Merkwürdige Alte: Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s [1. Aufl.] 9783839426692

Age as theme, style, and metaphor: The contributions to this volume investigate the historical change and function of ce

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German Pages 350 [346] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Für eine neue Kultur der Integration des Alters
FIGURENTYPEN DES ALTER(N)S
Alte Frauen – Hexen – Kupplerinnen. Überlegungen zu den spätmittelalterlichen Wurzeln langlebiger Vorurteile
Altern als Problem für Jünglinge. Beobachtungen zum Topos von ›Jüngling und Greis‹ in Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts
Figurationen der älteren Ledigen in den Kriminalromanen Agatha Christies und Ingrid Nolls
Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart
DEMENZ UND PFLEGE ALS THEMA DER LITERATUR
Altersdemenz als kulturelle Herausforderung
Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwartsliteratur
Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart. Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Jürg Schubigers Haller und Helen
Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers. Der alte König in seinem Exil
ALTERSWERK, ALTERSSTIL UND ›ALTER‹ ALS METAPHER
Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form« Fontanes Alterslyrik
Endspiele oder Altern als Lebensform. Zu einem literarischen Motiv des Fin de siècle
Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig
Autorinnen und Autoren
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Merkwürdige Alte: Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s [1. Aufl.]
 9783839426692

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Henriette Herwig (Hg.) Merkwürdige Alte

Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 2

Henriette Herwig (Hg.)

Merkwürdige Alte Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kathrin Pläcking, Freiburg i. Br., 2012; © Kathrin Pläcking, 2013 Redaktionelle Mitarbeit: Alina Gierke, Maike Rettmann, Miriam Seidler, Johannes Waßmer Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2669-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Für eine neue Kultur der Integration des Alters Henriette Herwig | 7

F IGURENT YPEN DES A LTER ( N ) S Alte Frauen – Hexen – Kupplerinnen Überlegungen zu den spätmittelalterlichen Wurzeln langlebiger Vorurteile Andrea von Hülsen-Esch | 37

Altern als Problem für Jünglinge Beobachtungen zum Topos von ›Jüngling und Greis‹ in Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts Guglielmo Gabbiadini | 75

Figurationen der älteren Ledigen in den Kriminalromanen Agatha Christies und Ingrid Nolls Maike Rettmann | 101

Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart Miriam Seidler | 127

D EMENZ UND P FLEGE ALS T HEMA DER L ITERATUR Altersdemenz als kulturelle Herausforderung Hans-Georg Pott | 153

Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwartsliteratur Michiko Mae | 203

Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Jürg Schubigers Haller und Helen Henriette Herwig | 229

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil Meike Dackweiler | 251

A LTERSWERK , A LTERSSTIL UND ›A LTER ‹ ALS M ETAPHER Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form« Fontanes Alterslyrik Dirk Rose | 279

Endspiele oder Altern als Lebensform Zu einem literarischen Motiv des Fin de siècle Sonja Klein | 311

Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig Henriette Herwig | 325

Autorinnen und Autoren | 345

Für eine neue Kultur der Integration des Alters Henriette Herwig Das Alter gehört zu den biologischen Grundbedingungen des menschlichen Lebens. Als Lebenszeit und als Lebensphase strukturiert es »unser tägliches Leben wie auch unsere biografischen Perspektiven« 1, als gesellschaftliches Ordnungsmuster ist es mit sozialen Erwartungen verbunden und kulturellen Werturteilen unterworfen. Deshalb muss es auch als soziales und kulturelles Konstrukt verstanden werden.2 In allen Gesellschaften haben sich Vorstellungen von Lebensphasen, Stufen oder Kohorten ausgebildet3, die sich in Altersbildern niederschlagen, beispielsweise im Modell der Lebensstufen oder der Lebenstreppe. Jede Phase oder Stufe sieht sich mit bestimmten »Alterserwartungscodes«4 konfrontiert. Die Einteilung kann variieren, drei, vier, fünf, sieben oder zehn Phasen bzw. Stufen umfassen. Zu den Phasen oder Stufen gehören auch Vorstellungen von der Generationenfolge. Eine Abfolge von drei Generationen – von Uranos über Kronos zu Zeus –, bei der jeweils der Sohn den Vater stürzt, um dessen Herrschaft zu übernehmen, findet sich schon um 700 v. Chr. in Hesiods Theogonie.5 Altersbilder sind »Vorstellungen von der Rolle, den Eigenschaften und dem Wert alter Menschen in der Gesellschaft«.6 Sie beruhen auf gesellschaftlich »geteilten 1 | Klaus R. Schroeter, Harald Künemund: »Alter« als Soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 393-401, hier S. 393. 2 | Irmhild Saake: Theorien über das Alter. Perspektiven einer konstruktivistischen Alternsforschung, Opladen 1998; Anton Amann: Konstruktionen des Alters. Soziale, politische und ökonomische Strategien, in: Brigitte Röder, Willemijn de Jong, Kurt W. Alt (Hg.): Alter(n) anders denken, Köln u.a. 2012, S. 209-225. 3 | Gerd Göckenjan: Altersbilder in der Geschichte, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, S. 403-413, hier: S. 403. 4 | Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen, Frankfurt a.M. 2000, S. 25. 5 | Helmut Bachmaier: Späte Jahre. Das Alter in der Literatur, in: Entwürfe. Zeitschrift für Literatur (2008), H. 56, S. 63-72, hier S. 65. 6 | Barbara Pichler: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, S. 415-425, hier S. 415.

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Normen, die in Diskursen im historischen Verlauf immer wieder aktualisiert, also erinnert, bestätigt und modifiziert werden. Altersbilder in diesem Sinne werden nicht einfach erfunden und können nicht beliebig politisch hantiert werden.« 7 Sie können aber zu Altersstereotypen gerinnen. Altersbilder stellen Wirklichkeit her, indem sie die Selbst- und Fremdwahrnehmung prägen und die Handlungen der Menschen beeinflussen; als Ergebnis wissenschaftlicher, politischer und medialer Diskurse sind sie »nicht bloß deskriptiv«, sondern oft auch »normativ«. 8 Das neue Bild der ›jungen Alten‹ beispielsweise setzt auch die neue Norm der Aktivität und Produktivität im Alter.9 Umgekehrt verpflichtet das Bild des ›würdevollen Alters‹ zur Selbstbeschränkung auf altersgemäßes Verhalten, wie Siegfried Lenz es in einem seiner Essays Über den Schmerz (1998) beschreibt: Man darf nicht mehr beliebig leben, nicht über die Stränge schlagen, Angemessenheit ist empfohlen, und das heißt: der alte Mensch kann sich nicht beliebig kleiden, ernähren, frisieren, er soll sich keine Extravaganzen leisten, keine verwegenen Pläne machen, keiner ungebührlichen Leidenschaft frönen. Auf gar keinen Fall sollte er den kümmerlichen Versuch machen, sich nach unten anzupassen, zur Jugend hin.10

Wer gegen Normen wie diese verstößt, gilt als ›greiser Geck‹ oder ›unwürdige Greisin‹, ein Stereotyp, das Bertolt Brecht in seiner Erzählung Die unwürdige Greisin (1949)11 ins Gegenteil verkehrt. Auf die potentiell tödliche Macht rigider Vorstellungen von altersgerechtem Verhalten und Geschlechtsrollenkonformität spielt auch Kurt Marti in einer seiner Leichenreden (1969) an: als sie mit zwanzig ein kind erwartete wurde ihr heirat befohlen als sie geheiratet hatte wurde ihr verzicht auf alle studienpläne befohlen

7 | Göckenjan: Altersbilder in der Geschichte, S. 403. 8 | Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 416. 9 | Silke van Dyk: Kompetent, aktiv, produktiv? Die Entdeckung der Alten in der Aktivgesellschaft, in: PROKLA 146, Jg. 37 (2007), Nr. 1, S. 93-112. 10 | Siegfried Lenz: Die Darstellung des Alters in der Literatur, in: ders.: Über den Schmerz. Essays, Hamburg 1998, S. 73-95, hier: S. 89. 11 | Bertolt Brecht: Die unwürdige Greisin, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, Zürich 1976, S. 315-320.

Für eine neue Kultur der Integration des Alters als sie mit dreißig noch unternehmungslust zeigte wurde ihr dienst im hause befohlen als sie mit vierzig noch einmal zu leben versuchte wurde ihr anstand und tugend befohlen als sie mit fünfzig verbraucht und enttäuscht war zog ihr mann zu einer jüngeren frau liebe gemeinde wir befehlen zu viel wir gehorchen zu viel wir leben zu wenig 12

Altersbildern liegen unterschiedliche Begriffe des Alters zugrunde. Es empfiehlt sich, zwischen dem ›biologischen Alter‹, dem ›chronologischen Alter‹, dem an die Übernahme alterstypischer Rollen gebundenen ›sozialen Alter‹, dem ›hohen Alter‹, in dem man nicht mehr ohne die Hilfe anderer auskommt, und dem ›subjektiven‹ oder ›gefühlten Alter‹ zu unterscheiden. Alter ist eine »Differenzkategorie«, die in Relation zu ›jung‹ gebildet wird.13 Wie Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehörigkeit kann sie dazu dienen, von Menschen geschaffene Ordnungsmuster zu naturalisieren, sie »durch den Rekurs auf Biologisches« als natürlich erscheinen zu lassen.14 Selbst der Körper ist nicht einfach gegeben, sondern jenseits seiner biologischen Alterung »etwas von Menschen Gemachtes«, durch Repräsentationssysteme und Diskurse Geformtes15, sein Altern wird bei Frauen anders bewertet als bei Männern – mit entsprechenden Folgen für die Rollenzuschreibungen und das Selbstbild. Wer als ›alt‹ gilt, war nicht zu allen Zeiten und an allen Orten dasselbe. Beispielsweise hat die Modefreiheit, die Flexibilisierung der Bekleidungsnormen und die breite Akzeptanz von Kosmetika dazu geführt, dass 12 | Kurt Marti: Leichenreden, Darmstadt/Neuwied 1976 [1969], S. 35. 13 | Barbara Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 415. 14 | Martin Kohli: Die alternde Gesellschaft, in: Wissenschaftsmagazin fundiert: Alter und Altern (2004) [www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2004_01/kohli/ index.html, Zugriff: 02.10.2013]. 15 | Rüdiger Kunow: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht, Bielefeld 2005, S. 21-43, hier S. 21.

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ältere Menschen heute sehr viel jünger aussehen als früher und auch für jünger gehalten werden.16 Sie gehen diversen Aktivitäten nach, wählen, wenn möglich, ihre Wohn- und Lebensform selbst, genießen mehr Freiheiten als je zuvor und erfreuen sich einer größeren Akzeptanz des gealterten Körpers. Sie sind auch objektiv gesünder als die Alten vor 100 Jahren. Stereotype Vorstellungen vom Alter werden dem historischen Wandel des Alters also nicht gerecht. Die Grenze, an der das Alter beginnt, hat sich in den westlichen Industriegesellschaften stark verschoben. Dazu trugen nicht nur die Verbesserung des Einkommens, der Ernährung und der hygienischen Verhältnisse bei, sondern auch »Fortschritte in der Medizintechnik und der Pharmakologie […] u.a. durch die Einpflanzung von Herzschrittmachern, den Einsatz künstlicher Gelenke und die Organtransplantation«; das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass es heute »so viele rüstige 60- bis 70-Jährige« gibt wie nie zuvor, gleichzeitig aber auch »so viele chronisch kranke alte Menschen wie nie zuvor«.17 Die steigende Zahl kranker Hochaltriger ist die Kehrseite der Erfüllung des Menschheitstraums von der Verlängerung des aktiven Lebens. Mit ihr verschiebt sich auch »das Muster tödlicher Erkrankungen«, denn die meisten Menschen sterben heute an altersspezifischen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson.18 Das Urteil über das Alter von Menschen ist also von Kontexten abhängig, lokal, historisch, politisch und kulturell variabel, personen-, berufs- und situationsspezifisch. Angaben darüber, wann das Alter beginnt, schwanken zwischen 50 und 80 Jahren, zwischen dem Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Arbeitswelt und dem Beginn der Pflegebedürftigkeit. Ein 60-Jähriger in einem vornehmen Restaurant wird nicht als alt empfunden, derselbe Mann in einer überfüllten Diskothek vermutlich schon. Ein Kulturhistoriker schreibt sein bestes Buch vielleicht mit 80 Jahren, mit dem kumulativen Wissen eines langen Leselebens im Hintergrund; ein Spitzensportler kann für seinen Beruf mit 30 schon zu alt sein. Dass auch das 65. Lebensjahr keine feste Altersgrenze ist, zeigt die Anhebung des Rentenalters in Deutschland auf 67. Die Gruppe der Alten ist also groß und äußerst heterogen. Zudem unterscheidet sich das ›subjektive Alter‹ häufig stark vom ›biologischen‹ und ›chronologischen Alter‹. Auch die Selbst- und die Fremdwahrnehmung des Alters klaffen in der Regel weit auseinander. Die meisten Menschen fühlen sich jünger, als sie sind, und erkennen ihr eigenes Alter nur im Spiegel der Gesichter ihrer gleichaltrigen Freunde. Dort werden die Anzeichen des Alters dann »zur bestürzenden Offenbarung«.19 In den westlichen Wohlstandsgesellschaften lässt sich eine zunehmende Differenzierung, Individualisierung und 16 | Pat Thane: Das 20. Jahrhundert. Grenzen und Perspektiven, in: dies. (Hg.): Das Alter, übers. v. Dirk Oetzmann, Horst M. Langer, Darmstadt 2005, S. 263-300, hier: S. 292 und 299. 17 | Ebd., S. 263 und 290. 18 | Ebd., S. 282. 19 | Lenz: Die Darstellung des Alters in der Literatur, S. 91.

Für eine neue Kultur der Integration des Alters

Biographisierung des Alters verzeichnen, ein »Entstandardisierungsschub« unter dem Einfluss von neuen Freiheiten und verbesserten finanziellen und gesundheitlichen Ressourcen.20 Damit verändern sich auch die Erwartungen der Gesellschaft an alte Menschen.

»H UNDERT J AHR , DASS G OT T ERBARM …« 21 Dem positiven Begriff von Alter als Weisheit, guter (Selbst-)Regierung und legitimer Autorität steht die negative Vorstellung vom Alter als Verfall und Stagnation im Fall des Festhaltens von Funktionen, Macht und Besitz gegenüber, vom Alter als eigentlich wertlosem ›Lebensrest‹. Positive Altersbilder beruhen heute oft auf »einer jugendlichen Vorstellung vom Alter«, wie sie sich im – vor allem von der Werbung entdeckten – Begriff der ›jungen Alten‹ zeigt.22 Mit ihm sind Vorstellungen von konsumfreudigen, reiselustigen Ruheständlern verbunden, die ihre neuen Möglichkeiten einem tiefgreifenden Altersstrukturwandel verdanken, von denen im Rahmen eines Konzepts des ›erfolgreichen Alterns‹ aber auch ehrenamtliches Engagement in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft erwartet wird. Zum Altersstrukturwandel gehören die frühe Entberuflichung, die Feminisierung23, die Verjüngung, die Singularisierung und die Hochaltrigkeit. 24 Denn das Alter als Lebensphase wird heute an beiden Enden verlängert, an seinem Anfang und an seinem Ende. Positive Altersbilder beziehen sich auf das sogenannte ›Drit-

20 | Cornelia Schweppe: Soziale Altenarbeit, in: Werner Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 42012, S. 505-521, hier S. 505. 21 | Alter Spruch, zitiert nach Hans Thiersch: Von den kränkenden Mühen, alt zu werden, in: Cornelia Schweppe (Hg.): Generation und Sozialpädagogik, Weinheim/München 2002, S. 173-179, hier S. 175. 22 | Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 415. 23 | Die Rede von der ›Feminisierung‹ des Alters, die sich neben der Dominanz weiblicher Lebensformen im Alter auf die weibliche Langlebigkeit stützt und die Belastung der Gesellschaft durch die hohe Zahl hochbetagter Frauen betont, läuft Gefahr, »einseitig Frauen als Last und Männer als Ressource« erscheinen zu lassen und die großen (privaten) Pflegeleistungen von Frauen sowie ihre im Durchschnitt wesentlich schlechtere Altersversorgung in der Kostenbilanz zu unterschlagen. Gertrud M. Backes: Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Ruth Becker, Beate Kortendieck (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 32010, S. 454-460, hier S. 455, und dies.: Geschlechterverhältnisse im Alter, in: Birgit Jansen u.a. (Hg.): Soziale Gerontologie, Weinheim/Basel 1999, S. 453-469. 24 | Hans Peter Tews: Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Gerhard Naegele, Hans Peter Tews (Hg.): Lebenslagen im Strukturwandel des Alters, Opladen 1993, S. 15-42.

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te Alter‹25, den nach wie vor aktiven und produktiven Lebensabschnitt nach dem Austritt aus dem Berufsleben, negative Altersbilder hingegen meistens auf das ›Vierte Alter‹, die oft lange Phase der Hochaltrigkeit26, die für viele von Einsamkeit, Trauer, Schwäche, Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet ist – Phänomene, die man nicht mehr beheben, nur noch mitfühlend begleiten kann. Mit dem ›Vierten Alter‹ wird das dreistufige Modell aus Kindheit und Jugend, Erwerbsleben und Alter erweitert, indem das Alter selbst noch einmal in das ›frühe‹ und das ›hohe Alter‹ unterteilt wird. Das ›Vierte Alter‹ beginnt, »wenn die Hälfte der ursprünglichen ›Geburts-Kohorte‹ nicht mehr lebt – in den Industrieländern heute mit etwa 80 Jahren«.27 Für den Einzelnen ist es geprägt von Kränkungen und Entmächtigungen aller Art: von Perspektivlosigkeit angesichts des nahenden Todes, von Angst vor Kontrollverlust und sozialer Scham, vom Verlust des Selbstbildes und der Selbstliebe, von Entfremdung vom eigenen Körper bis hin zum Ekel vor sich selbst, von Ohnmachtsgefühlen gegenüber einer als Wiederholung erfahrenen oder als beschleunigt erlebten Zeit, von Fremdheitserfahrungen in einer sich rasch verändernden Welt mit ihren Medienbildern und neuen Informationstechnologien, von Entleerung des sozialen Raums durch den Tod oder Verlust vertrauter Menschen.28 Denn wer lange lebt, hat viele überlebt. Wenn an die Stelle der Fürsorge für andere das Empfinden tritt, nicht mehr gebraucht zu werden, stellt sich leicht auch das Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens ein, das in unserer säkularen Gesellschaft nur noch in den seltensten Fällen durch den Glauben an ein Leben nach dem Tod aufgefangen wird. Das kann zu Altersdepressionen bis hin zum Freitod führen, wie Sandra Nettelbecks neuer Film Mr. Morgan’s Last Love (2013) ihn am Ende als ›Lösung‹ anbietet – im Kontrast zu Michael Hanekes Amour (2012), wo die nach einem Schlaganfall ge25 | Vgl. Peter Laslett: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns, Weinheim/ München 1995. 26 | Cornelia Schweppe: Alter und Sozialpädagogik – Überlegungen zu einem anschlussfähigen Verhältnis, in: dies. (Hg.): Alter und Soziale Arbeit, Baltmannsweiler 2005, S. 3246, hier S. 43. 27 | Paul Baltes: Das hohe Alter. Mehr Bürde oder Würde, in: Wissenschaftsmagazin fundiert: Alter und Altern (2004). [www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/ 2004_01/04_01_baltes/index.html, Zugriff: 04.10.2013]. 28 | Hans Thiersch: Von den kränkenden Mühen, alt zu werden, S. 175ff. Negative Altersbilder finden sich im Altersdiskurs bei Jean Améry: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 82004, Norberto Bobbio: Vom Alter. De senectute, übers. v. Annette Kopetzki, München/Zürich 1999; mit Bezug auf die ungleiche Bewertung des Alter(n)s von Männern und Frauen bei Simone de Beauvoir: Das Alter. Essay, übers. v. Anjuta Aigner-Dünnwald, Ruth Henry, Reinbek b. Hamburg 22004, Susan Sontag: The Double Standard of Aging, in: Lawrence R. Allman, Dennis T. Jaffe (Hg.): Readings in Adult Psychology: Contemporary Perspectives, New York u.a. 1977, S. 285-294, und Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend, Frankfurt a.M. 2003.

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lähmte Frau sich die gewünschte Erlösung nicht mehr selbst verschaffen kann, so dass ihr Tod schließlich durch den sie pflegenden Ehemann herbeigeführt wird, als Mord aus ›Liebe‹. Solange Einschränkungen der Leistungsfähigkeit noch durch Strategien der »Selektion«, »Optimierung« und »Kompensation« ausgeglichen werden können, wie der 80-jährige Pianist Arthur Rubinstein sie beschrieb, als er nach dem Geheimnis seiner Konzerterfolge bis ins hohe Alter gefragt wurde29, ist es möglich, das Alter zu überspielen, ja sogar als Potential und Ressource aufzufassen. Solange können die »Stärken des Alters« geltend gemacht werden: die »Lebenserfahrung«, das »Weisheitswissen«, die »[e]motionale Intelligenz«.30 Was aber geschieht, wenn keiner dieser Kompensationsmechanismen mehr greift, mit Demenz, Inkontinenz etc. der gnadenlos unauf haltsame Verfall der physischen und psychischen Kräfte einsetzt? Dann wird Altern zum Abschied vom Leben in Raten. Dann kann auch die Altenarbeit, die familiäre oder stationäre Pflege nicht mehr auf Entwicklung setzen, dann muss sie sich einlassen »auf Dasein, Dabeisein, Aushalten, auch auf das Aushalten von Hilflosigkeit der anderen und der eigenen«.31 Dann wird aus dem homo faber der passive, leidende, sterbende Mensch. Für den Übergang in diese Phase ist das Wort »Statuspassage« ein »Euphemismus«, denn es ist der »Übergang zum Abgang«.32 Und der belastet auch die Pflegenden, die mit dem alten Menschen als dem oft auch widerspenstigen ›Anderen‹ umgehen lernen müssen. Noch nie waren so wenig junge für das Wohlergehen und die Pflege so vieler alter Menschen verantwortlich. Gleichzeitig machen gegenläufige Prozesse wie die Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie, zur Patchwork-Familie, zum Single-Haushalt und der Zwang zur beruflichen Mobilität die Erfüllung dieser Aufgabe für viele Erwachsene schwieriger. Es überrascht daher nicht, dass die Demographie zur neuen »Leitdisziplin« der Sozialwissenschaften aufgestiegen und der demographische Wandel »zu einem zentralen Dispositiv von Forschung und Politik« geworden ist.33 Denn die Zunahme vereinsamter, hochbetagter, pflegebedürftiger Menschen stellt die genussorientierten modernen Industriegesellschaften vor große Herausforderungen. Sie müssen neue Formen der Intergene-

29 | Seine Antwort war, dass er weniger Stücke spiele, diese häufiger übe und »größere Kontraste in den Tempi« setze, »um sein Spiel schneller erscheinen zu lassen«, als es sei. Zitiert nach Baltes: Das hohe Alter. 30 | Ebd. 31 | Thiersch: Von den kränkenden Mühen, alt zu werden, S. 178. 32 | Ebd., S. 175. 33 | Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel, Stefan Willer: Demographischer Wandel. Kulturwissenschaftliche Perspektiven zu einer gegenwärtigen Debatte, in: Trajekte (2007) H. 14, S. 32-35, hier S. 32.

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rativität und der Verbindung von Individualethik und Sozialethik entwickeln.34 Der hohe Wert der Autonomie, dem unsere Kultur huldigt, muss mit Fürsorgepflichten nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern und Großeltern gegenüber in Einklang gebracht werden. Selbstverwirklichung kann nicht mehr das alleinige Lebensziel sein. Mit der Frage: »Wer hat eigentlich für wen wann warum und wie Sorge zu tragen?«35 rückt die Qualität der intergenerativen Beziehungen verstärkt ins Blickfeld. In Deutschland ermöglichte es »die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung«, die seit 1995 staatliche Unterstützung für drei verschiedene Pflegestufen vorsieht, zahlreichen Mittelstandsfamilien zwar, »die Eltern ins Heim zu geben«.36 Aber damit sind die Probleme längst nicht gelöst. Der Bedarf an Pflegeplätzen steigt ständig, der an Personal für häusliche und außerhäusliche Pflege ist schon jetzt so groß, dass er nur noch durch Arbeitsmigration aus Osteuropa abgedeckt werden kann – mit schwerwiegenden sozialen Folgen in den Herkunftsländern der Pflegekräfte – oder durch den menschenunwürdigen ›Export‹ der Alten in Pflegeheime von Ländern mit niedrigerem Lohnniveau.37 Dass die Pflegeberufe aufgewertet werden müssen, damit sie auch für einheimische Pflegekräfte attraktiver werden, ist inzwischen deutlich geworden, aber bei Weitem noch nicht realisiert. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass Menschen in Pflegeberufen mit ständigen Misserfolgserlebnissen umgehen müssen, »sind sie doch konfrontiert mit einer unbeherrschbaren menschlichen Natur, mit unregelmäßig wiederkehrenden, meist unstillbaren Bedürfnissen« 38 und den verzweifelten Reaktionen auf diese Perspektivlosigkeit. Das kann sogar zu Gewalt in der Pflege führen, und zwar von Seiten der Pflegenden und der Gepflegten, was bisher kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist. Der Not der in Pflegeheime abgeschobenen oder von Fremden gepflegten Alten stehen allerdings auch die Schuldgefühle der ihnen verbundenen Angehörigen gegenüber. 34 | Verena Wetzstein: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten. Alzheimer-Demenz und Angehörige bei Annette Pehnt und Katharina Hacker, in: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.): Jahrbuch Literatur und Medizin, Bd. 4, Heidelberg 2010, S. 169-184, hier S. 173. 35 | Parnes, Vedder, Weigel, Willer: Demographischer Wandel, S. 35. 36 | Petra Brunnhuber: Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur, in: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 183-194, hier S. 185f. Vgl. auch: Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der Enquête-Kommission »Demographischer Wandel. Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik«, Bonn 2002, S. 149-178. 37 | Vgl. Claudia Weingärtner: »Meine Tochter hat mich in die Slowakei geschickt … und mich noch nicht einmal besucht«, in: Bild-Bundesausgabe, 12.11.2012, S. 10. 38 | Christina Schachtner: Das Alter als das Andere. Reflexionen über ein neues kulturelles Modell, in: Rainer Treptow, Reinhard Hörster (Hg.): Sozialpädagogische Integration, Weinheim/München 1999, S. 197-207, hier S. 199.

Für eine neue Kultur der Integration des Alters

Nicht immer haben sie den Heimaufenthalt ihrer Verwandten oder die Fremdbetreuung freiwillig gewählt, oft geschieht das unter beruflichem oder familiärem Druck. Hinzu kommt eine philosophisch-ethische Aufgabe: Die steigende Zahl der Demenz-Kranken, die schrittweise ihre kognitiven Fähigkeiten, die lebenspraktischen Kompetenzen, die Kontinuität der Erfahrung, die Kongruenz ihrer Weltsicht mit der ihrer Umwelt und die sprachliche Kommunikationsfähigkeit verlieren39, erfordert eine Korrektur des Menschenbildes, das seit Descartes an der Denk- und Urteilsfähigkeit des Menschen orientiert ist. Bei Dementen kann der körperliche Verfall nicht durch die Erhaltung der Geisteskraft und der Persönlichkeit ausgeglichen werden. Die sonst so gern berufene ›Altersweisheit‹ verliert ihre Trostfunktion. »Die Demenz konfrontiert uns verstärkt mit der Materialität unseres Seins und mit der Infragestellung der Begriffe Person und Personalität, wie sie in der Tradition der europäischen Aufklärung geformt worden sind und die Grundlage unseres Rechtverständnisses und Wertesystems bilden.«40 Demente Menschen müssen nicht nur versorgt und rund um die Uhr betreut, sie müssen auch in einer Weise angesprochen werden, die sicherstellt, dass sie ihre Menschenwürde nicht verlieren. Beim Umgang mit ihnen stellt sich die medizinethische Frage nach der Sicherstellung würdevoller Pflege im Alter. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist – wie Hans-Georg Pott in diesem Band betont – nicht nur eine »Fundamentalnorm« des Grundgesetzes der BRD, sie »bildet auch die Grundnorm der Charta der Vereinten Nationen von 1946 sowie zahlreicher internationaler Vereinbarungen, z.B. der UN über die Rechte des Kindes«, sie setzt den Menschen »als oberste[n] Wertbegriff«.41 Diese Grundnorm verlangt, den anderen auch dann anzuerkennen, wenn er zur Durchsetzung seines Achtungsanspruchs nicht in der Lage ist, Verantwortung für ihn zu übernehmen, wenn er die Verantwortung für sich selbst nicht übernehmen kann – und das gilt für Demenzkranke, Hochaltrige und Komapatienten ebenso wie für Embryonen und Kleinkinder. Die Grenzbereiche des menschlichen Lebens sind in besonderem Maße auf Rechtsschutz angewiesen. Um auch ihnen gerecht zu werden, brauchen wir eine kulturelle Neuorganisation, die am »Prinzip zyklischer Zeitgestaltung, am »Prinzip leiblichen In-der-Welt-Seins« und am dialogischen Prinzip orientiert ist.42 Diese neue Alter(n)skultur müsste aber auch die Integration jener Menschen erlauben, die im strengen Sinn gar keinen Dialog mehr führen können, der an Demenz Erkrankten. Dazu gehört die Bereitschaft, den Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit durch die verstärkte Akzeptanz körpersprachlicher 39 | Martin Haupt: Wege der Behandlung gegen Angst und Aggression bei Demenz, in: Harald Blonski (Hg.): Alte Menschen und ihre Ängste, München/Basel 1995, S. 137-150, hier S. 138-140. 40 | Hans-Georg Pott: Altersdemenz als kulturelle Herausforderung, in diesem Band, S. 166f. 41 | Ebd., S. 189. 42 | Schachtner: Das Alter als das Andere, S. 203.

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emotionaler Ausdrucksformen auszugleichen. Denn auch bei starken körperlichen und kognitiven Einbußen bleibt die emotionale Ansprechbarkeit und ein differenzierter Emotionsausdruck erhalten bis zum Tod.43 Ihn wahrzunehmen, zu verstehen und adäquat auf ihn zu reagieren, setzt neben Einfühlung, Geduld und Übung auch »Einfallsreichtum« voraus, und für ihn gibt es keine »Rezepte«.44 Die letzte Phase des Lebens lässt sich mit dem politisch gewünschten Leitbild des ›aktiven‹, ›autonomen‹ und ›erfolgreichen Alterns‹ nicht mehr vereinbaren; im Gegenteil, sie ist von starkem Angewiesen-Sein auf die Hilfe anderer geprägt. Die neuen Erkenntnisse über die Potentiale des Alters bleiben auf das ›Dritte Lebensalter‹ beschränkt, beim von psychophysischem Abbau geprägten ›Vierten Alter‹ kommt das verpönte Defizitmodell des Alters wieder zum Vorschein.45 Von der Hochaltrigkeit geht – wie Christina Schachtner hervorhebt – »Enthüllungsgefahr«46 aus: Das ›Vierte Alter‹ enthüllt die Grenzen der Beherrschbarkeit des menschlichen Lebens, den allzu oft verdrängten Zusammenhang von Werden und Vergehen. Dichotome Kontrastierungen wie aktiv versus passiv, autonom versus abhängig, normal versus pathologisch, die dazu führen, dass das Alter entweder als »Erfolgsgeschichte« oder als Verfallsprozess beschrieben wird47, trennen die Kehrseiten des Lebens ab und schreiben sie dem ›hohen Alter‹ zu. Deshalb warnt Barbara Pichler davor, die Dichotomien einseitig aufzulösen; sie fordert die Öffnung für Bilder, die den Menschen, sei er jung oder alt, »in seiner Doppeldeutigkeit als Subjekt und Objekt« begreifen, »energische Immobile, der Hilfe bedürftige Produktive, faltige Schönheiten, leidenschaftlich Nicht-Handelnde«.48 Die Forderung nach paradoxen Altersbildern dieser Art hat die Kunst längst erfüllt, sie finden sich in zeitgenössischen Biographien, Lebenszeugnissen, Theaterstücken, Bildern, Filmen und Romanen. Mit ihren individuellen Lebensgeschichten und ihrer bildlichen Zeichensprache leisten diese Texte, Bilder und Filme, was hier eingeklagt wird: ein Auf brechen dichotomischer Begriffe von ›jung‹ und ›alt‹, ›gesund‹ und ›krank‹, ›autonom‹ und ›heteronom‹, den Wechsel der Perspektiven und Urteile.

43 | Vgl. Andreas Kruse: Der Respekt vor der Würde des Menschen am Ende seines Lebens, in: Thomas Fuchs, Andreas Kruse, Grit Schwarzkopf (Hg.): Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg 2010, S. 27-55, hier S. 27. 44 | Rüdiger Dammann, Reimer Gronemeyer: Ist Altern eine Krankheit?, Frankfurt a.M. 2009, S. 143f. 45 | Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 422. 46 | Schachtner: Das Alter als das Andere, S. 200. 47 | Heike Hartung: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht, S. 7-18, hier S. 7. 48 | Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 424.

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Das will ich an einem Beispiel verdeutlichen: In seinem Roman mit dem programmatischen Titel The Corrections (2001)49 schildert Jonathan Franzen eine amerikanische Familie aus dem mittleren Westen, die sich mit dem Problem der Erkrankung des Vaters an Parkinson konfrontiert sieht. Am Ende erkennt die Tochter Denise die Liebe ihres dementen Vaters daran, dass er über eine Jugendsünde von ihr – das Zulassen der Entjungferung durch einen Angestellten seiner Firma, die dazu führte, dass er von diesem erpresst wurde und seine Arbeit vorzeitig niederlegen musste – Jahre lang geschwiegen, sie nicht mit den Folgen eines Leichtsinns konfrontiert hat, der ihn einen Teil seiner Altersversorgung kostete. Bis ins fortgeschrittene Krankheitsstadium hinein hat der Vater sie von der Erkenntnis dieses Zusammenhangs abgeschirmt und so vor dem Gefühl, an den finanziellen Engpässen und ehelichen Konflikten ihrer Eltern schuld zu sein, bewahrt. Als der Vater ihr in einem Moment überraschender Verstandesklarheit schließlich doch einen Hinweis gibt, stürzt das »sie« (K 716) in Verwirrung, nicht ihn, was er so kommentiert: »›Siehst du, es hatte noch nie einen Sinn, irgendwas zu sagen.‹« (K 717) Er entschuldigt sich sogar für seine Andeutung und die Gesprächssituation, die sie mit seiner Inkontinenz konfrontiert: »›[…] Ich hatte nie die Absicht, dich in all das hineinzuziehen. Du hast dein eigenes Leben. Genieß es einfach und sei vorsichtig.‹« (K 718) Der Rückzug des Vaters ins Schweigen erscheint damit in völlig neuem Licht: Im Verhältnis zu seiner Tochter war er nicht die Preisgabe der Beziehung, sondern eine Maßnahme zu deren Schutz. Seine Nähe zu ihr beweist der Vater, indem er die Diskretion wahrt über ihre sexuelle Entwicklung, obwohl diese ihm als gender trouble50 erscheinen muss. Er rät seiner Tochter nur dringend, auf sich aufzupassen. Während sie glaubte, ihn mit Hilfe eines Medikaments, an dessen Entwicklung er selbst Anteil hatte, vor dem Fortschreiten seiner Parkinson-Erkrankung bewahren zu können, war er es, der ihre sexuellen Geheimnisse geschützt und ihr so die auf Irrwegen erreichte Hinwendung zur lesbischen Liebe ermöglicht hat. Er ließ sich lieber sein Leben als Rentner zerstören, als ihres anzutasten. Als ihr das klar wird, bricht Denise erstmals seit Jahren in Tränen aus. Ihr wird bewusst, dass sie nie so geliebt worden ist wie von ihrem Vater, den sie im Moment, da sie ihn endlich als ihren besten Freund erkennt, an die Demenz verliert: »Alfred […] hatte gezeigt, dass er an sie glaubte, indem er sie so akzeptierte, wie sie sich gab: indem er es ablehnte, hinter ihrer Fassade herumzuschnüffeln.« (K 723) Denise muss nicht nur ihr Vaterbild korrigieren: »Für Alfred war Liebe nicht eine Sache der Annäherung, sondern des Abstandhaltens« (K 723), sondern auch ihr Selbstbild: Nicht sie ist die ›Retterin‹ ihres dementen Vaters, er gesteht ihr das Recht auf Selbstbestimmung zu und 49 | Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Roman, übers. v. Bettina Abarbanell, Reinbek b. H. 10 2008 [The Corrections, New York 2001], im Folgenden zitiert mit der Sigle K und Seitenzahl in Klammern. 50 | Ich gebrauche den Begriff wie Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. Katharina Menke, Frankfurt a.M. 1991 [Gender Trouble, 1990].

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entlässt sie damit in die Freiheit, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es will. Wer ist hier ›krank‹ und wer ›gesund‹, wer ›alt‹ und wer ›jung‹? Und welchen Begriff von ›Alter‹ legen wir zugrunde, je nachdem, wie wir diese Frage beantworten? Derselbe Autor schildert in einem nicht-fiktionalen Text, in seinem biographischen Essay My Father’s Brain (2001), den Verlauf der Alzheimer-Krankheit seines Vaters und kontrastiert dabei die neurophysiologische mit seiner persönlichen Sicht. Als Hauptwesenszug seines Vaters hebt er die Willensstärke hervor, keine Schwäche zu zeigen: Mein Vater war ein ungemein verschlossener Mensch, und in seinen Augen erfüllte Verschlossenheit den Zweck, das beschämende Innenleben eines Menschen vor den Blicken anderer zu verstecken. Konnte es da eine schlimmere Krankheit für ihn als Alzheimer geben? In den frühen Stadien löste sie die persönlichen Bindungen, die ihn vor den übelsten Konsequenzen seiner depressiven Isolation bewahrt hatten, mehr und mehr auf. In den letzten nahm sie ihm das Panzernde des Erwachsenseins, die Möglichkeit und Mittel, das Kind in sich zu verbergen. 51

Trotz dieser Entwicklung sprechen zahlreiche Indizien in den Augen des Sohnes für das »Fortbestehen« des »Willens« seines Vaters, einer »Kraftreserve unterhalb von Bewusstsein und Erinnerung«, für seine Entschlossenheit, »so gut er konnte und auf seine eigene Weise zu sterben«.52 Mit seinem biographischen Erinnerungstext – wie auch mit dem Roman The Corrections – erhebt Franzen Einspruch gegen die neurophysiologische Rede vom Verlust der Persönlichkeit bei Alzheimer – ein bewegendes Beispiel für die Korrektur neurobiologischer Diskursmacht durch die Literatur. Es gibt viele Formen der Wissenserzeugung, eine davon ist die Poesie. Biographien, Romane, Opern, Theaterstücke53, Bilder und Filme haben den wissenschaftlichen Diskursen voraus, dass sie vom Individuum ausgehen können. »Individualität erscheint hier nicht als Fehlerquote oder Abweichung von statistischer Normalverteilung, sondern als Ausgangspunkt für eine andere, verschobene Perspektive auf aktuelle Generationenverhältnisse.«54 Deshalb werden die künstlerischen Darstellungsformen der Vielfalt der Erlebnisweisen des Alter(n)s auch 51 | Jonathan Franzen: Das Gehirn meines Vaters, in: ders.: Anleitung zum Alleinsein. Essays, übers.v. Eike Schönfeld, Reinbek b. Hamburg 2007 [How to Be Alone, New York 2002], S. 13-46, hier S. 31f. 52 | Ebd., S. 37f. und 44. 53 | Ich denke z.B. an Nora Mansmanns wir wütenden (Regie: Oliver Krietsch-Matzura, UA am 10. August 2012 im Rahmen des Drama Köln-Sommerprojekts »Wer ist denn schon bei sich zu Hause«) und Barbara Wachendorffs Stücke Ich muss gucken, ob ich da bin (UA am 28. April 2005 im Schlosstheater Moers) und Anderland. Eine Reise ohne Ruder ins Land der Demenz (UA am 18. Mai 2012 im Bürgerhaus Stollwerck). 54 | Parnes, Vedder, Weigel, Willer: Demographischer Wandel, S. 35.

