar durch die Bürger der Republik in ihren Urwählerversammlungen“ erfolgen lassen, wobei in einem ersten Wahlgang je dreizehn Vorschläge für jedes der acht Regierungsämter bestimmt und in einem zweiten Wahlgang jedes Regierungsmitglied in einer eigenen Wahl mit absoluter Mehrheit der insgesamt abgegebenen Stimmen gewählt werden sollte. Deutlich wurde in diesem Verfassungsentwurf aber auch, dass Condorcet und seine Mitstreiter an eine reine Personenwahl ohne organisierte politische Richtungen dachten. Weder für die Wahl der Gesetzgebenden Versammlung noch für die Wahl der Regierung waren politische Listenverbindungen vorgesehen oder auch nur zulässig. Vielmehr sollten je einzelne Bürger andere einzelne Bürger in die Legislative wählen bzw. zur Wahl in die Regierung vorschlagen und schließlich je einzelne Kandidaten für jedes Regierungsamt wählen. Dieser Verfassungsentwurf stieß auf den heftigen Widerstand der Bergpartei, die schließlich, gestützt auf einen Aufstand der Pariser Sektionen, die Gironde aus dem Konvent ausschließen und daraufhin unter veränderten Mehrheitsverhältnissen einen eigenen Verfassungsentwurf verabschieden ließ. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wollte man die verfassungspolitischen Differenzen allein auf den politischen Gegensatz der verfeindeten Lager zurückführen oder den politischen Aktivismus der Bergpartei in einer von der Bedrohung der Republik durch Krieg und Bürgerkrieg geprägten Situation hervorzuheben, in der aufwändige Verfassungsdebatten kontraproduktiv erschienen. Und auch die vor allem

d’administration générale, de provoquer la refuse d’une loi existante ou la promulgation d’une loi nouvelle, il aura le droit de réquirer le boureau de son assembleée primaire, de la convoquer au jour de demanche le plus prochain, pour délibérer sur sa proposition.” Das folgende Zitat “immediate par le peuple” ebd., S. 608.

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im revisionistischen Paradigma verbreitete Rückführung der Ablehnung von Condorcets Entwurf auf einen hypostasierten, letztlich undemokratischen Gemeinwillen Rousseauscher Prägung, der formalisierten demokratischen Verfahren prinzipiell skeptisch gegenübergestanden und letztlich Aufstand und Diktatur anvisiert habe, kann letztlich ebenso wenig überzeugen wie die allgemeine Rückbindung des revolutionären Verfassungsdenkens an absolutistische Souveränitätskonzepte.21 Denn von Rousseau mit seiner Konzeption des Gesellschaftsvertrages und des Gemeinwillens waren alle an der Diskussion Beteiligten ebenso tiefgehend geprägt wie von der Idee, dass jedem Bürger grundsätzlich das Recht zustehen sollte, an der Formulierung des Gemeinwillens und der Regierung zu partizipieren. Die Einwände der Bergpartei zielten tatsächlich vor allem auf die mangelnde Praktikabilität der weitgehenden Formen der direkten Demokratie im Verfassungsentwurf der Gironde. Ihre Vertreter kritisierten zum einen die rigorose, durch separierte direkte Wahlen auch in der je eigenständigen Legitimation verdeutlichte Trennung von Volksvertretung und Regierung, die als jeweils unmittelbar durch das Volk legitimierte Verfassungsorgane in tiefgehende Konflikte geraten mussten. Es sei evident, argumentierte etwa Robert, „dass die Existenz von zwei voneinander unabhängigen, aber jeweils auf das Volk gestützten Gewalten nichts anderes sei als ein ewiger Aufruf zum Aufstand.“22 Die Bergpartei setzte dagegen auf eine Parlamentarisierung der Regierung, als sie für die Auswahl der Regierungsvertreter aus einer vom Volk indirekt gewählten Vorschlagsliste durch die Legislative eintrat. Und auch die Gesetzgebung erschien ihren Vertretern in der von Condorcet vorgeschlagenen Form der permanenten Zensur durch die Bevölkerung mit guten Gründen nicht praktikabel und damit letztlich auch undemokratisch. Selbst Robert, der doch 1791 so entschieden für die Ergänzung der Repräsentation durch die direkte Mitwirkung an der Gesetzgebung eingetreten war, wandte sich nun gegen „diese allzu häufigen Versammlungen des Volkes“, die in einer modernen Nation für die meisten Menschen nicht praktikabel seien und damit zur Herrschaft einer neuen Elite führen würden, denn „durch den Exzess einer falsch verstandenen Demokratie werdet ihr notwendigerweise eine sehr schreckliche Form von Aristokratie sich ausbilden sehen, die annähernd absolute

21 Vgl. Lucien Jaume, Le discours jacobin et la démocratie, Paris 1989; Ladan Boroumand, La Guerre des Principes. Les assemblées révolutionnaires face aux droits de l’homme et à la souveraineté de la nation, mai 1789-juillet 1794, Paris 1999. 22 AP 63, S. 386, 26.4.1793: „que l’existence de deux pouvoirs indépendants l’un de l’autre, mais dépendants du peuple, n’est qu’un appel éternel à l’insurrection.“

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Aristokratie der Reichen.“23 Auch der Girondist Jean Debry trat deshalb in seinem Verfassungsentwurf dafür ein, in der Verfassung genauer zu bestimmen, welche Fragen „der unmittelbaren Entscheidung der Bürger vorbehalten werden müssen.“24 Schließlich ging auch der von Hérault de Séchelles nach dem Sturz der Gironde vorgetragene Verfassungsentwurf der Bergpartei davon aus, „dass die französische Verfassung nicht ausschließlich repräsentativ sein kann, weil sie nicht weniger demokratisch als repräsentativ ist.“25 Beschlossen wurde dementsprechend eine Unterscheidung zwischen grundlegenden „Gesetzen“, die der Zustimmung durch die Wahlbürger unterworfen werden sollten, und stärker auf die exekutive Ausgestaltung zielenden „Dekreten“, die das Parlament aus eigener Legitimität erlassen dürfe, um so seine repräsentative Legitimität und Praxis zu stärken. Die Verfassung von 1793 wurde bekanntermaßen zu Gunsten der Herrschaft des Konvents und seiner Großen Ausschüsse bis zum Ende des Krieges suspendiert und ist nie in Kraft getreten. Ihre eigene Praktikabilität konnte dementsprechend nie ausprobiert werden. Klar ist aber, dass auch sie trotz gewisser Schritte auf dem Weg zur Etablierung einer parlamentarischen Regierung, wie sie sich auch in der politischen Praxis des Konvents und seines Wohlfahrtsausschusses de facto bereits herausgebildet hatte, vom Grundrecht jedes Bürgers auf direkte Mitwirkung an der Gesetzgebung ausging und darüber hinaus keine förmlichen Rechte für politische Organisationen irgendwelcher Art, weder für Klubs noch für Parteien oder für Parlamentsfraktionen vorsah.

3. S CHLUSSBEMERKUNGEN Die Thermidorianer versuchten in ihrer Direktorialverfassung auf verschiedene Weise, aus der diktatorisch-terroristischen Entgleisung der radikalen Demokratie des Konvents zu lernen.26 Sie verankerten nicht nur eine rigide Trennung zwi-

23 AP 63, S. 386, 26.4.1793: „ces trop fréquents rassemblements du people”;“ par un excès de démocratie mal entendue, vous verriez nécessairement s’élever un genre d’aristocratie bien terrible, l’aristocratie presque absolue des riches.” 24 AP 63, S. 238, 24.4.1793: „doivent être soumises à la décision immédiate des citoyens.“ 25 AP 66, S. 258, 10.6.1793: „la Constitution française ne peut pas être exclusivement representative, parce qu’elle n’est pas moins démocratique que representative.“ 26 Vgl. Bronislav Baczko, Comment sortir de la Terreur? Thermidor et la révolution, Paris 1989.

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schen (zweigeteilter) Legislative und Exekutive, um so die Verabsolutierung einer Gewalt zu verhindern. Vielmehr etablierten sie auch ein indirektes Wahlsystem mit breitem Wahlrecht auf der ersten, aber einem extrem hohen Zensus für die Wahlmänner und Repräsentanten auf der zweiten Stufe, wodurch die Herrschaft vermeintlicher verantwortlicher, von der Masse der Wahlbürger zwar legitimierter, aber weitgehend unabhängiger Eliten sichergestellt werden sollte. Schließlich verboten sie auch, wie bereits angesprochen, alle politischen Klubs und Organisationen mit dem Ziel, ihre Herrschaftsansprüche zu brechen. Alle diese Maßnahmen wiesen innere Widersprüche auf und scheiterten schon nach wenigen Jahren mit der Machtergreifung Napoléon Bonapartes. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, die mühselige und langfristige Herausbildung der modernen, repräsentativen Parteiendemokratie mit ihren organisierten Formen der Interessenvertretung und ihrer Delegation von Herrschaft auf Zeit als ein Erfolgsmodell zu begreifen, das sich in vieler Hinsicht geeignet erwiesen hat, die Probleme und Widersprüche demokratischer Herrschaft auszutarieren. Man kann auch mit Pierre Rosanvallon die Auffassung vertreten, dass gerade die von der Französischen Revolution postulierte und etablierte Unmittelbarkeit der Verbindung zwischen dem einzelnen Staatsbürger auf der einen, der zentralisierten Staatsgewalt auf der anderen Seite für Frankreich die Ausbildung intermediärer Organisationen und Körperschaften zum Nachteil einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft behindert hat.27 Trotzdem weisen die individualistischen, auf die aktiven Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte jedes einzelnen Staatsbürgers pochenden Demokratievorstellungen beim Auftakt der modernen Demokratie in der Französischen Revolution auch auf die Defizite hin, die mit dem Modell der repräsentativen Parteiendemokratie verbunden sind. Ihre politische Praxis minimiert die Einflussmöglichkeiten des einzelnen, nicht parteipolitisch organisierten Staatsbürgers gegenüber den politischen Parteien, welche tatsächlich gerade auch in der deutschen Verfassungswirklichkeit über eine politische und gesellschaftliche Gestaltungsmacht verfügen, die weit über die ihnen vom Grundgesetz zugesprochene Mitwirkung bei der öffentlichen Meinungsbildung hinausgeht. Und sie tendiert mit dem eindeutigen Vorrang der repräsentativen gegenüber der direkten Demokratie dazu, die Mitwirkungsmöglichkeiten des Staatsbürgers an der Gesetzgebung auf den Wahlakt zu beschränken und darüber hinausgehende direktdemokratische Beteiligungsrechte und -möglichkeiten nur als eng begrenzte Sonderfälle zuzulassen, nicht aber als grundlegende staatsbürgerliche Rechte zu begreifen. Manche aktuellen Entwick-

27 Vgl. Pierre Rosanvallon, Der Staat in Frankreich von 1789 bis in die Gegenwart, Münster 2000.

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lungen insbesondere im Bereich der direkten Demokratie deuten allerdings darauf hin, dass auch eine vergangene Moderne auf modifizierte Weise wieder aufgegriffen und nutzbar gemacht werden kann.

Mission zwischen Modernekritik und Moderneförderung Beispiele aus Südindien R EINHARD W ENDT

Das Museum der Geschichte Keralas und der wichtigsten Persönlichkeiten, die sie gestalteten,1 präsentiert 3000 Jahre historischer Entwicklung dieser südwestindischen Region in 36 Panoramen. Diese sind um lebensgroße Statuen der Protagonisten angeordnet, um die es jeweils geht, und zwar eingebettet in Szenarien, die typisch sind für ihr Wirken. Im Mittelpunkt eines dieser Panoramen steht der deutsche Missionar Hermann Gundert (1814-1893). Er wirkte für die Basler Mission in Kerala.2 Das Panorama (Abb. 1) zeigt ihn als einen Gelehrten, der im Licht einer Petroleumlampe neben einem Bücherschrank an seinem Schreibtisch sitzt und sich mit einem Federkiel Notizen macht. Dazu konsultiert er Literatur, die er in kleinen Stapeln vor sich ausgebreitet hat. Der Begleittext, der dieses Panorama erläutert, verschweigt nicht, dass Gundert Missionar war, erwähnt das aber eher beiläufig. Hervorgehoben werden dagegen seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die in einem Lexikon und einer Grammatik gipfelten, ein innovatives Werk zur Geschichte Keralas sowie die Herausgabe der ersten Zeitung in Malayalam, der wichtigsten regionalen Sprache. Die Erläuterungen heben hervor, dass Gundert – wie andere Missionare – „enriched Indian literature, art, humanities, science and education“ und betonen weiter, dass er besonders das Ma-

1

Dieses Museum gehört zum „History and Art Complex“ der Madhavan Nayar Foun-

2

Eine knappe biografische Einführung bietet Albrecht Frenz, Die Wirkungsgeschichte

dation in Kochi, Kerala. Hermann Gunderts in Kerala, in: W. Wagner (Hg.), Kolonien und Missionen, Münster 1994, S. 79-92.

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layalam entscheidend förderte, um schließlich zu konstatieren: „The dept of gratitude owed him by Malayalam language and the people of Kerala is irredeemable“. Abb. 1: Ein südindischer Blick auf Hermann Gundert in seiner Studierstube

Aus: Madhavan Nayar Foundation, Museum of Kerala History. A Commemoration Volume, Cochin, India, 1989, S. 43.

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Nördlich an Kerala grenzt der Bundesstaat Karnataka. In seiner Hauptstadt Bangalore steht an prominenter Stelle im Stadtzentrum auf einem kleinen Platz seit 2001 das lebensgroße Standbild des Missionars Ferdinand Kittel (1832-1903). Wie Gundert gehörte er der Basler Mission an.3 An vier Seiten des Sockels rühmen Schrifttafeln in kanaresischer und englischer Sprache seine Verdienste (Abb. 2). Abb. 2: Denkmal für Ferdinand Kittel in Bangalore

Eigene Aufnahme R. Wendt

3

Zu Kittels Leben und Leistungen siehe knapp Reinhard Wendt, Kittel, Georg Ferdinand, in: M. Tielke (Hg.), Biographisches Lexikon für Ostfriesland 4, Aurich 2007, S. 250-252 und ausführlicher ders., Visionärer Missionsstratege oder praxisferner Schreibstubengelehrter? Ferdinand Kittel und seine Studien zum südindischen Kannada, in: M. Mann (Hg.), Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien, Heidelberg 2008, S. 119-142.

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Die Statue selber zeigt ihn mit Talar und Bäffchen deutlich als Missionar. Dennoch heben die Tafeln nicht primär den Mann hervor, der in Indien evangelisieren wollte. Wichtig ist vielmehr, dass er „edited rare Kannada Classics“ und „compiled a comprehensive Kannada-English Dictionary“. Das Lexikon wird als „perennial contribution to Kannada Literature” charakterisiert. Kittel insgesamt, so die auf den Tafeln resümierte Bewertung, „rendered yeoman service to Kannada Literature”.4 In beiden Fällen werden die Leistungen der Missionare selektiv rezipiert. In Kerala und Karnataka erinnert man sich an Gundert und Kittel aufgrund von Verdiensten, die entscheidend dazu beitrugen, in Zeiten beschleunigten Wandels kulturelle Identität und politische Struktur der beiden indischen Bundesstaaten zu wahren. Ihre sprachwissenschaftlichen Arbeiten waren von zentraler Relevanz, als nach der Dekolonisation vom britischen Empire die föderale Struktur Indiens entlang sprachlicher Grenzen festgelegt wurde.5 Regionen konnten Bundesstaaten werden, sofern sie eine normierte, einheitliche Schriftsprache besaßen, und Lexika wie Wörterbücher der beiden Missionare waren dafür wesentliche Voraussetzungen. Gundert und Kittel trugen also entscheidend dazu bei, Malayalam und Kannada die Form zu geben, die ihren Sprechern und deren Kultur einen wahrnehmbaren Platz im politischen Leben des modernen Indien sicherte. Mission und Moderne, verstanden als Resultat der industriellen Revolution in England und der politischen in Frankreich mit ihren ökonomischen und soziokulturellen Folgen, gelten in landläufiger Sicht als wenig kompatibel. Die geschichtswissenschaftliche Wahrnehmung war lange Zeit ähnlich. Evangelisatorische Arbeit wurde als kulturimperialistisch interpretiert. Aus einer solchen Sicht trugen Missionare vor allem dazu bei, westliche Kolonialherrschaft zu stabilisieren, und sie wirkten wesentlich daran mit, indigene Traditionen zu überformen und zu zerstören. Mittlerweile sind differenziertere Sichtweisen aufgekommen. Das Verhältnis von Mission zur europäischen Moderne wird nun als vielschichtig gesehen. Außerdem wird zunehmend deutlich, dass es in der außereuropäischen Welt nicht nur die Missionare waren, die Evangelisationsprozesse, ihren Charakter und ihre Folgen bestimmten. Entscheidend für den Verlauf waren

4

Nach Aufzeichnungen und Fotografien des Autors vom November 2001.

5

A.P. Andrewskutty, Kittel and Gundert as Lexicographers, in: W. Madtha u.a. (Ed.), A Dictionary with a Mission. Papers of the International Conference on the Occasion of the Centenary Celebrations of Kittel’s Kannada – English Dictionary, Mangalore 1998, S. 80-91; Michael Mann, Geschichte Indiens vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Paderborn 2005, S. 124.

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ganz besonders auch die indigenen Akteure, die für das Christentum gewonnen werden sollten.6 Bereits in Europa und in Deutschland, so kann man konstatieren, bestand ein ambivalentes Verhältnis zwischen Missionsgesellschaften, ihrem Umfeld und der sich entwickelnden Moderne des langen 19. Jahrhunderts. Die Basler Mission, für die Gundert wie Kittel in Indien tätig waren, wurde 1815 gegründet. Ihre Unterstützer stammten hauptsächlich aus Württemberg und hatten ihre religiösen Wurzeln im Pietismus.7 Dabei handelte es sich weniger um eine theologische Strömung als vielmehr um eine Frömmigkeitsbewegung. Diese verortete und organisierte sich außerhalb und in bewusster Distanz zur Amtskirche, die als erstarrt galt. Konstituierend für den Pietismus und für pietistische Gruppen waren Einzelpersonen. Ein individuelles Erweckungserlebnis hatte sie, wie es häufig zu lesen ist, aus einem Todesschlaf hin zu neuem Leben gerissen. Praxisorientierte Frömmigkeit durchzog nun ihren Alltag. Pietistische Gruppen organisierten sich in kleinen Kreisen und trafen sich zu freiwilligen, gemeinschaftlichen Erbauungsversammlungen, die von Personen geleitet wurden, die sich dazu berufen fühlten. Sie hofften auf das baldige Kommen des Reichs Gottes. Ein Zeichen dafür, dass dies bevorstand, sollte die Predigt des Evangeliums in der ganzen Welt sein. Dies verlieh dem Pietismus einen starken missionarischen Impetus.8 Der Pietismus entstand als Reaktion auf verschiedene Säkularisierungsschübe: auf die Aufklärung, den Rationalismus, die Französische Revolution und die In-

6

Monica Juneja, Mission und Begegnung – Gestaltung und Grenzen eines kommunikativen Raumes, in: dies./M. Pernau (Hg.), Religion und Grenzen in Indien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 123-144, hier: S. 123-125.

7

Einführend zur Geschichte der Basler Mission und besonders zu ihrer Arbeit in Indien: Katrin Binder, Die Basler Mission in Karnataka und Kerala, in: M. Mann (Hg.), Europäische Aufklärung und protestantische Mission in Indien, Heidelberg 2006, S. 203-223.

8

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 2, München 1987, S. 459, 463 f.; Thoralf Klein, Die Basler Mission in Guangdong (Südchina) 1859-1931, München 2002, S. 113f.; Matthias Frenz/Hansjürg Deschner, „Das Werck der Bekehrung“: Überlegungen zum Verhältnis von Pietismus, Aufklärung und Mission im frühen 18. Jahrhundert, in: Mann, Europäische Aufklärung (wie Fn. 8), S. 33-55, hier: S. 49; Werner Raupp, „Vorwärts für das Reich Gottes, und nur vorwärts“. Der württembergische Pietismus und die heimatliche Missionsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Der ferne Nächste. Bilder der Mission – Mission der Bilder 18601920, Ludwigsburg 1996, S. 25-44.

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dustrialisierung, also die Doppelrevolution, aus der die europäische Moderne hervorging. In Württemberg, wo die Basler Mission ihre wichtigste Basis von Unterstützern und Mitarbeitern hatte, war als Folge eines derart beschleunigten Wandels eine Desintegration des dörflich-kleinstädtischen Lebensumfeldes zu beobachten. Bauern wie Handwerkern drohte der soziale Abstieg. Damit einher ging, so glaubten es Pietisten wahrzunehmen, eine allgemeine Entchristlichung und eine Entzauberung der Gesellschaft. Aus dieser Grundeinstellung erklärt sich eine aufklärungskritische und antimoderne Grundhaltung sowohl von Pietismus wie von Missionsgesellschaften und von Missionaren. Andererseits sind aber auch Positionen unübersehbar, die der Moderne nahestehen. Dazu gehören die individualistische Struktur, die große Bedeutung von Bildung und die rasche Nutzung technischer Innovationen. Um in dieser Situation einen Wandel zum Besseren einzuleiten, musste sich jeder Einzelne selbst optimieren. Grundvoraussetzung dafür war es, den schmalen Weg einzuschlagen, der zum Himmelreich führte, und den breiten der materiellen Verheißungen und weltlichen Vergnügungen zu meiden. „Weit ist die Pforte und breit der Weg, der ins Verderben führt“, heißt es in Matthäus 7, Vers 13 und 14 am Ende der Bergpredigt, „und eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt“. Populäre Poster vermittelten ebenso mahnend wie ermunternd diese Alternative in grafisch-plakativer, bunt kolorierter Bildersprache (Abb. 3).9

9

Charlotte Reihlen, die Gründerin der Stuttgarter Diakonissenanstalt, entwickelte die Idee von der visuellen Umsetzung der Matthäus-Verse, und der Zeichner Paul Beckmann realisierte sie 1866 (http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=66&h=true; Zugriff am 24.4.2014).

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Abb. 3: Der breite und der schmale Weg

Farbdruck von Charlotte Reihlen 1866

Es lässt sich darüber debattieren, ob der schmale Weg in eine Restauration oder in eine Reform münden sollte. Er könnte rückwärts gewandt sein und die vermeintlich heile vergangene Moderne einer unverbrauchten, jungen evangelischen Kirche wiederbeleben wollen. Man kann ihn aber auch zukunftsgerichtet sehen, wenn es sein Ziel war, Fehlentwicklungen der Doppelrevolution abzustellen und die neuen Verhältnisse mit einem tragfähigen geistlichen Fundament zu stabilisieren. Dann stünde am Ende des schmalen Weges eine alternative Moderne. Sein eigenes Leben nach pietistischen Prinzipien neu zu ordnen war der Beitrag, den jeder und jede zum Kommen des Reiches Gottes leisten konnte. Daneben bestand Arbeit am Reich Gottes aber auch darin, anderen in schwierigen Lebenslagen Hilfe zu bieten und sie auf den rechten Weg zu führen. Dieser Inneren

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Mission in Deutschland und Europa entsprach in Amerika, Afrika und Asien eine Äußere Mission.10 Es galt, wenn man sich auf die Arbeit Gunderts, Kittels und ihrer Kollegen bezieht, Indern den schmalen Weg zu zeigen und sie anzuleiten, ihn einzuschlagen. Abb. 4: Christliche Familien in Anandapur um 1900

Fotografie, Archiv Basler Mission, Ref. no. QL-30.009.0032

Sie waren vertraut zu machen mit einem christlichen Leben in der Tradition pietistischer Ideale und des ländlich-kleinstädtischen Lebens im vormodernen Württemberg. Angestrebt wurde eine entsprechende Transformation der indischen Gesellschaft. Die Fotografie christlicher Familien in Anandapur (Abb. 4), die etwa um 1900 entstand, drückt visuell aus, was angestrebt wurde und was auch verwirklicht werden konnte: Ordnung, Sauberkeit und Korrektheit in Kleidung, Aussehen und Auftreten, intakte Familienverhältnisse, Monogamie, Frauen an der Seite ihrer Männer, die Kinder behüten.

10 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 2 (wie Fn. 9), S. 468f.; Frenz/Deschner, „Werck der Bekehrung“, S. 49.

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In dem Beitrag werde ich nicht näher eingehen auf Strategien und Techniken der Evangelisation.11 Vielmehr werde ich begleitende Elemente vorstellen, die für eine erfolgversprechende Mission erforderlich waren und die Einblicke geben in das Spannungsverhältnis zwischen Mission und Moderne, so wie diese sich in Europa ausgeprägt hatte. Dabei handelt es sich um: 1. 2. 3. 4.

Kompetenz in lokalen Sprachen und Kulturen; Aufbau eines Schulwesens; Erstellung und Druck von Unterrichtsmaterialien und anderen Schriften; Aufbau eines christlichen Gemeindelebens, in dem auch soziale Fürsorge und ökonomische Absicherung von Bedeutung waren.

So wie es eben schon mit der Fotografie der christlichen Familien der Fall war, werde ich diese vier Punkte nicht nur textlich, sondern auch bildlich behandeln. Mir scheint, dass sich die Perspektive, um die es hier geht, in der Sprache der visuellen Kommunikation pointierter und unmittelbarer ausdrückt, als das beim geschriebenen Wort der Fall ist. Aus dem gleichen Grund operierten Basler und andere Missionsgesellschaften in ihrer Öffentlichkeitsarbeit in erheblichem Umfang mit Stichen, Fotografien, Lichtbildern oder Filmen. Vielfach waren diese bildlichen Materialien, und das kann man auch für einige der im Folgenden gezeigten annehmen, dafür gestaltet, die Leistungen der Mission herauszustreichen und um Unterstützung zu werben.12

11 Details zum Vorgehen Ferdinand Kittels: Reinhard Wendt, „Verse will eben der Hindu“. Ferdinand Kittels missionarische und philologische Arbeit zwischen Basler Konzepten und einheimischer Kultur, in: Zeitschrift für Mission 27 (2001), S. 27-45. 12 Vgl. dazu ein ähnlich gelagertes Beispiel einer anderen Missionsgesellschaft und einer anderen Region: Reinhard Wendt, Das südliche Afrika in der Öffentlichkeitsarbeit der Rheinischen Missionsgesellschaft. „Licht- und Schattenbilder“ von der „Hebung heidnischer Völker“ in Zeiten des Kolonialismus, in: H. Lessing u.a. (Hg.), Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Wiesbaden 2011, S. 107-120, sowie zum Einsatz von Lichtbildern in der Basler Mission: Andreas Jungk, „Die Zauberlaterne im Dienste der Mission“ – Historische Lichtbilder der Basler Mission 1860-1948, in: W. Wagner (Hg.), Kolonien und Missionen, Münster 1994, S. 414-425.

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1. S PRACH - UND K ULTURKOMPETENZ Nur wer sich verständlich machen kann, ist in der Lage, die Botschaft des Christentums zu vermitteln. Vom linguistischen Know-how und vom Erlernen der lokalen Sprache hing entscheidend das berufliche Überleben der Missionare in ihren Arbeitsgebieten ab. Gundert und Kittel mussten mit dem Spracherwerb nicht bei Null anfangen, sondern sie konnten einerseits auf die Kompetenzen von Mitbrüdern zurückgreifen. Andererseits standen in Indien mit seiner Tradition von Gelehrsamkeit und Literatur einheimische Experten zur Verfügung. Bei Gundert wie bei Kittel kam allerdings hinzu, und das hebt sie von anderen Missionaren ab, dass sie eine ausgeprägte Offenheit für und ein starkes Interesse an indischem Alltagsleben besaßen. Sie suchten den Kontakt zu Menschen aus allen Kasten, Schichten und Berufen und aus den verschiedenen Regionen ihrer Arbeitsgebiete. Dabei lernte Gundert gründlich alle Facetten des gesprochenen Malayalam kennen, und Kittel erwarb sich eine vergleichbare Kompetenz beim gesprochenen Kannada. Beide befassten sich zudem mit klassischen Texten und wurden vertraut mit den alten, mittleren und neuen Varianten der beiden Sprachen.13

2. S CHULWESEN Die Basler Mission war wesentlich daran beteiligt, Schulen nach westlichem Muster in Südindien aufzubauen. Nach und nach entstand ein gestaffeltes System, das von Grundschulen bis zu höheren Schulen reichte. Zwar sah die Missionsgesellschaft die Ausbildung von einheimischen Christen als wesentliche Voraussetzung für das Gelingen ihrer Arbeit an, doch waren nur wenige Schulen ausschließlich für Christen bestimmt. Zudem war der Unterricht keineswegs durchgängig und manchmal überhaupt nicht religiös orientiert. Säkulare Lehrmaterialien kamen ebenfalls zum Einsatz. Viel Wert wurde auf die Bildung von Mädchen gelegt, und die Mission sah sich geradezu als Vorreiterin der Emanzi-

13 A. Frenz (Hg.), Hermann Gundert, Brücke zwischen Indien und Europa, Ulm 1993, S. 281-288, 299-302, 319-322, 325-339; Reinhard Wendt, Between Cultures. Ferdinand Kittel’s missionary ways in India ranging from strategies of cultural accomodation to scientific research, illustrated by selected documents, in: ders. (Hg.), An Indian to the Indians? On the Initial Failure and the Posthumous Success of the Missionary Ferdinand Kittel, Wiesbaden 2006, S. 9-110, hier: S. 76-81.

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pation von Frauen.14 Im Begleittext zu diesem vor 1907 nach einer Fotografie gefertigten Stich (Abb. 5) heißt es, dass, „in früheren Zeiten […] in Indien das weibliche Geschlecht mit seltener Ausnahme gänzlich von allem Schulunterricht ausgeschlossen (war), weil die Hindus glaubten, derselbe würde die Mädchen für ihre künftigen häuslichen Aufgaben unbrauchbar machen und sie aus der Untertänigkeit gegen die Männerwelt emporheben. Die Frauen von Missionaren, europäische Lehrerinnen und auch einheimische Gehilfinnen schufen Abhilfe […] Unbeschreiblich groß ist der Segen, der aus diesen Schulen schon für die unterdrückte Frauenwelt Indiens und für das ganze Volk geflossen ist“. Aus diesem Text spricht zum einen die Selbstsicht der Mission, die sich als Förderer oder gar Befreier mindestens benachteiligter indischer Frauen und Mädchen präsentiert. Auch wenn aus dem Bild Ordnung, Aufmerksamkeit und Hierarchie zwischen Kindern und jugendlicher Lehrerin sprechen, nimmt die Mission hier zum anderen für sich in Anspruch, ein Bildungsideal zu verwirklichen, das integraler Teil der europäischen Moderne war. Abb. 5: Mädchenschule in Südindien

Kolorierter Druck, frühes 20. Jahrhundert, Archiv Basler Mission, Ref. no. QQ30.027.0121

14 Binder, Basler Mission (wie Fn. 8), S. 212-214; A. Frenz (Hg.), Hermann Gundert. Quellen zu seinem Leben und Werk, Ulm 1993, S. 98-103, 162f.

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3. E RSTELLUNG

UND D RUCK VON U NTERRICHTS MATERIALIEN UND ANDEREN S CHRIFTEN

Schulunterricht europäischen Typs kam ohne Lehrmaterialien nicht aus. Gundert wie Kittel verfassten Fibeln und andere Lehrbücher, griffen aber auch auf säkulares, europäisches Material zurück oder erstellten es sogar selber.15 Daneben bereiteten sie indische Stoffe für ihren Unterricht auf. Ein Beispiel dafür ist das „Panchatantra“, von dem hier das Titelblatt der Erstausgabe zu sehen ist (Abb. 6). Sie wurde 1865 vom Mission Book Shop in Mangalore verlegt. Abb. 6: Titelblatt der Erstausgabe des Panchatantra von 1865

Archiv Basler Mission, Ref. No. C.Ic.347

15 Frenz, Hermann Gundert (wie Fn. 17), S. 281; Wendt, Between Cultures (wie Fn. 14), S. 39f.; ders., Verse, S. 38.

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Beim Panchatantra handelt es sich um eine Sammlung von Fabeln, also um moralische, belehrende Geschichten, in denen Tiere die wichtigsten Protagonisten sind. Das ähnelt entsprechenden Erzählungen etwa von Äsop oder Jean de La Fontaine. In Mangalore befand sich nicht nur der administrative Hauptsitz der Basler Mission in Indien, dort war auch alles untergebracht, was mit dem Verlegen von Büchern zu tun hatte. Dabei ist zunächst die Druckerei zu nennen. Ihre Wurzeln gehen auf das Jahr 1842 zurück. Zunächst wurde lithografisch vervielfältigt. Angesichts der zahlreichen Zeichen, mit denen die verschiedenen indischen Sprachen geschrieben wurden, und der Formenvielfalt der einzelnen Buchstaben ließen sich mit Hilfe des Steindrucks rascher druckfähige Vorlagen erarbeiten. 1852 konnte der Druck mit beweglichen Lettern aufgenommen werden. Sie wurden anfänglich in Europa nach Vorlagen und Vorgaben aus Indien geschnitten. Später richtete die Mission eine eigene Typengießerei ein und produzierte dort auch für einen wachsenden indischen Markt. Verlegt wurden alle Publikationen der Mission von Traktaten über Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu großen wissenschaftlichen Werken wie Grammatiken oder Lexika. Man scheute sich nicht, externe Aufträge anzunehmen. Die Kolonialregierung beispielsweise benötigte regelmäßig neue Lehrpläne, Prüfungsordnungen und alle Arten von Formularen.16 Die Druckerei selber warb mit einem Musterheft, in dem sie die Sprachen und die Schriften veranschaulichte, in denen sie in der Lage war zu drucken. Hier sind Schriftbilder in Sanskrit und Malayalam zu sehen (Abb. 7). Bei diesem Beispiel wird wieder die Ambivalenz des Unternehmens deutlich: mit einem religiösen Text wurde um weltliche Kunden geworben. Die Druckereien der Mission im Allgemeinen, also nicht nur die Presse der Basler Mission, hatten einen großen Einfluss auf das intellektuelle, religiöse und politische Leben in Indien. Die neuen Technologien, die auf diesem Weg auf den Subkontinent gelangten, wurden von Indern bereitwillig übernommen und für eigene Ziele genutzt. Schnell wurden die Möglichkeiten erkannt, die die rasche Vervielfältigung und die leichte und weite Verteilbarkeit der Erzeugnisse bot. Das galt schon für die Lithografie, die für die Wiedergabe indischer Schriften besonders geeignet war. Als sich der Druck mit beweglichen Lettern allmählich durchsetzte, lieferte auch die Missionspresse in Mangalore die erforderlichen Typen für eine wachsende

16 Graham Shaw, Printing at Mangalore and Tellicherry by the Basel Mission, in: Libri 27 (1977), S. 154-164; Karl Rennstich, Handwerker-Theologen und Industrie-Brüder als Botschafter des Friedens. Entwicklungshilfe der Basler Mission im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1985, S. 116-119.

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Buch- und Presselandschaft in Indien. Das einheimische Verlagswesen nahm in diesem Kontext einen gewaltigen Aufschwung. Abb. 7: Muster der Missionsdruckerei in Mangalore für Typen und Schriftbild in Malayalam und Sanskrit

Specimens of Printing in ten different Languages at the Basel Mission Press Bangalore, 1907, Archiv Basler Mission, Ref. no. C.Sch-1.26

4. AUFBAU

EINES

G EMEINDELEBENS

Im Laufe der Zeit bildeten sich im Umkreis der Stationen der Basler Mission kleine indische Gemeinden. Ihre Mitglieder hatten sich entschieden, den schmalen Weg einzuschlagen. Die Mission sah sich verpflichtet, ihre neuen Schäflein beim Fortschreiten zu unterstützen. Mit der Annahme des christlichen Glaubens verloren Inderinnen und Inder den Rückhalt von Dorf-, Familien- und Kastengemeinschaften. Die Mission musste also nicht nur für das geistliche, sondern

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auch für das weltlich-ökonomische Fortkommen ihrer Gemeindemitglieder sorgen.17 Die Tatsache, dass man sich bemühte, keine Rücksicht auf Kastenschranken zu nehmen, kann als Schritt in Richtung auf eine Moderne europäischen Zuschnitts gesehen werden.18 In die gleiche Richtung wirkten die Maßnahmen zur Sozialfürsorge, die die Mission schuf, sowie die Einrichtungen des Gesundheitswesens. Pflegestationen und Krankenhäuser wurden aufgebaut, die oft auch der Allgemeinheit zur Verfügung standen. Besonders aber wurden Arbeitsplätze geschaffen. Sie entstanden in Betrieben, die man gewerblich-industriell nennen könnte.19 Männer, und zwar nicht nur christliche, sondern auch hinduistische, konnten sich beispielsweise zum Drucker ausbilden lassen und in der Presse arbeiten. Es entstand aber auch der Beruf des Typengießers oder des Setzers. Dieser Blick in die Setzerei in Mangalore aus der Zeit um 1930 (Abb. 8) vermittelt zunächst einen Eindruck von Größe und Bedeutung der Missionspresse. Dann veranschaulicht er Ordnung, Disziplin und Arbeitsethos. Abb. 8: Setzersaal in der Missionsdruckerei Bangalore

Fotografie um 1930, Archiv der Basler Mission, Ref. no. QC-30.020.0005

17 S.D.L. Alagodi, The Basel Mission in Mangalore: Historical and Social Context, in: Wendt (Hg.), An Indian to the Indians?, S. 131-164, hier: S. 151-157. 18 Ebd., S. 140-145. 19 Rennstich, Handwerker-Theologen (wie Fn. 19), S. 109ff.

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Auch wenn hier handwerkliche und nichtentfremdete Arbeit gezeigt wird, drückt die Fotografie doch aus, dass es nicht um eine Werkstatt in einem privaten Gebäude oder einem Hinterhof geht, sondern um einen mit allen Möglichkeiten und Mitteln der Zeit ausgestatteten Betrieb, der einen größeren Markt mit Lesestoff versorgt. In den gleichen Kontext gehören Buchbinderei, Buchhandlung und der Vertrieb der Publikationen auf dem Weg der Kolportage. Tatsächlich industrielle Dimensionen nahmen verschiedene Ziegeleien ein, wie etwa hier die in Kudroli (Abb. 9). Abb. 9: Kudroli Ziegelei, Sept. 1913, Ansicht von der Einfahrt

Fotografie, Archiv Basler Mission, Ref. no. QU-30.043.0010

Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1913 und vermittelt durch die Größe der Belegschaft, die sich vor der Fabrik versammelt hat, durch das mehrstöckige Haupthaus und die langgestreckten Produktionshallen mit dem hohen Schornstein nicht den Eindruck, als ob hier der Rückweg in eine vorindustrielle ländliche Idylle proklamiert wird. Auch für Frauen hatte in den Betrieben der Basler Mission in Südindien das industrielle Zeitalter Einzug gehalten. Ein Blick in den Zwirn- und Spulsaal der Weberei in Cannanore macht das deutlich (Abb. 10).

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Abb. 10: Zwirn- & Spul-Saal der Weberei in Cannanore

Fotografie, Archiv Basler Mission, Ref. no. QU-30.016.0041

5. M ISSION

UND

M ODERNE : V ERSUCH

EINES

F AZITS

1. Es ist nicht zu übersehen, dass Missionsgesellschaften und Mission der Moderne ihrer Zeit kritisch gegenüberstanden. Durchaus diskutiert werden können aber die Folgerungen, die sich daraus ergaben. So lässt sich zum einen konstatieren, dass die Kritik der Mission an der Moderne darin bestand, Auswüchse zu korrigieren und die Gesellschaft wieder auf eine geistliche Basis zurückzuführen. Hier ließe sich sagen, dass die Mission eine alternative Moderne anstrebt. Gleichzeitig lassen sich aber auch Rückbesinnungen auf vormoderne Traditionen beobachten. Althergebrachte Landwirtschaft und herkömmliches Gewerbe galten als Indikatoren für eine stabile Gesellschaft, die darüber hinaus ein christliches Familienleben zusammenhielt. Hier könnte man sagen, dass einer vergangenen Moderne das Wort geredet wurde. 2. Mit Blick auf Indien zeigt sich, dass für das Beschreiten des schmalen Weges geworben wurde und die Mission versuchte, traditionelle europäische Wertesysteme und Lebensverhältnisse zu etablieren.

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3. Deutlicher treten jedoch die Impulse hervor, die Errungenschaften der Europäischen Moderne des 19. Jahrhunderts in den Dienst des Gesamtunternehmens „Mission“ stellten, sie nach Indien transferierten und die dort qualitativ neuartige Verhältnisse hervorbrachten. Beispiele dafür lassen sich in Bildungswesen und Gesundheitsfürsorge ebenso finden wie im Buchdruck, der Presselandschaft, der Rolle der Frau oder auch den philologischen Arbeiten. Das gilt umso mehr, wenn man auf die Reaktionen der indischen Seite blickt, die in einer Normierung von Sprache und Schrift ebenso wie im Druckereiwesen wichtige Impulse für die Gestaltung der eigenen Gesellschaft erblickten. Hier könnte man den Beginn einer Moderne sehen, die europäische mit indischen Elementen verband und dazu beitrug, eine facettenreiche Situation in der außereuropäischen Welt hervorzubringen, die Shmuel N. Eisenstadt später mit „multiple modernities“ beschreiben sollte. 4. Ein weiterer Punkt ist hervorzuheben, der auch mit den Missionsbemühungen in Zusammenhang stand. Man kann sagen, dass die Mission teilhatte am Orientalismusdiskurs im Sinne von Edward Said.20 Sie wirkte daran mit, einen Teilbereich des Orients diskursiv zu konstruieren, nämlich den des Religiösen. Ein System spiritueller Praktiken und Überzeugungen, das aus regional und sozial heterogenen Überlieferungen und Handlungen bestand, wurde von europäischen Beobachtern und Gelehrten, von Beamten und Missionaren zu einem kohärenten religiösen System geformt, das zuvor so nicht existierte. Hinduismus ist in gewisser Weise eine Konstruktion.21 Dieser neu gestaltete Hinduismus wurde nun von Indern selbst angenommen und unter dem Eindruck von Mission und ihrer modernisierenden Impulse Gegenstand von Reformbemühungen. Dieser Aufgabe widmete sich vor allem der Brahmo Samaj22, dessen führende Figur seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Swami Vivekananda war. Zu seinen

20 Vgl. komprimiert dazu María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 29-54; einen mit der Basler Mission vergleichbaren Fall schildert Andreas Nehring: Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840-1940, Wiesbaden 2003. 21 Monica Juneja/Margrit Pernau, Einleitung, in: dies. (Hg.), Religion und Grenzen (wie Fn. 7), S. 9-51, hier: S. 19. 22 Dabei handelte es sich um eine religiös-intellektuelle Bewegung, die an westliche Ideen von Aufklärung und Rationalismus anknüpfte, soziale Fragen aufgriff und sich karitativ wie erzieherisch engagierte. Christliche Ideen mischten sich mit altindischen Traditionen (Hermann Kulke/Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens, Stuttgart u.a. 1982, S. 303; Mann, Geschichte Indiens, S. 105).

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Zielen gehörte es, vom Westen die Einrichtungen und Organisationsformen zu übernehmen, die für ein gut funktionierendes soziales Gemeinwesen erforderlich waren. Gleichzeitig wollte er dem Westen Indien als Mutterland des Religiösen und als Quelle spiritueller Weisheit vermitteln.23 Einerseits ging es also um Reform und Erneuerung eines von westlichen Orientalisten erst fixierten hinduistischen Glaubensgebäudes und seiner Organisationsformen nach europäischem Muster, gleichzeitig aber wurde dem Westen Indien als geistliches Vorbild vorgestellt, das eine Antwort auf die sich anbahnende Sinnkrise der Moderne darstellen konnte und entsprechend begeistert in Europa wie in den USA rezipiert wurde. Mission, die an der transkulturellen Verbreitung von Elementen der europäischen Moderne mitgewirkt hatte, trug auch zum Entstehen einer Gegenmission bei, die modernekritische Stimmen im Weste ansprach.

23 Kulke/Rothermund, Geschichte (wie Fn. 26), S. 306.

Teil II: Alternative Modernen?

Modernisierung in Siam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ein eigenständiger thailändischer Weg oder eine Kopie europäischer Vorbilder? S UPHOT M ANALAPANACHAROEN

Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, ob die Modernisierung in Siam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein eigenständiger thailändischer Weg oder eine Kopie europäischer Vorbilder war. Um ein besseres Bild von diesem Prozess zu gewinnen, ist es unerlässlich, nicht nur die äußere, sondern insbesondere die Binnenperspektive in Betracht zu ziehen. In dieser Abhandlung werden zwei Streitschriften zwischen dem König und seinen politischen Weggefährten untersucht. Diese in der internationalen Geschichtsforschung kaum bekannten Dokumente sind von Bedeutung, weil darin die unterschiedlichen Stellungnahmen gegenüber den westlichen Fortschritten innerhalb der Eliteschicht formuliert werden. Das Hauptstreitthema war die Aneignung der europäischen Moderne, welche Vor- und Nachteile und welche Problematik dabei zu berücksichtigen waren. Schließlich ging es darum, dass die antikoloniale Selbstbehauptung nicht – durch Rezeption europäischer Vorbilder – auf Kosten der inneren Stabilität erfolgen sollte. Im Ganzen geben diese thailändischen Akten Aufschluss darüber, wie die Siamesen Europa und die europäische Moderne betrachteten. Bereits im 17. Jahrhundert hatte Siam begonnen, Kontakte mit Europa zu knüpfen und zuerst moderne westliche Waffen zu importieren. Eine systematische und intensive Rezeption der europäischen Einflüsse begann jedoch erst ab 1850 und war eng mit dem Kontext der europäischen Expansion verbunden. Seit der Niederlage Burmas gegen Großbritannien (1826) und insbesondere nach dem Opiumkrieg (1842) sah sich Siam von Europa bedroht. Die wachsende Präsenz Europas in Südostasien stellte jedoch für das siamesische Königreich nicht nur

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eine Gefahr dar, sondern gab dem Land auch den Antrieb zu einer umfassenden Reform und Transformation des Staatswesens. Siam musste seine Verteidigungsstrategie gegen das westliche koloniale Vordringen ändern: erforderlich waren eine Modernisierung im Inneren und eine offensive Außenpolitik. Der erste Schritt war jedoch die Bereitschaft zum Abschluss von ungleichen Verträgen mit dem Westen.1 Trotz der Einschränkung der Zollhoheit brachten diese Verträge einen Wirtschaftsaufschwung mit sich, und Bangkok wurde bald ein wichtiges Wirtschafts- und diplomatisches Zentrum in Südostasien.2 Diese Begebenheiten sorgten dafür, dass Siam ab der Herrschaft Mongkuts (1851-1868) – und noch mehr unter dem Nachfolger König Chulalongkorn (1868-1910) – eine umfassende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformation durch die Rezeption der westlichen Kultur und der modernen Technik in allen Bereichen erlebte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich Europa und Siam noch als gleichberechtigte Partner gesehen, und China war für das Königreich das ideale Modell hinsichtlich der Wirtschaft, der Kultur sowie der Politik.3 Von nun an wurde in Siam das moderne Europa zum Vorbild für die Entwicklung des Landes genommen. Es handelte sich um eine Umorientierung von der orientalischen zur „okzidentalen Rationalisierung“4, kurzum um eine Universalisierung des Westens.5

1

Insgesamt schloss Siam solche Verträge mit 14 Ländern ab: Großbritannien (1855), Frankreich (1856), den USA (1856), Dänemark (1857), Portugal (1859), den Niederlanden (1860), Preußen bzw. Deutschland (1862), Belgien (1868), NorwegenSchweden (1868), Spanien (1869), Österreich-Ungarn (1869), Italien (1869), Japan (1887 und 1898) und Russland (1891 und 1899). Im März 1891 schloss Siam mit Russland ein freundschaftliches Abkommen (Declaration between Russia and Siam) ab. Die siamesisch-russischen diplomatischen Beziehungen vertieften sich mit dem Abschluss eines Handelsvertrags vom 5. Juni 1899. Chalong Sundaravanich, RussiaThai samai ratchakan ti 5-6 [Die russisch-thailändischen diplomatischen Beziehungen während der 5. und 6. Herrschaft], Bangkok 1973.

2

D. G. E. Hall, A History of Southeast Asia, London 41981 (11955), S. 710f.

3

Prinz Damrong Rajanubhab, The Introduction of Western Culture in Siam, in: The

4

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnete Max Weber diesen Prozess als „okziden-

Journal of Siam Society, vol. XX (part 2) (October 1926), S. 89-100. tale Rationalisierung“. Diese Begrifflichkeit wurde von John W. Meyer zu „Weltkultur“ weiterentwickelt. Siehe John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. v. Georg Krüchen, aus dem Amerikanischen übers. v. Barbara Kuchler, Frankfurt a. M. 2005.

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Der Sinn und Zweck der Aneignung der europäischen Moderne in Siam war kein anderer als in China und Japan. Es handelte sich um drei Länder in Ostasien, die dem britischen „informal empire“ unterworfen waren. Siam, Japan sowie auch China ließen sich auf diese Bedingungen ein und versuchten unter den gegebenen Umständen, eine schnelle, umfassende Reform ihres Landes durchzuführen, um sich aus dieser Lage zu befreien. Für diese Länder zielte die Übernahme der europäischen Moderne einerseits auf die Machterhaltung im Inneren, andererseits auf die antikoloniale Selbstbehauptung. Ungeachtet dessen war der Verlauf der Modernisierung in den drei Ländern unterschiedlich, den jeweiligen Bedingungen entsprechend. Japan konnte beispielsweise einen großen Teil seines Modernisierungsprogramms 1890 abschließen. Die japanische Regierung hatte 1889 eine Verfassung verkündet; diese trat ein Jahr später mit der erstmaligen Eröffnung des Parlaments in Kraft. Mit der Annahme der britischen konstitutionellen Monarchie konnte sich Japan nicht nur schrittweise aus der Situation von informal-empire befreien, sondern auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Weltmacht aufsteigen. Siam konnte erst in den 1930er Jahren mit Hilfe der USA die ungleichen Verträge endgültig lösen. Wie die jüngste empirische Forschung erwiesen hat, geschah die Umwandlung in Interaktion mit den europäischen Staaten; je größer der koloniale Druck war, desto mehr nahm die Kooperationsbereitschaft Siams zu, auf die der Westen wiederum mit weiteren Angeboten zur Zusammenarbeit reagierte. Darüber hinaus hing der Erfolg der Transformation Siams nicht nur von der Anpassungsfähigkeit der Einheimischen, sondern auch von der Kooperation und Akzeptanz beiderseits ab. Sowohl Siam als auch die westlichen Staaten spielten die Rollen des Initiators und Empfängers gleichermaßen, wobei Siam seine Taktvorgaben einhalten konnte. Die Einsicht in diese Wechselwirkungen erweitert die Erforschung der Modernisierung und des Kulturtransfers in Siam um eine neue Dimension.6 Der Entwicklungsprozess in Siam durchlief verschiedene Stadien als Antwort auf die koloniale Ausbreitung, die in mehreren Schüben stattfand. Im All-

5

Jürgen Osterhammel, Symbolpolitik und imperiale Integration: Das britische Empire im 19. und 20. Jahrhundert, in: Die Wirklichkeit der Symbole, hrsg. v. Rudolf Schlögl, Konstanz 2004, S. 395.

6

Diese Erkenntnis stützt sich auf die neue Erkenntnisse, die im Rahmen eines Forschungsprojekts an der FernUniversität in Hagen gewonnen wurden: Suphot Manalapanacharoen, Selbstbehauptung und Modernisierung mit Zeremoniell und Ehrenzeichen. Zur Rezeption europäischer Orden und zur Politik der Ordensverleihung in Siam (im Druck).

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gemeinen erfolgte die Aneignung europäischer Einflüsse in Siam in zwei Stufen: Es begann zunächst mit einer symbolischen Nachahmung (siehe Abb. 1). Nach einer gewissen Zeit folgte der eigentliche, bewusste Aneignungsprozess (siehe Abb. 2). Aufgrund der ziemlich ruhigen kolonialen Situation in Südostasien modernisierte das Königreich zuerst seine Infrastruktur, seine Rechtsprechung und das Finanzwesen. Mongkut führte danach viele Neuerungen in der symbolischen Repräsentation zwecks der freundschaftlichen Beziehungen mit dem Westen ein: die Nationalhymne, Orden und Ehrenzeichen und das diplomatische Zeremoniell. Die eigentliche Aneignung der europäischen Moderne erfolgte jedoch erst während der Herrschaft König Chulalongkorns. Das Wesentliche dieses Vorgangs bestand in der Übernahme des Organisationswesens, indem das traditionelle siamesisch-asiatische Königreich in einen modernen Nationalstaat transformiert wurde. Diese Begebenheit ist auf viele Faktoren zurückzuführen. Chulalongkorn war in der Lage, die europäische Moderne intensiv zu rezipieren und sie zu reflektieren, weil er von seinem Vater westlich erzogen und durch die Erfahrungen mit der westlichen Kultur und dem Kolonialismus geprägt wurde. Außerdem hatte sich die koloniale Expansion inzwischen verschärft, und die Interaktion mit den europäischen Mächten wurde intensiver. Die Kooperationsbereitschaft seitens des Westens nahm dementsprechend zu; insbesondere die in Bangkok ansässigen westeuropäischen Interessenvertreter und die amerikanischen protestantischen Missionare – vor allem die zweite Generation, die dort das Licht der Welt erblickte – traten als Mediatoren bei Konflikten mit den Kolonialmächten und als Vermittler der europäischen Moderne im Lande auf.

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Abb. 1: Die Sala sahathai samakhom-Empfangshalle7 von 1873 im Königspalast

Aufnahme vom Verfasser; Bei diesem Bild handelt es sich um eine vollständige Nachahmung des Gebäudes „Club Concordia“ in Jakarta, das der junge König Chulalongkorn 1871 dort besucht und bewundert hatte.

Während seiner Herrschaft versuchte Chulalongkorn zweimal – 1873 und 1880 – seine Reformpolitik in die Wege zu leiten. Der erste Versuch scheiterte an dem Widerstand der konservativen Fraktion. 1880 begann Chulalongkorn eine umfassende Reform seines Landes in allen Bereichen; die wichtigste davon war die Regierungsreform. Zeitgleich hatten auch andere Nachbarländer, die formeller Kolonialherrschaft unterworfen waren – Britisch-Burma, Singapur sowie Viet-

7

„Sala“ bedeutet „Halle“, „Saal“, „Pavillon“, aber auch „Gebäude“, „saha“ (Pali) „zusammen“, „daya“ (Pali: hadaya) „Herz“, „Seele“, „samakhom“ (Sanskrit: samƗgama) „Gesellschaft“, also zusammengefasst: „Club Concordia“. In dieser Empfangshalle befanden sich das königliche Museum sowie die königliche Konversationsbibliothek, die neu nach westlichem Vorbild errichtet wurden. Der König wollte seinen Ehrengästen diese als Zeichen der Moderne präsentieren. Hierüber siehe den ausführlichen Bericht im Artikel The Conversazione in: The Siam Repository 1874, S. 612.

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nam – begonnen, Reformen in ihren Ländern einzuführen, was Siam einen weiteren Modernisierungsimpuls gab. Abb. 2: Der Maha Chakri Prasad-Palast von 1882

Aufnahme vom Verfasser; Im Vergleich zur Sala sahathai sama khom-Empfangshalle von 1873 (Abb. 1) fällt die Mischung aus westlich-europäischen und asiatisch-siamesischen Einflüssen auf.

Zu Beginn der 1880er Jahre konnte sich Chulalongkorn mit Hilfe seiner jüngeren Brüder und Beamten mit seiner Reformpolitik den alten Ministern gegenüber durchsetzen. Der junge König war nun auf dem Weg zur alleinigen Herrschaft.8 Zugleich begann der zweite Anlauf der kolonialen Expansion in Südostasien: Nach der Annexion Annams 1884 rückte Frankreich weiter westwärts und beabsichtigte, die Vasallenstaaten Siams entlang des Mekong-Flusses – im heutigen

8

Hierüber siehe beispielsweise Nigel Brailey, Two Views of Siam on the Eve of the Chakri Reformation, Whiting Bay 1989.

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Kambodscha und Laos – zu annektieren.9 Großbritannien reagierte mit einem zweiten Eroberungskrieg in Birma (1885). Nun sah sich Siam der unmittelbaren Nachbarschaft von zwei Kolonialmächten gegenüber. In dieser bedrohlichen Situation waren sich Chulalongkorn und seine junge progressive Fraktion darin einig, dass eine umfassende Reformpolitik und eine offensive Diplomatie die beste Verteidigungsstrategie für ihr Land seien. Jedoch bei der Frage, wie die Transformation umgesetzt werden sollte, gingen die Meinungen auseinander. Der König sah in erster Linie die innere Stabilität als unabdingbare Voraussetzung für den Kampf gegen die koloniale Bedrohung. Zugleich meinte Chulalongkorn, eine Modernisierung nach westlichem Vorbild sollte nicht den Verlust der eigenen kulturellen Identität bedeuten, denn diese diente als Kraft zur Integration in Siam. Die progressiven Jungen hingegen legten großen Wert auf die Modernisierung und wollten diesen Prozess nicht nur beschleunigen, sondern auch eins zu eins umsetzen. Die Auseinandersetzung zwischen dem König und der jungen Fraktion wurde im Laufe der Zeit stärker und zog sich bis zum Ende der Herrschaft Chulalongkorns im Jahr 1910 hin.

D AS P ETITIONSSCHREIBEN

VOM

08.01.1885

Am 8. Januar 1885 reichten die Prinzen und Beamten eine Petition bei dem König ein; die meisten von ihnen waren Mitglieder des siamesischen diplomatischen Korps in Europa.10 Darin äußerten sie ihre Befürchtung über die Expansi-

9

Dieses Eroberungsziel wurde mit der vermeintlichen Behauptung begründet, dass der Mekong die Region Südchinas erschließen könnte. Obwohl die wissenschaftliche Expedition von Doudart de Lagrée und Francis Granier 1866-68 erwiesen hatte, dass dieser Fluss teilweise nicht gangbar für die Navigation war und die Expedition von Jean Dupuis 1873 den Roten Fluss als Einfallstor nach Südchina entdeckt hatte, wollten die französischen Kolonisten diese Gebiete weiter im Auge behalten. Hierüber siehe beispielsweise die Untersuchung von Dieter Börter, Frankreich im Fernen Osten. Imperialistische Expansion und Aspiration in Siam und Malaya, Laos und China, 1880-1904, Stuttgart 1996.

10 Dieses Dokument wurde in Thailand erst 1967 öffentlich bekannt. The Fine Arts Department (Hrsg.), Chaonai lae kharatchakan krapbangkhom thun khwamhen chat kanplianplaeng ratchakan phaendin r. s. 103 [Die Prinzen und Beamten suchten seine Majestät auf, um ihre Meinungen über die Verwaltungsreform 1885 [in schriftlicher Form] einzureichen], in: Kremationsbuch von Phra Anurakbhubes (Tem Bunyarata-

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onspolitik Frankreichs und wollten den König bewegen, die Reformen im Land zu beschleunigen. Zu Beginn der Petition ist Folgendes zu lesen: „Sollte sich Siam noch in diesem rückständigen Zustand befinden, ist zu befürchten, dass das Land in naher Zukunft von Frankreich als eine Kolonie einverleibt wird. Es gibt keinen anderen Ausweg als eine umfassende Reform und zwar mit der Entschlossenheit seiner Majestät. In Japan hat sich dieser Weg als richtig erwiesen.“11 Weiter hieß es, Siam habe bisher zwar ungleiche Verträge mit dem Westen abgeschlossen, die diplomatischen Vertreter im Ausland ernannt, das diplomatische Zeremoniell modernisiert, neue Kleidung sowie Uniformen nach Art des Westens anfertigen lassen und moderne soziale Grundsätze sowie moderne Technik des Westens angenommen, beispielsweise die Abschaffung der Sklaverei oder die Einrichtung von Post und Telegrafie. Dies seien jedoch lediglich symbolische Übernahmen, um von der westlichen Gemeinschaft als ein modernisierter Staat anerkannt zu werden. Aber dies, so meinten die Verfasser, reiche nicht aus, um die Kolonialgefahr abzuwenden. China sei ein gutes Beispiel dafür.12 Die Verfasser fuhren mit einer langen Erläuterung der neuen Entwicklung in Siam fort: Das Land habe nun Fortschritte in allen Bereichen erreicht. Die Hauptstadt Bangkok habe sich vergrößert und die Zahl der ausländischen Diplomaten und Kaufleute sei gewachsen. Das Volumen des Außenhandels habe zugenommen und vieles mehr. Dies habe mehr Arbeitsaufwand in der Verwaltung sowie in der Rechtsprechung zur Folge. Daher sei seine Majestät nicht mehr in der Lage, allein die Verantwortung für das ganze Land zu übernehmen. Zusammengefasst wollten die Verfasser andeuten, dass das siamesische traditionelle, von oben nach unten aufgebaute Verwaltungssystem nicht mehr zeitgemäß sei und nach dem europäischen System von unten nach oben modernisiert werden müsse. Weiter heißt es: „Der König möge daher ein Parlament einrichten und die politischen Parteien zulassen. Das Parlament würde die staatliche Verwaltungsarbeit übernehmen und seine Majestät entlasten.“13 Nach einer langwierigen Einleitung kamen die Verfasser zu ihrem Hauptanliegen: „Es ist daher nun dringend notwendig und erforderlich, Siam umfassend zu reformieren. Vor allem möge seine Majestät die Staatsform der konstitutionellen Monarchie nach dem

phadhu) am 10. Februar 1970, Bangkok (11967) 21970. (im Folgenden abgekürzt als „Die Prinzen und Beamten“). 11 Die Prinzen und Beamten, S. 2. 12 Die Prinzen und Beamten, S. 15ff. 13 Die Prinzen und Beamten, S. 15f.