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eher gerecht. Durch die Anschaulichkeit ihrer Bilder und Geschichten und das experimentelle Spiel mit Möglichkeiten helfen sie, implizite Voraussetzungen von Diskursen aufzudecken, Werte zu hinterfragen, Angstvorstellungen zu bewältigen und Lösungsansätze für die Probleme der älter werdenden Gesellschaft zu entwickeln.55 Selbst dort, wo sie auf tradierte Darstellungsmuster zurückgreifen, haben die Künste die Möglichkeit der Umdeutung von Topoi56, der Individualisierung von Lebensentwürfen und der spielerischen Erprobung neuer Lebensmodelle. Mit der damit verbundenen Differenzierung und Pluralisierung von Altersbildern tragen sie maßgeblich zur Entwicklung einer neuen Kultur des Alter(n)s bei.

D AS A LTER IM D ISKURS UND IN DER L ITER ATUR Das Alter war immer schon, seit der Antike, ein Thema der Literatur und der Philosophie und seit dem Mittelalter auch eines der bildenden Kunst. Von Aristoteles über Cicero und Montaigne bis zu de Beauvoir, Bobbio, Améry, Bovenschen, Sontag, Schlaffer, Rosenmayr, Baltes und Pott pendelt die Reflexion über die letzte Lebensphase des Menschen zwischen den Extremen des »Alterslobs« und der »Altersschelte«, des »Alterstrosts« und der »Altersklage«, aber sie kennt auch die Mischformen der »Alterssatire«, der »Altersgroteske«, des »Altersspotts« und die Bloßstellung von »Altersnarzissmus«.57 Während Aristoteles das Alter in seiner Rhetorik (2,13) nur negativ bestimmt, ihm Zaghaftigkeit, Argwohn, Engstirnigkeit, Pessimismus zuspricht 58, sieht Platon in Nomoi in den weisen Alten »die idealen Hüter der Gesetze und natürlichen Oberhäupter des Staates«.59 Auch für Cicero gleichen der altersbedingte Zuwachs an Erfahrung und die Befreiung von der sinnlichen Leidenschaft die Bürden des Alters aus. Für ihn kommt es auf die Haltung an, mit der man den Altersgebrechen begegnet. Sein Traktat Cato der Ältere über das Alter60 ist deshalb der klassische Text des »Alterstrosts«, zugleich aber auch ein Appell zur guten Lebensführung. Im Gegensatz dazu kreist die »Altersklage« um die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und die Ver55 | Ulrike Vedder: Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik NF 22 (2012) H. 2, S. 274-289, hier S. 275. 56 | Wilhelm Schmidt-Biggemann, Anja Hallacker: Topik: Tradition und Erneuerung, in: Thomas Frank, Ursula Kocher, Ulrike Tarnow (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 15-27, hier: S. 21f. 57 | Göckenjan: Das Alter würdigen, S. 42; Bachmaier: Späte Jahre, S. 63. 58 | Helmuth Kiesel: Das Alter in der Literatur. In: Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)?, Berlin/Heidelberg 2008, S. 173-188, hier S. 173. 59 | Göckenjan: Altersbilder in der Geschichte, S. 405. 60 | Tullius Cicero: Cato maior de senectute. Cato der Ältere über das Alter, Lateinisch/ Deutsch, übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2003.

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geblichkeit allen Tuns. Mit der »Autorität«, die dem Alter nur zugestanden wird, wenn sie »angemessen ausgeübt« wird, sind beim »Alterslob« hingegen Rechte und Pflichten verbunden, werden Gegenseitigkeitsbeziehungen zur Regelung der Generationenfolge beschworen und Bedürfnisse nach Kontinuität, Ordnung und »Schutz des gebrochenen Alters« befriedigt.61 Vom Alter werden soziale Leistungen gefordert, es soll »Ordnungsleistungen« erfüllen, »Systemerhaltungsaufgaben« wahrnehmen. Welche Art sozialer Leistungen von Alten gefordert wird, variiert nach historischen und vielfältigen sozialen Umständen. Aber es sind Variationen um recht einfache Eckpunkte, um die Zuweisung von Statuspositionen, um Rechte und Pflichten in generationalen Beziehungen: Autoritätsansprüche und Folgen und deren Ende, Besitz- und Funktionsübergaben, Nachfolgedienlichkeit, Hinwendung an die spirituellen Aufgaben, Sterbevorbereitung. 62

Die Autorität des Alters kann auch missbraucht werden, wenn die Nachfolgeregelung zu lange hinausgezögert, zäh an Besitz, Macht und Einfluss festgehalten wird. Denn die Alten wollen die Kontinuität, die Jungen die Diskontinuität.63 Oft hängen die Unterschiede der Bewertung des Alters auch mit Geschlechterstereotypen zusammen: »Es gibt zwar die Figur des weisen alten Mannes, nicht aber die der weisen alten Frau. Alte Frauen […] werden in aller Regel als mißgünstig, zänkisch, geizig und kupplerisch geschildert«.64 Andrea von Hülsen-Esch zeichnet in diesem Band beispielsweise die Geschichte der Entstehung des Bilds der ›alten Hexe‹ im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit nach.65 Differenzen der literarischen Altersdarstellung lassen sich auch auf epochalen Wandel und historische Einschnitte wie die Einführung der Beamtenpensionierung (1882 in Preußen, 1886 im Deutschen Reich) und die Große Rentenreform von 1957 zurückführen, die das Altersbild des ›Rentners‹ geschaffen hat, aber auch auf Unterschiede der Gattungstraditionen und der mit ihnen verbundenen Wirkungsintentionen. Die Tragödie als die normativ hohe Gattung mit wichtigen Stoffen und vorbildlichen Haltungen kennt die Figur des weisen und prinzipienfesten alten Mannes oder Greises, der letzten Rat weiß und durch nichts mehr zu erschüttern ist; als prototypisch darf der Seher Teiresias des Sophokleischen König Ödipus gelten. Die Satire hingegen, die ihre normative

61 | Göckenjan: Altersbilder in der Geschichte, S. 405. 62 | Ebd., S. 407. 63 | Ebd., S. 409. 64 | Helmuth Kiesel: Das Alter in der Literatur, S. 174. Dazu auch: Roberta Maierhofer: Salty Old Women, Essen 2003. 65 | Vgl. Andrea von Hülsen-Esch: Alte Frauen – Hexen – Kupplerinnen. Überlegungen zu den spätmittelalterlichen Wurzeln langlebiger Vorurteile, in diesem Band.

Für eine neue Kultur der Integration des Alters Absicht per negationem verfolgt, zeigt das Alter vorwiegend so, wie Aristoteles es beschrieben hat. 66

Allerdings zeigt das Beispiel von King Lear, der Macht und Besitz zu früh an seine beiden ältesten Töchter abgibt und dabei die Liebe der jüngsten verkennt, dass die Figur des ›weisen Alten‹ auch in der Tragödie in die des ›alten Narren‹ kippen kann, vielleicht sogar muss, weil das Leben gegenüber dem Tod immer im Recht bleibt.67 Überhaupt ist zu fragen, ob der Literatur generell normative Wirkungsabsichten unterstellt werden müssen oder ob ihre spezifische Leistung nicht eher darin besteht, deskriptiv vorzugehen und damit offen zu bleiben für »die Vielfalt und Differenziertheit von Lebensformen und sozialen Milieus« und die Standortgebundenheit ihrer Bewertung.68 Diese Frage wird man für verschiedene Epochen, Textsorten, Einzeltexte und Bilder wohl individuell beantworten müssen. Von Kirche, Staat und Wissenschaft normierte Lebenskonzepte, die von belehrenden und erbauenden Schriften affirmativ vertreten werden, werden in manchen Fiktivtexten – in frühneuzeitlichen Fastnachtsspielen, Schelmenromanen und Barockgedichten zum Beispiel – verspottet, konterkariert und individualisiert.69 Seit dem Zusammenbruch des theologischen Weltbilds haben die Künste seismographisch auf Herrschaftsverhältnisse und Zumutungen von Rollenzuschreibungen an den Einzelnen reagiert und damit zum Normenwandel und zu Umstrukturierungen der Gesellschaft beigetragen. Das Studium historischer und gegenwärtiger Zeugnisse der Literatur und der bildenden Kunst unter dem Aspekt der Altersrepräsentation verspricht deshalb ein vertieftes Verständnis der Entstehungs- und Tradierungsbedingungen von Altersstereotypen sowie eine Differenzierung und Pluralisierung der Altersbilder. Die Konstruktion epochaler Tendenzen der literarischen Altersdarstellung wie: Vorherrschen negativer Altersbilder in der frühen Neuzeit, »Positivierung des Alters« im 18. und 19. Jahrhundert unter dem Einfluss von Goethes Begriff der »Steigerung« – allerdings bei gleichzeitiger Hinwendung zur Adoleszenz in zahlreichen Bildungs- und Entwicklungsromanen –, Rückkehr zu negativen Altersbildern im 20. Jahrhundert in der expressionistischen Ästhetik des Hässlichen zu Beginn und in der gesellschaftlichen Reflexion des demographischen Wandels gegen Ende des Jahrhunderts70, gibt zwar Orientierungshilfen. Das geschieht aber auf selektiver 66 | Helmuth Kiesel: Das Alter in der Literatur, S. 173. 67 | Vgl. Ruth Klüger: »Ein alter Mann ist stets ein König Lear« – Alte Menschen in der Dichtung, Wien 2004. 68 | Hans-Georg Pott: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, München 2008, S. 179. 69 | Vgl. Peter Rusterholz: Liebe, Tod und Lebensalter. Wandlungen in der Literatur der Frühen Neuzeit. In: Henriette Herwig (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br. u.a. 2009, S. 45-70. 70 | Kiesel: Das Alter in der Literatur, S. 174 und 186f.

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Quellenbasis. Diskursgeschichtlich gesehen finden sich positive und negative Altersbilder immer gleichzeitig, »oftmals in den gleichen Texten«; wenn einer ganzen Epoche »Altenfeindlichkeit oder Altenbewunderung« zugesprochen wird, ist – worauf Göckenjan insistiert – »das Diskursmaterial unzureichend gesichtet und analysiert«.71 Mit der gebotenen Vorsicht kann man trotzdem sagen, dass die Literatur der Gegenwart eine auffällige Vorliebe für Probleme des Alter(n)s zeigt, vor allem in Texten, die Generationenbeziehungen darstellen. Offenbar wird der traditionelle Familienroman den Problemen der modernen Gesellschaft nicht mehr gerecht. »Deshalb suchen die Autoren heute nach neuen Antworten, indem sie moderne Problematiken des Familienlebens wie die Einsamkeit und die Pflegebedürftigkeit der alten Menschen thematisieren.« 72 Standen in der Literatur der 1970er und 1980er Jahre die Beziehungen der Töchter und Söhne zu ihren Vätern und Müttern im Vordergrund – im deutschen Erinnerungsdiskurs oft als Teil der Bewältigung von deren Verstrickung in die Geschichte des NS-Staats –, so rückt seit der Mitte der 1990er Jahre die Hinfälligkeit alter Eltern und Großeltern, ihre Pflegebedürftigkeit, die Demenz, die dazu führt, dass sie gar nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können, verstärkt in den Blick und damit auch »die Örtlichkeit des Altenheim[s]« 73. Es ist sogar eine neue literarische Gattung entstanden, der Pflegeheimroman.74 Der Pflegealltag kann dabei aus der Sicht der Heimbewohner wie in Jürg Schubigers Haller und Helen (2002), ihrer Angehörigen wie in Claudia Wolffs Letzte Szenen mit den Eltern (2004) und Thomas Langs Am Seil (2006) oder ihrer Pfleger wie in Marc Wortmanns Der Witwentröster (2002) und Annegret Helds Die letzten Dinge (2005) geschildert werden.75 Annette Pehnt gelingt in Haus der Schildkröten (2006) die Verbindung all dieser Perspektiven. Sowohl in den deutschsprachigen Ländern als auch in England, Holland, Amerika und Japan greifen viele dieser Texte auch das Thema der senilen Demenz auf. Helmuth Kiesel empfindet diese Tendenz schon als »aufdringlich«: Alzheimerkranke alte Menschen gehören fast zur »Grundausstattung « von Gesellschaftsromanen. Verbunden mit dieser Negativierung des Alters ist eine Rebellion gegen das Altwerden, die zwei Formen annehmen kann: Bei Philip Roth erscheint sie als anklägerischer Protest gegen die Beschwerden des Alters, doch führt dieser Protest nur noch tiefer ins Elend hinein […]. Bei Walser erscheint die Rebellion als Protest […] gegen die kulturell

71 | Göckenjan: Altersbilder in der Geschichte, S. 404. 72 | Brunnhuber: Endstation Seniorenheim, S. 184. 73 | Ebd., S. 185. 74 | Miriam Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2010, S. 315ff. 75 | Brunnhuber: Endstation Seniorenheim, S. 185.

Für eine neue Kultur der Integration des Alters eingeübte Resignation im Alter oder – anders gesagt – gegen die traditionelle Kultur des Alters.76

Die Dominanz des Demenz-Themas in der Literatur 77 der Gegenwart kann man allerdings auch positiv sehen: als überfällige Korrektur einer kopflastigen Kultur und eines Jugendkults, der den Einzelnen auf lebenslange Schönheit, Vitalität und Jugendlichkeit verpflichtet. Für Hans-Georg Pott ist die mit der Demenz verbundene Konzentration auf das Vergessen auch eine Antwort auf den »Informations-Tsunami« der Medien und des Internets. 78 Damit trägt die Literatur dazu bei, für die negativen Folgen der Langlebigkeit zu sensibilisieren, neue Weisen des Umgangs mit Demenz-Kranken einzuüben und »alle Formen fundamentaler Bedrohung von Humanität zu identifizieren«.79 Sie stellt dabei sowohl das kognitionsorientierte Menschenbild der Auf klärung auf den Prüfstand als auch die aktuelle Reduktion des Ichs auf ein »Epiphänomen«80 neuronaler Vorgänge im Gehirn. Alzheimer-Narrative stehen allerdings vor der Schwierigkeit, fortgeschrittene Demenz nicht aus Innensicht darstellen zu können.81 Die Bewusstseinsform von Demenzkranken kann nur durch die Wahrnehmung und Deutung der Reste ihres sprachlichen, mimischen und gestischen Ausdrucks von anderen erschlossen und mit Hilfe der von ihnen konstruierten Aussagen und Bilder veranschaulicht werden. Das aber ist immer schon eine Fremdinterpretation, die unter Umständen auch auf Wunschdenken beruht.

76 | Kiesel: Das Alter in der Literatur, S. 187. 77 | Neben den in diesem Aufsatz schon erwähnten Berichten und Romanen vgl. die Textsammlungen: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz, München/Wien 2006; Holly J. Hughes (Hg.): Beyond Forgetting. Poetry and Prose about Alzheimer’s Disease, Kent, Ohio 2009; Heidi Schänzle-Geiger, Gerhard Dammann (Hg.): Alois und Auguste. Geschichten über das Vergessen – Alzheimer und Demenz, Frauenfeld u.a. 2009. 78 | Pott: Altersdemenz als kulturelle Herausforderung, S. 182. 79 | Ebd., S. 191, mit Bezug auf Gerhard Luf: Der Grund für den Schutz der Menschenwürde – konsequentialistisch oder deontologisch, in: Gerd Brudermüller, Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde. Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 43-66, hier S. 46. 80 | Pott: Altersdemenz als kulturelle Herausforderung, S. 179. 81 | Hartung, Heike: Small World? – Narrative Annäherungen an Alzheimer, in: SPIEL 24 (2005) H. 1, S. 163-178, hier S. 165. Vgl. auch Miriam Seidler: Zwischen Demenz und Freiheit. Überlegungen zum Verhältnis von Alter und Geschlecht in der Gegenwartsliteratur, in: Heike Hartung u.a. (Hg.): Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln u.a. 2007, S. 195-212.

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K ULTURWISSENSCHAF TLICHE A LTER (N) SFORSCHUNG Alter(n)sforschung ist »keine Disziplin im wissenschaftssystematischen Sinne«, sondern »ein Forschungsfeld oder Forschungsprogramm«. 82 Als ›Kritische‹ Gerontologie83 muss sie sich einerseits als transdisziplinäre Wissenschaft organisieren und die »Diskurssphären der geisteswissenschaftlich-literarischen und der naturwissenschaftlich-technischen Kulturen« in ein Verhältnis der »Komplementarität« bringen84, andererseits aber auch die methodischen Stärken der an ihr beteiligten Einzeldisziplinen gewinnbringend nutzen. Kulturgeschichtliche Alter(n)sforschung kombiniert ideen-, geistes- und diskursgeschichtliche Zugänge mit Einzelwerkanalysen. Kulturgerontologische Studien legen »den Akzent stark auf die mediale Verfasstheit der jeweiligen Alterskonstruktionen«, sie fragen, »wie Alter durch unterschiedliche Praktiken, Diskurse, Genres und Medien konstruiert wird und durch wen«, sie fokussieren auf die »Performativität, Materialität, Medialität und Diskursivität« altersrelevanter Manifestationen »in Literatur, Film, Fernsehen, Theater und Tanz, im bildkünstlerischen Bereich oder in Architektur und Städtebau«.85 Die gerontologisch orientierte Literaturwissenschaft hat es wie die so orientierte Kunstgeschichte nicht mit der Erforschung der Lebensläufe und der Lebensbedingungen realer Menschen zu tun, sondern mit Formen ihrer ästhetischen Repräsentation und Konstruktion. Ihr Untersuchungsgegenstand sind von Traditionen und aktuellen Einflussfaktoren, intertextuellen und intermedialen Bezügen geprägte Artefakte. Diese zeigen das ›Alter‹ immer schon als inszeniertes, kontextualisiertes und interpretiertes, sie nutzen es für unterschiedliche – oft auch selbstreflexive – Zwecke. In der Literaturwissenschaft wird das ›Alter‹ in mehrfacher Hinsicht beachtet: erstens als literaturwissenschaftliche Kategorie zur Kennzeichnung von Werkphasen, Stillagen und Epochen, wie aus den Begriffen »Alterswerk« und »Altersstil« und den epochalen Stilbezeichnungen »Sturm und Drang« und »Jugendstil« hervorgeht 86; zweitens als Frage nach der Tradierung und Umdeutung von Alterstopoi wie die oben genannten; drittens 82 | Andrea von Hülsen-Esch; Miriam Seidler; Christian Tagsold: Methoden der Alter(n)sforschung: Disziplinäre Positionen – transdisziplinäre Perspektiven, in: dies. (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Diziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 7-33, hier S. 15. 83 | Vgl. Anton Amann, Franz Kolland (Hg.): Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine Kritische Gerontologie, Wiesbaden 2008. 84 | Pott: Altersdemenz als kulturelle Herausforderung, S. 158. 85 | Miriam Haller, Thomas Küpper: Kulturwissenschaftliche Alternsstudien, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, S. 439-444, hier S. 440. 86 | Andrea von Hülsen-Esch, Monika Gomille, Henriette Herwig u.a.: Kulturelle Variationen und Repräsentationen des Alter(n)s, in: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität (2006/ 2007), S. 473-487, hier S. 478.

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anhand von Figurentypen wie ›Lustgreis‹, ›alte Hexe‹, ›alte Jungfer‹, mit denen über »Strategien der Resignifikation« auch neue Formen der Altersperformanz in Szene gesetzt werden können87; viertens als Aufmerksamkeit für den intergenerativen und interkulturellen Wissenstransfer durch alte Erzählerfiguren88; neuerdings auch als Fokussierung auf das Spezialthema der Demenz und der würdevollen Pflege. Während der – auch in der Kunstgeschichte gebräuchliche – Begriff »Alterswerk« auf das Lebensalter des Dichters oder Künstlers verweist und damit eine produktionsästhetische Perspektive nahelegt, verwenden Epochenbegriffe, die implizit oder explizit auf das Alter Bezug nehmen, das ›Alter‹ als Metapher für kulturellen Wandel, für das Veralten von Normen, Werten, Ideen, Lebensformen und Institutionen sowie für die damit verbundene Endzeitstimmung. Alterswerken wurden in der Literaturwissenschaft früher häufig charakteristische Merkmale wie Tendenz zur Vergeistigung, zu überpersönlichen Zielen, zu Polarität und Steigerung – im Sinne Goethes –, zur Aufhebung von Gegensätzen in einer höheren Synthese, zum heiter-ironischen Spiel mit verborgenen Bildern, Mehrfachbedeutungen und Verrätselungen, aber auch zum verbergenden Enthüllen von Zweifeln und Konflikten zugeschrieben, insgesamt also Weisheit, Heiterkeit, Bedeutungsvielfalt und »reife Meisterschaft«.89 Dabei muss allerdings auch zugestanden werden, dass ein diese Merkmale aufweisender ›Altersstil‹ durchaus auch von jungen Autoren gepflegt werden kann, beispielsweise vom jungen Thomas Mann in den Buddenbrooks (1901). Von festen Bindungen von thematischen Vorlieben und Darstellungstechniken an das Lebensalter der Produzenten von Kunstwerken sieht man heute eher ab, das Interesse hat sich verschoben auf die Diskurszusammenhänge, die bestimmte Stillagen begünstigen. Die in diesem Band versammelten Aufsätze erforschen literarische und bildkünstlerische Altersrepräsentationen von kulturhistorischen, ideengeschichtlichen, narratologischen, diskurs- und bildanalytischen Ansätzen aus. Ein erster 87 | Miriam Haller: ›Ageingtrouble‹. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.): Altern ist anders, Münster 2004, S. 170-188, hier S. 187, und dies.: Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman, in: Dorothee Elm u.a. (Hg.): Alterstopoi, Berlin/New York 2009, S. 229-247. 88 | Hier wird u.a. danach gefragt, welche Autorität einer Erzählerinstanz zukommt, wenn ihre Stimme als ›alt‹ markiert ist. Vgl. z.B. Thomas Küpper: Die Erzählerin. Alterskonzeptionen in Theodor Storms ersten Novellen, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht, S. 179190, und Monika Gomille: Generation und Diaspora. Kontexte und Bedingungen eines übersetzenden Erzählens, in: Henriette Herwig (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br. u.a. 2009, S. 289-305. 89 | So am Beispiel der Alterswerke Goethes, Thomas Manns und Hermann Hesses G. W. Field: Goethe and Das Glasperlenspiel: Reflections on ›Alterswerke‹, in: German Life & Letters, Bd. XXIII (1969-1970), S. 93-101. Vgl. auch Werner Kohlschmidt (Hg.): Spätzeiten und Spätzeitlichkeit, Bern/München 1962.

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Schwerpunkt liegt auf dem kulturhistorischen Wandel von Figurentypen des Alters, ein zweiter auf Demenz-Repräsentationen in der Literatur der Gegenwart und den Antworten der Texte auf die Frage nach menschenwürdiger Pflege, im dritten Teil des Bandes werden Alterswerke untersucht und Altersstile beschrieben, bei denen ›Alter‹ zur Metapher für das Ende einer Epoche oder eines Staates wird. Mit Figurentypen des Alters befassen sich folgende Beiträge: Andrea von Hülsen-Esch geht der Frage nach, wie es in der bildenden Kunst um 1500 zur Bindung der Allegorie des Neides, der Allegorie des Geizes und des Inbegriffs der Lüsternheit an die alte Frau kommen konnte, die plötzlich als ›Hexe‹ erschien, und welche Rolle dabei die Figur der geldgierigen ›alten Kupplerin‹ spielte. Guglielmo Gabbiadini zeigt, wie Christian Fürchtegott Gellert in seinen Fabeln und Erzählungen eine Verschmelzung des traditionellen Kontrastpaares puer et senex mit dem Topos des puer aeternus dazu benutzt, den Widerstreit und die Aussöhnung zweier entgegengesetzter anthropologischer Optionen, der greisenhaften Strenge und Askese und der jugendlichen Vitalität und Sinnlichkeit zu inszenieren und damit für das anthropologische Modell des gesunden Ausgleichs zwischen Körper und Geist zu plädieren. Der wahre Weise – und damit »merkwürdige Alte« – ist hier der puer senex, der Jüngling, der mit Heiterkeit und Mäßigung auch die Tugenden des Alters verkörpert. Jünglingshaftigkeit wird so zu einer altersunabhängigen Lebensmöglichkeit. Maike Rettmann wendet sich dem Figurentyp der ›alten Jungfer‹ im Kriminalroman zu.90 Sie zeigt, wie diese traditionell negativ stigmatisierte Figur in Agatha Christies Gestalt der intelligenten Amateurdetektivin Miss Marple, die ihre Erfahrungen mit der Lektüre von Kriminalromanen zur Lösung von Kriminalfällen nutzt und dabei viele geschlechtsund altersspezifische Klischees torpediert, positiviert wird 91, in Ingrid Nolls Der Hahn ist tot (1991) hingegen als Serienmörderin mit tragikomischem Schicksal erscheint. Miriam Seidler arbeitet anhand von Altersromanen der Gegenwart heraus, wie die traditionell lächerliche Figur der/des ›verliebten Alten‹ in der Literatur der Gegenwart aufgewertet und dem Alter damit auch das Recht auf Liebe und Sexualität zugestanden wird. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Bandes liegt auf Demenz-Texten und der neuen Gattung des Pflegeheimromans. Um eine kulturvergleichende Perspektive zu eröffnen, werden neben Textbeispielen aus dem deutschsprachigen Raum und aus Amerika auch solche aus Japan beigezogen, aus einer hochentwickelten Industrienation, in der die ›Überalterung‹ der Gesellschaft weiter fortgeschritten ist, in der zugleich aber noch traditionelle Familienformen und Geschlechtsrollennormen vorherrschen, was zu einem Ungleichgewicht in den Fürsorgepflichten und Versorgungschancen von Frauen und Männern führt. Das Problem der 90 | Vgl. auch Heike Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹. Lebensgeschichten und alte Frauen im Detektivroman, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht, S. 191-210. 91 | Topoi von Altersspott eignen sich zur Umwertung von Vorstellungen altersgemäßen Verhaltens besonders gut. Vgl. Haller: ›Ageing trouble‹, S. 181ff.

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zwischen den Generationen eingeklemmten berufstätigen Frauen, die um die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Pflege der Alten ringen92, stellt sich hier mit besonderer Schärfe. Dieses Themas nimmt sich der Beitrag von Michiko Mae an. Hans-Georg Pott verbindet eine Analyse der Demenzrepräsentation in Jonathan Franzens Erfolgsroman The Corrections (2001) mit juristischen und moralphilosophischen Überlegungen zu einer Neubestimmung des Begriffs der Menschenwürde. Mein Beitrag analysiert exemplarische Pflegeheimromane der Gegenwart unter dem Gesichtspunkt der Paarkonstellationen und Generationenbeziehungen. Maike Dackweiler zeigt, wie Arno Geiger in Der alte König in seinem Exil (2011) die Sprache seines dementen Vaters in die Nähe des poetischen Sprachgebrauchs rückt und dadurch eine Intensivierung der Beziehung und einen menschenwürdigen Umgang mit der Demenz ermöglicht. Der dritte Schwerpunkt gilt dem Verhältnis von Alterswerken und Altersstilen zum Epochenwandel, womit ›Alter‹ als Metapher für sozial- und kulturhistorische Umbruchsprozesse erscheint. Ihm widmen sich drei Beiträge. Dirk Rose gelingt es zu zeigen, wie offen und ›jung‹ sich der alte Fontane gerade in seinen späten Gedichten gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungstendenzen der Moderne gegenüber erweist, ja dass seine Alterslyrik mit sprachlichen Ausdrucksmitteln experimentiert, die vorwegnehmen, was erst die Sprachspiele der Dadaisten einlösen werden. Sonja Klein zeigt anhand von Romanen und Erzählungen Eduard von Keyserlings, in denen alt werdende Angehörige des historisch überholten Adels in den übersüßen Duft ihrer Parkanlagen gestellt werden, und anhand von Herbstgedichten Stefan Georges und Rainer Maria Rilkes, wie das ›Alter‹ – unabhängig vom chronologischen Alter der Figuren und ihrer Erfinder – in der Literatur des Fin de siècle zur Signatur der Epoche wird, zu einer existentiellen Grundhaltung, die dem als Bedrohung erlebten Prozess der beschleunigten Modernisierung gegenüber eingenommenen wird. Die Herbstmotive und Vergänglichkeitssymbole stehen hier für das ›Altern‹ einer Kultur und die mit ihr verbundene Endzeitstimmung. In ähnlicher Weise macht mein Beitrag zu Christa Wolfs autobiographischer Erzählung Leibhaftig (2002) deutlich, wie der Kampf der alternden Autorin gegen eine lebensbedrohende Infektion in mythischen Traumbildern mit Erinnerungen an Stationen der Lebensgeschichte, an kulturpolitische Umbrüche und an die Geschichte der bis zur Wende geteilten Stadt Berlin verknüpft wird, wodurch die als Krise erlebte Krankheit auch als Symbol für den Zusammenbruch der DDR erscheint. Literatur und Kunst liefern keine Produkte, die das Leben im Alter in praktischer Hinsicht erleichtern, aber sie helfen das ›Andere‹ des Alters wie einen fremden Kontinent zu erforschen, schwer zugängliche Phänomene in Kontexte zu stellen und dadurch besser zu verstehen und Wissen zu vermitteln, das auf keinem anderen Weg zu haben ist. 92 | Elaine M. Brody: »Women in the Middle« and Family Help to Older People, in: The Gerontologist 21 (1981) H. 5, S. 471-480.

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L ITER ATUR Primärtexte Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 82004. Bovenschen, Silvia: Älter werden. Notizen, Frankfurt a.M. 2006. Brecht, Bertolt: Die unwürdige Greisin, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, Zürich 1976, S. 315-320. Cicero, Tullius: Cato maior de senectute. Cato der Ältere über das Alter, Lateinisch/ Deutsch, übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2003. Franzen, Jonathan: Das Gehirn meines Vaters, in: ders.: Anleitung zum Alleinsein. Essays, übers. v. Eike Schönfeld, Reinbek b. H. 2007 [How to Be Alone, New York 2002], S. 13-46. Franzen, Jonathan: Die Korrekturen. Roman, übers. v. Bettina Abarbanell, Reinbek b. H. 102008 [The Corrections, New York 2001]. Hughes, Holly J. (Hg.): Beyond Forgetting. Poetry and Prose about Alzheimer’s Disease, Kent, Ohio 2009. Lenz, Siegfried: Über den Schmerz. Essays, Hamburg 1998. Marti, Kurt: Leichenreden, Darmstadt/Neuwied 1976 [1969]. Obermüller, Klara (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz, München/Wien 2006. Schänzle-Geiger, Heidi; Dammann, Gerhard (Hg.): Alois und Auguste. Geschichten über das Vergessen – Alzheimer und Demenz, Frauenfeld u.a. 2009.

Sekundärtexte Amann, Anton: Konstruktionen des Alters. Soziale, politische und ökonomische Strategien, in: Brigitte Röder, Willemijn de Jong, Kurt W. Alt (Hg.): Alter(n) anders denken. Kulturelle und biologische Perspektiven, Köln u.a. 2012, S. 209225. Amann, Anton; Kolland, Franz (Hg.): Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine Kritische Gerontologie, Wiesbaden 2008. Aner, Kirsten; Karl, Ute (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010. Assmann, Aleida: Was ist Weisheit? Wegmarken in einem weiten Feld, in: dies. (Hg.): Weisheit, München 1991, S. 15-44. Bachmaier, Helmut: Späte Jahre. Das Alter in der Literatur, in: Entwürfe. Zeitschrift für Literatur (2008) H. 56, S. 65-72. Backes, Gertrud M.: Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Ruth Becker, Beate Kortendieck (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 3 2010, S. 454-460.

Für eine neue Kultur der Integration des Alters

Backes, Gertrud M.: Geschlechterverhältnisse im Alter, in: Birgit Jansen u.a. (Hg.): Soziale Gerontologie. Ein Handbuch für Lehre und Praxis, Weinheim/Basel 1999, S. 453-469. Baltes, Paul: Das hohe Alter. Mehr Bürde oder Würde, in: Wissenschaftsmagazin fundiert: Alter und Altern (2004), [www.fu-berlin.de/presse/publikationen/ fundiert/archiv/2004_01/04_01_baltes/index.html, Zugriff: 04.10.2013]. Beauvoir, Simone de: Das Alter. Essay, übers. v. Anjuta Aigner-Dünnwald, Ruth Henry, Reinbek b. Hamburg 22004 [La Vieillesse, 1970]. Bengtson, Vern. L. u.a. (Hg.): Handbook of Theories of Aging, New York 22009. Bobbio, Norberto: Vom Alter. De senectute [1996], übers. v. Annette Kopetzki, München/Zürich 1999. Brody, Elaine M.: »Women in the Middle« and Family Help to Older People, in: The Gerontologist 21 (1981) H. 5, S. 471-480. Brunnhuber, Petra: Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur, in: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 183-194. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Pflege-Charta. 2007 [www.pflege-charta.de, Zugriff: 23.08.2013]. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. Katharina Menke, Frankfurt a.M. 1991 [Gender Trouble, 1990]. Dammann, Rüdiger; Gronemeyer, Reimer: Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen, Frankfurt a.M. 2009. Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der Enquête-Kommission »Demographischer Wandel. Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik«, Bonn 2002. Dyk, Silke van: Kompetent, aktiv, produktiv? Die Entdeckung der Alten in der Aktivgesellschaft, in: PROKLA 146, Jg. 37 (2007) Nr. 1, S. 93-112. Ehmer, Josef: Das Alter in Geschichte und Geschichtswissenschaft, in: Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)?, Berlin/Heidelberg 2008, S. 149-172. Ehmer, Josef; Höffe, Otfried (Hg.): Bilder des Alterns im Wandel. Historische, interkulturelle, theoretische und aktuelle Perspektiven in Deutschland, Stuttgart 2009. Elm, Dorothee u.a. (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009. Elm, Dorothee u.a.: Einleitung, in: dies. u.a.: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009, S. 1-18. Fangerau, Heiner; Gomille, Monika; Herwig, Henriette u.a.: Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007. Field, G. W.: Goethe and Das Glasperlenspiel: Reflections on ›Alterswerke‹, in: German Life & Letters, Bd. XXIII (1969-1970), S. 93-101.

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Für eine neue Kultur der Integration des Alters

dies. (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Diziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 8-33. Hülsen-Esch, Andrea von: Alte Frauen – Hexen – Kupplerinnen. Überlegungen zu den spätmittelalterlichen Wurzeln langlebiger Vorurteile, in diesem Band. Kiesel, Helmuth: Das Alter in der Literatur. In: Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)?, Berlin/Heidelberg 2008, S. 173-188. Klüger, Ruth: »Ein alter Mann ist stets ein König Lear« – Alte Menschen in der Dichtung, Wien 2004. Kohli, Martin: Die alternde Gesellschaft, in: Wissenschaftsmagazin fundiert: Alter und Altern (2004) [www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2004 _01/kohli/index.html, Zugriff: 02.10.2013]. Kohlschmidt, Werner (Hg.): Spätzeiten und Spätzeitlichkeit, Bern/München 1962. Kruse, Andreas: Der Respekt vor der Würde des Menschen am Ende seines Lebens, in: Thomas Fuchs, Andreas Kruse, Grit Schwarzkopf (Hg.): Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg 2010, S. 27-55. Kunow, Rüdiger: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht, Bielefeld 2005, S. 21-43. Küpper, Thomas: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850, Würzburg 2004. Küpper, Thomas: Die Erzählerin. Alterskonzeptionen in Theodor Storms ersten Novellen, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht, Bielefeld 2005, S. 179190. Laslett, Peter: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns, Weinheim/München 1995. Lehr, Ursula: Altern aus psychologischer Sicht, in: Franz Böhmer (Hg.): Was ist Altern? Eine Analyse aus interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 33-50. Lehr, Ursula: Psychologie des Alterns, Heidelberg/Wiesbaden 71991. Lenz, Siegfried: Die Darstellung des Alters in der Literatur, in: ders.: Über den Schmerz. Essays, Hamburg 1998, S. 73-95. Luf, Gerhard: Der Grund für den Schutz der Menschenwürde – konsequentialistisch oder deontologisch, in: Gerd Brudermüller, Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde. Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 43-66. Maierhofer, Roberta: Salty Old Women: Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur, Essen 2003. Parnes, Ohad; Vedder, Ulrike; Weigel, Sigrid; Willer, Stefan: Demographischer Wandel. Kulturwissenschaftliche Perspektiven zu einer gegenwärtigen Debatte, in: Trajekte (2007) Nr. 14, S. 32-35. Pichler, Barbara: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425. Pott, Hans-Georg: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, München 2008. Pott, Hans-Georg: Altersdemenz als kulturelle Herausforderung, in diesem Band.

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Tews, Hans Peter: Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Gerhard Naegele, Hans Peter Tews (Hg.): Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993, S. 15-42. Thane, Pat (Hg.): Das Alter. Eine Kulturgeschichte, übers. v. Dirk Oetzmann, Horst M. Langer, Darmstadt 2005 [The Long History of Old Age, London 2005]. Thane, Pat: Das 20. Jahrhundert. Grenzen und Perspektiven, in: dies. (Hg.): Das Alter, übers. v. Dirk Oetzmann, Horst M. Langer, Darmstadt 2005, S. 263-300. Thiersch, Hans: Von den kränkenden Mühen, alt zu werden, in: Cornelia Schweppe (Hg.): Generation und Sozialpädagogik. Theoriebildung, öffentliche und familiale Generationenverhältnisse, Arbeitsfelder, Weinheim/München 2002, S. 173179. Vedder, Ulrike: Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik NF 22 (2012) H. 2, S. 274-289. Weber, Albrecht: Studien zum Phänomen des Alterns im Spiegel der Literatur, Würzburg 2013. Weigel, Sigrid; Parnes, Ohad; Vedder, Ulrike; Willer, Stefan (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften, München 2006. Weingärtner, Claudia: »Meine Tochter hat mich in die Slowakei geschickt … und mich noch nicht einmal besucht«. Immer mehr Deutsche werden in ausländische Heime abgeschoben, in: Bild-Bundesausgabe, 12.11.2012, S. 10. Wetzstein, Verena: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten. Alzheimer-Demenz und Angehörige bei Annette Pehnt und Katharina Hacker, in: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.): Jahrbuch Literatur und Medizin, Bd. 4, Heidelberg 2010, S. 169-184. Wulff, Hans J.: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror: Gerontopsychiatrische Themen im Spielfilm. Am Beispiel der Alzheimer-Demenz, in: Kurt W. Schmidt u.a. (Hg.): Schwierige Entscheidungen – Krankheit, Medizin und Ethik im Film, Frankfurt a.M. 2008, S. 229-259.

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Figurentypen des Alter(n)s

Alte Frauen — Hexen — Kupplerinnen Überlegungen zu den spätmittelalterlichen Wurzeln langlebiger Vorurteile Andrea von Hülsen-Esch

In der bildenden Kunst wie auch in der Literatur sind die Assoziation oder gar die Gleichsetzung von alten Frauen mit Hexen und Kupplerinnen ein wiederkehrendes Motiv. Obwohl es sich hierbei zunächst um grundverschiedene Phänomene zu handeln scheint, lassen sich die Anfänge für eine derartige Angleichung bis in die Antike zurückverfolgen, und zwar bei der Figur der Kupplerin.1 Bislang gibt es jedoch noch keine Studie, die ergründet, warum die überwiegend negativen Assoziationen, die mit der Kupplerin verbunden sind, insgesamt auf alte Frauen übertragen werden und wie es kommt, dass die mit der Kupplerin verknüpften literarischen Topoi dann auch mit Hexen assoziiert werden. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass im Mittelalter entscheidende Zuspitzungen vorgenommen werden, die um 1500 zu einer Kulmination der negativen Assoziationen in der bildlichen Darstellung der alten Hexen führen. Dass die Gestaltung der Hexenkörper nur marginal von denjenigen alter Frauen abweicht, führen uns die zeitgleich entstandenen Kleinskulpturen deutlich vor Augen. Die Tradierung literarischer Topoi und die Bestimmung der Diskurse durch gelehrte Kleriker, so meine These, führen zu einer Visualisierung dieser Topoi in der Kunst um 1500, die ohne die Zuspitzung im Mittelalter nicht in dieser Form stattgefunden hätte.

D IE K UPPLERIN IN DER A NTIKE UND IM M IT TEL ALTER Zu Beginn sollen die Kupplerinnen der Antike kurz in den Blick genommen werden: Dabei handelte es sich in der Regel um gealterte Prostituierte, die selbst 1 | Das Verhältnis zwischen Hexen und Kupplerinnen findet sich kurz behandelt bei Luis W. Banner: In Full flower. Aging Women, Power, and Sexuality. A History, New York 1992, S. 186-197, allerdings lässt Banner das Mittelalter komplett aus.

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mit ihrem Körper kein Geschäft mehr machen konnten und als Folge davon ihre jüngeren Kolleginnen ausbildeten – und verkuppelten.2 In diesem Zusammenhang wurde ein weiteres Geschäft für sie einträglich: dasjenige mit dem Liebeszauber bzw. dem Liebestrank. In der Antike stellten die als Kupplerinnen tätigen Frauen zunächst nur Schönheitsmittel, harmlose Liebestränke oder Heilsalben her, wie es auch die Hebammen taten, die seit jeher als weise und heilkundige Frauen galten. Allerdings kristallisiert sich mit der Zeit – genauer in der römischen Kaiserzeit – eine fatale Aufgabenteilung heraus: In zunehmendem Maße waren die Kupplerinnen für die Bereitstellung starker Aphrodisiaka und Gifte zuständig, während die Hebammen Spezialistinnen für Abtreibung und Kindstötung wurden. Diese Praktiken wurden Horstmeier zufolge durch die römische Rechtslage begünstigt, da Abtreibung, Giftmischerei und magische Handlungen nur dann bestraft wurden, wenn sie den Tod der ›behandelten‹ Person zur Folge hatten; hierdurch wurde die Entwicklung langfristig wirkender Gifte erheblich gefördert, so dass kein Zusammenhang mehr zwischen ›Behandlung‹ und Wirkung nachzuweisen war.3 Der Zusammenhang zwischen Kuppelei und Magie, zwischen Kupplerin und Hexe, wird also hier im Bereich des Brauens und Mischens verschiedenster Mittel sehr gut nachvollziehbar.4 Im Mittelalter findet dann eine Trennung statt zwischen den Kupplerinnen, die Prostituierte betreuen, und denjenigen, die hauptberuflich frei arbeiten und zwischen Freiern und jungen Mädchen verkuppeln. Diese Entwicklung ist darauf zurückzuführen, dass in mittelalterlicher Zeit die Bordelle vornehmlich von männlichen Wirten geleitet wurden. Die Kupplerin aber hilft, Beziehungen zwischen Verliebten zu knüpfen und Treffen zu vereinbaren, wobei die Initiative und Durchführung gänzlich in ihrer Hand liegt. Die möglichst raffinierte Durchführung dieser Hilfeleistung ist das Thema vieler Fastnachtsspiele und Dichtungen im 16. Jahrhundert. Die mit der Kuppelei einhergehende finanzielle Entlohnung oder, anders betrachtet, die Geldgier der Alten, war jedenfalls eine der Eigenschaften, die mit dem Bild der Kupplerin einherging.5 Zugleich wird ihr eine starke Libido zugeschrieben, ein

2 | Zu den Kupplerinnen in der Antike vgl. das Kapitel bei Gabriele Horstmeier: Die Kupplerin. Studien zur Typologie im dramatischen Schrifttum Europas von den Griechen bis zur Französischen Revolution, Diss. phil. Köln 1972, S. 30-45. 3 | Vgl. ebd. S. 42. 4 | Dieser Zusammenhang wird anhand von einigen Stichen aus dem späten 15. und dem beginnenden 16. Jahrhundert auch festgestellt bei Christa Grössinger: The Foolishness of Old Age, in: Paul Hardwick (Hg.): The Playful Middle Ages. Meannings of Play and Plays of Meaning. Essays in Memory of Elaine C. Block, Turnhout 2010, S. 61-80, hier S. 71f. 5 | Hier wird sicherlich der Einfluss des Hieronymus weitergewirkt haben, der in seinem »Brief an Furia über die Pflicht, Witwe zu bleiben«, das Bild von der trunkenen Alten der Antike kolportiert und mit dem einer geldgierigen Kupplerin anreichert. Hieronymus, Briefe (Brief 54,5 – c. 394) zitiert in englischer Übersetzung bei Jan M. Ziolkowski: The Obscenities

Alte Frauen — Hexen — Kupplerinnen

Verdikt, das dazu beigetragen haben mag, dass die Altersdarstellungen in Literatur und Kunst sich zunehmend auf den Frauenkörper konzentrieren.6 Auch hier ist es die im Mittelalter als Vorlage rezipierte und umgearbeitete antike Dichtung, die diese Stereotype bedient und kolportiert: Es handelt sich um die enzyklopädische Dichtung De vetula, die angeblich im 13. Jahrhundert in Ovids Grab aufgefunden wurde und deshalb in der Literatur als Pseudo-Ovid bezeichnet wird.7 In Wirklichkeit wurde sie von einem Franzosen um 1250 auf Latein geschrieben, aber gleichermaßen in England wie in Italien gelesen und kopiert.8 Die Prosa war so prominent, dass Mitte des 14. Jahrhunderts ein namentlich bekannter Franzose, Jean Lefèvre, sie wiederum auf Französisch übersetzte, nicht ohne sie allerdings auf den doppelten Umfang auszuweiten. Da die Geschichte sich vorgeblich auf Ovids Metamorphosen zu beziehen scheint, ist Ovid auch der Protagonist: Er begehrt ein junges Mädchen, zwischen 14 und 16 Jahren alt, deren Körper im Text mit einer langen Liste an Schönheitsmerkmalen dargestellt wird. Ovid versucht eine alte Frau, die für ihre Familie arbeitet, anzuheuern, damit sie ein Rendezvous arrangiere, doch weigert diese sich.9 Als Ovid nicht locker lässt, gibt sie vor, ein Treffen in die Wege zu leiten, nicht ohne ihm zu sagen, sie glaube, das Mädchen liebe ihn, sei aber zu schüchtern, es einzugestehen. Sie schlägt ihm vor, das Mädchen zu überraschen. Normalerweise teile es das Schlafzimmer mit ihrer Mutter, aber sie, die Alte, wolle dafür sorgen, dass das Mädchen das nächste Mal of Old Women, in: ders. (Hg.): Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages, Leiden u.a. 1998, S. 73-89, hier S. 84. 6 | Der Topos der ›geilen Alten‹ in Entsprechung zu ihrem männlichen Pendant mag sich auch daraus speisen, dass alte Frauen als Ratgeberinnen speziell in sexuellen Angelegenheiten fungierten und hierauf selbst Männer verwiesen, wenn es darum ging, in der Sexualpraxis Ratschläge an die Ehefrauen zu übermitteln, um zu der ersehnten Nachkommenschaft zu gelangen; vgl. Ziolkowski: Obscenities, S. 87. 7 | Paul Klopsch: De vetula: Untersuchungen und Text, Leiden 1967, S. 22-34, zur Tradition der Fiktion eines im Grab gefundenen Buches; vgl. auch Lucie Dolezalová: Nemini vetula placet? In Search of the Positive Representation of Old Woman in the Middle Ages, in: Elisabeth Vavra (Hg.): Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress, Krems an der Donau, 16. bis 18. Oktober 2006, Wien 2008, S. 175-182, hier S. 180f. 8 | Vgl. hierzu und zum Folgenden Gretchen Mieszkowski: Old Age and Medieval Misogyny: The Old Woman, in: Albrecht Classen (Hg.): Old Age in the Middle Ages and the Renaissance. Interdisciplinary Approaches to a Neglected Topic, Berlin/New York 2007, S. 299-319, hier S. 301-303. 9 | Hierbei muss beachtet werden, dass alte Frauen, die beispielsweise als Ammen in den Familien des Adels oder des Patriziats tätig gewesen waren, das besondere Vertrauen der jungen Mädchen und auch der anderen im Haushalt lebenden Frauen genossen, die nicht unerheblich dazu beitrugen, Werte und Meinungen zu prägen.; vgl. Ziolkowski: Obscenities, S. 81 mit Anm. 18. Zur Abgrenzung der alten »Wächterin« zu den Kupplerinnen in der italienischen Literatur vgl. Patrizia Bettella: The Ugly Woman. Transgressive Aesthetic Models in Italian Poetry from the Middle Ages to the Baroque, Toronto u.a. 2005, S. 41-66.

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nach dem Waschen der Haare in einem Kämmerchen neben dem Hauseingang schlafe. Nach neun Uhr werde sie, die Alte, dann die Tür entriegeln; Ovid müsse alle Lampen löschen, sich im Dunkeln ausziehen und schnell zu dem Mädchen ins Bett steigen, das er dort nackt vorfinde. Sie riet ihm, das Mädchen sofort zu nehmen, denn wenn sie erst einmal ihrer Jungfräulichkeit beraubt sei, werde sie ihn schon lieben. Natürlich kommt es anders als Ovid es glaubt: Die zarte Jungfrau, die er im Bett vorzufinden glaubt, ist die Alte selbst, doch bevor Ovid es merkt, hat er sie bereits in Besitz genommen; als er es realisiert, ist ihm schlagartig alle Lust vergangen und der Rest der Geschichte ist eine unappetitliche Beschreibung des weiblichen alten Körpers mit schlaffen Brüsten, die als »weich und leer wie die Taschen eines Schafhirten «10 bezeichnet werden. Was neben der an der antiken Dichtung orientierten Gegenüberstellung von schönem Körper eines jungen Mädchens und hässlichem Körper einer alten Frau hier aber weiterkolportiert wird, ist die Zuschreibung der Lüsternheit bei alten Frauen, die ohne Konsequenzen ausgelebt werden konnte, weil diese ihre Gebärfähigkeit bereits eingebüßt hatten und sich in der Gesellschaft freier bewegen konnten.11 Abscheu und Ekel vor dem alten Frauenkörper aus männlicher Besitzperspektive – wie beispielsweise auch in Filocolo, Boccaccios Novelle über eine Kupplerin –12 werden im Mittelalter mit negativen Charaktereigenschaften alter Frauen im allgemeinen verbunden, die in der Antike allenfalls den Hetären zugeschrieben wurden. Die literarische Ableitung dieser mittelalterlichen Tradition ist unklar. Wenngleich es Ähnlichkeiten zu einer Frauenfigur in Ovids Amores gibt, die ab dem 12. Jahrhundert weithin rezipiert werden, so sind diese Ähnlichkeiten doch nur ungefährer Natur.13 Bei der antiken Dipsas handelt es sich um eine Frauenfigur, die junge Kurtisanen unterrichtet, wie sie ihren Freiern mehr Geld und Geschenke entlocken können, wohingegen die Geschichten um alte Frauen im Mittelalter ein anderes Thema betreffen: Sie handeln in der Regel von listigen alten Frauen, die junge Frauen unter den verschiedensten Umständen dazu bringen, sich einem Freier hinzugeben, der die Alte dafür bezahlt hat – also die klassische Situation

10 | Klopsch, De vetula, S. 241 Vers 504f.: »non uber, sed tam vacuum quam molle, velut sunt burse pastorum […].« Zu den Körpervorstellungen und der Entwicklung eines neuen Verhältnisses zum Alter in Ovids De vetula vgl. auch die Dissertation von Sarah Allison Miller: Virgins, Mothers, Monsters: Late Medieval Monstrosity and the Female Body, New York 2010, Kapitel 1, bes. S. 17-25. 11 | Ziolkowski: Obscenities, S. 82 und Guy Tal: Witches on Top: Magic, Power, and Imagination in the Art of Early Modern Italy, Ann Arbor, MI 2006, S. 36f. 12 | Vgl. zu dieser Novelle Mieszkowski: Old Age, S. 300. 13 | Zur Vorbildhaftigkeit der Ovid’schen Frauenfigur für die mittelalterliche Tradition siehe Karen Pratt: De vetula: the Figure of the Old Woman in Medieval French Literature, in: Albrecht Classen (Hg.): Old Age in the Middle Ages and the Renaissance. Interdisciplinary Approaches to a Neglected Topic, Berlin/New York 2007, S. 321-342, hier S. 326-328.

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der Kupplerin.14 Außerdem sind die mittelalterlichen alten Frauen in der Literatur niemals betrunken wie Dipsas, dafür aber werden sie meistens als arm charakterisiert.15 Sie missbrauchen den – angesehenen – Status als Bettlerin, um sich Zugang zu den Frauen zu verschaffen. Zudem, so das Bild, das von ihnen kreiert wird, beten sie unablässig und ostentativ den Rosenkranz oder decken ihre Aktivitäten, indem sie vorgeben, sie seien eigentlich einem Kloster angehörig. Neben diesem literarischen Strang gibt es einen medizinischen Diskurs: Die vetula ist physiopathologisch bösartig. Begründet wird dies wiederum mit der zu jener Zeit bekannten Säftelehre: Da sie, die Alte, kalt und trocken ist, benötigt sie Hitze, um diesem Zustand Abhilfe zu verschaffen.16 Die Menstruation wurde damals als biologisches Instrument gesehen, mit dem sich der Körper selbst reinigt und Vergiftungen ausschwemmt – und da alte Frauen jenseits der Menopause sind, werden sie deshalb zunehmend vergiftet.17 Daneben wurde das Bild des hässlichen Körpers auch in Versen verarbeitet, etwa in der Ars versificatoria des Mathieu de Vendôme aus dem 12. Jahrhundert, die als rhetorischer Lehrstoff immer wieder rezitiert wurde18 und die ihrerseits antiken Stereotypen von Martial oder Horaz verpflichtet ist. Es sind Stereotype, die nicht nur in der Antike unter anderen gesellschaftlichen Umständen aufgekommen sind und in Worte gefasst wurden, sondern die im hohen Mittelalter mit einer enormen Kraft wieder aufgenommen und weitergedichtet wurden – etwa 14 | Mieszkowski: Old Age, S. 302. Pierre Bersuire bestätigt in seinem berühmten OvidKommentar aus dem 14. Jahrhundert dieses Verdikt über alte Frauen: »There is no better way for suitors to manage to have intercourse with young women than by transmitting their poisonous words through old women. It has often seemed that girls who despised gold, silver, and all prevoius materials are won at last by the assistance of old women.« Pierre Bersuire: Ovide moralisée (Ovid 14.656) zit.n. Ziolkowski: Obscenities, S. 85f. 15 | Alte Frauen waren oftmals auf die Almosen der Gesellschaft angewiesen, um zu überleben; damit waren sie aber auch zugleich der Kontrolle durch einen Haushaltsvorstand entzogen; vgl. Alison Rowlands: Witchcraft and Old Women in Early Modern Germany, in: Past and Present 173 (2001), S. 50-89, hier S. 62. 16 | Der antiken medizinischen Lehre zufolge gilt diese Zuschreibung für das Alter generell; vgl. Daniel Schäfer: Medical Representations of Old Age in the Renaissance: The Influence of Non-Medical Texts, in: Erin Campbell (Hg.): Growing Old in Early Modern Europe, Aldershot 2006, S. 11-20, hier S. 14. Da jedoch den Frauen mit dem Ausbleiben der Menstruation die sichtbaren Anzeichen für Wärme und Feuchtigkeit fehlen, ist es nur logisch, dass auch medizinisch das Alter mit den Frauen assoziiert wird, nicht mit den einem gesundheitlichen Ideal entsprechenden Männern. 17 | Bereits im 13. Jahrhundert wird in dem sehr langlebigen und viel rezipierten Traktat De secretis mulierum die Behauptung aufgestellt, durch die Menopause verbleibe das unreine Blut im weiblichen Körper und verursache böse Launen; vgl. Bettella: Ugly Woman, S. 14. 18 | Vgl. die Charakterisierung der hässlichen Beroe als Antagonistin der schönen Helena; Bettella: Ugly Woman, S. 17f. mit Anm. 27.

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in Sonetten als rhetorischer Form –, jetzt allerdings auf alle alten Frauen bezogen.19 Die dahinter stehende soziale Realität, etwa, dass es sich im 12. Jahrhundert selbstverständlich um Kleriker handelt, die diesen Phantasien Raum geben, ist bis heute noch nicht mit der Frage verbunden worden, wie es kommt, dass diese Altersstereotype sich zum einen so erfolgreich halten und dass zum anderen der Verfall des alten weiblichen Körpers zugleich mit immer mehr negativen Charaktereigenschaften verbunden wird. Es ist zu fragen, ob diese Form der Weiterdichtung in dem Moment einsetzt, da der Zölibat festgeschrieben wird, also im 12. Jahrhundert, und wir es bei dem Transport und der Verschärfung der Altersstereotype im Mittelalter auch mit der Frage zu tun haben, wie der Umgang mit der Sexualität in der Gesellschaft durch neue kirchliche Normen verändert wird. Dass alte Frauen im 12. Jahrhundert als reale Bedrohung für die Moral und die Enthaltsamkeit des Klerus betrachtet wurden, weil sie als Kupplerinnen tätig waren, ist durch den Zisterzienserabt Aelred von Rievaulx überliefert, der die Praktiken der Kupplerin (vetula mixta) so beschreibt, dass sie den Mönchen oder den Klerikern »das Gift zischend einhauchen«, während sie ihnen schöne Worte ins Ohr flüstern oder ihnen für erhaltene Almosen die Hände küssen.20 Als Witwen der Kontrolle des männlichen Haushaltsvorstands entzogen, wurden sie aufgrund dieser Unabhängigkeit Ziel zahlreicher Verdächtigungen.21 19 | Alte Frauen stellten für die Autorität der Kleriker eine Art Bedrohung dar, da sie sowohl als ›weise Frauen‹ (Hebammen, Heilerinnen) über ein Wissen des Frauenkörpers verfügten, das kein Mann besaß, als auch wegen ihrer Erfahrung beliebte Ratgeberinnen der weiblichen Mitglieder einer Familie waren. Ihre Erfahrungswerte gingen nicht unbedingt konform mit denen der kirchlichen Lehre, zudem kamen sie auf Grund ihrer uneingeschränkten Mobilität an Neuigkeiten heran, die als Diskurs den Männern vorbehalten waren; vgl. Ziolkowski: Obscenities, S. 81f. Zur Verdrängung der ›weisen Frauen‹ durch die gelehrten Männer (zunächst Kleriker) vgl. Andrea von Hülsen-Esch: Frauen an der Universität? Überlegungen anläßlich einer Gegenüberstellung von mittelalterlichen Bildzeugnissen und Texten, in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 315-346, und zur Gleichsetzung der ›weisen Frauen‹ mit der vetula, die wiederum im gelehrten Diskurs als Gegenfigur zum männlichen Magier konzipiert wird, vgl. Béatrice Delaurenti: Femmes enchanteresses. Figures féminines dans le discours savant sur les pratiques incantatoires au Moyen Age, in: Anna Caiozzo, Nathalie Ernoult (Hg.): Femmes médiatrices et ambivalentes. Mythes et imaginaires, Paris 2012, S. 215-226; zu den Sonetten, die die Stereotypen ausschrieben und verbreiteten, vgl. Bettella: Ugly Woman, S. 22f. 20 | Aelredi Rievallensis opera omnia. Vol. I opera ascetica: De institutione inclusarum, ediert von C. H. Talbot (CCCM 1), Turnhout 1971, S. 638, Z. 86-89: »nolo ut insidiatrix pudicitiae vetula mixta pauperibus accedat propius, deferat ab aliquo monachorum vel clericorum eulogias, non blanda verba in aure susurret, ne pro accepta elemosyna osculans manum, venenum insibilet.« Auch die älteste italienische Dichtung gegen Frauen Proverbia quae dicuntur super natura feminarum ist im Umkreis der Zisterzienser und Mendikanten rezipiert worden; vgl. Bettella: Ugly Woman, S. 191 mit Anm. 17. 21 | Rowlands: Witchcraft, S. 65-69.

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Wie aber kommt es zu der Kombination der uns bekannten Topoi, dass nämlich der alte, hässliche Körper zugleich mit demjenigen der Kupplerin verbunden wird, die in der Folge mit negativen Charakterzügen versehen wird und als bösartig und hinterlistig erscheint?22 Gretchen Mieszkowski zufolge ist der Ursprung in einer Dichtung zu sehen, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts entsteht und die in der Regel als lateinische Komödie bezeichnet wird: Pamphilus.23 Diese lateinischen Komödien sind voller mythologischer Anspielungen, ausgefeilter Wortspiele und rhetorischer Stilmittel; in der Regel sind sie dialogisch aufgebaut, was zu der Annahme geführt hat, dass diese Komödien auch in irgendeiner Weise aufgeführt wurden. Die alte Frau im Pamphilus ist die erste alte Frauenfigur, die in der westlichen mittelalterlichen Literatur entwickelt wird. Sie ist clever, erfolgreich in ihrem Tun, furchterregend und ein alter Hase, was die Kunst betrifft, junge Frauen hereinzulegen und den Freiern gefügig zu machen. Sie lügt beständig. An keiner Stelle der Dichtung wird sie namentlich genannt, stets ist sie die ›Alte‹, die außerhalb des eigentlichen Geschehens steht und mit kaltem Blick und unbewegt verfolgt, was sie mit ihrem Verkupplungsgeschick angerichtet hat. Wenngleich in der Komödie die Männer als diejenigen beschrieben werden, die letztendlich die Vergewaltigung durchführen, so geht als die eigentliche Übeltäterin, die das Ganze hinterlistig eingefädelt hat, die Alte hervor. Körperliche Hässlichkeit wurde mit moralischer Verwerflichkeit gleichgesetzt, beides sozial niedrigen Schichten zugeschrieben. Damit war der Schritt zu der oftmals in Armut lebenden alten Frau und der Kupplerin schnell getan. Die hässliche Alte war in den mittelalterlichen lateinischen Komödien entweder eine Dienerin oder eine Kupplerin – die Figur im Pamphilus wurde gewissermaßen zur prototypischen alten Kupplerin.24 Pamphilus – wie auch alle anderen lateinischen Komödien – war Schulstoff in den Kathedralschulen und wurde ohne Unterbrechung bis in die Renaissance als Schulbuch genutzt.25 Die angehenden jungen Kleriker – noch nicht geschlechtsreife Jugendliche! – lernten mit dem Pamphilus wie auch mit Ovids Ars amatoria Latein – und übernahmen zugleich die mit der Sprache vermittelten Einstellungen und Altersbilder. Der Pamphilus begann als Schulbuch und hatte dann eine unglaubliche Karriere – er wurde zu einem sehr weit verbreiteten Buch im gesamten Mittelalter, das vielfach in die Volkssprachen 22 | Sigrid Brauner: Fearless Wives and Frightened Shrews: The Construction of the Witch in Early Modern Germany, hg. v. Robert H. Brown, Amherst, MA, 1995, S. 63, verbindet diese körperlichen und moralischen Attribuierungen mit den Hexen; sie sind jedoch schon früher als das Phänomen Hexerei greifbar und mit den Kupplerinnen assoziiert. 23 | Mieszkowski: Old Age, S. 303-306. Der Pamphilus lag auch der ersten italienischen volkssprachigen Dichtung, in der die Frauen als misogyne Wesen charakterisiert werden, zugrunde, die im Nordosten Italiens lokalisiert und um 1152-1160 datiert wird: Proverbia quae dicuntur super natura feminarum; vgl. Bettella: Ugly Woman, S. 13 mit Anm. 17. 24 | Vgl. Bettella: Ugly Woman, S. 17. 25 | Hierzu und zur Überlieferung vgl. Mieszkowski: Old Age, S. 307.

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übersetzt wurde, wovon heute noch 170 Handschriften in allen europäischen Ländern zeugen. Möglicherweise war der Pamphilus ursprünglich als unterhaltsame Lektüre für Kleriker gedacht und die darin konzipierten literarischen Figuren hatten wenig mit der sozialen Realität zu tun – die ungeheure Popularität des Werks und vor allem die Langlebigkeit haben dann jedoch dazu geführt, dass sich das Bild von der alten Kupplerin verfestigte. Die kulturelle Funktion, die diese Art der Literatur zeitigte, war, die Vorstellung vom Aussehen alter Frauen zu beflügeln: Sie wurden in der Folge zu abscheulichen, geschickten und auch gefährlichen Menschen, ein literarisches Bild, das später, verwoben mit den Hexendiskursen, furchtbare Konsequenzen in der realen Welt zur Folge hatte. Es ist also nicht erst die Dichtung um die Mitte des 15. Jahrhunderts, die in Form der Antikenrezeption den Altersmerkmalen am weiblichen Körper ihre Aufmerksamkeit schenkt und keinen Zweifel an der Bewertung des alten Frauenkörpers aufkommen lässt. Bildliche Darstellungen von diesen literarisch fixierten Stereotypen finden wir allerdings erst ab dem 15. Jahrhundert, und zwar sowohl für die Kupplerin als auch für die Hexe. Als eine der frühesten Darstellungen einer Kupplerin zählt eine Miniatur in der Handschrift Der Renner von Hugo von Trimberg in der Version und eigenhändigen Niederschrift des Johannes Vorster.26 Mit diesem um 1300 entstandenen deutschsprachigen Text vermittelt der Autor lateinische Texte auch über das Alter an ein deutsches Publikum.27 Er bietet mit seinem ›Lehrgedicht‹ eine umfassende Wissenssumme, die sich nicht nur auf die sieben Freien Künste stützt, sondern auch praxisnahe Unterweisung einbezieht: An die detaillierte Darstellung der sieben Hauptsünden schließen sich eine allgemeine Sittenlehre und eine Mahnung zur Buße an. Die Kupplerin in der Handschrift des Johannes Vorster, entstanden um 1425, wird bei der Behandlung des Lasters der Unkeuschheit erstmals bildlich nach den Maßgaben des Autors Johannes Vorster dargestellt.28 Während die Unkeuschheit, lateinisch auch als Luxuria bezeichnet, im oberen Register zu sehen ist, wird die Kupplerin im mittleren Bildfeld mit der Beischrift perntreiberin (Kupplerin) wiedergegeben (Abb. 1).29

26 | Heidelberg, Universitätsbibl., Cod. Pal. germ 471, fol. 27r, ca. 1425-1431. Zum Text, den darin verarbeiteten Vorlagen, den Überlieferungssträngen und der Textgattung vgl. Rudolf Kilian Weigand: Der ›Renner‹ des Hugo von Trimberg. Überlieferung, Quellenabhängigkeit und Struktur einer spätmittelalterlichen Lehrdichtung, Wiesbaden 2000, eine Beschreibung der Handschrift S. 81f.; eine Edition der Handschrift legte Henrike Lähnemann: Der ›Renner‹ des Johannes Vorster. Untersuchung und Edition des cpg 471, Tübingen 1998, vor. 27 | Meines Wissens wurden die Abschnitte »Jugend« und »Alter« bisher nicht für die Altersforschung fruchtbar gemacht. 28 | Zum Bildprogramm vgl. Lähnemann: Der ›Renner‹, S. 3f. und S. 122-151. 29 | Dieses Wort für Kupplerin findet sich als Schimpfwort in Hans-Sachs-Spielen; vgl. ebd. S. 140 mit Anm. 138; das Gleiche gilt für die Übertitelung der jungen Frau mit »gekronte eseleyn«.

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Abbildung 1: Hugo von Trimberg (bearbeitet von Johannes Vorster), Der Renner, Nürnberg, ca. 1425-1431,Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ 471 fol. 27r, Bl. 27r: Kuppelei und käuflicheLiebe.

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Abbildung 2: Hausbuchmeister, Venuskinder, 1482.

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Dort ist die Übergabe einer jungen Frau an einen Freier dargestellt; die Art der Kleidung lässt darauf schließen, dass sie durchaus von höherem Stande ist. Der Kopfschleier deutet an, dass es sich hier um eine verheiratete Frau handelt, da die Jungfrauen im untersten Register ohne Schleier mit einem Myrtenkranz auf dem Haar beim unsittlichen Spiel gezeigt werden. Die Kupplerin, um die es hier geht, ist in ein schwarzes, bodenlanges Gewand gekleidet, unter ihrem Kopfschleier lugt an der rechten Seite langes, genauer: unfrisiertes weißes Haar hervor, was sowohl auf die Tradition der Luxuria anspielt als auch einen Vorgriff auf das Bild von einer Hexe darstellt. Der Krückstock, auf den sie sich stützt, lässt keinen Zweifel an ihrem Alter auf kommen. Sie blickt auf das Geld in ihrer rechten Hand, das sie durch ihre Kuppelei erhalten hat, und um die Verwerflichkeit des Tuns zu betonen, sitzt ihr ein kleiner Teufel im Nacken. Bösartigkeit, Geldgier und das Alter werden in diesem Bild der Kupplerin gekoppelt und für alle verständlich sowie auf einen Blick erfassbar dargestellt. Die Spruchdichtung hingegen entwirft ein positives Gegenbild mit dem »Lob der Frauen« und der Lobpreisung der heiligen Anna, so dass hier eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem normativen Text und der lebensweltlichen Bilddarstellung gegeben ist.30 Aufgegriffen wird das Motiv in einer Federzeichnung des Hausbuchmeisters um 1482: Im Rahmen der ›Venuskinder‹ stellt er eine alte und hagere Kupplerin dar, die einem ins Bad steigenden Liebespaar Früchte reicht – wodurch natürlich auch das alte Thema der Verführung Adams durch Eva aufgerufen wird (Abb. 2).31 Im Vordergrund hockt vor einem Korb mit verschiedenen Speisen und Geschirr und vor zwei größeren Gefäßen eine ältere Frau – es handelt sich um die einzige ältere Frau auf dem Bild –, die mit ihrer rechten Hand unauffällig auf einen scheibenartigen Flakon verweist. Über ihre rechte Schulter blickt sie zurück auf ein Paar, das sich in zarter Umarmung von ihr entfernt, während in kurzer Entfernung vor ihm ein weiteres Paar sich bereits einer zupackenden Umarmung hingibt. Man wird die ältere Frau sicherlich als Kupplerin bezeichnen dürfen, die hier Aphrodisiaka verabreicht hat.32 Dass das Bild von der alten Kupplerin zuweilen mit dem einer lüsternen alten Frau amalgamiert, zeigt schließlich

30 | Ebd., S. 140f. 31 | Christoph Graf zu Waldburg Wolfegg: Venus und Mars. Das mittelalterliche Hausbuch aus der Sammlung der Fürsten zu Waldburg Wolfegg, München/New York 1997, S. 36 mit Abb. S. 37; zur Datierung S. 13. Eine weitere Federzeichnung im Hausbuch zeigt unter dem Titel Niederwildjagd eine Szene, in der liebestolle Frauen Jagd auf Männer machen; ebd., S. 61-67 mit Abb. S. 64f. 32 | Shulamith Shahar: The Old Body in Medieval Culture, in: Sarah Kay (Hg.): Framing Medieval Bodies, Manchester 1997, S. 160-186, hier S. 168f., hebt hervor, dass in den mittelalterlichen Exempla alten alleinstehenden Frauen zugetraut wurde, dass sie Liebestränke zubereiteten und dem Grunde nach bereit waren, Böses zu tun.

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die Randzeichnung von Hans Holbein d. J. in einer 1515 erschienenen Ausgabe des Encomium moriae i.e. Stultitiae Laus von Erasmus von Rotterdam (Abb. 3).33

Abbildung 3: Hans Holbein d. J., Randzeichnungen im »Lob der Torheit«, in: Erasmi Roterdami encomiummoriae i.e. Stultitiae laus, Johann Froben, Basel März 1515, Basel, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr.1662.166, fol. C 2v.: Die lüsterne Greisin.

33 | Basel, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 1662.166, fol. C 2v; vgl. den Katalogeintrag von Christian Müller: Randzeichnungen im Lob der Torheit in Erasmi Roterodami encomium moriae i.e. Stultitae Laus, in: Hans Holbein d. J. Zeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum Basel, Basel 1988, S. 20-33. Die 82 Federzeichnungen sind im letzten Dezemberdrittel des Jahres 1515 innerhalb von zehn Tagen entstanden und waren nicht zur Vervielfältigung bestimmt, sondern sollten der privaten Erbauung des Gelehrten dienen. Christian Müller: Hans Holbein der Jüngere und Ambrosius Holbein, in: Öffentliche Kunstsammlung Basel Kupferstichkabinett. Katalog der Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, Teil 2A: Die Zeichnungen von Hans Holbein dem Jüngeren und Ambrosius Holbein, bearb. v. Christian Müller, Basel 1996, S. 50-66. Eine ausführliche Beschreibung der Zeichnungen mit teilweiser ikonographischer Verortung bei Erika Michael: The Drawings by Hans Holbein the Younger for Erasmus’ »Praise of Folly«, New York/London 1986. Der Hinweis auf die Zeichnung findet sich bei Mark Gregory D’Apuzzo: I segni del tempo. Metamorfosi della vecchiaia nell’arte dell’Occidente, Bologna 2006, S. 207 mit Abb. 159. Zur Textgattung und Charakterisierung dieses Werks von Erasmus von Rotterdam vgl. die informative Einordnung bei Gottfried Willems: Geschichte der Literatur. Bd. 1: Humanismus und Barock, Wien u.a. 2012, S. 347-392.

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Holbein, der die gesamte Ausgabe auf Wunsch des Auftraggebers mit kommentierenden Marginalzeichnungen versah, setzt neben die Textstelle, die am Rande von den Kommentaren »senex puellae maritus« und etwas tiefer mit »anus libidinosae« begleitet wird, die Zeichnung einer stehenden alten Frau, die mit ihrer rechten Hand leicht den Rock hebt, so dass der Blick auf ihre Beine gegeben ist.34 Die Textstelle beschreibt eine alte Frau, näher am Grabe denn bei den Lebenden, die sich gegen große Summen Geldes junge Freier kauft. 35 Im Zusammenhang mit den Kommentaren – »alter Ehemann eines jungen Mädchens« und »wollüstige alte Frauen« – ist die Frau sowohl als lüsterne Alte wie auch als Kupplerin anzusprechen, wobei die Geste über eine Anspielung auf die ›Wollust‹ hinausgehend auch den Charakter der Abschreckung haben kann, in jedem Fall im volkstümlichen Brauch weitergehend auf die Entblößung der Sexualorgane verweist.36 Die Kupplerin selbst bzw. das mit ihr verbundene Motiv der Geldgier verselbständigt sich in der bildenden Kunst dann in einem Motiv, das bereits in der Antike wurzelt, im Zusammenhang mit der Kupplerin dann jedoch seit dem 15. Jahr-

34 | Vgl. Müller: Hans Holbein, S. 55 Nr. 28 u. Taf. 10 Nr. 28, und Michael: Drawings, S. 80f. sowie S. 388. 35 | »Noch köstlicher sind die Weiber: vor Schwäche schon halbtot und so dürr, daß man meint, sie kämen aus dem Grabe, trällern sie noch immer: ›Licht und Leben sind so schön!‹; und noch juckt es sie wie die läufigen Hündlein oder Säue. Sie kaufen sich um schweres Geld einen hübschen jungen Burschen, bemalen fleißig die runzlige Haut mit Schminke, weichen vom Spiegel keinen Schritt, roden sich aus, was da unten sprießt, hausieren mit den schlaffen, verwelkten Brüsten, girren und schmachten, den lustlosen Freund zu animieren, trinken über den Durst, tanzen im Reigen bei den Mädchen und kritzeln verliebte Briefchen.« Erasmus von Rotterdam: Moriae Enkomion sive laus stultitiae. Deutsche Übersetzung von Alfred Hartmann, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler, Darmstadt 1975, S. 71. 36 | Die Geste des Anasyrma besitzt eine Ambivalenz, die sowohl auf die Fruchtbarkeit anspielt als auch apotropäischen Charakter haben kann, in jedem Fall ist sie obszön, denn vollständig ausgeführt, wird der Rock soweit angehoben, dass die Vulva zu sehen ist. Da sie von der griechischen Antike an bis ins Mittelalter in Italien überliefert ist, im 11. Jahrhundert auch konkret mit außerehelichem Geschlechtsverkehr verbunden wird, scheint mir an dieser Stelle der Bezug nicht abwegig. Zur Anasyrma-Geste, für die es Belege auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts gibt, vgl. Ewald Kislinger: Anasyrma. Notizen zur Geste des Schamweisens, in: Gertrud Blaschnitz u.a. (Hg.): Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 377-394; zur die Genitalien entblößenden Figur an der Mailänder Porta Tosa im 12. Jahrhundert vgl. Andrea von HülsenEsch: Oberitalienische Skulptur als Reflex der kommunalen Entwicklung im 12. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 108f. mit Anm. 402.

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hundert eine bildliche Repräsentationsform findet: dasjenige des ›senex amans‹, des verliebten Alten, der auch in Form der verliebten Alten auftritt (Abb. 4).37

Abbildung 4: Hausbuchmeister, Der Jüngling und die verliebte Alte, um 1480.