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britischen Vorbild übernehmen.“14 Neben der Reform der staatlichen Administration und des Beamtenwesens sowie der Gesetzgebung solle man die Korruption beseitigen und das Prinzip der Gleichheit sowie die Freiheit der Presse garantieren.15 Diese moderne Staatsform würde nicht nur für Stabilität im Inneren, sondern auch für volle Akzeptanz und Anerkennung durch den Westen sorgen. Aus diesen Gründen solle „seine Majestät vor allem diese Reformpolitik entschlossen bei den Konservativen und den alten Ministern durchsetzen.“16 Damit Chulalongkorn all die geschilderten Defizite des Landes überblicken und die reale koloniale Gefahr wahrnehmen könne, schlugen die Verfasser der Petition dem König vor, Europa zu besuchen, und unterbreiteten ihm ein ausführliches und umfassendes Besuchsprogramm.17 Diese Petition zeigt die idealistischen Vorstellungen der jungen siamesischen Leute, die in Europa studiert hatten. Solche Vorstellungen erscheinen uns im 21. Jahrhundert als selbstverständlich, für die damaligen Siamesen waren sie jedoch sehr befremdlich und glichen einem Affront, ja sogar einem Aufstand gegen den König.

D IE S TELLUNGNAHME K ÖNIG C HULALONGKORNS , 29.04.1885 Am 29. April 1885 bezog der siamesische König in einem Antwortschreiben Stellung zu der Petition.18 Zu Beginn rechtfertigte er seinen Reformkurs: „Ich habe mich in den 18 Jahren meiner bisherigen Herrschaft stets bemüht, das Land gegen die Angriffe von außen zu verteidigen, indem ich u.a. auch die aktuellen Nachrichten ständig verfolgt habe. Daher habe ich mich voller Eifer eingesetzt, das Land zu reformieren. All diese Mühe hat Krisen im Land ausgelöst; daher

14 Die Prinzen und Beamten, S. 23. 15 Die Prinzen und Beamten, S. 24. 16 Die Prinzen und Beamten, S. 25. 17 Chaonai thunklao thawai khwamhen phueachoen sadetprapat yurop [Die Prinzen unterbreiten dem König ihre Empfehlungen zur Europareise], hrsg. v. Wudhichai Mulasil, in: The Journal of the Historical Society, XXXI 2552 (2009), S. 148-208. 18 König Chulalongkorn, Phraratchadamrat songtob khwamhen khongphuchahai plianplaengganpokkhrong ch. s. 1247 [Die Erwiderung des Königs 1885 an diejenigen, die die Staatsform ändern wollten.], hrsg. v. The Fine Arts Department, in: Kremationsbuch von Phra Anurakbhubes (Tem Bunyarataphadhu) am 10. Februar 1970, Bangkok (11967) 21970, S. 57-64. (im Folgenden abgekürzt als „König Chulalongkorn, Die Erwiderung des Königs“).

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musste ich diejenigen berücksichtigen, die ihre wirtschaftlichen Profite bei der Modernisierung des Landes verloren hatten. Diejenigen, die damals mit mir gekämpft haben, wissen Bescheid, wie schwierig es gewesen ist. Deshalb fühle ich mich weder eingebildet wie eine Kröte in einer Kokosnussschale, noch als ein wankelmütiger Mensch.“19 Seit 1880, so schrieb der König weiter, sei er von den Regierungsgeschäften in Beschlag genommen worden und deshalb nicht mehr in der Lage gewesen, sich beispielsweise um die Modernisierung der Gesetze zu kümmern. Chulalongkorn meinte, das Hauptproblem sei der Mangel an effektivem Personal, das seinen Auftrag ausführen könne. Im Gegensatz zu dem britischen Premierminister müsse er all die bürokratische Arbeit in jeder Abteilung der Ministerien selbst erledigen. Diese ganze Verantwortung falle ihm sehr zur Last.20 Im Hinblick auf die Annahme eines parlamentarischen Systems, so führte er weiter aus, gebe es noch ein Problem. Es mangele nämlich an politischer Streitkultur in der Thai-Gesellschaft. In der Kabinettssitzung seien beispielsweise alle Anwesenden sehr schweigsam. Die alten Minister nähmen an der Sitzung selten teil; wenn sie anwesend seien, blieben sie still, denn sie fühlten sich beleidigt, wenn die anderen es wagten, ihrer Meinung zu widersprechen. Außerdem diene ihnen das Schweigen als Bewahrung ihrer Erhabenheit und Autorität. Ebenso schweigsam seien die jungen Kabinettsmitglieder; diese trauten sich nicht, ihre Meinung zu äußern, denn sie wollten die älteren nicht kränken.21 Ein Weg zur Lösung dieses Problems wäre, all die alten Minister auf einmal zu entlassen. Eine solche Maßnahme könnte jedoch erneut eine innenpolitische Instabilität auslösen.22 So stecke Chulalongkorn in einer Zwickmühle. Die Stille in der Kabinettssitzung sei darüber hinaus auf den Mangel an Verantwortungsbewusstsein bei den Siamesen zurückzuführen. In der Sitzung wollten keine Fraktionen irgendwelche Verantwortung übernehmen, und alle überließen dem König die Entscheidung. Im Gegensatz dazu diskutierten die Mitglieder außerhalb der Versammlung lebhaft und machten viele Vorschläge, es gebe also viele Besserwisser. Chulalongkorn beendete seine Erwiderung mit der Behauptung, dass Siam nun zwei dringend notwendige Aufgaben erledigen müsse, nämlich die „government reform“ und die Modernisierung der Gesetzgebung. Er lud seine jun-

19 König Chulalongkorn, Die Erwiderung des Königs, S. 60. 20 König Chulalongkorn, Die Erwiderung des Königs, S. 61. 21 König Chulalongkorn, Die Erwiderung des Königs, S. 62. 22 König Chulalongkorn, Die Erwiderung des Königs, S. 62.

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gen Mitstreiter ein, gemeinsam mit ihm eine systematische Reformpolitik durchzuführen.23 Aus seinem Antwortschreiben lässt sich erkennen, dass Chulalongkorn als Staatsoberhaupt eine andere Perspektive bei der Reformpolitik hatte. Er war der Auffassung, dass die Eintracht im Inneren die unerlässliche Voraussetzung für einen Kampf gegen die koloniale Expansion sei. Daher musste er einen Kompromiss mit allen Fraktionen schließen und einen moderaten Weg wählen, um seine Position als König, Regierungschef und nicht zuletzt als absoluter Herrscher im Land zu behaupten. Trotz der Meinungsunterschiede spielte diese Petition eine wichtige Rolle bei der Modernisierungspolitik Chulalongkorns. Im Laufe der Zeit leitete der König verschiedene Reformprogramme in die Wege, insbesondere die Verwaltungsreform.

D IE G OVERNMENT R EFORM Die „Government Reform“ ging in zwei Schritten vonstatten. Am 1. April 1888 wurden zwölf Verwaltungsdepartments errichtet, zusammengesetzt aus sechs traditionellen und sechs neuen westlichen. Der zweite Schritt folgte vier Jahre später. Am 1. April 1892 wurden die zwölf Departments von 1888 per Erlass in zwölf Ministerien umgewandelt. Die Neuerung betraf zunächst die Ausstattung. Jedes neu formierte Department sollte sich nur auf seine Hauptaufgabe konzentrieren. Das Außenministerium (Krommatha, also das „Hafenministerium“) beispielsweise sollte sich von nun an auf die Auslandsbeziehungen beschränken. Die Zuständigkeit für die Verwaltung, Verteidigung, Erhebung von Steuern sowie die Gerichtsbarkeit in den Hafenstädten wurde vom Innen-, Verteidigungs-, Finanz- und JustizDepartment übernommen.24 Die eigenmächtige Finanzierung jedes Departments sollte durch den jährlichen Etat ersetzt werden. Die Minister und Beamten erhielten eine Besoldung; in jedem Department wurde ein Zentralbüro mit festen Arbeitszeiten errichtet analog zum modernen europäischen Verwaltungssystem. Alle zwölf Departments waren gleichrangig und dem König als Regierungschef

23 König Chulalongkorn, Die Erwiderung des Königs, S. 63f. 24 König Chulalongkorn, Phraratchadamrat song thalaeng phraborommarachathibai kaekhai kan pokkhrongphaendin [Die Ankündigung und Erklärung König Chulalongkorns über die Regierungsreform der staatlichen Verwaltung], Bangkok 1927, S. 6 (im Folgenden abgekürzt als „König Chulalongkorn, Die Ankündigung und Erklärung“).

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untergeordnet. Alle Änderungen im Land mussten von nun an ausschließlich per Gesetz erfolgen.25 Solche Vorgänge waren neu in Siam. Dies bedeutete wiederum, dass Siam nun das am europäischen Vorbild orientierte Verfahren übernommen hatte. Transparenz, Effizienz und Arbeitsteilung nach Spezialisierung sollten, wie im Westen, für Fortschritt sowie für Frieden in Siam sorgen. Das Wesentliche im zweiten Stadium der Modernisierung lag in der Errichtung dreier Räte statt eines Parlaments: des Ministerrats, des Legislative Councils und des Privy Councils. Der Ministerrat, aus zwölf Ministern zusammengesetzt, fungierte als Regierungskabinett, der Legislative Council als gesetzgebender Rat und der Privy Council als Geheimrat. Diese Räte hatten die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. An der Spitze stand der König als Regierungschef und Staatsoberhaupt. Formal beruhte die reformierte Regierung Siams auf den drei Gewalten entsprechend der modernen europäischen Staatsform: Exekutive, Legislative und Judikative. Die siamesische traditionelle Verwaltungsstruktur von oben nach unten blieb jedoch unverändert bestehen. Somit konnte der König seine absolute Macht ausüben; er besaß das alleinige Recht, die Mitglieder der drei Räte sowie die Minister und Beamten zu ernennen oder zu entlassen. Eine solche selektive Rezeption der europäischen Herrschaftspraxis schlug sich auch in der Kulturpolitik Chulalongkorns nieder, wie die Komposition der siamesischen und europäischen architektonischen Stilelemente beim Maha ChakriPrasad zeigt (siehe Abb. 2). Die Auseinandersetzung zwischen dem König und der progressiven Fraktion setzte sich trotz allem weiter fort. Die Gesinnung der jungen Generation, die in Europa studiert hatte, war sehr ideologisch und radikal; ihre Vertreter verlangten nicht nur ein Parlament, sondern auch die Übernahme der christlichen Religion in Siam. Im Laufe der Zeit musste Chulalongkorn oftmals die jungen Berater, engvertraute Beamte, ermahnen, dass es nicht einfach sei, all die Defizite des Landes allein durch die Übernahme des westlichen Systems zu beseitigen. 1903 musste Chulalongkorn das Wort ergreifen. Er verfasste einen Aufsatz über die Eintracht, um sein Reformvorhaben nochmals darzulegen.26 Dabei erläuterte er den Begriff „Eintracht“ im Sinne von Gemeinsamkeit zugunsten des Fortschritts des Landes. Aus soziologischer Sicht ist dieser Aufsatz von Bedeutung, weil er einen Einblick in die siamesische Gesellschaft gibt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Siam nicht nur eine progressive Gruppe, sondern mehrere. Die

25 König Chulalongkorn, Die Ankündigung und Erklärung, S. 61. 26 König Chulalongkorn, Phraboromaratchathibai rueang khwamsamakki [Das königliche Schreiben über die Eintracht], Bangkok (11946), 62007 (im Folgenden abgekürzt als “König Chulalongkorn, Über die Eintracht”).

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verwestlichten Gedanken von manchen gingen so weit, dass sie eine reale Gefahr für die innere Stabilität des Landes darstellten.

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Chulalongkorn erläuterte in seinem Schreiben die Gesinnung von zwei Gruppen. Die erste bestehe aus Leuten, die noch nie im Ausland gewesen seien und keine Fremdsprache kannten. Diese wollten sich jedoch als Europakenner ausgeben: Nach ihrer Meinung habe Europa den Fortschritt deshalb erreicht, weil es dort keine Korruption gebe. Die Europäer seien aufrichtig und aufeinander nicht neidisch. Die zweite Gruppe bestehe aus Leuten, die die englische Sprache beherrschten und die europäischen Regierungsgeschäfte durchaus gut kannten. In ihren Augen liege das Wesentliche des Fortschritts Europas in dem parlamentarischen System. Infolgedessen müsse Siam auch über ein solches Parlament verfügen und u.a. die Meinungsfreiheit zulassen.27 Solche Forderungen waren nicht neu, sie waren bereits in der Petition von 1885 zu finden. Neu war allerdings die Auffassung, dass Siam die christliche Religion als Staatsreligion annehmen solle, um den wahren Fortschritt zu erreichen. In dem Schreiben Chulalongkorns sind keine genaueren Informationen zu finden, ob die anzunehmende Religion evangelisch oder katholisch sein sollte. Wir können nur vermuten, dass diese Gruppe das westliche Klischee vertrat, dass Siam aufgrund der Weltabgewandtheit des Buddhismus rückständig geblieben sei. Sie betrachteten das Christentum als Zeichen der Moderne. Eine solche Auffassung ist auch heute noch in Thailand anzutreffen. Der König korrigierte die erste Meinung. In Europa gebe es doch Bestechung sowie Schikane und Neid, und zwar in höherem Maß als in Siam. Der Unterschied zwischen Europa und Siam bestehe darin, dass die Europäer, wenn es um das Landesinteresse gehe, bereit seien, auf den eigenen Vorteil zu verzichten und miteinander in Eintracht den Fortschritt des Landes voranzubringen.28 Das Verantwortungsbewusstsein der Menschen im Westen, so meinte Chulalongkorn, sei viel stärker ausgeprägt als bei den Siamesen. Bei der zweiten Meinung musste der König dasselbe Gegenargument wie 1885 vorbringen. Dieses Mal kam er direkt auf den Punkt: Diese Leute hatten in Europa das Parlament und die politischen Parteien gesehen und dort lebhafte Debatten kennengelernt. Dabei hatten sie vergessen, dass ein solches System und

27 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 1f. 28 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 3f.

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eine solche politische Kultur eine sehr lange Entwicklungsgeschichte hinter sich hatten. Auch waren nicht alle europäischen Staaten auf ein solches System gegründet, wegen unterschiedlicher sozio-politischer sowie kultureller Gegebenheiten. Man dürfe daher Europa nicht als Maßstab setzen.29 Eine solche Nachahmung schien Chulalongkorn, als wollte man das moderne Wissen über den Weizenanbau in Europa für den Reisanbau in Siam anwenden.30 Weiter fuhr der König in seinem Schreiben fort: Diejenigen, die politische Parteien verlangten, seien nicht zahlreich. Sollten solche Parteien tatsächlich gegründet werden, bestünde die jeweilige Partei nur aus neun bis zehn Leuten. Unter solchen Umständen würden sie bei einer Regierungsbildung die oppositionelle Fraktion vertreten. Im Parlament würden sie deshalb auch mit anderen Fraktionen nicht zusammenarbeiten, weil sie eingebildet seien; sie schauten auf die restliche Gesellschaft als rückständig hinab. Diese Leute würden im Besonderen von der Mehrheit der Gesellschaft und von dem König selbst abgelehnt, aufgrund ihrer Absicht, die christliche Religion in Siam einzuführen.31 Solche radikale Gesinnung würde selbst in Europa abgelehnt. Damit stünden sich im Parlament unnachgiebige Kontrahenten in verhärteten Fronten gegenüber; dies wäre auf keinen Fall vorteilhaft für das Land.32 Um alle diese Probleme zu unterbinden, so schlug der Verfasser vor, wäre es besser, dass der König nach wie vor das letzte Wort in allen drei Räten beibehalte. Vor allem glaube die Mehrheit der Bevölkerung an die Moral und Gerechtigkeit des Königs; der König tue stets das Beste für sie und für das Land. Dies habe er auch tatsächlich getan. Er habe als Erster die Initiative ergriffen, die soziopolitische Struktur des Landes zu modernisieren, im Unterschied zu den europäischen Monarchen; deren Taten seien willkürlich gewesen, wie die europäischen Geschichtsbücher gezeigt hätten. Die Europäer hätten stets versucht, ihre Rechte zu behaupten, und die Souveräne stünden allen Änderungsplänen im Weg.33 Dies

29 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 4f. 30 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 5. 31 Über diese Gesinnung siehe das Kapitel 4. Kulturelle Verwestlichung in: Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 2007, S. 356ff. 32 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 6f. 33 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 11. und 15f. Diese Aussage beruht auf dem Kontrollmechanismus für das Handeln des Königs in Siam. Trotz der uneingeschränkten Macht wurde der siamesische Monarch von dem buddhistischen Gremium kontrolliert. Hierüber siehe Kapitel 2 The Sangha and the State, in: Yoneo Isshi,

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sei der Grund für die Entstehung des parlamentarischen Systems in Europa, also der politischen Struktur von unten nach oben. Somit wollte Chulalongkorn die siamesische Herrschaftsstruktur von oben nach unten rechtfertigen und noch einmal seine Position als Staatsoberhaupt behaupten. Zum Schluss seines Schreibens schlug der siamesische König eine Modernisierung nach Art des mittleren Wegs vor. Als Erstes solle man seine eigene Tradition und Kultur genau studieren. So sei man in der Lage, alle Vor- und Nachteile bei der Rezeption fremder Einflüsse besser zu erkennen. Das eigentliche Ziel der Modernisierung sei es, das Wohl des Volkes und die Stabilität des Landes zu fördern.34 Daher müssten alle Fraktionen gemeinsam einen Beschluss fassen, ob und inwieweit diese fremden Dinge angenommen werden sollten. Nur auf diesem Weg könnten die Siamesen gemeinsam den Fortschritt des Landes bewerkstelligen. Das heißt: alle gesellschaftlichen Gruppen sollten miteinander einen Kompromiss schließen. Dieser, so fuhr der König fort, könne nur zustande kommen, wenn alle Gruppen ihren Stolz sowie die Vorurteile anderen gegenüber beiseitelegten und sich pflichtbewusst gegenüber ihrem Land zeigten.35 Im Schlussteil erklärte Chulalongkorn den Grundsatz seines moderaten Reformkurses näher. Dieser bestehe nämlich aus drei Dingen: Reflexion, Kompromiss und Verantwortungsbewusstsein. In seiner Schrift 1903 wies der siamesische Monarch nachdrücklich darauf hin, dass das Hauptproblem der Modernisierung des Landes bei den Siamesen selbst liege; es handele sich dabei nicht um die Frage des richtigen politischen Systems. Aus pragmatischen Gründen wollte Chulalongkorn kein bestimmtes Modell festlegen, das den Fortschritt und die innere Stabilität des Landes gefährden konnte. So lehnte er die Forderung nach einem Parlament erneut ab. Seine Modernisierung des mittleren Wegs diente außerdem dazu, alle Kräfte der konservativen und progressiven Fraktionen bei der Abwehr der kolonialen Expansion zu bündeln, letztendlich seinen Thron zu sichern. Aus allen diesen Gründen sollte sich die Modernisierung in Siam nicht vollständig an einem bestimmten europäischen Vorbild orientieren, noch sich vollständig nach eigenem Leitfaden entwickeln. Es handelte sich also um eine „siamesierte Modernisierung“, den mittleren Weg nach dem buddhistischen Grundsatz, einen „Sonderweg“ im Vergleich zu der Modernisierung anderer asiatischer Länder.

Sangha, State, and Society: Thai Buddhism in History, aus dem Japanischen ins Englische v. Peter Hawkes, Honolulu 1986, S. 34-56. 34 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 7f. 35 König Chulalongkorn, Über die Eintracht, S. 18.

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An König Chulalongkorns Abhandlung über die Eintracht war das Wesentliche seine kritische Bemerkung über den Unterschied zwischen Europa und Siam: Der siamesische Monarch vertrat die Meinung, dass Europa nicht gleich Europa sei, das heißt, dass die europäische Moderne hinsichtlich Politik, Wirtschaft, Technik und Kultur in den jeweiligen Ländern Europas unterschiedlich ausfalle. Vor allem das parlamentarische System in Großbritannien sei anders als das in Frankreich und sei schon gar nicht mit dem des Deutschen Reiches vergleichbar. Daher, so Chulalongkorns Auffassung, solle man Europa nicht per se als abstraktes Modell für eine Modernisierung in Siam vor Augen haben. Außerdem sei das von unten nach oben aufgebaute europäische politische System entstanden, weil die Völker von Despoten unterdrückt worden seien. Die Siamesen hingegen wollten ihre absolute Herrschaft bewahren, weil ihre Könige moralisch und gerecht seien. Diese Bemerkung beruht einerseits auf dem traditionellen siamesischen sozio-politischen System von Patron und Klient. Andererseits ist sie als Antwort auf das europäische Klischee zu verstehen, dass die asiatische Herrschaft Tyrannei und Despotie sei.36 All diese Reflexionen entstanden erst nach dem Europabesuch Chulalongkorns 1897, bei dem er selbst die Gelegenheit hatte, die westlichen Staaten näher kennen zu lernen. Wie er Lord Curzon geschrieben hatte: [„…] I am extremely obliged for the very kind letter of congratulation you have been good enough to send me for my birthday.37 My trip through Europe has been very interesting. I have seen many things that cannot be understood unless they are seen and have made the acquaintance, and I hope, this friendship of many people in Europe, but no experience can be more agreeable to myself than to have from the British Prime Minister such an expression of sympathy and good-will as Your Lordship has been kind enough to send me. Although a sad reason has prevented my making the acquaintance of Lady Salisbury I hope you will allow me to express the sincere hope that the measures now being taken for her restoration to health may be completely successful. […”]38

36 Hierüber siehe beispielsweise das Kapitel X. Wirkliche und unwirkliche Despoten in: Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 271-309. 37 Dieses Datum fiel auf den 21. September 1853. 38 König Chulalongkorn an Mr. Curzon, 21.09.1897, NA M R5 T 70 [Die hier verwendeten Abkürzungen folgen dem System des Nationalarchivs Bangkok (NA). „NA M R5 T 70“ bedeutet also: Mikrofilm des Bestandes aus dem königlichen Sekretariat während der Regierungszeit des Königs Chulalongkorn (R5), Korrespondenz mit dem Außenministerium (T)]. Bei dem hier zitierten Brief handelt es sich um einen Entwurf. Hier wie in anderen Fällen skizzierte König Chulalongkorn zunächst den Inhalt

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Die Transformation in Siam setzte sich bis in die Gegenwart hinein fort. Die wichtigste Änderung ereignete sich im Jahr 1932, in dem sich das Königreich von einer absoluten in eine konstitutionelle Monarchie umwandelte. Seitdem beschäftigt sich das Land mit dem Demokratisierungsprozess. Ungeachtet dessen wird das typische Merkmal der Rezeption fremder Einflüsse beibehalten: Die äußere Form passt sich der geläufigen westlich-europäischen Gestalt an, der innere Kern bleibt aber weiterhin thailändisch.

in Thai. Dann ließ er diese Fassung von einem seiner Privatsekretäre ins Englische übersetzen. Der König prüfte die neue Version und verbesserte sie gegebenenfalls. Auf dieser Basis fertigte der Hofschreiben den endgültigen Brief. Im Nationalarchiv ist nur der Entwurf des Privatsekretärs erhalten. Die gesamte Korrespondenz zwischen König Chulalongkorn und Lord Curzon, dem Vizekönig Britisch-Indiens, wird ausführlich analysiert in: Suphot Manalapanacharoen, Die Vergeblichen Einladungen nach Britisch-Indien: Die Süd-Süd-Kooperation am Beispiel der Korrespondenz zwischen König Chulalongkorn und Lord Curzon (im Druck).

Trans-Modernen: Süd-Süd-Kooperationen als Alternative zu Nord-Süd-Entwicklungskonzepten? Bildungstransfers zwischen Kuba und Angola C HRISTINE H ATZKY

„Modernity creates its others multiple, multifaced, multilayered. It has done so from day one: we have always been modern, differently modern, contradictorily modern, otherwise modern yet undoubtedly modern.“ (Michel-Rolph Trouillot)

Eine Vielzahl von Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen versucht seit Jahren zu ergründen, was „Moderne“ ist, wer „modern“ ist und wer nicht und welche Bedeutung das Konzept der Moderne auf globaler Ebene überhaupt noch hat.1 Die Definitionshoheit dessen, was „Moderne“ in Abgrenzung zu „Tradition“ oder zu „traditionellen Gesellschaften“ ist, beanspruchten Modernisierungstheoretiker nach Max Weber, die seinem am europäischen Vorbild exzerpierten Paradigma folgten und daraus ableiteten, dass Westeuropa und Nordamerika die

1

S. beispielsweise Arif Dirklik, Global Modernity. Modernity in the Age of Global Capitalism, Boulder u.a. 2007; Shmuel Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 1992. Richtungsweisend sind auch folgende Anthologien: T. Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006 oder Dilip Parameshwar Gaonkar, Alternative Modernities, Durham, London 2001; T. Bonacker, A. Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt/M. 2007; P. Geschiere, B. Meyer, P. Pels (Hrsg.), Readings in Modernity in Africa, London u.a. 2008.

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Leitbilder der Moderne bildeten. Zunächst setzte sich in der Anthropologie, die sich lange Zeit vor allem mit den „traditionellen“ Gesellschaften in Asien, Afrika, Lateinamerika und Ozeanien beschäftigte, die Erkenntnis durch, dass die dortigen Gesellschaften durch die Kolonialherrschaft ebenso Teil der Moderne geworden waren wie die europäischen Gesellschaften. Eric Wolf war einer der ersten, der 1982 die Asymmetrie zwischen Europa, Nordamerika und den „Völkern ohne Geschichte“ thematisierte.2 Der Soziologe und Anthropologe Bruno Latour hinterfragte ein Jahrzehnt später die Definitionshoheit der Moderne radikal, indem er – im Gegensatz zu den meisten anderen Kritikern – die These aufstellte, dass wir die nichtmoderne Welt überhaupt nie verlassen hätten. Er verwies auf die Dichotomie des Moderne-Begriffs, der sich nur durch die Konstruktion einer archaischen, stabilen Vergangenheit rechtfertigen könne.3 Der Soziologe Shmuel Eisenstadt gelangte zu ganz anderen Schlussfolgerungen und schlug die Vervielfältigung des Modernebegriffs vor: Im Gegensatz zu dem durch eine einheitliche, lineare, teleologische Ausrichtung gekennzeichneten Prozess sozioökonomischen Wandels entwarf er ein multiples Modell, das lokale gesellschaftliche Entwicklungen als eigenständige Ausprägungen versteht und nicht als Abweichung von der Norm.4 Auch aus dem Süden wurde das europäisch-nordamerikanisch geprägte Moderneparadigma radikal in Frage gestellt: So bezweifelte der nigerianische Soziologe Kwame Gyekye gerade im Hinblick auf die afrikanische Erfahrung die Dichotomie zwischen Tradition und Moderne,5 und der argentinische Philosoph Enrique Dussel entlarvte die eurozentrische Deutung von Moderne als einen „Mythos“, der lediglich die westliche Selbstüberhöhung bediene, die europäische Zivilisation im Vergleich zu anderen Kulturen als weiterentwickelt und höherstehend zu definieren. Aus der Perspektive des Südens sei Moderne immer relational: Die Feststellung, dass etwas oder jemand modern sei, benötige immer

2

Eric Wolf, Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400, Frank-

3

Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropo-

4

Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: T.

furt/M. 1986. S.a. Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti, Frankfurt/M. 2011. logie, Frankfurt/M. 2001. Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006, S. 37-62; ders. Multiple modernities: Analyserahmen und Problemstellung, in: Bonacker, Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne, S. 19-45. 5

Kwame Gyekye, Tradition and Modernity. Philosophical Reflections and the African Experience, Oxford u.a. 1997, S. 273ff.

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einen außenstehenden „Anderen“ und konstruiere diskursiv zugleich Alterität.6 Einen ähnlichen Standpunkt vertrat der haitianische Anthropologe und Soziologe Michel-Rolph Trouillot. Er ging dabei vom Beispiel der Karibik aus, einer Region, die durch den Prozess ihrer Entstehung mit der europäischen Expansion untrennbar mit der Moderne verbunden ist. Er deutete die in der Karibik gemachten Erfahrungen als archetypisch, eine Geschichte, die sich in Lateinamerika, Asien und Afrika wiederholt habe und wiederholen würde, mit den immergleichen Themen von Vernichtung und Neubeginn, von Kreolisierung und Zerstörung.7 Nach Trouillots Auffassung stellte das im Norden geprägte Modernekonzept, zu dem auch die Begriffe Entwicklung, Fortschritt und Demokratie gehörten, lediglich eine Vision der Welt dar, so wie sie sein sollte, aufgeladen mit ästhetischen Überzeugungen, kulturellen Anmaßungen und ideologischen Weichenstellungen. Nicht einmal im Norden existierten einheitliche Auffassungen über die Moderne. Der durch die Aufklärung geprägte Modernebegriff sei im Prinzip ahistorisch, denn dahinter stehe lediglich eine Vorstellung, wie die Dinge gewesen seien und wie sie verhandelt werden müssten. Da die mit der Moderne verbundenen Begriffe als universell gälten, könnten sie ihre Ortsbestimmung ebenso verleugnen wie ihre Herkunft.8 Seit Rousseau und Lessing zeichnete sich das im Norden entwickelte Moderneparadigma mit der „Erziehung des Menschengeschlechts“ auch durch einen missionarischen Charakter aus. Erziehung und Bildung wurden zum ideengeschichtlichen Kernprogramm der Moderne, das den Menschen zwar aus religiöser Prädestination und Transzendenz löste, aber den religiösen Eifer und den Missionsgedanken in ein säkulares Konzept implementierte, das in der Lernfähigkeit vernunftbegabter Menschen die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Fortschritt sah. Dass Erziehungs- und Bildungskonzepte allerdings trotzdem immer vielfältigen Aneignungen offen stehen und ein erhebliches subversives

6

Enrique Dussel, Philosophy of Liberation, the Postmodern Debate, and Latin American Studies, in: M. Moraña, E. Dussel, and C. A. Jáuregui (Hg.), Coloniality at Large. Latin America and the Postcolonial Debate, Durham u.a. 2008, S. 335-351, hier S. 341.

7

Michel-Rolph Trouillot, The Otherwise Modern. Caribbean Lessons from the Savage Slot, in: Bruce M. Knauft, Critically Modern: Alternatives, Alterities, Anthropologies, Bloomington 2002, S. 220-237, hier S. 222.

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Ebd. S. 220ff.

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Potential bergen, werde ich weiter unten am Beispiel der Bildungskooperation zwischen Kuba und Angola erläutern.9 Ein weiterer Impuls für die Kritik am Moderneparadigma war das Ende des Kalten Kriegs und das Ende der „großen Erzählungen“ mit dem Aufkommen postmoderner Gesellschaftskritik, ausgehend vom Poststrukturalismus, der feministischen und der postkolonialen Theorie.10 Seitdem gerät die destruktive Seite der Moderne auf globaler Ebene zunehmend in den Vordergrund: Armut und soziale Ungleichheit, die Verursachung zweier Weltkriege, Rassismus und Kolonisierung ebenso wie eine gewaltvolle Entkolonisierung und der anschließende Versuch einer neokolonialen Dominanz durch eine kapitalistische Produktionsweise, die lokale Wirtschaften zerstört und die Bevölkerungen in verschiedenen Weltregionen ausbeutet und in Abhängigkeit hält. Untrennbar damit verbunden ist das Scheitern westlicher Entwicklungsmodelle in der Dritten Welt ebenso wie die Kritik an den westlichen Vorstellungen über „unterentwickelte“, „primitive“ oder „vormoderne“ Gesellschaften. Letztendlich diskreditierte sich die Moderne damit als ein weltweit gültiges Modell für Fortschritt und Verbesserung. Neueste Diskussionsbeiträge verweisen gar darauf, dass der Norden zunehmend jene po-

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Der Beitrag basiert auf einigen Resultaten meines Post-Doc-Forschungsprojekts über die zivile Bildungskooperation Kubas mit Angola. Ich danke Michael Rothmann für seine kritischen und konstruktiven Kommentare zum vorliegenden Text. Quellen- und Informationsgrundlage der „Kubaner in Angola. Süd-Süd-Kooperation und Bildungstransfer 1976-1991, München 2012“, für die ich zwischen 2004 und 2006 in Kuba, Angola, Portugal und den USA forschte, bildeten nicht nur umfangreiches Material vor allem aus angolanischen Archiven, sondern auch 139, hauptsächlich biographische Interviews mit kubanischen und angolanischen Zeitzeugen, die in den Einsatz in Angola involviert waren. Mit Ausnahme der Interviews mit Personen des öffentlichen Lebens habe ich die Interviews mit den übrigen Zeitzeugen anonymisiert. Die verwendeten Archivmaterialien [Ministerialakten aus dem kubanischen Erziehungsministerium (MINED) bzw. dem angolanischen (MED)] sind nicht klassifiziert und werden zur eindeutigen Identifikation mit ihrem vollem Titel aufgeführt.

10 Richtungsweisend waren u.a. Frantz Fanon, Schwarze Haut und weiße Masken, Frankfurt/M 1980; Edward Said, Orientalism, New York 1979; ders., Culture and Imperialism, New York 1994; Arjun Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis u.a. 1996; Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971; Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990; Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.

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litischen, sozialen und wirtschaftlichen Defizite aufweist, die bisher immer nur dem Süden zugeschrieben wurden.11 Angesichts dieses epistemologischen Wandels besteht für die Geschichtswissenschaft die Herausforderung der Klärung des Moderneparadigmas über Zeiten, Räume und Kulturen hinweg, um damit einerseits die vielfältige Ausformung von Modernisierungsprozessen aus globaler Perspektive zu historisieren, Referenzverhältnisse neu zu ordnen und den eurozentrischen Blickwinkel zu dezentrieren. Andererseits geht es darum, den Singular der „Moderne“ selbst als normatives Konstrukt zu begreifen, als ein Resultat historischer Prozesse, als eine Etappe globaler Entwicklung und nicht als ihr Endpunkt. Was den Begriff der Moderne angeht, so teile ich mit dem Soziologen Wolfgang Knöbl die Ansicht, dass es sich weniger um eine analytisch-deskriptive Kategorie handelt, denn vielmehr um einen Kampfbegriff, eine Selbstbeschreibung oder Selbstverortung.12 Oder, um es mit den Worten von Thomas Mergel auszudrücken, Modernetheorien sind Selbstthematisierungen erfolgreicher Gesellschaften, die auf ihrer Vorreiterrolle bestehen.13 Für eine interkulturelle und dezentrierte Perspektive auf die Moderne ergibt sich daraus zumindest eine Schlussfolgerung, dass eine Konsensfindung über eine Definition oder eine Periodisierung wahrscheinlich aussichtslos ist. Das derzeitige Interesse an alternativen oder multiplen Modernen verschafft zwar einerseits neue Einsichten, aber genauso neue Unsicherheiten, Übertreibungen oder Unschärfen. Allerdings verdeutlicht die hinter allen Analysen stehende eine empirische Realität, dass das Bedürfnis, „modern“ zu sein, nicht einfach eine akademische Projektion ist. Die Bilder und Institutionen des sogenannten Fortschritts sind auf globaler Ebene übermächtig, innerhalb von Nationen, aber auch regional und insbesondere bei der Konstruktion von lokalen Subjektivitäten. Und allein das ist ein Grund, die Diskussion um das Moderneparadigma weiterzuführen.

11 Jean and John Comaroff, Theory from the South: Or, how Euro-America is Evolving toward Africa, in: Anthropological Forum, Vol. 22, No.2, (July 2012), S. 113-131. 12 Wolfgang Knöbl, Die historisch partikularen Wurzeln des soziologischen Diskurses über die Moderne, in: H. Schelkshorn, J. B. Abdeljelil (Hg.), Die Moderne im interkulturellen Diskurs. Perspektiven aus dem arabischen, lateinamerikanischen und europäischen Denken, Weilerswist 2012, S. 21-60, hier S. 22. 13 Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: T. Mergel, T. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203232, hier S. 225f.

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Z WISCHEN E NTKOLONISIERUNG UND K ALTEM K RIEG : B ILDUNG UND E RZIEHUNG IM „Z EITALTER DER E NTWICKLUNG “ Am Beispiel der Süd-Süd-Kooperation im Bildungssektor zwischen Kuba und der angolanischen MPLA14, die unter den Vorzeichen der Verwirklichung einer sozialistischen Moderne im Globalen Süden15 stand, will ich der Frage nachgehen, inwiefern sich an diesem Beispiel ein alternatives Modell von Moderne, ihres Transfers und ihrer Adaptation ablesen lässt. Die Herausforderung ist dabei wesentlich komplexer als lediglich einmal mehr das bereits häufig kritisierte westliche Moderneparadigma zu entlarven. Es handelt sich nicht nur um eine sozialistische Variante des Modernekonzepts, sondern vielmehr um eine sozialistische Entwicklungsinitiative, die von zwei Protagonisten im Globalen Süden in Angriff genommen wurde. Anhand dieses Beispiels lassen sich sogar einige der oben erwähnten Konzepte und Zuschreibungen von Moderne im Globalen Süden konterkarieren. Davon ausgehend, dass Moderne außerhalb der als für sie richtungsweisend definierten Regionen, selbst auf der Ebene von Eliten und Regierungen, niemals lediglich ein „nachholender“, repetitiver Vorgang oder eine Mimesis war, vertrete ich die These, dass es sich auch im Falle Kubas und Angolas um eigenständige Versuche handelte, Moderne neu zu definieren, sie sich anzueignen, sie zu transferieren, verbunden mit dem Ziel, daraus an die eigenen Realitäten angepasste Entwicklungsmodelle zu gestalten. Zwar standen die herkömmlichen Modelle der sozialistischen Moderne sowjetischer oder chinesischer Provenienz dabei Pate, das mindert aber nicht die Eigenständigkeit des Versuchs. Modernität oder „modern werden“ bedeutete hier ebenso wie in anderen Regionen des Globalen Südens immer auch eine Kernartikulation zwischen regionalen oder globalen Kräften des sogenannten Fortschritts, ihren komplementären Aspekten, den Spezifika des lokalen Verständnisses und ihren entsprechenden Antworten darauf.16

14 Movimento Popular de Libertação de Angola, Volksbewegung zur Befreiung Angolas. 15 Der „Globale Süden“ geistert seit etlichen Jahren durch wissenschaftliche, intellektuelle und politische Texte, wobei seine Definition häufig im Unklaren bleibt. Die Anthropologen Jean und John Comaroff haben kürzlich eine Einordnung dieses Begriffs vorgelegt, der die damit verbundenen Phänomene in ihrer historischen Dimension und ihrer Süd-Nord-Konstellation auf den Punkt bringt (s. Comaroff, Theory from the South, S. 113). 16 Knauft, Critically Modern, S. 24.

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Deshalb werde ich hier einerseits versuchen aufzuzeigen, wie sich die beiden staatlichen Akteure, die kubanische Regierung und die MPLA, des Moderneund Modernisierungsdiskurses bedienten, um ihre eigenen gesellschaftspolitischen (Entwicklungs-)Projekte voranzutreiben, ihre Macht zu stabilisieren, aber auch bestimmte Probleme zu lösen, die mit der spezifischen Umbruchsituation Angolas zwischen Kolonialherrschaft und dem Aufbau einer postkolonialen Staatsnation zusammenhingen. Am Beispiel dieser Kooperation sollen aber auch die regionalen und lokalen Aspekte von Moderne und die kulturellen und subjektiven Einstellungen ihr gegenüber in den Blick genommen werden, und zwar auch im Hinblick auf ihre Begrenztheit. Dabei unterscheide ich zwischen dem politisch-ideologischen Programm der Moderne, das beide Regierungen propagierten, und dem, was von der Bevölkerung als „modern“ empfunden und aufgegriffen wurde, oder was Individuen und Gesellschaften in einem pluralen Sinne weiterentwickelten, etwa die Alteritäten der gesellschaftlichen Grundlagen betreffend oder die Hoffnungen auf eine gerechtere Verteilung von Reichtum und Macht. Jenseits der zwischenstaatlichen, administrativen und institutionellen Ebene eröffnete die kubanisch-angolanische Zusammenarbeit einen Interaktionsraum transnationaler Dimension, der den beteiligten Individuen ermöglichte, Moderne zu (er)leben. Dies soll anhand der Handlungsmacht derjenigen verdeutlicht werden, die direkt in die Kooperation involviert waren, die kubanischen Zivilisten einerseits, ihre angolanischen Kollegen, Schüler und Studenten andererseits, die mit diesem sozialistischen Moderneprojekt verbundenen (Bildungs-)Angebote aufgriffen und sich aneigneten, um individuell – oder auch kollektiv – ihre eigenen Lebenswege und -perspektiven zu modernisieren. Im Sinne Bruno Latours drückt sich Modernisierung auch hier in den Techniken aus, die Menschen mit dem Ziel der universellen Gültigkeit erschufen, sowie in den Versuchen, diese Universalität durch ihre Weitergabe und Zirkulation gemeinsam durchzusetzen, und zwar als Vorstellung und Wirklichkeit zugleich, gleichermaßen repräsentierend und formierend.17 Das Motto, unter dem die kubanische Bevölkerung für den Bildungseinsatz in Angola mobilisiert wurde, ging auf das aufklärerische Bildungsideal José Martís zurück, dem Poeten und Vordenker der Unabhängigkeit Kubas: „Jeder Mensch, der das Licht der Welt erblickt, hat das Recht auf Bildung und er hat im Gegenzug die Verpflichtung, zur Bildung der anderen

17 Bruno Latour schreibt: „Modernisierung war nie etwas anderes als die offizielle Darstellung einer anderen, sehr viel tiefergehenderen und davon verschiedenen Arbeit, die immer stattgefunden hat und heute in ständig größerem Maßstab weitergeht.“ (Wir sind nie modern gewesen, S. 175).

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Menschen beizutragen.“18 Für die meisten meiner Interviewpartner beinhaltete Martís Ideal eine ganz konkrete und persönliche Verpflichtung, vor allem wenn sie selbst durch die Revolution die Chance einer Ausbildung und eines sozialen Aufstiegs erhalten hatten.19 Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die für Kuba und Angola richtungsweisende sozialistische Moderne sowjetischer Prägung, der bislang sehr viel weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde als der „westlichen“, die bisher sogar weitgehend außerhalb des Modernediskurses steht, wie Stefan Plaggenborg 2006 in seiner Studie über das „Experiment Moderne“ in der Sowjetunion feststellte.20 Während Plaggenborg die Sowjetunion – ausgehend von einer Analyse ihrer internen (Zerfalls-)Prozesse – als ein „grandios gescheitertes gesellschaftliches Experiment“ deutet21, steht in diesem Zusammenhang allerdings weniger das Scheitern im Vordergrund als die besondere außenpolitische Wirkung der sozialistischen Weltmacht im Globalen Süden: die Sowjetunion stellte so etwas wie eine Schutzmacht für die entkolonisierten Länder und anti-kolonialen Bewegungen dar, die nicht gewillt waren, der kapitalistischen „westlichen“ Moderne zu folgen, sondern einen – wie auch immer gearteten – sozialistischen Entwicklungsweg einzuschlagen versuchten. Im Falle von Kuba und Angola bemühten sich zwei mindermächtige Akteure des Globalen Südens, mit der politischen Rückendeckung der Sowjetregierung und ihrer finanziellen Unterstützung, sich ihre eigenen Wege in die Moderne zu bahnen, und zwar ohne sich von der hierarchischen Beziehung zu dieser Weltmacht erdrücken zu lassen. Die meisten Eliten der Dritte Welt-Länder waren zum Bedauern ihrer mächtigen (oder auch mindermächtigen) Unterstützer eben oft nicht einfach passive Empfänger von revolutionären oder modernisierenden Gesellschaftsmodellen, sondern wussten die Antagonismen und Hierarchien zwischen den Blöcken und innerhalb der Blöcke geschickt zu nutzen, um eigene Interessen zu verfolgen, wie der Historiker und Politikwissenschaftler Michael Latham kürzlich feststellte.22 Das gilt in ganz be-

18 José Martí, Obras completas, Bd. 19, S. 375, zitiert in: MINED, UJC, FEU, Destacamento Pedagógico Internacionalista „Che Guevara“. Documento de Base, Okt. 1977, S. 1 (Archiv MED). 19 Hatzky, Kubaner in Angola, S. 111-129. 20 Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/M. 2006. 21 Ebd., S. 9. 22 Michael Latham, The Cold War in the Third World 1963-1975, in: Westad, Odd Arne (Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Vol. II, Conflicts and Crisis, 19621975, Cambridge 2010, S. 258-280; Marc Frey, Die Vereinigten Staaten und die die

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sonderer Weise auch für das hier vorgestellte Beispiel, denn es deutet einiges darauf hin, dass auch die angolanische MPLA diese Antagonismen für sich zu nutzen wusste. Es gibt bislang nur wenige Untersuchungen, die sozialistische Gesellschaftsmodelle im Globalen Süden zum Gegenstand haben.23 Die vielleicht bekannteste und gleichermaßen umstrittenste Studie ist die des Politikwissenschaftlers und Anthropologen James Scott. Aus einer sozialanthropologischen Perspektive heraus vergleicht er sozialistische Varianten untereinander und mit westlichen Modellen der Moderne. Im Zentrum seines Interesses stehen staatliches Handeln und staatliche Autorität bei der Durchsetzung von Moderneprojekten ebenso wie bei deren Scheitern. Scott untersucht beispielsweise eines der bekanntesten afrikanischen sozialistischen Entwicklungsprojekte, das der dörflichen Kollektivierung („ujamaa“) im postkolonialen Tansania. Er vertritt dabei die Auffassung, dass das Scheitern moderner sozialer Projekte kapitalistischen Tendenzen zur Standardisierung ebenso geschuldet sei wie bürokratischen und sozialistischen Homogenisierungsprozessen.24 Das große Defizit an Scotts Studie ist, dass er ungeachtet seiner Kritik an der staatlichen Initiative selbst genau diese Vogelflugperspektive einnimmt und Erfolg und Scheitern von Entwicklungsoder Modernisierungsprojekten anhand der Kriterien ihrer staatlichen Modernisierer misst.25

Dritte Welt, in: B. Greiner, C. T. Müller, D. Walter (Hg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006, S. 36-60, hier S. 38ff. 23 Aufschlussreich ist hier auch Kwame Gyekye, Tradition and Modernity. Philosophical Reflections on the African Experience, Oxford u.a. 1997. Der Band enthält ein Kapitel zum afrikanischen Sozialismus, S. 144-170. 24 James Scott, Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven, New York 1998, S. 1-8. Auch der Anthropologe Donham untersuchte die marxistische Moderne in Afrika an der Revolution in Äthiopien von 1974, die sich dem Fortschritt und der gesellschaftlichen Entwicklung verschrieben hatte, s. Donald L. Donham, Marxist Modern: An Ethnographic History of the Ethiopian Revolution, Berkeley u.a. 1999; ders. On Being Modern in a Capitalist World. Some Conceptual and Comparative Issues, in: Knauft, Critically Modern, S. 241-257. 25 S. hierzu Frederic Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005; ders., Modernizing Bureaucrats, Backward Africans, and the Development Concept, in: Ders./R. Packard (Hg.), International Development and the Social Sciences. Essays on History and Politics of Knowledge, Berkeley 1997, S. 64-92.

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Eine erst kürzlich erschienene Studie der Anthropologin Priya Lal, die sich ebenfalls mit dem tansanischen „ujamaa“-Projekt beschäftigt, wählt einen völlig anderen Zugriff als Scott, denn sie misst dem Modernekonzept einen ganz anderen Stellenwert zu. Zwar steht sie den Zielen und der staatlichen Umsetzung des „ujamaa“-Projekt ebenfalls kritisch gegenüber, aber es geht ihr darum, seine innere Dynamik sichtbar zu machen und die Handlungsmacht der Beteiligten zu verdeutlichen. Sie interessiert sich für die vielfältigen Aneignungsprozesse der involvierten Bevölkerung, für die die staatlicherseits bereitgestellten Ressourcen Chancen eröffneten, sich innerhalb der Dorfgemeinschaft, aber auch individuell weiterzuentwickeln, also in einem gewissen Sinne „modern“ zu werden.26 Lals Perspektive, die auf teilnehmender Beobachtung und umfangreichen biographischen Interviews beruht, ist richtungsweisend für die Deutung des kubanischangolanischen Kooperationsprojekts im Zusammenhang mit der Frage nach den alternativen Modernen in der Dritten Welt. Eine zentrale Rolle für den Export und den Import von Modernemodellen im Globalen Süden oder in der Dritten Welt spielte der Kalte Krieg. Nach 1945 wurde die Dritte Welt nicht nur zum Schauplatz von „heißen Kriegen“ im Kalten Krieg, sondern vielmehr wurden vor allem dort die Auseinandersetzungen um den richtigen Weg zu gesellschaftlicher Entwicklung und Moderne geführt. Die USA und die Sowjetunion waren gleichermaßen von ihrer jeweiligen Moderne überzeugt und bestrebt, ihre antagonistischen Gesellschaftsmodelle zur Nachahmung zu propagieren. Dieser Kampf der Systeme um die politische, soziale und kulturelle Vormacht war hoch ideologisiert, beide standen zueinander in Konkurrenz und gingen von ihrer jeweiligen zivilisatorischen und gesellschaftlichen Überlegenheit aus.27 Beide waren davon überzeugt, dass „traditionelle“ Gesellschaften (in Werten, Normen, Ideen und Strukturen) verschwinden und in das jeweilige System überführt werden mussten. Was die Wachstums-, Zivilisationsund Fortschrittsideologie sowie die inhärente, in die Zukunft weisende Teleologie anbetraf, stand die sozialistische Moderne dem kapitalistischen Modernekonzept in nichts nach. Kein Konsens mit dem westlichen Modell bestand allerdings

26 Priya Lal, Self-Reliance and the State: The Multiple Meanings of Development in Early Post-Colonial Tanzania, in: Africa. Journal of the International African Institute, Vol. 2/02, (May 2012), S. 212-234. Ich danke Rita Schäfer für den Hinweis auf diesen Artikel. 27 Michael E. Latham, The Right Kind of Revolution. Modernization, Development, and US Foreign Policy from the Cold War to the Present, Ithaka u.a. 2011, S. 2-4. Ders., Modernization as Ideology. American Social Science and „Nation Building“ in the Kennedy Era, Chapel Hill 2000, S. 21-68.

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über Demokratie und Pluralismus im Allgemeinen, unterschiedlich war auch der – zumindest postulierte – gesamtgesellschaftliche Anspruch auf soziale Absicherung sowie die kollektive Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft und die ökonomische Umverteilung auf der Basis einer staatlich reglementierten und hierarchisch strukturierten Planwirtschaft.28 In beiden Systemen war die Nord-Süd-Hierarchie extrem ausgeprägt – vielleicht mit Ausnahme von China, dessen Nord-Süd-Verständnis allerdings noch bei weitem nicht erschöpfend untersucht ist. Sämtliche Entwicklungsstrategien, seien es finanzielle und materielle Hilfe, Investitionen, technische oder militärische Unterstützung oder Planungshilfe dienten auf beiden Seiten machtpolitischen Zielen, insbesondere der Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre oder deren Absicherung. Nord-Süd-Entwicklungsinitiativen gewannen nach dem 1945 einsetzenden Dekolonisierungsprozess an Bedeutung, um die Gesellschaften Afrikas und Asiens zu modernisieren. Aber auch Lateinamerika stand im Fokus der globalen Modernisierer, insbesondere nachdem mit der kubanischen Revolution die sozialistische Moderne in der direkten Einflusssphäre der USA zur Konkurrenz geworden war. Allerdings schlossen sich die meisten Regierungen der Dritte Welt-Staaten diesem Wettbewerb der Systeme um die „nachholende Entwicklung“ freiwillig an, wie auch die Regierungen Kubas und Angolas, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich selbst dem Fortschrittsideal verschrieben hatten.29 Mit der Moderne im Globalen Süden untrennbar verbunden ist der Begriff der Entwicklung. Dieser ist historisch eng mit dem europäischen Kolonialismus verschränkt, also mit den hierarchischen Nord-Süd-Beziehungen. Entwicklungshilfe wurde häufig als Kontinuität kolonialer Machtstrategien und Praktiken des Westens gegenüber dem Süden kritisiert, die sich im „Zeitalter der Entwicklung“ (1950er bis 1990er Jahre) niederschlug. Bis in die 1970er Jahre hinein war die Zielvorstellung einer „nachholenden Entwicklung“ (Modernisierung) nach dem Muster westlicher Gesellschaften das Synonym für Entwicklung überhaupt.30

28 S. Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 1-21. Er umreißt hier die Spezifika sowjetischer (sozialistischer) Moderne und verortet die Sowjetunion als einen Teil der Moderne. 29 R. McMahon (Hg.), The Cold War in the Third World, Oxford, New York 2013, S. 2ff. 30 Berthold Unfried, Einleitung: Praktiken von „Internationaler Solidarität“ und „Internationaler Entwicklung“, in: ders. E. Himmelstoss (Hg.), Die eine Welt schaffen. Praktiken von „Internationaler Solidarität“ und „Internationaler Entwicklung“. Tagungsband der International Conference of Labour and Social History (ITH), Linz 2011, S. 7-17, hier S. 9f.

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Dieser modernisierungstheoretische Fortschrittsglaube war aber schon im Zuge der Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre umstritten, zu deren wesentlichen Katalysatoren die kubanische Revolution zählte. In diesem globalgeschichtlichen Kontext ist die Süd-Süd-Kooperation zwischen Kuba und Angola angesiedelt. Beide Länder und Regierungen galten allenfalls als „Handlanger“ oder „Stellvertreter“ der Sowjetunion. Die dahinterstehende Topographie von „Zentrum“ und „Peripherie“ und die dazugehörenden Entwicklungsdiskurse des Kalten Kriegs sind mit dafür verantwortlich, dass die Eigendynamiken von Moderne und Entwicklung aus dem Blick gerieten und die Komplexität dieser Prozesse immer dann reduziert wurde, wenn ihre damit verbundene Geschichtlichkeit außer Acht gelassen wurde. In den Entwicklungsdiskursen zu Asien, Afrika oder Lateinamerika ist der „koloniale Blick“ auf die zu Entwickelnden bis heute immer noch allzu deutlich sichtbar, und zwar ganz egal, ob es sich um die USA, Europa oder die Sowjetunion handelte.31 Dependenztheoretiker aus Lateinamerika wie Aníbal Quijano oder André Gunder Frank kritisierten aus marxistischer Perspektive orthodox-marxistische und westliche Entwicklungs- und Modernisierungstheorien gleichermaßen. Die mechanische Starrheit der aus dem Norden stammenden Konzepte, die James Ferguson treffend als „Entwicklungsmaschine“32 bezeichnete, die die Dritte Welt durchpflüge, erachtete der kolumbianische Anthropologe Arturo Escobar aufgrund ihrer Asymmetrie und der ihr innewohnenden Verfügungsgewalt als Unterdrückung schlechthin.33 Gleichwohl blieben die dependentistas – ebenso wie die meisten anderen Kritiker des Moderneparagdimas – häufig selbst in den starren Denkschemata verhaftet, die sie kritisierten, etwa indem sie die Einteilung der Welt in „Zentren“ und „Peripherien“ fortschrieben. Das Beispiel Süd-SüdKooperation zwischen Kuba und Angola konterkariert in gewisser Weise diese Konzepte, weil hier deutlich wird, dass Entwicklungskonzepte im Süden selbst entwickelt und in die Praxis umgesetzt wurden. Akteure aus dem Süden konstru-

31 Ebd., S. 7ff. 32 James Ferguson, The Anti-Politics Machine. Development, Depolitization, and Bureaucratic Power, Cambridge/Mass. 1990; ders., Decomposing Modernity. History and Hierarchy after Development, in: Ders. (Hg.), Global Shadows. Africa in the Neoliberal World Order, Durham 2006, S. 176-193. 33 Arturo Escobar, Encountering Development. The Making and Unmaking of the Third World, Princeton 1995.; Lal, Self-Reliance and the State, S. 213; Frederic Cooper, Colonialism in Question: Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, S. 141; s.a. H. Büschel, D. Speich (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt/M. 2009, S. 7-29.

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ierten und konstruieren in kreativer Weise das Moderneparadigma weiter und verleihen dem Konzept damit seine Stabilität.

K UBA UND ANGOLA: T OPOGRAPHIEN DER M ODERNE IM GLOBALEN S ÜDEN Verbunden mit der kubanischen Revolution war auch die Verwirklichung einer eigenständigen „sozialistischen“ Moderne, die sich zwar am sowjetischen Modell orientierte, aber insofern andere Akzente setzte, als ihr soziopolitisches Programm an die eigenen Bedürfnisse, also die ehemals kolonisierter Länder, angepasst war. Unter den sozialistischen Moderne- und Entwicklungsmodellen ist Kuba insofern ein Sonderfall, da es beanspruchte, sein Gesellschaftssystem in die Länder des „Trikont“ (Afrika, Asien, Lateinamerika)34 zu exportieren, als eine Alternative zum realen Sozialismus und selbstverständlich zum Kapitalismus, zum Imperialismus und zum Neokolonialismus. Die kubanischen Revolutionäre agierten dabei äußerst selbstbewusst und stellten sich an die Spitze der Modernisierungsbewegungen in der Ära des Postkolonialismus. Hinzu kommt die Außenwirkung beziehungsweise die Fremdwahrnehmung, denn die kubanische Revolution veränderte nicht nur das politische Imaginarium der lateinamerikanischen Linken radikal, sondern sie wurde zum Hoffnungsträger für viele Länder der sogenannten Peripherie, die einen alternativen Entwicklungsweg suchten: Kuba galt als lebendiger Beweis für die Möglichkeit einer Alternative außerhalb des kapitalistischen Weltsystems.35 Die Revolution beinhaltete nicht nur das Experiment einer radikalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation, sondern auch den Versuch, ungeachtet der polarisierten Konstellation des Kalten Krieges eine souveräne Außenpolitik mit eigenen Interessen und Zielsetzungen zu verfolgen, die Revolution auf andere Weltregionen auszudehnen. Auch die angolanische, anti-koloniale Linke, die sich in der MPLA versammelte, nahm Kuba in dieser Rolle wahr und bemühte sich deshalb darum, die Unterstützung der kubanischen Regierung zu erhalten.36 Deshalb

34 Die Bezeichnung leitet sich von der Trikontinentalen Konferenz ab, die 1966 in Havanna abgehalten wurde. 35 Ramón Grosfoguel, Developmentalism, Modernity, and Dependency Theory in Latin America, in: M. Moraña, E. Dussel, and C. A. Jáuregui (Hg.), Coloniality at Large, S. 316ff. 36 Jean Michel Mabeko Tali, Dissidências e poder de estado. O MPLA perante si proprio (1962-1977), Vol. 2, 1974-1977, Luanda 2001, S. 131 f. Der kongolesische Historiker

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wurde Angola ab 1975 für eineinhalb Dekaden zum Dreh- und Angelpunkt der kubanischen Außenpolitik. Die Revolution fand außerdem gleichzeitig mit der afrikanischen antikolonialen Revolution des Jahres 1960 statt, im Zuge derer fast der ganze Kontinent von der europäischen Kolonialherrschaft befreit wurde (insgesamt 18 Länder) – mit Ausnahme der portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik, Guinea Bissau, Kapverden, São Tomé & Príncipe. Die kubanischen Revolutionäre hofften, dass der junge afrikanische Nationalismus offen sein würde für das sozialistische Entwicklungsmodell Kubas. Das kubanische Exportmodell war im politisch-ideologischen Sinne flexibel und wurde stets an die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Empfänger angepasst. Während in den 1960er Jahren vor allem die politisch-militärische Unterstützung von bewaffneten anti-kolonialen oder Guerillabewegungen weltweit im Vordergrund stand, wurde in den 1970er Jahren politische Beratung für bereits etablierte Regierungen und die zivile Unterstützung zur Stärkung staatlicher Souveränität, zur Etablierung von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialprogrammen, zum Ausbau der Infrastruktur oder hinsichtlich von Landreformen und Formen ökonomischer Umverteilung immer bedeutsamer. Auch die kubanischen Revolutionäre waren nicht frei von (Welt)Machtambitionen, denn in dieser Phase der Entkolonisierung und des Kalten Kriegs galt es als erklärtes Ziel, eine neue Weltordnung zu etablieren, um die „Peripherie“ nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell unabhängig von den „Zentren“ zu machen. Der Aufbau der Beziehungen zu den Staaten des Trikont erfuhr mit der „Trikontinentalen Konferenz“ 1966 in Havanna einen ersten Höhepunkt. Die 82 anwesenden Vertreter antikolonialer Bewegungen und Regierungen sollten dem Beispiel der kubanischen Revolution folgen und diejenigen, die sich bereits befreit hatten, ihrerseits Befreiungsbewegungen in den drei Kontinenten unterstützen, das wurde als echte, internationalistische Solidarität begriffen.37 Gleichgesinnte hatte die kubanische Regierung unter einigen Politikern und Führungspersönlichkeiten aus dem afro-asiatischen Raum gefunden, die sich schon auf den Konferenzen in Bandung (1955) und in Kairo (1957) getroffen hatten. Unter dem Vorsitz des jugoslawischen Staatschefs Josef

interviewte u.a. die damalige Führungsspitze der MPLA und fragte sie u.a. nach ihren Motivationen, die kubanische Regierung um Unterstützung zu ersuchen. 37 Nelson Valdés, Revolutionary Solidarity in Angola, in: C. Blasier, C. Mesa-Lago (Hg.), Cuba in the World, Pittsburgh 1979, S. 87-117, hier S. 89.