Anders als in der Antike, wo die Lustbarkeit der Frau stets auf die alternde Hetäre bezogen wird, ist in den Darstellungen des 15. Jahrhunderts, in denen das Thema vermehrt aufkommt, eine solche Zuordnung nicht mehr zu erkennen. Die verliebten Alten sind schlichtweg erkennbar unattraktive, alte Frauen. Die zahlreichen Federzeichnungen variieren zunächst das Motiv eines Liebespaares, das durch die Darstellung beispielsweise eines jungen Mannes mit einer Greisin jedoch eine völlig andere Bewertung erhält: Es handelt sich hier um das Motiv der ›ungleichen Liebe‹, das ein beliebtes Motiv in Literatur und Kunst des ausgehenden Mittelalters ist und auch in der Druckgraphik eine weite Verbreitung erfährt.38 Das im Ursprung antike Thema zielt auf die Lächerlichkeit dieser Verbindung, die in zwei Lastern gründet: auf Wollust einerseits und auf Geldgier andererseits. 37 | Alte Frauen waren stets mit Lüsternheit konnotiert; vgl. für die literarische Tradition den Beitrag von Sandra Linden: Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang, in: Dorothee Elm u.a. (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009, S. 137-164, bes. S. 139-142; zum Thema der ungleichen Liebe vgl. auch die Beispiele zitiert von Christa Grössinger, Foolishness, S. 65-69. 38 | Zu dem vorbildgebenden frühen Stich des Hausbuchmeisters vgl. den Ausstellungskatalog Images of Love and Death in Medieval and Renaissance Art. The University of Michigan Museum of Art, November 21, 1975 – January 4, 1976, Ann Arbor, MI. 1975, Kat. Nr. 47, S. 85f.

Alte Frauen — Hexen — Kupplerinnen

Das Bild der verliebten Alten mit dem gut gefüllten Geldsack wäre jedoch ohne die Zwischenstufe der alten, geldgierigen Kupplerin nie in dieser Form zur Ausführung gekommen. Mehr noch: Es sind diese Konnotationen der mit der alten Kupplerin verknüpften Geldgier, die schließlich zu der Gestaltung der Allegorie des Geizes als einer alten Frau führen. Vor dem Hintergrund der ›verliebten Alten‹ mit ihrem Geldsack erschließt sich das so benannte Bild von Albrecht Dürer neu (Abb. 5):

Abbildung 5: Albrecht Dürer, Allegorie des Geizes, 1507, Kunsthistorisches Museum Wien.

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Seine Tafelmalerei mit einer Allegorie des Geizes aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien aus dem Jahre 1507 fasst in einem halbfigurigen Portrait einer alten Frau alle Stereotypen zusammen, die bislang beobachtet werden konnten.39 Mit ihrem kaum verhüllten Oberkörper, der dem Betrachter zugewandt ist, präsentiert die Frau diesem ihre entblößte rechte Brust, wohingegen die linke von einem durchsichtigen Tuch, das schräg über den Oberkörper bis zur linken Schulter gelegt ist, den Kontur der linken Brust deutlich nachzeichnet. Die Entblößung der Brust kann als ein Motiv zur Vorausdeutung auf einen kommenden Liebesakt gedeutet werden, das zugleich die Dargestellte als Prostituierte kennzeichnet. Das dünne, strähnige das Gesicht der Alten umrahmende und auf die Schultern hinab fallende Haar ist ein Kennzeichen einer alten Kupplerin; das Gesicht, von Falten und von Runzeln zerfurcht, der faltige Hals, die hervortretenden Knochenteile wie Kinn, Nasenbein, Wangenknochen und Schlüsselbein, der zu einem Lächeln geöffnete Mund mit einer lückenhaften Zahnreihe sind nicht nur Charakteristika einer Altersdarstellung, sondern suggerieren zusammen mit der Entblößung des Oberkörpers und dem strähnigen Haar eine Form von Hässlichkeit, die mit der moralischen Bewertung gleichgesetzt wird. Der schwer und schlaff herabhängende rechte Busen wurde speziell um 1500, als das Schönheitsideal kleine feste Brüste waren, mit Hexen assoziiert. 40 Im Bild selbst schwingt diese negative Assoziation mit dem prägnanten Zeichen der Weiblichkeit – das, neutral gesehen, ja auch nur auf vielfache Mutterschaft verweisen könnte! – durch die bildnerische Gestaltung mit: Die vergrößerte Brustwarze, Sinnbild auch des Quells der Muttermilch, ist auf einer Höhe mit dem wulstigen Rand eines Geldsacks gemalt, dessen Öffnung von den Händen der Alten sorgsam umschlossen wird. Dass diese Gestaltung nicht zufällig ist, zeigt auch der Kaltnadelstich des Hausbuchmeisters, auf dem, kaum merklich, der Geldsack an die freiliegende linke Brust der Alten geschmiegt ist, auf die ihre rechte Hand, den Geldsack umschließend, 39 | Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. GG 849; die Allegorie ist auf die Rückseite des Bildnisses eines jungen Mannes gemalt; vgl. Fedja Anzelewsky: Dürer. Werk und Wirkung, Erlangen 1988, S. 13 und S. 138 mit Taf. 121; zu einer näheren Beschreibung im Kontext der Darstellung alter Frauen vgl. Andrea von Hülsen-Esch: Falten, Sehnen, Knochen. Zur Materialisierung des Alters in der Kunst um 1500, in: Henriette Herwig (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg 2009, S. 13-43, hier S. 31f. 40 | Vgl. etwa die Darstellung der alten Frau als Hexe in Hans Baldung Griens Holzschnitt Der verhexte Stallknecht, deren linker Busen ostentativ entblößt aus dem Kleid heraushängt; vgl. James H. Marrow, Alan Shestack (Hg.): Hans Baldung Grien. Prints & Drawings. National Gallery of Art, Washington January 25-April 5, 1981, Yale Univesity Art Gallery 1981, Kat. Nr. 87, S. 273-275, abgebildet bei Charles Zika: The Appearance of Witchcraft. Print and Visual Culture in Sixteenth-Century Europe, London/New York 2007, S. 33 Abb. 1.14; oder die von Albrecht Dürer in seinem Rahmen für das Allerheiligenbild im Zug der Verdammten als letzte Figur eingefügte Hexe; vgl. Lyndal Roper: The Witch in the Western Imagination, Charlotteville/London 2012, S. 72-86 mit Abb. 3.1-3.3.

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gleichsam verweist (Abb. 4).41 Die Allegorie des Geizes speist sich aus dem Topos einer alten, hässlichen Frau, der in dieser Form bildlich über die mittelalterliche textliche Traditionslinie der Kupplerin geschaffen wird. In der Folgezeit ist es die Allegorie des Neids, die in zahlreichen Emblembüchern als alte, hässliche Frau dargestellt wird42 – und der Neid war, wie bereits oben festgestellt, eine der Eigenschaften, die den Kupplerinnen zugeschrieben wurde.

D ER S CHRIT T VON DER K UPPLERIN ZUR H E XE Unter dem Einfluss des von der christlichen Lehre aufgestellten Keuschheitsgebots, das den Liebesgenuss für sündig erklärte, wurde die Kupplerin also einerseits zum Inbegriff einer bösartigen, geizigen, auch lüsternen Alten, zugleich aber für diejenigen, die die Forderung nach Enthaltsamkeit umgehen wollten, zur begehrten und unabdingbaren Komplizin. Sie ermöglichte nicht nur die von einer eifersüchtigen Ehefrau oder einem gestrengen Vater unterbundene, sondern die schlechthin durch die allgemeine Sittenlehre untersagte Liebesbeziehung und verpflichtete sich damit ihre Kunden. Zudem lebte die eingangs dargelegte Verbindung zur Herstellung von Zaubertränken wieder auf – dies umso mehr, als in den gelehrten Diskursen Frauen, die Arzneien herstellten, nachhaltig in die Nähe der Zauberei gerückt wurden.43 Zugleich zeugen sowohl zahlreiche kirchliche Erlasse, die sich gegen die Anwendung von Mitteln zur Wiederherstellung der Potenz richteten, von der großen Nachfrage nach ebendiesen, als auch wurden vermehrt Hexen wegen der Vernichtung der Potenz angeklagt: Dies alles sind Indizien dafür, dass der Schritt von der Kupplerin zur Hexe nur ein kleiner war, zumal seit der Renaissance mit den Hexenverfolgungen alles Erotische mit dem Teuflischen verbunden wurde. Auch in der Literatur lässt sich bereits seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Verbindung von Kupplerin und Hexe greifen: Für Norditalien, wo es auch bereits früh Hexenprozesse gab, warnt der Venezianer Leonardo Giustinian alle jungen Frauen vor den alten (als den schlechten Ratgeberinnen, die sie ins Verderben führen) und endet seine Dichtung mit dem

41 | Vgl. Grössinger: Foolishness, S. 65f. Die Kaltnadelstiche des Hausbuchmeisters werden von dem Illuminator des Stundenbuchs von Charles d’Angouleme in den frühen 1480er Jahren aufgenommen; vgl. Anne Mathews: The Use of Prints in the Hours of Charles d’Angouleme, in: Print Quaterly 3 (1986), S. 4-18, hier S. 6, sowie wenig später von Israel van Meckenem. 42 | So etwa bei Georg Pencz 1534 und, prominent, bei Andrea Alciato: Emblematum libellus, Venedig 1546 und Paris 1584; vgl. Roper: Witch, S. 91-105 mit Abb. 4.4, 4.6 u. 4.8. 43 | Vgl. Jean-Patrice Boudet: Femmes ambivalentes et savoir magique: retour sur les vetule, in: Anna Caiozzo, Nathalie Ernoult (Hg.): Femmes médiatrices et ambivalentes. Mythes et imaginaires, Paris 2012, S. 203-213, hier S. 203-208, sowie Delaurenti, Femmes enchanteresses, S. 217-224.

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Wunsch, dass alle alten Frauen wie die Hexen verbrannt werden sollten. 44 In den Fastnachtsspielen des Hans Sachs etwa wurde die Kupplerin in einem Atemzug mit der Zauberin genannt.45 In einem seiner Spiele aus dem Jahre 1531 stellt er gleich fünf verschiedene Gattungen von Hexen vor, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind abstoßend hässlich. Eine unter ihnen hat die spezielle Begabung, den Liebes- und Potenzzauber herzustellen und die Gunst der Männer zu lenken46 – hier ist die Nähe zur Tradition der Kupplerin unverkennbar. Die Hexen müssen also auch im Zusammenhang mit dem Altersbild der Frauen und im Speziellen mit demjenigen der Kupplerin betrachtet werden. Allerdings ist das Themenfeld ›Hexerei‹ sehr komplex.47 Es ist hier nicht der Raum, das historische Phänomen in der gebotenen Differenziertheit darzustellen, deshalb sollen nur schlaglichtartig die Faktoren hervorgehoben werden, die dazu beitragen, den Zusammenhang zwischen alten Frauen und Hexen und der Ausprägung der bildlichen Darstellung alter Frauen als Hexen in der Zeit um 1500 zu erklären. Vorausgeschickt sei, dass Hexen in den seltenen Abbildungen zuvor als junge Frauen dargestellt werden.48 Folgenreich für die dann beginnende 44 | Bettella: Ugly Woman, S. 205 mit Anm. 47. Zu den Hexenprozessen in Oberitalien vgl. unten Anm. 52. 45 | Für die Figur des »übelen wîp« in der Gattung des Fastnachtsspiels vgl. Ute von Bloh: Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend (Keller, Nr. 57), in: Klaus Ridder (Hg.): Fastnachtsspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, Tübingen 2009, S. 327-344. 46 | Bettella: Ugly Woman, S. 72f. 47 | Guy Tal stellt in seiner Dissertation fest, dass die amerikanische Forschung in jüngerer Zeit nicht mehr das Bestreben hat, das Phänomen ›Hexerei‹ zu erklären, sondern es als kulturelles Phänomen mit einer eigenen Realität hinsichtlich der damit ausgedrückten Vorstellungen, Werte und Phantasien zu interpretieren. Tal: Witches on Top, S. 4. Diesen Ansatz verfolgt auch der vorliegende Beitrag. Eine aktuelle sehr gute Gesamtdarstellung bietet das Buch von Wolfgang Behringer: Witches and Witch-Hunts: A Global History, Cambridge 2004; und ein kurzer, aber fundierter bibliographischer Überblick über die Hexenforschung findet sich bei Malcolm Gaskill: Hexen und Hexenverfolgung. Eine kurze Kulturgeschichte, Stuttgart 2013 [2010], S. 196-202. 48 | In den frühen Illustrationen werden Hexen im Zusammenhang mit Teufelspraktiken dargestellt: bei Szenen der Anbetung des Ziegenbocks in einer Handschrift des Johannes Tinctor Tractatus contra sectam Valdensium (um1470), als Schülerinnen in der Hexenschule Satans in moralisierenden Traktaten, wie demjenigen des Guillaume de Deguileville: Le pélérinage de la vie humaine (1426) oder als auf dem Besen reitend in demjenigen des Martin Le Franc: Le Champion des Dames (1440-1442, s. unten Anm. 66); bei der Verwandlung von der Frau in eine Katze in Hans Vintler: Buch der Tugend (1400-1450); alle Beispiele bei Zika: Appearances of Witchcraft, S. 45-66. Zu untersuchen wären weiterhin Szenen des Jüngsten Gerichts: Unter den Verdammten werden sie eindeutig im Beischlaf mit den Teufeln gezeigt in den Fresken von Luca Signorelli in der Cappella di San Brizio im Dom von Orvieto

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visuelle Verknüpfung von Hexen und alten Frauen wurde die 1489 in Reutlingen erstmals erschienene, mit Holzschnitten illustrierte Schrift von Ulricus Molitor Tractatus von den bosen wyber die man nennet die hexen. 49 Ausgangspunkt für die Ausbildung der Hexerei-Debatte war der in der Gesellschaft des Mittelalters verbreitete Glaube, dass es Zauberei gebe und mit ihrer Hilfe auch Schaden verübt werden könne.50 Diese Auffassung war nicht nur Bestandteil der Volkskultur, sondern wurde auch von den Gelehrten geteilt. Die wissenschaftliche Lehrmeinung brachte Zauberei grundsätzlich mit dem Teufelspakt in Zusammenhang. Dazu gehört auch die Vorstellung vom Flug des Menschen durch die Lüfte, die durch die Dämonisierung der Häretiker, insbesondere der Katharer, deren Zusammenkünfte »Sabbat« genannt wurden, sowie durch volkstümliche Überlieferungen beflügelt wurde und mit der Begründung, dass auf diese Weise der Weg zum Sabbat, wenn er weit vom Wohnort stattfände, zurückgelegt worden sein könne, eine logische Erklärung fand.51 Und gerade diese Vorstellung verbindet sich schließlich mit ihrem im Volksglauben wurzelnden, aber durch die Kirche bis ins 15. Jahrhundert abgelehnten entsprechenden Gegenstück von den nachts durch die Lüfte umherschweifenden Menschen, den ›Hexen‹. Geographisch haben für die Hexenverfolgung die Alpenregion und Südfrankreich besondere Bedeutung für die Entwicklung und Ausformung des neuen Sammelbegriffs der Hexerei. Dort wurden während des ganzen 14. Jahrhunderts von der Inquisition Ketzerprozesse geführt. 52 Das Kerngebiet des Hexenwahns (1499-1503); Lorenzo Lorenzi: La strega. Viaggio nell’iconografia die maghe, malefiche e fattuchiere, Florenz 2005, S. 72f. Abb. 39 und 40. 49 | De Laniis et Phitonicis Mulieribus; vgl. zur Einordnung des Traktat und der Beschreibung einiger Abbildungen Zika: Appearances of Witchcraft, S. 18-27, und unten Anm. 74; Abbildungen mit alten Frauen als Hexen aus diesem Traktat finden sich in Albert Schramm: Bilderschmuck der Frühdrucke, Leipzig 1920-43, Bd. 5 (1923), S. 77 Abb. 928 und Bd. 8 (1924), S. 195 Abb. 935 sowie in: Bodo Brinkmann: Hexenlust und Sündenfall. Die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien. Ausstellungskatalog, Städel Museum, Frankfurt a.M./Regensburg 2007, S. 25 Abb. 10 (Kat.-Nr. 15); zur Abbildung des Wetterzaubers zweier alter Hexen bei Molitor; ebd., S. 24-26. 50 | Zu den Voraussetzungen für diesen Glauben seit der Spätantike vgl. Walter Rummel, Rita Voltmer: Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2008, S. 18-20. 51 | Vgl. Brian P. Levack: Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa, München 1995, S. 48-57; vgl. auch Rummel/Voltmer: Hexen, S. 22; zum Zusammenhang zwischen der Verfolgung der Häretiker und dem Entstehen der Hexenverfolgung vgl. die gründliche Darstellung bei Kathrin Utz Tremp: Von der Häresie zur Hexerei. »Wirkliche« und imaginäre Sekten im Spätmittelalter, Hannover 2008. 52 | Heinrich Kramer (Institoris): Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum, neu aus dem Lateinischen übertr. von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher, hg. und eingel. v. Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer, München 52006, Einleitung S. 12f., sowie Rummel/Voltmer: Hexen, S. 23-30; grundlegend Arno Borst: Anfänge des

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aber wurden ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert die deutschsprachigen Länder.53 Von den geschätzten 50.000 bis 60.000 Hexenhinrichtungen insgesamt in Europa zwischen den Jahren 1400 und 1800 dürften wahrscheinlich 25.000 auf Deutschland in den Grenzen des Alten Reichs entfallen – in der Hauptsache in den Jahren um 1500 und nach 1560, und dieser Zeitraum stimmt mit demjenigen überein, in dem die meisten Hexendarstellungen in der Kunst entstanden.54 Das neue Delikt der Hexerei umfasste – bei allen feststellbaren Unterschieden in der damaligen Vorstellungswelt –, fünf Hauptelemente: den Teufelspakt, die Teufelsbuhlschaft, den Flug durch die Luft (Hexenflug) zum Hexensabbat, auf dem Gott abgeschworen und der Teufel angebetet wurde, sowie die Ausführung des Schadenszaubers.55 Zu diesen fünf Hauptelementen des Delikts »Hexerei« kamen weitere Vorstellungen hinzu: Werwolfglaube, Tierverwandlungen, Monstergeburten als Wechselbälger, Wettermacherei etc. Ein großer Teil dieser Vorstellungen findet bereits einen literarischen Niederschlag im Malleus maleficarum, dem sogenannten Hexenhammer, verfasst von den Inquisitoren aus dem Dominikanerorden Heinrich Kramer und Jacobus Institoris. Vermutlich im Dezember 1486 ging er zum ersten Mal in den Druck, um bis 1520 noch dreizehn und zwischen 1574 und 1669 weitere sechzehn Auflagen zu erfahren.56 Der Hexenhammer Hexenwahns in den Alpen, in: Andreas Blauert (Hg.): Ketzer, Zauberer, Hexen. Die Anfänge der europäischen Hexenverfolgungen, Frankfurt a.M. 1990, S. 43-67. Auch Oberitalien war von dieser Bewegung erfasst; davon zeugt nicht zuletzt die Bulle Papst Innozenz’ VIII. Summis desderantes affectibus vom 5. Dezember 1484, mit der der Hexenhammer eröffnet wird: Diese rekurriert insbesondere auf Hexerei in Norditalien; vgl. zur Bulle Patrizia Castelli (Hg.): Bibliotheca Lamiarum. Documenti e immagini della stregoneria dal Medioveo all’ Età Moderna. Mostra bibliografica e documentaria, Pisa, Biblioteca Universitaria, Palazzo della Sapienza, 24 marzo-23 aprile 1994, Ospedaletto 1994, Kat. Nr. 19, S. 107f. Der erste Hexenprozess gegen eine ›mulier striga‹ wird in einem Consilium des berühmten Peruginer Juristen Bartolo da Sassoferrato, verfasst um 1340, greifbar; vgl. ebd., Kat. Nr. 8, S. 96f. 53 | Kramer (Institoris): Der Hexenhammer, Einleitung S. 15f. und S. 18-20. Hier wird auf die Klimaverschlechterung verwiesen, mit der Ernteschäden und Krankheiten einhergingen, wofür der Schadenszauber der Hexen verantwortlich gemacht wurde. 54 | Zu den Zahlen vgl. Rummel, Voltmer: Hexen, S. 74-79; zum Zeitraum der Verfolgung S. 81f.; zu den Hexendarstellungen um 1500 das Kapitel Inventing the witch bei Linda C. Hults: The Witch as Muse: Art, Gender, and Power in Early Modern Europe, Philadelphia 2005, S. 57-108. Anders Margaret A. Sullivan: The Witches of Dürer and Hans Baldung Grien, in: Renaissance Quaterly 53 (2000), S. 333-401, hier S. 333-341; sie vertritt vehement die These, um 1500 hätten keine Hexenverfolgungen stattgefunden, geht aber beispielsweise bei der Verbreitung von einflussreichen Traktaten wie demjenigen des Johannes Nider oder demjenigen des Ulricus Molitor von viel zu wenigen Auflagen aus (S. 341); vgl. unten Anm. 74. 55 | Vgl. Rummel, Voltmer: Hexen, S. 80f. 56 | André Schnyder: Malleus Maleficarum von H. Institoris unter Mithilfe Jacob Sprengers aufgrund der dämonologischen Tradition zusammengestellt. Kommentar zur Wiedergabe

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ist für die Frage nach der Verknüpfung von alten Frauen – und der mit ihnen beispielsweise im Thema der ungleichen Liebe assoziierten Fleischeslust – und der Hexerei besonders wichtig, denn er ist programmatisch auf die Frauen zugespitzt, was u.a. in den folgenden Worten deutlich wird: Alles [geschieht] durch fleischliche Begierde, die bei ihnen unersättlich ist. [...] Darum haben sie auch mit den Dämonen zu schaffen, um ihre Lust zu stillen. Vieles könnte hier angeführt werden. Aber den Verständigen erscheint es offensichtlich genug, daß es kein Wunder ist, daß man mehr Frauen von der Ketzerei der Zauberer befallen findet als Männer. Daher ist es auch folgerichtig, die Ketzerei nicht als die der Zauberer, sondern als die der Hexen zu bezeichnen, damit die Benennung vom Wichtigeren her erfolge. 57

Die Verbindung von Fleischeslust und Hexerei wird hier explizit hergestellt, ein Zusammenhang, der 1427 bereits in einem Hexenprozess in Florenz als Beweis aufgeführt wird.58 Der Frage, warum gerade Frauen als Hexen verfolgt wurden – die Zauberei ist ein Tatverdacht, der zunächst keinerlei geschlechtliche Präferenz zeigte –, hat sich die Forschung mit großer Aufmerksamkeit gewidmet. Einige Forscher behaupten, die Hexenprozesse richteten sich besonders gegen die weisen Frauen, Hebammen und weiblichen Heilpraktiker, um die männliche, professionalisierte Medizin zu unterstützen; es gibt die These, dass damit die traditionellen Geburtenbeschränkungen und weiblichen Verhütungspraktiken angegriffen werden sollten, um die Frauen mit zahllosen Kindern zu belasten und sie so besser kontrollieren und unterdrücken zu können – Thesen, die von der historischen Forschung widerlegt werden konnten.59 Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Frauen, wegen ihrer Kenntnisse, Arzneien zu brauen, und vor allem wegen der ihnen zugesprochenen sinnlichen Begierden, schneller als Männer im Verdacht der Hexerei standen.60

des Erstdrucks von 1487 (Hain 9238), Göppingen 1993, S. 3-22. Zur Wirkungsgeschichte des Malleus Maleficarum vgl. Wolfgang Behringer (Hg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 1988, S. 72-125, sowie Kramer (Institoris): Der Hexenhammer, S. 22-27, zur Vorverlegung des Druckdatums auf Dezember 1486. 57 | Kramer (Institoris): Der Hexenhammer, S. 238 (Buch I, Frage 6); zur Frauenfeindlichkeit des Hexenhammers vgl. ebd., Einleitung, S. 20-22. 58 | Gene Brucker (Hg.): The Society of Renaissance Florence. A Documentary Study, New York/London 1971, Nr. 132, S. 270-273 [Original Archivio di Stato di Firenze, Atti del Esecutore, 2096, fol. 47r-47v, 7. Juni 1427]. 59 | Rummel, Voltmer: Hexen, S. 12f. 60 | Ebd., S. 27. Die sexuellen Lüste waren umso verfänglicher, als man sich den verführenden Teufel als männliche Figur vorstellte. Zur Triebhaftigkeit alter Frauen und der Anklage heilkundiger Frauen als Hexen vgl. Levack: Hexenjagd, S. 135-137.

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Abbildung 6: Albrecht Dürer, Die Hexe, um 1500.

H E XEN IN DER BILDENDEN K UNST Wie aber geht die Kunst mit der Darstellung von Hexen um? In der Regel sind Hexen jung – und verführerisch.61 Es gibt aber auch die alten Hexen und die haben viel Ähnlichkeit mit dem, was bereits aus den Darstellungen der alten Frauen oben 61 | Auch der Katalog der Frankfurter Ausstellung thematisiert diesen Aspekt der Hexenbilder Hans Baldungs und betont die erotische Komponente der jungen Hexen; vgl. Brinkmann: Hexenlust, passim.

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angeführt wurde. Beispielhaft soll hier ein Kupferstich von Albrecht Dürer mit dem Titel Die Hexe aus der Zeit um 1500 betrachtet werden, der einer inhaltlich sehr unterschiedliche Themenbereiche umfassenden Werkgruppe angehört (Abb. 6).62 In der oberen Hälfe des Bildes sieht man eine nackte, in verkehrter Position auf einem Ziegenbock durch die Luft reitende Frau, die einen Spinnrocken haltend mit geöffnetem Mund geradewegs zum rechten Bildrand hinzufliegen scheint. Sie ist erkennbar alt und wirkt abstoßend. Formal lassen sich bei der Gestaltung dieser Figur Ähnlichkeiten mit der Allegorie des Neids (der Invidia) in dem Kupferstich Schlacht der Seegötter von Andrea Mantegna (um 1475-80) ausmachen.63 Die Alte blickt aus dem rechten Bildrand heraus64, während aus der rechten oberen Bildecke ein Hagelschauer niedergeht. Wie oben erwähnt, wurde Hexen in jener Zeit die Fähigkeit des Wetterzaubers zugesprochen und damit auch die Möglichkeit, Sturm und Hagel herbei zu zaubern. Aus diesem Grunde und weil die Haare der alten Frau entgegen der Reitrichtung – und damit entgegen der natürlichen Windrichtung – wehen, ist sie als Hexe anzusehen. Wie aber kommt es zu dieser konkreten Gestaltung? Sowohl Charmian Mesenzeva als auch Margaret A. Sullivan haben das Potential der antiken Vorbilder für die Zeichnung betont.65 Pausanias beschrieb einige Standbilder der Aphrodite 62 | Das kleinformatige Blatt (116 x 72 mm) trägt ein Monogramm Dürers, ist jedoch undatiert. Eine ausführliche Interpretation des Blattes bei Charles Zika: Exorcising our Demons: Magic, Witchcraft and Visual Culture in Early Modern Europe, Leiden/Boston 2003, S. 305-332. 63 | London, British Museum. B. 17. Es ist hier nicht der Ort, alle mit dem Bild der Hexen verbundenen negativen Eigenschaften zu untersuchen. ›Neid‹ als Charakterzug ist allerdings generell mit alten Frauen im Zusammenhang mit der Libido verbunden, weil ihnen nachgesagt wird, dass sie aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit den jungen Frauen die Fruchtbarkeit neiden; vgl. Lyndal Roper: Witch Craze: Terror and Fantasy in Baroque Germany, New Haven, CT/London 2004, S. 160-168. 64 | Dieses Blatt ist ein schönes Beispiel für den Kulturtransfer in der Alpenregion: Hat Dürer seinerseits Mantegna rezipiert, so wurde sein Blatt wiederum südlich der Alpen von Agostino Veneziano 1518 in einer Radierung Lo stregozzo (Florenz, Gabinetto dei disegni e delle stampe della Galleria degli Uffizi) verarbeitet (signiert A. V.), die bis vor kurzem noch dessen Lehrer Marcantonio Raimoni zugeschrieben, in jedem Fall aber in Venedig hergestellt wurde. S. Patrizia Castelli: »Donnaiole, amiche de li sogni« ovvero i sogni delle streghe, in: Bibliotheca Lamiarum. Documenti e immagini della stregoneria dal Medioveo all’ Età Moderna. Mostra bibliografica e documentaria, Pisa, Biblioteca Universitaria, Palazzo della Sapienza, 24 marzo-23 aprile 1994, hg. v. ders., Ospedaletto 1994, Kat. Nr. 6, S. 209-213. 65 | Während Charmian A. Mesenzeva: Zum Problem: Dürer und die Antike. Albrecht Dürers Kupferstich Die Hexe, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 46 (1983), S. 187-202, konkrete Vorlagen ausfindig macht, sieht Sullivan: Witches, S. 343-392, in den Zeichnungen Dürers und Hans Baldung Griens generell eine reine Konstruktion eines ›Hexenbildes‹ in humanistischer Auseinandersetzung mit antiken Traditionen. Problematisch finde ich allerdings ihre Annahme, die lateinischen Texte seien ihnen nur über die humanistischen Freunde vermit-

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mit Ziegenbock, die sich allerdings nicht erhalten haben; überliefert wurde das Motiv jedoch in Kleinplastiken, auf Münzen, Spiegeln, Vasen, Gemmen etc. Das Bild der auf dem Rücken eines Bocks dahingaloppierenden, nur mit einem Tuch bekleideten Aphrodite war im 15. Jahrhundert bekannt, wie zahlreiche Gemmen aus fürstlichen Sammlungen dieser Zeit bezeugen.66 Die Spindel als Attribut der Hexe dürfte auf die sprichwörtliche Beschäftigung alternder Prostituierter zurückgehen und hier auf die unersättliche Libido der Hexe anspielen.67 Ohne die unterschiedliche Darstellungsform der Amoretten jetzt im Einzelnen zu erörtern, soll kurz darauf verwiesen werden, dass auch die Putten in Anlehnung an antike Reliefs entstanden sind: Amoretten kommen in der griechischen Reliefplastik sehr häufig im Zusammenhang mit dem Dionysoskult vor, sie begleiten die Trinkgelage und werden als solche auch in der Renaissancegraphik dargestellt. Auch zum Dionysoskult gehörte ein Ziegenbock und die Putten vollzogen in seinem Beisein Kultspiele, auf die die Stäbe und das kugelartige Gefäß, ein rundes Tongefäß der Antike, verweisen.68 Der Bock aber steht in der christlichen Ikonographie für die Sünden der Unduldsamkeit, der Unreinheit und der Unkeuschheit. Hierbei wird sicherlich die ebenfalls in die antike Dichtung zurückreichende Verbindung von alten Prostituierten und dem strengen Geruch von Ziegen weitergewirkt haben; Horaz’ Dichtungen und Martials Epigramme konnten dann im 15. Jahrhundert mit der bildlichen Tradition zusammen auf die vermeintliche Fleischeslust der Hexen bezogen werden.69 telt zugänglich gewesen: Die Marginalzeichnungen z.B. von Hans Holbein d. J. in Erasmus von Rotterdams Encomium moriae beispielsweise belegen, dass die Maler des Lateinischen mächtig waren; vgl. Müller: Randzeichnungen, S. 21. 66 | Gleichwohl existiert bereits seit 1442 die bildliche Darstellung von Hexen, die auf einem Besen reiten, so etwa als Marginalillustration zu der allegorischen Dichtung von Martin le Franc: Le Champion des Dames, Paris, Bibliothèque nationale, ms. fr. 12746, fol. 105v; die Miniaturen wurden ausgeführt von Jean Boignare in Arras; vgl. Zika: Appearance of Witchcraft, S. 63f. mit Abb. 2.22.; zur Handschrift, bei der es sich erstmals um eine Zuweisung des Hexenphänomens ausschließlich an Frauen handelt, Utz Tremp: Häresie, S. 22-24. Zur Überlieferung von Ziegenbock und Besenstiel im mittelalterlichen Volksglauben und zur Verknüpfung mit magischen Praktiken vgl. Levack: Hexenjagd, S. 56f.; zur Verknüpfung des nächtlichen Ritts der Diana mit den angeblichen Praktiken der Hexen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Champion des Dames des Martin Le Franc (um 1440-1442) vgl. Boudet: Femmes ambivalentes, S. 208-210. 67 | Bettella: Ugly Woman, S. 79 mit Anm. 67. Ich stimme nicht mit Mesenzeva überein, der hier eine Umdeutung der den Lebensfaden spinnenden Parzen sieht; vgl. Mesenzeva: Zum Problem, S. 190. 68 | Mesenzeva: Zum Problem, S. 191-193; Zika: Exorcising the Demon, S. 313-315 mit Abb. 36, die einen Stich von fünf spielenden Putti mit einem Ziegenbock als Illustration des Dionysoskultes zeigt (um 1475-1500). 69 | Zu den Beschreibungen alter Prostituierter bei Horaz und Martial, die angeblich exzessiven Sex praktizierten, vgl. Therese Fuhrer: Alter und Sexualität. Die Stimme der alternden

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Im Bild dominant ist die rittlings auf dem Ziegenbock reitende Hexe. Sie folgt in der spezifischen Gestaltung sowohl Vorbildern, die seit dem 15. Jahrhundert die Allegorie der Invidia, also des Neids, darstellen, als auch anderen Darstellungen alter Frauen, wie beispielsweise der oben angeführten sogenannten »Allegorie des Geizes« oder den im süddeutschen Raum ab etwa 1480 entstehenden Kleinskulpturen alter Frauen.70 Die Konnotation des Ziegenbockes mit körperlichen Begierden hatte seit der Antike keine Einbußen erfahren und war im Mittelalter als Lasterallegorie verbreitet.71 In dieselbe Richtung verweisen die aus antiken Darstellungen bekannten venerischen Bocksritte wie auch die zeitgenössische astrologische Literatur, die solche Bocksritte den Kindern des Saturn zuschreibt.72 Heinrich Kramer (Institoris) schließlich behauptet in seinem Hexenhammer das tatsächliche Vorkommen nächtlicher Himmelsritte von Hexen auf wilden Tieren. Die Tatsache, dass Dürers Hexe jedoch verkehrt herum auf dem Ziegenbock sitzt, verwandelt dieses Motiv zugleich in eine Anspielung auf verwerfliche Sexualpraktiken und die Verkehrung der moralischen Ordnung. 73 Diese motivischen Herleitungen und inhaltlichen Ausdeutungen erklären jedoch nicht, wie Dürer zu der Bildformulierung kommt, die Hexe als alte Frau darzustellen. Neben den bereits angeführten Überlegungen zu den mit alten Frauen einhergehenden Konnotationen – schließlich stellt die »verliebte Alte« auch eine Verkehrung der moralischen Ordnung dar – und der zunehmenden Produktion von Artefakten, die alte Frauen zeigen, kommen erste Illustrationen von Schriften über Hexen hinzu, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Gefolge der Hexenprozesse erschienen. Eine davon, Ulricus Molitors Tractat von den bösen Weibern, erstmals erschienen 1489 in Reutlingen, war mit Holzschnitten illustriert. Bis 1499 lagen insgesamt 14 Ausgaben vor, was von der großen Beliebtheit dieser Schriften zeugt.74 Die Illustrationen zeigen die Hexen in einigen Fällen als alte

Frau in der horazischen Lyrik, in: Dorothee Elm u.a. (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009, S. 49-69, hier S. 5053 und S. 63-68, sowie Bettella: Ugly Woman, S. 22. 70 | Vgl. von Hülsen-Esch: Falten, S. 13-17. 71 | Zika: Appearances of Witchcraft, S. 12. 72 | Zika: Exorcising the Demon, S. 316-318. 73 | Zika: Appearances of Witchcraft, S. 12f. und S. 27-29. 74 | Zika: Appearances of Witchcraft, S. 18 zählt 16 lateinische (De Laniis et Phitonicis Mulieribus) und drei deutsche Ausgaben bis 1500 und zwei weitere deutschsprachige 1508 und 1510. Zur dialogischen Form des Traktats und der Funktion der Abbildungen als ein textunabhängiger Kommentar vgl. ebd.; Illustrationen alter Frauen als Hexen aus diesem Traktat sind abgebildet bei: Albert Schramm: Bilderschmuck der Frühdrucke, Leipzig 192043, Bd. 5: Die Drucke von Johann Zainer in Ulm (1923), S. 77 Abb. 928 und Bd. 8: Die Kölner Drucker (1924), S. 195 Abb. 935 und in: Brinkmann: Hexenlust, S. 25 Abb. 10 (Kat.-Nr. 15) und S. 24-26, mit Bezug auf magische Wetterzauber zweier alter Hexen in Molitors Traktat.

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Frauen, auch gibt es eine Darstellung des gemeinsamen Mahls dreier Hexen verschiedenen Alters (Abb. 7).75

Abbildung 7: Gemeinsames Mahl dreier Hexen verschiedenen Alters, in: Ulricus Molitor, Tractat von den bösen Weibern, erstmals erschienen 1489 in Reutlingen.

Es ist durchaus nicht abwegig zu vermuten, dass Dürer diese Holzschnitte gekannt hat, die zusammen mit den antiken Überlieferungen und zeitgenössischen Hexenvorstellungen seine Formulierung der Hexe beeinflusst haben, zumal die erhaltenen Quellen zu Hexenprozessen besonders für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ein hohes Alter für die als Hexen angesprochenen Frauen angeben.76 Deutlich wird, dass dieser Stich, der in der Antike entlehnte Motive anver75 | Albert Schramm: Bilderschmuck der Frühdrucke, Leipzig 1920-43, Bd. 5: Die Drucke von Johann Zainer in Ulm (1923), S. 77 mit Abb. 928 und Bd. 8: Die Kölner Drucker (1924), S. 195 Abb. 935; vgl. auch Hults, Witch, S. 60, die einen knappen Überblick über die Bilddarstellungen bei Molitor gibt. Zum Alter der als Hexen angeklagten Frauen, das zu einem großen Prozentsatz ein höheres Lebensalter war, vgl. Levack: Hexenjagd, S. 139-142 und Boudet: Femmes ambivalentes, S. 210f. 76 | Es kann nicht darum gehen, eine konkrete Vorlage für Dürers Blatt zu finden – es handelt sich in jedem Fall um eine Neuschöpfung –, sondern darum, die Vorbilder für die Verbreitung alter Hexen zu finden. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob Molitors

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wandelt, wiederum die Stereotype aufgreift, die in anderen Zusammenhängen ausformuliert wurden: Die Hexe als alte, hässliche Frau, der zudem bildlich mit der Unkeuschheit und Trunkenheit zwei den alten Kupplerinnen zugesprochene Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Verstärkt und weiter ausgeprägt werden diese Konnotationen durch die Hexendarstellungen eines der bedeutendsten deutschen Malers des 16. Jahrhunderts, Hans Baldungs genannt Grien (1484/85-1545), der zugleich der wohl talentierteste Dürer-Schüler war. Er führt in der weiteren Ausdeutung sexueller Anspielungen den Topos der alten Hexe mit dem der Lüsternheit zusammen.77 Die Verführung durch die weibliche Sexualität, auf die Baldung in vielen seiner Werke anspielte 78, war für ihn zentrales Thema, denn er identifizierte die Ursünde mit dem Geschlechtsakt.79 Mit den Verführungskünsten und dem Geschlechtstrieb sind deshalb auch seine Hexenbilder verbunden, in denen nicht nur junge, sondern auch alte Frauen als Hexen vorkommen.80 Das einem befreundeten Kleriker gewidmete Blatt mit der Inschrift Der CorCapen ein gut Jar (Dem Chorherrn ein gutes

Holzschnitte einfach oder wenig ausgearbeitet sind, weshalb sie von Sullivan, Witches, S. 352f., als unerheblich für Dürer abgelehnt werden. 77 | Zur Biographie Hans Baldungs, der den Beinamen ›Grien‹ bereits in der Dürer-Werkstatt zur Unterscheidung von den anderen Gehilfen mit Vornamen Hans erhielt; vgl. jüngst Sabine SöllTauchert: Hans Baldung Grien. Selbstbildnis und Selbstinszenierung, Köln u.a. 2010, S. 19-29. 78 | Im Zusammenhang mit der Hexenthematik ist hier das Blatt der ›Hexen in Extase‹ (1514), Paris, Musée du Louvre, Cabinet des dessins, zu nennen, das masturbierende Hexen zeigt; auch hier befindet sich im Hintergrund eine alte Hexe, die anscheinend lustvoll (oder neidvoll?) das Geschehen beobachtet; Lorenzi: La strega, S. 85 Abb. 46; insgesamt zur Sexualthematik bei Hexen ebd., S. 84-90 sowie mit weiteren Beispielen aus Handschriften, Zika: Appearances of Witchcraft, S. 78-90. 79 | Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, ob Hans Baldung sich dem Hexenthema gewidmet hat, um sich – mit satirisch-kritischer Distanz zum Bildsujet – im Kreise seiner Humanistenfreunde als Maler erotischer Themen zu etablieren; Ulrich Söding: Hans Baldung Grien in Freiburg. Themenwahl und Stilentwicklung, in: Saskia Durian-Ress (Hg.): Hans Baldung Grien in Freiburg. Ausstellungskatalog, Freiburg 2001, S. 13-59, hier S. 44; sichtbar bleibt jedenfalls eine Auseinandersetzung mit dem Thema, die alles aufgreift (und damit perpetuiert), was im Hexendiskurs aktuell war. 80 | Hans Baldung illustrierte auch die zweite Auflage von Johan Geiler von Kaisersberg: Die Emeis, Strasburg 1517, in dessen Predigtsammlung 26 Predigten gegen die Hexerei gerichtet sind; ihm zufolge stehen die Hexen allesamt im Verbunde mit »Fraw Fenus«; vgl. Bibliotheca Lamiarum, S. 35-85, S. 52-56 und ebd. Kat. Nr. 25, S. 115-119; vgl. auch Brinkmann: Hexenlust, S. 28 Abb. 12. Sullivan: Witches, S. 374, sieht in den erotischen Hexen-Radierungen Hans Baldungs ein Mittel, mit dem der ambitionierte Künstler auf sich aufmerksam machen wollte.

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Jahr) von 1514 konfrontiert den Betrachter auf ironische Weise mit dessen eigenen Wünschen und Projektionen (Abb. 8).81 Die Bewegungen der sich mit Flugsalbe einreibenden drei Hexen sind raffinierte Konstellationen des Zeigens und Verbergens der weiblichen Scham. Exakt im geometrischen Mittelpunkt des Blattes liegt der Schoß der nackten jungen Frau, die mit weitem Ausfallschritt den rechten Fuß auf den Rücken einer weiteren, ebenfalls jungen Frau setzt. Es scheint so, als ob der Betrachter den Körper der jungen Frau in Gänze mit den Augen abtasten könne – allerdings ist ihr Geschlecht nicht zu sehen, weil sie es mit einer scheinbar zufälligen Geste ihrer linken Hand verdeckt. Dabei leiten die zwei ausgestreckten Finger ihrer Hand ebenso wie der Kontur ihres rechten Unterschenkels den Blick des Betrachters fort von ihr auf ein – im Sinne des voyeuristischen Blicks unbefriedigendes – Ersatzobjekt: auf die behaarte Scham der alten Hexe rechts von ihr.82 Mit dem kaum verstellten Blick auf den – im Vergleich zur jungen Hexe – unattraktiven Körper der alten Frau wird der Betrachter verspottet und die dargestellte Alte damit auch. Zugleich praktiziert die zweite junge Frau genau das, was dem Betrachter verwehrt bleibt: Sie betrachtet mit einer geradezu artistischen Anstrengung ihre eigene Scham. 83 Das Bild stellt die voyeuristischen Impulse, an die es appelliert, indirekt selbst aus. Dabei bedient es mit der Darstellung einer alten Frau als Hexe in diesem Zusammenhang wiederum das Stereotyp der liebestollen, unkeuschen Alten,

81 | Wien, Albertina, Inv.-Nr. 3220, dat. 1514. Es handelt sich um eine Hell-Dunkel-Zeichnung auf Tonpapier, die die Figuren plastisch hervortreten lässt; Brinkmann: Hexenlust, S. 50-58. Ich schließe mich hier mangels weitergehender philologischer Untersuchungen der Inschrifteninterpretation von Brinkmann an, obgleich die andernorts vorgebrachte Übersetzung nicht ganz von der Hand zu weisen ist; der Text zur Katalognummer in: Hans Baldung Grien in Freiburg, S. 186 Anm. 39, interpretiert die Inschrift als »durchaus gängige scherzhafte Mischung aus deutschen und lateinischen Worten«, wodurch mit »CorCapen« eine »Herzensfängerin« angesprochen würde, was angesichts der Darstellung und des gut situierten Malers nicht der Pikanterie entbehrte. 82 | Hans Baldung Grien stellt in seinen Gemälden Körperbehaarung in weitaus größerem Umfang dar als jeder andere Maler; Penny Howell Jolly: Publics and Privates: Body Hair in Late Medieval Art, in: Sherry C. M. Lindquist (Hg.): The Meanings of Nudity in Medieval Art, Burlington, VT 2012, S. 183-206, erläutert die negative Konnotation von Scham- und Achselhaaren speziell bei Hexen; sowohl in Predigten als auch im Hexenhammer wird darauf verwiesen, dass das Haar an jedem Körperteil zu rasieren ist, weil die Haare ein Mittel der Hexerei darstellen; ebd. zu Baldung Grien und den Hexen, S. 196-198. 83 | Die Zeichnung lädt den Betrachter zu einem voyeuristischen Blick ein und macht zugleich deutlich, dass ihm dazu der richtige Betrachterstandort fehlt: Er müsste dafür eine Sehbewegung vollziehen, auf die Baldung mit der im äußersten Vordergrund platzierten, aber eben um 90 Grad quer gestellten Tafel mit seiner Signatur hinweist. Die Zeichnung lässt sich mit der vorreformatorischen Kritik am unkeuschen Leben der Mönche verbinden.

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Abbildung 8: Hans Baldung Grien, Neujahrgruß mit drei Hexen, (Der CorCapen ein gut Jar) 1514.

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deren unattraktiver Körper hier einmal mehr im Vergleich mit den jungen Körpern bloßgestellt wird.84 Ein letztes Werk von Hans Baldung Grien zum Hexenthema soll noch einmal die sich bildlich manifestierende Verbindung zwischen alten Hexen und sexuellen Konnotationen verdeutlichen: 1510 brachte Baldung ein von zwei Stöcken gedrucktes Blatt heraus, das die früheste datierbare Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Hexenthema darstellt (Abb. 9).85 Es handelt sich bei diesem Druck um einen der frühesten Clair-obscur-Holzschnitte, wobei die Ockertönung durch ihren gelben Widerschein den übernatürlichen Charakter der Walpurgisnacht zu betonen scheint. Die Hexen sind als solche vor allem an ihren Bewegungen, Gesten und ihrer Nacktheit erkennbar. Im Vordergrund sind zwei nackte, auf dem Boden sitzende Frauen mittleren Alters wiedergegeben; die linke kehrt dem Betrachter den Rücken zu und hält mit ausgestrecktem Arm ein Trinkgefäß hoch. Sie wendet ihr Gesicht der rechts sitzenden zu, die ein Tongefäß zwischen den Knien und einen Kochlöffel in der rechten Hand hält, während sie mit der linken den Deckel des Gefäßes lupft, aus dem ein Rauchschwall aufsteigt.86 Etwas zurückversetzt zwischen den beiden sieht man eine alte Frau, die einen Teller in die Höhe hebt und zugleich ein Tuch zwischen ihren erhobenen Händen hält. Sie ist im unteren Bildfeld unter den Hexen die einzige, deren Busen in seiner unattraktiven Ausgestaltung dem Betrachter dargeboten wird. Eine weitere Alte hinter ihr, die eine Fackel hält, wird ebenfalls mit diesem sekundären Geschlechtsmerkmal bildwirksam inszeniert. Wohl nicht von ungefähr spannen Rauchschwall, Tuch, Haare und das rechte Bein der vorderen Hexe ein X auf, dessen Mitte die beleuchtete und extrem in die Länge gezogene Brustwarze der alten Hexe akzentuiert: Diese verweist damit auf den Hexentrank, der in dem Tongefäß gebraut wird.87 Die Szenerie wird komplettiert durch eine junge Hexe, 84 | Dieses Nebeneinanderstellen von jungen und alten Hexen, das vor allem die Unattraktivität des Alters betont, wird auch später, beispielsweise mit den zahlreichen Hexendarstellungen des Salvator Rosa (um 1640), beibehalten bzw. bewusst aufgenommen; vgl. Tal: Witches on Top, S. 13-56; zur sexuellen Begierde, die insbesondere alten als Hexen angeklagten Frauen nachgesagt wird vgl. Levack: Hexenjagd, S. 140-142. 85 | Staatliche Museen zu Berlin SPK, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 141-1935, dat. 1510; vgl. Brinkmann: Hexenlust, S. 70-72; die bildimmanenten Bezüge zur Hexerei auf dem neuesten Stand zusammengefasst bei Zika: Appearances of Witchcraft, S. 11-14. 86 | Unterhalb ihres ausgestreckten Arms sind zahlreiche, über einen Stock gelegte Würste zu sehen, die eine rein sexuelle Konnotation haben: Sie stehen für »weggezauberte, männliche Glieder«; s. den Katalogbeitrag von Petra Gottfroh-Tajeddine: Die Hexen 1510, in: Hans Baldung Grien in Freiburg, Kat.-Nr. 34, S. 172-176, hier S. 172. 87 | Menschliche und tierische Schädel, eine Bürste, ein Spiegel und eine Katze symbolisieren weitere Accessoires aus der Hexenwelt, die als Handwerkszeug magischer Praktiken an die im Hexenhammer angeführten Schadenszaubertaten erinnern; das X spielt auf die sogenannten ›Schwarzen Messen‹ an.

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die rücklings auf einem Ziegenbock durch die Lüfte reitet. Neben allen Anspielungen auf magische Praktiken ist es aber vor allem die sexuell aufgeladene Körperlichkeit der Hexen, die hier bildwirksam inszeniert wird.

Abbildung 9: Hans Baldung Grien, Hexensabbat, 1510, Inv. 918-2.

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Bilder verhandeln Diskurse, die zwar vordergründig mit dem Bildthema übereinstimmen, darüber hinaus jedoch Vorstellungen, Werte und Haltungen thematisieren, die zeitlich früher angelegt waren und, visuell manifestiert, oftmals eine longue durée haben.88 Die Inszenierung der Hexen in verschiedenen Altersstufen dürfte für die Bewertung alter Frauen nicht ohne Effekt geblieben sein. Die mit den alten Hexen einhergehenden Konnotationen als lüsterne, geizige89, alte Frauen sind, losgelöst von der heute nur noch in Märchenwelten präsenten Vorstellung von Hexen, in unterschiedlichen Ausprägungen als Stereotype weiterhin mit den Charakterzügen alter Frauen verbunden.90 Ihren Weg in die Bildwelt und die Spezifika ihrer Darstellung aber fanden sie im ausgehenden Mittelalter über die Figur der Kupplerin, die dann im Folgenden keine Rolle mehr für die alte Frau als Hexe spielt: Ohne Zwischenschritt wird die alte Frau im ältesten überlieferten Totentanz der Frauen, dem Danse macabre des femmes von Guy Marchant, im Jahre 1486 mit der Hexe identifiziert.91 Es wird weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben zu zeigen, wie die Bilddarstellungen in den folgenden Jahrhunderten die mit den alten Frauen verbundenen Konnotationen transportieren, ohne dass sie zwangsläufig mit dem Typus der Hexe verbunden bleiben müssen.

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88 | So auch Zika: Appearances of Witchcraft, S. 9. 89 | Roper: Witch, S. 96f., zu Geiz und Habgier als einem Kennzeichen der Hexen in den Hexenprozessen. 90 | Beispielhaft für die Verfestigung der stereotypen Darstellung alter Frauen als Hexen seien die von L. A. Botelho untersuchten Illustrationen von englischen Balladen in der Druckgraphik des 17. Jahrhunderts genannt: Von 72 Darstellungen alter Frauen waren in siebzehn alte Frauen als Hexen charakterisiert, in den übrigen Darstellungen waren es Zahnlosigkeit und überlange Nasen und Kinn, die besonders hervortraten – anders als bei den alten Männern, die in Mehrzahl als weise, jedenfalls nicht negativ dargestellt waren; vgl. Lynn A. Botelho: Images of Old Age in Early Modern Cheap Print: Women, Witches, and the Poisonous Female Body, in: Susannah R. Ottawa u.a. (Hg.): Power and Poverty. Old Age in the Pre-Industrial Past, Westport, CT/London 2002, S. 225-246, bes. S. 225-234. 91 | Boudet: Femmes ambivalentes, S. 211f.

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Altern als Problem für Jünglinge Beobachtungen zum Topos von ›Jüngling und Greis‹ in Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts Guglielmo Gabbiadini für A.

J ÜNGLINGSHAF TE P OESIE CONTR A MEL ANCHOLISCHE G REISENGRILLEN Bereits zu Lebzeiten war Christian Fürchtegott Gellerts (1715-1769) feinfühlige Beobachtungsgabe auf dem weit verzweigten Feld der menschlichen Angelegenheiten geradezu sprichwörtlich geworden. Von seinem Katheder an der Leipziger Universität, wo er vom Jahr 1751 an als außerordentlicher Professor der Philosophie unterrichtete, meldete sich nicht nur ein »Lehrer der ganzen Nation«, wie er später und wohl zu Recht bezeichnet wurde,1 sondern vor allem ein hochbegabter Kenner der Natur des Menschen, der im großen Jahrhundert der ›Menschenkenntnis‹2 und des bon sens seinesgleichen sucht. »Bemühe dich früh, […] von deinen ersten Jahren an, die Welt, die Menschen und dich selbst kennen und immer genauer kennen zu lernen«3 – so lautet die 1 | Man siehe hierzu Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, München 1990. Thomas Abbt (1738-1766) schrieb in seinem Werk Vom Verdienste (Berlin/Stettin 1765): »Allein für ganz Deutschland ist es ohne Widerspruch Gellert, dessen Fabeln wirklich dem Geschmacke der ganzen Nation eine neue Hülfe gegeben haben.« Zit.n. Bernd Witte: »Die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen.« Gellert als Fabeldichter, in: ders. (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«, S. 30-50, hier S. 30. 2 | Für einen knappen Überblick hierzu siehe Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, bes. S. 9-17. 3 | Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesungen. Achte Vorlesung, in: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Bernd Witte, Bd. 6: Moralische Vorlesungen. Moralische Charaktere, hg. v. Sibylle Späth, Berlin/New York 1992, S. 97-104, hier S. 97.

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»Fünfte Regel« aus seinen Moralischen Vorlesungen, gleichsam eine erweiterte Variation des antiken nosce te ipsum. Gellert interessierte sich sowohl für die liebenswürdigen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten des menschlichen Daseins als auch für die bedenklichen Erscheinungsformen von ›schwarzer Galle‹ und hypochondrischer Verdüsterung. Genau besehen, stellt gerade die Melancholie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen die große Herausforderung dar, auf die ein Großteil seines poetischen und theoretischen Œuvres antwortet. An sich selbst erfährt und beschreibt Gellert den Komplex der Melancholie und mit ihm die zahllosen Implikationen, wie sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aktuell waren.4 Sein erster Biograph, Johann Andreas Cramer (1723-1788), beschreibt mit schneidender Schärfe Gellerts Hang zur hypochondrischen Melancholie, die besonders in seinen Altersjahren virulent wurde: Unter so edlen gemeinnützigen Bemühungen war Gellerts Leben schon lange durch das schreckliche Uebel der Hypochondrie ein beständiges Leiden. […] Darum hielt er es für seine Pflicht, sich in einer beständigen Mißbilligung der Unvollkommenheit, die er an sich zu bemerken glaubte, zu erhalten. Diese Bemühung aber, die ein beständiges und oft schmerzhaftes Gefühl seiner Kränklichkeit begleitete, konnte die Schwermuth seiner Seele eher vergrößern als vermindern. 5

Gleichzeitig erinnert Cramer jedoch auch an die »Stille des Herzens«, die sich Gellert trotz aller »schwermüthigen Vorwürfe« zu erkämpfen wusste. 6 Wie kaum einem zweiten Dichter seiner Generation gelang es dem alten Gellert, souverän mit den Abgründen menschlicher Gesinnungen und Handlungen umzugehen und ihnen eine anmutige, ganz sicher nicht pedantisch-belehrende Gestalt zu verleihen. Die eigene Misere wird gleichsam in eine poetische Materie nützlicher Erkenntnis umgemünzt: Gellert vermochte es, die Prosa des Lebens in Poesie zu verwandeln und die Poesie zur beständigen Gefährtin des Lebens werden zu lassen. Ein von der Melancholie geplagtes Greisengesicht behält also mitnichten das letzte Wort. Denn Gellert nimmt bereitwillig und stets von neuem den Fehdehandschuh auf und bekämpft unermüdlich das schwarze Heer der melancholischen Verirrungen durch die diskursiven Möglichkeiten der poetischen Heiterkeit. Ironisches, freches und mehrdeutiges Sprechen gilt ihm als wirkungsvolles Gegenmittel im alltäglichen Umgang mit der ›schwarzen Galle‹. Er wird nicht müde zu wiederholen, dass eine echte Tugend nur diejenige sei, die zwischen

4 | Hierzu siehe nach wie vor die grundlegende Studie von Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. 5 | Johann Andreas Cramer: Christian Fürchtegott Gellerts Leben, Leipzig 1774, S. 84f. 6 | Ebd., S. 122.

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»natürlicher Schwermut« und »natürlichem Leichtsinn« die Mitte zu halten vermag.7 Von der außerordentlichen und weit über die kursächsischen Grenzen hinaus bekannten Bravour von Gellerts psychologischen Erkundungen zeugen in erster Linie die Moralischen Vorlesungen (gedruckt 1770)8, doch mehr noch, in besonders prägnanter Weise, die Textfolge der Moralischen Charaktere, die als Appendix zu seinen Vorlesungen erschien.9 In Anlehnung an die ehrwürdige Tradition Theophrasts und der französischen Moralistik – wobei hier mit Jean de La Bruyère (1645-1696) ein Autor als unangefochtener Meister gelten kann, den Gellert stets lobte und als Vorbild ansah10 – besetzt Gellert dabei gewissermaßen den Schnittpunkt zwischen der herkömmlichen Form einer geistlichen Psychologie pietistischer Prägung11 und einer neuartigen Form von weltlicher Anthropologie. Zu vernehmen ist darin – um wieder Cramer zu bemühen – der »sanfte, unschuldi7 | Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Charaktere. Der schwermüthige Tugendhafte, in: ders: Gesammelte Schriften, Bd. 6, 294-297, hier S. 297. 8 | An den Freund Johann Adolf Schlegel (1721-1793) schrieb Gellert diesbezüglich am 23. Oktober 1766: »Meine Moral, liebster Schlegel, so viel auch andre Leute davon reden, ist nach meiner Überzeugung ein mangelhaftes u. oft unausgearbeitetes Werk, kein System. Einzelne Vorlesungen können wohl gut u. nach meinem Tode des Drucks werth seyn«. zit.n. Sybille Späth: Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie, in: Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«, S. 151-171, hier S. 153. Zur Überlieferungsgeschichte der Moralischen Vorlesungen siehe den Kommentar von Sibylle Späth, in: Gellert: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 315: »Nach Gellerts Tode wurden seine Moralischen Vorlesungen von den von ihm bestellten Nachlassverwaltern Johann Adolf Schlegel und Christian Leberecht Heyer publiziert. Sie erschienen 1770 zusammen mit den Moralischen Charakteren gleichzeitig als Einzeldruck (E) und als Sechster und Siebenter Theil von C.F. Gellerts sämmtliche Schriften (C). E und C sind von einander unabhängige Drucke, die jedoch gleichzeitig publiziert wurden.« 9 | In den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen. Auf das Jahr 1770 konnte man diesbezüglich lesen: »Zuletzt sind die moralischen Charaktere, die der seel. Gellert in einige seiner Vorlesungen einzuschalten pflegte, zusammen abgedruckt.« zit.n. Gellert: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 344. 10 | Über die »Charaktere des la Brüyere« schreibt Gellert in der Zehnten Vorlesung: »[S]ie sind bey nahe ein Jahrhundert in dem Besitze des Beyfalls«. Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesungen. Zehnte Vorlesung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 117128, hier S. 123. Hierzu siehe allgemein: Marine Ricord: »Les Caractères« de La Bruyère ou les exercices de l’esprit, Paris 2000, bes. S. 15ff. und in Bezug auf Gellert neuerdings Sikander Singh: Das Glück ist eine Allegorie. Christian Fürchtegott Gellert und die europäische Aufklärung, München 2012, S. 117-120. 11 | Hierzu siehe Kurt May: Das Weltbild in Gellerts Dichtung, Frankfurt a.M. 1928, bes. S. 89-93.

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ge, menschenfreundliche Ton eines jungen Dichters, der gefallen, vergnügen und bessern wollte, der ohne zu beleidigen, scherzte, nie mit Bitterkeit lachte, sondern immer nur mitleidig oder liebreich lächelte«.12 Cramer macht innerhalb von Gellerts Persönlichkeit einen grundlegenden, dualen Zug aus: einerseits die Tatsache, dass mit dem Fortschreiten des Lebensalters ein wachsender Hang zur Melancholie einhergeht; andererseits erkennt er beim alten Gellert die Tendenz zu einer Heiterkeit, die sich unmittelbar dem Prädikat ›jung‹ zuordnen lässt. Die gegensätzlichen Bilder des ›melancholischen Greises‹ und des ›menschenfreundlichen jungen Dichters‹ erscheinen von daher als zwei miteinander konkurrierende anthropologische Optionen. Diese beiden existentiellen Tendenzen hat die Gellert-Forschung untersucht und auf ihren jeweiligen kulturellen Horizont zurückgeführt. Allerdings ist das Band der Zusammengehörigkeit, das jene zwei Optionen miteinander verbindet, nicht immer erkannt worden. Laut Sikander Singh wirkte gerade in Gellerts Spätwerk der »christliche Pessimismus« nach, sprich die Erbsünde und die mit ihr einhergehende Vorstellung von der Sündhaftigkeit des Menschen, welche durch die theologische Reformbewegung des Pietismus seit dem beginnenden 18. Jahrhundert einen »weitreichenden Einfluss« auf den literarischen Diskurs geltend gemacht hat.13 Schon Cramer bemerkt hierzu: [Gellerts, G. G.] Unruhen über die Mängel, welche er an sich wahrzunehmen glaubte, vermehrten sich mit seiner Aufmerksamkeit auf seine Gedanken; und so gar auf alle auch unwillkührliche Bewegungen seines Herzens. Er sah in der Vergleichung derselben mit den Forderungen der Religion, mehr auf diese, als auf seine leibliche Schwachheit, und blieb deswegen immer mit sich selbst unzufrieden. 14

Laut Wolfgang Martens lässt sich dies nicht zuletzt an Gellerts Lektüren der späten Jahre sehr genau ablesen: An die Stelle »schön-wissenschaftlicher und moralischer Werke« trete nun »die Bibel und geistlich-erbauliche Literatur«.15 Wie insbesondere im Tagebuch von 1761 dokumentiert, greift der alte Gellert morgens und abends regelmäßig zur Bibel, notiert zufällig aufgefundene erbauliche Stellen, sucht Stärkung in Predigten und Andachtsübungen, seufzt über Störungen und mangelnde Sammlung und kommt immer wieder auf die Bibel zurück.16 Gellert lese also, so Martens weiter, »wie ein Pietist« und damit »in vieler Hinsicht in der Manier, die in seiner Betschwester einst Gegenstand satirischer Kari-

12 | Cramer: Gellerts Leben, S. 28f. 13 | Singh: Das Glück ist eine Allegorie, S. 116. 14 | Cramer: Gellerts Leben, S. 87. 15 | Wolfgang Martens: Lektüre bei Gellert, in: Herbert Singer, Benno von Wiese (Hg.): Festschrift für Richard Alewyn, Köln/Graz 1967, S. 123-150, hier S. 148. 16 | Vgl. Ebd.

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katur gewesen war«.17 Zurückführen lasse sich dies letztlich auf Gellerts hypochondrische Veranlagung, auf seine »kopf hängerische Weinerlichkeit«18, die sich nur zu gut mit dem anthropologischen Bild des Pietismus vertrug. Das hat die Studie von Hans-Jürgen Schings auf den Punkt gebracht: »[P]athologische Hypochondrie und geistliche Schwermut treiben sich wechselseitig an, ohne daß ein Ausweg sichtbar wird.«19 In dieser äußerst düsteren Anschauung des Lebens, die mit einer fast ausschließlichen Hingabe an die Religion einhergeht 20, deckte sich das Weisheitsideal für den späten Gellert immer mehr mit der voluntativen Fähigkeit, die mit dem Sündenfall verbundenen Begrenztheiten der conditio humana kämpferisch zu konterkarieren und zu überwinden. Der »Kampf gegen die Melancholie«, so Schings weiter, »ist nicht zuletzt auch ein Widerstreit mit sich selbst und seiner hypochondrischen Veranlagung«, welche besonders den alten Gellert zum »Prototyp des Hypochondristen werden ließ«. 21

J ÜNGLING UND G REIS : B ESCHREIBUNG EINES K AMPFES Gellerts Hang zur melancholischen Verdüsterung beeinflusste sehr stark seine späten Meinungen und Einstellungen. Er selbst führte jedoch – gegenläufig dazu – einen erbarmungslosen und konsequenten Krieg gegen diese Tendenzen, indem er immer wieder neue Bilder entwarf, die dem des ›melancholischen Greises‹ entgegengesetzt waren und ein Leben im Zeichen der irdischen Freude und des Ausgleichs verhießen. Der Kampf um die lebensbejahende Einstellung wird bei Gellert doppelt geführt, und zwar ebenso in den Räumen der eigenen Innerlichkeit wie auch in der öffentlichen Sphäre seiner dichterischen Erfindungen. Dem Melancholiker bzw. Hypochonder wird damit die Funktion eines Feindbildes zuteil, das es mit diätetischen 22 und diskursiven Mitteln zu bekämpfen gilt. »Was ist der Mensch von Natur?«, fragt Gellert in der Achten Vorlesung. Die Antwort entspricht, gut aufklärerisch, einem zwiespältigen bzw. dualistischen Bild 17 | Ebd. 18 | Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Braunschweig 81929, Bd. 1, S. 246, zit.n. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 357. 19 | Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 130. 20 | Vgl. Martens: Lektüre bei Gellert, S. 147f. 21 | Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 130. Zu Gellerts ›Image‹ in Sekundärliteratur und kollektivem Bewusstsein siehe Eckhardt Meyer-Krentler: »... weil sein ganzes Leben eine Moral war.« Gellert und Gellerts Legende, in: Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, München 1990, S. 221-257. 22 | Schings bemerkt hierzu: »Die üblichen Kuren und diätetischen Methoden werden gegen die Krankheit aufgeboten, die ihren ›Sitz vornehmlich im Unterleibe zu haben schien‹. Der Bewegungstherapie dient das vielberufene Pferd, das Prinz Carl Heinrich von Preußen Gellert zum Geschenk macht«. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 130.

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vom Menschen, dem eine Polarität gegensätzlicher Zustände zugrunde liegt. Sie lautet: »Meistens eine Vermischung von Schwachheit und Stärke, von Weisheit und Thorheit, von Tugend und Laster, von Ruhe und Unruhe.«23 Dem Trübsinn zumeist greisenhafter Gesichter wird dabei die Keckheit verschmitzter Jünglinge entgegengestellt. Gerade in den Moralischen Charakteren attackiert Gellert unerbittlich und mit kaum verhohlener (Selbst-)Ironie die Folgen der ›schwarzen Galle‹ – man denke hierbei insbesondere an den von Hans-Jürgen Schings eingehend analysierten Fall des »schwermüthigen Tugendhaften«24 – und plädiert stattdessen für ein neues Tugendideal, dem »puritanische Askese nur noch als melancholische Verwirrung erscheint«.25 Von der Tradition der Moralistik profitierte Gellert in erster Linie, indem er ihre erzählerische Nutzbarkeit vorführte und ausbaute26, aber auch indem er die Erlösungsmöglichkeit, die in ihrer unbeschwerten, witzigen Herangehensweise an das Problem der Melancholie liegt, erkannte und auf sich selbst anwandte. Seine fiktiven, und dabei doch so lebensnahen Charaktere sind Ausdruck einer Psychologie, in der die Persönlichkeit als ein Wettstreit einzelner handfester Züge aufgefasst wird. Gellerts Reflexionen verdichten sich darin in einer Reihe dichterischer Konstellationen, die mittels prägnanter und pointierter Züge Figuren umreißen, die sich der Sphäre des ›Typischen‹ annähern und sich als gleichsam ›archetypische‹ Verhaltensmodelle identifizieren lassen. Gellert setzt komplexe psychologische Verhältnisse, wie sie nicht selten als konfliktträchtige Faktoren einer individuellen Psyche vorkommen, in Erzählstoffe mit ausgeprägter innerer Handlungsdynamik um. Das Heiterkeitspotential der moralistischen Tradition wird dabei strategisch gegen die Verdüsterungen der Hypochondrie ausgespielt. »Der Ernst der Moral«, heißt es diesbezüglich im Text seiner Zehnten Vorlesung, verwirft nicht alle Heiterkeit des Witzes. Sie nimmt, um desto gefälliger zu erscheinen, oft eine lächelnde Miene an und kleidet ihren Vortrag in das Anmuthige ein. Sie unterrichtet bald in kurzen sinnreichen Sätzen, bald in Charakteren und sittlichen Dichtungen, bald in satyrischen Gemälden, bald in kurzen Abhandlungen, worinne sie das Nützliche mit dem Anmuthsvollen verbindet, und das Trockne, das die Gründlichkeit mit sich zu führen pflegt, durch Lebhaftigkeit verbirgt. 27

23 | Gellert: Achte Vorlesung, S. 98. 24 | Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 127-132. 25 | Ebd., S. 128. 26 | Vgl. Singh: Das Glück ist eine Allegorie, S. 110ff. 27 | Gellert: Zehnte Vorlesung, S. 123.

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Hierin ist aller Wahrscheinlichkeit nach das Kernstück von Gellerts Auffassung der Moral sowie von seiner Poetik zu suchen, und hierin liegt auch die Bedeutung seiner Biographie für seine poetische Produktion. Gellert überträgt gleichsam die Verbindung von Widersprüchlichem, die seiner zwiespältigen Anschauung der menschlichen Natur innewohnt, konkret auf Paare von Figuren, die einander gegenseitig bedingen. Bei der Identität dieser Figurenpaare hängt jede einzelne Figur wesentlich von der jeweils anderen ab, d.h. eine jede wird erst durch ihr Pendant bestimmt. Zwischen beiden wächst das Band einer wechselseitigen Beziehung, einer logischen ›Korrelation‹.28 So etwa und besonders evident im Falle des Paares von ›Jüngling und Greis‹: Ein solches Band zieht sich, ebenso beständig wie unauffällig29, durch sämtliche Prosatexte und Dichtungen Gellerts, von den Märchen zu den Vorlesungen, von den moralischen Bildern zu den Theaterstücken. Das betreffende Paar gründet sich in erster Linie auf den altersmäßigen Gegensatz: Dem reifen Alter des Greises steht der unreife Überschwang des Jünglings entgegen. Jedoch handelt es sich dabei nicht nur um eine Aneinanderreihung zweier entgegengesetzter Begriffe. Sicherlich werden Jüngling und Greis einander vornehmlich aufgrund ihres Alters gegenübergestellt, jedoch erweist sich die Verbindung in ihrem Verhältnis als komplexer: Sie stehen gewissermaßen für zwei gegensätzliche und doch aneinander gebundene Ausrichtungen des Gemüts, zwei entgegengesetzte Lebensansichten, die im wechselseitigen Dialog widerstreiten und in ihrem Widerstreit dennoch im Austausch stehen. Einige Titel aus dem Gellert’schen Werk machen das Band der Zusammengehörigkeit, das in Gellerts dichterischem Universum Jüngling und Greis verbindet, besonders evident. Erwähnenswert aus der Sammlung der Fabeln und Erzählungen (1746-1748) sind beispielsweise Der Jüngling 30, Der Greis31, Der Jüngling

28 | Zur Begrifflichkeit einer logischen ›Korrelation‹ siehe Giovanni Bottiroli: La ragione flessibile. Modi d’essere e stili di pensiero, Torino 2013, bes. S. 158-193. 29 | Nämlich so sehr unauffällig, dass die Gellert-Forschung dem Aspekt der Wechselbeziehungen im Figurenpaar von ›Jüngling und Greis‹ bislang, soweit ich sehe, keine einschlägige Untersuchung gewidmet hat. Einige Studien haben die Wichtigkeit der Figuren von Jüngling und Greis hervorgehoben, ohne jedoch das Band der Zusammengehörigkeit zu erhellen, das sie verbindet. So beispielsweise Walter Hornstein: Vom »jungen Herrn« zum »hoffnungsvollen Jüngling«. Wandlungen des Jugendlebens im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1965, S. 73-83, Thomas Küpper: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850,Würzburg 2004, S. 41 (Fußnote 70) und Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen, München 1983, S. 15f. 30 | Christian Fürchtegott Gellert: Der Jüngling, in: ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Bernd Witte, Bd. 1: Fabeln und Erzählungen, hg. v. Ulrike Bardt, Bernd Witte unter Mitarbeit von Tanja Reinlein, Berlin/New York 2000, S. 173f. 31 | Christian Fürchtegott Gellert: Der Greis, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 63f.

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und der Greis32, Der alte Dichter und der junge Criticus33 sowie Der junge Gelehrte34. Nicht zu vergessen ist schließlich die auch typographisch hervorgehobene Gegenüberstellung des ›schwermüthigen Tugendhaften‹ und des ›Jüngling von der guten und schlimmen Seite‹, welche bezeichnenderweise die Mitte der Moralischen Charaktere einnimmt. Der vorliegende Beitrag ist im Folgenden u.a. einer Deutung der erwähnten Schriften gewidmet: Die Herausforderung, der sich Gellert stellen möchte, wenn er mit dem Bild von Jüngling und Greis arbeitet, besteht darin, eine zunächst und zumeist negative Antithese in die Dynamik einer fruchtbaren Wechselwirkung zu verwandeln. Gellert strebt eine Fusion an: Was ihm vorschwebt, ist die Umwandlung eines Konflikts der Extreme in einen Dialog zwischen Gegensätzen. Die angeführten Schriften bilden hierfür ein beredtes Zeugnis. »Ich singe nicht von Heldenthaten,/ Der Greis sey meine Poesie«, liest man im Lied Der Greis.35 Ein Pendant bilden demgegenüber die zahlreichen Darstellungen von Jünglingen, die zur Metapher der menschlichen Existenz und ihrer Gefahren werden. Entsprechend heißt es im Ausgang des Gedichts Der Jüngling (V. 44ff.): Sie wagen auf der Bahn der Tugend einen Schritt, und sehn darauf nach ihren Lüsten, Und nehmen ihre Lüste mit. Beschwert mit diesen Hindernissen, Weicht bald ihr träger Geist zurück. Und auf ein sinnlich Glück beflissen, Vergessen sie die Müh um ein unendlich Glück. 36

Das ist von einem stoff- und motivgeschichtlichen Standpunkt aus interessant. Nur wenn man in Gellerts hartnäckiger Vorliebe für das Paar Jüngling-Greis eine neuzeitliche Überarbeitung des antiken puer et senex-Topos erkennt, lässt sich die von Gellert auf diegetisch-poetischem Wege verfolgte Absicht mittels dieses aus gegensätzlichen Lebensaltern zusammengesetzten Paares angemessen verstehen und interpretieren. Ernst Robert Curtius’ Bemerkung zum Topos von ›Knabe und Greis‹ lautet wie folgt: »Alle frühen und hohen Zeiten einer Kultur preisen den Jüngling und ehren zugleich das Alter. Aber nur späte Zeiten entwickeln ein Menschenideal, in dem die Polarität von Jugend und Alter zu einem Ausgleich 32 | Christian Fürchtegott Gellert: Der Jüngling und der Greis, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 240. 33 | Christian Fürchtegott Gellert: Der alte Dichter und der junge Criticus, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 199. 34 | Christian Fürchtegott Gellert: Der junge Gelehrte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 177f. 35 | Gellert: Der Greis, S. 64. 36 | Gellert: Der Jüngling, S. 174.

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strebt«.37 Wie sich zeigen wird, darf Gellert zu Recht als Vertreter einer solchen »späten Zeit« angesehen werden. Indem er immer wieder Situationen aufkommen lässt, in denen ein Jüngling in ein polemisches, scherzhaftes und bisweilen auch ehrfurchtloses Gespräch mit einem Greis eintritt, überarbeitet Gellert den antiken Topos von ›Knabe und Greis‹ und inszeniert dabei praktisch den Widerstreit und die mögliche Aussöhnung zweier entgegengesetzter anthropologischer Optionen. In der Spaltung zwischen Jüngling und Greis liegt vermutlich Gellerts ganzes Leid, aber auch eine der wichtigsten Ressourcen seiner Poetik. Das von ihm entworfene dichterische Modell beinhaltet den Versuch, diesen Widerspruch – zunächst auf einer rein fiktionalen Ebene – zu überwinden. Auch in seinem Fall führt der Topos zusammen, was zusammengehört.