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Broz Tito wurde dann die Bewegung der Blockfreien Staaten gegründet, wobei Kuba das einzige lateinamerikanische Gründungsmitglied war.38 Sowohl die Entkolonialisierung Asiens und Afrikas als auch die kubanische Revolution waren gleichbedeutend mit einer Modernisierung des Südens. Auch sie änderte Topographien, schaffte neue Orte und neue Räume und eine neue Geographie der Imagination, die die zeit-räumliche Hierarchie durchbrach, die durch die Moderneparadigmata des 19. Jahrhunderts von Hegel bis Marx geprägt waren. Auch diese räumlichen Neuordnungen markierten eine Vergangenheit, die überwunden war, sich definitiv von der Gegenwart unterschied und in eine bessere Zukunft verwies.39 In diesem Falle waren es die „Dritte Welt“, der Trikont oder die „lateinamerikanisch-afrikanische Nation“, die Fidel Castro Ende 1975 konstruierte, um den Militäreinsatz in Angola vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen und die kubanische Bevölkerung zu mobilisieren, sich persönlich daran zu beteiligen. Er erfand damit nicht nur eine Tradition40, sondern auch einen symbolischen Ort und damit die Zugehörigkeit zu einer realen oder artifiziellen Gemeinschaft: den “Black Atlantic”41 – avant la lettre. Das militärische, politische und zivile Engagement Kubas auf Seiten der MPLA im Unabhängigkeitskampf Angolas von Portugal im Jahre 1975 und der Einsatz für die MPLA-Regierung im postkolonialen Konflikt bis 1991 wird in den großen Narrativen des Kalten Kriegs häufig immer noch als einer der größten sogenannten „Stellvertreterkriege“ des Kalten Kriegs in Afrika gedeutet. Aber insbesondere die Reichweite, Vielschichtigkeit, Quantität und Qualität dieser Beziehung kennzeichnen ihn vielmehr als eine transatlantische, lateinamerikanisch-afrikanische Süd-Süd-Kooperation zwischen zwei ehemals kolonisierten Ländern. Zwischen 1975 und 1991 waren etwa 380.000 kubanische Soldaten und etwa 50.000 Zivilisten als Ärzte, Lehrer, Ingenieure oder Bauarbeiter involviert, davon allein 10.000 im Bildungssektor.42 Auch diese Kooperation war ein

38 Olga Nazario, Juan Benemelis, Cuba’s Relations with Africa: An Overview, in: S. Díaz-Briquets, (Hg.), Cuban Internationalism in Sub-Saharan Africa, Pittsburgh 1989, S. 13-28, hier S. 13. 39 Trouillot, The Otherwise Modern, S. 222ff. 40 E. Hobsbawm, T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge u.a. 1983, S. 1-4. 41 Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London u.a. 1993. 42 Edward George, The Cuban Intervention in Angola, 1965-1991. From Che Guevara to Cuito Cuanavale, London 2005, S. 324. George bezieht sich hier auf eine öffentliche Ansprache Raúl Castros anlässlich der endgültigen Rückkehr von Soldaten und Zivi-

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Versuch, sich Moderne und Entwicklung anzueignen und mit eigenen Bedeutungen zu füllen. Bereits der Beginn dieser Zusammenarbeit war anders, als bislang gemutmaßt und geschrieben wurde: Die Initiative ging von Angola aus, nicht von Kuba; es handelte sich auch nicht um eine militärische Intervention Kubas, sondern die MPLA forderte die militärische Hilfe Kubas an, und zwar bereits wenige Monate vor der dekretierten Unabhängigkeit Angolas von Portugal. Die kubanische Regierung willigte ein, und zwar ohne die Sowjetregierung zuvor zu konsultieren, diese wurde erst danach informiert und involviert.43 Auf einem anderen Blatt steht allerdings, dass die Sowjetunion danach auf kubanische Veranlassung hin den gesamten Angola-Einsatz finanziell und militärisch massiv unterstützte, was es den beiden Regierungen letztendlich ermöglichte, die Nischen des Kalten Kriegs zu nutzen, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Dieser Militäreinsatz, an dem ab Oktober 1975 mehrere Tausend kubanische Reservisten beteiligt waren, stärkte die MPLA gegenüber den rivalisierenden Unabhängigkeitsbewegungen UNITA44 und FNLA45 und half den Vormarsch der südafrikanischen Interventionstruppen stoppen. Dadurch konnte die MPLA am 11. November 1975 in Luanda alleine die Unabhängigkeit Angolas ausrufen und den Aufbau einer sozialistischen Volksrepublik verkünden. Ihr Sieg blieb trotzdem prekär, denn sie kontrollierte im Herbst 1975 real wenig mehr als die Hauptstadt Luanda und die erdölreiche Enklave Cabinda – das Staatsterritorium musste in den folgenden Jahrzehnten, unter anderem mit kubanischer Unterstützung, erst politisch und militärisch erobert und institutionell durchdrungen werden. Die sich anschließenden militärischen Auseinandersetzungen endeten zunächst vorläufig im März 1976, als die Streitkräfte des Apartheidregimes ihren Rückzug antreten mussten. Der Krieg gegen die UNITA und die südafrikanische Armee war damit allerdings nicht beendet. Vielmehr kam es nach dem Amtsantritt von US-Präsident Ronald Reagan 1981 zu einer weiteren Eskalation des

listen aus Angola am 27.05.1991, der die Zahl der militärischen Einheiten mit 377.033 angab und die der Zivilisten mit „ungefähr 50.000“ bezifferte. 43 Piero Gleijeses, Conflicting Missions. Havana, Washington, and Africa 1959-1976, Chapel Hill, London 2002, S. 366ff; und ders., Visions of Freedom. Havana, Washington, Pretoria, and the Struggle for Southern Africa, 1976-1991, Chapel Hill u.a. 2013, S. 29f. 44 União Nacional para a Independência Total de Angola. Nationale Union für die totale Unabhängigkeit Angolas. 45 Frente Nacional para a Libertação de Angola. Nationale Front für die Befreiung Angolas.

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Krieges in Angola, da die US-Regierung die Apartheidregierung in ihrem Kampf gegen die MPLA unterstützte und insbesondere UNITA zu einem schlagkräftigen antikommunistischen Bollwerk aufrüstete. Trotzdem war auch dieser Konflikt nicht allein durch die Dynamik des Kalten Krieges bestimmt, denn auch mit dem paktierten Rückzug der kubanischen Militärs und Zivilisten und des südafrikanischen Militärs im Sommer 1991 endete der Krieg zwischen MPLA und UNITA nicht, sondern wurde mit unerbittlicher Härte weitergeführt und dauerte letztendlich bis 2002, bis zum Tod des UNITA-Führers Jonas Savimbi. Die zivile Kooperation zwischen Kuba und Angola wurde Anfang 1976 etabliert. Sie war Bestandteil einer gemeinsam vereinbarten politisch-militärischen Strategie, um die Macht der MPLA zu konsolidieren. Weitreichende politische Übereinstimmung über den Aufbau eines sozialistischen Angolas, angelehnt an das kubanische Modell, und ein enges persönlich-politisches Vertrauensverhältnis zwischen den Führungspersönlichkeiten, insbesondere zwischen Fidel Castro und Agostinho Neto, waren die Grundvoraussetzungen für diese enge Kooperation. Durch meine Untersuchungen konnte ich verdeutlichen, dass diese Zusammenarbeit sehr viel weniger hierarchisch verlief als Nord-Süd-Beziehungen in der Entwicklungszusammenarbeit. Vielmehr handelte es sich um eine Beziehung auf „Augenhöhe“, denn es ging stets um den beiderseitigen Ausgleich von Interessen. Die MPLA benötigte nicht nur im militärischen, sondern auch in allen zivilen, administrativen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen Unterstützung, um den nach der Unabhängigkeit einsetzenden brain-drain, ausgelöst durch die Flucht von über 90% der portugiesischen Siedler, die an den Schaltstellen der politischen und ökonomischen Macht der Kolonie Angola gesessen hatten, auszugleichen.

T RANS -M ODERNE : ANEIGNUNG UND U MSETZUNG VON B ILDUNGSKONZEPTEN Die Herausforderung war enorm, denn die MPLA hatte sich ungeachtet dieser schwierigen Startbedingungen eine umfassende Modernisierung Angolas zum Ziel gesetzt: den Aufbau einer souveränen und homogenen Staatsnation, deren politisch-administrative Durchdringung sowie einen raschen wirtschaftlichen Aufbau, der auf Importsubstitution und Industrialisierung setzte – wobei die angolanische Regierung im Gegensatz zu Kuba ein Modell gemischter Wirtschaft anstrebte. Als wichtigste Aufgabe wurde zunächst der Aufbau eines umfassenden Gesundheits- und Bildungssystems erachtet. Insbesondere durch Bildung, deren kostenloser Zugang für alle angolanischen Bürger in der am 11. November

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1975 verkündeten Verfassung als Grundrecht verbrieft worden war, sollte nicht nur die nationale Einheit Angolas hergestellt werden. Ein neues, emanzipatorisches Bildungssystem sollte vielmehr dazu beitragen, die Spuren der Kolonialherrschaft, des Rassismus und der Diskriminierung der afrikanischen Bevölkerung endgültig zu beseitigen.46 Um diese Aufgaben zu bewältigen, richtete der neue Staatschef Angolas, Agostinho Neto, im Frühjahr 1976 eine erneute Bitte an Kuba: einerseits zur Aufstockung der militärischen Unterstützung aufgrund der andauernden Rivalität mit der UNITA und andererseits zum nationalen Wiederaufbau in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und insbesondere im Bildungsbereich. Die kubanische Regierung willigte erneut ein, und die künftige Kooperation wurde in einem umfangreichen bilateralen Rahmenabkommen über technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit fixiert, das im Juli 1976 unterzeichnet wurde und die Bereiche Gesundheit, Verwaltung, Infrastruktur, Agrarsektor, technische Unterstützung, kulturellen Austausch und Bildung umfasste.47 Aufbauend darauf wurden für die verschiedenen Bereiche spezifizierte Verträge geschlossen, die auf die angolanischen Bedürfnisse zugeschnitten waren. Die Dynamik, die diese Kooperation jetzt entwickelte, hatte sich im Grunde schon ein Jahr zuvor abgezeichnet und verlief nach folgendem Muster: Die angolanische Seite stellte die Forderungen und die kubanische Seite erfüllte. Die MPLARegierung nutzte das kubanische know-how, um eigene Defizite auszugleichen, und bestimmte dabei die Bedingungen der Kooperation weitgehend, denn sie bezahlte dafür. Für den Bildungssektor konnte ich anhand von Dokumenten aus dem angolanischen Erziehungsministerium nachweisen, dass der Einsatz der Fachkräfte, gestaffelt nach ihrer persönlichen Qualifikation, direkt an die kubanische Regierung bezahlt wurde.48 Damit lag die Handlungsmacht eindeutig auf der angolanischen Seite. Die ursprüngliche Idee der Kooperation war ein empowerment-Konzept dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ folgend, das die Ausbildung von angolanischen Lehrern und Fachkräften durch die Entsendung von kubanischen Ausbildern um-

46 Ministério da Informação, Angola, 11 de Nov. de 1975, Documentos da Independência, Luanda 1975, S. 15. 47 Jornal de Angola, 31.07.1976, S. 2; Bohemia, No. 32, 06.08.1976, S. 55f. 48 S. Acordo especial sobre as condições gerais para a realização da colaboração económica e científico-técnica entre o governo da República Popular de Angola y a República de Cuba, Luanda aos 5 de Novembro de 1977, 14 S. (Archiv MED); Interview Angola 2006, Nr. 25, Luanda, 31.03.2006; Interview Angola 2006, Nr. 8, Luanda, 01.02.2006. S. auch Hatzky, Kubaner in Angola, S. 207-214.

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fasste ebenso wie die von Beratern zur Unterstützung bei der Organisation, Strukturierung und Umsetzung der neuen Bildungspolitik auf nationaler Ebene. Mit Hilfe kubanischer Spezialisten sollte außerdem eine umfassende Bestandsaufnahme der angolanischen Bildungssituation durchgeführt werden, als Basis für die Entwicklung weiterer Kooperationsprogramme.49 Kubanische Berater und Pädagogen kamen in den verschiedenen Abteilungen des angolanischen Erziehungsministeriums und bei der Durchführung der Alphabetisierungskampagne zum Einsatz. Sie standen ihren angolanischen Kollegen bei der Ausarbeitung von Lehrplänen, der Durchführung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrer, der Erstellung von Unterrichtsmaterialien und pädagogischen Konzepten zur Seite und unterstützten die Organisation und Strukturierung des nationalen Bildungssystems.50 Die Etablierung des neuen inklusiven Bildungssystems, das jedem Angolaner das Recht auf eine achtjährige, kostenlose Grundbildung versprach, erfuhr eine ungeheure Resonanz. Von den etwa 18 Millionen Bewohnern waren 1975 85 % Analphabeten. Die Ankündigung dieser Bildungsoffensive war für die Bevölkerung die beste Chance auf einen sozialen Aufstieg. Der Zuspruch war so enorm, dass die mit Kuba vereinbarten Kooperationsprogramme schon im Sommer 1977 nicht mehr ausreichten, um die auf über eine Million gestiegene Zahl von Schülern bewältigen zu können. Die angolanische Regierung wandte sich deshalb erneut an Kuba und bat diesmal um die massive Entsendung von kubanischem Lehrpersonal, um den Schulunterricht direkt zu unterstützen. Die kubanische Regierung willigte wiederum ein, der Einsatz kubanischer Lehrer an angolanischen Schulen stieg bis zum Schuljahr 1982/1983 stetig an und erreichte Mitte des Jahres 1982 mit der Präsenz von jährlich über 2.000 Personen seinen Höhepunkt. Kubanische Lehrkräfte stellten 1982 fast 80 % der gesamten ausländischen Lehrkräfte im angolanischen Bildungssektor, die übrigen 20 % setzten sich vor allem aus portugiesischen, aber auch sowjetischen, bulga-

49 Acordo especial de Colaboração entre o Ministério da Educação da República Popular de Angola e o Ministério da Educação da República de Cuba, unterzeichnet in Havana, 05.12.1976, und Acordo especial de Colaboração entre o Ministério da Educação da República Popular de Angola e o Ministério da Educação Superior da República de Cuba” (beide: Archiv MED). 50 MINED, Memorias del Trabajo de la Colaboración Cubana en la República Popular de Angola 1976 - 1978, S. 3ff (Archiv MED).

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rischen, ostdeutschen und vietnamesischen Lehrern und Dozenten zusammen.51 Die Mehrzahl der kubanischen Lehrer wurde in Primarschulen und in der mittleren Bildung eingesetzt.52 Aufgrund der Sprachbarriere zwischen Spanisch und Portugiesisch bestimmten die angolanischen Bildungspolitiker, dass kubanische Lehrkräfte erst ab der 6. Klasse und nicht im Portugiesischunterricht eingesetzt werden durften, sondern nur in den Fächern Mathematik, Physik, Biologie, Chemie und Geschichte, in denen die angolanischen Pädagogen die sprachlichen Defizite der Kubaner als weniger gravierend erachteten. Die kubanischen Lehrer und Dozenten wurden jeweils für ein bis zwei Jahre nach Angola entsandt. Kubanischen und angolanischen Statistiken zufolge waren im Zeitraum zwischen 1976 und 1991 insgesamt mehr als 10.000 Lehrkräfte im Bereich der Primarund Sekundarstufe und im höheren Bildungssystem, einschließlich der Universität, im Angola-Einsatz.53 Sie leisteten nicht nur Unterstützung beim Ausbau des Bildungssystems, sondern führten eine umfassende Modernisierung durch: Kubanische Lehrer erprobten an den Schulen neue, interaktive Lehr- und Lernmethoden, die in Kuba entwickelt worden waren, und halfen damit, den repetitiven Frontalunterricht der Kolonialzeit endgültig zu überwinden. Mit der angolanischen Regierung vereinbart war aber auch die ideologische Erziehung der angolanischen Schüler und Studenten, aus denen „neue Menschen“ geformt werden sollten. Transferiert wurden dabei Erziehungsmethoden wie das „Monitorensystem“, eine spezielle Frühförderung, um besonders begabte Kinder zu Kadern auszubilden, die außerschulische Betreuung durch sogenannte Neigungsgruppen, um Schüler ihren Begabungen gemäß früh an ihre künftigen Berufe heranzuführen.

51 RPA, Secretaria do Estado da Cooperação, Comissão de avaliação da cooperação ao Cda. Ministro da Educação, Luanda, Circular No. 1/CACI/SEC/Maio de 1982, Assunto: Avaliação da cooperação, 2 S. (Archiv MED). 52 RPA, MED/GICI/GII, Evaluação das cinco nacionalidades e categoría com a maior expressão, approx. 1985 (Archiv MED). 53 Angel García Pérez Castañeda, El internacionalismo de Cuba en la colaboración Económica y Científico-Técnica. Esbozo histórico de un cuarto de siglo de la Revolución Socialista Cubana 1963-1988, unveröff. Manuskript, Instituto de Historia de Cuba, Havanna o.J. S. 242; Limbania Jiménez Rodríguez, Mujeres sin fronteras, Havanna 2008, S. 96. Die Schwierigkeit besteht darin, exakte Daten zu präsentieren, da detaillierte Informationen von Seiten der kubanischen Behörden kaum zugänglich sind und die mir vorliegenden Zahlen nicht immer kongruent waren. Dennoch verfügte ich sowohl von kubanischer als auch von angolanischer Seite über genügend Angaben, um relativ verlässliche Aussagen zu treffen zu können.

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Ungeachtet ihrer ideologische Prämissen war die Bildungskooperation ein ungewöhnliches, transkulturelles Experiment, das verdeutlicht, dass sich sowohl die kubanischen Lehrer als auch ihre angolanischen Kollegen und Schüler die damit verbundenen Chancen „modern“ zu werden, aneigneten, sich bildeten, ihren Horizont erweiterten und ihren individuellen sozialen Aufstieg in Angriff nahmen. So vermochten die involvierten Kubaner den Auslandseinsatz individuell zu nutzen. Gegen den gesellschaftspolitischen Druck, sich an solchen Einsätzen zu beteiligen, entwickelten sie diskursive und lebenspraktische Strategien, um die öffentlich manifestierte Erwartungshaltung mit ihren ganz persönlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Für viele Kubaner bot ein Einsatz in Angola die Aussicht auf einen beruflichen und sozialen Aufstieg, aber auch die Möglichkeit zu reisen, an den Errungenschaften der Moderne teilzuhaben, materielle „westliche“ Güter zu erlangen, wenigstens temporär westliche Moderne – von Technologie bis hin zu Mode und Kultur – zu erleben. Die beteiligte kubanische Bevölkerung partizipierte zwar an der staatlich initiierten Kooperationspolitik, unterlief aber sowohl die politischen Ziele als auch die Deutungsmacht der Regierung dadurch, dass die Überzeugung, einer revolutionären Verpflichtung nachkommen zu müssen, in allen Fällen mit persönlichen Motivationen, Vorstellungen und Wünschen kombiniert wurde, die nicht mit den hohen ideologischmoralischen Ansprüchen der Regierung korrespondierten.54 Auch die Angolaner nutzten die Chancen der Modernisierungsversprechen ihrer Regierung. Sämtliche ehemaligen angolanischen Schüler oder Studenten,

54 Da es weder in noch außerhalb Kubas Untersuchungen über Gründe und Motivationen gibt, sich an Auslandseinsätzen zu beteiligen, wurden die hier getroffenen Aussagen auf der Grundlage der von mir geführten biographischen Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen kubanischen Teilnehmern getroffen. Sämtliche in Kuba veröffentlichten Publikationen oder Filme zum Angola-Einsatz sind ausnahmslos propagandistischer Natur, denen zufolge alle Kubaner – den Maximen der internationalistischen Solidarität folgend – ganz selbstverständlich freiwillig und aus revolutionärer Überzeugung am Angola-Einsatz teilnahmen. Außerhalb Kubas wurden daran zwar immer wieder Zweifel geäußert, allerdings handelte es sich auch hier meist um politisch motivierte Feststellungen von Exilkubanern. Ernstzunehmende Untersuchungen, die belegen könnten, dass kubanische Zivilisten zwangsrekrutiert wurden, existieren nicht, s. Juan M. del Aguila, The Domestic Attitude toward Internationalism: Evidence from Emigree Interviews, in: S. Díaz-Briquets (Hg.), Cuban Internationalism in Sub-Saharan Africa, Pittsburgh 1989, S. 124-143, hier S. 140. Ein Kapitel meiner Studie befasst sich mit dem Kontrast zwischen offizieller Propaganda und individuellen Motivationen, sich am Einsatz zu beteiligen, s. Hatzky, Kubaner in Angola, S. 105-129.

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die ich interviewte, hatten ihre kubanischen Lehrer und ihren Unterricht in guter Erinnerung, obwohl ihnen rückblickend durchaus bewusst war, dass sie im Sinne des damaligen politischen Systems erzogen werden sollten. Die kubanischen Lehrer seien weniger streng und ihr Unterricht viel flexibler und interessanter gewesen, lautete das einvernehmliche Fazit meiner Interviewpartner.55 Ein Interviewpartner vertrat eine ganz pragmatische Sichtweise: Die angolanischen Schüler hätten gar keine Wahl gehabt; im Prinzip seien alle froh gewesen, dass es überhaupt Schulunterricht gegeben habe. Man habe also entweder kubanische Lehrer in Kauf genommen, oder hätte sonst eben gar nicht zur Schule gehen können.56 Ein Physiklehrer und katholischer Priester aus der südöstlichen Provinz Kuando Kubango erläuterte mir, dass er ohne seine kubanischen Lehrer Physik niemals begriffen hätte und bis heute dankbar dafür sei, dass sie damals in seine abgelegene Gemeinde gekommen seien, um zu unterrichten.57 Die „Kubaner hätten zumindest eine Generation von Angolanern ausgebildet“, konstatierte schließlich einer der ehemaligen Schüler.58 Viele dieser Generation gehören heute im postsozialistischen Angola zur Elite des Landes: Die Mehrzahl meiner angolanischen Interviewpartner waren Unternehmer, Freiberufler, Lehrer, Universitätsprofessoren, Beamte, Geistliche oder Politiker. Das mag auf den ersten Blick paradox klingen, ist aber vielmehr ein Hinweis darauf, dass Bildungsmaßnahmen sich nur bedingt dazu eignen, politisch-ideologische Ziele zu erreichen, sondern immer wieder individuell zum sozialen Aufstieg genutzt wurden – und um „modern“ zu werden.

B ILANZ : S CHEITERN ? L ÄNGERFRISTIGE AUSWIRKUNGEN UND E FFEKTE DER S ÜD -S ÜD -K OOPERATION Die kubanisch-angolanische Kooperation war ein Versuch, durch Wissenstransfer einen postkolonialen Gegenentwurf zur kapitalistischen und eine Alternative zur realsozialistischen Moderne zu verwirklichen. Dieser großangelegte Versuch des Aufbaus eines Bildungssystems inmitten eines internen und externen Kriegs verlief alles andere als reibungslos, und das Beispiel verdeutlicht die Begrenztheit dieses Versuchs, denn die Kooperation trug nicht dazu bei, den postkolonia-

55 Ausführlicher zur Resonanz der angolanischen Schüler und Studenten auf ihre kubanischen Lehrer s. ebd., S. 285-292. 56 Interview Angola (2006) Nr. 5 (B. P.), Luanda, 31.01.2006. 57 Interview Angola (2006) No. 21 (P. S.), Luanda 15.03.2006. 58 Interview Angola (2006) Nr. 28 (O.), Luanda 26.11.2006.

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len Konflikt zu beenden. Vielmehr wurde der Krieg auch nach 1991 zwischen MPLA-Regierung und UNITA-Rebellen mit unverminderter Intensität bis 2002 weitergeführt. Die MPLA ging daraus als Siegerin hervor und ist bis heute an der Macht, möglicherweise ist dies dem Transfer von Herrschaftswissen durch die Kooperation mit Kuba geschuldet, die von Anfang an auch der Stabilisierung der Vorherrschaft der MPLA diente. Für die angolanische Bevölkerung, die zwischen den Fronten zerrieben wurde, war der Preis des Krieges mit Hundertausenden von Toten, einer Million Flüchtlingen, riesigen verminten Territorien enorm hoch. Der seitdem stattfindende Wiederaufbau hat der Bevölkerungsmehrheit bis heute kaum die sozialen Verbesserungen der Moderne gebracht, die sich die MPLA 1975 auf die Agenda geschrieben hatte. Im Falle der Bildungsreform wurden im Kriegsjahrzehnt nach 1991 fast alle bis dahin erzielten Errungenschaften wieder zunichte gemacht. Die Analphabetenrate wurde 2006 auf 56% geschätzt. Trotzdem beinhaltete die neue, durch die MPLA implementierte und mit kubanischer Unterstützung durchgesetzte Bildungspolitik in den ersten Jahren ein emanzipatorisches – modernes – Element, denn die Bildungsangebote wurden von breiten Bevölkerungsschichten intensiv genutzt, und die Bildungsinfrastruktur überdauerte zumindest institutionell. Auch für die kubanische Gesellschaft war der große personelle Umfang, den die zivile Kooperation annahm, eine enorme Herausforderung, zumal in vielen Bereichen die von angolanischer Seite angeforderten Fachkräfte überhaupt nicht zur Verfügung standen. Die Situation spitzte sich Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre weiter zu, als Soldaten und Zivilisten auch zu internationalistischen Großeinsätzen in Äthiopien und Nicaragua zur Verfügung stehen mussten. Für den kubanischen Staat war die Kooperation mit Angola der erste zivile Auslandseinsatz in großem Stil. Sie war der Ausgangspunkt von Institutionalisierung, Professionalisierung, aber auch Kommodifizierung der zivilen Kooperationsprojekte, mit denen sich Kuba im Globalen Süden bis zum heutigen Tage sehr erfolgreich zu profilieren vermag. Diese zivilen Kooperationsprojekte werden seit 1991, seit dem Ende des Kalten Kriegs, nicht mehr unter ideologischen Prämissen durchgeführt, sondern konzentrieren sich auf humanitäre oder technische Hilfestellungen. Kubas Einsätze im medizinischen Bereich, in der Bildung aber auch in administrativ-technischen Bereichen sind sehr erfolgreich, nicht zuletzt aufgrund der großen Erfahrung und hervorragenden Qualifizierung der Spezialisten und Fachkräfte und ihrer großen Einsatzbereitschaft. Dies trug sicherlich dazu bei, dass Kuba als Staat und als gesellschaftliches Experiment nach dem Niedergang des realen Sozialismus und dem Wegfall sowjetischer Subventionen überleben konnte. Der Einsatz von Tausenden von Ärzten und Lehrern in Venezuela wurde und wird beispielsweise durch Erdöllieferungen kompensiert.

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Seit 1991 werden Auslandseinsätze auch individuell vergütet. Dies eröffnete für viele die Möglichkeit eines zusätzlichen Einkommens und sicherte vielen kubanischen Familien das Überleben in der Krise. Kubanische Fachkräfte haben weltweit einen hervorragenden Ruf und sind sehr gefragt, so etwa auch bei internationalen Entwicklungsorganisationen wie der WHO oder der UNESCO. Und sie sind ein ganz entscheidender Bestandteil des internationalen Prestiges, das Kuba heute als „solidarische Nation“ insbesondere in Lateinamerika und Afrika genießt. Aus dieser ergebnisorientierten Perspektive heraus und aus dem Blickwinkel der an den Kooperationen beteiligten – Lehrenden und Lernenden – scheint sich so etwas wie eine alternative Transmoderne entwickelt zu haben. Nach einer langen Unterbrechung der politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Regierungen, die dem Ende des Kalten Kriegs geschuldet war, da die MPLA einen kapitalistischen Entwicklungsweg eingeschlagen hatte, während sich Kuba bis heute als einziger sozialistischer Staat in der westlichen Hemisphäre definiert, existiert seit 2006 wieder ein intensiver politischer, wirtschaftlicher und sozio-kultureller Austausch. Heutzutage sind erneut Hunderte von kubanischen Lehrern in Angola im Einsatz, um eine neue Bildungsinitiative zu unterstützen. Das Alphabetisierungsprogramm, das in Kuba entwickelt wurde und gezielt auf die Bedürfnisse von Entwicklungsländern zugeschnitten ist, ist nun ein ideologiefreies empowerment-Programm mit dem Titel: Ja, ich kann!59

59 S. Granma, 24.07.2009. Es wurde im Februar 2009 auch in Angola initiiert. S.a. http://www.ecured.cu/index.php/Programa_cubano_de_alfabetizaci%C3%B3n_Yo_si _Puedo (letzter Zugriff: 21.03.2014); http://es.wikipedia.org/wiki/M%C3%A9todo_de _alfabetizaci%C3%B3n_%22Yo,_s%C3%AD_puedo%22 21.03.2014).

(letzter

Zugriff:

Der „Animismus-Spiritismus-Streit“ Der deutsche Spiritismus in den 1880er Jahren E VA O CHS

„Man weiß in der Tat nicht, auf welcher Seite mehr Oberflächlichkeit, Kritiklosigkeit, Vorurtheil, Leichtgläubigkeit und Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen beobachteten Thatsachen und naheliegenden Vermuthungen zu finden ist, ob bei den Spiritisten, die in jedem zufällig umfallenden Regenschirm die Offenbarung einer Geisterhand sehen, oder bei den Aufklärern, welche alles für unmöglich erklären, was nicht zu ihrem beschränkten Weltbilde passt“,1 schrieb der Privatgelehrte und Philosoph Eduard von Hartmann in seiner 1885 erscheinenden Schrift „Der Spiritismus“. Auch wenn er die Spiritisten heftig kritisierte, sie würden sich durch ihr „Herzensinteresse an der Bewährung der Geisterrealität“ und dem „Unsterblichkeitsglauben hinreißen“ lassen2, war er nach Jahren der erste deutsche Wissenschaftler von Bedeutung, der ihr Betätigungsfeld nicht als Aberglaube abwertete und eine intensive Erforschung der während der Séancen gezeigten Phänomene für sinnvoll erklärte. Für die „modernen“ Spiritisten3, die ihre Beschäftigung mit dem Okkulten als ernst zu nehmende wissenschaftliche Praxis verstanden und immer wieder die empirische Erforschung der „mediumistischen Phänomene“ durch Vertreter aller Wissenschaften gefordert hatten, stellte Hartmanns Schrift damit zwar eine gewisse Anerkennung, aber gleichzei-

1

Eduard von Hartmann, Der Spiritismus, Leipzig 1885, S. 15. Er hatte sich durch sein Frühwerk „Die Philosophie des Unbewußten“ (1865) auch in der sich institutionalisierenden Psychologie einen Namen gemacht.

2 3

Hartmann, Spiritismus, S. 20. Alexander Aksakow, Mein in einen Glückauf- u. Vorwärtsruf verwandeltes Abschiedswort, in: Psychische Studien 5 (1878), S. 1-11, hier S. 8 f.

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tig auch eine große Provokation dar. Denn der Kern von Eduard von Hartmanns durchgehend psychologischer Analyse lautete: In allen dokumentierten Fällen von spiritistischen Phänomenen, bei denen nicht Betrug und Täuschung im Spiel waren, handele es sich um durch die „Nervenkraft“ der Medien bewirkte Halluzinationen und keineswegs um das Einwirken oder gar Erscheinen von Geistern aus dem Jenseits. Die „Geisterhypothese“ sei in keinem Fall nachgewiesen – und dies sei auch nicht zu erwarten.4 Am stärksten herausgefordert durch von Hartmanns Schrift zeigte sich Alexander Aksakow, Herausgeber der in Deutschland führenden spiritistischen Zeitschrift „Psychische Studien“. Den „Fehdehandschuh“, den von Hartmann der gesamten spiritistischen Bewegung hingeworfen habe, griff er mit Vehemenz auf: Über vier Jahre hinweg widerlegte er in zahllosen Artikeln Hartmanns Thesen und veröffentlichte schließlich 1890 sein zweibändiges Werk5, das bald als ‚Bibel des Spiritismus‘ bezeichnet wurde.6 Für ihn war die Existenz „jenseitiger Intelligenzen“ zweifelsfrei erwiesen und durch zahllose Erfahrungsberichte wissenschaftlich nachprüfbar belegt. Der gebürtige Russe Aksakow, der über beträchtliche finanzielle Mittel verfügte, begnügte sich in seiner Verteidigung aber nicht allein mit theoretischen Ausführungen. Der „Nestor“ des Spiritismus7 führte in seiner Heimatstadt St. Petersburg, in London, in Göteborg und in Mailand intensive experimentelle Sitzungen mit europaweit bekannten spiritistischen Medien durch, um vor allem von Hartmanns „Halluzinationsthese“ zu widerlegen. Diese Kontroverse ist als „Animismus-Spiritismus-Streit“8 in die Forschung eingegangen, eine intensivere Auseinandersetzung ist damit aber noch nicht er-

4

Hartmann, Der Spiritismus, S. 106 f.

5

Animismus und Spiritismus. Versuch einer kritischen Prüfung der mediumistischen Phänomene mit besonderer Berücksichtigung der Hypothese der Hallucination und des Unbewußten. Als Entgegnung auf Dr. Ed. v. Hartmann’s Werk: „Der Spiritismus“, 2 Bde., Leipzig 1890.

6

Priska Pytlik, Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine

7

Vgl. Zum 70. Geburtstag des Begründers der Psychischen Studien, in Psychische Stu-

8

Mit „Animismus“ (von lateinisch „anima“: Seele) wurde im Okkultismus die Über-

Bedeutung für die Literatur, Paderborn 2005, S. 47. dien 29 (1902), S. 393-396, hier S. 396. zeugung bezeichnet, dass die übersinnlichen Erscheinungen im Verlaufe einer spiritistischen Sitzung durch die seelischen Kräfte des Mediums bewirkt wurden, vgl. dazu: Karl Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheim bis zu Karl du Prel, Leipzig 21909, S. 716-717.

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folgt.9 Im Mittelpunkt sollen nun exemplarisch die von Alexander Aksakow vor dem Hintergrund dieser Kontroverse durchgeführten Séancen mit dem schottischen Medium William Eglinton stehen, die in den „Psychischen Studien“ ausführlich und detailliert dokumentiert worden sind.10 Es soll versucht werden, durch Einblicke in die bislang noch wenig erforschte spiritistische Praxis genauere Aufschlüsse zu gewinnen über das Selbstverständnis der spiritistischen Bewegung in Deutschland zu diesem Zeitpunkt. Der Begriff Spiritismus (im Englischen „Spiritualism“, in Frankreich „Spiritisme“) hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt zur Bezeichnung des Glaubens an die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen und deren Hineinwirken in das Diesseits. Der Spiritismus zählte dabei zu der breitesten Strömung innerhalb des Okkultismus, der als Sammelbegriff für „alle Lehren und Praktiken, die sich mit ‚übersinnlichen‘, ‚übernatürlichen‘ Kräften beschäftigten, verwandt wurde.11 Hellsehen, Gedankenlesen, Geistheilungen zählten genauso dazu wie der sogenannte Somnambulismus – der tranceartige Zustand besonders sensitiver Personen, sogen. Medien, die in diesem „übernatürliche“ Kräfte entwickeln und/oder den Kontakt mit Verstorbenen herstellen konnten. In der Forschung umschreibt Okkultismus ein Phänomen, das im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und den USA aufblühte. Ob als „Gegenbewegung zu Rationalismus und Aufklärung“12 und „Flucht in den Irrationalismus“13, wird heute allerdings größtenteils bezweifelt. Für die Bedeutung

9

Vgl. dazu: Diethard Sawicki, Leben mit den Toten. Geisterglaube und Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn 2002, S. 347 f; Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 46f; Eduard Bauer, Spiritismus und Okkultismus, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, hrg. von Veit Loers, Frankfurt 1995, S. 61-80, hier S. 71f; Corinna Treitel, A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore London 2004, S. 11f; Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 698 ff.

10 Die „Psychische Studien: monatliche Zeitschrift vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens“ (Im Folgenden abgekürzt: PS) erschienen monatlich von 1874 bis 1925 in Leipzig (Verlag Oskar Mutze). Die Exemplare sind digitalisiert und online einsehbar in dem Bestand der Freiburger Universitätsbibliothek: Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie. 11 Werner Bonin, Lexikon der Parapsychologie und ihrer Grenzgebiete, Bern München 1976, S. 366; Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 23-24. 12 Sabine Doering-Manteuffel, Okkultismus. Geheimlehren, Geisterglaube, magische Praktiken, München 2011, S. 17 13 So eine der Kernthesen von: James Webb, The Flight from Reason, London 1971.

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des Okkultismus in Deutschland haben vor allem die Arbeiten von Ulrich Linse einen zentralen Stellenwert. Er hat als erster auf das ambivalente Verhältnis von Spiritismus und „Moderne“ hingewiesen und anhand der Analyse spiritistischer Schriften gezeigt, dass es sich bei dem Aufblühen der okkultistischen Bewegungen im 19. Jahrhundert nicht um eine Flucht vor der Vernunft, sondern um den Versuch der Ausdehnung rational-empirischer Forschung auf „übernatürliche Phänomene“ gehandelt habe.14 Bei seiner Studie konnte er sich schon Anfang der 90er Jahre auf eine breitere Forschung aus Großbritannien stützen, die bereits zwei Jahrzehnte zuvor begonnen hatte, Okkultismus und Spiritismus zum Thema zu machen.15 Eine mit vielen Fallbeispielen angereicherte deutsche Untersuchung wurde 2002 von Dieter Sawicki vorgelegt, in der er die Geschichte des Geisterglaubens in Deutschland zwischen 1770 und 1900 verfolgt, die hier im Mittelpunkt stehende Kontroverse aber nur am Rande streift.16 Instruktive Beiträge zum Einfluss von Okkultismus auf die künstlerische „Moderne“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts bieten die Beiträge des Ausstellungskatalogs „Okkultismus und Avantgarde“, die sich auch mit der Geschichte und Entwicklung des Okkultismus auseinandersetzen.17 Hier wie auch in der literaturwissenschaftlichen Arbeit von Priska Pytlik zu Thema „Okkultismus und Moderne um 1900“ finden sich die ausführlichsten Hinweise auf die sogen. „Animismus-Spiritismus-Kontroverse“18. Sowohl Priska Pytlik als auch Eberhard Bauer haben auf Zusammenhänge von Okkultismus und der Hypnoseforschung in der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Wissenschaft etablierende Psychologie verwiesen. Der Bedeutung des Stellenwerts der „Seele“ in einer von materialistischen und rationalistischen Werten bestimmten Gesellschaft hat schließlich Cornelia Treitel in ihrer Studie zur Erklärung der Bedeutung der okkultistischen Bewegung in Deutschland in den Mittelpunkt gestellt19, die ansonsten ihren Schwerpunkt aber im 20. Jahr-

14 Ulrich Linse, Geisterseher und Wunderheiler, München 1992, S. 10f 15 Zum gut erforschten englischen Spiritismus vgl. auch: Alex Owen, The Place of Enchantment. British Occultism and the Culture of the Modern, Chicago London 2004. 16 Sawicki, Leben mit den Toten, S. 347 f. 17 Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, hrg. von Veit Loers, Frankfurt 1995; hier vor allem der Beitrag von Eberhard Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 60-80. 18 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 46f, und Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 71 f. 19 Corinna Treitel, A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore London 2004, S. 11 ff.

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hundert setzt und insbesondere die Theosophische Bewegung betrachtet. In ihrer Kernthese bestätigt sie allerdings die Überlegungen von Ulrich Linse: Der Okkultismus definiere sich in Ablehnung zum rationalen, am Materialismus orientierten Welt- (und Wissenschaftsbild) der Moderne; gleichzeitig versuche er aber in der Praxis, die Seele und das Transzendente mit rational-empirischen Mitteln zu behandeln und damit für die moderne Naturwissenschaft anschlussfähig zu machen. So habe er für seine Anhänger ein Medium der eigenen Anpassung an die Moderne20durch die „Rationalisierung des Irrationalen“ dargestellt.21 War der Okkultismus also ein ambivalenter oder gar alternativer Weg in die Moderne? Und wie gestaltete sich diese Verbindung von Wissenschaftsverständnis und Geisterglaube in der Praxis? Ich möchte im Folgenden am Beispiel der 1885 beginnenden Kontroverse „Hartmann contra Aksakow“22 und der in diesem Zusammenhang durchgeführten Séancen untersuchen, wie das spezifische Mischungsverhältnis zwischen wissenschaftlichem Experiment und Beschwörungsritual in der bislang noch kaum untersuchten spiritistischen Praxis aussah; zudem soll auch deutlich werden, welche Brüche sich innerhalb der spiritistischen Bewegung durch dieses Spannungsverhältnis ergaben.

20 Bei der Frage des Verhältnisses von Okkultismus und Moderne ist es die unterschiedliche Verwendung des Begriffs, die eine präzisere Bestimmung schwierig macht. Wird das Aufblühen der Okkulten Bewegungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts verortet und in den Zusammenhang mit der „Klassischen Moderne“ in Kunst und Literaturwissenschaft gestellt? (so vorwiegend bei Treitel, A Science fort he Soul); oder erfolgt eine Orientierung an dem geschichtswissenschaftlichen Modernebegriff und die Entwicklung im Zusammenhang der Modernisierungsprozesse, die mit Säkularisierung, Rationalisierung und der Bedeutung von Naturwissenschaften und Technik schon weitaus früher das bürgerliche Zeitalter des „langen 19. Jahrhunderts“ bestimmten, betrachtet? Oder folgt man den Selbstdeutungen der Anhänger, die den Beginn des „modernen Spiritismus“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts verorten, als der Spiritismus von Amerika ausgehend eine bedeutendere öffentliche Wirkung auch in Europa zu entfalten begann die Zuordnung werden noch schwieriger, da in manchen Werken parallel mit zwei Moderne-Begriffen gearbeitet wurde, z.B. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 25; Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 64. 21 Treitel, A Science for the Soul, insbes. S. 19-20. 22 So der Titel eines Beitrag von Carl du Prel zu dieser Kontroverse, in: PS 15 (1891), S. 257.

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Der Okkultismus und dabei insbesondere die breite Strömung des Spiritismus waren zum Zeitpunkt der Kontroverse in Deutschland zu einem Phänomen geworden, dessen öffentliche Präsenz unübersehbar wurde und die – in unterschiedlicher Ausprägung – alle Teile der Bevölkerung ergriffen hatte.23 Neben München und Berlin war vor allem Leipzig ein Zentrum der spiritistischen Bewegung. Dort bildeten sich auch die ersten spiritistischen Zirkel, bald auch Vereine, die Séancen im privaten Kreis und auch öffentliche mediumistische Vorführungen abhielten.24 Der Glaube an die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen und des Hineinwirkens des Geisterreichs in die Welt der Lebenden war die Grundüberzeugung der Spiritisten, die innerhalb der okkulten Bewegung der 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielten. Natürlich knüpften sie dabei sowohl an alte Traditionen der „Geheimwissenschaften“ als auch den volkstümlichen Aberglauben an; dazu zählten Spukgeschichten und Hellsichtigkeit, Erscheinungen Verstorbener, Beschwörungsrituale und Geistheilungen.25 Doch der Glaube an das Übersinnliche hatte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit Aufklärung, Rationalismus und den naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften des Industriezeitalters verändert. Dies zeigte sich zum einen in der zunehmenden mediumistische Prägung und der damit verbundenen Konzentration auf die „psychischen Kräfte“ von als Medien bezeichneten Personen, die in irgendeiner Form mit den übersinnlichen Phänomenen in Verbindung standen. Deutlich wird dies auch zum anderen in der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter vorangetriebene Entwicklung von empirischen Verfahren zur Erzeugung, Beobachtung und Erforschung übersinnlicher Erscheinungen.26 Entsprechend veränderten sich auch die Begriffe: Statt „Séance“ wurde häufig „mediumistische Sitzung“ verwandt; man sprach nicht mehr unumwunden von „Geistern“, sondern von „jenseitigen Intelligenzen“ oder „transzendenten Kräften“. „Modern“ war auch die Bezugnahme auf neueste Ergebnisse der Wissenschaft und der Einsatz von technischen Mitteln (Fotografie, Phonografie) zur Dokumentation der spiritistischen Erscheinungen und die Verknüpfungen mit naturwissenschaftlichen Entdeckungen (z.B.

23 Sawicki, Leben mit den Toten, S. 299; Treitl, A Science for the Soul, S. 247. 24 Sawicki, Leben mit den Toten, S. 307 ff; Zahlen: S. 333. 25 Ebenda, S. 21; vgl. dazu auch Linse, Geisterseher und Wunderwirker, S. 11; Webb, S. 55. 26 Vgl. hier die plausibel und klar herausgearbeitete Darstellung von Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 25; Linse, Geisterseher und Wunderwirker, S. 18 f.

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Telepathie/drahtlose Telegrafie) bei der Deutung des Okkulten.27 Neu waren zudem auch die Wege der medialen Massenverbreitung spiritistischer Phänomene, die für eine kontinuierliche öffentliche Präsenz sorgten und von einer wachsenden Unterhaltungsindustrie vermarktet werden konnten.28 Der Spiritismus wurde nun auch zum Gegenstand behördlicher Beobachtung und der Kritik durch die Kirchen.29 Den seriösen Spiritisten wie Alexander Aksakow, die ihre Beschäftigung mit dem Transzendenten als Wissenschaft betrachteten und immer wieder die Untersuchung der „mediumistischen Phänomene“ durch etablierte Forscher gefordert hatten, war der Unterhaltungsspiritismus ein Dorn im Auge. Als Herausgeber der „Psychischen Studien“ und der Publikationsreihe „Bibliothek des Spiritismus“30 hatte sich Aksakow innerhalb der deutschen Spiritistenszene einen Namen gemacht. Die „Psychischen Studien. Monatsschrift, vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens gewidmet“, die beim einschlägigen Verleger Oskar Mutze im Leipzig seit 1874 erschienen, war zu dieser Zeit die bedeutendste okkultistische Zeitschrift in Deutschland. Mit der Namensgebung und der Zielsetzung orientierte man sich auch am englischen Beispiel der „Physical Research“: Anerkannte Naturwissenschaftler, die dem Spiritismus zuneigten, hatte sich in der „Society for Psychical Research“ zusammengeschlossen, um den übernatürlichen Phänomenen mit wissenschaftlich fundierten Experimenten auf den Grund zu gehen.31 Zu diesen zählte vor allem der britische Chemiker William Crookes, der u.a. mit dem Medium Florence Cook beeindruckende Erfolge erzielt hatte.32 Der aus St. Petersburg stammende Alexander Aksakow war ein Autodidakt, der in seiner Jugend mit den Schriften von Spiritisten in Kontakt gekommen war. Seine berufliche Tätigkeit wird immer als “geheimer russischer Staatsrat“ angegeben, offenbar hatte er sich aber im Alter von 40 Jahren bereits zur Ruhe gesetzt, um sich ganz seiner Publikationsarbeit zum Spiritismus zu widmen. Da im zaristischen Russland der Okkultismus verfolgt wurde und spiritistische Schrif-

27 Ebenda, S. 16 f. 28 Vgl. dazu insbesondere Sabine Doering-Manteuffel, Das Okkulte, München 2008, S. 18; S. 136 f. 29 Sawicki, Leben mit den Toten, S.349 ff. 30 Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 714; PS 23 (1896), S. 10 ff. 31 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 41. 32 Vgl. dazu auch Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 71.

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ten der Zensur unterlagen, hatte sich Aksakow in Deutschland sein Wirkungsgebiet gesucht.33 Abb. 1: Alexander Aksakow (1832-1903)

Dr. Andreas Sommer, Spirit, Science and the Mind: The Journal „Psychische Studien“ (1874-1925), (forbiddenhistories.wordpress.com 17.12.2013)

Mit der Gründung der „Psychischen Studien“ im Jahr 1874 versammelte er Autoren, die wie er den Okkultismus als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung betrachteten;34 ein großer Teil der Beiträge wurde auch vom Redakteur Gregor Konstantin Wittig, einem studierten Theologen, der eine bedeutende Rolle in der Leipziger Spiritistenszene spielte, verfasst.35 Gegenstand waren alle Be-

33 Vgl. dazu u.a. Kiesewetter, Geschichte des neuen Occultismus, S. 715 ff; und: Zum 70. Geburtstag des Begründers der Psychischen Studien, in: PS 28 (1902), S. 393. Aksakows erhebliche finanzielle Mittel stammten von seinem Vater, der aber von den spiritistischen Experimenten des Sohnes alles andere als überzeugt gewesen sein soll. Als dem Vater hinterbracht wurde, welcher Art die Aktivitäten seines Sohnes in Deutschland waren, hatte er die Mittel gekappt, was Anfang 1877 beinahe zur Einstellung der Psychischen Studien geführt hatte: Biographische Skizze des Herausgebers der Psychischen Studien, in: PS 23 (1896), S. 57-69, hier S. 65. 34 Alexander Aksakow, Prospectus des Herausgebers, in: PS 1 (1874), S. 1-6. 35 Zur Person von Gregor Constantin Wittig vgl. Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 526 ff.

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reiche des Okkultismus: Artikel und Berichte über Hellsehen, Botschaften Verstorbener, historische Spukfälle, Nachrichten über mediumistische Experimente, Neuerscheinungen spiritistischer Werke u.a.m. Neben dem Herausgeber und dem Redakteur handelte es sich bei den Autoren um in Deutschland namhafte Spiritisten wie den Privatgelehrten und Philosophen Carl du Prel, einem der Vordenker des Okkultismus in Deutschland36, oder den Münchner Nervenarzt Albert Schrenck-Notzing, der in späteren Jahren mit „mediumistischen Experimenten“ von sich reden machen sollte.37 Aber auch pensionierte Gymnasiallehrer oder Verwaltungsbeamte, die über spiritistische Erfahrungen aus eigenen privaten Sitzungen berichteten, zählten zu den Beiträgern.

2. D IE K ONTROVERSE Die Anhänger des deutschen Spiritismus hatten immer wieder ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, dass sich auch die etablierte Wissenschaft mit den mediumistischen Phänomenen beschäftigen solle. Stattdessen hatte man aber nach wie vor das Empfinden, gegen eine Mauer des „Todtschweigens“ anzurennen und von einer falsch verstandenen Aufklärung „vornehm“ oder „spöttisch verächtlich“ in das Abseits des „Aberglaubens“ gerückt zu werden.38 Das Erscheinen von Eduard von Hartmanns Schrift zum Spiritismus wurde als Beitrag eines anerkannten Wissenschaftlers, der sich einige Jahre zuvor mit „Die Philosophie des Unbewußten“(1857) einen Namen gemacht hatte, zunächst grundsätzlich sehr begrüßt. Der Herausgeber der „Psychischen Studien“ machte dies 1886 in einem Vorwort deutlich: „Indem wir die Fortsetzung unseres Journals im XIII. Jahrgang 1886 hiermit beginnen, können wir uns gleichzeitig Glück wünschen zu dem Fortschritt der spiritistischen Frage in Deutschland. Denn wenn ein so ausgezeichneter Denker wie Herr Dr. Eduard von Hartmann sich herbeiläßt, ihr eine so eingehende Spezial-Studie zu widmen, so ist das ein hinreichender Beweis, dass wir im Spiritismus eine Frage haben, welche studirt zu werden verdient, und unser Haupt-

36 Zu Carl du Prel und seiner innerhalb der spiritistischen Bewegung einflussreichen Theorie des „transzendenten Subjekts“ vgl. u.a. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 48 ff, und Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 840 ff. 37 Vgl. dazu Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 71ff. 38 Wie Alexander Aksakow in der Ankündigung seiner Zeitschrift in der ersten Ausgabe vom Januar 1874 unterstrich (Prospectus des Herausgebers, in: PS 1 (1874), S. 1-6; vgl. dazu auch: Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 25-26.

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zweck ist niemals ein anderer gewesen, als die mediumistischen Thatsachen so viel als möglich zu fördern und zu popularisieren, um die Aufmerksamkeit aller Gelehrten in allen Spezialfächern auf sie zu lenken.“39 Dass Eduard von Hartmann für zahlreiche spiritistische Phänomene die Ursache in der „Nervenkraft“ der Medien sah, war für Aksakow und andere Spiritisten keine Provokation. Auch nach ihrer Überzeugung waren bei den spiritistischen Sitzungen immer zweierlei Kräfte am Werk: Die „psychische Kraft“ des Mediums und die Kräfte der „jenseitigen Intelligenzen“, die bei der Hervorbringung der übersinnlichen Phänomene zusammenarbeiteten. Mit dieser Deutung stand man in der Tradition des „künstlichen Somnambulismus“, ein auch als Trance bezeichneter Zustand, in dem der Somnambule besondere Fähigkeiten (u.a. Hellsehen, Geistheilungen) entwickeln und eben auch mit jenseitigen Kräften in Kontakt treten konnte.40 Die Frage der „physischen Kraft“ als Ursache für die übersinnlichen Phänomene hatte die okkultistische Bewegung schon länger beschäftigt.41 Führende Vertreter wie der bereits erwähnte Gregor Konstantin Wittig waren schon seit Beginn der 80er Jahre durchaus bereit zuzugestehen, dass für die meisten der beobachteten mediumistischen Ereignisse die Erklärungen in den Kräften der Medien zu suchen waren. Ob darüber hinaus noch dritte Kräfte am Werk waren, die von Geistern Verstorbener herrührten, dies sei experimentell noch nicht eindeutig erwiesen – aber zu erwarten.42 Damit hatte der Redakteur der Psychischen Studien aber bereits den Herausgeber Aksakow gegen sich aufgebracht, dem Wittigs skeptische Position zu weit ging.43 Auch andere Beiträger, die der psychischen Kraft bei der Erklärung der

39 PS 13 (1886), S. 1. 40 Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 63-64; Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 30-33. Die Theorie des „Somnambulismus“ ging dabei auf den deutschen Arzt Franz Mesmer(1734-1815) mit seiner Idee des „thierischen Magnetismus“ zurück; seine – abgewandelte – Theorie hatte in den okkultistischen Kreisen in Europa und Amerika einen hohen Stellenwert. 41 Vgl. dazu insbes. Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 697 ff. 42 Vgl. dazu Wittigs Stellungnahm: Erwiderung an der Herausgeber, in PS 12 (1885), S. 15- 27. Auch einige prominente Vertreter des Spiritismus, wie der in Leipzig wirkende, aus Amerika zurückgekehrte Bernhard Cyriax erhoben den Vorwurf, dass einige Beiträger der Psychischen Studien dem Glauben an die Geister mittlerweile abgeschworen hätten, vgl. dazu: Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 526529. 43 Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 699 ff, und Sawicki, Leben mit den Toten, S. 347-348.

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Phänomene eine zu große Bedeutung einräumen wollten, wie der pensionierte Gymnasiallehrer Eduard Jankowski, wurden vom Herausgeber gerügt.44 Auf der anderen Seite sah man sich in den Psychischen Studien zeitweise von ernsthaften Spiritisten kritisiert, die die sorgfältige Differenzierung zwischen „psychischer Kraft“ der Medien und dem Nachweis vom tatsächlichen Einwirken jenseitiger Intelligenzen nicht zufriedenstellte: Für sie war der Spiritismus eine unumstößliche Tatsache, die nicht erst durch aufwändiges Experimentieren erwiesen werden musste45 Dass es sich aber, so von Hartmanns zentrale These, in denjenigen Fällen von übersinnlichen Phänomenen, bei denen Betrug vollkommen auszuschließen war, wie er ausdrücklich hervorhob, durchgängig um Halluzinationen des Mediums handeln sollte, das diese auch auf die übrigen Sitzungsteilnehmer übertrage, rief die Empörung der gesamten Spiritistengemeinde hervor. „All dies Halluzinationen – unmöglich!“, schrieb zum Beispiel auch Carl Sellin in der „Sphinx“46, einer weiteren namhaften okkultistischen Zeitschrift. Und Alexander Aksakow urteilte noch in der Rückschau auf sein Wirken für den Spiritismus: „Das Buch v. Hartmanns war eine dem spiritistischen Glauben ins Angesicht geschleuderte Herausforderung im Namen der Wissenschaft, der Philosophie und der Aufklärung; es ging von einer damals zu berühmten wissenschaftlichen Autorität aus, es war in so ernster Sprache, in einer so logischen und subtilen Argumentation abgefaßt, dass es unmöglich war, es zu ignorieren, wie die zahlreichen höhnischen und verächtlichen Angriffe, die man wider den Spiritismus losliess, ohne sich die Mühe zu machen, ihn zu studieren; hier gab man in einer ernsten Studie sogar die Möglichkeit der Thatsachen zu, aber man bemitleidete die spiritistische Erklärung und ihre Anhänger; man hegte die Anmaßung, mit allem Zubehör von wissenschaftlichen Hypothesen beweisen zu wollen, dass man sie ganz übergehen könne. Ich erachtete es als meine Pflicht, diesen Handschuh aufzunehmen, der uns durch diesen gefährlichen Gegner zugeschleudert worden war“.47

44 Vgl. dazu Eduard Jankowski, Entgegnung, in: PS 12 (1885), S. 13 -27, und S. 84.; Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, S. 706 f. 45 W. Zenker, Psyche oder Geist?, in: PS 12 (1885), S. 433-X. 46 Carl Sellin, Eduard von Hartmann und die Materialisationen, in: Sphinx I (1886) Heft 5, S. 289-304, hier S. 298. Die Zeitschrift „Sphinx. Monatsschrift für Seelen und Geistesleben“, gegründet 1886, herausgegeben von Wilhelm Hübbe-Schleiden, wurde aber bald zu einem Organ der Theosophischen Vereinigung. 47 Alexander Aksakow, Biographische Skizze des Herausgebers III, in: PS 23 (1896), S. 105-116, S. 107.

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Und er hatte diesen Fehdehandschuh mit einigem Schwung aufgenommen. Über vier Jahrgänge veröffentlichte er in den Psychischen Studien seitenlange Beiträge zu Hartmanns Studie, die er theoretisch und vor allem anhand von dokumentierten Erfahrungsberichten zu widerlegen versuchte.48 Er setzte sich dabei kritisch mit Hartmanns Betrachtungen zum „Somnambulismus“ (also dem TranceZustand des Mediums) auseinander, verteidigte vehement die von Hartmann verworfenen Beispiele und führte zahllose weitere Phänomene aus mediumistischen Sitzungen an, für die die Halluzinationsthese als Erklärung nicht genügen könne oder gar lächerlich wirke. Diese Artikelserie veröffentlichte er dann auch 1890 in seiner über 700 Seiten starken, in zwei Bänden erscheinenden Schrift „Animismus und Spiritismus. Versuch einer kritischen Prüfung der mediumistischen Phänomene mit besonderer Berücksichtigung der Hypothese der Hallucination und des Unbewußten. Als Entgegnung auf Dr. Ed. v. Hartmann’s Werk: „Der Spiritismus“.49 Auch andere Vertreter des Okkultismus wie der Herausgeber der Zeitschrift „Sphinx“ Wilhelm Hübbe-Schleiden oder der bereits erwähnte Philosoph Carl du Prel beteiligten sich an der Debatte, griffen von Hartmanns Halluzinationsthese an und verteidigten Aksakows Argumente.50 Der Hauptprotagonist blieb aber der Herausgeber der Psychischen Studien. Auch von seinem bereits erwähnten Redakteur Gregor Constantin Wittig wurde Aksakow im Kampf gegen von Hartmann unterstützt. Allerdings war es ausgerechnet Wittig, der in Hartmanns Spiritismus-Schrift namentlich erwähnt und dabei positiv als Ausnahme hervorgehoben wurde, da er sich nach von Hartmanns Ansicht für „die Theorie der psychischen Kraft“ stark mache und sogar die „Hallucinationsthese“ vertrete.51 Eduard von Hartmanns Adressaten waren aber wohl in erster Linie gar nicht die Spiritistengemeinde als solche oder gar die Psychischen Studien Alexander Aksakows, sondern akademisch gebildete Fachkollegen, die in ihren Forschungsgebieten den Bereich des Unbewussten berührten. Explizit wandte er sich in seinem Schlusswort an Philosophen, „welche die Geisterhypothese des

48 Aksakow beginnt seine Erwiderungen im Jahrgang 1886 mit der Artikelserie: Kritische Bemerkungen über Dr. Eduard v. Hartmann’s Werk: „Der Spiritismus“, in: PS 13 (1886), S. 17 ff; 62 ff; 109 ff; 162 ff; 210 ff, 259 ff; 305 ff; 356 ff; 406 ff; 453 ff; 501 ff; 548 ff. 49 Vgl. dazu auch Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 47. 50 Wilhelm Hübbe-Schleiden, Objektivität sogenannter Materialisationen. Alexander Aksakof wider Eduard von Hartmann, in: Sphinx 4 (1887), S. 107-126; Carl du Prel, Hartmann contra Aksakow. 51 Hartmann, Spiritismus, S. 2.