A RBEIT AM TOPOS Die Figuren des Greises und des Jünglings sind bei Gellert stets in einem besonderen gegenseitigen Verhältnis miteinander verbunden, das nicht selten durch die bereits im Titel enthaltene Konjunktion ›und‹ bezeugt wird. Zusammen genommen ergeben die beiden Figuren eine Art Janus-Gestalt. Während sich die wesentlichsten Merkmale des Greises jeweils erst aus den Worten des Jünglings erhellen, ist der objektivste Kritiker des Jünglings ein Greis, der ebenso gut sein Vater oder Großvater sein könnte. Beide Gesichter dieser Polarität sind notwendig und entsprechen einander. Eine derartige Polarität kann entweder eine konfliktträchtige Antithese oder auch eine harmonische Zusammenarbeit zur Folge haben. Letzteres kommt freilich bei Gellert seltener vor. So beispielsweise in der Achten Vorlesung, in der Gellert die Ankunft eines »Jüngling[s]« in der »Hütte eines Greises« skizziert, »von dem er gehöret, daß er neunzig Jahr alt und sehr zufrieden sey«.38 Der Greis führt dem Jüngling das Glück, die Freuden und die Rechtschaffenheit seines bescheidenen Lebens vor. Eine fröhliche Weltlichkeit tritt da zutage und verkündet die Möglichkeit einer einfältigen Lebensführung, geläutert von den Finsternissen und Exzessen eines schwärmerischen Naturells. Nichtsdestoweniger scheint der Jüngling die Echtheit eines solchen Glücks zu bezweifeln. Dies wird durch eine Litotes unmissverständlich signalisiert: »Der Greis, denkt der Jüngling, [...] ist bey

37 | Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 81973, S. 108. Auf den Fall Gellert findet man bei Curtius jedoch keinen Hinweis. Auf die materialreiche Studie von Curtius verweist auch James Hillman: Puer aeternus, übers. v. Adriana Bottini, Milano 1999, S. 154. Weitere Literatur in Marie-Louise von Franz: Der ewige Jüngling. Der puer aeternus und der kreative Genius im Erwachsenen, München 1987. 38 | Gellert: Achte Vorlesung, S. 102.

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aller seiner Niedrigkeit nicht unglücklich.«39 Der Argwohn artikuliert sich dann folgendermaßen: Aber die kleine Hütte, das töpferne Tischgeräthe, der leinene Rock, von den Händen seiner Gattinn gesponnen, die Schaale Milch, mit schwarzem Brodte vermenget, die der Alte isset, das zwar reinliche aber doch einfältige Lager des Alten, sein arbeitsames Leben bis ins neunzigste Jahr, sein von der Sonne verbranntes Gesicht, seine Hand, von der Arbeit hart, sein zitterndes Haupt, benehmen dem Glücke und der Tugend des Alten viel von ihrer Würde in des Jünglings Augen. Denn was sind alle diese Gegenstände für die Sinne? Was, so denkt seine Einbildung, ist ein ruhiges Leben ohne Bequemlichkeit, Ueberfluß und feine Lebensart?40

Für das simple, biedere Lebensideal des Greises hat der Jüngling offenbar wenig bzw. gar kein Verständnis. Vielmehr ist es das diskursive Hauptanliegen dieses fiktiven Jünglings, in den Augen eines bestimmten Teils der städtischen Leserschaft seine Stellung als jugendlicher, kulturbeflissener und zugleich fröhlicher Bourgeois zu rechtfertigen und abzusichern. »Bequemlichkeit, Ueberfluß und feine Lebensart« – so lautet die Devise einer neuen Kultur der Sinnlichkeit, die für die Tugenden der Sparsamkeit und Bescheidenheit schwerhörig ist. Ein wohlgemuter Offensivgeist gibt diesem Jüngling schließlich gar beißende Worte ein. Mit ihnen endet die Skizze: »Gleichwohl«, vermerkt der Jüngling, »ist dieser Greis, der kurz nach seinem Abschiede, in den Armen seiner Hausfrau, ruhig entschläft, eines der glücklichsten, der weisesten Geschöpfe, so bald wir ihn jenseit [sic!] des Grabes denken«41 – die Ironie könnte schneidender kaum sein. Ohne den Überschwang – und u. U. ohne die Frechheit – des Jünglings büßt die Autorität des Greises ihre Tragweite und ihre Glaubwürdigkeit ein, verhärtet sich im traurigen Despotismus einer asketisch anmutenden Sparsamkeit und wird letztlich zum Zeichen einer Schwäche des Alters. Diese Schwäche wird damit zur Klage, die Selbstständigkeit des Alten enttarnt sich als grämliche Einsamkeit. Wie im Falle des »Aret« aus den Moralischen Charakteren, des oben bereits erwähnten »schwermüthigen Tugendhaften«, dessen Alltag im Zeichen der Austerität und der Ernsthaftigkeit steht: Aret wird selten lachen; denn seine Tugend hat eine finstre Stirne, und eine frohe Miene hält er für Leichtsinn. [...] Weil er die Einsamkeit liebt, so zittert er vor allen großen Gesellschaften, hält sie für Schulen der Thorheit, und ermahnet alle zur Eingezogenheit, das heißt, zur einsiedlerischen Traurigkeit. 42

39 | Ebd. 40 | Ebd. 41 | Ebd., S. 102f. 42 | Gellert: Der schwermüthige Tugendhafte, S. 295.

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Das Temperament des »schwermüthigen« Greises ist offenkundig kalt. Es handelt sich um eine Kälte, die sich im Sinne eines Abstands oder als vorwurfsvoller Tadel ausdrücken kann, oder als eine beißende und zynische Ironie, die illusionslos auf die Fügungen der Welt und der Gesellschaft blickt. Der Greis als senex erscheint hier behäbig, schwerfällig, bleiern, und darf unmittelbar mit dem Gemütszustand der Traurigkeit oder der Melancholie gleichgesetzt werden.43 Seine Begleiter sind der Winter, die Nacht und die Kargheit. Er ist oft geizig, beherrschend und bitter. Bei ihm haben sich verstaubte Gewohnheiten und alte, überkommene Überzeugungen eingeschliffen, die sich bei jedem Versuch einer Öffnung zu etwas Neuem lähmend auswirken.44 Als homo sapiens im etymologischen Sinne des Wortes steht der Greis ferner auch emblematisch für eine beharrliche Unwandelbarkeit. Aus diesem Grund begegnet er oft in der Rolle des Vaters, des Mentors oder, wie dies bei Aret der Fall ist, in der Rolle des alten Weisen, der sich einem Sohn, Schüler oder Anhänger zuwendet.45 Unter seinen beiden Söhnen ist der eine lebhaft und flüchtig, der andere träge und langsam. Er will den ersten in seinem zwölften Jahre zum gesetzten Manne machen, und kränkt sich, daß er ihm seinen Geschmack an der Ernsthaftigkeit nicht beybringen kann. Den anderen will er in seinem gesetzten Charakter befestigen, und freut sich, daß er ihn täglich unempfindlicher werden sieht. 46

Das Fazit des Erzählers ist bitter: »durch seine traurige Erziehung verderbt er mit dem besten väterlichen Herzen alle beide«. 47 Dieses Bild – Vater, gealterter Mensch, Mentor, alter grämlicher Weiser – verleiht dem Profil des Greises die Züge eines gewissen Autoritarismus der Weisheit: Aret wird eingestandenermaßen »ungerecht und grausam, wo er rechtschaffen seyn will, und verdrießlich und widerwärtig, weil er zur Unzeit eifrig ist«.48 Er begreift seine Einstellung als tiefer und standhafter als die Träume seiner Anhänger, die oftmals auf seine hartnäckige Aufdringlichkeit und auf ein Widerstreben gegen jedwede Veränderung stoßen müssen. Erscheint Aret als »eklatanter Störenfried, der allen geselligen Freuden und Lustbarkeiten den Garaus macht« 49, so erweist sich hingegen der Jüngling in den Charakteren als ein homo ludens et ridens, der sich Horazens Vers »Ridentem dicere verum, quid vetat?« zu eigen gemacht hat. Seine wichtigsten Merkmale sind 43 | Vgl. Hillman: Puer aeternus, S. 83. 44 | Vgl. ebd., S. 83f. 45 | Vgl. ebd. 46 | Gellert: Der schwermüthige Tugendhafte, S. 295f. 47 | Ebd., S. 296. 48 | Ebd. 49 | Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 130.

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die Vitalität, die Beschwingtheit, die witzigen und genialen Ideen sowie die kühnen Wagnisse, die unvermittelten Gesten und die Geschwindigkeit der Argumentationsgänge. Der Jüngling kennt bei Gellert weder Geduld noch Warten, er ist ein verschwenderischer Herumtreiber, der das Schicksal herausfordert, seine Gottheit ist die hilaritas (Heiterkeit). Seine kennzeichnenden Merkmale sind das forschende Suchen, der Protest, das Abenteuer. »Der Jüngling«, so schreibt Gellert, »ist meistens von Natur in seinen Wünschen und Unternehmungen kühn, heftig und unbeständig«.50 Somit bleibt in seinem Leben alles unsicher und vorläufig, denn bei ihm muss immer alles in Frage gestellt werden. Demgegenüber werden die als mittelmäßig empfundenen Werte des Lebens beim senex nicht selten zum Gegenstand von Hohn, Groll und Verachtung.

B ESTRIT TENE G ELEHRSAMKEIT, ANTIKE L ASTER UND NEUERE J ÜNGLINGE Die Darstellung des Greises wird bei Gellert oft mit dem Bild einer weltfremden, unzeitgemäßen Gelehrsamkeit in Verbindung gebracht, gemäß einer Tradition, die gerade im 18. Jahrhundert eine beachtliche Entwicklung erfahren hat.51 In der Antike ist das Thema des Verfalls von Beredsamkeit und Gelehrsamkeit sowie der damit einhergehenden Polemik zwischen Lehrenden und Lernenden typisch für die frühe Kaiserzeit, wobei der gewählte Standpunkt ganz eindeutig auf Seiten der Lehrer ist, die sich vor allem über den Übereifer der Eltern ihrer Schüler beklagen, die von ihren Schützlingen bei deren ersten Redeauftritten auf dem Forum von Anfang an Erfolge erwarten. Die Polemik findet sich beispielsweise bei Juvenal, VII, 150-214, sowie in der Rede des Rhetors Agamemnon für Enkolp bei Petron, Sat. 4. Aus Sueton, Gramm. 9, wissen wir, dass Horazens handgreiflicher Lehrer Orbilius eigens über eben diesen Gegenstand eine Flugschrift verfasst hatte.52 Dagegen kehrt sich die Perspektive bei Gellert um, d.h. die Herausforderung geht vom Jüngling aus und richtet sich an den Greis. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist das Gedicht Der junge Gelehrte, in dessen Versen sich die beißende Verve gewisser satirischer, für Studentenlieder typischer Motive findet: Ein junger Mensch, der viel studirte, Und, wie die Aeltern ganz wohl sahn, 50 | Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Charaktere. Der Jüngling von der guten und der schlimmen Seite, in: ders: Gesammelte Schriften, Bd. 6, 297-300, hier S. 297. 51 | Hierzu siehe Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen 2003. 52 | Für den freundlichen Hinweis auf diese Werke (elektronische Mitteilung vom 16. April 2013) danke ich Herrn Dr. Francesco Lo Conte (Bergamo).

Altern als Problem für Jünglinge Was großes schon im Schilde führte, Sprach einen Greis um solche Schriften an, Die stark und sinnreich denken lehrten, Mit einem Wort, die zum Geschmack gehörten. Der Alte ward von Herzen froh, Und lobt ihm den Homer, den Plato, Cicero, Und hundert mehr aus alt und neuer Zeit, Die mit den heilgen Lorberkränzen Der Dichtkunst und Wohlredenheit, Umleuchtet von der Ewigkeit, Den Jünglingen entgegen glänzen. O hub der junge Mensch mit stolzem Lächeln an: Ich habe sie fast alle durchgelesen; Allein – – Nun gut, sprach der gelehrte Mann, Sind sie nach seinem Sinn gewesen: So muß er sie noch zweymal lesen; Doch sind sie ihm nicht gut genug gewesen: So sag ers ja den Klugen nicht, Denn sonst errathen sie, woran es ihm gebricht, Und heißen ihn die Zeitung lesen. 53

Dieses Gedicht nimmt einen ironischen Ausgang: Der Greis pariert die Herausforderung, indem er dem Jüngling bescheinigt, sein Verstand reiche gerade eben für die Zeitungslektüre; die aber – und das spricht für die Position des Jünglings – ist im Gegensatz zu den vom Greis favorisierten Schriften der Alten täglich neu und aktuell. Im Gegensatz dazu findet sich in Der alte Dichter und der junge Criticus ein Agon inszeniert, der ganz auf der Veränderung des poetischen Geschmacks und überhaupt der Dichtkunst auf baut. Hinter letzterem verbirgt sich der einschneidende Generationenkontrast, ferner auch der Kontrast zwischen zwei gegenläufigen Verhaltenshorizonten: Ein Jüngling stritt mit einem Alten Sehr lebhaft über ein Gedicht. Der Alte hielts für schön; der Jüngling aber nicht, Und hatte Recht, es nicht für schön zu halten. Er wies dem Alten, Schritt für Schritt, Hier bald das Matte, dort das Leere, Und dachte nicht, daß der, mit dem er stritt, 53 | Gellert: Der junge Gelehrte, S. 177f. Zu diesem Gedicht siehe Claude D. Conter: Generationenwechsel – Medienwechsel. Zu Gellerts Gedicht Der junge Gelehrte, in: Oliver Jahraus, Stefan Neuhaus (Hg.): Lyrik lesen! Eine Bamberger Anthologie, Düsseldorf 2000, S. 36-42.

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Guglielmo Gabbiadini Der Autor des Gedichtes wäre. Wie, sprach der Alte, ganz erhitzt, Sie tadeln Ausdruck und Gedanken? Mein Herr, Sie sind zu jung, mit einem Mann zu zanken, Den Fleiß, Geschmack und Alter schützt. Da man Sie noch im Arm getragen, Hab ich der Kunst schon nachgedacht. Und kurz: was würden Sie wohl sagen, Wenn ich die Verse selbst gemacht? Ich, sprach er, würde, weil Sie fragen, Ich würde ganz gelassen sagen, Daß man, Geschmack und Dichtkunst zu entweyhn, Oft nichts mehr braucht, als alt und stolz zu seyn. 54

Allerdings tritt nun ein weiterer Aspekt in den Vordergrund: In Gellerts Charakteren erweist sich das Bild des Jünglings sogleich durch eine radikale Ambivalenz gekennzeichnet. Das Urteil ihm gegenüber schwankt zwischen zwei Extremen bzw. möglichen Interpretationen, wie schon der Titel des betreffenden Charakterportraits zeigt: Der Jüngling von der guten und schlimmen Seite. Gleichsam kontrapunktisch assoziiert Gellert mit einer Reihe positiver Merkmale eine Reihe negativ eingefärbter Bemerkungen, so dass das Ansehen des Jünglings stets Gefahr läuft, ins Zwielicht zu geraten. Dieser Fall tritt beispielsweise dann ein, wenn er schreibt: Der Leichtsinn, eine unstete Ruhmbegierde, eine natürliche Neigung alles hastig nachzuahmen, ein gewaltiger Trieb zu sinnlichen Vergnügungen, leiten und führen ihn, bemächtigen sich seines Herzens und leicht auch seines Verstandes zum Dienste der Thorheit. Er ist leichtgläubig, bald gewonnen, aber eben so bald beleidiget, und schnell zur Ahndung. Er nähert sich gern der Verschwendung, und verachtet die Sparsamkeit. Er fühlet den täglichen frischen Anwachs seiner Kräfte und wagt sie kühnlich daran, unbesorgt für seine Gesundheit und oft für sein Leben. 55

Augenscheinlich reiht sich Gellert mit dieser Darstellung reibungslos in eine gefestigte ikonographische und literarische Tradition ein, die den Jüngling seit der Antike als ein praktisch nicht definierbares Hell-Dunkel-Wesen darstellt, ein Wesen, das stets von neuem einen unauslöschlichen Restverdacht hervorruft. Der Jüngling »scheut gemeiniglich den Aufseher, will sich selbst Gesetz und Klugheit seyn, und stürzet sich in Fehler«56: Mit dieser Formulierung paraphrasiert Gellert ziemlich genau einen berühmten Passus aus Horazens Ars poetica (V. 161-165), 54 | Gellert: Der alte Dichter und der junge Criticus, S. 199. 55 | Gellert: Der Jüngling von der guten und der schlimmen Seite, S. 297. 56 | Ebd.

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und zwar sehr wahrscheinlich durch eine Überarbeitung von Friedrich von Hagedorn vermittelt, mit dem Titel Der Jüngling (V. 1-6). In dem Verweis auf die Flucht vor dem »Aufseher« zeigen sich, wie Walter Hornstein bemerkt hat57, der exakte Wortlaut des Horaz ebenso wie die Hagedorn’sche Bearbeitung: inberbis iuvenis, tandem custode remoto, gaudet equis canibusque et aprici gramine campi, cereus in vitium flecti, monitoribus asper, utilium tardus provisor, prodigus aeris, sublimis cupidusque et amata relinquere pernix. 58

Hagedorns Verse klingen dagegen folgendermaßen: Nun wird der junge Herr von seinem Mentor frey. Wie froh ist ihm die Welt, und die Natur wie neu! Nun sucht er Luft und Lust, schweift aus, flucht allem Zwange: Verschwendet hoffnungsreich: ist zornig, doch nicht lange; Oft scherzhaft, selten klug; voll Sprünge, wie sein Gaul; Auf Tanz und Jagd erhitzt, zu kühler Arbeit faul. 59

Die von Horaz so lebendig entworfenen und in Hagedorns Versen frei nachempfundenen Züge des Jünglingsbildes tragen entscheidend zu dem Verständnis dessen bei, was man zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter einem Jüngling verstand. Das Spiel mit der Intertextualität dient Gellert also vor allem zu einer näheren Charakterisierung der Jünglingsgestalt. In den zitierten Versen steht bereits Horazens Portrait des »iuvenis« durchaus im Zeichen der Ambivalenz, setzt es doch – neben der Freiheit des noch »bartlosen Jünglings« (V. 161) – explizit auf die Attribute seiner Unzuverlässigkeit und seiner triebhaften Exzesse. Einem versierten Horaz-Leser, wie Gellert es war, konnte das sicher nicht entgehen.60 57 | Hornstein: Vom »jungen Herrn« zum »hoffnungsvollen Jüngling«, S. 75. 58 | Horaz: Ars poetica/Die Dichtkunst, übers. und mit einem Nachwort hg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 2008, S. 14: »Der bartlose Jüngling – endlich ist er den Aufpasser los – freut sich an Pferden und Hunden und am Rasen des sonnigen Sportfelds, wachsweich zum Laster zu lenken, halsstarrig gegen die Mahner, säumig, für seinen Vorteil zu sorgen, Verschwender des Geldes, hochgemut und begehrlich und rasch bereit, zu verlassen, was er geliebt hat.« 59 | Friedrich von Hagedorn: Poetische Werke. Mit einer Lebensbeschreibung und Charakteristik und mit Auszügen seines Briefwechsels begleitet von Johann Joachim Eschenburg, Erster Theil: Lehrgedichte und Epigrammen, Hamburg 1800, S. 167f. 60 | Zu Horaz in Leipzig siehe ausführlich Reimar Lindauer-Huber: Rezeption und Interpretation des Horaz an der Universität Leipzig 1670–1730 zwischen Philologie, Philosophie und Poetik, in: Hanspeter Marti, Detlef Döring (Hg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780, Basel 2004, S. 379-407.

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Der neuere Jüngling bewegt sich in den Fußstapfen seiner klassischen Vorgänger. »Cereus in vitium flecti, monitoribus asper« (V. 163): Wachsweich ist der Jüngling für Eindrücke der Verführung, gegenüber Mahnworten harthörig – so konturiert Horaz das psychologische Profil seines »iuvenis«. Bemerkenswerterweise bedient er sich dazu einer Metapher, die auf die ursprüngliche, konkrete Bedeutung des Wortes ›Charakter‹ als ›Prägung‹ zurückgeht, eine Prägung, die jedoch eindeutig negativ gefärbt ist. »Dieß«, bemerkt Gellert, »ist das Bild des Jünglings, wenn man ihn auf der schlechten Seite betrachtet; und dennoch enthält sie bey allen den Fehlern, wodurch sie ihn verunstaltet, die Grundanlage zum guten und nützlichen Menschen.«61 Die Zitate und Paraphrasen aus Horaz, wie im angeführten Fall, ermöglichen – in einer Gesamtschau betrachtet – zum einen eine genauere Bestimmung der biologisch-anagraphischen Eigenschaften des Jünglings, wie zum Beispiel des Alters und der physiologischen Entwicklung. Doch dient die Verbindung zur Antike hauptsächlich zur Darstellung des psychologischen Profils des neueren Jünglings und vor allem zur Beschreibung seiner Affekte und Leidenschaften. Die fiktive Identität des Gellert’schen Jünglings bildet sich daher in erster Linie vor dem Hintergrund des antiken Topos vom anmutigen »iuvenis« heraus, bei dem der Eintritt ins Erwachsenenalter unmittelbar bevorsteht. Aus einer solchen ausgeklügelten Inszenierung ergibt sich ein anthropologisches Jugendbild, das sich radikal von dem unterscheidet, was vor allem in den pietistischen Abhandlungen zur Bildung der Jugendlichen geschrieben und in den Katechismen gepredigt wurde. Die Verse des Horaz enthalten ein beträchtliches Gefahrenpotential für den guten Ruf des neueren Jünglings: Sie beleuchten eine Schattenseite des Jugendlebens, die als Ausgangspunkt zu einer ambivalenten Bewertung seiner Gestalt dienen mag. Gellert registriert in seinem Text minutiös eine solche Ambivalenz und weiß sie zugleich zu bewältigen. Seine Argumentation speist sich auffällig genug aus den anthropologischen und physiologischen Diskussionen um die Mitte des 18. Jahrhunderts.62 Es gilt in erster Linie, jenen horazischen ›Vorwurf‹ als Vorurteil zu entlarven: Sein Blut wallt in seinen Adern, und macht ihn stürmisch und heftig; aber auch begierig nach Leibesübungen, die seine Nerven anstrengen und befestigen, und seinen Körper zur Erduldung der Arbeit und der mannichfaltigen künftigen Beschwerden des Lebens abhärten sollen. Ohne seine Hastigkeit und Flüchtigkeit würde der Ueberfluß seiner Säfte entweder der Gesundheit schaden, oder die Gliedmaßen des Körpers für die Befehle der Seele ungelenkig werden lassen. 63

61 | Gellert: Der Jüngling von der guten und der schlimmen Seite, S. 297. 62 | Hierzu siehe Elena Agazzi: Il corpo conteso. Rito e gestualità nella Germania del Settecento, Milano 2000. 63 | Gellert: Der Jüngling von der guten und der schlimmen Seite, S. 299.

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Der Jüngling zeigt sich hier als Paradebeispiel einer ausgeglichenen Lebensführung, als anthropologisches Exempel einer lebensklugen Diätetik und gleichsam als Gewährsmann eines psychophysischen Erfolgsrezeptes. Das Bekenntnis zu Freude und Gefälligkeit, welches Gellerts Beschreibung durchzieht, bietet seinem Jüngling die Möglichkeit zu einem Distanzgewinn gegenüber den gewöhnlich mit dem Bild des Greises assoziierten Erstickungstugenden des Gehorsams, der Demut und der Askese, zugleich auch gegenüber dem Ideal stoischer Standhaftigkeit und Unempfindlichkeit. Das anthropologische Modell des commercium mentis et corporis (»die Gliedmaßen des Körpers [...] die Befehle der Seele«) bahnt dabei einen neuen Weg zum Entwurf eines allgemeinen, ausgeglichenen Menschenbildes, das seinen Niederschlag in einer Neubestimmung der Jünglingsgestalt findet. Laut Carsten Zelle besteht zwischen Leib und Seele einem solchen Modell zufolge eine ›symmetrische Kommunikation‹64: Die traditionellen cartesianischen Dichotomien und Dualismen werden in diesem anthropologischen Konzept nicht länger als einander entgegengesetzte Prinzipien, sondern als aufeinander bezogene, komplementäre Kräfte verstanden. Bei Gellert findet also offenbar eine »Rehabilitierung« des Jünglingsbildes statt, und das geschieht, indem gezeigt wird, dass – wie Hornstein feststellt – die Jugend »allen Vorurteilen zum Trotz eben doch Tugend« besitze.65 Der Gellert’sche Jüngling erscheint tatsächlich als leuchtendes Beispiel eines neuen, heiteren, unbeschwerten Lebensgefühls, das die Tugend und die Herausforderung der Mäßigung nicht ausschließt, sondern vielmehr voraussetzt. Die verschlüsselten Zitate und Entlehnungen aus dem Werk von Horaz bedeuten nicht bloß ein gelehrtes Maskenspiel oder eine passive Bezugnahme auf ein breit etabliertes Wissen. Sie liefern vielmehr die dichterische und anthropologische Basis zur Entfaltung eines ›tugendfreundlichen‹ Jünglingsideals. Alles komme laut Gellert auf eine gute Kanalisierung der Kräfte an, auf eine behutsame Gestaltung derselben oder, wie es ausdrücklich heißt, auf ›Bildung‹. Folgende Verse beschließen das Portrait des Jünglings und zelebrieren zugleich das Ideal eines tugendhaften Jünglings: So bild, o Jüngling, denn dein Herz, schon in der Jugend; Sieh auf die Weisheit stets, doch mehr noch auf die Tugend! Denk, daß nichts glücklich macht, als die Gewissensruh, Und daß zu deinem Glücke dir Niemand fehlt, als du.66

64 | Vgl. Carsten Zelle: Zur Idee des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert, in: Udo Sträter (Hg.): Alter Adam und neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 45-61. 65 | Hornstein: Vom »jungen Herrn« zum »hoffnungsvollen Jüngling«, S. 50. 66 | Gellert: Der Jüngling von der guten und der schlimmen Seite, S. 300.

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Die Metaphern, die Gellert zur näheren Charakterisierung eines Ideals verwendet, in welchem sich das Gleichgewicht des weisen senex mit der Kraft des leidenschaftlichen puer bzw. iuvenis verbindet, werden aus dem Bereich der Pflanzenwelt bezogen. Der fruchtbringende Baum wird zur Chiffre dieses anthropologischen Ideals: Sein den Sorgen verschloßnes Gemüth erhält ihn in der Heiterkeit, dem Geschäffte, das er erwählet, ganz zu leben; und seine Wißbegierde, ob sie sich gleich anfangs mehr mit den Gegenständen der Sinne und des Gedächtnisses beschäfftiget, sammelt doch eben dadurch Reichthümer zum Gebrauche des Verstandes ein. Sein Charakter ist der fruchtbare Baum im Frühlinge; er treibt starke Zweige, treibt Blätter, Knospen und Blüthen. Ohne die ersten können die letzten nicht hervor kommen; aber wenn alle Blüthen Früchte würden, würde sie der Baum nicht tragen können.67

Die Altersweisheit ist hier einem jungen Menschen nicht vorenthalten, die Sittsamkeit des Jünglings habe vielmehr der Altersweisheit nachzustreben. Dem Jüngling eignet dabei eine sittliche Reife, die über sein zartes Alter hinausgeht. »Heiterkeit«, »Wißbegierde« sowie die »Gegenstände der Sinne« erweisen sich als die besonderen Ausformungen eines Weltbezugs, die das Gellert’sche Jünglingsbild kennzeichnen. Es geht dabei um eine erlösende Entdüsterung des Lebens, d.h. um eine glückliche Selbsterlösung des Menschen, die aus eigenem Antrieb geschieht.

J ÜNGLINGE ALLER L ÄNDER , VEREINIGT EUCH! Für eine derartige Rehabilitierung des Jünglingsbildes konnte Gellert von einem bedeutenden Organ der zeitgenössischen moralisch geführten Publizistik Gebrauch machen, und zwar von der Wochenschrift Der Jüngling, die in Leipzig 1746–1748 regelmäßig im Verlag Johann Wendler erschien.68 Dem am Ende der 1740er Jahre bereits breit gefächerten Leipziger Lesepublikum präsentiert sich diese Wochenschrift als das eigenständige, wöchentlich erscheinende Werk eines fiktiven Jünglings, der »nur denjenigen Personen unsrer Zeit zu gefallen« sucht, »welche durch ihren Geschmack das Recht erlangt haben, einen Ausspruch zu 67 | Ebd. 68 | Der Jüngling wurde dann mehrmals in Buchform verlegt: Die erste einbändige Buchausgabe erschien in Leipzig im Jahr 1747 anlässlich der Michaelismesse im Johann Wendler Verlag und enthält die Stücke I-XL. Die zweite Buchausgabe in zwei zusammengebundenen Bänden enthält im zweiten Teil die Fortsetzung der Wochenschrift (Stücke XLI-LXXII). Sie erschien im Jahr 1768 in Königsberg, Mietau und Leipzig bei Johann Jacob Kanter. Die dritte Ausgabe erschien ebenfalls bei Kanter in Königsberg im Jahr 1775. Zitiert wird Der Jüngling fortan aus der zweiten Buchausgabe.

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thun, ob man gefallen kann, oder nicht«.69 Vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Verhältnisse im Leipzig der 1740er Jahre 70 besteht die anfängliche Aussageabsicht des Jünglings darin, eine allgemein anerkannte Bestimmung der eigenen fiktiven Identität zu erreichen. Das Profil und die Persönlichkeit dieses jungen verschmitzten Schriftstellers, Dichters und Publizisten, der die endgültige Konkretion einer Selbstdarstellung bewusst hinauszögert, stellen den argumentativen Ausgangspunkt dieser Wochenschrift dar. Eigenwillig und eigenartig genug – die Stimme des Leipziger Jünglings erweist sich bei genauerem Hinsehen und aller ausgeklügelten Fiktion zum Trotz keineswegs als die sprachliche Entsprechung eines monolithischen Ichs, sondern als diskursiver Niederschlag einer kollektiven Denkschmiede, einer in vielfacher Hinsicht polyphonen Autorengemeinschaft, der vier prominente Vertreter der zeitgenössischen deutschen Literaturszene angehörten: der damals 24-jährige Johann Andreas Cramer, der ebenfalls 24 Jahre zählende Johann Arnold Ebert (1723-1795), der 23-jährige Nicolaus Dietrich Giseke (1724-1765) und der um ein Jahrzehnt ältere Gottlieb Wilhelm Rabener (1714-1771). In seiner Zehnten Vorlesung fand Gellert für diese Wochenschrift Worte des Lobes. Aus ihr leitete er die Leitlinien seines eigenen Programms einer Neudefinition der Figur des Jünglings ab. »Dieses Wochenblatt«, schreibt Gellert, das mit so vielem Geschmacke geschrieben und schon 1746 hier in Leipzig herausgekommen ist, verdiente, jungen Lesern bekannter zu seyn, als es ist. Ich bin nicht sehr dafür eingenommen, daß man in seinen akademischen Jahren schon ein Autor wird. Aber wenn man es mit so vielem Glücke und mit so strenger Kritik der Freunde wird, wie ehedem die beiden vornehmsten Verfasser des Jünglings, die nachher berühmte geistliche Redner geworden sind, so leidet es eine rühmliche Ausnahme.71

Der Wochenschrift fehlt es Gellert zufolge lediglich an Eigenschaften wie Ausgewogenheit und Gleichgewicht, doch gerade der damit einhergehende überbordende Schwung speise ihre eigentliche Quelle der Neuheit und Besonderheit. Wie kaum eine zweite Wochenschrift verfügt Der Jüngling tatsächlich über die Kraft und den appellativen Gestus einer verwegenen, in verschiedener Hinsicht geradezu unverschämten Provokation.72 Nicht nur die damals allgemein anerkannten 69 | Der Jüngling. Zuschrift an die Mademoiselle G**r, S. *3r. 70 | Wolfgang Martens: Zur Einführung. Das Bild Leipzigs bei den Zeitgenossen, in: ders. (Hg.): Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, Heidelberg 1990, S. 13-22. 71 | Gellert: Zehnte Vorlesung, S. 125. 72 | Hierzu siehe Guglielmo Gabbiadini: Pferde, Hunde und Philosophie. Antike Jugendbilder und zeitgenössische Anthropologie in der Leipziger Moralischen Wochenschrift Der Jüngling (1747–1748), in: Misia S. Doms, Bernhard Walcher (Hg.): Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum, Bern u.a. 2012, S. 137-168, hier bes. S. 137f.

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Gattungskonventionen und die gängigen Erwartungen des lesenden Publikums werden darin programmatisch in Frage gestellt, sondern auch und vor allem manche Grundüberzeugungen des damaligen common sense, die mit einem unbändigen Erneuerungspathos und herrlich amüsierten Empörergesten als einseitige Vereinfachungen der Wirklichkeit bzw. als leichtfertige Auswege aus dieser entlarvt und erbarmungslos verspottet werden. In erster Linie betrifft dies das Verhältnis zwischen den Generationen. In der anthropologischen Konstruktion, die ihm zugrunde gelegt wird, ist Der Jüngling eine »neue Kreatur«, die es am Ende der 1740er Jahre in Leipzig noch zu konturieren galt. Dezidiert stellt sich der Jüngling, ähnlich wie bei Gellert, als ein sinnlich-sittliches Misch- bzw. Grenzwesen vor. Er lebe gleichsam in einem Schwellenzustand, einem »gewissen unbestimmten und glücklichen Zustande«, in dem er sich – wie er selbst schreibt – einerseits »keinem anderen Geschäfte so sehr als der Freude widmen kann«, in dem jedoch andererseits »die Sinne noch willig und stark genug sind, die vernünftigen und rechtmäßigen Forderungen der Seele aufzunehmen und zu erfüllen«.73 Jedoch, anders als beim Jünglingsbild der Antike, ist Jüngling-Sein nun nicht mehr an ein bestimmtes Alter gebunden: Jünglingshaftigkeit avanciert zu einer allgemein-menschlichen, altersunspezifischen Möglichkeit. So heißt es beispielsweise im Ersten Stück: Wenn ich einen Autor finde, der den Verstand unterrichtet, indem er den Witz und die Einbildungskraft belustiget, wenn sich alle Allegorien, die man von dem blühenden, angenehmen und muntern Gesichte eines Jünglings hernehmen kann, auf ihn schicken, so sage ich von ihm: Das ist ein Jüngling! Mir verschlägt es nichts, ob er zwanzig, oder fünfzig Jahre alt ist.74

Von der anfänglichen, rein anagraphischen Bedeutung wird das Jüngling-Sein zu einer vom Alter unabhängigen Lebensweise, die einer aufgeräumten Weltansicht entspricht. Nicht die »Begierde, der Welt zu dienen«, nicht der Wunsch, »Recht und Gerechtigkeit in der gelehrten Republik zu handhaben« sind die »Bewegungsgründe, die den Jüngling bewogen haben, daß er ein Schriftsteller wird«.75 Ebenso ungern will er in die Rolle eines grämlichen Sittenlehrers oder gar eines störrischen Weltverbesserers schlüpfen. Man sei »eben so unbillig«, wenn man »fordert, daß alle wöchentlichen Schriftsteller offenbare Sittenrichter seyn sollen, als es unbillig seyn würde, wenn man von allen Menschen verlangte, daß sie öffentliche Ämter bekleiden sollten«. 76 Bewusst untertreibend fragt sich der Jüngling weiter: »Die Welt zu bessern? das ist mir nicht eingefallen; denn es gefällt mir in der Welt ganz wohl.«77 Diese scharfe Pointe gegen jedwedes ideo73 | Der Jüngling. Stück XXXI, S. 228. 74 | Der Jüngling. Stück I, S. 7. 75 | Der Jüngling. Stück I, S. 2. 76 | Der Jüngling. Stück I, S. 6. 77 | Ebd.

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logische Verbesserungsprojekt im Sinne der rein auf klärerischen Haltung geht bei ihm Hand in Hand mit einer humorvollen Kritik am Weltbild des ›Greisen‹, woraus nicht selten eine intergenerationale Polemik entsteht, die nur allzu gern in kunstvolle Satire nach dem Vorbild der menippeischen Satire oder aber in eine gewollt sophistische, auf Syllogismen und verkomplizierten logischen Ableitungen basierende Beweisführung übergeht. So liest man beispielsweise noch im ersten Stück: [W]ie Jünglinge immer ganz zufrieden mit einander sind, Greise sich über die Verschlimmerung der Zeiten, und vornehmlich der Jugend beschweren [...], so kann man es als ein gewisses Zeichen annehmen, daß der Schriftsteller, dem ein anderer misfällt, weil er jung ist, ein alter abgelebter Greis seyn müsse, der mit einem Fuße schon im Grabe steht.78

Jugend und Alter werden, anders als beim Gellert der Moralischen Vorlesungen und der Charaktere, noch als zwei sich bekriegende Heere betrachtet. Der Greis, verstanden als pars pro toto einer bestimmten Menschenkategorie und eines bestimmten, zumeist mürrischen Gemüts, wird damit zum bevorzugten Feindbild der pointierten Tiraden des Jünglings.

C OUP DE THÉ ÂTRE : M ÄDCHEN UND G REISIN Das Verhältnis von Jüngling und Greis findet sich in Gellerts Werk schließlich auch in einer weiblichen Version bzw. Variante, die – um auf Curtius zurückzukommen – den Zusammenhang zwischen »Greisin und Mädchen« inszeniert. 79 In seinem »Nachspiel« Die kranke Frau (1748) entwirft Gellert mit glänzender Kraft die Figur einer unglücklichen Dame, Frau Stephan, die einer düsteren Hypochondrie und deren verdrießlichen Folgen nur allzu gern anheim zu fallen scheint.80 Ort der Handlung ist Leipzig, anno 1748. Die Dame, »[l]a Malade Imaginaire de M. Gellert«81, wie sie ein anonymer Kommentator aus Paris bezeichnete, will die »Freyheit« genießen, »ohne Einwurf krank zu seyn« (KF 267). »Uebelkeiten« aller Art, ein »starkes Wallen im Geblüte«, »Herzklopfen«, »kurze[r] Atem«, »Bangigkeit« und »Seitenstechen« sind die Symptome ihrer »Maladie« 78 | Ebd. 79 | Curtius: Europäische Literatur, S. 112-115. 80 | Christian Fürchtegott Gellert: Die Kranke Frau. Ein Nachspiel [1748], in: ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Bernd Witte, Bd. 3: Lustspiele, Berlin/New York 1988, S. 263-293. Fortan wird die Komödie mit der Sigle KF und Seitenzahlen in Klammern zitiert. 81 | Anonym: Spectacles. Sylvie, Pastorale Allemande en un Acte. Par M. C. F. Gellert, in: Journal Etranger. Ouvrage Périodique a Paris (1755), S. 86f, zit.n. Gellert: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 419.

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(KF 268f.). Selbst der »Doctor« gerät »in ein tiefes Nachsinnen«; er weiß »nicht, was er dieser Krankheit für einen Namen geben« (KF 270) soll. Nach möglichen Ursachen wird überall gefahndet, und etliche Stimmen melden sich zu Wort. Jeder mischt sich ein – das hypochondrische ›malum‹ der Frau Stephan geht ihre ganze Familie an, womöglich die ganze Nachbarschaft, geradezu die ganze Stadt. Es liegt in der Luft, ist eine Zeitkrankheit mit verschwimmenden Konturen. Wie die Zuschauer wissen, wurzelt das Problem der Frau Stephan in ihrer mürrischen »Gemüthsart« (KF  271). Das Problem steigert sich zum »Paroxysmus« (KF  283), sobald sich die »stolze Frau Richardinn«, Frau Stephans nicht sonderlich sympathische Schwägerin, in einem anderen Kleid, nämlich ihrer neuen »Andrienne« (KF 268), zeigt. »Wenn Sie nur die Frau Richardinn hätten sehen sollen!«, sagt Frau Stephan zur Jungfer Philippine: »Sie hatte von dem neumodischen Stoffe, der in dieser Messe erst zum Vorschein gekommen ist, eine Andrienne an, und hatte sich recht in sich selbst verliebt. [...] [S]ie denkt, sie ist besser, als ich, weil ich noch keine solche Andrienne habe [...].« (KF 268) – Das ist das Problem, welches Frau Stephan in wachsender Verzweiflung auseinanderreißt! Leipzig, als diejenige Stadt, die auf kursächsischem Territorium »am behändigsten die jeweilige Laune des feinen Geschmacks« aufnimmt 82, ist für eine solche Begebenheit eine wahrhaft adäquate Kulisse. Der Neid von Frau Stephan, so willkürlich und so unbegründet er sich auch darstellen mag, ist groß, um nicht zu sagen grenzenlos, und beinahe pathogen sind die Verbitterung und die Verwirrungen, die er bewirkt. Die »Tropfen des Doctors« (KF 288), das »Elixir« (KF 277) von Herrn Richard und die Handlesekunst des Herrn Wahrmund können nicht behilflich sein. Das Leiden der »armen kranken Frau« lässt sich so nicht »curiren« (KF 268). Denn das Unvermögen, sich aktiv an den Ritualen der städtischen Geselligkeit zu beteiligen, wird bei ihr zur Quelle einer fundamentalen Unbehaglichkeit, die ihre Welterfahrung vergiftet und »sauer« (KF  267) macht. Und schuld daran ist eine »Andrienne«! Wie soll man so jemanden denn noch beschwichtigen? Zwischen »Universalmedicin« (KF  279) einerseits und »chiromantischen Wissenschaften« (KF  276) andererseits schlägt die scharfsinnige Philippine einen dritten Weg ein – den therapeutischen Weg einer Lesekur.83 Nüchtern und

82 | Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – Hölderlin, Berlin 1928, S. 13. 83 | Hierzu siehe Anett Lütteken: » O wundervolle Wasserquelle! « Literatur und Kur im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Heidi Eisenhut, Anett Lütteken, Carsten Zelle (Hg.): Heilkunst und schöne Künste. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 60-85, hier bes. S. 72. Zu Die kranke Frau siehe auch Singh: Das Glück ist eine Allegorie, S. 150: »Diese Datierung [scil. 1747] wird gestützt und präzisiert durch die Erwähnung der moralischen Wochenschrift Jünglinge [sic!] im ersten Auftritt der Kranken Frau, welche in den Jahren 1747 und 1748 von Johann Andreas Cramer,

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schlicht, doch nicht weniger einschlägig formuliert Philippine ihr Rezept folgendermaßen: Lassen Sie die Frau Richardinn tragen, was sie will. Die Kleider bedecken doch ihre Fehler nicht. Ich will Ihnen indessen das neue Stück von dem Jünglinge vorlesen. Es enthält eine Ode an den Frühling. Sie gefällt mir vortrefflich; und ich hoffe, daß Ihnen die Tasse Caffe recht gut dabey schmecken soll. (KF 268)

Die ungebrochene Vitalität des Jünglings, vor allem seine Technik der Leidvermeidung und Überwindung der Unlust stellen den Grund dar, weshalb Philippine die entspannte und entspannende Lektüre der Wochenschrift, begleitet von der ertüchtigenden Wirkung eines starken Kaffees, als das beste Mittel für die »gewaltigen Uebelkeiten« (KF 267) der Hypochondrie vorschlägt. Im Unterschied zu Frau Stephans höhnischer Desavouierung der Welt verweist die kluge Jungfer auf den uneingeschränkten Lebens- und Schönheitsgenuss des Jünglings. Frau Stephan sträubt sich jedoch in ihrer Sturheit gegen Philippines therapeutischen Vorschlag. Sie gehört zu dem unglücklichen Genus jener Greise, die von Hinwendung zum Glück, vom Eudämonismus nichts hören wollen. Das in ihrem Fall einzig wirksame Medikament, d.h. die Lektüre des Jünglings, wird abgelehnt, und diesmal nicht, wie üblich, weil die »Arzney« (KF 283) zu bitter schmeckt, sondern weil sie zu süß anmutet und Frau Stephan daher suspekt erscheint. Von dieser Süße zeugt gerade und auf signifikante Weise die Ode an den Frühling aus dem XXII. Stück der Wochenschrift 84, die von Jungfer Philippine erwähnt wird. Besonders bemerkenswert sind dabei die Verse, in welchen die »lange traurigen Fluren« durch die Ankunft des »göttlichen Lenzes«, des »Jünglings unter den Zeiten«, in den gemäßigten Rhythmus eines fröhlichen Landlebens aufgenommen werden und am Leitfaden von Wein und eleganter Geselligkeit, »fern von der Stadt und ihren lärmenden Narren«, die Heilung der »süßen Klagen der Liebe« erreicht wird. Angesichts der aufgehenden Sonne, des Duft- und Farbenspiels der »stolzen Narcissen« sowie – per analogiam – der »blühenden Jugend« bekennt sich der Jüngling empathisch zum Leben der gerade erwachenden Natur: »Ich Jüngling fühle dich, Lenz! Mit ihrer ganzen Empfindung/ Fühlt meine muthige Seele nur dich«. Anakreontische Heiterkeit contra greisenhafte Hypochondrie – so ließe sich die ratio einer derartigen Lesekur zusammenfassen. In dieser finden wir einmal mehr die Gegenüberstellung eines düsteren Weltbilds, das Frau Stephan mit der affektfeindlichen Macht ihrer Hypochondrie verkörpert, und eines kühnen, kunstvoll arrangierten Experiments mit der Freude andererseits, das von einem lebensbejahenden Jüngling durchgespielt wird. In der Weltanschauung des Jünglings wird die Natur mit friedvollem Sinn und Freude erlebt. Johann Arnold Ebert, Nikolaus Dietrich Giseke und Gottlieb Wilhelm Rabener ebenfalls bei dem Leipziger Verleger Johann Wendler veröffentlicht wurde.« 84 | Der Jüngling. Stück XXII, S. 163-166.

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Die Landschaft, welche ganz besonders in der Ode an den Frühling den Jüngling umgibt, ja gar umhegt, und der Mensch, der sich in ihr bewegt, sind keine guten Zeugen des alten Mythos vom Sündenfall. Das alte Jammertal, das von einer bestimmten christlichen Tradition in den Mittelpunkt gerückt wurde, verwandelt sich in ein irdisches Paradies. Die düsteren Visionen des pietistischen Menschenbilds, die entsprechenden Töne einer erst im Tod heilbaren Kümmernis weichen nun einem diametral entgegengesetzten Lebensentwurf, der vom bangen Gefühl des Ausgeliefertseins an greisenhafte Hinfälligkeit und Vergänglichkeit nichts mehr wissen will, sondern vielmehr die anmutige Gefälligkeit einer aufgeräumten Lebensweise zelebriert. Gellert nimmt die über Jahrhunderte anhaltende Tradition des Topos von ›Jüngling und Greis‹ auf, reichert sie mit dem anthropologischen Wissen seiner Zeit an und verleiht ihr diskursive Sprengkraft, indem er deren ironisches, scherzhaftes und zugleich ehrfurchtsloses Potential unterstreicht. Die herkömmliche Vorstellung einer starren Lebenseinteilung in verschiedene, deutlich voneinander abgegrenzte Altersphasen85 weicht nun einer neuartigen Auffassung des Alters, verstanden als Daseinsmodus oder Lebensstil. Der Topos von ›Jüngling und Greis‹ wird so innerhalb der gleichermaßen stabilen wie instabilen Sphäre der conditio humana zum anthropologischen Sinnbild eines Kampfes zwischen weltfremder Starrheit und lebensbejahender Flexibilität.

L ITER ATUR Primärtexte Cramer, Johann Andreas; Giseke, Nikolaus Dietrich: Der Jüngling. Wochenschrift. Buchausgabe der Stücke I-XL, Leipzig 1747. Cramer, Johann Andreas; Giseke, Nikolaus Dietrich: Der Jüngling. Wochenschrift. Buchausgabe der Stücke XLI-LXXII, Königsberg u.a. 1768. Cramer, Johann Andreas; Giseke, Nikolaus Dietrich: Der Jüngling. Wochenschrift. Buchausgabe, Königsberg 1775. Gellert, Christian Fürchtegott: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Bernd Witte, Bd. 1: Fabeln und Erzählungen, hg. v. Ulrike Bardt, Bernd Witte unter Mitarbeit von Tanja Reinlein, Berlin/New York 2000. Gellert, Christian Fürchtegott: Gesammelte Schriften Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Bernd Witte, Bd. 3: Lustspiele, hg. v. Bernd Witte, Werner Jung, Elke Kasper, John F. Reynolds, Sibylle Spät, Berlin/New York 1988.

85 | Vgl. hierzu die Einleitung zum Band Dorothee Elm; Thorsten Fitzon; Kathrin Liess; Sandra Linden (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009, S. 1-18.

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Gellert, Christian Fürchtegott: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. v. Bernd Witte, Bd. 6: Moralische Vorlesungen. Moralische Charaktere, hg. v. Sibylle Späth, Berlin/New York 1992. Hagedorn, Friedrich von: Poetische Werke. Mit einer Lebensbeschreibung und Charakteristik und mit Auszügen seines Briefwechsels begleitet von Johann Joachim Eschenburg, Erster Theil: Lehrgedichte und Epigrammen, Hamburg 1800. Horaz: Ars poetica/Die Dichtkunst, übersetzt und mit einem Nachwort hg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 2008.

Sekundärtexte Agazzi, Elena: Il corpo conteso. Rito e gestualità nella Germania del Settecento, Milano 2000. Bottiroli, Giovanni: La ragione flessibile. Modi d’essere e stili di pensiero, Torino 2013. Conter, Claude D.: Generationenwechsel – Medienwechsel. Zu Gellerts Gedicht Der junge Gelehrte, in: Oliver Jahraus, Stefan Neuhaus (Hg.): Lyrik lesen! Eine Bamberger Anthologie, Düsseldorf 2000, S. 36-42. Cramer, Johann Andreas: Christian Fürchtegott Gellerts Leben, Leipzig 1774. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 81973. Elm, Dorothee; Fitzon, Thorsten; Liess, Kathrin; Linden, Sandra (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009. Franz, Marie-Louise von: Der ewige Jüngling. Der puer aeternus und der kreative Genius im Erwachsenen, München 1987. Gabbiadini, Guglielmo: Pferde, Hunde und Philosophie. Antike Jugendbilder und zeitgenössische Anthropologie in der Leipziger Moralischen Wochenschrift Der Jüngling (1747-1748), in: Misia S. Doms, Bernhard Walcher (Hg.): Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum, Bern u.a. 2012, S. 137-168. Hillman, James: Puer aeternus, aus dem Italienischen von Adriana Bottini, Milano 1999. Hornstein, Walter: Vom »jungen Herrn« zum »hoffnungsvollen Jüngling«. Wandlungen des Jugendlebens im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1965. Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – Hölderlin, Berlin 1928. Košenina, Alexander: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Auf klärung, Göttingen 2003. Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008. Küpper, Thomas: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850,Würzburg 2004.

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Lindauer-Huber, Reimar: Rezeption und Interpretation des Horaz an der Universität Leipzig 1670-1730 zwischen Philologie, Philosophie und Poetik, in: Hanspeter Marti, Detlef Döring (Hg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680-1780, Basel 2004, S. 379-407. Lütteken, Anett: »O wundervolle Wasserquelle!« Literatur und Kur im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Heidi Eisenhut, Anett Lütteken, Carsten Zelle (Hg.): Heilkunst und schöne Künste. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 60-85. Martens, Wolfgang: Lektüre bei Gellert, in: Herbert Singer, Benno von Wiese (Hg.): Festschrift für Richard Alewyn, Köln/Graz 1967, S. 123-150. Martens, Wolfgang: Zur Einführung. Das Bild Leipzigs bei den Zeitgenossen, in: ders. (Hg.): Leipzig. Auf klärung und Bürgerlichkeit, Heidelberg 1990, S. 13-22. May, Kurt: Das Weltbild in Gellerts Dichtung, Frankfurt a.M. 1928. Meyer-Krentler, Eckhardt: »... weil sein ganzes Leben eine Moral war.« Gellert und Gellerts Legende, in: Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, München 1990, S. 221-257. Ricord, Marine: »Les Caractère« de La Bruyère ou les exercices de l’esprit, Paris 2000. Roth, Lutz: Die Erfindung des Jugendlichen, München 1983. Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Auf klärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. Singh, Sikander: Das Glück ist eine Allegorie. Christian Fürchtegott Gellert und die europäische Auf klärung, München 2012. Späth, Sybille: Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie, in: Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, München 1990, S. 151-171. Witte, Bernd: »Die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen.« Gellert als Fabeldichter, in: Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, München 1990, S. 30-50. Zelle, Carsten: Zur Idee des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert, in: Udo Sträter (Hg.): Alter Adam und neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 45-61.

Figurationen der älteren Ledigen in den Kriminalromanen Agatha Christies und Ingrid Nolls Maike Rettmann

»Ältere Frauen sind im Kriminalroman keine Seltenheit« 1, schreibt Heike Hartung in ihrer Untersuchung über alte Frauenfiguren in der Detektiverzählung und diesem Befund kann ohne Umschweife zugestimmt werden. Wir kennen E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi aus der gleichnamigen Novelle von 1820 oder die Witwe Jeschke aus Fontanes Unterm Birnbaum (1885) als frühe Entwürfe betagter Amateurdetektivinnen im deutschsprachigen Raum. In den späten 1920er Jahren, dem Golden Age des britischen Kriminalromans, gibt Agatha Christies Hobby-Ermittlerin Miss Marple ihr literarisches Debüt und avanciert im Verlauf von unzähligen Kurzgeschichten und zwölf Romanen zur Kultfigur der Detektivliteratur. 1988 beginnt Doris Gerckes ergraute Polizeikommissarin Bella Block in der BRD mit ihren kriminalistischen Nachforschungen (Weinschröter, du mußt hängen. Ein Bella Block Roman) und Ingrid Noll konzipiert 1991 mit Rosemarie Hirte aus ihrem Romanerstling Der Hahn ist tot die erste von zahlreichen Mörderinnen ihres Œvres als alternde Frau. Diese Figuren markieren beispielhaft die Spannbreite für mögliche Rollenbesetzungen alter und alternder Frauenfiguren in der Kriminalliteratur, sind aber gleichermaßen über ein Merkmal verbunden, das sie, neben ihrem fortgeschrittenem Alter, allesamt in auffälliger Weise teilen: Gemeint ist ihr Status als alleinstehende, unverheiratete Frau.

1 | Heike Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹. Lebensgeschichten und alte Frauen im Detektivroman, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Theorien und Geschichten des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 191-210, hier S. 191.

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D IE GESELLSCHAF TLICHE D ENUNZIATION DER ÄLTEREN L EDIGEN Noch weit bis ins 20. Jahrhundert galt die Ehe als normative Vorgabe im weiblichen Lebenslauf.2 Existenzentwürfe jenseits der für die Frau vorgesehenen Rolle als liebende und gehorsame Ehefrau und Mutter wurden mit dem zur Verfügung stehenden Repertoire gesellschaftlicher Denunziationsmechanismen geahndet: »Herabwürdigung, Diskriminierung und Ausgrenzung«3 waren die Folgen, mit denen die Ledige, die das Heiratsalter überschritten hatte, rechnen musste. Die Verunglimpfung als ›alte Jungfer‹ oder ›spätes Mädchen‹ im deutschsprachigen Raum, in Großbritannien als ›old maid‹ oder ›spinster‹, erscheint in diesem Kontext als soziales Druckmittel, die Normabweichlerinnen an die Forderung, ihre gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, zu erinnern, und stärkt gleichermaßen den Verpflichtungscharakter patriarchaler Rollenvorgaben gegenüber potentiellen Nachahmerinnen.4 Mit dem Begriff ›alte Jungfer‹ ist damit ebenso ein misogyner Diskurs bezeichnet wie auch eine soziale Altersqualifizierung, die sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Zeit und Gesellschaft an deren normativem kalendarischen Heiratsalter orientiert.5 Das ›Alter‹ alter Jungfern ist dabei nicht zu verwechseln mit Hochaltrigkeit. Sie sind nicht alt in biologischem Sinne, sondern in relativer Perspektive, nur insofern, als sie über den gesellschaftlich normierten Zeitraum für eine Eheschließung hinaus unverheiratet bleiben, ein eigentlich mit Jugend assoziiertes soziales Lebensstadium aufrechterhalten, für das die ›alte Jungfer‹ – die einem Oxymoron angenäherte Begrifflichkeit schließt dies bereits ein – zu alt ist. So definiert der Mediziner Julius Weiß in dem von ihm mit herausgegebenen Lexikon über Mann und Weib aus dem Jahre 1890: A l t e J u n g f e r – der Begriff muss eigentlich etwas schärfer umschrieben werden. Alt ist nicht greisenhaft. Die Jungfer ist alt, wenn sie in das dreißigste Lebensjahr eintritt, und sie hat das Recht auf die Bezeichnung »alte Jungfer«, solange ihre Geschlechtsreife währt, solange sich allmonatlich reife Eichen vom Eierstocke loslösen und in die Gebärmutter wandeln, solange die monatliche Regel vorhanden ist. Haben diese Vorgänge aufgehört, dann 2 | Vgl. Katrin Baumgarten: Hagestolz und alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene, Münster 1997, S. 1. 3 | Ebd. 4 | Vgl. ebd. Die abschreckende Qualität des Altjungfern-Diskurses betonen auch Nina Auerbach: Foreword, in: Laura L. Doan (Hg.): Old Maids to Radical Spinsters. Unmarried Women in the Twentieth-Century Novel, Illinois 1991, S. IX-XV, hier insbesondere S. XI, und Carla T. Kungl: Creating the Fictional Female Detective. The Sleuth Heroines of British Women Writers 1890-1940, Jefferson/London 2006, S. 83. 5 | Vgl. dazu Gerd Göckenjan, Angela Taeger: Matrone, Alte Jungfer, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 30 (1990), S. 43-79, hier insbesondere S. 44.

Figurationen der älteren Ledigen in den Kriminalromanen A. Christies und I. Nolls unterscheidet sich die alte Jungfer nicht mehr von der Matrone, ihre Geschlechtstätigkeit ist erloschen und kann auch durch den Mann nicht mehr erweckt werden.6

Zwar tritt die Ledige mit dem Verlust ihrer Reproduktionsfähigkeit aus dem unmittelbaren Zielbereich gesellschaftlichen Drucks – sie ist nun weder als Ehefrau und Sexualpartnerin noch als Mutter mehr interessant –, doch auch jenseits der Marke des Klimakteriums vereinnahmt man sie im 19. Jahrhundert allzu gerne als abschreckendes Symbol einer irreversibel verfehlten Lebensweise. In der vielkritisierten Abhandlung des englischen Essayisten William Rathbone Greg über die Frage Why are Women Redundant? von 1862 etwa wird die ältere Alleinstehende als denkbar bedauernswerte Existenz imaginiert, die, halt- und orientierungslos im Umgang mit ihrer Zeitsouveränität, emotional ebenso verkümmert wie finanziell zerrüttet, ein vereinsamtes und sinnentleertes Dasein fristet: »[There are, M. R.] old maids, with just enough income to live upon, but wretched and deteriorating, their minds narrowing, and their hearts withering, because they have nothing to do, and none to love, cherish, and obey.« 7 Und bei Weiß heißt es schließlich: »[…] alle schlechten Eigenschaften des Greisenalters des Weibes verzehnfachen sich, wenn die Jungfer in die hohen Jahre kommt.« 8 In der älteren ›alten Jungfer‹ verbinden sich damit zwei negative Weiblichkeitsbilder, das der alten Frau und das der Ledigen, potenzierend zu einer abschreckenden Symbolfigur. Anlass für Gregs Überlegungen ist der »statistische[.] Frauenüberschuss[.]«9 seiner Zeit, der die Ehe als primären weiblichen Existenzort in die Krise geraten ließ. Insbesondere die Frauen der Mittelklasse standen ohne einen verdienenden Ehemann vor einem Versorgungsproblem. Wo der ledig Gebliebenen dieser Schichten noch bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die durchaus als legitim angesehene Möglichkeit bereitstand, als »Arbeitskraft« oder »Tante« 10 in ihrer Herkunftsfamilie zu verbleiben, dezimierte die nun rapide fortschreitende Technisierung der Haushaltsabläufe den Nutzen personeller Arbeit im häuslichen Bereich. »So wurde die unverheiratet gebliebene Tochter, Schwester oder Cousine als mithelfender Hausgenosse zusehends überflüssig« und schließlich zu nichts mehr als einer »finanzielle[n] Belastung«.11 Dass solche ›überflüssigen Frauen‹ zu ihrer Lebenssicherung konsequenterweise aus dem weiblich-häuslichen Bereich in die Männern vorbehaltene Berufswelt vordrangen, in den mittleren und verarmten 6 | Julius Weiß: Das Weib als alte Jungfer, in: Robby Koßmann, Julius Weiß (Hg.): Mann und Weib. Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart, Stuttgart u.a. 1890, S. 416-423, hier S. 420. 7 | William Rathbone Greg: Why are Women Redundant?, London 1869, S. 6. Erstmals veröffentlicht in: National Review 14 (1862), S. 434-460. 8 | Weiß: Das Weib als alte Jungfer, S. 422. 9 | Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹, S. 197. 10 | Baumgarten: Hagestolz und alte Jungfer, S. 143 11 | Ebd.

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oberen Schichten etwa einen schmalen Lohn als Gouvernante oder Gesellschafterin verdienten12, war konservativen Stimmen wie Greg alles andere als Recht. Im Vokabular deutlich geprägt von darwinistischem Gedankengut, ist ihm die demographische Entwicklung Großbritanniens nicht nur ein gesellschaftliches Ärgernis, sondern – mehr noch – ein Zustand höchster Unnatürlichkeit: The problem […] appears to resolve itself into this: that there is an enormous and increasing number of single women in the nation, a number quite disproportionate and quite abnormal; a number which, positively and relatively, is indicative of an unwholesome social state, and is both productive and prognostic of much wretchedness and wrong. There are hundreds of thousands of women […] – […] proportionally most numerous in the middle and upper classes, – who have to earn their own living, instead of spending and husbanding the earnings of men; who, not having the natural duties and labours of wives and mothers, have to carve out artificial and painfully-sought occupations for themselves; who, in place of completing, sweetening, and embellishing the existence of others, are compelled to lead an independent and incomplete existence of their own.13

Die Argumente, mit denen Greg weibliches Existenzrecht an häuslichen Lebensbereich und Ehe zurückbinden will, sind somit denkbar rigoros, denn die Autorität, auf die er sich dabei, den zeitgenössischen (populär-)wissenschaftlichen Diskursen verpflichtet, berufen kann, ist nichts Geringeres als das Naturgesetz selbst: »[...] marriage, the union of one man with one woman, is unmistakably indicated as the despotic law of life. This is the rule. We need not waste words in justifying the assumption.«14 Ein besonderes Anliegen ist es Greg, Frauenarbeit als Teil weiblicher Emanzipationsbestrebungen, wie sie die von Amerika ausgehende Bewegung der Women’s Rights propagiert, zu untergraben. Der Gefahr, »that marriage shall almost come to be regarded, not as their most honourable function and especial calling, but merely as one of many ways open to them«15, begegnet er mit der zeitgenössisch weit verbreiteten These, dass die biologische Hirnkonstitution der Frau so angelegt sei, dass sie sich aufgrund einer naturgegebenen höheren Emotionalität zwar für häusliche Tätigkeiten eigne, aber keinesfalls den Anforderungen elaborierter Geistesarbeit genüge, für die es die männliche »strength and tenacity of fibre« brauche. So gibt er denn auch ein deutliches Statement zu weiblicher Intelligenz und Bildungsfähigkeit ab: »[…] the continuity and severity of application needed to acquire real mastery in any profession, or over any science,

12 | Zu den typisch altjüngferlichen Berufen des 19. Jahrhunderts, Lehrerin, Gouvernante und Gesellschafterin, vgl. ebd., S. 144ff. 13 | Greg: Why are Women Redundant, S. 5. 14 | Ebd., S. 8. 15 | Ebd., S. 31.

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are denied to women, and can never with impunity be attempted by them; mind and health would almost invariably break down under the task.«16 Weniger scharf in der Formulierung, aber nicht minder misogyn in der Argumentation bewertet auch Julius Weiß das Phänomen weiblicher Berufsausübung in den mittleren Schichten. Auch für ihn ist das Leben als alleinstehende, selbst für ihren Unterhalt aufkommende Frau kein alternatives Konzept zur Ehe, allenfalls sei die Berufstätigkeit ein nützliches »Kapital«, das »ebenso wie die Mitgift«17 die Attraktivität für mögliche Heiratsbewerber steigere, oder aber Ersatz für ein aktives Geschlechtsleben. Wenn er in diesem Zusammenhang, anknüpfend an den Hysterie-Diskurs, schreibt, der Beruf habe »für das alternde Mädchen noch einen anderen Wert. Er schützt es vor Griesgram, Trübsinn, […] und läßt keinen Platz für Hirngespinste aller Art, welche die alten Jungfern krank, hysterisch machen«18, dann wird deutlich, dass Weiß andauerndes weibliches Ledig-Sein nicht nur als Verstoß gegen gesellschaftliche Rollenbestimmungen auffasst, sondern deutlich radikaler, als einen Krankheiten begünstigenden Zustand, der sich schlechterdings, für jedermann sichtbar, schließlich auch im Äußeren manifestiere. »Unleugbar ist die Tatsache«, so schreibt er, »daß das unverheiratete Mädchen, welches zeitlebens des Geschlechtsverkehrs entbehrt, früher altert als die Frau, welche ein-, zwei, dreimal verheiratet war«19, und an anderer Stelle liefert er zu dieser These denn auch, angelehnt an den karikativen Typus der komischen alten Jungfer aus der zeitgenössischen Literatur, eine explizite Bildlichkeit: die Haut bekommt Fältchen und Runzeln, das früher volle, üppige Haar […] wird dünn – fast wie eine Perücke (manchmal ist’s auch eine wirkliche) sieht der Schopf aus, der auf dem eckige Formen erhaltenden Gesicht mit den eingefallenen Augenbrauen, der spitzen Nase, dem gelblichen Teint, den getrockneten Lippen, einem bald schmalen langen, bald kropfigdicken Halse aufsitzt. 20

Auf solche negativen Imaginationen des Alter(n)s der ledigen Frau geben Kriminaltexte, die ihr Erzählinteresse an älteren alleinstehenden Frauenfiguren entwickeln, auffällig divergierende Antworten, die von ambivalenten Inszenierungen über positive, mitunter spielerisch-ironische Umdeutungen bis hin zu deutlich subversiven Ansätzen reichen können. Die Kriminalliteratur, in der es – idealtypisch gesprochen – immer wieder um die Störung einer gesellschaftlichen Ordnung und deren (mögliche) Restitution geht, weist dabei ein besonderes Potential

16 | Ebd., S. 32. 17 | Weiß: Das Weib als alte Jungfer, S. 421. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 417. 20 | Ebd., S. 416.

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für solche Rollenexperimente im literarischen Feld auf.21 Ich möchte an zwei Beispielen aufzeigen, wie unterschiedlich lediges weibliches Alter zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Sub-Genres der Gattung erzählt und funktionalisiert werden kann. Dabei werde ich Agatha Christies Amateurdetektivin Miss Marple, insbesondere in ihrer Erscheinungsform in den frühen Erzählungen The Tuesday Night Club (1928)22 und The Murder at the Vicarage (1930)23, der mehrfachen Mörderin Rosemarie Hirte aus Ingrid Nolls bislang noch kaum reflektiertem Romanerstling Der Hahn ist tot (1991)24 gegenüberstellen. Obwohl das gewählte Textkorpus damit dem 20. Jahrhundert entstammt, wobei auch innerhalb des Korpus’ ein Zeitraum von über 60 Jahren zwischen den einzelnen Texten liegt, erscheint mir die vorangegangene grobe Skizzierung des Altjungfern-Diskurses des 19. Jahrhunderts als Bezugspunkt für beide Texte gerechtfertigt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Für die besprochenen Miss Marple-Texte hat er insofern direkte Relevanz, als die Diskussion über ›überflüssige Frauen‹ um den Entstehungszeitraum der frühen Teile der Serie, Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, in Großbritannien erneut angeheizt wurde. In Bezug auf den Roman Ingrid Nolls hingegen lässt sich eine ideengeschichtliche Brücke schlagen. Dies ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil sich die Rede von der ›alten Jungfer‹ spätestens im 19. Jahrhundert zu einem stereotypen Vorstellungsbild festigte 25, das auch über den Wandel zeithistorischer Bedingungen in seinen elementaren thematischen Ansatzpunkten und Vorurteilen als Wertungskategorie hintergründig vital geblieben ist. So schreibt auch Baumgarten in Bezug auf den Typus des modernen Singles: Wenn auch die Stereotypen der Alten Jungfer und des Alten Junggesellen in ihrer ›Reinform‹ kaum mehr als Bewertungsmaßstab dienen, stehen sie doch bei der gesellschaftlichen Beurteilung Unverheirateter mehr oder weniger bewußt im Hintergrund und blo21 | Vgl. Carmen Birkle, Sabina Matter-Seibel, Patricia Plummer: Unter der Lupe. Neue Entwicklungen in der Kriminallandschaft, in: dies. (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001, S. 1-13, hier S. 4. 22 | Agatha Christie: The Tuesday Night Club, in: dies.: The Complete Short Stories. Miss Marple and Mystery, London 2008 [1928], S. 304-313, im Folgenden zitiert mit der Sigle TNC und Seitenzahlen in Klammern. 1932 erschien The Tuesday Night Club mit zwölf weiteren Kurzgeschichten unter dem Titel The Thirteen Problems. 23 | Agatha Christie: The Murder at the Vicarage, London 2002 [1930], im Folgenden zitiert mit der Sigle MAV und Seitenzahlen in Klammern. 24 | Ingrid Noll: Der Hahn ist tot, Zürich 1993 [1991], im Folgenden zitiert mit der Sigle HT und Seitenzahlen in Klammern. 25 | Vgl. dazu beispielsweise das Kapitel Die bürgerliche Gesellschaft und die Unverheiratetgebliebenen: Vom Klischee zum Stereotyp, in: Baumgarten: Hagestolz und alte Jungfer, S. 62-141.

Figurationen der älteren Ledigen in den Kriminalromanen A. Christies und I. Nolls ckieren somit die Anerkennung des Ledigenstatus als alternativer, aber gleichwertiger Dauer-Lebensform. 26

M ISS M ARPLE Miss Marple ist sicherlich die populärste, aber nicht die einzige betagte ›alte Jungfer‹, die in der britischen Detektivliteratur des Golden Age in den 1920er und 1930er Jahren in Erscheinung tritt. Figuren wie Patricia Wentworths Miss Maud Silver, Dorothy L. Sayers Miss Katherine Climpson oder Gladys Mitchells Dame Beatrice Bradly bezeugen ein ausgesprochenes Erzählinteresse an diesem Figurentypus. Zeithistorisch erklärt es sich nicht zuletzt daraus, dass das bereits erwähnte Problem weiblicher Überpopulation in Großbritannien im Zuge der Verluste durch den Ersten Weltkrieg wieder dramatisch aktuell wurde.27 Die von dem europäischen Kollektivtrauma des Krieges hervorgerufenen Schuldgefühle schlugen sich auch in »Frauenhaß« und »Ressentiments« gegenüber den Ledigen und Verwitweten nieder, die das negative Bild der überflüssigen ›alten Jungfer‹ erneut erstarken ließen: »So viele Männer waren tot, und so viele Frauen führten ein scheinbar nutzloses oder zumindest unfruchtbares und damit ungerechtfertigtes Leben.«28 Dies kann durchaus mitgedacht werden, wenn uns Miss Marple in The Tuesday Night Club im schwarzen, viktorianischen Witwengewand gegenübertritt, auch wenn ihre Kleidung dort zuvorderst – ich werde darauf zurückkommen – als nostalgisch-überkommenes Element in der Blickperspektive ihres Neffen Raymond West funktionalisiert ist. 29 Die Miss Marple-Erzählungen liefern freilich keine dezidierte Auseinandersetzung mit den vielzähligen Folgen des Ersten Weltkriegs, auch wenn er als Thema gelegentlich Einlass in die fiktive Dorfwelt von St. Mary Mead, den Handlungsraum der meisten Miss MarpleGeschichten, findet: Der Mordverdächtige Laurence Redding aus The Murder at the Vicarage etwa behält eine Pistole als »[s]ouvenir of the war« (MAV 48), die psychische Versehrtheit ehemaliger Kriegsdienender und ein daraus resultierendes mögliches Gewaltpotential werden angedeutet 30 und der ermittelnde Colonel Melchett konstatiert: »Too many women in this part of the world.« (MAV 84) Shaw und Vanacker haben darüber hinaus auf das psychologische Potential der Vergangenheitsbewältigung hingewiesen, das die Detektivliteratur des Golden Age auf der Rezipientenebene aufweist:

26 | Ebd., S. 289. 27 | Vgl. Marion Shaw, Sabine Vanacker: Miss Marple auf der Spur, übers. v. Uta Angerer, Ursula Wulfekamp, Hamburg 1994, S. 52. 28 | Ebd., S. 53. 29 | Dazu ausführlich Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹, S. 195f. 30 | »There’s a lot of gentlemen went a bit balmy after the war.« (MAV 124)

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Maike Rettmann Der Kriminalroman ging auf kontrollierte, saubere und intellektuelle Art mit Gewalt um, brachte das Böse zur Strecke, verstieß den Verbrecher aus der menschlichen Gemeinschaft, machte einfache moralische Urteile und Charakterbewertungen zu Bestandteilen des Spiels. 31

Innerhalb dieses Spiels erscheint die Strafsache in den Miss Marple-Texten, auch wenn es sich dabei um Mord handelt, lediglich als Anstoß für die Entschlüsselung des detektivischen Puzzles, das im Zentrum des Erzählinteresses steht32, »nicht als jenes aufwühlende und traurige Ereignis, das es in Wirklichkeit wäre«.33 In The Murder at the Vicarage beispielsweise werden auf den Fund der Leiche Colonel Protheroes in Pfarrer Leonard Clements Arbeitszimmer kaum mehr als fünf Zeilen verschwendet und das Mordopfer ist bereits im Vorfeld mit wenigen Strichen als unsympathischer Typ gezeichnet, dessen Tod weder bei den Figuren noch beim Rezipienten sonderliche Betroffenheit auslöst.34 Die Kurzgeschichte The Tuesday Night Club hebt die Detektiverzählung als artifiziellen Spielraum in noch deutlicherer Weise, geradezu im wahrsten Wortsinne, hervor, indem dort bereits gelöste und weit zurückliegende Straftaten zur intellektuellen Herausforderung genutzt werden, an der sich ein spielerischer Wettkampf entzündet. Der auf einer Abendveranstaltung in Miss Marples Haus gegründete Tuesday Night Club, eine Art Rätselclub, widmet sich in insgesamt noch fünf weiteren Kurzerzählungen der Lösung von »unsolved mysteries« (TNC 304), mit denen jeweils ein Mitglied des Kreises die detektivischen Fähigkeiten der Übrigen und ihre Urteilsfähigkeit in Bezug auf die menschliche Natur auf den Prüfstand stellt. Die Miss MarpleErzählungen sind damit grundsätzlich multikompetitiv entworfen, wobei Miss Marple allerdings fast nie die Rolle der Hauptermittelnden einnimmt.35 Neben den öffentlichen Vertretern der Strafverfolgung und Miss Marple selbst treten in den Texten auch zahlreiche andere Amateurdetektive auf, die das eine Mal in Konkurrenz zueinander und zur Polizei treten, das andere Mal ihr und einander

31 | Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 18. 32 | Insofern ist auch Catherine Kenney (Detecting a Novel Use for Spinsters in Sayer’s Fiction, in: Lora L. Doan (Hg.): Old Maids to Radical Spinsters. Unmarried Women in the Twentieth-Century Novel, Illinios 1991, S. 123-138, hier S. 127) zuzustimmen, die bei ihrem Vergleich von Dorothy L. Sayers Miss Climpson mit Miss Marple herausstellt: »Miss Climpson is a more rounded and sympathetic character than Miss Marple, and the stories in which she appears focus more on the realistic portrayal of character and social milieu than upon the slick mechanism of the detective plot that was Christie’s forte«. 33 | Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 32. 34 | Vgl. ebd., S. 33. 35 | Letzteres betont auch Robert Merrill: Christie’s Narrative Games, in: Jerome H. Delamater, Ruth Prigozy (Hg.): Theory and Practice of Classic Detective Fiction, Westport 1997, S. 87-101, hier S. 95.