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Spiritismus adoptirt“ und „damit einen bedenklichen Mangel an kritischer Vorsicht gezeigt“52 hätten. Sein Eintreten für eine empirische Untersuchung der in mediumistischen Sitzungen zutage tretenden „Nervenkraft“ war, so Treitels Interpretation, darüber hinaus ein Plädoyer dafür, die Kräfte des Unbewussten als Feld in der institutionalisierten Forschung zu etablieren.53 Im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Aksakow und von Hartmann über die „Geisterhypothese“, also die Beteiligung von jenseitigen Kräften an den in mediumistischen Sitzungen produzierten Phänomenen, standen bald die sogen. „Materialisationen“, die sich bei geeigneten Medien während der Séancen zeigen konnten: Das Erscheinen einzelne Köperteile (Arme, Hände) im Raum, dann aber auch kompletter menschlicher Figuren, die bald auch die Gestalt von unverwechselbaren Persönlichkeiten einnehmen konnten. Solche Phänomene waren seit den siebziger Jahren auch in der deutschen Spiritistenszene in Mode gekommen, nachdem zunächst die Sprech-, Schreib- und Malmedien im Mittelpunkt gestanden hatten.54 Sehr prominent waren die ausführlich dokumentierten Experimente des britischen Chemikers William Crookes, einem führenden Kopf der britischen Okkultismusforscher, über die in den Psychischen Studien immer wieder berichtet worden war.55 Er hatte seine Versuche mit dem Medium Florence Cook durchgeführt, die in Séancen die Materialisation des Phantoms „Katie King“ bewirkte. In Crookes Dokumentationen waren neben dem detaillierten Forschungstagebuch auch Fotografien enthalten, die das Medium Florence und das Phantom Katie King auf einem Bild zeigten. Solche „Geisterfotografien“ galten bald als gängige Beweismittel in der Spiritistenszene, um die „objektive“ Existenz der materialisierten Phantome zu belegen. Für die eingefleischten Spiritisten waren sie Geister aus dem Jenseits, für skeptischere handelte es sich dabei um Erscheinungen, die das Medium mittels seiner „physischen Kraft“ erzeugte – unter dem Einfluss jenseitiger Kräfte. Für von Hartmann handelte es sich in den meisten Fällen um Betrug, den die Berufsmedien zum Teil bewusst, zum Teil aber auch unbewusst begingen.56 Geschützt durch kaum erleuchtete Räumlich-

52 Ebenda, S. 118; damit war damit war wahrscheinlich insbesondere Carl du Prel gemeint. 53 Vgl. dazu Treitel, A Science for the Soul, S. 13 ff, die die von Hartmanns Schriften einordnet in Richtungsstreitigkeiten innerhalb der akademischen Psychologie, deren Feld zu dieser Zeit auch noch von Philosophen und Naturwissenschaftlern bearbeitet wurde. 54 Carl Sellin, Eduard von Hartmann und die Materialisationen, S. 297 ff. 55 Vgl. dazu z.B. die Psychischen Studien 1874 und 1876. 56 Hartmann, Spiritismus, S. 97-98.

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keiten, Vorhänge oder das sogen. Dunkelkabinett (ich werde darauf noch zu sprechen kommen) oder mittels versteckter Helfer bewirkten sie die Erscheinungen durch geschickte Taschenspielertricks.57 War der Betrug auszuschließen, dann seien diese Materialisationen als Halluzinationen zu sehen, die das Medium allein durch seine Nervenkraft den Anwesenden „einpflanzt“.58 Dass es sich bei einigen der erfolgreichen Materialisationsmedien um Betrüger gehandelt hatte, mussten auch die überzeugtesten Spiritisten zugestehen; zu zahlreich und zu unwiderlegbar waren die Berichte über „Entlarvungen“ von Berufsmedien, die auch mit öffentlichen Auftritten ihren Lebensunterhalt verdienten. Auch während des Verlaufs der Debatte fanden in Deutschland aufsehenerregende Betrugsprozesse gegen bekannte Medien statt.59 Die Reaktionen der seriösen Spiritisten auf diese Enttarnungen waren immer ähnlich: Man war ungehalten, dass durch die negative Berichterstattung in der Presse die gesamte Sache des Spiritismus in Verruf geriet; man gestand zwar zu, dass die zweifelsfrei überführten Medien – verführt durch ihren Erfolg und vor dem Hintergrund ihres besonders sensiblen Wesens – in den fraglichen Vorführungen betrogen hatten, nahm aber oft weiterhin an, dass sie bei anderen Gelegenheiten tatsächlich übersinnliche Phänomene hervorgebracht hätten.60 Da von Hartmann aber offenbar auch von den zahllosen dokumentierten Beweisen von Materialisationen, bei denen es sich zweifelsfrei um keine Betrugsfälle gehandelt hatte, nicht zu überzeugen gewesen war, beschloss Aksakow, nun

57 Ebenda, S. 10. 58 Ebenda, S. 55 ff und S. 99 ff. Hier wird deutlich, dass sich zumindest aus heutiger Sicht auch von Hartmann auf dünnem Eis bewegte: Allerdings war er mit seinem Überlegungen zu den Kräften, die den Nerven innewohnten, nicht vollkommen isoliert in der zeitgenössischen psychologischen Forschung. In Deutschland stand allerdings die institutionalisierte psychologische Forschung diesem Forschungsgegenstand bislang sehr distanziert gegenüber, vgl. dazu Treitl, A Science for the Soul, S. 11 ff. Es waren allerdings Privatgelehrte wie der Münchner Psychiater Albert SchrenckNotzing, die Experimente mit den Nervenkräften von Medien durchführten; SchrenckNotzing war nicht zufällig Mitglied der in München gegründeten okkultistischen Gesellschaft, die sich der Erforschung dieser Phänomene widmete. 59 G.C. Wittig, Der Leipziger Antispiritisten-Verein und der Verein für harmonische Philosophie, in: PS 13 (1986), S. 277-281, hier S. 279 (Valeska Töpfer); G.C. Wittig, Antispiritistische Sachverständige über Spiritismus und das von ihnen sogenannte dumme Publikum, in PS 13 (1886), S. 530-544 (Emil Schraps), und: Sawicki, Leben mit den Toten, S. 322-323. 60 Ebenda.

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selbst Experimente durchzuführen in der Absicht, „mit Hilfe der Photografie zu beweisen, dass das sogenannte Phänomen der Materialisation eine Wirklichkeit und keine Halluzination sei, wie Dr. von Hartmann behauptet hat. Zu diesem Zweck war es nothwendig, ein höchst schwieriges, beinahe unmögliches Resultat zu erhalten: nämlich die gleichzeitige Darstellung des Mediums selbst und der erscheinenden Gestalt, oder eines Theils derselben.“61 Mit der Anlage seines Experiments reagierte Aksakow auf die „Bedingungen“, die von Hartmann in seiner Schrift und auch in einem nachfolgenden Artikel formuliert hatte, unter denen er die in den mediumistischen Sitzungen erzielten Phänomene als „objektiv“ anerkennen würde.62 Das Experiment stand so vor der zweifachen Aufgabe: Zum einen sollte eine erhaltene Fotografie von Medium und Phantom nachweisen, dass es sich bei der (dann auch hoffentlich auftauchenden) Erscheinung um ein objektiv physikalisches Phänomen handelte, das Reaktionen auf der fotografischen Platte hinterließ und nicht lediglich eine Halluzination der Teilnehmer war. Zum anderen sollten auch Betrug und Manipulationen ausgeschlossen werden. Das gleichzeitige Erscheinen beider Personen sollte garantieren, dass nicht das Medium durch geschickte Tricks selbst als Phantom in Erscheinung getreten war; zudem sollten auch jegliche Manipulationen beim Fotografiervorgang und bei dem Entwickeln der Platten ausgeschlossen sein.63 Aksakow stand nun vor der Aufgabe, ein geeignetes Medium für seine Experimente zu finden.

3. D AS M EDIUM In den spiritistischen Kreisen diesseits und jenseits des Atlantiks hatten zu dieser Zeit die spiritistischen Medien immer mehr an Bedeutung. Teilweise wurden sie, wie der Amerikaner „Dr.“ Henry Slade64 oder später die Italienerin Eusapia Pa-

61 Eglintons Besuch in St. Petersburg, in: PS 13 (1886), S. 337-338. 62 Vgl. dazu Eduard von Hartmann, Nachwort zu der Schrift „Der Spiritismus“, in: PS 12 (1885), S. 503-512, und ders., Geister oder Halluzinationen, in: Sphinx 4 (1887), S. 8-17. Hartmann hatte diese „Bedingungen“ allerdings nicht systematisch aufgelistet, sondern nur an verschiedenen Stellen seine Kritik an der Praxis der Geisterfotografie deutlich gemacht. 63 Die Psychischen Studien hatten immer wieder über im Nachhinein enttarnte „Geisterfotografen“ berichten müssen, vgl. dazu G. C. Wittig, Der Spiritismus in der Beleuchtung der Europa-Chronik, in: PS 11 (1884), S. 401-414, hier S. 406. 64 Treitel, A Science for the Soul, S. 3f.

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ladino65, zu internationalen Berühmtheiten, die von ihren medialen Fähigkeiten leben konnten. Bei öffentlichen Auftritten nahmen sie gegen Eintrittsgeld Kontakte mit jenseitigen Kräften auf, um spektakulär Gegenstände zu bewegen, hellseherische Fähigkeiten zu demonstrieren oder eben Materialisationen von Körperteilen zu bewirken.66 In Deutschland war 1879 Henry Slade, dessen Spezialität das Erscheinen von Geisterschrift auf einer verdeckten Schiefertafel und das Lösen von Knoten bei überprüft gefesselten Händen darstellte, zu großer Bekanntheit gelangt. Der Leipziger Astrophysiker Zöllner hatte als erster etablierter Naturwissenschaftler experimentelle Sitzungen mit ihm durchgeführt, um einen Nachweis der von ihm vertretenen These der „Vierten Dimension“ zu erhalten, – und sich dadurch starke Kritik und auch Spott von Kollegen aus der Wissenschaft eingehandelt.67 Henry Slade, der damals von Alexander Aksakow stark gefördert worden war, hatte allerdings zuvor und auch danach als Angeklagter in Täuschungs- und Betrugsprozessen in den USA und in Großbritannien vor Gericht gestanden68; sein Ansehen hatte bereits erheblichen Schaden erlitten.69 Der Stern der Eusapia Palladino, die u.a. mit spektakulären Tischlevitationen auf sich aufmerksam machen sollte, war zum Zeitpunkt des Beginns von Aksakows Experimenten noch nicht aufgegangen.70 Der Schotte William Eglinton zählte Mitte der 1880er Jahre zu den erfolgreichsten Medien und hatte in Großbritannien bereits beeindruckende Erfolge im Bereich der Hellsichtigkeit und der Geisterfoto-

65 Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 76. 66 In Leipzig hatte sich auch eine „Antispiritisten“-Bewegung gebildet, die gegen den Geisterglauben ins Feld zog; sie spezialisierte sich auf die Entlarvung der Berufsmedien und ihrer verblüffenden Vorführungen, indem sie professionelle Taschenspieler(„Prestidigitateure“) engagierten, die ohne Beistand aus dem Jenseits diese Fähigkeiten zeigten,. Manche „Medien“ wirkten auf beiden Seiten mit und traten einmal als Spiritisten und dann als Antispiritisten auf, vgl. dazu Sawicki, S. 347 f, und: G.C. Wittig, Der Leipziger Antispiritisten-Verein und der Verein für harmonische Philosophie. 67 Zur Bedeutung des Falls Zöllner: Treitel, A Science for the Soul, S. 3 ff. 68 Ebenda, S. 15f. 69 Die dt. Spiritistengemeinde hielt ihm allerdings die Treue, vgl. dazu die Artikel über Slades Auftritte in Berlin im Jahr 1886 in den Psychischen Studien: PS 13 (1886), S. 97f; S. 145f; S. 149f. 70 Zur Karriere der Eusapia Paladino vgl. Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 77 ff.

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grafie erzielt; sein Ruf war zum Zeitpunkt des Experiments (noch) makellos.71 Von der britischen Spiritistengemeinde empfohlen, zu der Aksakow in enger Verbindung stand, wurde der Kontakt zu Eglinton hergestellt. Alexander Aksakow lud ihn im April 1886 zunächst nach St. Petersburg ein.72 Das Ergebnis der dort begonnenen Experimente, die unter der Aufsicht einer wissenschaftlichen Expertenkommission durchgeführt wurden, war aber offenbar nicht so aussagekräftig wie gewünscht; erschwerend trat hinzu, dass das Medium nach den ersten Séancen sehr erschöpft und zu weiteren Materialisationsexperimenten nicht mehr in der Lage gewesen war.73 Mit diesem Misserfolg wollte sich Alexander Aksakow aber nicht zufrieden geben. Bereits während seines Aufenthalts in St. Petersburg habe Mr. Eglinton einen Privat-Zirkel in London erwähnt, in dem er ungeheure Erfolge im Bereich der Geisterfotografien erzielt habe, und zwar bei sichtbar materialisierten Personen.74 „All das erregte in mir den Wunsch, diese Tatsachen selbst festzustellen, und zwar unter absolut überzeugenden Bedingungen. Eine solche Tatsache würde einen unbestreitbaren Beweis für das Phänomen der Materialisation liefern und zugleich die Theorie des Herrn Dr. von Hartmann widerlegen, dass diese Phänomene nur Halluzinationen seien“, schrieb Aksakow.75 Ende Juni 1886 reiste er nach London, um mit dem empfohlenen Spiritisten-Zirkel unter Anwesenheit des Mediums Mr. Eglinton die gewünschten Materialisationsphänomene zu fotografieren. Einen ausführlichen Bericht über diese Experimentierreihe veröffentlichte Aksaow in den Psychischen Studien.76

71 Zum Zeitpunkt der Experimente war gerade ein Buch über ihn erschienen, das ihn als Medium feierte: John S. Farmer, Twixt two Worlds: a Narrative oft he Life and Work of William Eglinton, London 1886. 72 Vgl. dazu den Bericht von Aksakow: Mr. Eglintons Besuch in St. Petersburg, in: PS 13 (1886), S. 337-338, hier S. 337. 73 Ebenda, S. 338. 74 A. Aksakow, Meine fotografischen Experimente in London, in: PS 14 (1887), S. 1-14, hier S. 1; üblicherweise bestand die Geisterfotografie darin, dass die während der Séance unsichtbaren Manifestationen sich erst bei der Entwicklung auf der aufgenommenen Fotografie zeigten. 75 Ebenda, S. 2. 76 Meine fotografischen Experimente in London, in: PS 14 (1887), S. 1-14; S. 49-63; S. 97-109.

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4. D AS E XPERIMENT Die Experimente fanden im Juni und Juli 1886 in einem privaten Wohnhaus in London statt, dessen Besitzer ein „reicher Edelmann“, mit Landbesitz in Gloucester war. Zu dem „privaten Zirkel“ der die erwähnten Erfolge im Bereich der Geisterfotografie erzielt habe, zählten neben Eglinton selbst noch der Hausherr, dessen Ehefrau und ein Freund des Hauses N. Auf Wunsch der Teilnehmer werden ihre Namen nicht bekannt gegeben.77 Aksakow ist zunächst bemüht, die Seriosität der beteiligten Personen deutlich zu machen. Er beschreibt, dass diese sich erst seit kurzer Zeit mit mediumistischen Phänomenen befasst hätten und auch in der Technik des Fotografierens wenig bewandert seien. Damit wollte er bereits im Vorfeld Verdachtsmomente der Kritiker ausräumen, dass es sich bei dem gutsituierten Ehepaar um „gewerbsmäßige“ Geisterfotografen“ handelte, die gutgläubigen Spiritisten betrogen. Wie bereits erwähnt, waren solche Fälle immer wieder vorgekommen und auch in den Psychischen Studien (mit Bedauern) registriert worden. Dass dieser kleine spiritistische Zirkel sich überhaupt der Geisterfotografie zugewandt hatte, sei, so lässt Aksakow die Leser wissen, durch eine „Communikation“, einer Botschaft aus dem Jenseits, angeregt worden, die ihnen mitgeteilt habe, „dass ihre mediumistische Dispositionen besonders günstig seien für die Erzeugung spiritistischer Fotografien“.78 In der nun folgenden ausführlichen Beschreibung der insgesamt zehn Séancen gab der Experimentator immer wieder detaillierte Beschreibung der Versuchsanordnungen mit präzisen Zeit und Raumangaben. Er beschrieb Lage und Größe des Zimmers: „dritte Etage, 101/2 lang, 91/2 Fuß breit, ein auf den Hof hinausgehendes Fenster und eine Thür, die sich auf den Korridor öffnete“.79 Um zunächst vollkommene Dunkelheit zu gewährleisten, waren die Fensterläden geschlossen und mit zwei wollenen Tüchern verhängt worden; das Fenster verfügte zudem über einen dichten Vorhang. In Aksakows Bericht wurden zudem präzise Angaben zu Abständen zwischen Personen und Objekten, zur genauen Positionierung der Anwesenden, einschließlich einer Skizze über die Verteilung der Personen und des Fotoapparats im Raum und über den Vorgang des Fotografierens und späteren Entwickelns gegeben. Immer wieder ging Aksakow dabei auf

77 Ebenda, S. 3. Dies wurde im Nachhinein als negativ für die Beweiskraft des Experiments selbst von anderen Spiritisten gedeutet, vgl. Hübbe-Schleiden, Objektivität sogenannter Materialisationen. Alexander Aksakof wider Eduard von Hartmann, in: Sphinx 4 (1887), S. 107-126, hier: S. 126. 78 A. Aksakow, Meine fotografischen Experimente in London, S. 3. 79 Ebenda, S. 4.

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Einwände ein, die von Skeptikern angebracht werden könnten, z.B. Betrug durch Austausch der fotografischen Platten; die Frage der dauernden und sichtbaren Anwesenheit des Mediums und der anderen Sitzungsteilnehmer, und schilderte präzise seine Vorsichtsmaßnahmen: Er brachte die fotografischen Platten selbst mit und sie wurden von ihm persönlich in russischer Schrift gekennzeichnet. Die Tür zum angrenzenden Korridor wurde abgeschlossen, der Schlüssel befand sich bis zum Ende des Experiments in Aksakows Tasche. Es wird deutlich, dass er Berichte über gleichartige Versuche kannte, deren Beweiskraft später angezweifelt worden war; zudem möchte er auch sicherlich möglichen Einwänden seines Hauptadressaten von Hartmann vorbeugen. Aksakow schilderte nun die Vorgänge in der ersten Sitzung in der ersten Versuchsreihe. Nachdem alle Teilnehmer ihre Plätze eingenommen hatten und der fotografische Apparat im Abstand von zwei Fuß dem am Fenster sitzenden Medium Eglinton ausgerichtet wurde, löschte man um 9.30 Uhr das Licht. Nur eine kleine rote Lampe brannte, die aber den fotografischen Vorgang nicht stören würde. Nach kurzer Zeit verfiel Eglinton in Trance. Über das Medium teilten nun die „controllierenden Führer“ mit, wie das Experiment gelingen könnte: Sie informierten die Teilnehmer, dass sie durch Klopflaute Zeichen geben würden, wann das Objektiv geöffnet werden sollte. Dann wartete man: „In etwa fünfzehn Minuten begann vor Eglinton von Zeit zu Zeit ein lebhaftes Licht zu erscheinen, nicht als leuchtende Punkte, welche sich plötzlich entzünden und verlöschen…, sondern ein ununterbrochen fortdauerndes Licht, mit Strahlwellen…Kein Umriss einer Hand, eines Gesichts, einer Bekleidung war dabei sichtbar. Das Licht verschwand. Bei Eglinton tönten vier Klopflaute – das Signal zur Öeffnung des Objektivs, welche durch den Hausherrn bewirkt wurde; einige Sekunden nachher von neuem vier Klopflaute zum Verschliessen des Objektivs…Auf meine Bemerkung, dass wir so eben noch keine Gestalt bei diesem Licht gesehen hätten, versetzte ‚Joey‘ (einer der Eglinton controllierenden Führer), dass ich Geduld fassen müsste, dass dies ja nur ein erster Versuch wäre und dass das für den Anfang genug sein werde, wenn wir wenigstens irgend welches Resultat gewonnen hätten.“80

Die eingangs geschilderte, bewusst nüchterne Darstellung der Versuchsanordnung und des präzisen Verlaufs der ersten Sitzungen, die an ein naturwissenschaftliches Experiment (unter Einsatz modernster Technik wie der Fotografie) erinnern, steht in einem starken Gegensatz zu den üblichen Bedingungen einer Séance, die gelingen will. Hierzu zählt der private Rahmen (das Experiment fin-

80 Ebda, S. 5-6.

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det im Salon der Hausherrin statt); die Anwesenheit einer „Sympathetischen Gruppe“81, die dem Gelingen der Sitzung positiv gegenübersteht, Erfahrungen mit Séancen hat und am besten selbst über eine starke Empfänglichkeit für übersinnliche Einflüsse verfügt. Hinzu kam die Praxis, dass die Anwesenden durch das (zumindest zeitweise) Bilden eines geschlossenen Kreises, indem sie sich an den Händen fassten, einen Energiefluss erzeugten, durch den die Kräfte des Mediums unterstützt wurden. Im Gegensatz zu einer starken künstlichen Beleuchtung, die man mit Laborbedingungen verbinden würde, war für eine mediumistische Sitzung zunächst Dämmerlicht erforderlich; lediglich eine Rotlicht-Lampe erhellte den Raum. Schließlich erfolgte auch eine Kommunikation mit den das Medium führenden Geistern, von denen sich insbesondere „Joey“ mit den Sitzungsteilnehmern über den sich in Trance befindlichen Eglinton mitteilte oder durch Klopflaute bemerkbar machte. Dieses Ensemble von Praktiken hatte sich seit den 1860er Jahren als „Séance-Ritual“ herausgebildet und zählte zum festen Repertoire zum Hervorbringen spiritistischer Phänomene.82 Das Resultat dieser ersten Versuchsreihe war unter anderem ein Foto, auf dem das Medium einschließlich über ihm schwebender Hände zu sehen war – ein bei Materialisationssitzungen dieser Jahre häufig anzutreffendes Phänomen. Mit diesen Ergebnissen war man aber zunächst zufrieden, die ersten Versuche waren auch dazu gedacht, die Bedingungen zu erproben, bevor man zum Hauptzweck des Experiments schreiten würde. Mit der zweiten Versuchsreihe wurde nun das anvisierte Ziel ins Auge gefasst. Es sollte gelingen, das Medium und zugleich die komplette Gestalt eines materialisierten „Phantoms“ auf die fotografische Platte zu bannen. Nun wollte man sich nicht mehr darauf verlassen, dass das notwendige Licht durch das Einwirken von äußeren Kräften produziert wurde, sondern zum geeigneten Zeitpunkt durch das Entzünden von Magnesium für die notwendig Belichtung sorgen. Für diese Versuchsanordnung war es in der gängigen mediumistischen Praxis notwendig, ein Dunkelkabinett zu errichten, hinter das sich das Medium zurückziehen konnte.83 Man trennte mit verfügbaren Materialien (Decken, Vor-

81 Sawicki, Leben mit den Toten, S. 34. 82 Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 65f; manchmal trat hierzu noch eine Art monotoner Singsang der Teilnehmer, der die Empfänglichkeit für die Kontakte mit dem Jenseits erhöhen sollte. 83 Gerade das sogen. Dunkelkabinett war Anlass für starkes Misstrauen bei den Kritikern; für die Anhänger des Spiritismus wurde es aber nicht als Gelegenheit zum Betrug, sondern als notwendige Bedingung, um die gewünschten Phänomene überhaupt

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hangstangen) einen solchen Raum vom Salon ab, das Medium kam nun zunächst in Sichtweite der übrigen Versuchsteilnehmer vor dem Vorhangstoff zu sitzen. Abb. 2: Skizze der Versuchsanordnung durch Aksakow84

Die „Camera“ wurde entsprechend platziert, daneben lagen aus Magnesiumbändern geflochtene Zündschnüre, die im geeigneten Moment entflammt werden sollten, um eine Belichtung der Fotografien zu ermöglichen. Dazu wurde noch ein ausgerichteter Reflektor benutzt, dessen Standort genau vermerkt wurde.85 Doch ein Misserfolg dieser Sitzung zeichnete sich ab: „Wir zündeten die Weingeist-Lampe an und löschten das Gas aus. Es war 10 Uhr des Abends. Eglinton nahm vorher Platz auf einem Lehnstuhl vor dem Vorhange, dann zog er sich hinter den Vorhang zurück, wo für ihn ein anderer Lehnstuhl stand; er verblieb dort länger als eine halbe Stunde; nichts erzeugte sich; endlich kam er hervor und begann in Trance unter der Controlle eines seiner Führer zu reden, der sein Bedauern über diesen Mißerfolg ausdrückte und hinzufügte, dass es, um das gewünschte Resultat zu erhalten eines Dutzend Séancen, bedürfen würde und dass ‚sie‘ wahrhaftig nicht wüssten, ob ‚sie‘ auch das Recht hätten, das Medium einer solchen Erschöpfung zu unterwerfen etc.; aber wie dem auch sei, das nächste Mal würden ‚sie‘ die letzte Anstrengung machen.“86

hervorzubringen, angesehen ; vgl. dazu auch Hübbe-Schleiden, Objektivität sogenannter Materialisationen, S. 120, Anm. 1. 84 Aksakow, Meine fotografischen Experimente in London, S. 100. 85 Ebda., S. 99 f. 86 Ebda, S. 101.

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Und auch bei der letzten angesetzten Séance am 28. Juli 1886 erschienen zunächst nur vier Hände, die über dem Kopf des Mediums Eglinton zu schweben schienen, und die, als die üblichen Klopflaute ertönt waren, mithilfe der entzündeten Magnesiumschnüre fotografiert wurden. Doch dann ereignete sich Ungeheuerliches: Die Hände verschwanden nicht, sondern zogen Eglinton hinter den Vorhang des Dunkelkabinetts. Heraus trat nun zunächst eine Gestalt in einem langen weißen Gewand mit Bart und Turban. Man vermutete „Abdullah“ (eine Manifestation, die Eglinton schon häufiger hervorgebracht hatte). Abdullah verschwand hinter dem Vorhang, doch kurz darauf erschien Eglinton daraus hervor, hinter ihm Abdullahs hohe weiße Gestalt. Aksakow berichtet weiter: „Beide stellten sich aufrecht vor den Vorhang und eine Stimme sagte: ‚Licht!‘ Zum zweiten Mal flammte das Magnesiums auf, und ich betrachtete mit Erstaunen die hohe Gestalt, welche mit ihrem linken Arme Eglinton umarmte und unterstützte; er war in einem tiefen Trance-Zustande und hielt sich kaum auf den Füssen; ich sass etwa fünf Schritte entfernt, und beim blendenden Lichte des Magnesiums konnte ich den seltsamen Besucher vollkommen betrachten; er war ein Mann voll Leben; ich habe genau gesehen die lebendige Haut seines Gesichtes, seinen ganz natürlichen schwarzen Bart, seine geraden und dicken Augenbrauen und seine scharfen Augen, welche die ganze Zeit über ernst und unbeweglich direkt in die Flamme blickten.“87

Die gesamte Séance hatte genau 35 Minuten gedauert, das Medium Eglinton war, nachdem die weiße Gestalt hinter dem Vorhang verschwunden war, halb ohnmächtig zusammengebrochen. Man wagte aber zunächst nicht, sich ihm zu näheren, „weil wir wussten, dass das Medium sich unter einer Macht befand, über die wir keine Befugnis hatten“.88 Bald meldete sich aber wieder der controllierende Führer Joey – neben ihm waren auch noch Victor und Ernest an dem Experiment beteiligt –, „welcher uns rieth, dass wir das Medium sofort an die frische Luft bringen und ihm Wasser mit Branntwein zu trinken geben sollten“. Trotz der nun einsetzenden Bemühungen, man gab Eglinton auch noch Hirschhornsalz zu riechen und rieb seine Gliedmaßen, blieb sein Zustand bedenklich: Seine tiefe Trance wurde nur durch „Convulsionen“ (unkontrollierte Zuckungen) unterbrochen.

87 Ebenda, S. 103 88 Ebda.

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Abb. 3: Die erhaltene Fotografie mit Eglinton und Abdullah89

Währenddessen machten sich Aksakow und der Freund des Hauses N. im Nebenraum an die Entwicklung der Fotografie. Eglintons Zustand verbesserte sich erst dann, als Aksakow ihm mitteilen konnte, dass die Entwicklung der Platten „ein vollständiges Resultat“ gezeigt habe: Beide Figuren, Abdullah und Eglinton selbst, waren auf den entwickelten Fotografien nebeneinander zu erkennen. „Als er endlich vernahm, dass das Resultat ein vollständiges wäre, war sein erstes Wort: ‚Nun wohl, ist das genügend für Herrn von Hartmann?‘ Worauf ich ihm erwiderte: ‚Damit ist es zu Ende mit den Hallucinationen!‘“90 Doch Aksakow täuschte sich darin. Von Hartmann nahm kaum Notiz von seinen experimentellen Bemühungen.91 1891 erschien eine zweite Schrift von von Hartmann: „Die Geisterhypothese des Spiritismus und seine Phantome“92. Dort setzte er sich mit einigen der von Aksakow in seinen theoretischen Ausführungen erwähnten Beispielen für spiritistische Phänomene auseinander, erklärte sie aber wiederum entweder als Betrügereien oder als Halluzinationen. Aksa-

89 Aus: Sphinx II (1887), S. 121. 90 Ebenda, S. 104. 91 Im weiteren Verlauf der Debatte bezog er sich ausführlicher nur auf den bereits erwähnten Philosophenkollegen Carl du Prel, und bekräftigt zudem erneut seine Halluzinationstheorie. 92 Leipzig 1891.

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kows eigenes aufwändiges Experimente mit Mr. Eglinton und das beweiskräftige Foto, das entstanden ist, wurden nicht erwähnt. Vielleicht nimmt von Hartmann indirekt darauf Bezug, wenn er allgemein schreibt: „… dass die Thatsachenreihen wenigstens in dem Maße beachtenswerth erscheinen müssen, um sie einer ernsthaften, wenn auch konditionalen Kritik zu würdigen; denn an ganz unglaubliche Berichte wird sich niemand die Mühe geben, theoretische Erörterungen zu knüpfen“.93 Aksakow sah sich aber als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgehen. Mit seiner Argumentation habe er Hartmann gezwungen, seine Halluzinationsthese auf die Spitze zu treiben und damit selbst ad absurdum zu führen. Und er zeigt sich überzeugt, dass „mein eigenes Buch wie eine gute Festung mit Ehren den Ansturm seines furchtbarsten Feindes ausgehalten hat, und dass sie, trotz einiger Breschen hie und da, noch weit davon entfernt ist, durch die Kritik des Herrn Hartmann zerstört und zur Übergabe gezwungen zu werden.“94 Eine der Breschen kann man konkret benennen: Kurz nach den Experimenten waren offenbar in englischen Spiritistenkreisen erhebliche, grundsätzliche Zweifel an Mr. Eglintons Glaubwürdigkeit aufgetaucht, die nicht verstummen wollten.95

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Anlage und Ausrichtung des Experiments machen zunächst nochmals deutlich, wie wichtig von Hartmanns Eingehen auf den Spiritismus für Alexander Aksakow gewesen war. Immer wieder bezog er sich auf die für ihn zentralen Passagen aus Hartmanns Schriften und orientierte sich exakt an den „Forderungen“, die Hartmann aufgestellt hatte, um seine Halluzinationsthese in Zweifel zu ziehen. Damit wird der unbedingte Wunsch nach der wissenschaftlichen Anerkennung der spiritistischen Phänomene deutlich; der Wille, dass das Gebiet des Spiritismus durch angesehene Vertreter der Wissenschaft ernst genommen und weiterer empirischer Untersuchungen für würdig befunden wurde. Die dagegen stehende Abqualifizierung als „Aberglaube“ stellte die Spiritisten ins Abseits einer Gesellschaft, die sich

93 Ebenda, S. 3. 94 PS 18 (1891), S. 257-258. 95 C.G. Wittig, Mr. Eglinton und das du Prel’sche Problem: Medium oder Taschenspieler?, in: PS 13 (1886), S. 374-380; der Redakteur der Psychischen Studien Wittig versuchte immer wieder, die Argumente gegen Eglintons Glaubwürdigkeit zu entkräften; allerdings wurde die Anzahl der Zweifler offenbar immer größer.

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an einem naturwissenschaftlichen Leitbild orientierte.96 Die mediumistischen Phänomene durchgehend als Halluzinationen klassifiziert zu sehen, war offenbar auch deshalb so bedrohlich, weil dadurch jegliche weitere Forschungen bezüglich der Einwirkungen übersinnlicher Mächte obsolet werden würden. Aksakow reagierte mit seinen Bemühungen, von Hartmanns Thesen zu widerlegen, vielleicht auch auf die erwähnten Entwicklungen innerhalb der Gruppe der wissenschaftlich orientierten Spiritisten, die zumindest teilweise im Glauben an die Bedeutung der Einflüsse jenseitiger Mächte schwankend zu werden drohten. Zweitens machen Aksakows Berichte das merkwürdige Mischungsverhältnis deutlich, in dem sich der Spiritismus in dieser Phase befand: Einerseits die Ernsthaftigkeit der Versuchsanordnungen, das Bemühen, alle Bedingungen in einer Art Laborbericht genau zu protokollieren und ihnen den Charakter eines kontrolliert ablaufenden naturwissenschaftlichen Experiments zu verleihen. Die „geistigen Führer“ nehmen hierbei die Rollen von anleitenden Experten ein, die mit ihrem Fachwissen (das sich offenbar auch auf technische Kenntnisse über den Fotografiervorgang erstreckte) zum Gelingen des Experiments beitragen. In diesem Zusammenhang bestätigen sich auch Treitels und Linses These der „Rationalisierung des Irrationalen“ bzw. der Verwissenschaftlichung des Mythischen.97 Der Salon der Gastgeber einer Séance wird nicht zuletzt durch den Einsatz moderner Technik zum Versuchslabor eines mediumistischen Experiments. Andererseits müssen aber die Bedingungen für eine spiritistische Sitzung, die glücken will, verwirklicht werden: Die Anwesenheit eines starken Mediums, das als Mittler zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt dient und durch das die Geister erst ihre Wirksamkeit entfalten können; die Rolle der „sympathetischen Gruppe“ (Sawicki), die durch ihre Bereitschaft und ihre mediale Veranlagung das Gelingen einer Séance erst möglich macht; die Notwendigkeit der Dunkelheit und des abgeschlossenen Kabinetts, da erst dadurch das Medium in der Lage ist, mit Unterstützung der jenseitigen Kräfte die gewünschten Phänomene hervorzubringen. Doch auch bei den günstigsten Voraussetzungen – auch das Wetter konnte hier eine entscheidende Rolle spielen – war der Erfolg einer Séance niemals sicher, konnte nicht vorhergesagt oder gar unter identischen Bedingungen wiederholt werden. Das Arrangement in privaten Räumlichkeiten, die Be-

96 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Nils Freytag/Diethard Sawicki, Verzauberte Moderne. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, hrg. von dens., München 2006, S. 7-24, hier S. 14-15. 97 Treitel, A Science for the Soul, S. 19-20 und S. 245; Linse, Geisterseher und Wunderwirker, S. 17.

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helfskonstruktion bei der Einrichtung des Dunkelkabinetts, die Kettenbildung, der übernatürliche Charakter der „geistigen Führer“, ihre Klopfzeichen und schließlich das Erscheinen der wundersame Gestalt von Abdullah stehen in starkem Gegensatz zu der Vorstellung eines naturwissenschaftlichen Experiments unter Laborbedingungen und erinnern an Beschwörungsrituale volksmagischer Praktiken. Es ergibt sich zudem die absurde Situation, dass Aksakow mit der Durchführung des Experiments ein Phänomen beweisen möchte, das bereits zu den Voraussetzungen des Versuchs gehörte: Die jenseitigen Intelligenzen, deren Existenznachweis durch das Experiment erbracht werden sollte, waren in Aksakows Darstellung bereits an der Durchführung der Versuchsreihe aktiv beteiligt. Dieses Mischungsverhältnis von Mystik und Rationalität in der spiritistischen Praxis in einem Wechselspiel von „Gegenmoderne und Moderne“98 lässt sich als ein Beispiel für die „Modernisierung“ des Transzendenten99 verstehen − ein Prozess, der in der spiritistischen Bewegung allerdings bereits lange vor dem Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Doch ergab sich daraus auch ein andauerndes Spannungsverhältnis, das die okkultistische Bewegung seit Mitte der 80er Jahre zunehmend aufspaltete.100 Der Spiritismus in der von Alexander Aksakow vertretenen Variante konnte auch in den folgenden Jahrzehnten nicht die ersehnte wissenschaftliche Anerkennung erhalten, auch wenn sich Aksakow unermüdlich mit weiteren mediumistischen Experimenten mit berühmten Medien dafür einsetzte.101 Allerdings gab es für andere Gruppen auch Erfolge zu verzeichnen: Unter der Bezeichnung „Parapsychologie“ versammelten sich diejenigen Okkultisten und (ehemaligen) Spiritisten, die sich vornehmlich auf die Erforschung der „psychischen Kraft“ der Medien zu konzentrieren begannen.102 Damit gelang ihnen der Anschluss zumindest an die Randbereiche der akademischen Wissenschaft. Der Nachweis der „Geisterhypothese“ spielte in ihren Experimenten aber keine Rolle mehr.

98

Freytag/Sawitzki, Verzauberte Moerne, S. 14-16.

99

Vgl. dazu auch Treitel, A Science for the Soul, S. 19-20.

100 Vgl. dazu auch Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 47 f. 101 In den Psychischen Studien aus dem Jahr 1896, (S. 112 ff) sind zum Beispiel ausführlich die Versuche mit dem Medium Mrs. Esperance dokumentiert; ebenso hat er Experimente mit dem europaweiten Star-Medium Eusapia Paladino durchgeführt (Biographische Skizze des Herausgebers in: PS 23(1896), S. 105-121, hier S. 109 f; vgl. dazu auch Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 76 ff. 102 Am bekanntesten sind dabei die Experimente des Münchner Nervenarztes Albert von Schrenck-Notzing, vgl. Bauer, Spiritismus und Okkultismus, S. 72 ff. Der Begriff „Parapsychologie“ tauchte erstmals 1889 auf (Ebenda, S. 73).

Architektur und Stadtplanung in der SBZ/DDR bis 1951 Kommunikationsräume einer sozialistischen Moderne F RANK H AGER

1. Z UR R ELEVANZ SEKTORALER M ODERNEDISKURSE IN DER SBZ/DDR Architektur und Stadtplanung haben in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, und darüber hinaus, zu jenen hochpolitisierten Gesellschaftsbereichen gehört, die für die Ausprägung charakteristischer Kommunikationsstrukturen und kommunikativer (Überlebens-)Strategien innerhalb des sozialistischen Systems der SBZ/DDR beispielhaft gewesen sind. Daher sollen die diskursiven Auseinandersetzungen um Architektur und Stadtplanung nachfolgend als lohnende Untersuchungsfelder vorgestellt werden. Deutlich werden soll insgesamt, welches Erkenntnispotential für eine gesamtdeutsche Kulturgeschichte noch erschlossen werden könnte – sofern sich auch die Vertreter der Zeitgeschichtsforschung dem Sujet unbefangener näherten. Da sich der genuin zeitgeschichtliche Forschungsstand zum Thema marginal ausnimmt, wird auf die wesentlichen Tendenzen der Architektur- und Kunstgeschichte nachfolgend entsprechend verwiesen. In der Architekturgeschichte wird der Begriff der Moderne zuvorderst als Stilrichtung verhandelt und weist damit zugleich auf bestimmte Planungs- und Gestaltungkonzepte hin, deren Urheberschaft wiederum einzelnen Architekten oder Schulen zugerechnet werden kann. So verstanden ist die Moderne in der Architektur zwar immer zuerst Stilfrage, aber von den Strukturen der industriell geprägten europäischen und nordamerikanischen Moderne (der „modernen“ Moderne) letztlich nicht zu trennen, sondern durch diese entscheidend mitbedingt gewesen. Eingebunden in eine Staatsbildung sozialistischer Provenienz ist

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auch die gesellschaftliche Funktion (und Notwendigkeit) einer architektonischen Neuausrichtung ab 1945 in der SBZ zunächst unbestritten. Auf der Ebene staatlicher Prestigearchitektur finden sich solche als progressiv und fortschrittlich verstandenen Konzepte zunächst in den „Planungen für den Neuaufbau“ (19451949) und, sublimer – auch wenn die architektonische Form das genaue Gegenteil, nämlich einen klassizistischen Historismus, zu verkörpern scheint – im Rahmen des „Nationalen Aufbauprogramms“ (1950-1955)1 sowie darüber hinaus, wieder eindeutiger, ab den 60er-Jahren, wie etwa (für Berlin) im zweiten Bauabschnitt der Stalinallee und den Ost-Berliner Zentrumsplanungen.2 Der historische Versuch, die neue Gesellschaftsordnung mit einer symbolhaften Architektur buchstäblich zu untermauern, wäre also im Spannungsfeld eines ModerneBegriffs zu verorten, der zunächst zwischen den Polen einer westlichen (Bauhaus-) Moderne und den Vorgaben des „Sozialistischen Realismus“3 oszillierte, bis sich in der Folge der baupolitischen Neuausrichtung ab 19554 der Weg zu ei-

1

Joachim Palutzki, Architektur in der DDR, Berlin u.a. 2000, S. 43-113.

2

Eckhart Gillen, Unser Ziel mag eine Utopie sein. Aber was wäre das Leben ohne Utopie? Kunst und Leben in der DDR zwischen Utopieerwartung und Utopieermüdung, in: K.-S. Rehberg (Hg.), Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen, begleitend zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar, 18. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013, Verbundprojekt Bildatlas: Kunst in der DDR, Köln 2012, S. 51-59, hier 56. Gillen konstatiert ab den späten 1960er Jahren eine zunehmende „Utopieermüdung“ als „Folge des ständigen Hinausschiebens des erwarteten kommunistischen Zustandes“. Unter diesen Folgeerscheinungen sollte auch die grundsätzlich utopiebedürftige Architektur entsprechend gelitten haben. Insofern müsste diese fundamentale Mentalitätsänderung auch Zäsuren innerhalb der Planungsdiskurse bewirkt und damit den Charakter der Moderne selbst verändert haben.

3

So definiert der Theoretiker des sozialistischen Realismus Georg Lukács diesen auch als Prozess, dessen „Grundaufgabe die Gestaltung des Entstehens und des Wachstums des neuen Menschen“ sei. Georg Lukács, Kunst und objektive Wahrheit, in: D. Henrich/W. Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt am Main 1999, S. 260-312, hier 310.

4

So mühsam zunächst der Weg, zu politisch akzeptablen Lösungen in der Phase der nationalen Bautraditionen von 1950-1955 – mit ihrer klassizistischen Abkehr von der stilistischen Moderne der Architektur – zu kommen, in den Fällen der Stalinallee oder der Stalinstadt auch gewesen ist, so scheiterte eine längerfristige Etablierung dieser gerade erst gefundenen Symbolik nicht zuletzt an den wirtschaftlichen Möglichkeiten des jungen Staates. Auf der Baukonferenz von 1955 ist von Walter Ulbricht der Beginn einer Umschreibung der diskursiven Ordnung eingeleitet worden – eine Absage

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ner nachholenden (architektonischen) DDR-Moderne geebnet hat. Ganz aktuell rücken die denkmalpflegerischen Bemühungen übrigens genau diese baulichen Hinterlassenschaften dieser „Ost-Moderne“5 in das Zentrum der Diskussion: Gebäude und Ensembles, die etwa ab den späten 1950er-Jahren, einhergehend mit der Industrialisierung des Bauwesens, entstanden sind und wiederum recht eindeutig auf eine internationale Moderne rekurrieren – allerdings mit einigen Besonderheiten, die es erlauben, ganz unbefangen von einer eigenen „OstModerne“ zu sprechen. In den Reihen der DDR-Architektur und Städtebauforschung macht sich ohnehin schon seit geraumer Zeit ein gewisser Unmut bemerkbar. Dabei geht es längst nicht mehr um die praktischen Fragen allein, etwa den denkmalpflegerischen Erhalt und die Sanierung originärer Bausubstanz aus DDR-Zeiten. Vieles davon ist mittlerweile angegangen worden, um Vieles wird aber auch noch gerungen.6 Kritisiert wird vielmehr eine allzu bequeme Verengung der üblichen Wahrnehmungsperspektive der DDR-Architektur und des Bauwesens insgesamt. Daran ist auch die deutsche Zeitgeschichtsforschung nicht ganz unschuldig. Lässt sich doch beispielsweise an der Plattenbauweise wie scheinbar an kaum einem anderen Beispiel sonst das Versagen des Systems anschaulicher vorführen als an den vorgeblich historisch einmaligen Verfehlungen des sozialistischen Städtebaus.7 Solche Stereotype reproduzieren zudem die propagandistischen Idi-

an den aufwändigen geschlossenen Baustil und die Hinwendung zum industrialisierten Bauen mit vorgefertigten Elementen. Explizit: Walter Ulbricht, Schneller, besser, billiger bauen, in: Neues Deutschland 10 (1955), S. 6. 5

Vgl. dazu T. Flierl/H. Henselmann (Hg.), List und Schicksal der Ost-Moderne. Hermann Henselmann zum 100. Geburtstag, Berlin 2008; M. Escherich (Hg.), Denkmal Ost-Moderne. Aneignung und Erhaltung des baulichen Erbes der Nachkriegsmoderne, Berlin 2012. Im aktuellen Diskurs etabliert haben den Begriff wohl Ulrich Hartung und Andreas Butter im Rahmen der Ausstellung „Ostmoderne – Architektur in Berlin 1945-1965“ im Jahr 2004.

6

Zuletzt Thema der Tagung „Denkmal Ost-Moderne II, Denkmalpflegerische Praxis

7

Völlig zuzustimmen ist in dieser Hinsicht: Tobias Zervosen, Denkmalpflege und ge-

der Nachkriegsmoderne“ in Weimar vom 31. Januar bis 1. Februar 2014. schichtspolitischer Diskurs, in: Escherich (Hg.), Denkmal Ost-Moderne (wie Fn. 5), S. 42-49. Zervosen plädiert in Übereinstimmung mit dem hier vorliegenden Beitrag nachdrücklich dafür, Eigenständigkeit und Eigenwert der DDR-Architektur auch endlich in der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Es entstanden im Übrigen auch in der BRD seit den 1950er-Jahren zahlreiche Großsiedlungen in „Tafelbauweise“.

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ome der politischen Diskursteilnehmer, wenn Stadtlandschaften per se als steinerne Surrogate einer historischen Wirklichkeit aufgefasst werden, ohne die möglichen Nuancen lebensweltlicher Rezeption und individueller Aneignung im Blick zu haben. Eine allgemeine Bestandsaufnahme zeitgeschichtlicher Beiträge zu Architektur und Städtebau fällt zudem – auch über die Sphäre der DDRRezeption hinaus – selbst in Großpublikationen, die mit gesellschafts- und epochenübergreifendem Deutungsanspruch auftreten, ernüchternd aus. So sucht man auch noch in den „Deutsche[n] Erinnerungsorte[n]“8 vergeblich nach einem Eintrag über einen Architekten.9 In Unterstellung eines generellen Dilemmas der DDR-Architektur, zwischen politischen Vorgaben und wirtschaftlichen Möglichkeiten planen und bauen zu müssen (in dieser Dichotomie nicht wesentlich anders als im Westen), ist auch kurz nach der Wende in bestimmten Fachmedien zunächst polemisiert worden, inwiefern es in der DDR überhaupt möglich gewesen sei, gemäß des traditionellen Berufsbildes eines Architekten zu arbeiten.10 Gegenwärtig kann allerdings von einem regelrechten Boom von Veröffentlichungen gesprochen werden, welche Architektur- und Stadtplanungsgeschichte unter sozialistischen Vorzeichen aus verschiedensten Perspektiven thematisieren. Neben einer regen Tagungstätigkeit11 sind in den letzten Jahren somit eine Reihe von Arbeiten entstanden, die sich eingehend mit dem eigentümlichen Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Dirigismus und planerischem Freiraum beschäftigt und die Rolle der Architekten und ihrer Planungsstäbe im staatssozialistischen Institutionengeflecht

8

E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001. Stellvertretend für die auffällig geringe Rezeption architektur- und baugeschichtlicher Themen seitens der (deutschen) Geschichtswissenschaft. Darauf wird selbst im Rahmen eines groß angelegten (immerhin liegen die Schwerpunkte der Darstellung im 19. und 20. Jahrhundert) und öffentlichkeitswirksamen Panoramas ganz selbstverständlich verzichtet.

9

Vgl. dazu die treffende Kritik in: Christian Welzbacher, Schinkel als Mythos. Kanonisierung und Rezeption eines Klassikers – 1841 bis heute, Berlin 2012, S. 148.

10 Frank Betker, „Einsicht in die Notwendigkeit“, Stuttgart u.a. 2005, S. 12-19. In der westdeutschen Architekturzeitschrift Arch+ erschien 1990 ein Artikel mit dem provokanten Titel „Architektur ohne Architekten“ mit Bezug auf die DDR. 11 Stellvertretend seien hier nur genannt: die regelmäßig stattfindenden „Werkstattgespräche zur DDR-Planungsgeschichte“, veranstaltet vom IRS Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin sowie die Veranstaltungen der Bauhaus-Universität Weimar, zu denen auch die „Hermann-HenselmannKolloquien“ gehören.

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untersucht haben.12 Nach wie vor sind dabei kunst- und architekturgeschichtliche sowie stadtsoziologische Beiträge dominant; für die Geschichtswissenschaft gewinnen aber die im Titel angesprochenen Kommunikationsprozesse innerhalb der Entwurfs- und Planungsphasen zunehmend an Attraktivität. Als erste These wird der Standpunkt vertreten, dass sich gerade diese sektoralen Diskurse gut dazu eignen, einen analytischen Querschnitt vorzunehmen, aus dem heraus dann ein gesamtgesellschaftlicher Befund abgeleitet werden kann. Für das Selbstverständnis der Architekten und Stadtplaner ist die Konkurrenz von individuellem ästhetischen Bestreben und den Vorgaben des politischideologischen Diskurses13 stets immanent gewesen, in dem Bemühen, im Spannungsfeld zwischen persönlichen Entwurfsentscheidungen und staatlichen Steuerungsversuchen Kurs zu halten, sich also autonome Bereiche zu bewahren, wie es in der Person Hermann Henselmanns14, des wohl bis heute bekanntesten Architekten der DDR, besonders anschaulich wird.15 Inwiefern diese biographische Spannung letztlich systembedingt und somit charakteristisch für das Gesamte gewesen ist, lässt sich beurteilen, wenn man die Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse des gesellschaftlichen Sektors Architektur und Stadtplanung im staatssozialistischen System der DDR, pars pro toto, als Folie für die damals virulenten Herrschaftsmechanismen heranzieht. Gerade in der Politisierung der Architektur insgesamt, in ihrer herausragenden Rolle im ideologischen Konzept der Staats- und Gesellschaftsrepräsentation, haben Chan-

12 Beispielhaft dafür stehen: Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Architektur und Städtebau der DDR, 2 Bde., Frankfurt am Main 1998; Holger Barth/Ingrid Apolinarski/Harald Bodenschatz, Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001; C. Bernhardt/T. Wolfes (Hg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner 2005; Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Architektur und Städtebau der DDR. Die frühen Jahre , Berlin 2007; Christoph Bernhardt/Heinz Reif, Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR, Stuttgart 2009; Frank Betker/Carsten Benke/Christoph Bernhardt, Paradigmenwechsel und Kontinuitätslinien im DDR-Städtebau. Neue Forschungen zur ostdeutschen Architektur- und Planungsgeschichte, Erkner 2010. 13 So war die Führungsrolle des Politbüros in Fragen der Architektur und des Städtebaus spätestens ab 1950 unbestritten. Vgl. dazu: Durth/Düwel/Gutschow, Architektur (wie Fn. 12), S. 66-70. 14 *3. Februar 1905 (Roßla, Sachsen-Anhalt), †19. Januar 1995 (Berlin). 15 Vgl. dazu Ulrich Hartung, Zur Spezifik des Modernen in der DDR-Architektur. Thesen, in: M. Escherich (Hg.), Denkmal Ost-Moderne (wie Fn. 5), S. 26-41, hier 28.

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cen und Risiken realiter eng beieinander gelegen – so wie nun die Zeithistoriker die normative Gratwanderung meistern müssen, in der Rekonstruktion der kommunikativen Strukturen zu einem differenzierteren Bild des ostdeutschen Teilstaates zu kommen. Abb. 1: Der stellvertretende Ministerpräsident Walter Ulbricht und Professor Hermann Henselmann vergleichen den Bauplan mit einer bereits verputzten Wohnung im ersten Stock des Hochhauses an der Weberwiese am 17. Januar 1952.

Bildnachweis: BArch, Bild 183-13292-0005/Schack

Die zeitgeschichtliche Frage nach möglichen sektoralen Kommunikationsräumen innerhalb der frühen DDR scheint daher immer noch provokant genug. Aber – und hier liegt der Unterschied zum ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme (nicht der „Gesellschaften“)

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Osteuropas – mittlerweile ist diese pointierte Problemstellung innerhalb des historiographischen Forschungsdiskurses fruchtbar zu machen, ohne dass sich solche Ansätze bereits ex ante dem Verdacht der „Ostalgie“ aussetzen. Im Gegenteil, die zweite These, die hier vertreten werden soll, zielt auf die Anwendung eines normativ reduzierten Modernebegriffs16, der nicht als Platzhalter für westliche Fortschrittsparadigmen fungiert, sondern durch seine jeweils zu bestimmenden Strukturmerkmale einen Vergleichsrahmen für kulturell differente Modernen (auch solche sozialistischen Charakters) anbietet. Die wesentlichen Symptome solcher „vielfältigen (europäischen) Modernen“17 sind auch in der SBZ/DDR-Gesellschaft recht eindeutig zu identifizieren: Erstens hat gerade die SBZ/DDR im Zentrum fundamentaler „Umbildungs- und Neubildungsprozesse [ihrer, Anm. d. Verf.] Zentren“ gestanden, zweitens sind dann genau dort die „Spannungen zwischen Autorität und Egalität“ besonders stark gewesen, wo, drittens, „wirkungsmächtige utopische Zukunftsvisionen“ den politischen und gesellschaftlichen Diskurs geprägt haben.18 Diese übergreifenden ideologischen Paradigmen waren zunächst in einem manifesten antifaschistischen Grundkonsens, später dann in dem Ziel des Aufbaus des Sozialismus vorhanden – dem soll terminologisch mit der Verwendung eines prozessualen Modernebegriffs entsprochen werden. Eine solche Moderne, als Amalgam aus kulturellen „Varianten moderner Erscheinungsformen“, die immer dann entstanden ist, wenn die politischen, institutionellen und informationellen Machtressourcen zur Steuerung einer Gesellschaft vorhanden gewesen und eingesetzt worden sind, ist ohnehin nur als Prozess und nicht als Zustand zu beschreiben: „Wahrnehmungsmuster, Erfahrungen, Diskurse und Sprache sind nämlich nicht nachgeordnete Phänomene

16 Wie er im Rahmen dieses Tagungsbandes verfolgt wird. 17 Vgl. dazu im Original: S. N. Eisenstadt (Hg.), Multiple modernities, New Brunswick u.a. 2002. 18 Shmuel Noah Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „Multiple Modernities“. Essay zu einer Quelle im Themenportal Europäische Geschichte, www.europa.clio-online.de. Aus dem Englischen von Florian Kemmelmeier, 2005, http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__ 113/mid__11428/40208214/default.aspx (16.04.2014). Auch Eisenstadt hat sich inzwischen längst von einem auf die westliche Hemisphäre gemünzten Modernekonzept, dessen jeweils fortschrittlichster Ausprägung dann alle nachhinkenden Modernen zwangsläufig folgen müssten, verabschiedet.

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strukturellen Wandels, sondern stehen mit den Basisprozessen in Wechselwirkung“.19 Die spezifische binnengesellschaftliche Spannung solcher Modernisierungsprozesse entsteht in staatssozialistischen Systemen insbesondere aus der Diskrepanz zwischen dem ideologisch überhöhten Bestreben, bestehende Ungleichzeitigkeiten mit je unterschiedlichen Graden von Gewaltsamkeit20 anzugleichen und der nie einlösbaren Utopie der klassenlosen Gesellschaft, inklusive des absterbenden Staates. Die so entstehenden Gesellschaften zeichnen sich aber strukturell – aller Planungseuphorie zum Trotz – eher durch Heterogenität und Ungleichzeitigkeiten aus als durch (anlassweise zur Schau gestellte) Uniformität. Insofern, und das sei als dritte These hier vorgestellt, ist gerade das Herrschaftssystem der SBZ/DDR geprägt gewesen von Freiräumen unterschiedlichster Art und Reichweite – auch deshalb, weil es der eigenen, wenn auch sozialistischen Modernität in Form sektoraler Differenzierungen nicht entkommen konnte. Diese spezifische Moderne der SBZ/DDR wird man in einer geschichtswissenschaftlichen Analyse am besten in den Griff bekommen, wenn man die gesellschaftlichen Felder untersucht, in denen die Mittel der politischen Steuerung früher oder später an ihre Grenzen gestoßen und die Ambivalenzen offensichtlich geworden sind. Nämlich indem man die dort sektoral vorhandenen Freiräume, die sich immer über verschiedene Ebenen der Kommunikation definieren, sich also als Kommunikationsräume beschreiben lassen, ausfindig macht.

2. K OMMUNIKATIONSRÄUME SOZIALISTISCHER M ODERNE ( N ) ALS METHODISCHES P ROBLEM Der Befund von der „asymmetrischen Verflechtung“21 der Nachkriegsgeschichte beider deutscher Staaten verweist exemplarisch auf die Komplexität der faktisch immer noch bestehenden sprachlichen und gedanklichen Differenzen bei der Aufarbeitung und Darstellung der DDR-Vergangenheit.22 Umstritten ist dabei

19 Christof Dipper, Moderne. Version 1.0, 2010, http://docupedia.de/zg/Moderne (02.04.2014), S. 9. 20 Die nach Dipper als Kriterium für die Art des politischen Systems gelten kann. 21 Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich, „Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?“. Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Essen 2005. 22 Auch Städtebau und Architektur der DDR sind nur im Kontext innerdeutscher Systemkonkurrenz zu erfassen; insbesondere in den frühen Jahren nach 1945 sind diese

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nach wie vor, wie die Wechselwirkungen zwischen Individuum und sozialistischem Staat verstanden und beschrieben werden können. Die postulierte Andersartigkeit staatssozialistischer Systeme und die damit einhergehende Forderung nach neuen Ansätzen der Zeitgeschichtsforschung manifestiert sich sowohl in der zunehmenden Differenzierung der Untersuchungsfelder als auch in dem Bestreben, zu einem tragfähigen Verständnis von sozialistischer Staatlichkeit und der sie charakterisierenden politischen (Kommunikations-)Prozesse zu kommen – indem nämlich „die propagandistischen Inszenierungen sozialistischer Herrschaft als symbolische Konstitution einer neuen Ordnung“23 aufgefasst werden und danach gefragt wird, wie diese staatlichen Selbstzuschreibungen rezipiert worden sind. Den Ertrag solcher Forschungssettings belegen beispielhaft jene Arbeiten, denen es gelungen ist, die nochmals in den 90er-Jahren – nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa – dominierenden Totalitarismus-Paradigmen zu überwinden und „die rätselhafte Stabilität“24 des politischen und staatlichen Systems unter kulturgeschichtlicher Perspektive differenzierter zu beleuchten; die also den Versuch unternommen haben, jenen Bindekräften auf die Spur zu kommen, die beispielsweise der DDR eine immerhin 40jährige Existenz ermöglicht haben, die aber weder mit den Bedingungen äußerer Lenkung25 noch den perfiden Mechanismen innerstaatlicher Repression zufriedenstellend erklärt werden konnten. Ganz in diesem Sinne widmet sich eine an kulturgeschichtlichen Methoden orientierte DDR-Forschung den bis dato eher marginal thematisierten Diskurs- und Erfahrungsräumen in verschiedensten ge-

grenzüberschreitenden Verbindungen durch die Beteiligung von Westarchitekten an Wettbewerben ostdeutscher Projekte (oder umgekehrt) gut nachzuvollziehen. 23 Joachim Puttkamer, Sozialistische Staatlichkeit. Eine historische Annäherung, in: J. Osterkamp/J. Puttkamer (Hg.), Sozialistische Staatlichkeit. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 5. bis 8. November 2009, München 2012, S. 1-18, hier 2. 24 Andrew I. Port, Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland, Bonn 2010. 25 Vgl. dazu insbesondere die Thesen von Stefan Wolle, der das Werden und Vergehen der DDR in der Hauptursache auf die sich verändernde Stärke der russischen Suprematie im osteuropäischen Blocksystem zurückführt. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR; 1971 – 1989, 2. Aufl. Bonn 1999; Stefan Wolle, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Bonn 2008; Stefan Wolle, Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961 – 1971, Bonn 2011.

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sellschaftlichen Bereichen, in denen sich Formen des „Eigensinns“26 auch unter den Bedingungen einer oktroyierten Diktatur entfalten und Menschen ihr „ganz normales Leben“27 führen konnten. So eröffnen sich neue Perspektiven auf binnengesellschaftliche Kommunikationsprozesse – abseits der (auch) politisch intendierten Diktatur-Forschung.28 Das Resultat sind vertiefte Einsichten in binnengesellschaftliche Strukturen, die sich gerade nicht auf die Dichotomie zwischen Opportunismus und Opposition als alternativlose Verhaltensoptionen (mit den entsprechenden normativen Zuschreibungen) im staatssozialistischen System der DDR begrenzen lassen.29 Ein großer Teil der Bevölkerung der DDR hat sich de facto nämlich in anderer Weise mit dem Staat arrangiert, als es sich im Modus einer vergröbernden Schwarz-Weiß-Malerei erfassen lässt. Zugegeben, das macht die zeitgeschichtliche Analyse nicht einfacher, aber „[w]as bleibt, ist die Lösung eines Problems. Die Dichotomien, die wissenschaftlich unfruchtbar

26 T. Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999. 27 Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, 2. Aufl. Darmstadt 2011. Auch schon früher in sozialgeschichtlicher Perspektive: Dietrich Mühlberg, „Leben in der DDR“ – Warum untersuchen und wie darstellen?, in: E. Badstübner/D. Mühlberg (Hg.), Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 648-695; H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994. 28 Bekanntestes Großprojekt dieses Ansatzes sind sicherlich die gelegentlich auch als „Materialschlacht“ kritisierten Enquete-Kommissionen der Bundesregierung mit ihren äußerst umfangreichen Dokumentationen. Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages); neun Bände in 18 Teilbänden, Baden-Baden 1995; Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“. (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages); acht Bände in 14 Teilbänden, Baden-Baden 1999. Einen knappen Überblick über die inhaltliche Ausrichtung gibt: Rainer Eppelmann, Die Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SEDDiktatur, in: Weber u.a. (Hg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 401-406. 29 Exemplarisch dazu: Patrice G. Poutrus, Die Erfindung des Goldbroilers. Über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentwicklung in der DDR, Köln 2002; Christopher Görlich, Urlaub vom Staat. Tourismus in der DDR, Köln 2012; A. Schuhmann (Hg.), Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln 2008.

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geworden sind, lassen sich auflösen. Man muß nicht mehr für das eine und gegen das andere plädieren, sondern kann sich auf die Analyse ihres Zusammenhanges dort beschränken, wo er reell existiert: in den Erscheinungen der Lebenswelt, die in einer zivilisations- oder kulturgeschichtlichen Analyse erschlossen werden können.“30 Unter der Prämisse, „daß eine andere Vergangenheitskultur auch andersartig sein könnte“31 hat Martin Sabrow die Frage gestellt: „Entwickelte womöglich die historische Wirklichkeit im Osten keine geringere ‚Normalität‘ als im Westen, und trat sie vielleicht drüben nicht anders als hüben in Erscheinung, nämlich doppelt: einmal objektiv als Faktum und gesellschaftliche Objektivierung in institutionalisierten Werthaltungen, Habitus und Ideologien, zum anderen subjektiv als individuelle Rezeption und Reproduktion“32? Dahinter steht die Überlegung, dass die letztlich stabilisierenden und legitimierenden „Funktionsmechanismen weder über das distanzlose Einlassen auf ihre eigenen Zuschreibungen und Zielsetzungen“ erkannt werden können, anderseits aber auch nicht „unter einem interpretatorischen Zugriff, der sich an der universalen Gültigkeit liberaler Denktraditionen und eines pluralen Wissenschaftsverständnisses orientiert.“33 Um diese „Doppelbödigkeit in Sprache, Denken und Handeln, wie sie für oktroyierte Diktaturen des sowjetischen Typs kennzeichnend ist“34, analytisch zu erfassen, bietet sich der Zugang über das Medium der Sprache im Sinne eines Diskursbegriffes35 an, der „auf die Inhalte, Institutionen und Regeln der Sammlung, Verarbeitung und Weitergabe von Wissen“ rekurriert und „die Menschen […] als Geschöpfe ihrer Redeweisen“ begreift.36 So wird es möglich, die Ränder der histo-

30 Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, Frankfurt am Main 2008, S. 136. 31 M. Sabrow (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln 2000, S. 11. 32 Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31), S. 13. 33 Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31), S. 11. 34 Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31), Anmerkung 5 auf S. 13. 35 Vgl. dazu: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994; Ders., Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 1. Aufl. Frankfurt am Main 2003. Sabrow verweist auf die ursprüngliche Intention des Begriffs bei Foucault und betont dessen (notwendige) Abgrenzung zum Diskursbegriff bei Habermas, der sich dagegen an einer idealen Sprechsituation orientiere, dessen analytische Sackgasse es aber gerade im Hinblick auf die besonderen Bedingungen staatssozialistischer Formationen zu vermeiden gelte. 36 Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31), S. 15.

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rischen Diskursordnung aufzusuchen und jene Bedeutungsverschiebungen auszuloten, die zum Gleiten der Diskurse führen und, sofern „das diskursive Netz“ reißt, die Diskurse selbst „am Realen scheitern“ lassen.37

3. Z UR

DISKURSIVEN S TRUKTUR DER UND S TADTPLANUNGSDEBATTEN

ARCHITEKTUR -

Mit den Architektur- und Stadtplanungsdebatten innerhalb der sozialistischen Gesellschaftsordnung der SBZ/DDR lassen sich Diskursverläufe beschreiben, in denen zwischen den beteiligten Personen und Institutionen tatsächlich kommunikative Aushandlungen stattgefunden haben, die sich nicht nur durch „die Widerstände gegen den verordneten Diskurs“ ausgezeichnet haben, sondern die es als Analysekategorie ermöglichen, „die Differenzen und Gegensätze in [den Diskursen, Anm. d. Verf.] zum Gegenstand der Analyse [zu, Anm. d. Verf.] mach[en]“.38 Es handelt sich dabei um Kommunikationsräume, die sowohl unter den Vorzeichen staatssozialistischer Politikvorgaben entstehen konnten als auch von diesen selbst – mehr oder weniger intendiert – tatsächlich hervorgebracht worden sind. Die Ambivalenz solcher Strukturen zeigt sich zudem darin, dass insbesondere diejenigen Verfahren, die, oberflächlich betrachtet, als strikte „topdown“-Implementationen aufgefasst werden könnten, keineswegs als solche durchgesetzt werden konnten, sondern allen in diese Prozesse Involvierten gewisse Freiräume des Sprechens und Handelns gewährt haben. Der eigenartige Zwang zum „Konsens“39, dem sozialistische Systeme schon aufgrund ihrer Konstruktionslogik unterlegen gewesen sind und dem von staatlicher Seite durch eine nach außen gerichtete Erschließung von Legitimationsressourcen (beispielsweise als Formen inszenierter Öffentlichkeit) beizukommen versucht worden ist, hat dabei oft jene Freiräume hervorgebracht, in denen sich die dedizierten Adressaten des Politikprozesses auch als selbst gestaltende Akteure beteiligen konnten. In diesem Sinne hat der Göttinger Historiker Stefan Haas festgestellt, dass sich in den verschiedenen Formen von Öffentlichkeitsbeteiligung, insbesondere

37 Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 1. Aufl. Frankfurt am Main 2010, S. 60. 38 Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31), S. 32. 39 Vgl. dazu Martin Sabrow, Der künstliche Konsens: Überlegungen zum Legitimationscharakter sozialistischer Herrschaftssysteme, in: H. Weber u.a. (Hg.), Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1999, Berlin 1999, S. 191–224.

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im Rahmen von Architekturwettbewerben in der frühen DDR, jene kommunikativen Freiräume entfalten konnten, von denen hier die Rede ist. Die zahlreichen öffentlichen Wettbewerbe40, beispielsweise um den Aufbau der „Stalinallee“41 (ab 1961 Karl-Marx-Allee) in Berlin sowie der ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden „Stalinstadt“42 (ab 1961 Eisenhüttenstadt), und die dabei geführten Kontroversen verweisen auf staatsnahe und sensible Kommunikationsräume, in denen – sowohl im Diskurs zwischen Architekten, Politikern und Staatspresse als auch in der Form von Leserbriefen, Eingaben und Stellungnahmen von Bürgern – substanzieller und schärfer gerungen worden ist, als sich unter den Bedingungen eines diktatorischen Systems – zumal in den Jahren der Stalinisierung der DDR43 – zunächst vermuten ließe. Haas untersucht diese Diskurse insbesondere im Hinblick auf ihre Funktion im Rahmen des Implementationsprozesses und bewertet sie innerhalb seines Ansatzes einer politikwissenschaftlichen Systemtheorie44 als symbolische Kommunikation. Solche diskursiven Strukturen haben demnach unter bestimmten Voraussetzungen eine gewisse

40 Vgl. dazu die detaillierte „Chronologie des Bauschaffens in der DDR“ der Monographie von Andreas Butter, Neues Leben, neues Bauen, Berlin 2006. Hier sind allein für das Jahr 1950 neben den ersten Entwürfen zu einer Wohnstadt Fürstenberg/Oder (die später als komplette Neuprojektierung unter dem Namen „Stalinstadt“ erweitert worden sind) etwa ein Dutzend weiterer öffentlicher Architektur-Wettbewerbe verzeichnet. 41 Vgl. dazu: H. Engel/W. Ribbe (Hg.), Karl-Marx-Allee Magistrale in Berlin. Die Wandlung der sozialistischen Prachtstraße zur Hauptstraße des Berliner Ostens, Berlin 1996; Peter Müller, Symbolsuche. Die Ost-Berliner Zentrumsplanung zwischen Repräsentation und Agitation, Berlin 2005; W. Ribbe/P. Brandt (Hg.), Die Karl-MarxAllee zwischen Straußberger Platz und Alex, Berlin 2005. 42 Vgl. dazu: Tilo Köhler, Kohle zu Eisen, Eisen zu Brot. Die Stalinstadt, Berlin 1994; Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Beitrag zu Grundlagen und Intentionen stadtplanerischer Absichten in der frühen DDR, Diplomarbeit Dortmund 1998; Elisabeth Knauer-Romani, Eisenhüttenstadt und die Idealstadt des 20. Jahrhunderts, Weimar 2000; Marco Schmidt, Eisenhüttenstadt die erste sozialistische Planstadt der DDR. Eine Analyse zur Umsetzung der sechzehn Grundsätze des sozialistischen Städtebaus, Hamburg 2012. 43 Hermann Weber, Geschichte der DDR, 3. Aufl. München 1989, S. 186-244. 44 Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung, 1. Aufl. Frankfurt am Main 2005, S. 34.

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Eigendynamik zu entwickeln45 vermocht, ansonsten aber lediglich als „ausführendes Moment in einem präfigurativen Prozess“46 fungieren können. Diese Deutung steht im Übrigen weitgehend in Übereinstimmung mit den Ergebnissen des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur politischen Kommunikation im Staatssozialismus nach 1945.47 So wird dort insbesondere dem Zusammenwirken von „kollektiven Verdrängungsmechanismen und Kontrolle über die öffentliche Kommunikation“ eine wesentliche, stabilisierende Funktion für den osteuropäischen Sozialismus zugeschrieben. Die Kommunikation sei in den betreffenden Staaten bewusst (hier liegt das inszenatorische Element) in vertikale Bahnen gelenkt worden, „um die horizontale Kommunikation einzudämmen“. Demnach reichte die Illusion – an einem partizipatorischen Prozess teilgenommen zu haben – aus, um dauerhaft systemstabilisierend wirken zu können. Hinzu seien dann weitere Faktoren getreten, die „mittels Repression, Feinbildschemata und Ritualen versucht [hätten, Anm. d. Verf.], eine kollektive Identität zu stiften.“48 Insofern ist die Kontrolle über die politische Kommunikation (für den dort verfolgten analytischen Zugriff) die conditio sine qua non für die Stabilität autoritärer oder diktatorischer Systeme. Zunächst ist diesem Befund eine weitreichende Plausibilität in dem hier diskutierten Kontext nicht abzusprechen, zumal sich damit auch ein wesentlich facettenreicheres Bild sozialistischer Gesellschaften abzeichnet. Noch erheblich ausbaufähig erscheint das methodische Vorgehen aber im Hinblick auf die mentale Verfassung der Adressaten dieser „Inszenierungen“. So wäre sicherlich dem Wirken latenter „Verdrängungsmechanismen“ von Seiten der Rezeptionsebene – dann aber auch in horizontaler Richtung – noch differenzierter nachzugehen. Die Dominanz vertikaler Strukturen schließt ja keineswegs aus, dass sich auf anderen

45 Vgl. dazu: Stefan Haas, Wir bauen Wohnungen. Bürgerbeteiligung in der DDR am Beispiel der Wohnungsbaupolitik in den 1950er Jahren, in: T. Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Bonn 2010, S. 250-268. Haas nennt hier u.a. das Beispiel eines Leserbriefs, der aufgrund seiner fundierten Kritik bis ins Aufbauministerium gelangte. 46 Haas, Wir bauen Wohnungen (wie Fn. 45), S. 259. 47 Teilprojekt B 11 des Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ (SFB 584) an der Universität Bielefeld. Dieses hat sich insbesondere mit der Praxis der Bittschrift-Eingaben im sowjetischen Staatssozialismus befasst. 48 Alle Nachweise des Absatzes aus: Julian Mühlbauer, Tagungsbericht Politische Kommunikation im Staatssozialismus nach 1945. 7. bis 8. November 2012, Bielefeld 2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3986 (18.04.2014).

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Ebenen Kommunikationsräume geöffnet haben, die, autark vom hierarchisch organisierten Herrschaftsdiskurs, ein Eigenleben mit lokal und personell begrenztem Kreis führen konnten – aber gleichwohl für die Lebenswelt der Teilnehmer, für deren berufliche und gesellschaftliche Biographie, prägend gewesen sind und die systemstabilisierend schlicht dadurch gewirkt haben, dass in ihnen potentielle Gegenkräfte (durch die Möglichkeit, eigene Verwirklichung zu erfahren) zumindest soweit „neutralisiert“ werden konnten, dass sie nicht absichtsvoll auf die Überwindung des Systems hingearbeitet haben. Ob man diesen Bindekräften dagegen analytisch zu Leibe rücken vermag, wenn – wie oben – auf das Entstehen einer „kollektiven Identität“ abgehoben wird, scheint aber mehr als fraglich. Dass sich auch in staatssozialistischen Systemen kollektive Identitäten, beispielsweise durch gemeinsame Freizeitgestaltung, gemeinsamen Konsum und dergleichen entwickelt haben, ist gar nicht zu bestreiten.49 Dabei handelt es sich aber eher um den kleinsten gemeinsamen Nenner systemneutraler Vergesellschaftungsautomatismen. Letztlich wird dadurch noch zu wenig erhellt, da der Begriff selbst so erklärungsbedürftig ist wie das hier interessierende Explanans selbst: die (methodisch ohnehin schwierig zu operationalisierenden) Verhaltensweisen und subjektiven Einstellungen von Individuen unter differenten gesellschaftlichen Bedingungen. Im Gegensatz zu dem latenten Pantelismus einer Implementationsanalyse von Politik evoziert ein normativ reduzierter Modernebegriff keinen Determinismus – die Pointe liegt ja gerade darin, dass trotz vielfältigen (und endgültigen) Scheiterns auf dem Weg zum utopischen Endzustand ambivalente Prozesse generiert worden sind, die zweifelsfrei einer europäischen Moderne zuzurechnen sind. Diese ständigen Begriffsverschiebungen und deren Rückwirkungen auf den laufenden Aushandlungsprozess können demnach nur unter Einbeziehung weiterer Diskursebenen (Medien und Sprache/Metaphern) erfasst werden: Über welche Medien und Sprachregelungen haben sich sich die Bau- und Architekturdiskurse dieser Zeit konfiguriert und wie sind dabei systemstabilisierende Legitimationsressourcen im Denken und Handeln der Beteiligten freigesetzt worden? Wie hat sich ferner die Sprache der Beteiligten den fließenden Begrifflichkeiten angepasst, wo ist die Mehrdeutigkeit erhalten geblieben und wo ist diese gezielt eingesetzt worden, um die Grenzen der Verständigung offenzuhalten, ohne in die Falle eines diskursiven Antagonismus50 zu geraten? Überhaupt: Wie haben sich diese Diskurse letztlich ordnen können, ohne durch ausschließlich propagandis-

49 Vgl. dazu Mary Fulbrook, Normales Leben (wie Fn. 27), S. 84 ff., hier 93. 50 Unter einem „Antagonismus“ im diskurstheoretischen Sinn wird hier der absolute Gegendiskurs, das schlichtweg „Unsagbare“ verstanden.

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tisch verbrämten Zwang die geistige und sprachliche Opposition der Beteiligten von vornherein zu provozieren, sondern vielmehr Denk-, Wahrnehmungs- und Sprechweisen auszulösen vermocht, die durch Präsenz und Dauer allmählich in das Bewusstsein eingesickert sind und somit eher subtil, aber mit der Zeit legitimierend, ihre Wirkung entfalten konnten? Wie sich solche Verhaltensmuster (insbesondere am Beispiel Hermann Henselmanns) im historischen Kontext ausgebildet haben, soll nachfolgend anhand ausgewählter Diskursverläufe beschrieben werden, die zeitlich im Umfeld der legendären Moskaureise des Jahres 1950 – die eine hochrangig besetzte DDRRegierungsdelegation aus Architekten und Politfunktionären unternommen hatte – zu verorten sind.51

4. V ON DER „R EISE NACH M OSKAU “ ZUM „H OCHHAUS AN DER W EBERWIESE “ „Es begann aber damit, daß die junge Klasse zunächst ihren Sieg mit den Stilmitteln der Besiegten feierte, dann sich die Produktionsmethoden des hoch industrialisierten Kapitalismus anzueignen begann (das ist die jetzige Periode), um schließlich nun erst die Gesamtstadt, das Aufeinanderwirken der verschiedenen Gebäudekategorien, die milieuschaffenden räumlichen Zusammenhänge unter neuen Gesichtspunkten zu begreifen.“52

Dieses Resümee Hermann Henselmanns ist gleich in mehrfacher Hinsicht für die oben vorgelegten Fragen aufschlussreich. Zunächst wird auch in diesen nichtöffentlichen Äußerungen Henselmanns, bezogen auf das architektonische Schaffen der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte, die latente Ambivalenz einer Sprache deutlich, die sich unter den Auspizien autoritärer Meinungsführerschaft der SED und ihrer sozialistischen Ideologie geformt hatte. Dass es sich dabei allerdings um einen diskursiv und keineswegs geradlinig verlaufenen Prozess gehandelt hat, wird deutlich, wenn man die von Henselmann verwendeten Metaphern auf

51 Vgl. dazu Simone Hain, Zur historischen Bedeutung und planungstheoretischen Bewertung der „Reise nach Moskau“. Vorwort, in: G. Mahnken (Hg.), „Reise nach Moskau“. Dokumente zur Erklärung von Motiven, Entscheidungsstrukturen und Umsetzungskonflikten für den ersten städtebaulichen Paradigmenwechsel in der DDR und zum Umfeld des „Aufbaugesetzes“ von 1950, Berlin 1995, S. 7-11. 52 Hermann Henselmann am 1. März 1966, in einem Brief an die Schriftstellerin Brigitte Reimann, abgedruckt in: Brigitte Reimann/Hermann Henselmann/Ingrid KirscheyFeix, Mit Respekt und Vergnügen. Briefwechsel, Berlin 1. Aufl. 2001, S. 58 f.

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die Entwicklungen der Architektur und des Städtebaus und ihre historischen Diktionen bezieht. Positiv gesprochen hat sich demnach, ausgehend von der Phase des „Bauens in nationaler Tradition“ (mit den Stilmitteln der Besiegten), über die Aneignung industrialisierter Methoden ein etappenweiser Erkenntnisgewinn vollzogen, dessen Höhepunkt (im Begreifen der Gesamtstadt) – zum Zeitpunkt der Betrachtung Mitte der sechziger Jahre – noch ausgestanden hätte. Negativ gewendet sind die Reibungsverluste dieser prozesshaften und von Brüchen gekennzeichneten Entwicklung zu dem von Henselmann skizzierten Idealzustand allerdings erheblich gewesen. Vollends kryptisch und damit zugleich typisch für den Hintersinn doppelbödiger Kommunikation in sozialistischen Systemen, wird die Äußerung Henselmanns, wenn die latenten, aber unausgesprochenen Informationen mitgelesen werden. Denn es ist keineswegs so gewesen, dass es ab 1945 in der Architektur der SBZ mit den „Stilmitteln der Besiegten“ begonnen hat, sondern die in der Nachkriegszeit institutionell eingebundene Riege der Architekten hat sich bis etwa 1950 zunächst ganz selbstverständlich an der damals allgemein gültigen (Stil-)Moderne53 des Bauhauses54 und des funktionalen Bauens55 orientiert, wie es zumindest in der westlichen Hemisphäre seit der Charta von Athen56 (die 1933 unter der maßgeblichen Leitung von Le Corbusier verabschiedet worden war) als stilbildend und –bindend galt.57 Henselmann selbst ist damals als Direktor der Hochschule für Baukunst und bildende Künste in Weimar zunächst bestrebt gewesen, ein neues Bauhaus zu etablieren und dafür möglichst viele „Bauhäusler“ als Protagonisten einer internationalen Moderne für den Lehrkör-

53 Zum Modernebegriff in der DDR-Architektur: Butter, Neues Leben (wie Fn. 40). 54 Zu den Bemühungen der Weimarer Bauhochschule, nach 1945 an die Traditionen des Weimarer Bauhauses anzuknüpfen ausführlich: K.-J. Winkler (Hg.), Neubeginn,Weimar 2005; Sigrid Hofer, Ein sozialistisches Bauhaus? Die Staatliche Hochschule für Baukunst und bildende Kunst in Weimar zwischen 1946 und 1951 als Laboratorium der Moderne, in: K.-S. Rehberg, (Hg.), Ikarus(wie Fn. 2), S. 89-97. 55 Vgl. dazu den Beitrag von Norbert Korrek, Neubeginn. Die Umgestaltung der Hochschule für Baukunst und bildende Künste Weimar unter ihrem Direktor Hermann Henselmann (1946-1949) und der Neubeginn der Städtebaulehre nach dem Krieg, in: C. Bernhardt/T. Flierl/M. Welch Guerra (Hg.), Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse, Berlin 2012, S. 19-41. 56 Le Corbusier/Thilo Hilpert/Jean Giraudoux, Le Corbusiers „Charta von Athen“. Texte und Dokumente, Braunschweig 1984. 57 Andreas Schätzke/Thomas Topfstedt, Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945 - 1955, Braunschweig 1991.

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per zu gewinnen.58 An diesen hoffnungsvollen programmatischen Beginn, an den zum Zeitpunkt des oben zitierten Briefwechsels ja erst mühsam wieder angeknüpft werden musste, mag Henselmann mit aufrichtigem künstlerischen Bedauern zurückgedacht haben, wenn er davon sprach, dass ein Verständnis für die Gesamtstadt und deren Milieus erst wieder entstehen müsse. Dabei ist gerade die organische Auffassung der Stadt und ihrer soziokulturellen Beziehungen ein Wesensmerkmal der architektonischen Moderne gewesen, welche eigentlich seit Kriegsende konsequent mit dem ganzen Schwung des gesellschaftlichen Neuanfangs umgesetzt werden sollte. Als ein weiterer Vertreter dieser Richtung gilt auch der zeitweilige Weggefährte und spätere Antipode Henselmanns: der später in den Westteil der Stadt gewechselte Hans Scharoun59, dessen Ansätze in der Ausstellung „Berlin plant – erster Bericht“ aus dem Jahr 1946 deutlich wurden. Scharoun fühlte sich einer organizistisch geprägten Moderne verpflichtet, die sich insbesondere in den durchgrünten Stadtlandschaften in seinen (teilweise verwirklichten) Entwürfen zur „Wohnzelle Friedrichshain“ widerspiegeln.60 Bekanntlich ist diese moderne Phase des Anknüpfens an die Bauhaustraditionen Episode geblieben und von historistischen Konzeptionen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre abgelöst worden, so dass die „Kathedralen des Sozialismus“61, die Henselmann zu seiner Weimarer Zeit noch mit den Stilmitteln der Moderne errichten wollte, ihre tatsächliche Entstehung in der Phase des „Bauens in nationaler Tradition“ nun gänzlich anderen Vorbildern zu verdanken hatten. Mit den aus Moskau importierten „Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus“62 ist nämlich die architektonische Orientierung am historischen Vorbild Sowjetunion verbindlich gemacht, der „Formalismus“63 zum Schimpfwort degradiert und als westlich-kapitalistischer Stil gebrandmarkt worden. An der für diesen radikalen Richtungswechsel maßgeblich verantwortlichen „Reise nach Moskau“ hatte

58 K.-J. Winkler (Hg.), Neubeginn, Weimar 2005, (wie Fn. 54), passim. 59 *20. September 1893 (Bremen), † 25. November 1972 (Berlin). 60 Durth/Düwel/Gutschow, Architektur (wie Fn. 12), hier Bd.1, S. 90 ff. 61 Martin Wimmer, Damals in Weimar: 1945-1949, in: K.-J. Winkler (Hg.), Neubeginn, Weimar 2005, S. 120-126, 124. 62 Zu den genauen Umständen: Butter, Neues Leben (wie Fn. 40), S. 62-66. Mahnken (Hg.), Reise nach Moskau (wie Fn. 51). 63 Vgl. dazu Hartung, Spezifik (wie Fn. 15), S. 27. Zur Formalismusdebatte merkt Hartung an, dass es sich dabei tatsächlich um den Kampf gegen ein reales Bau- und Planungskonzept gehandelt hat.

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Henselmann selbst gar nicht teilgenommen64; in den anschließenden Diskussionen im Aufbauministerium unter Leitung von Minister Lothar Bolz65 hat er sich rhetorisch allerdings umso mehr auf der Höhe gezeigt und eine erstaunlich schnelle Abkehr von früheren Positionen vollzogen. In Bezug auf die Handlungsspielräume, die er sich unter diesen neuen Vorzeichen selbst noch zugestehen wollte, äußerte er beispielsweise in der Besprechung vom 2. Juni 1950: „Wer in unserer Republik Städte bauen will, muß sich ganz bestimmte Vorstellungen, die der [Politik] zugrunde liegen, einprägen. Da gibt es keinen Kompromiß.“66 Damit war die zukünftige Richtung Henselmanns für jedermann scheinbar unmissverständlich dargelegt worden. Dass es sich hierbei aber wohl mehr um den Versuch einer persönlichen, existenziellen Absicherung in Form einer eindeutigen Loyalitätsbekundung gehandelt hat als um eine bereits endgültige inhaltliche und ästhetische Festlegung in Bezug auf seine Entwurfsarbeit am Reißbrett, legen die Überarbeitungsvorschläge der „Sechzehn Grundsätze“ nahe, die wenige Tage danach bei Aufbauminister Bolz eingegangen sind. Noch im Schulterschluss mit Hans Scharoun hatte Henselmann vor allen Dingen stilistische Änderungen an den „Grundsätzen“ vorgenommen und eine andere Reihenfolge vorgeschlagen. Sogar einen „allzu diktatorischen“ Wortlaut hat man zu verhindern versucht, etwa in Bezug auf die „Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren“, von denen im dritten Grundsatz, in Absatz 3, die Rede ist und die man zukünftig lieber nicht als „ausschließliche Angelegenheit der Regierung“ verstanden wissen wollte. Das ist wohl selbst Henselmann zu deterministisch vorgekommen, so dass er vorgeschlagen hat, diese Stelle zu Gunsten der Mitsprache der „Parlamente und […] großen Organisationen“ umzuformulieren.67 Geradezu erwartungsgemäß sind dann aber sämtliche Änderungsvorschlä-

64 Mutmaßlich ist Henselmann der SED zum damaligen Zeitpunkt als politisch unzuverlässig erschienen. Henselmann hat trotz seiner Parteimitgliedschaft seit jeher der Ruf eines Bohemiens angehaftet, der zudem einen unsteten Lebenswandel führen würde. 65 *3. September 1903 (Gleiwitz, Oberschlesien), † 29. Dezember 1986 (Berlin). Bolz war zum damaligen Zeitpunkt auch Vorsitzender der NDPD und stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der DDR. Er gilt neben Kurt Liebknecht, dem in Moskau promovierten späteren Präsidenten der Deutschen Bauakademie und Jugendfreund aus Gleiwitzer Tagen, als eigentlicher Initiator der Moskau-Reise und einflussreicher Verfechter der kompromisslosen Umsetzung der „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“. 66 Mahnken (Hg.), Reise nach Moskau (wie Fn. 51), S. 150. 67 Mahnhke (Hg.), Reise nach Moskau (wie Fn 51), S. 179.

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ge – zuerst solche, die direkt die beabsichtigte Zementierung der Weisungshierarchien seitens der SED im Planungs- und Entwurfsbetrieb in Frage gestellt haben, aber auch harmlosere, rein sachliche Umformulierungen – nicht übernommen worden. Letztlich ist somit die „Reise-Fassung“ der Grundsätze68 – fast unverändert – als Bestandteil des Aufbaugesetzes beschlossen worden.69 Mit der Einmischung in politische Belange sind die Grenzen des Diskurses in diesem Fall also eindeutig überschritten worden. Die Tatsache aber, dass Henselmann trotz der öffentlich bekundeten Linientreue einen Versuch in dieser Richtung unternommen hat, zeigt, wie sehr sich die Teilnehmer an diesen Besprechungen, zumindest eine gewisse Zeit lang, als gleichberechtigte Diskutanten gefühlt haben müssen. In der historischen Retrospektive liegt freilich auf der Hand, dass diese Debatten Scheindebatten gewesen sind, die „dazu genutzt [wurden, Anm. des Verf.], das Dogma zu propagieren, Schwankende zu manipulieren und Gegner zu demaskieren“. Wesentlich aufschlussreicher in Bezug auf die Wirksamkeit solcher Manipulationen dürfte aber die Frage sein, ob es möglich gewesen ist, dass „[d]en meisten Teilnehmern […] tatsächlich ein Leben lang verborgen [blieb, Anm. des Verf.], daß es sich hierbei lediglich um demagogische Scheindebatten handelte“? Nach dieser Interpretation entstand in diesen Beratungen die „Legende“, dass die völlig unveränderte Fassung der Grundsätze trotzdem als „Produkt kollektiver Weisheit“ angesehen worden ist.70 Diese These mag zunächst abwegig erscheinen, aber erinnern wir uns: Genau hier versagt der „interpretatorische Zugriff, der sich an der universalen Gültigkeit liberaler Denktraditionen orientiert“.71 Vielmehr wird man mit Blick auf die weiter oben vorgestellten Forschungsbefunde72, nach denen die Illusion, an einem partizipatorischen Prozess teilgenommen zu haben, in sozialistischen Systemen ausgereicht habe, um systemerhaltend zu wirken, eine Bestätigung dieser Prämissen im Umfeld der Moskau-Reise finden. Allein die mühsame ideologische Implementation der Reiseergebnisse (vor der schon die russischen Gesprächspartner „gewarnt“ hatten) als auch die dann architektonisch erst schrittweise vollzogene Annäherung an den geforderten neuen Stil machen deutlich, dass hier schwerlich von einem geradlinigen Vollzug von Anordnungen die Rede sein kann – auch wenn die folgenden Weichenstellungen zu einer weiteren

68 Ausführlich dazu: ebd., S. 108 ff. 69 Ebd., S. 187. 70 Alle Zitate dieses Absatzes aus: ebd., S. 139. 71 Vgl. dazu weiter oben: Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31), S. 11. 72 Vgl. dazu weiter oben in diesem Beitrag: Fn. 47.

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Zentralisierung der Entwurfs- und Planungsinstanzen, insbesondere mit der Neugründung der Deutschen Bauakademie Ende des Jahres 1951, geführt haben. Deren Protagonisten – unter ihnen Hermann Henselmann – haben bereits auf ihrer Gründungsfeier unmissverständlich die kritische Aneignung und Weiterentwicklung der Architektur des Berliner Klassizismus der Schinkel-Zeit als zukünftige Aufgabe beschworen. Zudem bekam die angestrebte Neuorientierung des fachlichen Diskurses an den sowjetischen Beispielen damit auch den nötigen institutionellen Unterbau – im Fall der internen Organisation der Bauakademie und ihrer Meisterwerkstätten, ebenfalls am sowjetischen Vorbild ausgerichtet. In der Folge dieser Entscheidungen sind kompromisslose Vertreter der Moderne, wie Hans Scharoun, endgültig kaltgestellt worden, spätestens als dessen Institut für Bauwesen an der Akademie der Wissenschaften in Berlin (Ost) Anfang des Jahres 1951 zwangsweise mit dem Institut für Städtebau und Hochbau im Aufbauministerium zusammengelegt worden ist. Andere, die frühzeitig bereit gewesen sind umzudenken, wie Hermann Henselmann, sind in der Folge der Ereignisse in entsprechende Positionen aufgerückt. Nach seiner Weimarer Zeit war auch Henselmann zunächst am Institut für Bauwesen der Deutschen Akademie der Wissenschaften tätig gewesen. Später hat er aber – im Gegensatz zu Scharoun – auch die Abwicklung dieser Institution „überlebt“, nämlich durch den Wechsel an die 1951 geschaffene Deutsche Bauakademie, an der er eine der dortigen Meisterwerkstätten geleitet hat. Diese haben dann im Zuge der StalinalleeBebauung eine für die nächsten Jahre kaum zu überschätzende stilistische Vorbildfunktion für die gesamte Aufbauplanung der DDR erlangt. 1953 ist Henselmann sogar zum Chefarchitekten beim Magistrat von Groß-Berlin ernannt worden.

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Abb. 2: 80.000 Thälmann-Pioniere demonstrieren zum Abschluss des ersten Pioniertreffens vom 18. bis 25. August 1952 in Dresden. Hier tragen junge Pioniere das Modell des Hochhauses an der Weberwiese im Demonstrationszug.

Bildnachweis: BArch, Bild 183-16006-0002 / Erich Höhne, Erich Pohl

In den Monaten nach der Moskau-Reise, auch noch zur Zeit der Gründung der Bauakademie, ist aber zumindest die ästhetische Ordnung der Begriffe noch derart in Bewegung gewesen, dass man sich zwar fortan bemüht hat, aus den „Sechzehn Grundsätzen“ verbindliche architektonische und städtebauliche Vorgaben abzuleiten, zunächst aber daran gescheitert ist, Lösungen zu finden, die sowohl

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national in der Form als auch demokratisch im Inhalt gewesen sind.73 Nicht vergessen werden sollte zudem, dass in den frühen Jahren der SBZ/DDR städtebauliche Prestigeprojekte nur im Kontext innerdeutscher Systemkonkurrenz angemessen bewertet werden können. Hier wird die „asymmetrische Verflechtung“, zumal auf der selbstreflexiven Ebene der Funktionäre, geradezu handgreiflich.74 Aufgrund der kaum zu unterschätzenden Symbolfunktion überschneiden sich die Debatten um Architektur und Städtebau gerade in dieser Zeit staatlicher Identitätssuche direkt mit dem politisch-ideologisch geführten (Herrschafts-)Diskurs.75 An den Fachdiskussionen im Rang von „Interdiskursen“76 wird deutlich, wie diese unter kontinuierlichen Veränderungen auf die Teilnehmer selbst zurückwirken, Handlungskalküle und Kommunikationsrituale innerhalb der zur Verfügung stehenden Medien verändern und über die sprachliche Ebene deren Verhalten präfigurieren, aber auch wie diese – bis mit Henselmanns Entwurf des „Hochhauses an der Weberwiese“ endlich eine für den neuen Stil vorbildhafte Formensprache gefunden worden ist – immer wieder an den Schnittstellen zum politischen Meta-Diskurs bedrohlich ausgefranst sind, so dass mehr als einmal der Einsatz einer öffentlichkeitswirksamen „Therapie“77 angewendet worden ist.

73 Als 1952 auf der zweiten Parteikonferenz der SED der Aufbau des Sozialismus für verbindlich erklärt worden ist, hat sich der Wortlaut geändert in „sozialistisch im Inhalt“ – was die zukünftige Definition nicht gerade erleichtern sollte. 74 Vgl. dazu die Ausführungen zum sog. „Fennpfuhl-Wettbewerb“ bei Elmar Kossel/Adrian von Buttlar, Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR, Königstein im Taunus 2013, S. 121 ff. In seiner dezidiert deutsch-deutschen Form blieb der „Fennpfuhl-Wettbewerb“ allerdings einmalig. Dieses lag nicht zuletzt daran, dass Henselmann (als maßgeblicher Juror) dem westdeutschen Architekten Ernst May den ersten Preis zusprach, der in den 30erJahren u.a. in Magnitogorsks in der Sowjetunion tätig gewesen war. Damit deutete sich ein Prozess einer stilistischen Nivellierung zwischen Ost und West an, der von der politischen Führung der DDR als Alarmzeichen gewertet wurde. An der Kritik der auf die Plätze verwiesenen DDR-Architekten beteiligte sich wiederum auch Henselmann selbst. 75 Im Sinne der „Aprioris“ einer diskursiven Ordnung verstanden, wie bei: Sabrow (Hg.), Herrschaftsdiskurs (wie Fn. 31) Anmerkung 18 auf S. 18. 76 Zum Begriff des Interdiskurses: ebd, Anmerkung 18 auf S. 18, Fußnote 18. 77 Vgl. dazu die Verwendung des Begriffes ebd., Anmerkung 49 auf S. 29, und seine ursprüngliche Herleitung aus Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 20. Aufl. Frankfurt am Main 2004.

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Eine solche „Therapie“ im Sinne des hier verfolgten Diskursbegriffs stellte beispielsweise die über das staatsoffizielle Medium „Neues Deutschland“ ausgetragene Zurechtweisung Hermann Henselmanns vom 29. Juli 1951 dar.78 Diese diskursiven Inszenierungen von Rede und Gegenrede in öffentlichen Medien sind ebenfalls ein markantes Beispiel für die exakt geplante Dramaturgie sozialistischer Bußrituale in der frühen DDR. Diese konnten tatsächlich so weit gehen, dass auch die scheinbar frei vorgebrachten Kritikpunkte (in Form eines Leserbriefes) an einer (noch im inszenierten Disput zu festigenden) Position der SED lediglich vorgespiegelt worden sind, nur um dem scheinbar widerspenstigen Beiträger in der übernächsten Ausgabe die Gelegenheit zu geben, seine Läuterung – selbstverständlich nachdem er zuvor durch die offizielle Antwort entsprechend belehrt worden ist – reumütig vorzuführen.79 Da solche Verfahren zwangsläufig mit dem vollständigen Einlenken auf die Parteilinie geendet haben, hat auch Henselmann in dieser Auseinandersetzung von vornherein auf verlorenem Posten gestanden. Freilich ist sein eigentliches „Vergehen“ seine intern geäußerte Kritik an der monumentalen Architektur des Neubaus der SowjetBotschaft, Unter den Linden, gewesen. Das ist dann – gerade zum damaligen Zeitpunkt – allerdings ein Musterbeispiel für einen diskursiven Antagonismus, also das „Unsagbare“ innerhalb einer diskursiven Ordnung schlechthin. Die ihm nahegelegte „Bescheidenheit“ und die Aufforderung, „Werke von solcher Schönheit und Kraft hervor[zubringen], daß sie den Kritikern den Atem verschlagen“, sind dann in der Tat existenzielle Fingerzeige gewesen, die Henselmann auch als solche gedeutet hat. Bereits wenige Tage später, am 3. August 1951, sind dann an gleicher Stelle Entwürfe veröffentlicht worden, die das Hochhaus an der Weberwiese, nachmalige Stilikone des „Bauens in nationaler Tradition“, schon in seiner später realisierten (Baubeginn am 1. September!) Form zeigten. Hermann Henselmanns Gestaltungswillen ist offenbar größer gewesen als seine künstlerischen Skrupel, für die nächsten Jahre einem historistischen Klassizismus zu huldigen. Sofern man bedenkt, dass es in allen diesen Auseinandersetzungen um seine berufliche Existenz gegangen ist, wird dieses Verhalten in der historischen Retrospektive zumindest erklärbar. Auch hier taugen rein westliche Maßstäbe also wenig, um die individuellen Überlebensstrategien unter sozialistischen Bedingungen angemessen zu erfassen. Die weiter oben angesprochene „Andersartigkeit einer anderen Vergangenheitskultur“ wird hier besonders deutlich.

78 Rudolf Herrnstadt, Über den Baustil, den politischen Stil und den Genossen Henselmann, in: Neues Deutschland 6 (1951), S. 3. 79 Durth/Düwel/Gutschow, Architektur (wie Fn. 12), hier Bd. 1, S. 263.

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Schließlich beschränkt sich die dargelegte Doppelbödigkeit von Diskursen im Bereich von Architektur und Städtebau aber keineswegs allein auf sprachliche Metaphern-Deutung. Es kommt eine weitere auslegungsbedürftige Ebene dazu, nämlich die Bauwerke (und auch die nicht ausgeführten Entwürfe) selbst.80 Die architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten eines symbolischen Formenkanons sind nämlich von Hermann Henselmann äußerst geschickt genutzt worden. So ist dem listigen Henselmann mit der Umsetzung des Dachgartens auf dem „Hochhaus an der Weberwiese“ ein weiterer stiller Triumph in Anlehnung an moderne Konzepte Le Corbusiers gelungen. Dabei soll hier gerade nicht auf den ihm oftmals unterstellten Opportunismus abgehoben, sondern darauf verwiesen werden, dass selbst ein scheinbar so eindeutig zu klassifizierendes Bauwerk wie das „Hochhaus an der Weberwiese“ keineswegs frei von ambivalenten Bezügen ist – unabhängig davon, was Henselmann im Umfeld der Entstehungsprozesse selbst dazu gesagt hat. Elmar Kossel hat überzeugend herausgearbeitet, dass sich viel eher als zu Schinkels „Feilnerhaus“ (eine von Henselmann damals selbst hergestellte Referenz) Parallelen zu Entwürfen aus der NS-Zeit finden lassen.81 „Der fehlende theoretische Überbau der Moderne […] hatte zur Folge, dass die beabsichtigte Bedeutung eines Bauwerkes auch immer ganz entschieden über Publikationen vermittelt werden musste.“82 Für einen gewieften Taktiker wie Henselmann eröffneten diese fehlenden Verbindlichkeiten ein vorzügliches Experimentierfeld, auf dem er bewusst falsche Spuren legen konnte, denen die politischen Entscheidungsträger mehr als einmal auf den Leim gegangen sein dürften.83 So weist nämlich schon das Feilnerhaus formal „weit über einen für die ‚nationalen Traditionen‘ rezipierbaren Klassizismus hinaus“.84 Die Schöpfer dieser steingewordenen Metaphern konnten sich also zusätzlich auf dieser gestalterischen Ebene durch eine subtile Art und Weise dem staatlichen Diktatbemühen (in gewissen Grenzen) entziehen.85

80 Vgl. dazu Hartung, Spezifik (wie Fn. 15), S. 26. 81 Kossel/Buttlar, Henselmann (wie Fn. 74), S. 102 ff. So zu Hermann Gieslers Entwurf zur „Hohen Schule der NSDAP“ aus dem Jahr 1938. 82 Vgl. dazu ebd., S. 179. 83 Ähnliches findet sich in der Malerei der DDR. Vgl. dazu den Beitrag von Arthur Schlegelmilch in diesem Band. 84 Kossel/Buttlar, Henselmann (Fn. 74), S. 104. 85 So wie die Berliner nach der Fertigstellung der Stalinallee lieber die Schönhauser Allee aufgesucht und damit dem verordneten (sozialistischen) Gemeinschaftsgefühl vor klassizistischer Kulisse eine empfindliche Absage erteilt haben. Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Arthur Schlegelmilch in diesem Band.

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5. F AZIT Hilfreich für diese individuelle Fähigkeit, unabänderliche politische Verbindlichkeiten hinzunehmen und diese – zumindest im eigenen Selbstverständnis – doch zu unterlaufen, ist sicherlich Henselmanns unprätentiöser (geradezu postmoderner) Umgang mit der eigenen Formensprache gewesen, die er stets als stilistisch vergängliche Lösungen, als „Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart“86 denken konnte.87 Wie eindeutig diese Sichtweise dann vom weiteren Verlauf der Architektur- und Stadtplanungsdebatten bestätigt worden ist, zeigt die abermalige Wende im Bauwesen ab 1955. Allmählich konnte Henselmann wieder ganz selbstverständlich an die Konzepte einer internationalen Moderne anknüpfen, nachdem der zwischenzeitliche Versuch, mittels historistischer Anleihen progressiv zu wirken, höchst offiziell ad acta gelegt wurde. Diese Versteckspiele waren nur im Umfeld einer ausdifferenzierten und prozesshaften Moderne möglich: einer spezifisch sozialistischen Moderne, zu deren besserem Verständnis die Analyse gesellschaftlicher Teildiskurse wesentlich beitragen kann. So ist immer ganz explizit um Begriffe und deren inhaltliche Definition gerungen worden – vergleichbar den verschlungenen Pfaden der politischen Semantik in anderen ideologiesensiblen Bereichen des DDR-Sozialismus.88An den skizzierten Beispielen aus dem Nachlauf der Moskau-Reise von 1950 ist mit Blick auf diese Kommunikationsstrategien deutlich geworden, dass sich die sektoralen Diskursstrukturen auf den drei Ebenen der „Materialität von Diskursen“89 rekonstruieren lassen; erstens über „die Gegenstände […] und die Möglichkeiten wahrer Rede“, zweitens über die „Eigenlogik der entsprechenden Medien“ und drittens über den „notwendigerweise polysemischen Charakter“ der sprachlichen Zeichen, „die sich am deutlichsten in ihren Metaphern“90 zeigen. Diesem hier

86 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Mi - Pre. (Geschichtliche Grundbegriffe, 4), 2. Aufl. Stuttgart 1997, S. 96. 87 Henselmann hat sich verschiedentlich in dieser Richtung geäußert, so auch in Gunther Scholz, „Hermann Henselmann, Architekt, Jahrgang 1905“, DEFA-Dokumentarfilm 1985. Dort sprach er in diesem Sinne von einer ständigen „Abschiedsbereitschaft“, die innerhalb revolutionärer Prozesse notwendig sei. 88 Als Beispiel sei hier nur an die zunehmend widersprüchliche Konstruktion des „Erbe und Tradition“-Konzeptes zur Geschichtsaneignung und -auslegung, speziell der deutschen Geschichte vor 1945, erinnert. 89 Sarasin, Diskursanalyse (wie Fn. 37), S. 37 ff. 90 Ebd., S. 37-38.

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vorgeführten Insistieren auf der Analyse von Rede und Gegenrede entspricht „die kulturwissenschaftlich geprägte Theorie der Moderne“, die besagt „dass sich im Zeitverlauf auch Selbstwahrnehmung und -beschreibung der Gesellschaften ändern und dass genau dieser Prozess einen sehr aussagekräftigen Indikator dafür abgibt, wann eine Gesellschaft modern wird.“91

91 Dipper, Moderne (wie Fn. 19), S. 9.

Teil III: Gescheiterte Modernen?

Koloniale Moderne in Nederlandsch-Indië Grenzen und Gegenströme V INCENT H OUBEN

T HEORETISCHE V ORÜBERLEGUNGEN Moderne ist einer der am meisten theoretisierten Begriffe und noch immer eng verbunden mit einem eurozentrischen, selbstbeschreibenden Narrativ über Fortschritt und Entwicklung. Ab Ende des 18. Jahrhunderts haben eine Reihe von Revolutionen Gesellschaften mittels ökonomischer Spezialisierung, der Entstehung rationaler Organisationsformen, größerer sozialer Mobilität und zentralisierter bürokratischer Systeme in Richtung Modernisierung geführt. Somit konnten sich die damaligen Europäer von der Vormoderne sowie von anderen Zivilisationen, die als traditionell sowie orientalisch bezeichnet wurden, abgrenzen. Mittlerweile wurden, im Zuge der postkolonialen Wende, alternative Modernitätsbegriffe entwickelt. Zum einen weisen diese auf den reflexiven Charakter der Moderne hin, wobei Modernität vor allem aus einem spezifischen Diskurs über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht (Prasenjit Duara), oder sogar als solche niemals existiert hat (Bruno Latour). Zum anderen ist der Modernitätsdiskurs durch die Arbeiten von Shmuel Eisenstadt (multiple Modernen), Lisa Rofel (andere Modernen), Dilip Gaonkar (alternative Modernen), R. Radhakrishnan (polyzentrische Modernen) und anderen Forschern von meist nichtwestlicher Provenienz zunehmend dezentriert, d.h. weg vom Westen geführt worden.1

1

Prasenjit Duara, Rescuing History from the Nation. Questioning Narratives of Modern China, Chicago 1995; Bruno Latour, We have never been modern. Translated by C. Porter, Cambridge 1993; Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus

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Im Zuge dieser Modernitätsdebatten ist es angebracht, sich erneut mit einer spezifischen Variante der Moderne auseinanderzusetzen und zwar der kolonialen Moderne. In einem von mir und Mona Schrempf 2008 herausgegebenen Band über Figurationen der Moderne haben wir versucht, eine nicht-westliche Definition zu geben. Dabei wird Moderne als Repräsentationspraxis verstanden, die aus multiplen Figurationen hervorkommt, woran nicht-europäische Akteure in einem Aushandlungsprozess aktiv teilhaben.2 Diese Umschreibung gibt Akteuren in kolonialen sowie postkolonialen Gesellschaften viel mehr Gestaltungsmacht, als es in Diffusions- sowie Transfertheorien der Fall gewesen ist. So besagt der neo-institutionalistische Diffusionsansatz von John Meyer, dass es eine globale Verbreitung bestimmter westlicher Institutionen – der Nationalstaat, das moderne Recht, das moderne Bildungssystem – gegeben hat, woraus eine globale Gleichförmigkeit der Moderne, in Form einer Weltgesellschaft, entstanden sei.3 Dahingegen finde ich den Ansatz einer Grammatik der Differenz, die aus kolonialen Transfers hervorgegangen ist, viel überzeugender. Frances Gouda hat im Hinblick auf das koloniale Indonesien beschrieben, wie Niederländer-Sein in einem europäischen Kontext für den Glauben an bürgerliche Freiheit und religiöse Toleranz stand, während in einem kolonialen Kontext von den gleichen Niederländern Ideen einer weißen, zivilisatorischen Überlegenheit vertreten wurden und somit entscheidende Eigenwerte in der Übersetzung nach Übersee verloren gegangen waren.4 Neben Moderne verdient es hier auch der Begriff Kolonialismus kurz umrissen zu werden, worüber es im deutschsprachigen Raum, u.a. durch die Publikationen von Jürgen Osterhammel und anderen, schon ausreichend theoretische Reflexionen gibt. Kolonialität umfasst dabei alle Formen von hegemonialen Verhältnissen zwischen den Regionen, Gesellschaften und sozialen Gruppen. Kolonialismus war gekennzeichnet durch bestimmte Standardmerkmale wie politischmilitärische Beherrschung, soziale Segregation nach rassischen Gesichtspunkten

129/1 (2000), S. 1-29; Lisa Rofel, Other Modernities: Gendered Yearnings in China after Socialism, Berkeley u.a. 1999; Dilip P. Goankar (Hg.), Alternative Modernities, Durham 2001; Vgl. R. Radhakrishnan, Theory in an Uneven World, Oxford u.a. 1. Aufl. 2003. 2

Vincent Houben/Mona Schrempf (Hg.), Figurations of Modernity. Global and Local Representations in Comparative Perspective, Frankfurt a.M. u.a. 2008.

3

John Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frank-

4

Frances Gouda, Dutch Culture Overseas. Colonial Practice in the Netherlands Indies,

furt a.M. 2005. 1900-1942, Amsterdam 1995.

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sowie wirtschaftliche Ausbeutung. Im Übrigen besaßen Kolonialimperien im Vergleich zu Kolonialstaaten – mit der Idee einer Assemblage von Völkern, den Einsatz von Vermittlern und eine Anpassung an lokalen Begebenheiten – ein Repertoire der Machtausübung, das sie relativ flexibel und standhaft machte. Nederlandsch-Indië, das Thema der hiesigen Ausführungen, bildete alles in einem: eine Moderne, die von Kolonialität, Kolonialismus und Imperialismus gekennzeichnet war. Jedoch war diese Moderne in gewisser Weise unvollendet und in ihrer Kolonialität so fragil, dass sie wohl scheitern musste.

N EDERLANDSCH -I NDIË UND DIE G RENZEN DER KOLONIALEN M ODERNE Im Jahre 1911 wurde von dem einflussreichen Kolonialpolitiker Hendrik Colijn eine aufwendig gestaltete, zweiteilige Übersicht der niederländisch-indischen Welt herausgegeben, um das Interesse der holländischen Bevölkerung für ihre ,tropischen Niederlande‘ zu wecken. Im Vorwort zu Colijns Werk steht, dass die Bedeutung der Niederlande „am engsten zusammenhängt mit dem Besitz unserer Ost-Indischen Kolonien, und dass nicht nur Pflichtbewusstsein und sittliche Berufung, sondern gleichermaßen selbstverständliches Eigeninteresse uns allen die Hände zusammenführen soll, um diesen schönen, fruchtbaren Boden, das in jeder Hinsicht reiche Land, zur großen Blüte und Entwicklung, seine zahlreichen zu verschiedenen Rassen gehörenden Bewohner zu einem hohen Niveau von Wissen, Zivilisation und Wohlfahrt zu bringen“.5

Diese Worte drücken bereits klar aus, dass die Niederländer im späteren Indonesien versuchten, eine stolze, koloniale Moderne zu etablieren. Vierzig Jahre später, kurz vor dem Ausbruch des Pazifischen Krieges und dem Ende des niederländischasiatischen Kolonialreiches, erschien das Nachfolgebuch über Nederlandsch-Indië im 20. Jahrhundert unter dem Titel „Dort wurde Großes geleistet“.6 Auf über 500 Seiten wurde ,Indië‘ einem Gesamtinventar unterworfen, weil die koloniale Arbeit, so stand es im Vorwort, ein Ausdruck von den Niederlanden insgesamt war. Es folgen Kapitel über Kolonialgeschichte, Volk und Land,

5

Joannes B. van Heutsz, Voorwoord, in: H. Colijn (Hg.), Neerlands Indië. Land en Volk, Geschiedenis en Bestuur, Bedrijf en Samenleving. Bd. 1, Amsterdam 1911.

6

W. H. van Helsdingen (Hg.), Daar werd wat groots verricht. Nederlandsch-Indië in de XXste eeuw, Amsterdam 1941.

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die Überwindung der Entfernung, den Kampf um natürliche Reichtümer und die Fürsorge für die Bevölkerung. Die Nationalbewegung wurde lediglich in einem kurzen Kapitel mit dem Titel „Reaktionen auf Berührungen mit der Außenwelt“ untergebracht. Statistiken sollten die erfolgreiche Überwindung der Wirtschaftsdepression der 1930er Jahre nachweisen. Im Schlusswort, von W. H. van Helsdingen 1941 im bereits von den Deutschen besetzen Holland geschrieben, ist der Triumphalismus von Colijn eingetrübt. Es ist weder von „ausschweifenden Selbstverherrlichungen“ noch von „vehementer Anklage in der Öffentlichkeit“ die Rede, sondern von Prozessen des Wandels, Meinungsunterschieden und Problemen durch Volksverschiedenheiten, die plötzlich in den Malstrom des Weltverkehrs integriert worden waren. Die Modernisierung von Nederlandsch-Indië war Teil der damaligen niederländischen Überzeugung, sich in einem riesigen, epochalen Projekt zu engagieren. Seit 1901 wurde eine sogenannte Ethische Politik verfolgt, die auf der Idee von Vormundschaft beruhte. Die Ethische Politik war, laut der Historikerin Locher-Scholten, sowohl auf die Etablierung effektiver Herrschaft über den gesamten Indischen Archipel, als auch die Entwicklung von Land und Volk in Richtung Selbstverwaltung unter niederländischer Aufsicht sowie auf die Implementierung eines westlichen Modells ausgerichtet.7 Die Entwicklung der einheimischen Gesellschaft wurde als ethisch-moralische Pflicht angesehen, die über die Anwendung von rationalen Zielsetzungen und ein hohes Maß an kolonialstaatlicher Intervention erreicht werden sollte. Die Niederländer waren, angesichts der enormen Dimensionen ihrer selbstauferlegten Aufgabenstellung, überfordert, versuchten aber dennoch, die Probleme in einer typisch holländischen, technokratischen Weise in den Griff zu bekommen, laut Van Doorn, „präzise und sauber, sparsam und nüchtern, schlicht und anständig, ohne Phantasie aber gründlich.“8 Es gab zwar ein Bewusstsein, dass Kolonialherrschaft etwas Unnatürliches sei, aber dies wurde von legitimierenden Gedanken überdeckt: der Entwicklung der Bevölkerung, der Rückzahlung einer Ehrenschuld (ein Rückverweis auf die großen Gewinne aus dem Kultivierungssystem im 19. Jahrhundert) und einer Bereitschaft, die Segnungen der westlichen Zivilisation mit den Einheimischen zu teilen. Dabei wurden die Endlichkeit sowie die Einseitigkeit des kolonialen Modernisierungsprojektes ausgeblendet.

7

Elsbeth Locher-Scholten, Ethiek in fragmenten. Vijf studies over koloniaal denken en doen van Nederlanders in de Indonesische archipel, Utrecht 1981.

8

Jacobus A. van Doorn, De laatste eeuw van Indië. Ontwikkeling en ondergang van een koloniaal project, Amsterdam 1994, S. 95.

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In der Tat unternahmen die Niederländer im Rahmen der Ethischen Politik große Anstrengungen, was mit einer Vergrößerung des Verwaltungsapparats einherging. Es entstand eine „Entwicklungstechnokratie“, besonders durch die Etablierung von Sonderabteilungen für Eisenbahnbau, Landgewinnung, Irrigation, rurales Kreditwesen, Bildung, Gesundheitswesen und Migration. Eine weitere Maßnahme war die Intervention am Markt für Nahrungsmittel (besonders Reis), um Mangel bei der Bevölkerung zu verhindern. Zwischen 1900 und 1930 verzehnfachten sich die Ausgaben für öffentliche Gesundheit und in 1930 besuchten über 1,6 Millionen Indonesier eine staatliche Grund- oder weiterführende Schule.9 Zwar wuchs das Pro-Kopf-Einkommen der einheimischen Bevölkerung in den 1920er Jahren leicht, aber diese Verbesserung wurde durch eine höhere Steuerlast und eine schlechtere Einkommensverteilung wieder zunichte gemacht.10 Vor dem Hintergrund eines rapiden Bevölkerungswachstums erreichten Landgewinnung, Reispolitik, Irrigationsprojekte und Kreditmöglichkeiten nur eine relativ kleine Gruppe von bereits relativ gut situierten Bauern, aber nicht die Ärmeren.11 Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine lebendige historiographische Debatte darüber, was nun die Resultate der niederländischen Kolonialpolitik gewesen waren. Dabei prallten amerikanische Forscher auf ehemalige niederländische Kolonialbeamte. Während die Amerikaner den Holländern vorwarfen, viel zu wenig getan zu haben und deswegen für die Unterentwicklung des unabhängig gewordenen Indonesiens verantwortlich zu sein, verteidigten niederländische Experten noch immer vehement das Kolonialprojekt. Im Jahr 1952 warf George McKahin den Niederländern vor, viel zu wenig höhere Bildung für die indonesische Mittelschicht angeboten zu haben. 1961 reagierte I. J. Brugmans, der Beamter am kolonialen Bildungsministerium in Batavia gewesen war. Er betonte, dass die Niederländer einen genuinen Versuch gemacht hatten. Er schrieb: „Wenn also ein amerikanischer Autor wie Kahin von ,meager educational facilities provided by the Dutch‘, ,the pitifully small educational system‘ usw. spricht, dann hat er die Wirkung des Bildungssystems nicht verstan-

9

John S. Furnivall, Netherlands India. A Study of Plural Economy. Cambridge 1944, S. 363, 377.

10 Ann Booth, The Indonesian Economy in the Nineteenth and Twentieth Centuries. A History of Missed Opportunities, London 1998, S. 109, 155-156. 11 Peter Boomgaard, The Welfare Services in Indonsia, 1900-1942, in: Itinerario X/1 (1986), S. 79.

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den.“12 Das Buch „Bilanz der Amtsführung“ aus dem Jahr 1961 war eine generelle Verteidigung der kolonialen Entwicklungspolitik aus Sicht von ehemaligen Kolonialbeamten.13 Aus dieser Diskussion werden die Grenzen der kolonialen Modernisierungsbestrebungen deutlich, egal, ob es sich nun um ein gezieltes Unterengagement gehandelt hatte oder um eine schlichte Überforderung, weil die Niederlande als Kleinstaat über zu wenig Ressourcen verfügten, das große, südostasiatische Inselreich tatsächlich voranzubringen.

V ERMITTLUNGSSTRUKTUREN

UND KOLONIALE

M ODERNE

Zwischen kolonialer Moderne und einheimischer ,Tradition‘ standen Vermittlungsstrukturen, die so wichtig waren, dass Niederländisch-Indien später vom indonesischen Historiker Taufiq Abdullah als „Verkettungsgesellschaft“ bezeichnet wurde. Mediatoren, die Ost und West miteinander verketteten oder Akteure, die „dazwischen standen“ (Mal. perantara), waren die eigentlichen Überbringer der Moderne im kolonialen Indonesien. Ab Mitte der 1970er Jahre versuchten niederländische und indonesische Historiker, wieder zueinander zu finden und gemeinsam die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten. Auf der dritten Niederländisch-Indonesischen Historischen Konferenz in 1980 wurde das verbindende Thema der Verkettungsgesellschaft explizit aufgegriffen.14 Die niederländisch-indische Kolonialverwaltung war dualistisch aufgebaut, wobei ein westliches Korps von europäischen Beamten (Binnenlands Bestuur) einem einheimischen Korps (Inlandsch Bestuur) zur Seite gestellt zugleich übergeordnet worden war. Die einheimischen Beamten (priyayi) in der Kolonialverwaltung wurden westlich ausgebildet und hatten den Fortschrittsgedanken (Indon. kemajuan) in Teilen zumindest internalisiert, wobei sie noch immer Teil einer vorkolonialen patrimonialen Gesellschaftsstruktur waren. Gleichzeitig wurden das Gewohnheitsrecht (adat) und traditionelle Etiketten (hormat) angewandt.

12 Izaak J. Brugmans, Onderwijspolitik, in: C. Fasseur (Hg.), Geld en Geweten. En bundel opstellen over anderhalve eeuw Nederlands bestuur in de Indonesische archipel. Bd. 2: Het tijdvak tussen 1900-1942, Den Haag 1980, S. 187-202, hier S. 196. 13 Vgl. H. Baudet/I. J. Brugmans (Hg.), Balans van beleid. Terugblik op de laatste halve eeuw van Nederlandsch-Idië, Assen 1961. 14 G. Schutte/H. Sutherland (Hg.), Papers of the Dutch-Indonesian Historical Conference held at Lage Vuursche, Leiden u.a. 1982.

K OLONIALE W IRTSCHAFTSPOLITIK I N NIEDERLANDSCH-I NDIE

| 215

Priyayi mussten zwischen Dorf- und Distriktoberhäuptern auf der einen Seite und den westlichen Kolonialbeamten auf der anderen Seite vermitteln. Neben dem Auftritt von einheimischen Beamten in direkt unter niederländischer Hoheit stehenden Gebieten gab es in vielen Teilen Ostindiens Formen von indirekter Herrschaft, bei der einheimische Sultane nominell ihre Macht behielten, denen aber Kolonialvertreter "beratend" zur Seite gestellt wurden. Hier war ein besonders prekäres Vermittlungssystem der kolonialen Moderne am Werke. In den sogenannten Fürstenländern Zentraljavas, den Reichen Surakarta und Yogyakarta, standen holländischer Resident und javanischer Großwesir (patih) in direktem Austausch. Der herausragende Vermittler in beide Richtungen war jedoch der Dolmetscher, ein vielumfassendes Amt, das im 19. Jahrhundert lange Zeit in Händen der euro-asiatischen Familie Winter war.15

G EGENSTRÖME

GEGEN DIE KOLONIALE

M ODERNE

Der indonesische Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer hat seinem historischen Roman über die frühmodernen Begegnungen zwischen Europäern und Javanern aus dem Jahr 1979 den Titel „Arus Balik“ – Gegenstrom oder Rückfluss – gegeben.16 Diese Metapher hilft zu verstehen, welche Kräfte die koloniale Moderne in Indonesien hervorgerufen hat, die zu ihrem Scheitern als Kolonialprojekt, aber gleichzeitig zur Entstehung einer indonesischen Moderne geführt hat. Die indonesische Moderne bestand nicht so sehr in einer Verwerfung der Moderne an sich, sondern eher in einer eigenständigen Aneignung in Teilen, wobei westliche und einheimische Elemente in einer komplexen Kompositionsstruktur verwoben wurden. In der Kulturtheorie und den Afrikastudien wird dafür der französische Begriff „bricolage“ verwendet. Aber in der simplen Feststellung von Hybridität fehlt eine wichtige qualitative Komponente. Der linguistische Begriff Disambiguierung oder Auflösung der Mehrdeutigkeit führt da weiter und entspricht eher dem „arus balik“ Gedanken. Mein Argument ist, dass tatsächlich die indonesische Moderne nicht so sehr zwiespältig oder hybrid war, sondern einen ganz klaren Versuch darstellte, sich selbst aus einer Gegenbewegung gegen Kolonialität als eigenständig modern zu definieren. Während die materiell-technische Seite der kolonialen Moderne von der indonesischen Elite gerne angenommen und von der Seite der Bevölkerung meis-

15 Vincent Houben, Kraton and Kumpeni. Surakarta and Yogyakarta, 1830-1870, Leiden 1994, S. 118-136. 16 Pramoedya Ananta Toer, Arus Balik, Jakarta 1995.

216 | VINCENT HOUBEN

tens geduldet wurde, entstand auf der Ideenebene eine Gegenströmung, die weit über die Nationalismusbewegung hinausging. Die Zentralität der nationalen Emanzipationsbestrebung wird in der westlichen sowie indonesisch-staatszentrierten Historiographie in die Kolonialzeit rückprojiziert, verengt dabei aber das Wahrnehmungsfeld auf die spätkoloniale Gesellschaft. In meiner früheren Übersichtsgeschichte Indonesiens im 19. und 20. Jahrhundert habe ich das Kolonialverhältnis als einen Dialog, und teilweise einen Wettstreit, zwischen zwei Partnern aus verschiedenen Kulturen dargestellt.17 Aus meinen damaligen historischen Beispielen lassen sich verschiedene Muster der indonesischen Gegenströmung ableiten. Das erste Muster war ein politisch-intellektualistisches. Im Jahr 1913 schrieb der politische Aktivist Tjipto Mangoenkoesoemo ein Pamphlet anlässlich der Feier der 100-jährigen niederländischen Unabhängigkeit, worin er sich über die Ethische Politik beschwerte. Er warf der Kolonialmacht vor, so zu tun, als wolle sie den Einheimischen helfen wie ein Vater seinem Kind, dabei jedoch – unter dem Vorwand, es sei dafür noch nicht reif – unterbinden möchte, dass das Kind auf eigenen Beinen steht. Im Jahr 1928 schrieb der spätere Vize-Premier Mohamad Hatta, dass das Volk sich aus seinem Gefühl von Abhängigkeit befreien soll, indem es Nicht-Kooperation, im positiven Sinne von Selbsthilfe und Mobilisierung der eigenen Kräfte, anwenden soll.18 Das zweite Muster kam von unten (von den Subalternen) und bestand aus der zeitweisen Wiederaneignung von Räumen, die durch die koloniale Moderne geschaffen worden waren. Dabei ist an Aufruhr auf Plantagen, Streiks in Fabriken und Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen in den großen Kolonialstädten zu denken.19 Am Ende des Ersten Weltkrieges kam es 1918 und 1919 zu einer Streikwelle von Arbeitern in den meisten Städten auf der Insel Java. Sie waren unzufrieden, weil die Löhne nicht mit der damaligen Inflation und somit den stark steigenden Lebenskosten Schritt halten konnten. Es waren vor allem ausgebildete Arbeiter, die zuerst streikten. Ihre Haltung und ihr Organisationsgrad zeigten ein zunehmendes Selbst- sowie Gruppenbewusstsein. Ein zentraler Ort des Streiks war die nordjavanische Küstenstadt Semarang, wo die Anführer des Lokalbüros der ersten nationalistischen Massenbewegung, Sarekat Islam, sozialistisch orientiert

17 Vincent Houben, Van Kolonie tot Eenheitdsstaat. Indonesië in de negentiende en twintigste Eeuw, Leiden 1996. 18 Houben, Van Kolonie (wie Fn. 17), S. 82f., 95. 19 Vincent Houben, Representations of Modernity in Colonial Indonesia, in: ders./Schrempf (Hg.), Figurations (wie Fn. 2), S. 23-40.

K OLONIALE W IRTSCHAFTSPOLITIK I N NIEDERLANDSCH-I NDIE

| 217

waren.20 Die meisten Arbeitskonflikte traten in Javas Zuckerindustrie auf, dem Rückengrat der modernen Kolonialwirtschaft. Um 1910 gab es im Hinterland von Mittel- und Ost-Java mehr als 200 Zuckerfabriken, die meisten davon in der Nähe von Städten wie Surabaya und Madiun. Die Arbeiter lebten in Dörfern in unmittelbarer Fabriknähe. Auch hier kam es 1919 und 1920 zu Streiks, die von der Gewerkschaft Personal Fabrikbund (Personeel Fabrieksbond – PFB) koordiniert wurden. 1920 wurde in 72 von den 160 Fabriken, in denen es PFBMitglieder gab, gestreikt. Am besten organisiert waren jedoch die Eisenbahnarbeiter, die aber massiv von Sparmaßnahmen als Folge einer wirtschaftlichen Rezession in den Jahren 1921 bis 1923 betroffen waren. Mitte Mai 1923 streikte ein Fünftel aller Arbeitskräfte der Eisenbahnen auf Java.21 Die Europäer waren vom Umfang dieses Widerstandes überrascht und die Kolonialregierung unternahm drastische Maßnahmen, um sie zu unterdrücken. Das dritte Muster war religiös geprägt und bestand aus einer Ablehnung der kolonialen Moderne und dem Wunsch, eine islamische Ordnung wiederherzustellen, entweder vormodern (sowie in Aceh von unten) oder modern (auf Java von oben). Auf seiner Rundreise durch Nederlandsch-Indië im Jahr 1927 zeigte sich der niederländische General-Gouverneur De Graeff von der Haltung der Bevölkerung in Aceh betroffen: „Der Atjeher hasst uns, obwohl er sich unserer Übermacht beugt [...]. Man fühlt und sieht überall stille, feindliche Blicke und in manchen Gegenden wurde ich als ,kafé‘ (Ungläubiger) beschimpft, vor allem von heraneilenden Kindern. Der Hass ist leider bei Frauen noch stärker als bei den Männern.“22

Dahingegen versuchte eine modernistische muslimische Elite auf Java eine eigene, alternative Moderne aufzubauen. Die 1912 in Yogyakarta gegründete Bewegung Muhammadiyah (Muhammads Weg) konzentrierte sich auf Bildung und Wohlfahrt (Kliniken, Armen– und Waisenhäuser, Bibliotheken, Moscheen), bekam enormen Zulauf und breitete sich über die indonesischen Inseln aus. Muhammadiyah ist heute noch eine der größten Organisationen in Indonesien, was darauf hindeutet, dass diese sowie die beiden anderen, die als Gegenstrom gegen die koloniale Moderne entstanden, noch immer Bestand haben und sich in der indonesischen Moderne weiterentwickeln.

20 John Ingleson, In Search of Justice. Workers and Unions in Colonial Java, 1908-1926, Singapore 1986, S. 94-95, 101-102. 21 Ebd.: S. 155-156, 170, 228, 241. 22 Houben, Van Kolonie (wie Fn. 17), S. 100.

218 | VINCENT HOUBEN

K ONKLUSION Über die „anderen“ Modernen jenseits des Westens gibt es bereits eine umfangreiche theoretische Literatur, aber die Verbindung zur außereuropäischen Geschichte ist dennoch dürftig. Das niederländische koloniale Modernisierungsprojekt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war von inneren Begrenzungen, Transfers im Rahmen von Vermittlung sowie Einseitigkeiten gekennzeichnet. Diese wiederum riefen in der indigenen Gesellschaft eine Gegenströmung hervor, die in einer eigenständigen Moderne mündete. Somit wurde letztendlich das „Scheitern“ der kolonialen Moderne durch Widerstand und Kooptation zur Voraussetzung für die Entstehung einer neuen, indonesischen Moderne.

Föderalistische Reformprojekte in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie Eine gescheiterte Modernisierung H ANS P ETER H YE

„Die gewaltige Zunahme der Ausgaben in unseren Ländern, die gewaltige Zunahme der Ausgaben in unseren Stadtgemeinden und bis hinunter in die Dorfgemeinden – dies ist eine sehr erfreuliche Erscheinung, eine Erscheinung dafür, daß in Österreich endlich begonnen worden ist, im modernen Sinne die Verwaltung zu führen und zu verstehen; es ist der Ausdruck für die Zunahme der Tätigkeit in den Zweigen der Verwaltung, welche modern denkende Menschen vor allem als die Verwaltung des Staates bezeichnen. … Österreich … tritt in dieser Hinsicht [mit einer deutlichen Verspätung gegenüber dem europäischen Ausland (HPH)] erst seit dem Anfang der 1890er-Jahre mehr hervor und das heißt nichts anderes, als daß wir auch hier wieder die letzten sind.“1

1

Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrates, 4. Sitzung der XVIII. Session am 27. Juni 1907, S. 126. Nachfolgende Ausführungen beruhen auf folgenden älteren Studien des Autors: Strukturen und Probleme der Landeshaushalte, in: H. Rumpler/P. Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848– 1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, S. 1545–1592; Die Länder im Gefüge der Habsburgermonarchie, in: ebd. S. 2427–2464; Vereine und politische Mobilisierung in Österreich, in: ebd., Bd. VIII: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Wien 2006, S. 145–226; Technologie und sozialer Wandel, in: ebd. Bd. IX: Soziale Strukturen, Wien 2010, S. 15–65; Die „Länderkonferenz“ (1905– 1907) – Ein Versuch gemeinsamer politischer Willensfindung der politischen Eliten der Länder, in: ÚstĜední moc a regionální samospráva [Zentralmacht und regionale

220 | H ANS P ETER HYE

Diese Feststellung des hinsichtlich der zeitgenössischen Verwaltungstheorie überaus kompetenten Abgeordneten Josef Redlich2 aus dem Jahr 1907 enthält zumindest vier bemerkenswerte Aspekte: Zunächst verweist sie auf einen – „sehr erfreulichen“, also höchst positiv bewerteten – politischen Paradigmenwechsel in den Jahren um 1890. Zweitens fiel diese Äußerung zu einem Zeitpunkt, als die damit verbundene Finanzierbarkeit der Ausweitung und Intensivierung der bürgernahen öffentlichen Verwaltung scheinbar an ihre äußerste Grenze gestoßen war. Es bestand also Handlungsbedarf. Wie weit konnten die zusätzlich erforderlichen Mittel innerhalb des gegebenen politisch-institutionellen Rahmens aufgebracht werden und wie weit erforderte ein Mehrbedarf einen informellen oder formellen Strukturwandel? Denn – drittens – schon allein das moralische Postulat „modern“ rechtfertigte diesen Paradigmenwechsel (und die damit verbundenen Kosten), zumal – viertens – im Vergleich zum Ausland ohnehin eine Rückständigkeit konstatiert werden musste. Tatsächlich wandelte sich die habsburgische Doppelmonarchie und insbesondere ihre cisleithanische (=österreichische) Reichshälfte, von der in der Folge ausschließlich die Rede sein wird, in den Jahrzehnten vor 1914 ihrem Wesen nach von einem traditionellen „fiscal-military state“ hin zu einem „zivilen Interventionsstaat“; zu einem Staat also, dessen Ausgabenschwerpunkt sich immer stärker in den nichtmilitärischen Bereich verlagerte. Wie nachstehende Tabelle verdeutlicht, zielte dieser zwischen 1870 und 1910 – soweit es die Bedienung der Staatsschulden zuließ – ganz eindeutig in Richtung „modernster“ Kommunikationstechnologien, also Post und Telegraphie, Eisenbahnen und Hafenausbauten. Die damit einhergehenden positiven volkswirtschaftlichen Effekte waren dann wohl mit ausschlaggebend dafür, dass die Staatseinnahmen (Steuern, Erträge aus Monopolen und Unternehmungen) kräftig anstiegen.

Selbstverwaltung] = XXIII. Mikulovské Sympozium, Brno 1995, S. 281-289; Ein politischer Preis des allgemeinen und länder- bzw. Wahlbezirksweise gleichen Männerwahlrechts zum Abgeordnetenhaus – die „lex StarzyĔski“; in: K. Kaiserová (Hg.), ýechy a Sasko v PromČnách DČjin [Böhmen und Sachsen im Wandel der Geschichte], Ústí nad Labem 1993, S. 181–226. 2

Zu seiner Person: F. Fellner/D. A. Corradini (Hg.), Schicksalsjahre Österreichs: Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936, 3 Bde. Wien u.a. 2011.

F ÖDERALISTISCHE R EFORMPROJEKTE

IN DER

H ABSBURGERMONARCHIE

| 221

Tabelle: Cisleithanien am budgetären Weg vom fiscal-military-state zum „zivilen“ Interventionsstaat (Angaben in Mio. fl.)3 Jahr

1870

1875

1880

1885

1890

1895

fl1902 fl1910

Ausgaben

320,7 381,4 423,5 520,2 546,3 644,5 844,6

1390,4

Einnahmen

317,2 373,1 398,3 505,0 548,8 644,5 845,1

1363,9

Gemeins. Angelegenheiten

66,5

76,3

79,6

89,4

99,8

113,0 131,7

175,1

Landesverteidigung

7,3

8,4

8,3

9,5

16,9

21,0

49,4

Handel

15,2

23,3

23,2

85,8

78,8

124,0 65,2

112,0

Eisenbahn

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

121,3

367,8

Staatsschuld gesamt

99,9

91,4

113,7 120,5 148,6 163,9 177,0

238,8

Gemeinsame Schuld

99,9

90,2

95,7

94,9

96,8

98,9

94,6

88,5

Reichratsschuld

0,0

1,3

17,9

25,6

51,9

65,0

82,4

150,3

30,4

%-Anteile Fiscal-military/Ausgaben

54,1

45,8

43,4

37,3

39,1

36,1

30,4

22,5

Fiscal-military/Einnahmen

54,7

46,9

46,1

38,4

38,9

36,1

30,4

22,9

Handel+Eisenb./Ausgaben

4,7

6,1

5,5

16,5

14,4

19,2

22,1

34,5

Handel+Eisenb./Einnahmen 4,8

6,3

5,8

17,0

14,4

19,2

22,1

35,2

Eisenbahn

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

14,4

26,5

Reichratsschuld/Ausgaben

0,0

0,3

4,2

4,9

9,5

10,1

9,8

10,8

Reichratsschuld/Einnahmen 0,0

0,3

4,5

5,1

9,5

10,1

9,7

11,0

Quellen: Finanzgesetze RGBl. 52/1870; 147/1874, 53/1880, 28/1885, 83/1890, 107/1895, 109/1902, 122/1910; eigene Berechnungen. Da nach 1897 nur noch vier ordentliche Budgets verabschiedet wurden (für die Jahre 1902, 1908, 1909, 1910), scheinen in der Tabelle nur die Jahre 1902 und 1910 auf.

3

Zum Aufwand für den fiscal-military-state werden hier gezählt die Ausgaben für die „Gemeinsamen [österreichisch-ungarischen] Angelegenheiten“, die nahezu vollständig an die gemeinsame Armee und Marine gingen, dann jene für die cisleithanische Landwehr und für die Bedienung der „Gemeinsamen Schuld“, die z.T. noch aus den Napoleonischen Kriegen stammte. Zum „Zivilbereich“ werden gerechnet die Ausgaben für Infrastruktur (Post, Telegraphie, Eisenbahnen, Hafenausbau), für die das Handelsministerium zuständig war, sowie zur Bedienung der (neuen) Cisleithanien betreffenden „Reichsratsschuld“.

222 | H ANS P ETER HYE

Etwa um 1890 war der Zeitpunkt erreicht, ab dem aufgrund einer zuvor verfolgten, eng mit dem Namen des Finanzministers Julian Dunajewski verbundenen Austerity-Politik4 ausgeglichene Budgets erzielt werden konnten. Bescheiden nehmen sich dagegen die Ausgaben für das Bildungswesen (v.a. Universitäten, Hoch- und mittlere Schulen) aus, Gesundheit und soziale Transferleistungen spielen dagegen überhaupt keine Rolle.5 Der Bereich der „bürgernahen Verwaltung“ lag ansonsten in den Kompetenzen der autonomen Verwaltungen, also vor allem der Länder und Gemeinden; bereits in den 1880er-Jahren übertraf deren diesbezüglicher Aufwand die staatlichen deutlich6, wenngleich die zur Verfügung stehenden Mittel vorerst noch überaus gering waren. Und dabei machten die Bereiche „Sanitäts- und Humanitätswesen“, „Kultus, Unterricht, Kunst und Wissenschaft“, „Verkehrs- und öffentliches Bauwesen“ neben der Bedienung der Landesschulden stets den größten Anteil der Ausgaben aus. An dieser Stelle sind einige Anmerkungen zum cisleithanischen „Föderalismus“ einzuschieben. Zunächst: Die innere verfassungsmäßige Einrichtung der insgesamt 17 Kronländer erfolgte 18617 nach einem recht einheitlichen Muster. Viel mehr als die Landesbezeichnung ist ihnen von ihrer einstigen „historischen Individualität“ nicht geblieben. Ihre Landesvertretungen standen nicht mehr dem jeweiligen Landesfürsten sondern nunmehr dem österreichischen Kaiser und dessen Reichsregierung gegenüber, der die Repräsentanten der politischen Landesverwaltung (zumeist die Statthalter) unmittelbar unterstellt waren. Die Steuerhoheit dieses „dezentralisierten Einheitsstaates“8 lag nahezu ausschließlich bei diesem; Länder und Gemeinden waren nur zur Einhebung indirekter Abgaben und von Zuschlägen zu den direkten staatlichen Steuern berechtigt, die – im Falle der letzteren ab einer bestimmten Höhe – in Abstimmung mit der Zentralre-

4

Vgl. William A. Jenks, Austria under the Iron Ring 1879–1893, Charlottesville, Va. 1965; vgl. zum Strukturwandel der Haushalte europäischer Staaten im 19. Jh.: J. L. Cardoso/P. Lains (Hg.), Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in Nineteenth-Century Europe, Cambridge u.a. 2010.

5

Eine gute Übersicht gibt Hans Patzauer, Österreichs und Ungarns Staatswirtschaften,

6

Vgl. Ernst Mischler, Der öffentliche Haushalt in Böhmen. Ein Beitrag zur Kenntnis

Wien 1916. und Beurtheilung des Finanzwesens der Selbstverwaltung in Oesterreich, LeipzigWien 1887, S. 189–193. 7

Durch das sog. Februarpatent RGBl. 20/1861.

8

Josef Ulbrich, Die rechtliche Natur der österreichisch-ungarischen Monarchie, Prag 1879, S. 63f.

F ÖDERALISTISCHE R EFORMPROJEKTE

IN DER

H ABSBURGERMONARCHIE

| 223

gierung landesgesetzlich ausgeschrieben werden mussten. Dadurch und ausgestattet mit gewissen Kontrollrechten gegenüber untergeordneten öffentlichen Selbstverwaltungskörpern (v.a. Gemeinden) waren die Länder zwar „Kommunalverbände höchster Ordnung“, doch lässt sich namentlich in den frühen Jahren nach 1861 nur schwer ausmachen, ob die Landtage nicht eher weisungsabhängige Gremien der Zentralregierung gewesen sind – dies insbesondere auch deshalb, weil Eigentums- und Kompetenzaufteilung zwischen Staat und Land bzw. zwischen staatlicher und Landesexekutive sich nie scharf trennen ließen. Zudem wiesen die Landesordnungen den Landtagen eine Reihe von Aufgaben zu, die in Form von „obligatorischen Ausgaben“ einen großen Teil der spärlich vorhandenen Mittel banden und die autonomen Freiräume beschränkten. Dem in den Landesordnungen ausgesprochenen Verbot, dass weder ein Landtag noch ein Landesausschuss mit einem anderen Landtag „in Verkehr treten“ dürfe, kam in der Praxis zwar kaum eine Bedeutung zu, aus ihm spricht aber immerhin auch ein nicht geringer bevormundender Geist. Freilich – diese Regelungen entsprangen einer überaus dringlichen Notwendigkeit: Nach der Niederlage im Krieg gegen Frankreich und Piemont (1859) hing der Fortbestand der Habsburgermonarchie von ihrer raschen und glaubwürdigen Konstitutionalisierung ab9. Staatsanleihen ließen sich am Finanzmarkt nur mehr begeben, wenn sie parlamentarisch besichert waren. Nur unter dem Druck dieser obwaltenden Verhältnisse war der Kaiser bereit, einen Teil der von ihm beanspruchten absoluten Souveränität an eine parlamentarische Repräsentation abzugeben, der deshalb möglichst wenig Autorität zufallen durfte. Der österreichische Reichsrat (bzw. genau gesagt dessen Abgeordnetenhaus) sollte daher (bis 1873) nicht aus einer „Volkswahl“ hervorgehen, sondern von den Landtagen beschickt werden. Und eben diese Entsendung war in den ersten Jahren nach 1861 die vornehmste und – aus Regierungsperspektive – dringlichste Aufgabe der – zunächst mit ansonsten überaus bescheidenen Kompetenzen ausgestatteten – Landtage. Damit (und vor allem auch mit der durch den „Ausgleich“ von 1867 geschaffenen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie) war zwar das Überleben der Habsburgermonarchie als fiscal-military-state einigermaßen gewährleistet; ihre sozioökonomische Basis war zu dieser Zeit allerdings bereits sozialen und institutionellen Wandlungsprozessen unterworfen, die schlussendlich nicht nur eine Änderung der Realverfassung erzwingen sollten, sondern auch eine breite Diskussion zu Fragen der Wahrnehmung, Bewältigung und Bewertung

9

Vgl. Harm-Hinrich Brand, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, Göttingen 1978.

224 | H ANS P ETER HYE

von Tradition, Wandel und „Fortschritt“ – gewissermaßen also eine Art Modernediskurs. Einige für unseren Zusammenhang wichtige Prozesse des Wandels seien hier kurz erwähnt. Zunächst das Ende der Patrimonialherrschaft als wichtigste bleibende „Errungenschaft“ des Jahres 1848: Dieses war wohl einer der nachhaltigsten institutionellen Eingriffe auf die traditionelle Sozialordnung. Folge war die partielle Verstaatung der Lokalverwaltung, die den rechtlich-institutionell neu geschaffenen Gemeinden z.T. übertragen wurde. Diese hatten sich mit den allmählich spürbaren Auswirkungen des demographischen Übergangs10 auseinanderzusetzen, der die Habsburgermonarchie dank allmählich sinkender Sterblichkeitszahlen in den Jahrzehnten zuvor (in regional unterschiedlichem Ausmaß) erfasst hatte. Das beschleunigte Bevölkerungswachstum betraf nahezu ausschließlich jene Gemeinden, die nach der Jahrhundertmitte aufgrund ihrer Einbindung in die entstehenden überregionalen Verkehrs- und Kommunikationsnetze wirtschaftlich aufblühten und daher (vorübergehende) Ziele regionaler und überregionaler Migrationen wurden. Für diese – gemessen an der Gesamtanzahl der Gemeinden – vergleichsweise wenigen, rasch an Bevölkerung zunehmenden Zentralorte und (neuen) industriellen Ballungsgebiete11 bedeutete das allerdings auch, dass die Bereitstellung öffentlicher Güter und verschiedene den Alltag reglementierende Maßnahmen zu einer nahezu existenziellen Notwendigkeit wurden, die die vom Geist des laissez faire geprägten Bürgergemeinden nicht mehr aufbringen konnten.12 Mit einem sich so ausweitenden Angebot, das von der Trinkwasserversorgung über das Kanalnetz bis hin zur elektrischen Straßenbeleuchtung und Straßenbahn reichen konnte, Hygiene und Sicherheit zu garantieren versuchte und damit die Lebensqualität verbesserte, steigerte sich nicht nur die Attraktivität sondern natürlich auch der kommunale Finanz- und Kreditbedarf. Aber auch die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen aller Art – von lebensnotwendigen Produkten bis zu Luxusartikeln, von Ausbildung, medizinischer Versorgung bis zur Beratung und Unterstützung in rechtlichen Angelegenheiten wuchs an. Nicht zuletzt diese Nachfrage förderte die Entstehung einer

10 Vgl. Heinz Fassmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, in: P. Rumpler/Urbanitsch (Hg.), Habsburgermonarchie, Bd. 9, S. 159–184 (wie Fn. 1). 11 Noch 1910 lebten knapp 73% der Gesamtbevölkerung in Ortschaften mit weniger als 5.000 Einwohnern und nur 17% in solchen mit mehr als 20.000. Vgl. Renate BanikSchweitzer, Der Prozess der Urbanisierung, in ebd. S. 185–232, hier S. 190. 12 Vgl. die Beiträge in: P. Urbanitsch/H. Stekl (Hg.), Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862–1914, Wien u.a. 2000.

F ÖDERALISTISCHE R EFORMPROJEKTE

IN DER

H ABSBURGERMONARCHIE

| 225

neuen städtischen Mittelschicht aus u.a. Freiberuflern, Lehrern, Zeitungsherausgebern und Journalisten, Dienstleistungsanbietern, Privatangestellten und gewerblichen Produzenten neuer Produkte und deren Händlern. Was die Angehörigen dieser Gruppe verband, waren ihre ähnlichen neuen Ausbildungspfade und ihre soziale Distanz einerseits zu den „alten“ großbürgerlich-liberalen bzw. aristokratischen Eliten und zum ständisch-altstädtischen Bürgertum einerseits, sowie zur „bedrohlichen“ Masse der städtischen Unterschichten andererseits. Abgeschnitten von allen ländlichen bzw. (berufs-)ständischen (und betreffend die vielen Zuwanderer auch lokalen) Traditionen, entwickelten diese neuen städtischen Mittelschichten der (wenigen) aufstrebenden städtischen Zentralorte – zunächst auf lokaler Ebene – ein rasch wachsendes Selbstbewusstsein und „erfanden“ mit den nationalen auch eigene neue – Traditionen. Aus der überregionalen Verschmelzung der lokalen Mittelschichten sollten dann die neuen, lautstarken – nicht selten auch populistischen – politischen Bewegungen entstehen, die im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende die Dominanz der altliberalen Honoratioreneliten endgültig brachen – und dies insbesondere auch auf der kommunalen und der Landesebene. Dabei ging es im Kern durchaus auch um die Konfliktlinie zwischen öffentlicher Intervention oder privat-freiwilliger Selbstorganisation der alltäglichen Herausforderungen. Sollten bzw. konnten also beispielsweise Krankenhausbau und Wasserversorgung weiterhin der privaten Initiative überlassen werden? Ließ sich ein Schlachthauszwang mit dem altliberalen Ideal der Eigenverantwortlichkeit in Übereinstimmung bringen? Konnte der Bau und Betrieb von Eisenbahnen weiterhin privaten Konsortien überlassen bleiben? Sollten Gasversorgung und Straßenbahn kommunalisiert und damit also unter öffentliche Kontrolle gestellt werden? Im Hintergrund dieser politischen Diskurse stand die Notwendigkeit, die alltägliche Lebensweise in einer Richtung zu ändern, von der das Überleben in den wachsenden Ballungsgebieten buchstäblich abhängig war. Die in diesem Zusammenhang – gerade auch wieder innerhalb der neuen Mittelschicht geführten Diskurse betrafen Hygiene und Lebensgestaltung, Impfwesen, das „Ideal“ der mittelständischen Kleinfamilie mit seiner Rollenteilung und gingen bis hin zur Lebensreformbewegung. Ihnen war zu einem großen Teil mit zu verdanken, dass TBC, Cholera und Pocken unter relative Kontrolle gebracht werden konnten, und dass auch eine „Domestizierung“ zumindest von großen Teilen der städtischen Unterschichten gelang. Diese ergänzten sich ihrerseits laufend durch Arbeitsmigranten, von denen viele unmittelbar aus dem ländlichen Milieu stammten, oft eine andere – fremde – Sprache verwendeten, wenig mit „städtischzivilisierten“ Lebensformen vertraut, aber gezwungen waren, öffentliche Plätze zu besetzen und damit für erhebliche Irritationen zu sorgen. Sozialdisziplinie-

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rende Zwangsmaßnahmen, wie die Schulpflicht, aber auch Verbote von Tanzveranstaltungen, polizeiliche Überwachung, Versuche zur Einschränkung der Landstreicherei und des Alkoholkonsums etc. erschienen hier als probate Mittel. Wie weit diese zur andauernden Senkung der Geburtenrate und damit der zweiten Phase des demographischen Wandels beigetragen haben, kann hier nicht näher untersucht werden. Sicher ist aber, dass die mit diesen Maßnahmen verbundenen Diskurse ihren Niederschlag in den Programmen aller „neuen“ politischen („Massen“-)Bewegungen – auch der Sozialdemokraten – gefunden haben, für die die obrigkeitliche Intervention in den Alltag damit zur notwendigen Selbstverständlichkeit wurde. Und noch mehr: Intervention war nicht nur als sozialdisziplinierende Maßnahme zu verstehen, sondern auch als Angebot ideeller und vor allem auch materieller Anreize, die selbstverständlich auch öffentlich zu finanzieren und zu verwalten waren. Es kann nicht oft genug unterstrichen werden, dass solche Fragestellungen lediglich die Diskurse innerhalb der aufstrebenden und wohlhabender werdenden Gemeinden dominierten, während die Peripherie – wenn überhaupt – nur negativ davon betroffen war: Falls nicht durch eine (touristische) Marktlücke ausgleichbar, bedeutete die entstehende Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft hier Sinken der Einwohnerzahl, Abwanderung gerade der jungen, kräftigen und risikobereiten Menschen, Ausdünnung und allmählich einsetzende Erhöhung des Durchschnittsalters der Zurückbleibenden, denen es allmählich sogar schwerer fallen musste, die eigenen Traditionen zu pflegen. Sehr zur Enttäuschung der national bewegten Städter, die auf dem flachen Land ihre „historischen Wurzeln“ suchten, verhielt sich die dortige Bevölkerung den neuen Ideen gegenüber höchst indifferent und verständnislos.13 Vielerorts sollte es auch großer Anstrengungen bedürfen, um zumindest ein elementares Schulwesen durchsetzen zu können. Kurzum: Das ländliche Milieu musste in den Augen der mittelständischen Städter als rückständig, als auf einer niedrigeren Kultur- und Zivilisationsstufe stehend erscheinen – wiewohl dessen (imaginierte) „Ursprünglichkeit“ auch gewisse Verlockungen für manch einen zivilisationsmüden bürgerlichen Sprössling bedeuten konnte. Wie erwähnt, gehörte nahezu der gesamte Bereich der bürgernahen Verwaltung (zumindest vom Aufwand her) in die Kompetenz der Selbstverwaltungskörper innerhalb der einzelnen Länder. Neben Landtagen und Gemeinden konnte es (länderweise höchst unterschiedlich) auch Bezirks-, Schul-, Straßenbaugemeinden und ähnliche mehr geben, die zusammenwirkend oder einander ergän-

13 Vgl. Pieter M. Judson, Guardians of the nation. Activists on the language frontiers of imperial Austria, Cambridge 2006.

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zend die dafür erforderlichen öffentlichen Güter zur Verfügung stellen sollten. Hierzu gehörten u.a. der Feuer-, Wasser- und Katastrophenschutz – angesichts regelmäßig wiederkehrender Hochwasserereignisse überaus kostenintensiv – sowie das Elementarschulwesen, also Bau, Erhaltung und Betrieb von Schulen und Unterricht. Zur Finanzierung dieser und anderer zum Teil überaus kostenintensiver Aufgaben standen letztlich vier Quellen zu Verfügung: direkte Steuern, indirekte Abgaben, Erträge und Gebühren aus eigenen Unternehmungen und Veränderungen des (jeweiligen) Stammvermögens. Durch die faktisch damit verbundene Oberaufsicht des Landtages wird die bereits erwähnte Charakterisierung des Landes als „Kommunalverband höchster Ordnung“ plastisch greifbar. Gerade im Wesen der direkten Besteuerung trat nun ein Spezifikum des habsburgischen Föderalismus zu Tage, nämlich dass dieser überaus zentralistisch geregelt war. Der Gesamtstaatshaushalt speiste sich nicht aus den Matrikularbeiträgen der die direkten Steuern einhebenden Länder. Vielmehr hatte der (cisleithanische) Gesamtstaat das Steuermonopol inne. Wie erwähnt waren die Selbstverwaltungskörper lediglich berechtigt, Zuschläge auf die direkten staatlichen Steuern einzuheben, wobei diese ab einer bestimmten Höhe (zumeist 10%) einer landesgesetzlichen Bewilligung bedurften. Nämliches gilt auch für die Festlegung der indirekten Abgaben – zumeist in Form von Verbrauchs- oder Produktionsbesteuerung – und insbesondere auch für die Vermögensveränderungen, insbesondere im Fall von Kreditaufnahmen. Angesichts des Umstandes, dass bis kurz vor der Jahrhundertwende der Besitz von Grund und Boden bzw. Häusern und nicht von beweglichem Vermögen das Objekt der Direktsteuern war, sollten sich deren Erträge nicht nur als überaus unelastisch erweisen.14 Durch die Steuerzuschläge, die in Summe nicht selten deutlich mehr als 100% ausmachen konnten, wurden vor allem Immobilienbesitzer und (indirekt) Mieter unverhältnismäßig belastet. Bei den Konsumsteuern (v.a. Branntwein, Bier, Zucker, Fleisch und Schlachtvieh, Wein und Most, aber auch bereits Mineralöl) standen Staat, Länder und Gemeinden in einer gewissen Konkurrenz zueinander. Wird ein Produkt sowohl mit einer Staats- als auch einer Landes- und einer Gemeindeabgabe belastet, muss dessen Preis unverhältnismäßig steigen, was letztlich die Nachfrage bremsen und damit die Erträge deckeln muss. Zudem konnte es auch dann zu einer steuerlichen Konkurrenzsituation kommen, wenn Erzeugung und Konsum eines Produkts in unterschiedlichen Ländern erfolgten.

14 Kritisch hierzu Adolf Beer, Der Staatshaushalt Oesterreich-Ungarns seit 1868, Prag 1881.

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Bis in die 90er-Jahre sollte die Besteuerung den wichtigsten Einnahmeposten der autonomen Haushalte insgesamt ausmachen, hinzuzuzählen wären allfällig noch die in einzelnen Ländern separat zu entrichtenden Schulgebühren. Dennoch sollte es sich bereits um diese Zeit deutlich erweisen, dass die Haushalte mehr und mehr negativ abschlossen und die fehlenden Mittel aus Rücklagen oder sonstigen Veräußerungen beigebracht werden mussten. Da der Bedarf insbesondere für das Schulwesen, dann für Sanitäts- und Humanitätszwecke stärker anstieg als die im Vergleich zum Bedarf wenig elastischen Einnahmen, und da vor allem die Notwendigkeit von Infrastrukturmaßnahmen und deren Finanzierung durch außerordentliche Einnahmen allgemein anerkannt wurde, erschien es naheliegend, sich insbesondere für den Investitionsaufwand um Kredite zu bemühen (was angesichts des gleichzeitigen staatlichen Kreditbedarfs zwar ebenfalls nicht immer einfach war, aufgrund der zu diesem Zeitpunkt erreichten Währungsstabilisierung aber „billiger“ wurde). Abgesehen davon, dass noch eingehender geprüft werden müsste, wie weit den Investitionen tatsächliche „Nutzenerwartungen“ und wie weit ihnen solche eines neuen politischen Verständnisses zugrunde lagen – wie weit also dadurch die jeweilige Klientel kurzfristig zufriedengestellt werden konnte – war die Inanspruchnahme des Kredits in diesen Fällen natürlich naheliegend, weil dieser aus den (erwarteten) Mehrerträgen ohne große Probleme bedient werden konnte. Der rasch wachsende Mehrbedarf bei wenig elastischen Bedeckungsmöglichkeiten, die vergleichsweise wesentlich größere Bereitschaft, öffentliche Investitionen kreditfinanziert zu tätigen, die die neue Politikergeneration auszeichnete, die v.a. in den wichtigen Kernländern die Landtage zu dominieren begann, deren „naturgegebener“ Hang zu politischer Lizitation bzw. zu „Kompensationsforderungen“ für die eigene Wählerklientel (die den so „erfolgreichen“ Akteuren die Türen zu einflussreichen und vor allem auch einträglichen Ämtern weit öffnen konnte), sowie auch überaus mangelhafte Kontrollmechanismen hinsichtlich der Haushaltsgebarungen – all diese Faktoren waren dafür ausschlaggebend, dass sich ein Großteil der Länder in den Jahren nach 1900 in einer kaum entrinnbaren Schuldenfalle gefangen sah. Allen voran gilt das für Böhmen, das eigentlich sowohl hinsichtlich seiner agrarischen als auch seiner industriell-gewerblichen Produktion als das wohlhabendste (und am weitesten „entwickelte“) österreichische Kronland gilt. 1907 lukrierte es Einnahmen im Ausmaß von gut 70 Mio. Kronen, musste für die ordentlichen Ausgaben aber knapp 86,8 Mio. Kr. aufbringen. Damit vermehrte sich der bis dahin angewachsene Schuldenberg um 16,8 auf insgesamt 147,8 Mio. Kr. (1908). Der größte Teil dieses Schuldenbergs (118,5 Mio. Kr., d. s. mehr als 80% der Gesamtverschuldung) war auf Abgänge im ordentlichen Haushalt zurückzuführen,

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was letztlich nicht nur bedeuten musste, dass sich – abgesehen vom überproportional anwachsenden Aufwand für den Schuldendienst – der Investitionsspielraum rasch einschränkte. Eine solche Budget-„Politik“ drohte auch, die Gläubiger zu „ersticken“, vor allem dann, wenn diese/r – wie im Falle Böhmens – die eigene Landesbank war, die zumindest hinsichtlich ihrer eigentlichen Aufgaben als Kreditinstitut für die Wirtschaft im Lande, wenn nicht gar gegenüber ihren (institutionellen) Einlegern in Liquiditätsschwierigkeiten zu geraten drohte. Dramatisch, wenn auch nicht ganz in diesem Ausmaße, spitzte sich die Situation auch in Mähren, Istrien, Krain und Oberösterreich zu. Niederösterreich (mit und wohl auch dank der ihm zugehörigen Reichshaupt- und Residenzstadt Wien) bilanzierte dagegen vergleichsweise ausgeglichen – Kredite waren in allererster Linie zu Investitionszwecken aufgenommen worden. Es entstand aber ein rasch anwachsender Handlungsbedarf und damit ein Bündel an politischen Problemen: Eine nachhaltige und spürbare Reduktion der Ausgaben war nur in jenen Bereichen möglich, die gleichzeitig zumindest zum Teil der Festigung der Klientelbindungen und „Wählertreue“ dienten, das allerdings bei steigendem Bedarf für die „obligatorischen Ausgaben“, wie Elementarschulwesen und Schuldendienst. Damit wäre aber die Stellung der neuen politischen Eliten in den Ländern schwer erschüttert worden. Einnahmenseitig standen unmittelbar aber auch keine dauerhaft gangbaren Alternativen zur Verfügung: Das Steuer- und Abgabenpotenzial schien weitestgehend ausgeschöpft zu sein, weitere Kreditaufnahmen mussten die Lage zumindest mittelfristig nur noch verschlimmern. Realistisch erschien daher nur die Forderung an den Staat, er möge den Ertrag der einen oder anderen besonders einträglichen (staatlichen) Steuer an die Länder überweisen. Stellt man nun den Gesamtaufwand aller Länder jenem des (cisleithanischen) Staates gegenüber, war dies nicht gänzlich abwegig: 1892 machte ersterer gerade einmal 11,15% des Staatsaufwandes aus, 1902 waren es auch nur 11,6%. Auch wenn der Aufwand für die Autonomie der Gemeinden und anderen Körper einbezogen wird, wäre eine solche Überlassung im Staatshaushalt weit weniger spürbar gewesen als hinsichtlich der positiven Effekte auf die Landeshaushalte, zumal der Staat ja weitestgehend seit den späten 1880-er-Jahren ausgeglichen budgetierte. Erscheint dies in den (noch vergleichsweise finanziell entspannten) Zeiten um 1890 bestenfalls als theoretisches Denkmodell, so wurde dieser Weg eineinhalb Jahrzehnte später durchaus mit Aussicht auf Erfolg beschritten. Der sich in dieser Zeitspanne ereignende Wandel der Realverfassung – insbesondere hinsichtlich des wechselseitigen Verhältnisses von Staat und Ländern – ist daher an dieser Stelle kurz zu skizzieren.

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Zunächst: Um 1890 setzten sich sowohl das Abgeordnetenhaus (als Zentralparlament des cisleithanischen Staates) als auch die Landtage nach dem Prinzip der neoständischen Interessenvertretung aus den Kurien der Großgrundbesitzer, der Städte und Industrialorte und der „Landgemeinden“ zusammen, wobei sich insbesondere innerhalb der beiden letztgenannten Kurien der „neue Mittelstand“ mehr und mehr durchsetzte. Dieser stellte vielfach auch die Vertreter der Nationalparteien, die das parlamentarische Leben zuweilen in z.T. heftiger Auseinandersetzung zunächst mit den „alten Eliten“ und dann vor allem miteinander prägten. Ab den frühen 1890er-Jahren zeichnete sich nun eine immer deutlichere Bewegung in Richtung allgemeines (und dann auch gleiches) Männerwahlrecht für das Abgeordnetenhaus ab – zum Teil auch unter dem Druck der erstarkenden Arbeiterbewegung. Demgegenüber galten solche Entwicklungen für die Landtage expressis verbis bis 1914 als weitgehend ausgeschlossen. Sie blieben Kurienlandtage – wenngleich das Wahlrecht fallweise ausgeweitet werden konnte. Von der Ausweitung des Wahlrechts erhoffte man sich seitens der Regierung insbesondere seit den Jahren nach 1900 vor allem auch eine Möglichkeit, den Zwist unter den (neuen) bürgerlichen Nationalparteien neutralisieren zu können, der die parlamentarische Tätigkeit und Gesetzgebung seit 1897 lahmgelegt hatte.15 Die zum Teil auch gewaltsame Obstruktion hatte damals phasenweise jegliche gesamtstaatliche Gesetzgebung unterbunden und die (sich zuweilen rasch abwechselnden) Regierungen vielfach zur Anwendung des problematischen „Notverordnungsrechts“ – also der provisorischen Gesetzgebung im Verordnungswege – gezwungen.16 Einem aus dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht hervorgehenden (funktionierenden) Zentralparlament würde – als wirklicher zentraler Repräsentation der männlichen Bevölkerung – zweifellos eine erhöhte legislative Autorität zufallen. Damit wäre auch eine Festigung und Zentralisierung des Gesamtstaates verbunden gewesen. Es drohte also diese mit der Abkehr von der traditionellen (neo-)ständischen Tradition verbundene (und im europäischen Vergleich spät erfolgte) Neuerung die Stellung der Landtage und der diese dominierenden politischen Eliten der Länder zu unterminieren. Das galt umso mehr, als damit auch eine Schwächung der nationalen Bewegungen und Parteien verbunden ge-

15 Vgl. Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer, 2 Bde., Graz u.a. 1960 und 1965. 16 Vgl. Gernot D. Hasiba, Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848–1917). Notwendigkeit und Mißbrauch eines „staatserhaltenden Instrumentes“, Wien 1985.

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wesen wäre, die die traditionelle Landesautonomie in Konzeptionen von „nationaler Autonomie“ zu transferieren suchten. Gewissermaßen entstand damit den miteinander zerstrittenen nationalen Führungseliten ein neuer gemeinsamer Gegner. Sofern sie in den Landtagen den Ton angaben, fanden die Repräsentanten der Ländereliten in den Jahren ab 1897 allerdings eine Reihe weiterer Gelegenheiten vor, politische Gemeinsamkeiten zu entdecken: Wie erwähnt, standen sie bei der Landesgesetzgebung dem Kaiser und der gemeinsamen (cisleithanischen) Regierung gegenüber. Als kaiserlich sanktionierte Gesetze waren Landesgesetze Reichsgesetze mit auf das jeweilige Land begrenzter Gültigkeit. Eine koordinierte Gesetzgebung der Länder (und ihrer funktionierenden Landtage) konnte somit zumindest theoretisch dann an die Stelle einer gesamtstaatlichen Gesetzgebung treten, wenn – wie eben in den Jahren ab 1897, als das Abgeordnetenhaus funktionsuntüchtig war – letztere nicht funktionierte. Auf diese Weise wurde 1901 tatsächlich versucht, die staatliche Branntweinsteuer zu erhöhen, was dann letztlich doch durch ein Reichsgesetz erfolgte. Abgesehen davon, dass solche Initiativen das Selbstbewusstsein der Landtage stärken mussten, verwiesen sie auch auf deren zentrales gemeinsames Problem, das auch mehr und mehr als solches erkannt wurde, nämlich auf die sich bedrohlich ausweitende Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben in den Landeshaushalten. Deren Auseinanderklaffen konnte durch zwei neue Einnahmequellen nur vorübergehend gebremst werden, die ihrerseits aber in eine neue politische Richtung wiesen: Eine davon war die eben erwähnte Erhöhung der Branntweinsteuer, die andere die 1896 in Kraft getretene staatliche „Personaleinkommenssteuer“, über die erstmals auch das Einkommen der Besteuerung unterworfen wurde. Da letztere eine direkte Steuer war, hätten die autonomen Selbstverwaltungskörper (Länder, Gemeinden etc.) prinzipiell ja das Recht gehabt, Aufschläge einzuheben. Stattdessen wurde ein anderer Weg beschritten: Die Länder verzichteten auf ihr Aufschlagsrecht und wurden stattdessen nach einem bestimmten Schlüssel aus dem Ertrag dieser Steuer entschädigt. Ebenfalls nach einem bestimmten – ausverhandelten – Schlüssel sollten die Mehrerträge der eben erwähnten Erhöhung der Branntweinsteuer unter den Ländern zur Verteilung gelangen. Abgesehen davon, dass die (mittlerweile auch voll ausgeschöpfte) Bier- und Branntweinbesteuerung um 1905 zu einer überaus wichtigen Einnahmsquelle beinahe aller Länder geworden war, standen die beiden sehr ähnlichen Vorgangsweisen für eine Tendenz, die in Richtung eines (späteren) Finanzausgleichs zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zielte: die Übertragung der Steuerausschreibung für die gesamten direkten und die Massenkonsumsteuern an den

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Staat, der die Mittel dann an die Länder zur Verteilung brachte. Der zur Anwendung kommende Verteilungsschlüssel war Ergebnis „vertikal“ (Staat–Land– Gemeinde) und „horizontal“ (z.B. Länder untereinander) geführter Verhandlungen, wobei letztere sicherlich auch zur Stärkung eines Solidarbewusstseins beitrugen. Wie erwähnt, war es den Landtagen aber verfassungsmäßig ausdrücklich untersagt, mit einer „Landesvertretung eines anderen Kronlandes in Verkehr zu treten“. Dieses nicht nur angesichts der enger werdenden überregionalen Vernetzungen eigentlich anachronistische Verbot stand denn auch einer formalen Zusammenarbeit zwischen Ländern kaum im Weg. Es blieb auch weitgehend unbeachtet, als die Landtage etwa in den 1890-er-Jahren begannen, enger zusammenzuarbeiten, um gemeinsame politische Forderungen gegenüber dem Staat und der gemeinsamen Regierung zu formulieren. So auch im Februar 1905, als Vertreter aller Landtage in Wien zusammentrafen, um die prekäre Lage der Landesfinanzen und einen entsprechenden Forderungskatalog zu diskutieren und das weitere Vorgehen miteinander abzustimmen. Explizit wurde dabei betont, dass dieses Zusammentreffen in bewusster Umgehung des erwähnten Verbotes erfolge und erfolgen müsse, da angesichts der seit 1897 schwelenden parlamentarischen Krise eine anstehende und notwendige „politische Umwälzung“ nur geschehen könne in Richtung einer Steigerung der Bedeutung und des Einflusses der Länder oder in Richtung einer absoluten Regierung. Die als Ergebnis der Verhandlungen überaus selbstbewusst formulierten Forderungen hatten ihrem Wesen nach dann tatsächlich einen „umwälzenden“ Charakter: Zum einen solle der Staat den Ländern aus der Gesamtheit seiner direkten und indirekten Steuereinnahmen die für ihre Aufgaben erforderlichen Mittel nach einem einvernehmlich aufzustellenden Schlüssel überweisen. Zum anderen verständigten sich die Vertreter der Landtage auf eine zwar informelle, aber doch kontinuierliche weitere Zusammenarbeit zum Zweck der Koordinierung der Länderinitiativen gegenüber der Regierung und dem Zentralparlament. Diese Verständigung erfolgte unabhängig von der kurz darauf legislativ in Angriff genommenen Reform des Wahlrechts für das Abgeordnetenhaus, die knapp zwei Jahre später gesetzlich in Kraft trat und auf deren Basis im Frühjahr 1907 das neue Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Dass zu erwarten bzw. zu befürchten war, dass diesem auf dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht beruhenden neuen Parlament eine erhöhte und zentralisierende Autorität zukommen würde, wurde bereits erwähnt. Gleichzeitig war kaum abzusehen, in welchem Ausmaß noch Abgeordnete der die Landtage dominierenden mittelständischbürgerlichen Parteien vertreten sein würden, die in den Jahren zuvor ihre (nationalen) Zwistigkeiten auf der parlamentarischen Bühne ausgetragen und damit

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zur Schwächung des Abgeordnetenhauses beigetragen hatten. Und natürlich war auch unklar, wie weit ein solches Zentralparlament für die Anliegen der Länder im Allgemeinen und für ihre Forderung nach spürbarer Beteiligung am Ertrag der staatlichen – und damit parlamentarisch zu beschließenden – Steuern Verständnis haben würde. Die beim Niederösterreichischen Landesausschuss eingerichtete informelle Zentralstelle bereitete denn auch im Frühjahr 1907 eine konzertierte Aktion vor, indem sie allen Landesausschüssen den Text eines Initiativantrags mit dem Ersuchen übermittelte, die je „eigenen“ Abgeordneten im Abgeordnetenhaus aufzufordern, diesen Antrag bereits bei der Einbringung ins Haus gehörig zu unterstützen. Der Antrag, der mehr oder minder die bereits dargestellten Forderungen enthielt, wurde denn auch von mehr als 220 Abgeordneten (von insgesamt 512) unterzeichnet. Allein diese Zahl ist überaus bemerkenswert, sensationell wäre sie wohl gewesen, wenn sie – vor allem hinsichtlich ihrer Zusammensetzung – öffentlich bekannt geworden wäre. Die Liste vereinigte nämlich Persönlichkeiten und Parteirichtungen, die sich im öffentlichen politischen Leben als die unversöhnlichsten politischen Gegner gerierten und die üblicherweise nicht davor zurückschreckten, ein solches gemeinsames Vorgehen als (nationalen) Verrat zu geißeln. Auch wenn dieser Antrag die allererste inhaltliche Materie darstellte, mit dem sich das neue Parlament des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auseinanderzusetzen hatte, sollte die angestrebte „Umwälzung“ nicht gelingen. Dies weniger aufgrund der Debatte selbst, in der vor allem von sozialdemokratischer Seite moniert wurde, dass es unter den gegebenen Bedingungen nicht angehen könne, dass dem neuen Parlament die Rolle des Steuereintreibers zufalle, die Kurienlandlandtage und damit die politischen Eliten der Länder (denen sie – noch – nicht angehörten) dagegen als Verteiler der „Wohltaten“ fungieren könnten. Daher müsse eine entsprechende Reform unbedingt mit einer grundlegenden Wahlreform in den Ländern verknüpft werden. Da aber die dringende Notwendigkeit einer Neuordnung allgemein anerkannt worden war, berief die Regierung – auch in Folge dieser Debatte – für den März 1908 eine sechstägige „Enquete über die Landesfinanzen“ ein, in der Vertreter der Länder und Regierungsexperten den Gegenstand anhand umfangreich zusammengestellter Unterlagen eingehend erörterten. Dabei wurden die Umständlichkeit und mangelnde Transparenz der Verwaltungen der Landeshaushalte und auch die wenig effizienten Kontrollmechanismen überaus kritisch beleuchtet, deren (seitens der Regierungsexperten monierte) Mängel ganz entscheidend zur Misere beigetragen hätten. Für die Stichhaltigkeit dieser Behauptungen spricht eine Reihe von Indizien, auf die hier aber nicht eingegangen werden kann. Auf

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sie ist allerdings abschließend noch einmal zurück zu kommen. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang, dass die Zentralstelle die Vorbereitung der Landtage für diese Enquete zwar noch koordinierte, dass die angestrebte „Umwälzung“ dann aber deutlich erlahmte bzw. zum Stillstand kam, obwohl – oder möglicherweise auch weil – das neue Parlament die Erwartungen bzw. Befürchtungen keineswegs gänzlich erfüllen sollte. Wechseln wir an dieser Stelle die Perspektive und rufen wir uns in Erinnerung, dass der zentrale Staatszweck immer noch die Erhaltung einer schlagkräftigen Armee war, deren Zerbröseln die Fortexistenz des Staates selbst unmittelbar in Frage gestellt hätte und hat (1859ff). Deren Finanzierung stellte also das dringendste Staatserfordernis dar; sie war unmittelbar vom Besteuerungspotenzial im Inneren und von der Fähigkeit abhängig, „billiges“ Geld an den Finanzmärkten erhalten zu können; dies hing seinerseits wieder von der Verlässlichkeit der Bedienung der Staatsschulden, also von der Bonität ab. Reduzierte sich diese, revoltierten die Staatsanleger im Inneren – wie etwa 1848 – und die Finanzmärkte verschlossen sich – wie im Gefolge der Niederlage 1859. Schwere und existenzielle Staatskrisen waren die Folge, die schlussendlich die Parlamentarisierung erzwangen. Im Kern bedeutete diese zunächst vor allem: Kontrolle der Steuerzahler über den Staatshaushalt und die Staatsschuld als erste und vornehmste Aufgabe konstitutioneller Mitbestimmung. Mit der Parlamentarisierung war die Erreichung des Staatszwecks jetzt nicht mehr nur mit abhängig von der Zustimmung bzw. dem Vertrauen der Staatsanleger. Vielmehr hing sie nunmehr ganz entscheidend von der Zustimmung und Mitwirkung zunächst der Steuerzahler und in weiterer Entwicklung auch der Staatsbürger und zuletzt auch der Staatsbürgerinnen ab, die ihrerseits begannen, neue – zusätzliche – Staatszwecke zu definieren. Dies war umso leichter möglich, als die Mächtekonkurrenz – insbesondere seit dem Siebenjährigen Krieg – stetig wachsende Rüstungsanstrengungen erforderte, die mittel- und langfristig nur geschafft werden konnten, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Inneren entsprechend gesteigert werden konnte. In welchem Ausmaß dies gelang, lässt sich anhand der Staatseinnahmen in der oben stehenden Tabelle erahnen. Politik musste also mehr und mehr auch Wirtschafts- und in der Folge auch Sozialpolitik werden. Wirtschaftspolitik bedeutete zunächst die Herstellung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die im Entstehen begriffene Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und in der Folge auch die Schaffung von Infrastruktur und Institutionen, die öffentliche Güter zur Verfügung stellten. Sozialpolitik bedeutete demgegenüber die Notwendigkeit der öffentlich-rechtlichen Regulierung des Lebensalltags unter den in der im Entstehen begriffenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft sich neu

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formierenden äußeren Bedingungen – und dies vornehmlich natürlich in den jeweiligen städtischen Ballungsgebieten. Namentlich für Österreich gesellt sich dem ein weiterer Aspekt hinzu: Die einzelnen Kronländer waren seit der „Pragmatischen Sanktion“ von 1713 zwar formell durch die Personalunion ihres gemeinsamen Landesfürsten – genau besehen als Militärbündnis – miteinander enger und dauerhaft verbunden. Darüber hinaus bewahrten sie aber ihre – zum Teil eifersüchtig behütete – Eigenständigkeit, auch wenn ihre alten aristokratischen Eliten eng miteinander vernetzt waren und so gewissermaßen eine Reichselite bildeten.17 Die ab 1848 in mehrfachen Anläufen unternommene engere politische Integration – beispielsweise in Form einer Reichsgesetzgebung, einer einheitlichen Reichsverwaltung etc. – entsprach zweifellos den Bedürfnissen der im Entstehen begriffenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Sie konnte für viele Angehörige der „alten“ Eliten aber einen nur schwer verträglichen Traditionsbruch darstellen. Ein zentraler Aspekt dieser Tradition – die „Landesautonomie“ – sollte dann vor allem von Angehörigen insbesondere der nicht deutschsprachigen neuen politischen Eliten in den Ländern – den Führern der Nationalbewegungen – in „nationale Autonomie“ umgedeutet und zu einem zentralen Kampfbegriff an der Oberfläche der politischen Auseinandersetzungen der späten Jahre der Habsburgermonarchie transformiert werden. Faktisch ging es dabei darum, dass die nationalen Führer das ausschließliche Recht beanspruchten, die (im überwiegenden Maße daran desinteressierten) Angehörigen „ihrer“ (von ihnen definierten) Nation zu regieren und zu verwalten.18 Viele der dargestellten Entwicklungen, Neuerungen und Traditionsbrüche wurden von den Zeitgenossen – wenn auch zumeist beiläufig – unter dem Aspekt der „Modernität“ bewertet. Josef Ulbrich, später einer der bedeutendsten Verwaltungsjuristen in Wien, stellte in einer 1879 erschienenen Broschüre19 den „modernen Staat“ mehrfach dem alten „Lehens- und Patrimonialstaat“ gegen-

17 Vgl. William D. Godsey Jr., Quarterings and Kinship: The Social Composition of the Habsburg Aristocracy in the Dualist Era, in: The Journal of Modern History 71 (1999) S. 56–104. 18 Zu diesem ins 20. Jh. weisenden Aspekt von „Moderne“ vgl. Gerald Stourzh, Ethnisierung der Politik in Altösterreich, in: Wiener Journal Nr. 228, September 1999, S. 35-40; Tara Zahra, Kidnapped souls. National indifference and the battle for children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ithaca NY u.a. 2008. Strukturell ähnlich dem Nations- ist übrigens auch das Klassenkonzept, das die Angehörigen ebenfalls aufgrund „objektiver“ Eigenschaften ein- und zuteilt. 19 Ulbrich, Die rechtliche Natur (wie Fn. 9).

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über. Dabei hob er den auf rechtlichen Grundlagen beruhenden Aufbau des Staates aus dauerhaften Institutionen hervor (8), die Beschränkung der staatlichmonarchischen Macht durch allgemein und gleichförmig gültige Gesetze (und nicht durch Privilegien und Individualrechte) (18), und unterstrich den „Sieg der staatsbürgerlichen Gesellschaft über die Rechte der ständischen Ordnung“, der „die direkte Unterordnung aller Staatsbürger unter die Staatsgewalt herstellt […] und bezüglich des Rechtes zum Besitz, Erwerb und Beruf eine principielle Gleichstellung aller Staatsbürger stattfindet.“ (45) Ein spezieller Aspekt des „modernen Verfassungsstaates in Oesterreich“ ergab sich schließlich aus dem Antagonismus von Staat und Ländern, aus den „einander bekämpfenden entgegengesetzten Tendenzen“, aus dem „Streben nach Concentration einerseits, Decentralisation oder Föderation andererseits.“ (39). Die Verteilung der Aufgaben und die Zuweisung der für deren Erfüllung erforderlichen Mittel stellte für Ulbrich zu dieser Zeit (vor 1879) offensichtlich noch kein Problem dar. Anzunehmen ist, dass er allfällig bereits entstehende Schieflagen angesichts der damals horrenden Probleme im Staatshaushalt (vgl. Tabelle oben) nicht sehen konnte oder wollte (?). Durchaus denkbar ist auch, dass – angesichts des noch vergleichsweise langsamen Anwachsens der wenigen neuen Zentralorte und wenn von Wien abgesehen wird – die Gemeinden und ihre Bürgerschaften noch einigermaßen in der Lage waren, die anstehenden Herausforderungen zu meistern, zumal dort das Selbstbewusstsein des neuen Mittelstandes eben erst gereift war und (neue) Problemstellungen lautstark zu thematisieren begann. Knapp zehn Jahre später findet sich ein grundlegend verändertes Problembewusstsein: 1887 widmet Ernst Mischler – ebenfalls ein überaus prominenter Verwaltungsjurist – dem Finanzwesen der Selbstverwaltung in Österreich eine umfangreiche Studie20. Insbesondere und nachdrücklich breitete er darin aus, wie sehr und nahezu ausschließlich Landtage, Gemeinden und andere autonome Körper (deren Existenz, Zusammensetzung, Aufgabenstellung und Bezeichnung von Land zu Land variierten) den Bereich der „bürgernahen Verwaltung“ wahrzunehmen und zu erledigen hatten. Zugleich verwies er auf die im Zuge befindliche rasche Ausweitung dieses Bereichs und damit verbunden auf sich abzeichnende Finanzierungsprobleme. Entscheidend ist zudem, dass er diese Verwaltungsaufgaben jetzt als öffentliche, als im öffentlichen Interesse notwendige und

20 Mischler, Der öffentliche Haushalt (wie Fn. 7). Als gemeinsame Herausgeber des „Österreichischen Staatshandbuchs“ (des „Mischler-Ulbrich“) sind die beiden Autoren jeder/m Historiker/in ein Begriff, der/die sich mit der inneren Geschichte der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert befasst.

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den traditionellen Staatsaufgaben gleichwertige verstand. Allerdings erkannte er auch eine Reihe strukturimmanenter Probleme, wie etwa eine unklare Kompetenzverteilung, eine wenig effektive und Missbräuche nicht unbedingt ausschließende Verwaltung der Landeshaushalte, sowie eine dringend notwendige Reform der Gemeindeordnung. Aufgrund dieser Probleme musste er zusammenfassend die Frage „leider“ verneinen, ob „die österreichische Selbstverwaltung ihrer großen Aufgabe gemäß entwickelt ist“ (193ff.). In ihrer Entfaltung sah er allerdings „ein großes gewagtes Unternehmen, welches versuchsweise das Problem lösen soll, aus der absoluten, wenigen Interessen dienenden Staatsform in die Reichhaltigkeit modernen Lebens unter autonomer Mitwirkung zu überführen.“ Dieser versuchsweisen Übertritt in die Moderne stecke allerdings noch in den bescheidensten Anfängen: „Nirgends Entschiedenheit, überall Unfertigkeit, fast durchgehends erst Ansätze.“ Diente „modern“ im vorigen Falle also der (selbstbewussten) Gegenüberstellung und der Abgrenzung des „erreichten“ einheitlichen, rational organisierten und strukturierten Verfassungsstaates vom ihm voran gehenden traditionellen frühneuzeitlichen Ständestaat, wurde es nun zum adjektivischen Wegweiser für den zu beschreitenden Pfad aus der zum Teil prekären Unvollkommenheit gegenwärtiger Zustände in eine bessere Zukunft. Knapp 15 Jahre später habilitierte sich der eingangs zitierte Josef Redlich in Wien mit einer überaus umfangreichen Monographie zur englischen Lokalverwaltung, in der er naturgemäß auch mehrfach betonte, was aus seiner Perspektive von 1901 als „Verwaltung im modernen Sinn“ zu verstehen ist.21 „Verwaltung als solche“, führte er aus (49), „ist Anwendung von öffentlichen Mitteln und öffentlicher Gewalt zur Herbeiführung materieller, der lokalen Gemeinschaft oder dem Staatsganzen dienenden Leistungen, Anstalten und Einrichtungen auf Grund von rechtswirksamen und gesetzlich begründeten Verfügungen der zur Ausübung öffentlicher Gewalt befugten Organe“, und er unterstrich an anderer Stelle (208), „dass die innere Verwaltung im modernen Staate nichts anderes sein kann als angewandte Socialpolitik.“ „Modern“ ist der Interventionsstaat nach dem Vorbild der englischen Parlamentsgesetzgebung: Deren „immer intensiveres, positives Eingreifen in bisher von ihr nicht normierte Interessensphären der einzelnen sowie der lokalen Verbände [habe demnach] eigentlich erst so recht geschaffen, was, verschieden von Rechtsprechung und Wohlfahrtspolizei, Verwaltung im modernen Sinne genannt werden kann.“ (468). Dabei ha-

21 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer Gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901.

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be sich die Gesetzgebung „… nicht gescheut, den Grundgedanken der modernen Lokalverwaltung, nämlich das Princip der administrativen Selbständigkeit der Lokalgemeinschaft, bis in die kleinste Zelle des öffentlichen Gemeinlebens konsequent auszubauen.“ (566). Und für diese „politische Moderne“ gibt es auch eine [1901 in Österreich noch nicht realisierte] Garantie: „Die Teilnahme der breiten Massen der Bevölkerung an der Bildung der korporativen Verwaltungsorgane vermittelst des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes aller Ansässigen hat erst gesichert, dass der eigentliche Zweck der inneren Verwaltung des modernen Staates richtig erfasst und dauernd festgehalten werde: nämlich die Aufwendung öffentlicher Mittel und die Ausübung öffentlicher Gewalt zur Hebung der wirtschaftlichen, ethischen und kulturellen Lebenshaltung der lohnarbeitenden Klassen der Nation.“(825) Der Zweck des modernen Staates ist nunmehr nahezu ausschließlich nach innen gerichtet, er hat insbesondere – mittels Sozialpolitik – für die ideelle und materielle Wohlfahrt der gesamten Bevölkerung Sorge zu tragen, dies einerseits durch eine möglichst autonome, bürgernahe Verwaltung und andererseits durch die unmittelbare Einbeziehung der Betroffenen selbst. Wie weit dies tatsächlich für die englischen Verhältnisse um die Jahrhundertwende zutraf, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Ganz sicher aber formulierte Redlich hier für die österreichischen (cisleithanischen) Verhältnisse dieser Zeit eine positive Utopie, die zu erreichen – durch die wiederholte Verwendung des Adjektivs „modern“ – geradezu zu einem moralisch-sittlichen Gebot wurde. Gewissermaßen müsste von daher die intendierte „Umwälzung“ der cisleithanischen Realverfassung in Richtung der Steigerung der politischen Bedeutung der Länder und Landtage von den Beteiligten als „Modernisierung“ verstanden worden sein, auch wenn das allgemeine und gleiche Wahlrecht für die Repräsentativkörper der autonomen Verwaltung (Landtage und Gemeinderäte) vorab noch weitestgehend ausgeschlossen blieb. Die „Umwälzung“ hätte die faktische Anerkennung neuer (sozial)politischer anstelle der alten militärischen Prioritäten mit sich gebracht und damit auch eine Verschiebung des staatlichen Ressourcenflusses im Rahmen eines Finanzausgleichs. Überaus fraglich ist allerdings, wie weit damit auch die mit der entstehenden Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft verbundenen (bereits erwähnten) neu erwachsenden Probleme des flachen Landes angegangen worden wären. Allerdings scheiterte die „Umwälzung“. Sie scheiterte zum einem wohl daran, dass der anfängliche Elan bei der Zusammenarbeit erlahmte. Weder Regierung noch Zentralparlament waren bereit, den Forderungen der Länder bedingungslos entgegenzukommen. Umgekehrt zeigten diese aber nur eine geringe Bereitschaft, ihre Haushalte zu ordnen und effektive Kontrollmechanismen einzuführen.

F ÖDERALISTISCHE R EFORMPROJEKTE

IN DER

H ABSBURGERMONARCHIE

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Ausschlaggebend für das Scheitern könnten auch die Verhältnisse in Böhmen gewesen sein, wo die oben angedeutete, immer prekärer werdende Lage des Landeshaushaltes energische und wenig populäre Maßnahmen erforderlich gemacht hätten. Wohl im Bewusstsein, dass solche die eigene Stellung schwer erschüttern würden, lieferten sich die Parteien der beiden antagonistischen Nationalbewegungen heftige öffentliche Stellungskämpfe und lähmten damit dauerhaft jegliche Tätigkeit des Landtags. Letztlich erzwangen sie damit die absolutistische Umwälzung, als das Land im Juli 1913 staatsstreichartig – also im Widerspruch zu sämtlichen Verfassungsbestimmungen – unter die unmittelbare Leitung und Verwaltung der Zentralregierung gestellt wurde. Diese Entwicklung hing mit einem strukturellen Problem zusammen, das möglicherweise weitgehend außer Acht gelassen worden war: Die cisleithanischen (Zentral-)Regierungen waren dem Parlament gegenüber politisch nicht verantwortlich – und damit von diesem nicht abberufbar. Sie waren aber gleichzeitig unabdingbare Partner sowohl in der Reichs- als auch den Landesgesetzgebungen. Keine Seite konnte so einseitig Gesetze erzwingen, wohl waren die Regierungen aber in der Lage, die staatliche Verwaltung bis auf die unterste Ebene hinab zu lenken und zu kontrollieren. In dieser Hinsicht waren sie ausschließlich dem Kaiser verantwortlich. Unter diesen Bedingungen konnten sich die in den parlamentarischen Körpern vertretenen (neuen) Parteien gewissermaßen darauf verlassen, dass Regierung und Verwaltung den sicheren Fortbestand des Systems garantieren würden22 – auch wenn sie damit möglicherweise einer möglichen absolutistischen „Umwälzung“, wie sie dann in Böhmen erfolgte, Vorschub leisteten. Naheliegend war von daher, dass die Parteien, die sich – vordergründig – ihren Wählern gegenüber verantwortlich sahen, vor allem auch den eigenen Fortbestand und die Wahrung der – zumeist als national bezeichneten – „Besitzstände“ ins Zentrum ihrer faktischen Interessen rückten und vielfach (kostspielige) Klientelsysteme ausbauten, die nicht selten vor allem aus den von ihnen verwalteten (und zugleich kontrollierten) autonomen öffentlichen Haushalten finanziert wurden.23

22 Vgl. Helmut Rumpler, Parlamentarismus und Demokratieverständnis in Österreich 1918–1933, in: A. M. Drabek/R. G. Plaschka/H. Rumpler (Hg.), Das Parteienwesen Österreichs und Ungarns in der Zwischenkriegszeit, Wien 1990, S. 1–17, hier S. 4.; Peter Urbanitsch, Vom neoständischen Kurienparlament zum modernen Volkshaus. Die Liberalisierung des Reichsratswahlrechtes 1873–1911, in; Anzeiger der phil.-hist. Klasse 147/2012, S. 19–50, hier S. 27–30. 23 Vgl. die nicht ohne Verbitterung verfassten Aufzeichnungen des langjährigen niederösterreichischen Finanzlandesrates Josef Schöffel, Erinnerungen aus meinem Leben,

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Solange dieses „System“ aber einigermaßen funktionierte, sollte es zu keinen ernsthaft unternommenen Versuchen kommen, die parlamentarischen Körper von der Regierung zu emanzipieren, die innerhalb dieses „Systems“ gewissermaßen auch als von allen Seiten mehr oder minder angefeindeter Schiedsrichter in der Parteienauseinandersetzung diente. Realpolitisch war von daher eine „Umwälzung“ in Richtung Absolutismus (wie sie 1913 in Böhmen erfolgte) wahrscheinlicher als die Verlagerung essenzieller politischer Gewichte zugunsten der Landtage, von denen vor 1914 keiner ernsthafte Bemühungen unternommen hatte, die Landeshaushalte funktionell und transparent zu gestalten und einer glaubwürdigen Kontrolle zu unterwerfen.

Wien 1905, passim und v.a. S. 241–334; vgl. auch ders., Der Parlamentarismus. Eine Studie, in: K. Kraus (Hg.), Die Fackel 4 (1904) Nr. 116 S. 1–11 und Nr. 117 S. 1–18.

Schweigen ist Gold Die Modernetheorie und der Kommunismus1 S TEFAN P LAGGENBORG

Auf die Frage, ob der Kommunismus zur Moderne gehöre, sind zunächst zwei Antworten möglich. Die erste erfolgt vor dem Hintergrund eines systematischnormativen Verständnisses von Moderne, d. h. bestimmte, zuvor festgelegte Kriterien definieren vollständige oder sektorielle Zugehörigkeit, graduelle Übergänge oder den Ausschluss. In diesem Fall hängt alles von der Wahl der Kriterien ab, über die sich unendlich diskutieren lässt. Die Modernetheorie legt davon hinreichend Zeugnis ab. Die zweite Antwort enthält ein zeitliches Verständnis von Moderne. Wie sollte der Kommunismus nicht dazugehören, wurde er doch im 19. Jahrhundert erfunden und nahm in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Formen an. Stellte er nicht eine Antwort auf die sozialen Folgen des Kapitalismus und des bürgerlichen Zeitalters dar, deren Errungenschaften doch gerade als ein Wesensmerkmal der Moderne gelten dürfen? Wie also sollte ein Ergebnis der modernen Verhältnisse nicht modern sein? Nun muss ein Kind musikalischer Eltern nicht unbedingt musikalisch sein. So ist etwa der italienische Faschismus, fast zeitgleich mit dem Sowjetregime entstanden, auch ein Ergebnis der Moderne,2 wenngleich namentlich seiner Krisen, aber die gehören ebenso dazu wie die Errungenschaften, an denen bekanntlich nicht alle und schon gar nicht alle gleichermaßen teilhaben durften. Wenn am Beispiel des Faschismus die Frage diskutiert wurde, ob die Moderne amo-

1

Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes in Osteuropa 63 (2013), S. 65-78.

2

Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland. Göttingen 2008, S. 353-376; Stefan Plaggenborg, Ordnung und Gewalt. Kemalismus – Faschismus – Sozialismus, München 2012.

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derne Folgen hervorgebracht habe, so lässt sich das Problem für den Kommunismus ebenfalls nicht übersehen. Nur hat es keinen Sinn, über den Kommunismus im Allgemeinen auf der Grundlage der fragmentarischen Überlieferung der Theoretiker zu sprechen. Wie für den Faschismus auch, sind es die real existierenden Regime, an die die Frage der Moderne zu stellen ist. Wie der Faschismus ist auch der sowjetische Sozialismus aus den Krisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zugespitzt durch den Ersten Weltkrieg, hervorgegangen Von dieser Warte aus betrachtet darf man eine Fülle von Diskussionen zum Verhältnis Moderne und Kommunismus erwarten, in denen die Modernetheoretiker die Geschichte des ersten Sozialismusexperiments in ihre Theorien einbezogen haben und aus denen hervorgeht, welchen Einfluss die Aufnahme des sowjetischen Weges auf die Theorieproduktion hatte. Allein, es herrscht Schweigen. Die folgenden Zeilen gehen diesem Problem nach, und zwar in folgender Reihenfolge. Am Anfang steht eine sehr kurze kritische Bestandsaufnahme der Modernetheorie hinsichtlich ihrer Ausblendung des Kommunismus; ihr folgt – ganz im Sinne der Moderne als einem selbstreferentiellen System – eine Selbstkritik der Kritik, um die im ersten Teil desavouierte Modernetheorie zu retten, was aber ihre Aporien nur verstärkt, so dass im dritten Teil eine kurze Diskussion des Problems folgt, wie die sowjetische Moderne beschrieben werden kann und dabei versucht wird, die Fehler der kritisierten Theorien zu vermeiden, die darin bestehen, erstens nicht aus der Kenntnis der Geschichte heraus formuliert worden zu sein und zweitens vor diesem Hintergrund weniger Theorie als vielmehr Imagination zu sein.3 Aber es gehört zur Moderne wie zur Modernetheorie dazu, dass sie sich nicht nur über sich selbst aufklärt, sondern sich auch etwas einbildet. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, schrieb Kant. Gemeint war aber nicht, sich nur des eigenen Verstandes zu bedienen. Gelegentlich auf die Historiker zu hören, hätte jedenfalls nicht schaden können.

3

Gelegentlich muss ich in diesem Aufsatz auf Ausführungen in meinem Buch Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt a. M., New York 2006 zurückkommen.

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DER

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W ARUM DIE M ODERNETHEORIE DEN K OMMUNISMUS AUSBLENDETE Eine einfache Frage bleibt zuweilen ohne Antwort: Gehört die Sowjetunion zur Moderne? Wenn die Modernetheoretiker bis auf wenige Ausnahmen zu diesem Problem schweigen, dann vielleicht deshalb, weil diese Frage für sie nicht wichtig ist und daher getrost übergangen werden kann. Historiker jedoch arbeiten mit Theorien und theoretischen Konzepten, derer sie bedürfen, um Fragen an die Quellen zu stellen, die sonst stumm blieben. Historiker hätten gern eine Antwort. Welchen Grund aber gibt es für die Theoretiker, die Sowjetunion aus der Moderne auszuschließen, wenn die Hauptaufgabe namentlich der Soziologen darin besteht, moderne Gesellschaften zu untersuchen? Bedeutet es nicht, einen wichtigen Teil der historischen Erfahrung eines erheblichen Teils der Bevölkerung Europas dem theoretischen Vergessen preiszugeben? Heißt es nicht, die theoretische Reflexion in unzulässiger Weise vor den Anfechtungen des Anderen und Fremden zu schützen? Dieses Andere ist aber schon auf den ersten Blick so eng mit den eigenen Gesellschaften verwandt, dass es unverständlich bleibt, warum es nicht theoretisch analysiert werden sollte. Bedeutet das Schweigen außerdem, die „Gewissheiten“ der Analyse von Gesellschaft, Institutionen und Politik und ihre theoretischen Verarbeitung rein zu halten, sei es aus Gründen der theoretischen Kohärenz oder der (uneingestandenen oder nicht explizierten) ideologischen Position.4 Modernetheorie war und ist die Theorie von historischen Prozessen und Gesellschaften im Westen. Diese Grundlegung geht auf Max Weber zurück. Er hatte das historische Unikat der abendländischen Modernevoraussetzungen und -verläufe erforscht, also die Frage nach einer historischen Spezifik gestellt und ihre distinkten Merkmale erarbeitet. Wenn zahlreiche Modernetheoretiker im Anschluss an Weber die mittlerweile gewachsenen Formen westlicher Gesellschaften als Moderne theoretisieren, so verfallen sie in einen Zirkelschluss, der die Moderne als Moderne erklärt. So wundert es nicht, dass die theoretisch orientierte Soziologie westlicher Provenienz bis auf noch zu besprechende Ausnahmen keine Versuche unter-

4

Möglicherweise auch aus Karrieregründen, was man aber nicht expliziert finden wird. Festzustellen ist, dass in der BRD früher eine soziologische Expertise zu Osteuropa und der Sowjetunion/Russland vorhanden war, die heute auf eine Professur mit Schwerpunkt Osteuropa und eine weitere mit komplementärer Russlandexpertise zusammengeschmolzen ist, Manfred Sapper, Niedergang und Neuanfang. Die Krise der deutschen Russlandexpertise, in: Osteuropa 62 (2012), H. 6-8, S. 505-520.

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nommen hat, die Entwicklungen im osteuropäischen Sozialismus, besonders in der Sowjetunion, in die Theoriebildung aufzunehmen. Die Unterlassung wäre aber nur dann erlaubt, wenn diese Literatur explizit und begründet die Gesellschaften dieses Teils Europas als prämodern oder sonstwie nicht modern bestimmen würde. Aber sie übersieht sie, obwohl die historische Verwandtschaft der west- und osteuropäischen Gesellschaften unübersehbar ist. So lassen die 2007 in zweiter Auflage erschienenen soziologischen Gegenwartsanalysen, die eine Bestandsaufnahme „wichtiger soziologischer Gegenwartsdiagnosen“ der 1980er und 90er Jahre versammeln, in mittlerweile obsoleter Weise den Rest der Welt außer Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten außer Acht. Osteuropa wurde der sprachlichen Grenzen wegen nicht berücksichtigt.5 Verweht ist die Neugier der frühen Soziologen. Max Weber lernte einst Russisch, um sich über die Lage in Russland während der Revolution 1905 und den (Schein)Konstitutionalismus zu informieren.6 Auch Hinweise auf die modernetheoretische Relevanz des Kommunismus gab es, etwa von philosophischer Seite: die Marxsche Utopie habe „das Projekt Moderne auf seine eigentliche Formel gebracht“.7 Sie wurden aber nicht aufgegriffen. Im Grunde hat das Ausblenden der osteuropäischen Gesellschaften die theoretische Folge, dass sie zu den rückständigen Kellerkindern der Moderne gerechnet werden. Auf diese knappe Darstellung jedoch vermag die Modernetheorie eine Antwort zu geben. Es habe sich in Osteuropa um Kopien des westeuropäischnordamerikanischen Weges gehandelt, weshalb ihre Untersuchung die Theorie nicht weiterbringen würde, denn im Falle einer „relationalen Bestimmung der Moderne“ durch zahlreiche nachholende Modernisierungen rund um den Globus impliziere Moderne – als repetitiver Vorgang – weder übergreifenden Entwicklungssinn noch notwendige Entwicklungstendenzen.8 Das aber heißt nichts anderes, als dass in der Beschreibung eines als Grundtypus erachteten Modells die Geschichte sich erschöpft sieht. Alle Löffel sind gleich, sagt der Soziologe.

5

U. Schimank, U. Volkmann (Hg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen Bd. 1. Eine Bestandsaufnahme. Wiesbaden ²2007, S. 11 f.

6

Max Weber, Gesamtausgabe Bd. 10: Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften

7

Robert Spaemann, Ende der Modernität?, in: P. Koslowski, R. Spaemann, R. Löw

und Reden 1905-1912, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen. Tübingen 1989. (Hg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986, S. 11. 8

Rainer M. Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der Moderne und die Modernisierung, in: R. Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, S. 10-29.

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Müsste es, mit Nikolaj ýernyševskij gesprochen, nicht weiter heißen: Aber jeder hat nur den, mit dem er isst? Bevor die Moderne im Osten Europas mit dem vorgebrachten Argument für theoretisch irrelevant erklärt wird, wäre es angebracht, sie zu diskutieren, sonst setzt sich die Theorie dem Apologieverdacht aus. Wer zu diesen Befunden kommt, könnte schlussfolgernd auf die Idee verfallen, es gebe außerwissenschaftliche Motive für die Grenzen der Modernetheorie. Wir reden schließlich hauptsächlich von der Nachkriegszeit bzw. der Phase des Kalten Krieges und der festgefügten ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Blöcke, was möglicherweise dazu führte, dass die jüngere Modernetheorie den Stacheldraht nicht übersprang. Der Soziologe Wolfgang Knöbl bestätigt diese Annahme. Aus seiner Analyse der Geschichte der Modernisierungstheorie zieht er kritisch den Schluss, die Modernetheorie denke, dass „die westliche Moderne in ihrem spezifischen Institutionensystem tatsächlich eine Art Endziel der Geschichte darstellt. Gerade der Zusammenbruch der Sowjetunion schien zu ‚beweisen‘, dass es [...] nur einen sicheren und dauerhaften Pfad in die Moderne gibt.“9 In diesem Sinne schrieb auch Jürgen Habermas in seinem Aufsatz über die nachholenden (sic) Revolutionen 1989-91, dass sich Elemente der Moderne (lies: der westlichen) nun auch in Osteuropa finden ließen.10 In „Der philosophische Diskurs der Moderne“ kommt Habermas in der Auseinandersetzung mit Moderne- und Postmodernetheoretikern zu Bestimmungen, die ungewollt die Beschreibung osteuropäischer Gesellschaften einschließen könnten. Die Frage ist ja, ob „westliche“ Werte wie z. B. „Selbstbestimmung in generalisierten Werten und Normen“11 als Kennzeichen der Moderne nicht auch im Kommunismus Osteuropas zu finden sind, bloß enthalten sie – ohne ihren Wortlaut zu ändern – andere Orientierungen. Wenn viele Menschen nicht nur in Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg die bürgerlichen Zivilisationsversprechen als hohl und trügerisch ansahen, dann ließen sich sehr wohl andere generalisierte Werte und Normen gerade als Gegenentwurf zu den „westlichen“ entwerfen, denen seinerzeit nicht mehr allzu viele zuzustimmen vermochten. War es deswegen amodern, wenn diese Werte mit den korrumpierten bürgerlichen nicht zur Deckung kamen? Wenn außerdem Wertgeltungsan-

9

Wolfgang Knöbl, Spielräume der Modernisierung: das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001, S. 13.

10 Jürgen Habermas, Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute?, in: Ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt a. M. 2003, S. 124-149. 11 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 391 f., 400.

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sprüche Kennzeichen der Moderne sind, dann stellten sie sich hier wie dort, und über den Wert der Werte ließ sich vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen namentlich nach 1918 trefflich streiten. Unter diesen Prämissen kann zwar der Kollaps des Sozialismus in Osteuropa als Beginn einer Emanzipation im Sinne der westlichen Moderne interpretiert werden. Das gilt aber eher für die ostmitteleuropäischen Länder, weniger für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die erhebliche Zweifel in dieser Hinsicht hervorrufen. Überhaupt scheint der Gedanke von der nachholenden Revolution ziemlich ahistorisch, denn warum sollten Staaten und Gesellschaften, die aus dem vollständigen Kollaps eines Systems hervorgehen, zwingend jene westlichmodernen Pfade einschlagen, die westeuropäische Staaten und Gesellschaften nach dem Kollaps der Ordnungen 1918 ebenfalls nicht – oder nur anfangs – beschritten? Die Erwartungshaltung, die Befreiung aus den Zwängen des Kommunismus müsse unweigerlich zur Annahme der besten Errungenschaften des Westens führen, wurde nach 1991 in der ehemaligen Sowjetunion von politischen Aktivisten und einem großen Teil der Bevölkerung ebenso wenig geteilt wie seinerzeit nach 1918 in einigen Ländern Westeuropas – mit den entsprechenden Folgen autoritärer und ideologischer Herrschaft. Die – wie wir heute wissen – illusorische Erwartung traf auf die desillusionierenden Erfahrungen der Bewohner postsozialistischer Länder auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, die sie mit den Segnungen des Marktes machten. Dabei stellte sich heraus, dass die Propaganda der Kommunisten im Angesicht des sich real entwickelnden Kapitalismus milde Untertreibungen darstellten. Dass der rapide soziale Abstieg, wenn nicht Absturz, ganzer Bevölkerungs- und Berufsgruppen zu mehr Demokratie und Zivilgesellschaft führt, wäre eine einmalige historische Angelegenheit, die zumindest vom Westen nicht vorexerziert worden war. Dagegen ließe sich zwar sagen, die Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion müsse nicht die Erfahrungen der Zeit nach 1918 wiederholen, denn heute seien die Vorbilder einer demokratischen, offenen und wettbewerbsorientierten Gesellschaft deutlicher zu erkennen als damals, aber darin kommt die etwas weltfremde Ansicht zum Ausdruck, dass die Menschen, die soeben ihre Arbeit, ihr Einkommen, Vermögen und Prestige verloren haben, die Ursache ihres Niedergangs als Hoffnung auf ein besseres Dasein zu interpretieren hätten. Es bestätigte sich hingegen die Beobachtung Eric Hobsbawms: Wenn der Sozialismus in eine Krise gerät, bricht das ganze System zusammen; gerät der Kapitalismus in eine Krise, zerfällt die Demokratie und der Kapitalismus bleibt bestehen. Die beiden oben genannten Gründe für die Ausblendung der Sowjetunion aus der Modernetheorie scheinen geklärt. Die Beibehaltung der theoretischen Kohärenz als implizite Strategie der Theoretiker ist verbunden mit der Positio-

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DER

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nierung der Theorie in der westlichen Hemisphäre. Es ist wichtig, dass sich dieser Befund nicht aus der Unzufriedenheit des theoretisch interessierten Historikers ergibt, sondern die Belege für die Motive liefert die Theorie selbst. Die Apologie des westlich beschränkten Modernediskurses nährt den Verdacht, die westliche Modernetheorie sei eine verkappte Geschichtsphilosophie. In der skizzierten Selbstbeschränkung kann sie kaum noch als „Theorie“ durchgehen. Moderneimagination wäre angemessen. Diese Umbenennung sollte wiederum nicht allzu sehr überraschen, denn es ist nichts wirklich Neues, dass die Theorie immer wieder von der Geschichte auf ihren imaginierten Charakter hingewiesen wurde, häufig äußerst brutal in den westlichen Gesellschaften selbst. In der imaginierten Moderne nahm und nimmt die Geschichte nicht den Platz ein, der ihr gebührt. Der Osten Europas bietet dafür hinreichend Material. Werden die Geschichte und historischen Erfahrungen des Kommunismus in Osteuropa ausgeblendet, dann verliert die Theorie ihre Bodenhaftung und wird in einem unguten Sinn „philosophisch“.

S ELBSTKRITIK : D IE K RITIK

AN DER

M ODERNEKRITIK

Widerspruch gegen den ersten Abschnitt der Ausführungen ist schnell erhoben. Schließlich ist die Kritik an der Moderne, ihren Hervorbringungen und an der Modernetheorie so alt wie die Moderne selbst. Besonders am Fortschrittsoptimismus und der unaufhörlichen Zivilisationsverstärkung hat sie sich festgemacht. Wenn es eine Gemeinsamkeit der sehr unterschiedlichen kritischen Perspektiven gibt, dann ist es gerade die Selbstkritik, die so unterschiedliche Modernekritiker wie Max Horkheimer und Theodor Adorno mit Michel Foucault und Zygmunt Bauman verbindet. Besonderer Widerspruch wurde hinsichtlich der Zerstörungs- und Gewaltpotentiale der Moderne vorgetragen. Die Einwände sind unübersehbar, und sie haben den Vorzug, dass sie aus den historischen Erfahrungen geschöpft sind, d.h. der Geschichte mehr Raum geben im Zusammenhang theoretischer Erörterungen. Unzweifelhaft stehen hinter der „Dialektik der Aufklärung“ die Erfahrungen des Faschismus (der als theoretischer Bezugspunkt in dem Buch mehrfach thematisiert wird, nicht aber explizit des Kommunismus) und der erzwungenen Emigration, hinter Foucaults Werk die dunkle Seite der bürgerlichen Ordnung und ihrer Wirkungen auf die Subjekte und hinter Baumans Überlegungen die Frage, wie der Holocaust in die Modernetheorie integriert werden kann. Wenn aber die Geschichte in die Theorie eintritt, dann sind die Historiker gefragt. Der Soziologe Hans Joas hat dieses lange Zeit ungeklärte Verhältnis auf die Formel gebracht: „Die Abstraktionsleistungen der soziologi-

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schen Theorie bedürfen eben der Verbindung mit der Sachintimität der Geschichtsschreibung.“12 Dieser Satz, entstanden während der Diskussion um die Bedeutung des Krieges in der Moderne, lässt sich auch als eine freundliche Bankrotterklärung der Soziologie lesen. Es scheint, dass sie modernetheoretisch nicht mehr viel zu sagen hat, außer sie wird historisch. Einige Soziologen wie Joas, Knöbl, Peter Wagner und Andreas Langenohl haben das erkannt. Um die Gegenwart zu verstehen, sei eine „historische Neubeschreibung der Moderne“ notwendig und der Sozialismus stehe „im Mittelpunkt der Geschichte der Moderne“.13 Knöbl geht noch einmal auf das schon erwähnte Defizit ein und schreibt, „eine der wesentlichen Schattenseiten der Moderne im 20. Jahrhundert, der Totalitarismus, wurde nie zu einem ernsthaften Thema“ der Modernetheorie.14 Das ist aus zwei Gründen nicht so präzise, wie Historiker es sich wünschen. Zum einen liegt hier mit Blick auf Baumans Werk eine gelinde Übertreibung vor, zum anderen sind italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus sehr wohl zum Gegenstand theoretischer Überlegungen geworden, wenngleich – der Präzision halber – eher im Bereich der Modernisierungstheorie. Falls Knöbl jedoch den Kommunismus meint, den er in dem früher angeführten Zitat schon erwähnte, dann allerdings hat er recht. Nur sollte man – wenn schon der Begriff Totalitarismus fällt – nicht diejenigen Regime und Gesellschaften ausschließen, aus denen der Begriff stammt. In Knöbls Begriffsverwendung lässt sich jedoch ein bisher ungelöstes Problem erkennen, das von der Ideen- und Begriffsgeschichte zu lösen wäre: Es wäre aufschlussreich zu erfahren, ob die Karriere der Begriffe Moderne und Modernisierung als für den Westen reserviert galt, während Totalitarismus Europas Osten charakterisierte; träfe diese Annahme zu, so würden die beiden Termini ein geschichtsphilosophisches Begriffspaar bilden, mit dessen Hilfe sich trefflich die in Imperialismus, Kolonialismus, zwei Weltkriegen und Massenvernichtung von Menschenleben soeben kollabierte (westliche) Moderne diskursiv retablieren ließ und sie zugleich als Ideologieprodukt entlarvte. Diese Frage muss vorerst offen bleiben. Festzuhalten ist hingegen, dass die soziologische Modernetheorie

12 Hans Joas, Die Modernität des Krieges. Die Modernisierungstheorie und das Problem der Gewalt, in: Leviathan 24 (1996), S. 13-27. 13 Peter Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin. Frankfurt a. M. u.a. 1995, S. 158; Andreas Langenohl, Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie. Frankfurt a. M. u.a. 2007, S. 15: die Entwicklung im Westen sei eher als Ausnahmeerscheinung anzusehen. 14 Knöbl, Spielräume, S. 22.

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die Gründe für ihre Mängel selbst aufgespürt und benannt und zu ihrer Behebung auf die Bereiche außerhalb der eigenen Disziplin verwiesen hat. Die von Joas angesprochenen Historiker nehmen das zur Kenntnis und setzen unverzüglich zur Verteidigung der soziologischen Modernetheorie an. Die Kritik darf schließlich nicht ausblenden, dass es unterschiedliche Logiken der Moderne gibt und die Sowjetunion unter dieser Perspektive dazu gehören könnte. Und schließlich liegen Versuche vor, den Kommunismus und die Geschichte der Sowjetunion in die Moderne einzubeziehen. Sie dürfen nicht übergangen werden. Aus Platzgründen wähle ich drei aus. Da Zygmunt Bauman, der zentral dazugehört, bei anderer Gelegenheit ausführlich besprochen wurde,15 sei an diesem Ort auf eine Wiederholung verzichtet. Shmuel Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“.16 Es geht von verschiedenen Wegen der Moderne als Prozess von permanenter Konstitution und Rekonstitution einer Vielzahl kultureller Programme aus. Das westliche Modell der Modernisierung und Moderne sei deswegen nicht das einzige, wohl aber bilde es den Referenzrahmen für andere Pfade. Die unterschiedlichen Versionen der Moderne führt Eisenstadt auf zwei alternative Modelle zurück, zum einen die Legitimation über Gesetzesherrschaft, Pluralismus, Markt usw., zum anderen die autoritären, traditionsbewussten und ideologischen Varianten. Nach Eisenstadt gehören Kommunismus und Sowjetunion zur Moderne. „In the twenties and thirties, indelibly marked by tensions and antinomies of modernity as they developed in Europe, there emerged the first distinct ideological, ,alternative‘ modernities – the Communist Soviet types.“17 Für einige HistorikerInnen waren Eisenstadts Überlegungen eine Offenbarung, ermöglichten sie ihnen doch, differente historische Befunde modernetheoretisch zu verarbeiten. Unübersehbar bediente das Konzept den wissenschaftlich begründbaren und zeitbedingt motivierten Unwillen, Europa und Nordamerika als Norm anzusehen. Es scheint jedoch, dass die These der „multiple modernities“ eher den außerwissenschaftlichen Gestus bediente als dass sie theoretisch überzeugte. Eigentlich ist es keine überraschende Feststellung, dass alle europäischen Regime des 20. Jahrhunderts zur Moderne gehören. Es sei auf den Anfang dieses Aufsatzes verwiesen. Unter diesen Umständen gehören alle liberalen Nationalstaaten ebenso dazu wie die kommunistischen und faschistischen Regime. Wenn aber alle Versionen der Moderne dazugehören, wird der theoretische Ge-

15 Plaggenborg, Experiment, S. 150-177, 331-334. 16 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Ders. (Hg.), Multiple Modernities. New Brunswick u.a. 2002, S. 1-30. 17 Eisenstadt, Modernities, S. 10.

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winn, der durch Differenzierung entsteht, im selben Augenblick eingenebelt. Eisenstadt will uns weißmachen, es gebe viele Bäume. Zusammen ergeben sie aber keinen Wald. Die triviale Idee der „multiple modernities“, die schon deswegen im anglophonen Raum entstehen konnte, weil dort der Plural leichter zu bilden ist als im Deutschen mit seiner grammatischen Form des Kollektivums „Moderne“, hatte indes nicht nur Rezeptionserfolge, sondern in der Tat auch einen Vorzug. Sie war gegen die ältere, auf Westeuropa und Nordamerika orientierte Modernetheorie gerichtet; daher war ihre wissenschaftsstrategische Durchschlagskraft größer als ihre theoretische Überzeugungskraft. Kommunismus als Moderne bei Johann Arnason:18 Der Soziologe konzentriert sich auf die drei Bereiche Industrialisierungsdynamik, Staatsbildungsprozesse, Wiederaufbau imperialer Strukturen und Bildungsexpansion. Seine Ausführungen sind aber viel zu allgemein, als dass sie theoretisch weiterführend wären. Sie brauchen hier deshalb nur kurz skizziert zu werden. Das bolschewistische Projekt hält Arnason für eine Mischung aus Marx und russischer Tradition. Kennzeichnend sei die Machtkonzentration in der politischen, wirtschaftlichen und Wissenssphäre. Sie habe eingebaute Differenzierungsblockaden bewirkt, die wiederum das gesamte System krisenanfällig machten. Arnason beschreibt die Sowjetunion als ein Gegenmodell zur westlich-kapitalistischen Moderne. Ihr totalitärer und homogenisierender Impuls sei besonders durch die starken russischen Traditionen zustande gekommen. Es braucht nicht viel Phantasie, um diesen Ansatz als theoretisch wenig überzeugend zu betrachten. Es ist bezeichnend, dass die unangenehmen Seiten der sowjetischen Moderne kurzerhand den russischen Traditionen in die Schuhe geschoben werden und damit ein Russland-Bild entsteht, an dem noch gearbeitet werden darf. Arnason sind darüber hinaus einige entscheidende Kennzeichen entgangen. Die Bolschewiki mögen „wenig artikulierte“19 russische Traditionen aufgenommen haben, aber dass sie die durch die Revolution begonnenen Strukturauflösungen und Traditionsverluste zu einer großen Abräumaktion erweitert haben, sollte nicht unter den Tisch fallen; außerdem fehlt die nicht zuletzt dadurch in Gang gesetzte Gewaltdynamik in der Analyse völlig. Die theoretische Verarbeitung des sowjetischen Kommunismus bei Arnason darf daher als bestenfalls unzureichend betrachtet werden.

18 Johann P. Arnason, The Future that Failed. Origins and Destinies of the Soviet Model, London u.a. 1993; ders., Communism and Modernity, in: Daedalus 129 (2000), S. 6190. Siehe auch die Diskussion in Knöbl, Spielräume, S. 330-390. 19 Arnason, Communism, S. 70.

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James Scotts „Hochmoderne“:20 Warum enden die großen Programme des social engineering in Katastrophen, fragt Scott. Seine Antworten ergeben eine Version der Moderne, deren Kennzeichen sich seit dem 19. Jahrhundert ausgebildet haben. Erstens habe der gestaltende Eingriff in Natur und Gesellschaft zur Vereinfachung der Perspektive geführt, eine Grundvoraussetzung für jede Planung. Zweitens sei eine „high modernist ideology“ hinzugekommen, eine durchsetzungsfähige („muscle-bound“) Art des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Produktionsausweitungen und die rationale Ordnung der gesellschaftlichen Bedürfnisse haben das Ausmaß der Staatsintervention vor dem Hintergrund autoritärer Planungsvisionen vergrößert. Drittens habe der autoritäre Staat die bisher genannten Aspekte vereinigt, wobei, viertens, eine widerstandsschwache Gesellschaft diesen hochmodernen Strukturen keine Opposition habe entgegen setzen können. Scott geht ausführlich auf die Sowjetunion ein. Aber hier zeigt sich die Schwäche seines zunächst einleuchtenden Konzepts. Zunächst der inhaltliche Einwand: Wiewohl vieles richtig erkannt wird, scheitern zahlreiche Überlegungen an der „Vetomacht der Quellen“ (Reinhard Koselleck) und der einschlägigen historiographischen Fachliteratur. Beispielhaft sei nur die These vom modernen Planungscharakter der berufsrevolutionären Partei Lenins genannt. Letztere hat es in Wirklichkeit bekanntlich nie gegeben. Der methodische Einwand macht geltend, dass die Elemente des „high modernism“ aus dem bolschewistischen Experiment einschließlich des Stalinismus bezogen werden. So darf es nicht wundern, dass Stalinismus „high modernism“ ist, lieferte er doch die Kriterien dafür. Der theoretische, besser theoriegeschichtliche Einwand bemängelt, dass viele der von Scott aufgeführten Elemente des „high modernism“ woanders schon beschrieben wurden. Seine Strukturkennzeichen finden sich etwa in der Nationalismustheorie Ernest Gellners,21 die ja eine verkappte Modernisierungstheorie für das 19. Jahrhundert ist, folglich nicht „high modernism“ sein kann, der Staat mit seinen wuchernden Tendenzen wurde schon von Theda Skocpol wieder ins Zentrum gerückt, nachdem er zeitweilig daraus verschwunden war,22 ganz abgesehen von der Frage, was und wer „der Staat“ der stalinistischen Hochmoderne eigentlich war; die Problematik von autoritären und inhumanen Planungsvisionen meint man schon häufiger kennen gelernt und das Dilemma

20 James C. Scott, Seeing like a State. How certain schemes to improve the human condition have failed. New Haven u.a. 1998. 21 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995. 22 Theda Skocpol, Bringing the State back in, in: P. B. Evans, Dietrich Rueschemeyer, dies., (Hg.), Strategies of Analysis in Current Research, Cambridge u.a. 1985, S. 3-43.

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von Technizismus und ausbleibendem Erfolg glaubt man in Habermas‘ „Philosophischem Diskurs der Moderne“ ausführlicher und präziser gelesen zu haben. Zwar sind Scotts Überlegungen nicht falsch, die Frage aber ist, ob wir soziologische Verallgemeinerungen brauchen, die ihrerseits jene einschränkende Perspektive einnehmen, die sie als Modernephänomen zu kritisieren vorgeben? Oder im Sinne Joas‘ formuliert: Brauchen wir soziologische Abstraktionsleistungen ohne hinreichende Sachintimität der Geschichtswissenschaft? Ja, lautet die Antwort, damit die Historiker analytische Kategorien und Begriffe an die Hand bekommen, auf die sie selber nicht kommen. Darüber hinaus sind sie nutzlos und taugen zum Verwerfen.

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BESCHREIBEN ?

Wie aber kommt man heraus aus diesem Dilemma? Man kann sich lange Diskussionen ersparen, wenn man sich darauf einigte, was eingangs bereits angedeutet wurde, dass nämlich der Kommunismus auch in seiner sowjetischen Ausformung zur Moderne gehört. Es gibt keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln. Schließlich sind fundamentale Umwälzungen in seiner Zeit eingetreten, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Unübersehbar ist, dass der Sowjetsozialismus die mächtige Adels-, Gutsbesitzer- und Bürokratenklasse der Zeit vor 1917 vollständig abgeschafft und die Gesellschaftsstruktur Russlands umgekrempelt hat. Die tradierte Bauerngemeinde und den bäuerlichen Familienbetrieb hat er der Geschichte überlassen – seine heutige Renaissance fällt bisher kümmerlich und kaum zukunftsweisend aus. Wer wollte in Abrede stellen, dass sich der Übergang vom Agrar- zum Industriestaat im 20. Jahrhundert ebenso vollzog wie Urbanisierung, Bildungsaufschwung und Technisierung? Der Soziologe Anatolij Višnevskij hat den Vorgang aus der Perspektive der 1990er Jahre auf die Formel gebracht. Es gehe bei der Modernisierung der russischen Gesellschaft um „die Transformation der traditionellen, agrarischen, dörflichen, patriarchalen, holistischen (Gesellschaft) in eine moderne, industrielle oder ‚postindustrielle‘, städtische, demokratische, individudualistische“.23 Heute wissen wir, dass der letzte Teil der Beschreibung eher in die Abteilung Orakel gehört. Aber was die empirisch nachweisbaren makrosoziologischen Kennzeichen der Sowjetgesell-

23 Anatolij Visnevskij, Serp i rubl’. Konservativnaja modernizacija v SSSR, Moskau 1998, S. 6; V. A. Krasil’šþikov, Vdogonku za prošedšim vekom. Razvitie Rossii v XX veke s toþki zrenija mirovych modernizacij, Moskau 1998.

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schaft betrifft, so ist dem nichts entgegenzusetzen.24 Über die katastrophalen Folgen und Kosten dieser Entwicklung (die auch Višnevskij keineswegs verschweigt) wissen wir heute ebenfalls Bescheid. Višnevskij kommt auch zu der Meinung, der sowjetische Pfad sei am Ende des 20. Jahrhunderts in eine Sackgasse geraten. Dies festzustellen, heißt nicht, das Experiment zu legitimieren. Die am Ende zu beobachtende kumulierte Kaputtheit war atemberaubend. Die Frage, welche Form der Modernisierung der Kommunismus bevorzugte und welche Ergebnisse und Modernisierungsimpulse er hervorgebracht, vergeudet oder abgebrochen habe, führt jedoch auf ein anderes Feld. Über die Tatsache des Misserfolgs der sowjetischen Modernisierung wird heute kaum jemand diskutieren wollen. Die Sowjetunion aus der kulturellen Moderne auszuschließen, ist jedoch nicht möglich. Vergröbernd lässt sich sagen, dass sie die westliche Moderne des 19. Jahrhunderts übernahm minus Kapitalismus, parlamentarische Demokratie und Nationalstaat. Sie enthielt jedoch das Versprechen einer besseren Welt und der Verteilung der Reichtümer auf alle. Technisierung und Verwissenschaftlichung, Beherrschung der Natur, Sozialdisziplinierung, Massengesellschaft, Säkularisierung, Entzauberung der Welt, Ökodesaster – all das gehört zur sowjetischen wie westlichen Moderne, falls diese unsinnige Teilung beibehalten werden soll. Die Liste lässt sich ohne weiteres verlängern: Kollektivierung des Individuums, Genozid, entgrenzter Krieg, politisch verursachte Massenmorde und Geschichtsoptimismus waren dem Westen nicht fremd und machten die Sowjetunion zur hässlichen Schwester des bucklichten Bruders im Westen. Es ist in Anbetracht der Entwicklungen auch in westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts kaum möglich, Planwirtschaft aus der Moderne auszuschließen, um den Markt als zentrales Kennzeichen der Moderne beizubehalten. Der Wissenssoziologe Stephen Toulmin hat herausgearbeitet, dass die verschiedenen Gesichter der Moderne oder ihre „Ambivalenzen“, wie Bauman sie nannte, von Anfang an in ihr angelegt waren und dass sie zum Kern der Modernevariante gehörten, die sich schließlich durchsetzte. Auch für die sowjetische Moderne gilt die Missachtung des Gefühls, der Erfahrung, des Besonderen, Lokalen, Akzidentellen, Überkommenen.25 Diese Charakteristika verschärften sich im Zuge der Entwicklung einer Moderne, die sich aus historischen Gründen und Umständen entschloss, der Abstraktion, Systematik, Allgemeingültigkeit sozialer Gesetze, Rationalisierung und Neuordnung der Welt den Vorzug vor den soeben

24 Thomas Bohn, Bevölkerung und Sozialstruktur, in: S. Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands Bd. 5,2: 1945-1991, Stuttgart 2003, S. 595-658. 25 Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt a. M. 1991.

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genannten Elementen zu geben. Der folgende Satz Toulmins bringt die sowjetische Moderne besser auf den Punkt als andere: „Die Ideale der Vernunft und Rationalität [...] waren also theoretisch perfektionistisch, moralisch rigoros und menschlich unerbittlich.“26 Nur beschrieb er nicht die Sowjetunion, sondern einen Zweig der sich im Westen ausbildenden Moderne. Aus dieser Perspektive betrachtet, erledigt sich auch das Problem, in der sowjetischen Moderne die Vormoderne aufspüren zu wollen. Hinter der Meinung, die Sowjetunion habe Formen der Vormoderne gezeigt, steht die theoretisch unabgesicherte und von der Praxis nie gedeckte Wahrnehmung, dass es in der Moderne keine Traditionen mehr geben dürfe. Nebenbei stellt sich der Effekt ein, dass auf diese Weise die „gute“ fortschrittliche Moderne implizit bestätigt wird. Für eine solche Ansicht besteht keinerlei Anlass. Aus der kritischen Modernetheorie lernen wir, dass auch die „dunklen Seiten“ der Moderne untrennbar zu ihr gehören und nicht in das Reich der Vormoderne abgeschoben werden können. Wir lernen aber auch, dass es nicht darum gehen kann, schöne Theoriegebäude zu entwerfen, die bei der geringsten empirischen Belastung zusammenbrechen, sondern den Worten des Philosophen Heinrich Meier zu folgen: „Die Diagnose der Moderne verlangt [...] eine historische Analyse des spezifisch Modernen.“27 Nicht die Zugehörigkeit zur Moderne ist folglich das Problem, sondern die Spezifik der sowjetischen Moderne. Im Grunde wurde hier also ein künstliches Problem behandelt, zu dem der erste Absatz schon alles gesagt hat. Warum dennoch ein notwendiges Maß an Tinte verspritzt wurde, lag allein daran, dass die Gründe für die Auslassungen der Modernetheorie eruiert und die wenigen Ansätze einer Integration der Sowjetunion kritisch zu hinterfragen waren. Es ist zu hoffen, dass die Frage der Zugehörigkeit als erledigt betrachtet werden darf. Die Forderung Meiers und Joas‘ ergibt dann Sinn, wenn die historische Analyse präzise ausweisen kann, was das Besondere an der Moderne in der Sowjetunion war und warum das Experiment zu zweifelhaften Ergebnissen geführt hat, ohne dafür die Vormoderne zu bemühen. Eine einzige Antwort wird es dazu nicht geben. Sie alle werden jedoch nicht umhin kommen, die Begriffe und Kategorien der Modernetheorie zu verwenden, die uns gegeben ist. Wie wir gesehen haben, hilft das nur bis zu dem Punkt, an dem die Untauglichkeit der Begriffe evident wird und ihr Ersatz durch andere nötig wäre.

26 Toulmin, Kosmopolis, S. 318. 27 Heinrich Meier, Die Moderne begreifen – die Moderne vollenden, in: Ders. (Hg.), Zur Diagnose der Moderne. München 1990, S. 18. Hervorhebung im Original.

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An dieser Stelle scheint ein zentrales Problem auf. Es müsste möglich sein, sich aus dem Sprachgebrauch der Modernetheorie zu lösen und durch die Beschreibung der sowjetischen Moderne eigene Begriffe zu generieren, die in der Lage sind, Charakteristika dieses Weges zu fassen und zu verallgemeinern. Auf das Problem der Begriffe, die aus westlichen Kontexten entwickelt worden sind, stoßen Osteuropahistoriker ständig. Ob z. B. Absolutismus, Bürgertum, Ausnahmezustand oder eben Modernisierung und Moderne, stets sehen sie sich genötigt, die Variation des Musters oder seine Negation zu betonen (wie z. B. der Begriff der illiberal modernity28). Wenn die modernetheoretischen Kategorien und Begriffe im Falle des Kommunismus nichts anderes unter Beweis stellen als ihre Eigenschaft, nicht zuzutreffen oder von solcher Allgemeinheit zu sein, dass sie ihren analytischen Wert verlieren, dann entsteht eine Leerstelle. Es fehlt an einer Begriffsproduktion, die aus den Bedingungen der spezifischen Entwicklungen im Kommunismus abgeleitet ist und nicht nur mehr oder weniger Teilbereiche von Modernisierung und Moderne hervortreten lässt, sondern den Gesamtzusammenhang zu fassen vermag. Vergleichbar dem Begriff Konfessionalisierung für die Prozesse der Herausbildung des zentralen Staates, der religiösen Homogenisierung und Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit, also die Verbindung von institutionellen, religiösen, gesellschaftlichen, kulturellen und alltagsrelevanten Normen und Praktiken, wäre die sowjetische Moderne auf ihre Art zu definieren. Diese Begriffe können umstritten sein wie „Konfessionalisierung“, aber sie haben immerhin den Vorteil, aus der Sachintimität der Geschichte entwickelt worden zu sein. Dazu muss man selbstverständlich wissen, was die zentralen Vorgänge dieser Moderne waren. Gegenstand einer solchen Modernediskussion muss die gesamte Geschichte der Sowjetunion sein. Noch immer bindet die Erforschung der Stalin-Ära die meisten Kräfte der Sowjethistoriographie, doch langsam zieht die Karawane weiter in nachfolgende Jahrzehnte. Es ist zu wünschen, dass die Eroberung neuer Phasen der Sowjetgeschichte nicht wieder zu einer in der jeweiligen Periode ruhenden Forschung führte, die leider allzu oft den Bezug zu vorangehenden oder nachfolgenden Zeitabschnitten vermissen ließ. Auf diese Weise entstehen Schlüssellochperspektiven auf die sowjetische Moderne, die ihrem Gesamtverlauf kaum gerecht zu werden vermögen. Man denke nur daran, dass die oben genannten makrosoziologischen Kennzeichen erst deutlich nach 1953 zu beobachten waren. Wer den Stalinismus als Moderne beschreibt, kann nicht sagen, welche Moderne sich nach 1953 einstellte, und wer ihn ausklammert, um nur die

28 Stephen Kotkin, Modern Times. The Soviet Union and the Interwar Conjuncture, in: Kritika 2 (2000), S. 111-164.

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Jahre nach 1953 zu untersuchen, verliert vollends das Koordinatensystem der Moderne, da schwerlich in Abrede zu stellen ist, dass die post-stalinistische Sowjetunion strukturell vom Stalinismus geprägt war. Unter den vielen Diskussionspunkten scheint es aber einen Konsens zu geben, der auch die einschlägig arbeitenden Historiker einbezieht. Er besagt, dass die sowjetische Variante keine hinreichenden Entwicklungsmöglichkeiten und Reformpotentiale entwickelte und nicht jenen Prozess in Gang zu setzen vermochte, den der Soziologe Ulrich Beck für die westlichen Gesellschaften als die zweite Moderne beschrieben hat29 – wenngleich die pedantischen Historiker anders rechnen: Es war, historisch betrachtet, mindestens die dritte.30 Das Problem ist, dass die Sowjetunion nicht erst nach Stalin trotz einiger ernsthafter Versuche diese prinzipielle Unfähigkeit offenbarte, sondern dass sie von vornherein, buchstäblich vor Beginn des bolschewistischen Experiments angelegt war. Der schon erwähnte Višnevskij hat deshalb von der konservativen Moderne der Bolschewiki gesprochen, einer Moderne, die das vom Pferd gezogene Automobil, den Stadtbewohner ohne Bürger (citoyen) zu sein und das kollektivierte Individuum mit Hochschulabschluss hervorgebracht habe. Was die Effekte der Modernisierung angeht, liegt das Buch richtig. Es fällt dagegen schwer ihm dort zu folgen, wo es die Zähigkeit des alten, bäuerlichen Russland für die Ergebnisse verantwortlich macht. Dahinter steht das Bild von einem Russland, das durch und durch traditionell, gegen Markt, Geldwirtschaft und für den Egalitarismus der Bauerngemeinde und den Gutsbesitzer- oder staatlichen Paternalismus war. Aber dieses Russland-Bild entspricht nicht den Verhältnissen im Zarenreich zwischen 1861 und 1917. Warum nicht die konservative Moderne bei den Bolschewiki selbst suchen? Lenin hat sich seine Version geschaffen, als er sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der einzigen von ihm geführten philosophischen Auseinandersetzung als

29 Zusammengefasst in U. Beck, W. Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001. 30 Bezeichnend bei der These vom Übergang von der ersten zur zweiten (reflexiven) Moderne ist die Tatsache, dass hier ein genuin historischer Wandlungsprozess ohne Berücksichtigung von Geschichte vorgenommen wird, lediglich mit ein bisschen Geschichte der Sozialwissenschaft. Zur Modernisierung der Moderne um 1900 und ihre Charakteristik in der Sache im Sinne des Beckschen „Meta-Wandels“ s. A. Nitschke et al. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1990.

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ein im 19. Jahrhundert steckengebliebener Moderner offenbarte.31 Immun zu sein gegen die Einflüsse des modernen Denkens über seine instrumentelle Verwertbarkeit hinaus und die mangelnde Reflexion vor dem Horizont sich verändernder Wissenschaften als Antwort auf die sich wandelnde Welt und die Art ihrer Wahrnehmung, bildete sich als Grundzug des sowjetischen Denkstils und der Wissenskultur heraus, die in Lenin ihren ersten Meister fanden. Wie bezeichnend, dass die mathematische Statistik in Sowjetrussland auch international zur Blüte kam, dass es aber keine Sozial- und Kulturanthropologie, keine Philosophie, die über das Jahr 1908 (das Erscheinungsjahr von Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“) hinausging, dass es bis in die 1960er Jahre keine Soziologie, keine moderne Genetik, sondern die Scharlatanerie des Lysenkoismus und noch länger keine Psychologie und Psychoanalyse gab. Einstein wurde lange Zeit verworfen. Freuds Werke erschienen erstmals 1989 vollständig auf Russisch. Die Behauptung ist nicht übertrieben, der Sowjetstaat habe sich die Errungenschaften der „kapitalistischen“ und „bürgerlichen“ Wissenschaft lediglich äußerlich, technisch angeeignet. In der Sowjetunion überwucherte die Produktion die Reflexion, das instrumentelle Handeln das Reflexionswissen.32 Wenn es ein Kennzeichen der sowjetischen Moderne ist, dass sie die Theorie ausgesperrte und durch die technische Aktion ersetzte, dann hat die Sowjetunion diesen „Geburtsfehler“ bis zu ihrem letzten Tag beibehalten. Man habe sich nicht um Max Weber, Durkheim, Freud, Toynbee oder Spengler gekümmert, schrieb ein Mitglied des sowjetischen wissenschaftlichen Establishments 1987 und fuhr fort: „Wenn eine Gesellschaft es nicht fertig bringt, sich mit diesen Welten vertraut zu machen, tritt sie einfach aus dem 20. Jahrhundert aus und ist von seinen wichtigsten Errungenschaften ausgeschlossen.“33 Ausgeschlossen blieb die Sowjetunion zwar nicht, aber die fehlende Entwicklungsfähigkeit ist durch den Hinweis auf Zeitgenossen Lenins, die in Sowjetrussland nicht „vorkamen“, bezeichnend. Außer der instrumentellen Wissenschaft gab es nur das Wahrheitssystem. Von dieser Warte aus klären sich weitere Fragen der sowjetischen Moderne. Wie sollte unter diesen Umständen die Ausdifferenzierung in allen Bereichen von Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Kultur usw. theoretisch eingefangen werden können, eine Ausdifferenzierung, die durch das technizistische Vorgehen der

31 Dieser Zusammenhang ist ausführlich dargelegt in Plaggenborg, Experiment, S. 4779. 32 Die grundlegende Struktur ohne Bezug zur Sowjetunion ist beschrieben bei Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 58-77 33 Zitiert in Zbigniew Brzezinski, Das gescheiterte Experiment. Der Untergang des kommunistischen Systems, Wien 1989, S. 51.

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sowjetischen Modernen unweigerlich generiert wurde? Pluralität und Differenz passten nicht ins Schema, also traten die Vertreter der Wahrheit gegen sie an, auch nach Stalin. Dissidenten zerrten sie vor Gericht, Liedermacher sperrten sie ein, Andersdenkende waren ein Fall für die instrumentell genutzte Psychiatrie, Homosexuelle, Gläubige und Esperantisten wurden verfolgt. Während der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ in den 1960er Jahren kam erneut der Anwendungsbezug von Technik zur Geltung, ihre Folgen wurden aber nicht theoretisch bewältigt. Den Atomunfall 1956 gab es in der Öffentlichkeit nicht, vom Kommunikationsdesaster anlässlich des Unfalls in ýernobyl zu schweigen. Vergröbernd gesprochen: In der sowjetischen Moderne war es möglich, Komplexitätssteigerung zu diagnostizieren, zu analysieren und Maßnahmen zu ergreifen. Aber alle auch noch so guten Diagnosen stießen an die Grenze eines beschränkten theoretischen Reflexionswissens. Wer sich darüber hinwegsetzte, ging in die äußere oder innere Emigration, wurde verhaftet oder des Landes verwiesen. Man muss sich aber klarmachen, dass auch diese Beschreibung wieder im unsicheren Hafen der Theorie und ihrer Begriffe anlegt. Das eigentliche Problem ist damit verbunden, kann auf diese Weise aber nicht gelöst werden: Die vielfach geforderte historische Analyse der Moderne kann sinnvoll nur in einem Verfahren erfolgen, das die Moderne als eine Relation von Geschichte und Modernenarration versteht, denn der historische Verlauf ist von der Narration und dem Vorverständnis der Akteure ebenso durchwoben wie die real sich vollziehende Geschichte auf die Narration einwirkt. Die Beschreibung dieser Reflexivität fordert immer wieder neue Justierungen. Moderne wird erst dadurch geschichtlich.

Die DDR als „sozialistische (Menschen) Gemeinschaft“ Aufstieg und Transformation eines Narrativs. A RTHUR S CHLEGELMILCH

1. D IE D EKLAMATION DER „ SOZIALISTISCHEN M ENSCHENGEMEINSCHAFT “ Anfang 1960 hielt Kurt Hager an der Karl-Marx-Universität Leipzig einen Vortrag mit dem Titel „Der Einzelne und die Gemeinschaft“.1 Hager sprach sich dort nicht nur, wie üblich, für die Überlegenheit des Kollektivprinzips aus. Er behauptete zugleich, dass es in der DDR bereits gelungen sei, „die objektiven Grundlagen des Gegensatzes zwischen Individuum und Gemeinschaft“ aufzuheben und „Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, die die Gemeinschaft hochführt und den Einzelnen fördert“, herzustellen. Diese Eingliederung des Individuums in die „große Gemeinschaft“ sei das Unterpfand der „großen moralischen Überlegenheit unserer Ordnung gegenüber der kapitalistischen Unordnung“.2

1 Zum damaligen Zeitpunkt war Hager Mitglied und Sekretär des Zentralkomitees der SED mit dem Aufgabengebiet Wissenschaft, Volksbildung, Kultur. Seit 1959 war er Kandidat des Politbüros des ZK der SED, ab 1963 Mitglied und Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros. Bereits seit 1949 war er ordentlicher Professor für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin und seit 1958 Volkskammerabgeordneter. 2 Zit. n.: Neues Deutschland v. 30.1.1960, S. 4; ähnlich: Berliner Zeitung v. 28.1.1960, S. 3.

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Hagers Verortung der DDR als Modell sozialer Homogenität und politischer Einheit verlangte nach einer neuen, möglichst singulären Begrifflichkeit, die bald schon mit der Formel der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ als einer „relativ selbständigen sozialökonomischen Formation“ gefunden wurde.3 Anders als Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) vorausgesagt hatte, handelte es sich hierbei offenbar nicht um die „Diktatur des Proletariats“ im Sinne eines dynamischen Übergangsprozesses zur klassenlosen Gesellschaft. Ebenfalls nicht auf der Tagesordnung stand die Abschaffung des Staats als Herrschaftsform. Ganz im Gegenteil bedurfte es handlungsfähiger Staatsorgane, um „die sozialistische und wissenschaftlich-technische Revolution zu einem Prozess zu verbinden“ und die unterschiedlichen Interessen der „freundschaftlich miteinander verbundenen Klassen und Schichten“ zu harmonisieren bzw. „auf jene Ziele zu lenken, die mit den objektiven Erfordernissen des sozialistischen Aufbaus in Einklang stehen.“4 Es begann nun die Phase der großen Menschengemeinschafts-Deklamationen im Großen wie im Kleinen. So bediente sich das Neue Deutschland zwischen 1967 und 1970 etwa 1500-mal dieses Begriffs, der vorher nur vereinzelt und dann in der Regel auch nicht als Zentralbegriff verwendet worden war.5 Nahezu alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte sahen sich aufgerufen, entsprechende Bekenntnisse abzugeben. So beispielsweise die Hausgemeinschaft der Schnellerstraße 59 in Berlin-Treptow, die künftig „verantwortliche Arbeit für die Hausgemeinschaft im Rahmen der Nationalen Front“ zu leisten versprach6, ebenso der Schriftsteller Helmut Preißler, der dazu beitragen wollte, „dass diese Gemeinschaft sich festigt gegen die Summe gezüchteter Individualisten, wie ich

3 Walter Ulbricht, zit. n. Neues Deutschland v. 13.9.1967, S. 1. 4 Vgl. Karl A. Mollnau, Wozu die Arbeiterklasse den Staat braucht, in: Neues Deutschland v. 15.8.1968, S. 4. 5 Nach dem Krieg war der Gemeinschaftsbegriff zunächst vor allem durch die Kirchen und die CDUD herangezogen worden, während die Linke nur zögernd an ihn herantrat. Vgl. zur Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs durch Marx Manfred Riedel, „Gesellschaft, Gemeinschaft“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon der politisch-sozialen Frage, Stuttgart 1975, S. 801-862, hier: S. 851. Vgl. ebda. S. 854 ff. auch die die Hinweise zur Überhöhung des Begriffs durch Ferdinand Tönnies („Gemeinschaft und Gesellschaft“ [1887]) bzw. zu seiner nationalkonservativen und völkischen Ideologisierung im 20. Jahrhundert. 6 „Eine große Familie“, in: Neue Zeit v. 25.1.1968, S. 8.

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sie in Westdeutschland kennenlernte“7, ferner das Wissenschaftlerkollektiv, das seinen „Platz in der großen Gemeinschaft“, der bedeutendsten Errungenschaft der DDR-Geschichte, weiter ausbauen wollte8 oder der Pfarrer, der nur die Menschengemeinschaft für befähigt hielt, die „technische Revolution“ zum Nutzen der Menschheit einzusetzen.9 Eine herausgehobene Rolle spielte das Argument der Menschengemeinschaft im Rahmen der aufwändig inszenierten Abstimmungskampagne für die Einführung einer neuen (sozialistischen) Staatsverfassung im Jahr 1968, deren achtzehnter Artikel dann auch die Entwicklung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ als Hauptziel sozialistischer Kulturarbeit nannte.10 In ähnlich gemeinschaftsstiftendem Tenor äußerte sich Artikel 2, Absatz 4, demzufolge „die Übereinstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen“ als „die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft“ zu gelten hatte.11 Im Januar 1971 legte das XV. ZK-Plenum der SED fest, dass Walter Ulbricht auf dem für Juni anberaumten VIII. Parteitag der SED das Hauptreferat zum Thema „Die sozialistische Menschengemeinschaft“ halten würde. Es kam jedoch anders: Ulbricht trat am 3. Mai 1971 von der Parteiführung zurück und verzichtete „wegen Kreislaufstörungen“ auf sein Referat, das vom designierten Nachfolger Erich Honecker übernommen wurde. Von der „sozialistischen Men-

7 Helmut Preißler, „Wir sind eine sozialistische Gemeinschaft“, in: Neues Deutschland v. 14.1.1967, S. 1. 8 Neues Deutschland v. 8.12.1967, S. 1. 9 Neue Zeit v. 18.1.1967, S. 1. 10 Als eines von vielen Beispielen hier nur ein Statement der Bauarbeiter, die gerade den Fernsehturm auf dem Alexanderplatz errichteten: „Wir Bauleute im Sozialismus kennen keine Sorge mehr um das tägliche Brot und um den Arbeitsplatz. Und wir schmieden unsere Pläne weit in die Zukunft hinein. [...] Was wir Bauleute schätzen, ist unsere Menschengemeinschaft, die nur ein freies Volk, im Sozialismus lebend, besitzt.“ (Neues Deutschland v. 2.4.1968, S. 7). 11 Vgl. als ein Beispiel von vielen den Kommentar „Die erste sozialistische deutsche Verfassung. Wer hat die Macht? Worauf beruhen die Grundrechte“ (Berlin [Ost] 1969) des Staatsrechtlers Wolfgang Weichelt, der an der internen Vorbereitung des Verfassungstextes direkt und maßgeblich beteiligt gewesen war: „Die Mitgestaltung [der Bürger, A.S.] geschieht durch die Verwirklichung aller Grundrechte. Sie ist nur in der sozialistischen Gemeinschaft möglich. So entfaltet sich durch die Mitgestaltung in der sozialistischen Gemeinschaft die sozialistische Persönlichkeit und umgekehrt“ (ebd., S. 66).

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schengemeinschaft“ war in Honeckers Referat keine Rede mehr. Es sei darauf zu achten, so hieß es nun, „die Macht der Arbeiterklasse und ihre führende Stellung in der Gesellschaft wie unseren Augapfel zu hüten und immer vollkommener auszuprägen“ und „Schönfärberei“ zu bekämpfen.12 Von da an verschwand der Begriff der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ nicht nur von der politischen Agenda der SED, sondern wurde geradezu aus dem öffentlichen Leben getilgt. Einige Monate später erklärte Kurt Hager dazu, dass Ulbricht mit seiner Begriffsschöpfung den „erreichten Stand der Annäherung der Klassen und Schichten überschätzt“ habe und die von ihm behauptete gesellschaftliche Harmonie in Wirklichkeit erst im Kommunismus erreicht werden könne. Dies hätten schließlich schon Marx und Engels erkannt.13 Der tiefere Grund für das jähe Ende des Menschengemeinschafts-Topos dürfte aber weniger in Ulbrichts unzureichender Ideologiefestigkeit als in dessen recht penetrantem Anspruch bestanden haben, mit „seiner“ DDR ein Modell für den gesamten Ostblock geschaffen zu haben. Dies wurde nicht nur im gesamten Ostblock als anmaßend empfunden, sondern konnte unter Umständen sogar als Infragestellung der sowjetischen Vorbildfunktion verstanden werden.14 Für eine solche Deutung spricht jedenfalls die auffällige Engführung des Gemeinschaftsbegriffs nach dem Wechsel zu Honecker. „Gemeinschaft“ wurde jetzt vor allem im internationalen Kontext beschworen – in Verbindung mit der Betonung der Bündnistreue der DDR und ihrer Unterordnung unter die Führung der Sowjetunion. Der Sowjetführung blieb es schließlich auch vorbehalten, aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags der Unionsgründung (1972) zu deklamieren, „eine neue historische Gemeinschaft von Menschen“ geschaffen zu haben – als Ergebnis einer „wahrhaft das ganze Volk umfassenden Vereinigungsbewegung“.15 Entsprechend ging die neue Verfassung der UdSSR von 1977 davon aus, den Rahmen

12 Vgl. „Gute Gaben“, in: Der Spiegel v. 20.3.1972, S. 76. 13 Vgl. ebda. 14 Vgl. z.B. die gemeinsame Stellungnahme des ZK der SED sowie des Staats- und Ministerrats der DDR zur militärischen Intervention in der ýSSR, in der die dortige negative Entwicklung mit dem erfolgreichen und zielbewussten Weg der DDR zur „wahren sozialistischen Menschengemeinschaft“ kontrastiert wird. („An alle Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik“, in: Neues Deutschland v. 21.8.1968, S. 1). Siehe auch: „Ulbricht. Am Ende ein Hauch von Tragik“, in: Der Spiegel 32(1973) v. 6.8.1973, S. 32 ff. 15 Vgl. Neue Zeit v. 11.10.1972, S. 4; vgl. auch: „Fetzen Papier“, in: Der Spiegel v. 1.1.1973, S. 56 f.

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einer „neuen historischen Menschengemeinschaft“ des gesamten Sowjetvolks als einer „Gesellschaft wahrer Demokratie“ zu bilden, welche „eine immer aktivere Mitwirkung der Werktätigen am staatlichen Leben und die Verbindung der realen Rechte und Freiheiten der Bürger mit deren Pflichten und deren Verantwortung gegenüber der Gesellschaft sichert“.16 War Ulbrichts Lieblingsprojekt mit Honeckers Machtübernahme tatsächlich zu den Akten gelegt? Terminologisch zweifellos, denn auch in der revidierten DDR-Verfassung von 1974 tauchte die beanstandete Formel nicht mehr auf. Die neuen Leitvokabeln lauteten „sozialistische Nation“, „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ und „real existierender Sozialismus“. Auch hier handelte es sich in gewisser Weise um Umschreibungsversuche für die Problematik des Übergangs zum Kommunismus, doch war die Lösung der Praxis von der Theorie deutlicher ausgeprägt und wurde nicht mehr behauptet, dass die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft exakt geplant werden könne. Der Anspruch des „Realsozialismus“ bestand vielmehr in erster Linie darin, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den sozialen Bedürfnissen und den Konsumwünschen der Bürger einerseits sowie den inneren und äußeren ökonomischen Zwängen des Staats andererseits zu gewährleisten und damit die so genannte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ herzustellen. Die fortdauernde Existenz innergesellschaftlicher Interessensunterschiede und Konflikte wurde eingeräumt und akzeptiert, solange der Boden des Sozialismus nicht verlassen wurde – worunter allerdings, das ist die entscheidende Einschränkung, der „real existierende Sozialismus“ verstanden wurde. Im Vergleich zur Ulbricht-Ära zeigt sich, dass das Pragmatische den Vorrang vor dem Utopisch-Visionären gewonnen hatte und dass die Bürger vor allem begreifen sollten, „wie untrennbar volkswirtschaftliche Leistungsentwicklung, Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und Vervollkommnung unserer sozialistischen Demokratie zusammenhängen“ (Erich Honecker, 1987).17

16 Präambel der Verfassung der UdSSR von 7. Oktober 1977, zit. n. Theodor Schweisfurth, Verfassungsgebung und Verfassung in einem Staat des ,realen Sozialismus‘. Anmerkungen zur Verfassung der UdSSR vom 7. Oktober 1977, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 39 (1979), S. 740 ff., hier S. 759. 17 Die Aufgaben der Parteiorganisationen bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED. Aus dem Referat des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, auf der Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen, in: Neues Deutschland v. 6.2.1987, S. 3.

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Der Kontrast wird deutlich, wenn man dieser Aussage Erich Honeckers aus dem Jahr 1987 das Manifest des VII. Parteitags der SED vom April 1967 gegenüberstellt, in dem sich ebenfalls ein Passus zur „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ findet. Voller Pathos hatte es dort noch geheißen: „Die entwickelte sozialistische Gesellschaft ist in der Tat eine großartige Perspektive. Wir gehen voller Zuversicht an unsere historische Aufgabe … Sie [die entwickelte soz. Ges.; A.S.] ermöglicht das Gute, Wahre und Schöne im Menschen. Sie ermöglicht allen ein sinnerfülltes, kulturvolles und glückliches Leben. … So wird unser sozialistisches Vaterland zur immer schöneren Heimstatt der großen Familie sozialistischer Bürger unseres Staates.“18

2. G EMEINSCHAFT ALS SOZIOKULTURELLES G UT UND E RINNERUNGSWERT DER DDR-G ESELLSCHAFT Man könnte aus den bisherigen Ausführungen den Schluss ziehen, dass die „sozialistische Menschengemeinschaft“ nicht viel mehr als ein vorübergehendes Hirngespinst Walter Ulbrichts und einiger führender Genossen darstellte, allenfalls ein kollektives Trugbild, das bald schon vom Realsozialismus eingeholt wurde. Andererseits äußern viele ehemalige DDR-Bürger in der Rückschau die Auffassung, dass man zwar der Phrase zu keiner Zeit Glauben geschenkt habe, das gemeinschaftliche Zusammenleben in der DDR aber dennoch intensiver und glaubwürdiger als im bundesrepublikanischen Kontext erlebt worden sei. Als Begründungsmuster zeichnen sich vor allem Netzwerkbildungen unter Mangelwirtschaftsverhältnissen, institutionelle Einbindungen in betriebs- und hausgemeinschaftliche Strukturen, die relativ ausgeglichene Sozial- und Einkommensstruktur, die gesicherte und unangreifbare Existenz als „Werktätiger“ und das als dynamisch und fair empfundene Bildungssystem der DDR (einschließlich der Versorgung mit Kinderkrippen) ab.19 Diesem qualitativen Befund entspricht die auffällig größere Beliebtheit des Worts „Kollektiv“, wie sie eine Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie in den neunziger Jahren für die neuen Bundesländer nachweisen

18 Manifest des VII. Parteitags der SED an die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neues Deutschland v. 23.4.1967, S. 1. 19 Vgl. Lothar Fritze, Die Gegenwart des Vergangenen. Über das Weiterleben der DDR nach ihrem Ende, Köln u.a. 1997, S. 100 ff.

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konnte. Bereits in den siebziger Jahren hatten Untersuchungen der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR ähnliche Ergebnisse erbracht.20 Nicht vergessen werden sollte zudem, dass die Gemeinschaftsidee mitten in der großen Staatskrise der DDR nochmals ins Rampenlicht trat, als sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz Künstler, Intellektuelle, linke Reformer und „Volk“ dazu verbündeten, eine „andere DDR“ zu schaffen, in der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit plus sozialistische Gerechtigkeit“ gelten würden. In solchem Sinne formulierte der nachfolgende, immerhin mit 1,2 Millionen Unterschriften beglaubigte Aufruf „Für unser Land“ den Wunsch, eine „solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind“, getragen von den „antifaschistischen und humanistischen Idealen, von denen wir einst ausgegangen sind“.21 Dem entsprach im Übrigen die Mehrheit der Verlautbarungen der Oppositions- und Bürgerrechtsgruppen der Wendezeit wie schon der vorangegangenen Jahre, die in einem erneuerten und demokratisierten Sozialismus die einzig zukunftsfähige Form menschlichen Zusammenlebens erblickten und vor allem nicht mehr hinter den in der DDR erreichten Stand der gesellschaftlichen Kontrolle der Produktionsmittel zurück wollten.22 Wenn nun das Gemeinschaftsnarrativ eine der wenigen beständigen und nachhaltig wirksamen Wertorientierungen der DDR-Gesellschaft darstellt, stellt sich die Frage, ob es sich bei ihm möglicherweise um ein Beispiel für besonders erfolgreiche SED-Propaganda handelt. Aus der sozialwissenschaftlichen Forschung weiß man, dass Propagandaerfolg stark davon abhängt, dass bereits vorhandene subjektive Wirklichkeitserfahrungen und Wirklichkeitskonstruktionen

20 Die Sympathiewerte für „Kollektiv“ lauteten für 1990: 52 % (Ostdeutschland), 21 % (Westdeutschland); für 1999: 66 % (Ost), 32 % (West). Vgl. Christine Kessler, Woran denken Sie bei ,Kollektiv‘? Kollektivität als gesellschaftlicher Wert in der DDR und seine kommunikativen Zusammenhänge in Texten, in: R. Reiher/A. Baumann (Hg.), Vorwärts und nichts vergessen. Sprache in der DDR. Was war, was ist, was bleibt, Berlin 2004, S. 184–205, hier: S. 184. 21 http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/DieDeutscheEinheit_aufrufFuerUnserLand/ (Zugriff: 3.7.2013). 22 Vgl. z.B. Klaus Wolfram, DDR-Opposition vor 1989, in: Bernd Gehrke/Wolfgang Rüddenklau: … das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, S. 24-44; Christof Geisel, Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition. Ein deutscher Sonderweg?, in: Internationale Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 39 (2003), H. 2, S. 173-222.

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der Rezipienten angesprochen und „bearbeitet“ werden.23 Ob und inwieweit politische Werbung den erwünschten Effekt erzielt, hängt ferner von der Art und Weise ihrer Präsentation und Wahrnehmbarkeit ab, wobei die Verwendung von sinnlichen Assoziationselementen eine erheblich verstärkende Wirkung erwarten lässt. Erfolgreiche Propaganda bedarf zudem der Kommunikation – sie kann nur dann überzeugen, wenn Elemente der Freiwilligkeit und des gegenseitigen Austausches in ihr enthalten sind.24 Es soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, die hier angesprochenen Elemente der Präsentation und Kommunikation mit Blick auf das (Menschen-) Gemeinschaftsmotiv näher zu untersuchen. Dabei will ich mich vor allem auf den Bereich der Kultur konzentrieren, bediente sich die SED doch in starkem Maße der Sprache der Symbole und Zeichen, um ihre Politik zu legitimieren. Im Gegenzug kam der Kultur aber auch die Rolle einer Art „Ersatzöffentlichkeit“ zu, sofern es sich um die Thematisierung von Problemen handelte, die explizit nicht artikuliert geschweige denn diskutiert werden konnten. Last not least verfügen kulturelle Ausdrucksformen bekanntlich über große Assoziationspotenziale, deren Wirkung auf den politischen Diskurs und die politische Kultur eines Gemeinwesens nicht gering zu schätzen ist.

3. S TÄDTEBAU IM G EIST DER SOZIALISTISCHEN G EMEINSCHAFT : ANSPRUCH UND W IRKLICHKEIT Am 21. Dezember 1949 wurde auf dem Gelände der Weberwiese in BerlinFriedrichshain gleichzeitig mit der Umbenennung der Frankfurter Allee in Stalinallee der Grundstein zum Bau der ersten „Wohnzelle“ im Rahmen des „Generalaufbauplans“ des Ost-Berliner Magistrats gelegt.25 Aus diesem Anlass wurden wie so oft in den vorangegangenen Wochen und Monaten die Leitsätze des Berliner Neuaufbaus öffentlich beschworen, denen zufolge künftig allein nach den Bedürfnissen der Bevölkerung gebaut werden würde. Das erklärte Ziel bestand in der Schaffung von in sich geschlossenen Wohngebieten mit etwa 5000 Ein-

23 Vgl. Susanne Jäger, Propaganda und Kriegsberichtserstattung, in: G. Sommer/A. Fuchs (Hg.), Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie, Stuttgart 2004, S. 317-329, hier S. 320 f. 24 Vgl. Nico Dietrich, Wir tun, was ihr wollt. Betrachtungen zum Einfluss persuasiver Kommunikation, München 2011, S. 4 ff.; Thymian Bussemer, Psychologie der Propaganda, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2007), S. 19-25. 25 Der Generalaufbauplan beruhte auf dem „Kollektivplan“ Hans Scharouns von 1946.

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wohnern. Jede Wohnzelle, alternativ wurde auch von „Nachbarschaft“ gesprochen, sollte alle erforderlichen gemeinschaftlichen Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, einen Saalbau, ein Kino, eine Volksbücherei, einen Sportplatz, eine Turnhalle, ein zentrales Waschhaus, ein Heizwerk, ein Warmbad und eine Großküche beinhalten und eine hohe Wohnqualität gewährleisten. Das Modell der Wohnzelle würde sich perspektivisch – auch unter Einbeziehung des vorhandenen Altbaubestands – auf das gesamte Stadtgebiet ausdehnen und zu einer umfassenden Dezentralisation führen. Das frühere chaotische Neben- und Ineinander von Wohnung, Straßenverkehr und Wirtschaft würde damit immer weiter in den Hintergrund treten und der „aufzehrenden Wirkung des Großstadtlebens“ Einhalt geboten werden.26 Alle vorgesehenen Bautypen waren ausgesprochen sachlich, schmucklos und funktional geplant und unterschieden sich vor allem nach Wohnungsgröße und Geschosshöhe; auch Einfamilienhäuser waren vorgesehen. Prinzipien und Ideale sozialistischer Kollektivität ließen sich aus dem Konzept der „Wohnzelle“ nur mit Mühe entnehmen, naheliegender war hingegen der Bezug auf die Gartenstadtidee und die Bauhaus-Architektur bzw. im internationalen Maßstab auf das Ziel der funktionellen und gegliederten Stadt im Geist der „Charta von Athen“ von 1933.27 Ab 1950/51 gerieten Kollektivplan und Wohnzellenkonzept unter massiven Druck, wobei die so genannten „Laubenganghäuser“, die sich durch ihre besonders hohe Funktionalität (u.a. heller Laubengang statt dunkler Hausflur) auszeichneten und noch mehr als die anderen Bauten internationale Modernität verströmten, einen bevorzugten Angriffspunkt darstellten. Im Neuen Deutschland verglich das ZK-Mitglied Rudolf Herrnstadt den Stil der Laubenganghäuser mit der „Menschenverachtung des sterbenden Kapitalismus“ und das Menschenbild des architektonischen Funktionalismus als das der „zusammengeschlagenen knieweichen Kreatur“. Genau das Gegenteil sei aber Aufgabe sozialistischen Bauens:

26 Vgl. „Hunderttausende in der Stalinalle“, in: Neues Deutschland v. 22.12.1949, S. 1; „Keine Wohnung mehr ohne Sonne“, in: Berliner Zeitung v. 21.12.1949, S. 9; für das Ganze: Heinrich Starck, Der Generalaufbauplan Berlins und wie er verwirklicht werden soll. Ein neues Blatt in der Geschichte der deutschen Hauptstadt, in: Neues Deutschland v. 31.7.1949, S. 4; „Grundzüge der Neuplanung der Stadt“, in: Berliner Zeitung v. 19.7.1949, S. 6. 27 Der explizite Bezug wurde allerdings in der Öffentlichkeit vermieden. Eine entsprechende Diskussionsanregung der CDUD-Parteizeitung „Neue Zeit“ von Anfang 1948 blieb ohne Resonanz. („Die ,Charta von Athen‘“, in: Neue Zeit v. 26.2.1948, S. 1).

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„Denn es ist nicht wahr, daß sich die Bedürfnisse der Menschen im Physischen erschöpfen. Wir sehen täglich, wie in den Menschen bei uns das Bedürfnis nach Schönheit und Kultur wächst. Wir sehen, wie sie die aufgezwungene Einförmigkeit abwerfen und in Tänzen, Liedern und Dichtungen die eigene Schöpferkraft entdecken und steigern, wie sie differenzieren lernen und die nationale Eigenart finden und entfalten. Sie wollen, daß auch die Wohnungen und Häuser, in denen sie einen großen Teil ihres Lebens verbringen, ein Abbild ihrer weiten Perspektive und ihrer Kraftentfaltung sind. Sie wollen daher künstlerisch gestaltete Häuser, die der Würde und Schönheit ihres Daseins entsprechen. Nach Auffassung der ,Funktionalisten‘ ist eine Haustür ein Durchlaß für eine im Durchschnitt 1,75 m große Kreatur. Nach Auffassung der befreiten Werktätigen dagegen hat die Haustür, wie die Fassade, wie jedes Detail die Würde des freien Menschen widerzuspiegeln“.28 Den namentlich genannten Architekten wurde ultimativ angetragen, vom „Eierkistenmodell“ Abstand zu nehmen, einen neuen Baustil unter Berücksichtigung der „nationalen Bautraditionen, die durch den Formalismus der Imperialisten verschüttet wurden“ zu entwickeln und die Baukunst als Waffe gegen den Imperialismus einzusetzen.29 Sie hatten damit umzusetzen, was letztlich bereits in den ein Jahr vorher vom Ministerrat der DDR verabschiedeten „16 Grundsätzen des Städtebaus“ festgeschrieben worden war: Die natürliche Struktur und das historische Erbe der Stadt zu erhalten und das Zentrum zum „politischen Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung“ zu gestalten.30 Mit den „16 Grundsätzen“ und der engen Bindung der Stadt- und Bauplanung für die „deutsche Hauptstadt“ an die Parteilinie war eine entscheidende Weichenstellung vollzogen, die zunächst in der Stalinallee, bald aber schon in vielen anderen Städten der DDR und auch auf dem Land ihren Ausdruck finden

28 Rudolf Herrnstadt, Über den Baustil, den politischen Stil und den Genossen Henselmann, in: Neues Deutschland v. 29.7.1951, S. 3. 29 Ebda. S. 3. 30 „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus. Vom Ministerrat für die Deutsche Demokratische Republik beschlossen“, in: Berliner Zeitung v. 22.8.1950, S. 4: „Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmarschplätze und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.“

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sollte.31 Dem rasch auf die neue Linie eingeschwenkten Chefarchitekten Henselmann konnte schon wenige Wochen später anlässlich der Grundsteinlegung für das „Hochhaus Weberwiese“ attestiert werden, die Keimzelle der künftigen Stalinallee geschaffen und damit dem Ziel der „stolzen, freien, heiteren Gemeinschaft des Sozialismus“ einen hervorragenden Dienst erwiesen zu haben.32 Am Beispiel des Hochhauses sowie der anschließenden Rahmenbebauung der Weberwiese lassen sich einige Merkmale der neuen Gestaltungsprinzipien gut aufzeigen. Im Einzelnen handelte es sich um • die Symmetrie als rationalem Gesamtordnungsprinzip; • den klassizistischen Baustil im Sinne der Weiterentwicklung nationaler Bau-

tradition im Kampf gegen den „Funktionalismus“ und „Kosmopolitismus“; • die repräsentative Gestaltung, Ornamentierung und Verkachelung der Fassa-

den im Sinne der Verschmelzung von Historie und Moderne; • die repräsentative Gestaltung der Eingangs- und Flurbereiche unter dem Ge-

sichtspunkt der Formung der Bewohner durch ihre Umgebung.33 Dem gesellschaftspolitischen Impetus entsprach die Auswahl der Erstbezieher, die bis auf drei Ausnahmen der Arbeiterschaft angehörten. Selbstverständlich wurde die Namensliste der Bewohner veröffentlicht ebenso wie die von ihnen aufzubringenden – ausgesprochen moderaten – Mieten.34 Als kollektivbildendes Element besonderer Art galt die gemeinsame Nutzung der Dachterrasse. Der

31 Zur Anwendungsgeschichte der „16 Grundsätze“ auf dem Land, die hier aus Platzgründen nicht näher ausgeführt werden kann, vgl. Dieter Pocher, Mestlin. Das sozialistische Beispieldorf in Mecklenburg, in: B. Lichtnau (Hg.), Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum zwischen 1936 und 1980, Berlin 2002, S. 323-335; Ulrich Hartung, „Die Kultur auf’s Land bringen“. Dörfliches Bauen in der frühen DDR und der Typus des Land-Kulturhauses, in: U. Kluge (Hg.), Zwischen Bodenreform und Kollektivierung. Vor- und Frühgeschichte der „sozialistischen Landwirtschaft“ in der SBZ/DDR vom Kriegsende bis in die fünfziger Jahre, Stuttgart 2001, S. 229-250. 32 Vgl. „Grundstein für Hochhaus Weberwiese gelegt“, in: Berliner Zeitung v. 2.9.1951, S. 4. Für den weiteren Verlauf: Rudolf Herrnstadt, Die erste sozialistische Straße Berlins, in: Berliner Zeitung v. 13.7.1952, S. 7. 33 Vgl. „Walter Ulbricht besichtigte das Hochhaus“, in: Berliner Zeitung v. 18.1.1952, S. 1, 4; „Der erste Stein für das erste Wohnhochhaus“, in: Neues Deutschland v. 6.9.1951, S. 5. 34 „Liste der Bewohner des Hochhauses auf der Weberwiese“, in: Neues Deutschland v. 1.5.1953, S. 3.

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Charakter des Weberwiesen-Areals wurde schließlich in seiner ganzen Stringenz nach der Fertigstellung des Gesamtensembles ersichtlich: In den flankierenden, anspruchsvoll gestalteten Häusern wurden Läden, Kindergärten und Wohnungen untergebracht und im Rahmen von zwei Attikareliefs die Geschichte vom Aufbau der Stalinallee (und Berlins) erzählt bzw. die Einheit aller Werktätigen und die freudige Gemeinschaftlichkeit des sozialistischen Lebens in einer neu gestalteten Welt zelebriert. Die Weberwiese selbst stellte sich, wie schon vor dem Krieg, als kultivierter Grünraum mit Brunnenanlage dar, der auch für öffentliche Veranstaltungen (Kinderfeste, Volksfeste) genutzt werden konnte.35 Die weitere Entwicklung der Stalinallee als einer hochambitionierten Mischung von Wohn-, Laden- und Prachtstraße ist bekannt und braucht hier nicht nacherzählt zu werden. Auch wenn die Monumentalität und ornamentale Fülle der Häuser im Verhältnis zur Weberwiese deutlich zunahm, blieb das Gesamtwerk der gesellschaftspolitischen Leitidee einer neuen Idealgesellschaft sozial und kulturell Gleichgestellter bzw. politisch Gleichgesinnter verpflichtet. Freilich stellte sich das Gemeinschaftsgefühl eher „hinter der Zuckerbäckerfassade“ als vor ihr dar und vermittelte die Stalinallee nach ihrer Fertigstellung in weitaus geringerem Maße als vorausgesagt den Eindruck einer symbiotisch-lebendigen Einheit von Staat und Gesellschaft. Hierauf machte das Satireblatt „Eulenspiegel“ Mitte 1960 mit einem offenen Brief an Ost-Berlins Oberbürgermeister Friedrich Ebert aufmerksam und bemerkte, dass die Stalinallee statt zur ersten sozialistischen Straße zur „ersten sozialistischen Dorfstraße“ geworden sei und die meisten Berliner inzwischen eher zur Schönhauser Allee tendierten.36 Ganz offensichtlich war die Semantik des „sozialistischen Klassizismus“ in der Sackgasse gelandet, zumal sie noch immer in peinlicher Direktheit mit der Person Stalins verbunden war, dessen Denkmal schließlich im Herbst 1961 „bei Nacht und Nebel“ zusammen mit den alten Straßenschildern verschwinden sollte.

35 Vgl. Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Aufbau, Städte, Themen, Dokumente, Frankfurt/Main u.a. 1998, S. 117 f., 309-313; Hartung, „Die Kultur...“ (wie Fn. 31), S. 233 f.; „Als auf der Weberwiese noch das Linnen bleichte…“, in: Neues Deutschland v. 2.12.1951, S. 5. 36 Während die Zeitungspresse des Ostens dazu schwieg, ließ sich der Hamburger Spiegel die Story nicht entgehen: „Vom Weltstadt-Ehrgeiz zum Dorfidyll“, in: Der Spiegel 33 (1960) v. 10.8.1960, S. 35. Vgl. für das als gemeinschaftlich empfundene Leben in den Häusern: Y. Queisser/L. Tirri (Hg.), Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2004.

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Abb. 1: Attikarelief von Gottfried Kohl. Eingangsbereich Marchlewskistraße 20 (Architekt: Hermann Henselmann)

Aus: Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Architektur und Städtebau der DDR, Bd. 2: Aufbau. Städte, Themen, Dokumente, Frankfurt a. M.-New York 1998, S. 313. © Archiv am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen, Universität Stuttgart (Foto von Stanislaw Klimek).

Mit dem zweiten Bauabschnitt der „ersten sozialistischen Straße“, der KarlMarx-Allee, zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz, wurde das Modell des „Arbeiterpalastes“ aufgegeben und durch weitgehend schmucklose acht- bis zehngeschossige Plattenbauten ersetzt. Die Idee der Formung des Menschen durch seine Umgebung bezog sich nunmehr vor allem auf die Modernität und die Gleichheit der Lebens- und Wohnbedingungen in den „sozialistischen Wohnkomplexen“. Deren gemeinschaftsbildende Funktion bestand in erster Linie darin, eine sozialistische Lebensweise in den hierfür vorgesehenen Kollektiven (Hausgemeinschaft, Kindergarten, Schule, Betrieb, Sportgemeinschaft, Massenorganisationen etc.) zu gewährleisten. Auf Grund der damit verbundenen

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Aushäusigkeit erschien das Familienleben nachrangig, es wurde wenig Wert auf geräumige Kinderzimmer, Küchen und Bäder gelegt, zumal auch hier Auslagerungsangebote in Form von Wohngebietsgaststätten und Waschstützpunkten bestanden.37 Das Konzept der Verknüpfung von Pracht- und Wohnstraße bzw. Politik und Alltag wurde in modifizierter Form weitergeführt. Allerdings verschwand das tägliche Leben (mit Kindergarten/-krippe, Schule, Waschhaus, Schnellreinigung und -bügelei, Kaufzentrum) im „Hinterland“ der Magistrale, während an der Frontseite Konsum- und Kulturangebote auf „Weltniveau“ präsentiert wurden. Diese konterkarierten ob ihrer Exklusivität ein Stück weit das Egalitätsprinzip des Wohnquartiers, setzten es angesichts der bezahlbaren Preise für Restaurants, Cafés und Kino (mit „Oktoberklub“) aber auch nicht völlig außer Kraft.38 Im Gegensatz zu 1951 wurde der baupolitische Paradigmenwechsel des zweiten Bauabschnitts nicht mit einer öffentlichen Kritik des Vorangegangen verbunden. Vielmehr hatte Ulbricht in seiner Grundsatzrede auf der ersten Baukonferenz deutlich gemacht, dass auch weiterhin die „besonderen Bedingungen des nationalen und sozialen Kampfes in Deutschland“ berücksichtigt werden würden. Freilich müssten die Architekten nun lernen, „mit dem geringsten Aufwand an Mitteln schöne Städte und Bauwerke zu errichten“. Nach wie vor hätten sie sich dem Leitziel der „Gestaltung einer neuen sozialistischen Gesellschaft“ zu verpflichten – einschließlich der „harmonischen Befriedigung des menschlichen Anspruchs auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung“.39 Durchgehalten wurde ferner das Konzept der sozialistischen Paradestraße, wobei die Funktio-

37 Zur vielfachen Einbindung („Funktionen regnen herab“) vgl. den Artikel „Tagebuch einer Hausfrau“ in: Neues Deutschland v. 6.7.1963, S. 6. Ferner aus dem „Hinterland“ der Karl-Marx-Allee: „Im Haus und im Handeln einig“, in: Neue Zeit v. 20.10.1963, S. 12. 38 Vgl. Irma Leinauer, Ein modernes Wohngebiet in der Berliner Innenstadt. Planung und Entstehung, in: W. Ribbe (Hg.), Die Karl-Marx-Allee zwischen Strausberger Platz und Alex, Berlin 2005, S. 73-93; Ina Merkel, Konsumkultur in den sechziger Jahren. Das Beispiel Karl-Marx-Allee, in: Ribbe (Hg.), Karl-Marx-Allee (wie oben), S. 161-178. Merkel spricht dezidierter als ich von einem „Widerspruch von Egalisierungsideal und Repräsentations- bzw. Modernisierungswillen“, vgl. Merkel, Konsumkultur, in: Ribbe (Hg.), Karl-Marx-Allee (wie oben) S. 165. 39 „Die neuen Aufgaben im nationalen Aufbau. Rede des 1. Sekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Walter Ulbricht, auf der Baukonferenz der Deutschen Demokratischen Republik am 3. April 1955“, in: Neues Deutschland v. 6.4.1955, S. 3.

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närstribüne zur Abnahme der Aufmärsche allerdings in der schmucklosmodernen Karl-Marx-Allee errichtet wurde. Die bauliche Ausführung der Karl-Marx-Allee betonte den Modernitäts- und Funktionalitätsaspekt und ließ es zuweilen schwer fallen, den Unterschied zu den Neubauvierteln des kapitalistischen Westens zu erkennen. Gewiss stellte sie keine adäquate Umsetzung im Sinne der Ulbrichtschen Menschengemeinschaftsidee dar. Sie brachte im Ergebnis aber doch einen städtischen Raum hervor, der als modern und gemeinschaftsstiftend empfunden wurde. Hierfür stand als herausragendes Beispiel das von Henselmann entworfene „Haus des Lehrers“ am Übergang zum Alexanderplatz. Seine hochmoderne Stahlskelettbauweise mit Glas-Aluminium-Vorhangfassade folgte zwar eindeutig westlichen Architekturstandards, war jedoch zugleich – in einer modernisierten Gestaltungsvariante – durch ein umlaufendes Bildfries Walter Womackas mit dem Titel „Unser Leben“ an die sozialistische Gemeinschaftsidee gebunden.40 Die Wahrnehmung gemeinschaftsstiftender Funktionen stellte vor allem für diejenigen Städte eine große Herausforderung dar, die nahezu ausschließlich nach dem Muster des industriellen Wohnungsbaus errichtet wurden. Die erste Stadt, für die dies galt, war Hoyerswerda, das ab 1955 als Wohnstadt für das Kokskombinat „Schwarze Pumpe“ als sogenannte „zweite sozialistische Stadt“ praktisch neu gegründet wurde. Nach Auffassung des Neuen Deutschland lag darin eine große Chance: Gerade weil das Phänomen der „Wandlungen der Bauformen“ in Hoyerswerda nicht mehr zu befürchten sei, da es zur industriellen Bauweise künftig keine Alternative gebe, werde die neue Stadt „einen einheitlichen Baucharakter“ tragen und „ein geschlossenes Ganzes“ bilden. Hoyerswerda werde, so die Prognose, „noch schöner sein als Stalinstadt“, das als „erste sozialistische Stadt“ noch im Stil des sozialistischen Klassizismus begründet worden war.41

40 Vgl. z.B. „Wo das Herz der Hauptstadt schlägt“, in: Berliner Zeitung v. 26.11.1961, S. 8; zu Womackas Fries am Haus des Lehrers vgl. Swantje Karich, Arbeiter und Bauern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.9.2010. Die Autorin spricht von einem Paradebeispiel für „Kunst im öffentlichen Raum als Propagandamittel für kollektive Harmonie“. 41 Rudolf Reinhardt, Am Wirtshaus „Schwarze Pumpe“ steht ein weißer Pfahl. Was das Kombinat in der Trattendorfer Heide für unsere Republik bedeutet, in: Neues Deutschland v. 30.8.1955, S. 3. Vgl. demgegenüber Walter Ulbrichts Loblied auf die Gestaltung von Eisenhüttenstadt/Stalinstadt: „Die Architektur dieser Stadt wird in ihren monumentalen Bauten das hohe Ziel des Sozialismus zum Ausdruck bringen.“

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In besonders intensiver Weise hat sich die Schriftstellerin Brigitte Reimann, die 1960 nach Hoyerswerda kam und dort bis 1968 blieb, mit der Frage der Gemeinschaftsbildung in einer industriell gefertigten sozialistischen Wohnstadt auseinandergesetzt und dazu sowohl als Dichterin als auch als Bürgerin Stellung bezogen. Reimann hatte sich durch den „Bitterfelder Weg“, einer SEDKampagne, die die Trennung von Kunst und Arbeitsleben aufheben und die Werktätigen zu eigener kultureller Betätigung anregen sollte, unmittelbar angesprochen gefühlt und war von der Möglichkeit fasziniert, an der Entstehung einer neuen Stadt „auf der grünen Wiese“ direkt teilzuhaben. Bald aber schon bemerkte sie die Tristesse der „Typenhäuser“, „Typenläden“ und „Typenlokale“ und beklagte das Fehlen von Kultureinrichtungen. Nachdem sie im Rahmen einer Sitzung des Präsidiums des Nationalrats der DDR, die unter dem Motto „Froh und kulturvoll leben“ stand, auf ihre Bedenken öffentlich aufmerksam gemacht hatte, setzte eine Leserdiskussion in der Tageszeitung Lausitzer Rundschau ein, die freilich im Hintergrund von der SED gelenkt wurde. Brigitte Reimann (und mit ihr alle kritischen Leser und Diskutanten) mussten sich im Zuge dieser pseudodemokratischen Inszenierung, die sie erst allmählich als solche erkannten, letztlich den Vorwurf der „subjektiven Kleinigkeitskrämerei“ gefallen lassen: „Die neue Stadt wird so sein, wie wir sie alle in Einklang mit den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus gestalten“ lautete das abschließende Urteil. Dies kam einem Verdikt gegen die Dichterin gleich, der noch dazu zynisch empfohlen wurde, die empfangenen „Lehrstunden in sozialistischer Demokratie“ dankbar anzunehmen.42 Mit ihrem kurz danach begonnenen Roman „Franziska Linkerhand“, der Geschichte einer idealistischen Architektin, die statt mit gestalterischen Aufgaben mit Organisationsarbeiten betraut und mit Phrasen abgespeist wird, formulierte Brigitte Reimann eine an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Antwort. Am Beispiel von Stadtplanung und Architektur brachte sie das Dilemma (und mutmaßliche Scheitern) all derer auf den Punkt, die daran glaubten, „dass sich menschliche Beziehungen über Kultur herstellen lassen.“43

(zit. n. „Die neue Silhouette“, in: Neues Deutschland v. 8.5.1953, S. 3). Stalinstadt ging erst ab 1957 zum industriellen Bauen über. 42 Zum gesamten Vorgang: Maria Brosig, „Es ist ein Experiment“. Traditionsbildung in der DDR-Literatur anhand von Brigitte Reimanns Roman ,Franziska Linkerhand‘, Würzburg 2010, S. 269-271. 43 So Christa Wolf in einer nachträglichen Interpretation, zit. n. Helene und Martin Schmidt, Brigitte Reimann (1933-1973). Begegnungen und Erinnerungen, 2. Aufl. Hagen 2006, S. 59.

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3.1 Vergemeinschaftung durch Arbeit? Die Kommentare der Kulturschaffenden Unter Berufung auf Marx, Engels und Lenin galt in der DDR die Arbeit als bedeutendste Sozialisationsinstanz der Gesellschaft: „Im Arbeitsprozess bilden sich Persönlichkeiten mit gesellschaftlichen Einstellungen aus“ heißt es in einem betriebswirtschaftlichen Lehrbuch des Jahres 1985, das somit in etwa denselben Erwartungshorizont formulierte, wie er schon in der Aufbauzeit der DDR gegolten hatte.44 Der Geradlinigkeit dieses Entwicklungsmodells standen allerdings immer wieder Problemstellungen und Rückschläge im Alltag gegenüber, die nicht einfach totgeschwiegen werden konnten. Literatur und Kunst verfügten hier über einen erheblichen, wenn auch nicht klar umgrenzten und mithin immer wieder neu auszutestenden Spielraum. Mit der so genannten „Ankunftsliteratur“, benannt nach Brigitte Reimanns Roman „Ankunft im Alltag“ (1961), bildete sich zu Beginn der sechziger Jahre sogar ein eigenständiges, kritisch, aber nicht oppositionell oder gar antisozialistisch disponiertes Genre heraus. Als herausragende und viel gelesene Beispiele seien hier nur „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf (1963) sowie Erwin Strittmatters „Ole Bienkopp“ (1963) genannt. Vergleichbares hatte auch die bildende Kunst aufzuweisen. So etwa das Gemälde „Brigade Mamai – Schmelzer Nationalpreisträger Hübner hilft seinen Kollegen“, das Walter Dötsch im Auftrag des „VEB Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld“ als Brigademitglied 1961 schuf.45 Als Schüler Oskar Schlemmers kam Dötsch nicht ganz ohne Anklänge an die „Moderne“ aus und verzichtete ferner auf die Heroisierung wie auch auf die vordergründige Darstellung körperlicher Arbeit und Leistung. Insofern wurde die Forderung der 1. Bitterfelder Konferenz vom April 1959, „das Heldentum der Arbeit zu feiern“,46 nicht unmittelbar eingelöst. Andererseits kam die Betonung des Kollektivs dem aufkommenden Menschengemeinschaftsideal der sechziger Jahre zupass, so dass es nachvollziehbar ist, dass das zunächst eher zurückhaltend aufgenommene Bild

44 Eberhart Schubert, Sozialistische Betriebswirtschaft, Berlin (Ost) 1986, S. 19. 45 Vgl. Burghard Duhm, Die ,Feier der Arbeit‘ in Bitterfeld. Walter Dötsch und das Bildnis der Brigade ,Mamai‘, in: P. Kaiser/K.-S. Rehberg (Hg.), Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Analysen und Meinungen, Hamburg 1999, S. 491-499. 46 Zit. n. Manuela Uhlmann, Ein neuer Bildtyp. Das Brigadebild in der DDR, in: Kaiser/Rehberg (Hg.), Enge (wie Fn. 46), S. 201-209, hier: S. 205.

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bald schon als richtungsweisend angesehen und ab 1970 im Museum für Deutsche Geschichte in Berlin ausgestellt wurde.47 Die gemeinschaftsbildende Funktion der Arbeit und die Rolle der „Brigade“ als ihrer grundständigen Organisationseinheit blieb bis zum Ende der DDR ein herausragendes Darstellungsmotiv.48 Indes wurde die Frage der inhaltlichen Füllung des Sujets in der Tendenz offener, pluralistischer und kritischer beantwortet. Besonders markant war dies der Fall bei Sighard Gilles Gemälde „Brigade Heinrich Rau“ (1971) bzw. dem ebenfalls von Gille geschaffenen Diptychon „Brigadefeier – Gerüstbauer“ (1975/1977).49 Die Brigadegemeinschaft wurde hier mit einer ungeschönten Wirklichkeit konfrontiert und auf bestehende Problemlagen bezogen, beispielsweise auf die Inaktivität einzelner Brigadisten oder auf die Bedeutung des Alkohols und des Konsums für die Gemeinschaft. Einige Bilder thematisierten sehr direkt die Grenzen kollektiver Zusammengehörigkeit, ohne eine Problemlösung anzubieten, so Wolfgang Mattheuers „Die Ausgezeichnete“, das zudem auf die Inhaltslosigkeit sozialistischer Rituale abhob. Wenn in Brigadebildern überhaupt noch gemeinschaftsbezogene Idealisierungen erfolgten, blieb deren inhaltliche Substanz und Zielrichtung zweifelhaft. Bilder wie „Das Brigadebad“ (1976/77) von Wilfried Falkenthal, „Brückenbauer II“ (1977) von Karl Raetsch und „Die Aura der Schmelzer“ (1988) von Eberhard Heiland inszenierten das Arbeitskollektiv als selbstbewusste und verschworene Gemeinschaft, die an die „Brigade Balla“ in Frank Beyers – de facto indizierten – DEFA-Film „Spur der Steine“ aus dem Jahr 1966 bzw. dessen gleichnamige

47 Vgl. Gerhard Pommeranz-Liedtke, Im Mittelpunkt der Mensch. Die Malerei in der Ausstellung „Neues Leben – Neue Kunst“, in: Neues Deutschland v. 22.4.1961, S. 10; Hans Bölko, Brigaden und schreibende Arbeiter. Zur Ausstellung „Neues Leben – Neue Kunst“ im Pavillon Unter den Linden, in: Neue Zeit v. 30.4.1961, S. 4; Ursula Vogel, Kein Buch mit sieben Siegeln. Zur Ausstellung „Neues Leben neue Kunst“, in: Berliner Zeitung v. 3.5.1961, S. 6. In Bezug auf die malerische Gestaltung wurde „die etwas zu gewollte kantige Verformung der Figuren“ moniert, ferner die zu „überzogene Eigenwertigkeit der Farbe“. 48 Vgl. die Überblicksskizze von Paul Kaiser, Die Aura der Schmelzer. Arbeiter- und Brigadebilder in der DDR – ein Bildmuster im Wandel, in: K.-S. Rehberg/W. Holler/P. Kaiser (Hg.), Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Begleitend zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar 19.10.2012 bis 3.2.2013, Köln 2012, S. 167-173. 49 Abgebildet und kommentiert in dem Artikel von Petra Roettig, Sighard Gille. Brigade Heinrich Rau, in: M. Flacke (Hg.), Auftragskunst der DDR 1949–1990, Berlin 1995, S. 208-216.

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Romangrundlage von Erik Neutsch (1965) erinnert. Zweifellos ging die „Botschaft“ derartiger Bilder vornehmlich in Richtung Verweigerung und (stillem) Protest. Mit der Ausgangsidee der Entstehung des „neuen Menschen“ bzw. der Ausbildung der „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ im Rahmen sozialistischer Arbeits- und Lebenswelt hatten sie kaum noch zu tun. Dies gilt umso mehr, als der vor allem in den sechziger Jahren augenfällige Fortschrittsoptimismus des Brigadebilds seit den siebziger Jahren im Abbau begriffen war und am Ende kein Thema mehr darstellte. Die Darstellung der schwindenden Zukunftsgewissheit/-zuversicht bezog sich keineswegs nur auf das Brigadebild. Vielmehr war sie symptomatisch für die Kunstentwicklung der gesamten Honecker-Ära, die mithin ein ab Mitte der 1980er Jahre zutage tretendes gesamtgesellschaftliches Phänomen antizipierte.50 Als diesbezüglich charakteristisch mag Wolfgang Mattheuers zweiflerische Wegweisung „Hinter den sieben Bergen“ aus dem Jahr 1973 gelten – mit einer der französischen Marianne ähnlichen Freiheitsgöttin als Fatamorgana und einer auf unsicherem Kurs verlaufenden, von Individuen, nicht Kollektiven befahrenen [DDR]-Autobahn. Wie wir heute, dank der inzwischen erfolgten Veröffentlichung der Tagebuchnotizen Mattheuers wissen, entstand dieses Bild gedanklich bereits 1968, als der Maler unter dem Eindruck der Niederschlagung des Prager Frühlings am 9. September im Stillen notierte:

50 Vgl. Peter Förster, Die Entwicklung des politischen Bewusstseins der DDR-Jugend zwischen 1966 und 1989, in: W. Friedrich/P. Förster/K. Starke (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999, S. 70–165, hier: S. 134 f.

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Abb. 2 Wolfgang Mattheuer: Hinter den sieben Bergen (1973)

Quelle: Dietulf Sander, Kleine Werkmonographie. Wolfgang Mattheuer, Hinter den sieben Bergen (1973), Leipzig 2003. ©VG Bild-Kunst Bonn

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„Hinter den sieben Bergen“: „Hinter den Bergen spielt die Freiheit. / Hinfahren sollte man. / Sehen müßte man’s / mit eigenen Augen, / das Schöne; / die Freiheit spielt mit bunten Luftballons. / Und andere fahren hin / mit Panzern und Kanonen.“51

Wenig verwunderlich indes, dass das Großgemälde von 1973 in der DDR-Presse anders interpretiert wurde, nämlich als Warnung vor „der am Horizont auftauchenden lampionschwingenden Gestalt der Verführerin“ bzw. als grundsätzliche, wenn auch problembewusste Bejahung der „technischen und zivilisatorischen Errungenschaften“ der Gegenwart.52 jedoch wird die Bindung an den sozialistischen Umgebungsrahmen nur in Ausnahmefällen aufgegeben. So bleibt das Thema der Arbeit als gemeinschaftsstiftender Erfahrung durchaus erhalten, doch wird das erzieherische Moment zusehends durch die Darstellung von Realitätserfahrungen, Handlungsspielräumen und Problematisierungen ersetzt. Das sozialistische Gemeinschaftskonstrukt wird sozusagen realsozialistisch geerdet und überformt, wobei zunehmend im Unklaren bleibt, welche Art von Kollektivbewusstsein überhaupt angesprochen ist – man denke etwa an die „Aura der Schmelzer“. Zusammenfassend kann mit Blick auf die Gemäldekunst zunächst festgestellt werden, dass die „sozialistische Gemeinschaft“ über die vierzigjährige DDRGeschichte hinweg ein bedeutendes Thema darstellte. Prozesse der Verselbständigung und Teilautonomisierung des Gemeinschaftstopos sind klar erkennbar, aus der realsozialistischen Bodenhaftung ergaben sich Utopiemangel und Zukunftszweifel – die geschichtsphilosophische Sinngebung der Aufbauzeit ging verloren. Dort, wo, wie in Mattheuers „Hinter den sieben Bergen“, diese Problematik direkt angesprochen wurde, flüchtete man sich auf der Führungsebene in die Fehldeutung und verpasste damit einmal mehr die Chance zur Herbeiführung eines echten Dialogs zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Ebene.

51 Vgl. Ulrich Greiner, Hinter den sieben Bergen. Wolfgang Mattheuers Tagebuch als Text und Bild, in: Die Zeit v. 29.3.1991, S. 65. 52 Joachim Uhlitzsch, Bilder, die zum Denken herausfordern. Wolfgang-MattheuerAusstellung in Dresden, in: Neues Deutschland v. 26.11.1974, S. 4; Sybille Pawel, Auf der Suche nach dem Heutigen. Mattheuer-Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste, in: Neues Deutschland v. 6.4.1978, S. 6.

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4. F AZIT Das Ziel der sozialistischen (Menschen-) Gemeinschaft ist in der DDR über einen langen Zeitraum und mit großem politischem und rhetorischem Aufwand verfolgt worden. Es handelte es sich um einen politisch gewollten und inszenierten Vorgang, aber auch um einen sehr realen und für die Bevölkerung unmittelbar spürbaren Prozess, dessen progressive Elemente nicht von der Hand zu weisen waren, wenn sie, wie im Fall der Stalinallee und der Karl-Marx-Allee, vor aller Augen etabliert und gelebt wurden. Allerdings ließ sich der Anspruch eines originär sozialistischen Baustils ebenso wenig dauerhaft aufrechterhalten wie die Hybris der sozialistischen Menschwerdung durch die kollektiv organisierte Arbeitswelt. Den diesbezüglichen Einwänden und Vorschlägen der „Kulturschaffenden“ stand so gut wie keine Dialogbereitschaft der politischen Führungsebene gegenüber, die es mithin nicht vermochte, den patriarchalischen Gestus der fünfziger Jahre abzustreifen und sich in diesem Sinne niemals entstalinisierte. Dies bedeutete jedoch nicht das Ende des sozialistischen Gemeinschaftsdiskurses in der DDR. Freilich lief dieser – unter Nutzung der spezifischen Möglichkeiten der Kultur – überwiegend als autonomer Kommunikationsprozess der zivilgesellschaftlichen Ebene weiter. Dieser Befund, der um viele Beispiele erweitert werden könnte, steht in Einklang mit der Propagandaforschung. Sie geht davon aus, dass die Reziprozität, d.h., „die Antizipation von vorhandenen Interessen durch Propagandisten und die Akzeptanz und Weiterverbreitung der auf sie zugeschnittenen Propagandabotschaften durch die Rezipienten … den eigentlichen Kern der Propagandakommunikation“ bildet, d.h., „dass sie keine Inhalte doktrinär verordnen, sondern nur Bedeutungen verhandeln kann“.53 Exakt diesem Aushandlungsprozess verweigerte sich die SED in Bezug auf das Gemeinschaftsmotiv in allen drei hier untersuchten Dimensionen kulturellen Schaffens und Kommunizierens, obwohl hierzu die Bereitschaft der zivilgesellschaftlichen Seite vielfach erklärt worden war. In ihrem Tagebucheintrag vom 4. November 1963 brachte es Brigitte Reimann auf den Punkt: „Es ist schrecklich zu sehen, wie viele Umwege wir gehen, wie viele Kräfte brachliegen, wie Irrtümer zu Dogmen versteinern.“54

53 Bussemer, Psychologie (wie Fn. 24), S. 25. 54 Brigitte Reimann, Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963, 5. Aufl. Berlin 1998, S. 358 [4.11.1963].

Autorinnen und Autoren

Hager, Frank, M.A., Jg. 1974, Doktorand am Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen Hatzky, Dr. Christine, Jg. 1965, Professorin für die Geschichte Lateinamerikas und der Karibik an der Leibnitz Universität Hannover Houben, Dr. Vincent, Jg. 1957, Professor für die Geschichte Südostasiens an der Humboldt-Universität zu Berlin Hye, Dr. Hans Peter, Jg. 1955, Mitarbeiter des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Jeggle, Dr. Christof, Jg. 1965, Historiker, Bamberg Kruse, Dr. Wolfgang, Jg. 1957, Akad. Oberrat und apl. Professor am Lehrgebiet Neuere Deutsche und Europäische Geschichte/Geschichte der Europäischen Moderne an der FernUniversität in Hagen Manalapanacharoen, Dr. Suphot, Jg. 1960, Bearbeiter des DFG-geförderten Forschungsprojekts „Die Wandlung von Zeremoniell und Ehrenzeichen Siams“ Meyer-Zwiffelhoffer, apl. Prof. Dr. Eckhard, Jg. 1955, Lehrstuhlvertreter für Geschichte der Antike an der Universität Bielefeld Ochs, Dr. Eva, Jg. 1963, Akad. Rätin a. Z. am Lehrgebiet Neuere Deutsche und Europäische Geschichte/Geschichte der Europäischen Moderne an der FernUniversität in Hagen

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Plaggenborg, Dr. Stefan, Jg. 1956, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum Schlegelmilch, Dr. Arthur, Jg. 1958, apl. Professor und Direktor des Instituts für Geschichte und Biographie an der FernUniversität in Hagen Schmieder, Dr. Felicitas, Jg. 1961, Professorin für Geschichte und Gegenwart Alteuropas an der FernUniversität in Hagen Wendt, Dr. Reinhard, Jg. 1949, Professor für Neuere Europäische und Außereuropäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen

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