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zuarbeiten.36 Am Ende jedes Falles ist es freilich Miss Marple, die die entscheidenden Hinweise auswerten und den Täter überführen kann. Innerhalb dieses Rahmens wertet Agatha Christie mit der Figur Miss Marple das negative Stereotyp der älteren Ledigen signifikant auf. Dies geschieht über eine nicht uninteressante Erzählstrategie, die einerseits die gängigen Klischees über diesen Typus reproduziert, sie aber gleichzeitig positiv für die Figur funktionalisiert. Ein wesentliches Element dieser Strategie ist die Einführung Miss Marples in der internen Fokalisierung. Stets tritt sie als geschautes oder besprochenes Objekt, als Produkt einer spezifisch geprägten Figurenwahrnehmung in die Handlung, wobei es fast immer junge Figuren sind, denen der erste Blick auf oder das erste Wort über die alte Dame vergönnt ist. Die einzelnen Figuren werden dabei auf unterschiedliche Wahrnehmungsweisen der älteren Ledigen verpflichtet, die sich in einem Spektrum von »liebevoller Herablassung«37 bis zu radikaler Ablehnung bewegen können. Raymond West, der Neffe Miss Marples, der erstmals in The Tuesday Night Club eingeführt und noch in zahlreichen anderen Texten der Serie auftauchen wird, steht für erstere Variante. In ihm, einem erfolgreichen, in London ansässigen Schriftsteller, der Gedichte »with no capital letters in them« (MAV 247) schreibt, wie Pfarrer Clement mit einigem Unverständnis in The Murder at the Vicarage bemerkt, wird Jugend mit Moderne und Großstadt identifiziert.38 Dem gegenüber steht Miss Marple, die mit ihrem Lebensbereich des Dorfes St. Mary Mead mehr als nur die Initialen teilt. Miss Marple wie auch ihre Umgebung werden von Raymond West als nostalgische Rudimente einer längst überkommenen Epoche wahrgenommen: He looked round him with satisfaction. The room was an old one with broad black beams across the ceiling and it was furnished with good old furniture that belonged to it. Hence Raymond West’s approving glance. By profession he was a writer and he liked the atmosphere to be flawless. His Aunt Jane’s house always pleased him as the right setting for her personality. He looked across the hearth to where she sat erect in the big grandfather chair. Miss Marple wore a black brocade dress, very much pinched in round the waist. Mechlin lace was arranged in a cascade down the front of the bodice. She had on black lace mittens, and a black lace cap surmounted the piled-up masses of her snowy hair. (TNC 304)

Über die Farbgebung von Architektur und Kleidung verschmilzt Miss Marple in den Augen ihres Neffen geradezu mit ihrer häuslichen Umgebung. In ihrer viktorianischen Witwentracht39 – ein Ensemble, das an die bekannten Fotografien der

36 | Vgl. Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 82. 37 | Ebd., S. 49. 38 | Vgl. ebd., S. 62. 39 | Im Verlauf der Serie wird sich Miss Marples Kleidung noch häufig ändern, dabei aber stets »dem Modediktat der gerade vergangenen Epoche« verpflichtet bleiben. Evelyne

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verwitweten Königin Viktoria denken lässt 40 – erscheint sie dem jungen Mann selbst als Teil des »good old furniture«, das er im Haus seiner Tante als Reminiszenz an vergangene Zeiten schätzt.41 Die Gefühle, die durch die geschaute Szene bei der Figur ausgelöst werden, sind dabei eindeutig positiv besetzt. Der Problemgehalt der Blickperspektive tritt erst hervor, als Miss Marple in der kommunikativen Interaktion den Bannkreis des nostalgischen Standbildes überschreitet. Als Miss Marple versucht, sich in die Diskussion ihrer Abendgäste über »unsolved mysteries« zu integrieren und von dem eigentümlichen Verschwinden einer Tüte Shrimps berichtet, mit dem sich eine Bekannte der alten Dame am Vortag befassen musste, wird sie von ihrem Neffen »with some amusement« unterbrochen und zurechtgewiesen: »›My dear Aunt, […] I didn’t mean that sort of village incident. I was thinking of murders and disappearances – the kind of thing that Sir Henry could tell us about [...].‹« (TNC 305) Sir Henry Clithering, auch eine Figur, die später zum festen Inventar der Miss Marple-Serienwelt gehören wird, ist ein pensionierter Polizeikommissar und damit ebenfalls als alte Figur ausgewiesen. Während Raymond West für ihn jedoch eine bewegte Vergangenheit imaginiert, disqualifiziert er seine vermeintlich langweilige Tante als ernstzunehmende Gesprächspartnerin. Die Bewertung der alten Frau als langweilig42 wird dabei an einen unterstellten Mangel an Lebenserfahrung und Urteilsfähigkeit gebunden, der aus ihren Lebensbedingungen abgeleitet wird. St. Mary Mead fungiert in diesem Zusammenhang als topographische Spiegelung der Vorstellungen über die Lebensweise der älteren Ledigen, die sich durch einen gleichförmigen, abgeschnittenen und von größeren Ereignissen nahezu unbeeinflussten Alltag auszeichnet. »I regard St Mary Mead«, wird Raymond West in The Murder at the Vicarage sagen, »as a stagnant pool.« (MAV 248) Doch wie das Dorf durch den kleinen Bahnhof, in dem die Züge nach London verkehren, eine Verbindung zur ›großen Welt‹ aufweist, so hat sich auch Miss Marple Wege geschaffen, die es ihr ermöglichen, den engen Existenzbereich, auf den sie verpflichtet wird, zuKeitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt 1998, S. 44. 40 | Ebd., S. 43. 41 | Diese Sichtweise auf Miss Marple wird Raymond West in schier unerschöpflichen Variationen auch in anderen Erzählungen einnehmen. In The Murder at the Vicarage heißt es: »He has a tolerant affection for ›Aunt Jane‹, whom he alludes to in her presence as a ›survival‹.« (MAV 247) und in Sleeping Murder: »You’ll adore my Aunt Jane. […] She’s what I should describe as a perfect Period Piece. Victorian to the core. All her dressing-tables have their legs swathed in chintz.« (Agatha Christie: Sleeping Murder: Miss Marple’s last Case, London 2002 [1976], S. 32) Der Zusatz »Miss Marple’s Last Case« ist bei Sleeping Murder etwas irreführend. Der Text wurde 1976 zwar nach Nemesis veröffentlicht, aber bereits deutlich früher geschrieben. Vgl. dazu Keitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen, S. 155. 42 | So äußert sich etwa auch Mrs. Lestrange aus The Murder at the Vicarage: »›Elderly women bore me dreadfully […].‹« (MAV 180)

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mindest geistig zu überschreiten. In der Beschränktheit ihrer Erfahrungswelt ist gleichzeitig deren Überwindung eingeschlossen: »Nothing, I believe, is so full of life under the microscope as a drop of water from a stagnant pool« (MAV 248), entgegnet sie ihrem Neffen. Miss Marples Lebenserfahrung, die sie am Ende jeder Erzählung sentenzhaft als ein wichtiges Element ihres detektivischen Erfolgs hervorhebt43, ergibt sich dabei nicht aus eigenen Erfahrungen, sondern aus ihrer Fähigkeit zu großen Abstraktionsleistungen, die es ihr ermöglichen, scheinbar willkürlich erinnerte Ereignisse aus der Dorfgeschichte St. Mary Meads auf eine allgemeingültige Kernkonstellation zu reduzieren und zu dem jeweils aktuellen Fall in Bezug zu setzen. Diese logische und analogische Vorgehensweise44 nivelliert Vorbehalte über weibliche Intelligenz, wie wir sie etwa bei William Greg gesehen haben. Logik und Intelligenz werden in der Figur Miss Marple nicht als männlich codierte Fähigkeiten vereinnahmt, sondern zu weiblichen Attributen umgedeutet, indem die altjüngferliche Lebensweise zum Nährboden funktionalisiert wird, der diese Fähigkeiten in ihrer spezifischen Ausprägung hervorbringen kann45, aber nicht muss – wie die deutlich negativeren »Spielarten«46 des Typus der älteren ›Altjungfer‹, Miss Weatherby oder die verwitwete Mrs. Price Ridley aus The Murder at the Vicarage, bezeugen. Die negativen Attribute dieser Figuren, die gleichermaßen mit Alter und ›Altjüngferlichkeit‹ identifiziert sind – ein ausgesprochenes Klatschbedürfnis, die Neigung, durch gezieltes Beobachten immer und zu jeder Zeit über die intimsten Vorgänge im Dorf informiert zu sein und daraus moralische Schlussfolgerungen zu ziehen – treffen auch auf Miss Marple zu. Sie sind jedoch für ihren Status als Detektivfigur positiv funktionalisiert. Dies wird besonders in The Murder at the Vicarage hervorgehoben. Der Roman bedient sich, anders als The Tuesday Night Club, keiner auktorialen Erzählsituation mit fokalen Einschüben, sondern einer konsequenten Ich-Erzählperspektive. Der IchErzähler ist der Pfarrer Leonard Clement, in dessen Arbeitszimmer der Mord an Colonel Protheroe stattfindet. Er ist als Perspektivfigur nicht uninteressant gewählt, da er zwar jünger als Miss Marple zu sein scheint – über ihr genaues Alter 43 | So wird Miss Marple ihrem Neffen in The Tuesday Night Club auf seine Verwunderung darüber, dass sie die Küchenhilfe in dem von Sir Henry vorgetragenen Rätselfall als Mörderin identifizieren konnte, entgegnen: »[…] you don’t know as much of life as I do. A man of that Jone’s type – coarse and jovial. As soon as I heard there was a pretty young girl in the house I felt sure that he would not have left her alone.« (TNC 313) Und zum Ende von The Murder at the Vicarage zitiert sie einen Ausspruch ihrer Großmutter: »The young people think the old people are fools; but the old people know the young people are fools!« (MAV 372) 44 | Vgl. zur detektivischen Methode Miss Marples auch das Kapitel Ira Tschimmels: Die Methode: Klatsch und Archetypenreduktion, in: dies.: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung. Eine vergleichende Untersuchung zu Werken von Christie, Simenon, Dürrenmatt und Capote, Bonn 1979, S. 32f. 45 | Ähnlich sehen dies Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 77. 46 | Ebd., S. 56.

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schweigen sich alle Erzählungen signifikant aus 47 –, aber dennoch deutlich als alternde Figur markiert ist. Das Bewusstsein seines Alterns ist an den Umstand gebunden, dass er mit Griselda eine mehr als 20 Jahre jüngere Frau geehelicht hat. Griselda selbst ist von einer renitenten, manchmal fast kindlichen Jugendlichkeit, findet Spaß an Telefonstreichen mit dem 16-jährigen Neffen des Pfarrers und ist ganz und gar nicht gewillt, sich in die Rolle einer guten Haus- und Pfarrersfrau einzufinden. Sie nimmt, im Gegensatz zu Raymond West, eine deutlich negative Wahrnehmungsperspektive auf die ältere Ledige ein. Miss Marple wird zunächst in Form direkter Charakterisierung in einem Dialog zwischen Griselda und ihrem Mann eingeführt, in dem die Pfarrersfrau die Gästeliste für eine Nachmittagsveranstaltung bespricht, die sie abschätzig »tea and scandal« nennt: »Who is coming?« […] »Mrs Price Ridley, Miss Wetherby, Miss Hartnell, and that terrible Miss Marple.« »I rather like Miss Marple,« I said. »She has, at least, a sense of humour.« »She’s the worst cat in the village,« said Griselda. »And she always knows every single thing that happens – and draws the worst inferences from it.« (MAV 12)

Die Bezeichnung als Katze gehört nicht nur in den Miss Marple-Texten zum feststehenden Beschreibungsinventar ›altjüngferlicher‹ Figuren.48 Sie erweist sich insofern als eine besonders leistungsstarke Metapher, als sie die ambivalenten Vorstellungsbilder über die ›alte Jungfer‹ konzentriert zu bündeln vermag. Einerseits verweist sie, wie Shaw und Vanacker festhalten, auf ein ausgesprochenes Interesse [...] für Klatsch«49, das im Englischen durch den ähnlichen Klang der Worte ›cat‹ und ›chat‹ nahegelegt wird. Andererseits deutet sie aber auch auf den domestizierten Lebensraum der ›alten Jungfer‹. Des Weiteren lässt sie sich als Metonymie zu den unheimlichen, ja mitunter bedrohlichen Konnotationen der ledigen alten Frau in Bezug setzen, zu der ›alten Jungfer‹ als moralischer Richterin und zu der Figur der alten Hexe aus der Märchentradition.50 Insbesondere die moralische Beurteilung ist es, die Griselda und auch eine weitere junge Frauenfigur des Textes, Gladys Cram, fürchten und zwar vor allem, 47 | Vgl. Keitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen, S. 46. 48 | So wird etwa auch die als »Schreibbüro« getarnte und von Miss Katherine Climpson geleitete Detektivagentur aus den Lord Peter Wimsey-Romanen Dorothy L. Sayers, in der ›altjüngferliche‹ Frauen als Hilfsdetektivinnen vermittelt werden, »scherzhaft [als] ›Katzenhaus‹ (Cattery)« bezeichnet. Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 49. 49 | Ebd., S. 58. 50 | Vgl. ebd. Die bedrohliche Seite der alten Ledigen als hexenhafte Figur nutzt Theodor Fontane für die alte Jeschke zur Verunsicherung des Mörders in Unterm Birnbaum, durchges. Ausgabe, Stuttgart 2002, S. 15. Vgl. dazu Henriette Herwig: Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor Fontanes, in: Andrea von Hülsen Esch, Hiltrud WestermannAngerhausen (Hg.): Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Bd. 1.: Aufsätze, Regensburg 2006, S. 52-62.

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weil sie sie als ungerechtfertigte Strategie älterer Lediger wahrnehmen, durch willkürliche Verdächtigungen ihr vermeintlich einsames und trostloses Leben mit Inhalt zu füllen. »What they need«, sagt Griselda zu ihrem Mann, nachdem sie sich durch einen von ihr missverstandenen Blick Miss Marples des Fremdgehens bezichtigt gefühlt hat, »is a little immorality in their lives. Then they wouldn’t be so busy looking for it in other people’s.« (MAV 33) Und Gladys Cram, die im Mordfall Protheroe als Verdächtige vernommen wird, weil sie des Nachts von Miss Marple dabei beobachtet wurde, wie sie im naheliegenden Wald einen Koffer verschwinden ließ, empört sich: »Just because one of these gossiping old cats had nothing better to do than look out of her window all night you go and pitch upon me.« (MAV 298) Solche Bemerkungen, die in signifikanter Weise den Gedanken William Gregs »nothing to do, and none to love, cherish, and obey« fortführen und ihn mit der Bewertung der älteren Ledigen als gesellschaftlichen Störfaktor weiter ausgestalten, treffen zwar durchaus auf Figuren wie Mrs. Price Ridley oder Miss Wetherby zu, nicht aber – und das ist wichtig – auf Miss Marple. Miss Marples Wesen und ihre detektivischen Methoden – das Sammeln von Informationen über Klatsch, die Neigung zum Ausspionieren der Nachbarschaft mit Ferngläsern bei der Beobachtung von Vögeln (vgl. MAV 26) oder die Arbeit in ihrem für solche Zwecke ideal gelegenen Garten – entsprechen zwar den im Text reproduzierten »stereotype[n] Erwartungen an die ›alte Jungfer‹«, unterscheiden sich aber von ihnen nicht nur in ihren »Resultaten«51, sondern auch – wie man hier in Ergänzung zu Hartung formulieren muss – ganz deutlich in ihrem Antrieb. In einer zentralen Passage von The Murder at the Vicarage erhält Pfarrer Clement, der die verschiedenen Ermittlungswege von Polizei und Amateuren begleitet, drei Briefe von den ansässigen ›Altjungfern‹ Mrs. Price Ridley, Miss Wetherby und Miss Hartnell, mit der Bitte, sie in ihrem Haus zu besuchen, da sie sich im Besitz wichtiger Informationen in der Mordsache Protheroe glauben. Die Besuche erscheinen dem Pfarrer – dessen Bewertung älterer Lediger signifikant zwischen einer generell belächelnden Herablassung und einer offensiven, aber in sich durchaus nicht ungebrochenen Sympathie für Miss Marple schwankt – wenig aufschlussreich. Der Eindruck aber, den die älteren Damen bei ihm hinterlassen haben, ist umso negativer: Da ist Miss Hartnell, der weniger daran gelegen zu sein scheint, den Mörder Protheroes zu entlarven, als sich mit vermeintlichen Informationen wichtig zu machen52, Miss Wetherby, die der Gedanke, ihre Beobachtungen vor Gericht vortragen zu müssen in pathetische Zustände versetzt, was Pfarrer Clement zu ironischen Spitzen reizt 53, und schließlich Mrs. Price Ridley, deren Beobachtungen er ebenso wenig Wert beimisst wie den übrigen. Diese Bewertung ist freilich nicht ganz richtig. Auch wenn die Beobachtungen 51 | Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹, S. 198. 52 | »I perceived that she was enjoying herself.« (MAC 302) 53 | »›I do shrink from publicity. And to stand up in court!‹ ›In special cases,‹ I said, ›they let witnesses sit down.‹« (MAV 308)

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tatsächlich kaum etwas zur eigentlichen Mordsache beitragen, so erweisen sie sich dennoch am Ende als maßgeblich für die Auflösung der im Text gelegten red herrings durch Miss Marple. Deutlich abgesetzt nun aber und ins nächste Kapitel des Romans verschoben, erhält Pfarrer Clement einen vierten Brief, diesmal von Miss Marple, in dem sie um ein Gespräch in seinem Haus bittet. Diese Szene ist weniger handlungsrelevant als figurenpsychologisch interessant, denn dort legt Miss Marple die Motivation für ihr Interesse an dem Fall offen, mit der sie das im Text entworfene Stereotyp der alten Ledigen, die paradoxerweise ihre Zeit mit sinnlosen Aktivitäten füllt, um nicht an Sinnlosigkeit zu verkümmern, radikal durchbricht: »I feel that you must be wondering why – why I am so interested in all this. […] You see, […] living alone, as I do, in a rather out-of-the-way part of the world, one has to have a hobby. There is, of course, woolwork, and Guides, and Welfare, and sketching, but my hobby is – and always has been – Human Nature. So varied – and so very fascinating. And, of course, in a small village, without nothing to distract one, one has such ample opportunity for becoming what I might call proficient in one’s study. One begins to class people, quite definitely, just as though they were birds or flowers, group so-and-so, genus this, species that. […] I have always wondered whether, if some day a really big mystery came along, I should be able to do the same thing. I mean – just solve it correctly. Logically, it ought to be exactly the same thing. After all, a tiny working model of a torpedo is just the same as a real torpedo.« (MAV 322-324)

Auch wenn Miss Marple hier deutlich die Relevanz einer Aufgabe hervorhebt, die das Leben als ältere Ledige erfordert, um lebenswert zu sein, haben ihre ›Studien‹ der menschlichen Natur deutlich den Status einer bloßen Beschäftigungstherapie überschritten. Miss Marples Interesse für das Alltägliche ihres beschränkten Lebensraums ist kein sinnloser Selbstläufer, dessen alleiniger Zweck darin besteht, sich Tag für Tag die verfügbare freie Zeit zu vertreiben; der Blick der Alten ist hier in die Zukunft gerichtet, in Erwartung einer Situation, in der ihre Fähigkeiten in einem größeren Zusammenhang Wert gewinnen. Miss Marple ist nicht nur in dieser Szene als alte Figur mit Zukunft entworfen. Anders als Hercule Poirot stirbt sie zum Beschluss der Serie im Roman Nemesis (1971) auch nicht.54 Im Gegenteil, sie wird dort sogar erstmals für ihre detektivische Arbeit finanziell entlohnt und verlässt die Serienwelt als reiche Frau. So zerschlägt Christie mit dieser Figur, wie Keitel zu Recht bemerkt, nicht nur den negativen Konnex von Alter und Tod55, sondern eröffnet ihrer Detektivin sogar die Möglichkeit eines neuen, unbeschwerten Lebens: »›There’s no point in saving at my age,‹ said Miss Marple. ›I mean the point of this money […] is to enjoy a few things that one thought one

54 | Vgl. Keitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen, S. 49. 55 | Vgl. ebd., S. 50.

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never would have the money to enjoy.‹ […] ›I’m going to spent it, […] I’m going to have some fun with it.‹«56 Auf die offensichtlichste Form der Aufwertung der Figur, auf die Tatsache, dass Miss Marple zum Ende jedes Textes den gegebenen Fall löst, bin ich bislang nur am Rande eingegangen. Dieses Element wird im Hinblick auf die Miss Marple-Texte als Serie zur iterativen Struktur, deren Überzeugungskraft für den positiven Figurenentwurf darin liegt, dass nicht nur die übrigen Figuren der Textwelt, Amateure wie Polizei, die Straftat im Gegensatz zu Miss Marple nicht enträtseln können, sondern ebenso wenig der Leser. Die Miss Marple-Fälle sind so konstruiert, dass sie unmöglich durch den Rezipienten gelöst werden können.57 Mit ihrem detektivischen Erfolg widerlegt Miss Marple das der ledigen Alten entgegen gebrachte Vorurteil, überflüssig und nutzlos zu sein. 58 Die alte Amateurin erweist sich in der Textwelt als stabilisierender Faktor, der die gestörte Ordnung der dargestellten Gesellschaft wieder herstellt, auch wenn dies nicht selten für die Öffentlichkeit unsichtbar bleibt.59 Damit muten uns die Texte freilich das Paradoxon zu, dass Miss Marple am Fortbestand genau jener Gesellschaft mitarbeitet, die sie in vielfacher Weise entwertet.60 In Miss Marple wird das Stereotyp der älteren Ledigen zwar positiv umgedeutet, ihre Lebensweise wird allerdings nicht als alternatives Modell an den Leser weitergegeben.61 Liebe spielt im Leben der älteren ›Altjungfer‹ in den Miss Marple-Texten keine Rolle. Dies ist durchaus erwähnenswert, denn das wird sich mit den für die Miss Marple-Rezeption nicht unwichtigen Verfilmungen62 des Stoffes aus den 1960er Jahren ändern.63 Dort erhält die von Margaret Rutherford dargestellte Detektivin mit Mr. Stringer nicht nur einen Gehilfen, der sie bei ihren detektivischen Erkundungen unterstützt, sondern gleichermaßen einen sie subtil begehrenden Verehrer. In Murder She Said aus dem Jahre 1961, dem einzigen Film der viertei56 | Agatha Christie: Nemesis, London 2002 [1971], S. 365f. 57 | Vgl. Merrill: Christie’s Narrative Games, S. 96. 58 | Vgl. Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 48. 59 | So heißt es am Ende von The Murder at the Vicarage: »I will only mention that great credit was reflected upon Inspector Slack, whose zeal and intelligence had resulted in the criminals being brought to justice. Naturally, nothing was said of Miss Marple’s share in the business. She herself would have been horrified at the thought of such a thing.« (MAV 374) Vgl. dazu Shaw, Vanacker: Miss Marple auf der Spur, S. 63. 60 | Dies ist wiederholt an den Miss Marple-Texten kritisiert worden. Vgl. u.a., ebd., S. 73. 61 | So auch Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹, S. 208, die allerdings auch betont, dass Miss Marple nicht als Identifikationsfigur intendiert sei. 62 | Vgl. Thomas Küpper: Derrick und Miss Marple: Lebens- und Leseerfahrung im Krimi, in: ders.: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010, S. 48-55, hier S. 51. 63 | Die Rede ist hier von den Low-Budget Produktionen Murder She Said (1961, Regie: George Pollock), Murder at the Gallop (1963, Regie: George Pollock), Murder Most Foul (1964, Regie: George Pollock) und Murder Ahoy (1964, Regie: George Pollock).

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ligen Serie, der, wenn auch mit radikalen Umstrukturierungen, auf einem Miss Marple-Roman Christies beruht 64, wird ihr außerdem am Ende ein Heiratsantrag von dem mürrischen Hauspatriarchen Luther Ackenthorpe gemacht, den sie allerdings ablehnt. Solche Szenen sind freilich für die stark ausgeprägte komödiantische Dimension der Filme verantwortlich, sie dienen aber in der Konstellation Miss Marple/Mr. Stringer nicht dazu, über liebende und geliebte Alte zu spotten, sondern fungieren als Elemente der Sympathieerzeugung.

R OSEMARIE H IRTE Auch der Text, um den es nun im Folgenden gehen soll, Ingrid Nolls Der Hahn ist tot, zeigt eine Ledige fortgeschrittenen Alters als Liebende. Es erscheint jedoch fragwürdig, ob dieser Roman im Kern tatsächlich eine Liebesgeschichte ist, ein »köstliches Buch darüber«, so wirbt der Diogenes Verlag mit den Worten Elke Heidenreichs auf dem Umschlag der Ausgabe von 1993, »wie Frauen über Leichen gehen, um den Mann ihrer Träume zu bekommen«. Ingrid Nolls Karriere beginnt in den 1990er Jahren, einer Zeit, in der die deutschen Verlagshäuser den ursprünglich aus Amerika kommenden ›Frauenkrimi‹ gerade als lukrativen Marktträger entdecken.65 Als ›Frauenkrimis‹ werden – so die gängigste Definition – von Frauen geschriebene Kriminaltexte verstanden, die auf weibliche Hauptfiguren fokussieren und »frauenrelevante Themen«, nicht selten in feministischer Perspektive, verhandeln.66 In den wenigen Untersuchungen, die bislang zu Der Hahn ist tot vorliegen, ist Ingrid Nolls Romanerstling zumeist in diesem SubGenre verortet worden.67 Im Zentrum des Textes steht die Entwicklung der 52-jährigen Ich-Erzählerin zur mehrfachen, aber bis zuletzt nicht überführten Mörderin. Anders als bei Miss Marple, deren Biographie allenfalls »skizzenhaft individualisiert[.]«68 ist, setzt der 64 | Die Vorlage liefert der Roman 4.50 from Paddington (1957). 65 | Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz von Brigitte Frizzoni: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 95 (1999) H. 1, S. 87-112, hier S. 87f. 66 | Sabine Wilke: Wilde Weiber und dominante Damen: Der Frauenkrimi als Verhandlungsort von Weiblichkeitsmythen, in: Carmen Birkle u.a. (Hg.): Frauen auf der Spur, S. 255-271, hier S. 256. Vgl. zur Definition ebenso Ulrike Strauch: Tötungsarten: die Mörderinnen bei Ingrid Noll, in: Helga Abret, Ilse Nagelschmidt (Hg.): Zwischen Distanz und Nähe: eine Autorinnengeneration in den 80er Jahren, Bern u.a. 1998, S. 127-153, hier S. 128. 67 | Vgl. Strauch, ebd.; Gudrun Hommel-Ingram (Der Mörder ist selten der Butler. Gesellschaftskritik in der Kriminalliteratur von E.T.A. Hoffmann, Theodor Fontane und Ingrid Noll, Ann Arbor, MI. 1998, hier S. 219) weist der Autorin einen festen Platz neben ihren »Frauenkrimikolleginnen« zu. 68 | Hartung: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹, S. 199.

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Roman mit einer Reflexion der Protagonistin über ihren bisherigen Lebensweg ein. Damit wird von Beginn an eine psychologisierende Sicht der Figur gewählt, die für die Bewertung Rosemaries und ihrer Entwicklung herangezogen werden soll. Rosemarie Hirte, eine pflichtbewusste Versicherungsangestellte, lebt ein unscheinbares, einsames und trostloses Leben im Mannheim der 1980er Jahre. Familie hat sie keine, ihre letzte »Männergeschichte« (HT 9) liegt bereits einige Zeit zurück. Rosemaries Sozialkontakte beschränken sich auf ihre Kindheitsfreundin Beate und die Bekanntschaft mit der einige Jahre älteren, an Brustkrebs erkrankten Arbeitskollegin Frau Römer, die jedoch kaum über die gelegentliche Fürsorge Rosemaries für Frau Römers in die Jahre gekommenen Hund während ihrer Krankenhausaufenthalte hinausgeht. Die erste Lebenshälfte der Protagonistin wird in groben Strichen vor dem Hintergrund extremer gesellschaftlicher Veränderungen entworfen, einer Kindheit im Dritten Reich69 und einem Leben als junge Jurastudentin in der »Pillenära« (HT 14) der 1960er Jahre, der Zeit der »›Neuen Frauenbewegung‹« 70, in deren Folge »[d]ie soziale Direktive, daß zu einem Erwachsenenleben Heirat und Kinder gehören«, aufgehoben scheint und weibliche Bildung, ebenso wie »die Beteiligung des weiblichen Geschlechts am Erwerbsleben [...] zum Normalfall« 71 wird. Dabei erweist sich die Figur als von unterschiedlichen zeithistorischen Frauenbildern ebenso wie von kontrastierenden Vorstellungen über weibliches Ledig-Sein geprägt, deren scheinbar diametral entgegengesetzte Positionierung sie jedoch gleich zu Beginn des Romans als Trugbild entlarvt: In der Schule hatte ich zwei altjüngferliche Lehrerinnen, die behaupteten, ihre Verlobten seien im Krieg gefallen. Wenn man wie ich nicht verheiratet, verwitwet, geschieden ist, keinen Lebensgefährten oder Freund hat – von Kindern ganz zu schweigen – und nicht mal mit kurzfristigen Männerbekanntschaften aufwarten kann, dann kriegt man heute wie damals einen abwertenden Spitznamen angehängt. Aber eine alte Jungfer wie meine Lehrerinnen bin ich nicht. Und es gibt auch Leute, die meinen Status positiv sehen: Verheiratete Kolleginnen betrachten meine Unabhängigkeit, meine Reisen, meine berufliche Karriere oft mit Neid und dichten mir so manches romantische Urlaubserlebnis an, wozu ich vielsagend lächle. (HT 7)

Was die Haltung gegenüber ledigen Frauen in der erzählten Gegenwart des Romans von der pervertierten Glorifizierung von Mutterschaft und Ehe in Hitlerdeutschland unterscheidet, ist in Rosemaries Augen lediglich die Multiplikation zwischengeschlechtlicher Beziehungsangebote an die Frau, nicht jedoch deren normativer Verpflichtungscharakter. Mussten sich Rosemaries ledige Lehrerin69 | Vgl. Hommel-Ingram: Der Mörder ist selten der Butler, S. 167. 70 | Baumgarten: Hagestolz und alte Jungfer, S. 281. 71 | Ebd., S. 283.

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nen einen im Krieg gefallenen Toten zum Schutz ihrer gesellschaftlichen Integrität erfinden, so reproduziert Rosemarie diese Camouflage zu ihrer Zeit mit ihrem vielsagenden Lächeln, das über den Mangel an amourösen und sexuellen Verhältnissen hinwegtäuschen soll.72 Mit solchen Überlegungen kommt der Figur zwar die Funktion einer Gesellschaftskritikerin zu, trotzdem erscheint sie in höchst ambivalentem Licht. Obwohl Rosemarie die Diskriminierung weiblichen Ledig-Bleibens als veraltete Norm benennen kann, erweist sie sich – darauf deutet schon ihre Strategie des vielsagenden Lächelns hin – als in hohem Maße in jenen konservativen Vorstellungen über den Sinn weiblicher Existenz verhaftet, die an der Diskriminierung alleinstehender Frauen schuld sind. Dazu gehören beispielsweise ihre hyperbolische Bewertung der Mutterschaft und ihre patriarchal ausgerichteten Ideen über das adäquate Werbungs- und Liebesverhalten der Frau73, aber auch die den Altjungfern-Diskurs prägende Idee, dass es ein Verfallsdatum für die Beziehungsfähigkeit einer Frau gebe: »Nun war ich wahrscheinlich zu alt für die Liebe und mußte dieses Kapitel mit einem gewaltigen Defizit abschließen.« (HT 14) Die widerstrebenden Ansprüche von konservativer Werteprägung und Anforderungen sowie Möglichkeiten der (post-)emanzipatorischen Zeit evozieren bei der Figur schon in jungen Jahren eine emotionale Kälte und »Orientierungslosigkeit« 74, die sie wichtige Entscheidungen ihrer Lebensplanung beinahe beliebig und ohne inneren Bezug treffen lässt.75 Für ein Jurastudium entscheidet sie sich, weil sie »keine ausgesprochene Begabung für Sprachen hatte« und, wie sie zugibt, »auch sonst keine« (HT 8). Ebenso unmotiviert knüpft sie auch ihre erste Liebesbeziehung zu ihrem Kommilitonen Hartmut an, den sie, ohne eine besondere Bindung zu ihm zu haben, bereits als Vater ihrer Kinder imaginiert: »Eine zündende Leidenschaft war es nicht; wir paukten zusammen bis in die Nacht, und schließlich war es zu spät zum Heimgehen. So entwickelte sich ein festes Verhältnis, und eigentlich war mir klar, daß es auf eine Ehe mit zwei Kindern und einer gemeinsamen Anwaltspraxis hinauslief.« (HT 8) Dass es dazu nicht kommt, dafür sorgt Hartmut. Einen Tag vor dem Examen erfährt Rosemarie per Brief von ihm nicht nur, dass er eine Geliebte hat, sondern auch, dass er diese bereits geschwängert hat und nun heiraten werde. Rosemarie fällt infolgedessen durch das Examen und verwirft auch die Möglichkeit einer Wiederholungsprüfung. Damit scheitert auf einen Schlag sowohl ihre berufliche als auch ihre private Lebensplanung. Zwar gelingt es Rosemarie noch, eine kleine 72 | Vgl. dazu auch Hommel-Ingram: Der Mörder ist selten der Butler, S. 187. 73 | So heißt es beispielsweise: »Es saß mir von meiner Erziehung her tief in den Knochen, daß eigentlich der Mann die Werbung übernehmen sollte.« An dieser Stelle tritt auch deutlich Rosemaries Zerrissenheit zwischen konservativem und neuem Frauenbild zutage: »[…] waren das nicht längst überholte Vorstellungen, die ich von meiner nonnenhaften Mutter übernommen hatte? Beate verhielt sich da viel zupackender.« (HT 80) 74 | Hommel-Ingram: Der Mörder ist selten der Butler, S. 167. 75 | Vgl. ebd., S. 189.

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Karriere als Versicherungsangestellte zu machen, Heirat und Familiengründung bleiben ihr allerdings – ebenso wie die Möglichkeit, eine intakte Liebesbeziehung einzugehen – ein Leben lang verwehrt. Mit 52 und nun jenseits der Menopause entwickelt sich der Mangel an Partner und Kind sukzessive zur fixen Idee, deren Triebkraft das Bedürfnis ist, »einmal im Leben« (HT 82) etwas haben zu wollen. Der unerfüllte Kinderwunsch steht dabei nicht nur »zwischen den Zeilen«76, wie Ulrike Strauch meint, sondern zeigt sich überdeutlich entweder im Hass auf die Mutterschaft anderer Frauen – »Ich hasse diese glücklichen Mütter mit ihren Wunderkindern« (HT 49) – oder in Komik evozierenden Hyperbeln, die die pathologische Charakterkonstitution der Figur zutage treten lassen: Ich hatte in jungen Jahren, noch vor der Pillenära, zwar immer in Angst vor einer möglichen Schwangerschaft gelebt, aber heute, wo ich keine Kinder mehr kriegen kann, bedauere ich das. Ja, fast tut es mir leid, nicht wie so viele Frauen wenigstens eine Abtreibung oder Fehlgeburt durchgemacht zu haben, denn selbst so ein Negativerlebnis hätte mich doch einige Wochen Schwangerschaft erfahren lassen. In meinem Leben als Frau fehlt das ganz. (HT 14)

Während Rosemarie ihr fortschreitendes und nun unfruchtbares Alter als finaler Verlust sinnstiftender weiblicher Existenzmöglichkeiten erscheint – auch hier ist ein deutlicher Bezug zum konservativen Altjungfern-Diskurs zu erkennen –, ist in der Figur Beates eine positivere Haltung zu weiblichem Altern entworfen. Beate unterscheidet sich von Rosemarie deutlich in ihrer Altersperformanz 77: Ich finde meinerseits, daß sich Beate zu jugendlich anzieht. Ich halte es für würdiger, zu meinem Alter zu stehen. Aber wir sind trotzdem gute Freundinnen, ich im grauen Tweedrock mit elfenbeinfarbener Seidenbluse, Perlenkette und Twinset – Grace-Kelly-Look, sagt Beate –, sie mit ihren verrückten Reithosen und den bunten Westen. Meine Möbel: schwarz und weiß, japanisch streng und zeitlos, von bester Qualität; die ihren: immer wieder anders, mal Ikea – alles Naturholz –, dann selbstangestrichen in Gold und Violett. (HT 15)

Gehören für Rosemarie gedeckte Strenge und Schlichtheit zu einer adäquaten Altersperformanz, partizipiert Beate mit farbenfroher Kleidung und Einrichtung an sich stetig verändernden (Jugend-)Trends. Sie ist wandelbar und erfindet sich immer wieder neu. Beates Flexibilität, nur als pars pro toto auf den Bereich des materiellen Lifestyles begrenzt, ermöglicht es ihr auch, produktiv auf einen dramatischen Einschnitt in ihrer Biographie zu reagieren, der in signifikanter Weise jene Verlusterfahrung reproduziert, die Rosemarie selbst in ihrer Studentenzeit ge76 | Strauch: Tötungsarten: die Mörderinnen bei Ingrid Noll, S. 136. 77 | Zur Begrifflichkeit vgl. Miriam Haller: ›Aging trouble‹. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.): Altern ist anders, Münster 2004, S. 170-188, hier S. 172.

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macht hat. Anders als Rosemarie aber, bei der die »Hartmut-Story« eine »eiternde Wunde« (HT 14) hinterlassen hat, wird Beate, die – nun über 50-jährig – von ihrem Mann und dem Vater ihrer erwachsenen Kinder wegen einer jüngeren, von ihm schwangeren Frau verlassen wird, nicht »verbittert und menschenscheu« (HT 11). Beate nimmt erstmalig in ihrem Leben eine Stellung als »Sekretärin in der Volkshochschule« an, in der sie »ganz […] auf[geht] « (HT 12), begeistert sich für neue Hobbies und legt sich schließlich einen 10 Jahre jüngeren Liebhaber zu, der zwar verheiratet ist, ihren Ansprüchen auf nicht mehr denn ein »kleines oder kurzes Glück« (HT 50) jedoch vollkommen genügt. In Beate ist die Idee des Alter(n)s als Raum möglicher Neuanfänge ausgestaltet und es ist kein Zufall, dass gerade sie es ist, die Rosemarie zur Teilnahme an einem Vortrag der Volkshochschule überredet, bei dem sie sich erstmals in ihrem Leben leidenschaftlich verlieben wird, in den Referenten Witold Engstern: Als er dann anfing zu reden, vergaß ich überhaupt alles um mich und weiß auch nichts mehr von dem, was er über Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner und Friedrich Rückert sagte. Seine Stimme tönte in meinen Ohren, daß es mir schwindelig wurde, mein Herz klopfte, mein Magen flatterte. Es war nicht die berühmte Liebe auf den ersten Blick, sondern auf den ersten Ton. Seine warme Stimme war es, die auf mich einen derartigen erotischen Zauber ausübte, daß ich völlig ins Träumen geriet und nach anderthalb Stunden halb betäubt nach Hause fuhr. So plötzlich hatte es mich erwischt, mich alte Schachtel […]. »Wenn alte Scheunen brennen…« (HT 17)

Mit der schier magischen Anziehungskraft von Witolds Stimme etabliert der Text erstmals eine von zahlreichen intertextuellen Bezügen zu literarischen Figuren des Wasserelements.78 Witold erscheint hier als maskuline Version der Sirenen, deren Zauber, wenn auch nicht immer todbringend, so doch mit großer Gefahr verbunden ist.79 Der Konnex von leidenschaftlicher Liebe und Gefahr/Tod wird in der zitierten Passage zudem durch die Metapher des Brandes fortgeführt, die literarhistorisch seit dem Mittelalter in dieser Bedeutung verwendet wird. So umfängt etwa den Ritter von Staufenberg aus der gleichnamigen, um 1310 entstandenen und Egenolf von Staufenberg zugeschriebenen Versdichtung der »minne brant« 80 beim Anblick einer schönen Andersweltlichen, eine Verbindung, die er mit dem Tode bezahlen muss. Diese Konsequenz wird in Ingrid Nolls Roman freilich umgekehrt. Am Ende findet nicht die verzauberte Liebende den Tod, sondern 78 | Diese Bezüge bemerkt auch Strauch: Tötungsarten: die Mörderinnen bei Ingrid Noll, S. 139. 79 | Vgl. dazu etwa den zwölften Gesang von Homers Odyssee: Die Odyssee, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Reinbek b. H. 2008, S. 208-223. 80 | Egenolf von Staufenberg: Der Ritter von Staufenberg, hg. v. Eckhard Grunewald, Tübingen 1979, S. 15, Vers 288. Ich beziehe mich hier auf die in der Edition als Leithandschrift angebotene Handschrift s.

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Witold wird – durch einen Unfall beim Versuch, einen von Rosemarie ermordeten Polizisten zu beseitigen, geistig geschädigt und an den Rollstuhl gefesselt – ein todesähnliches Dasein fristen. Das Gefühl des Verliebt-Seins versetzt Rosemarie zunächst in Hochstimmung und evoziert bei ihr eine beinahe faustische Verjüngungskur ohne Magie, die allerdings durch die Verwendung von Hyperbeln deutlich komisiert wird. Fühlt sie sich anfangs, als wäre sie »wieder jung, nein geradezu pubertär« (HT 18), ist sie bald schon »selig wie ein Kleinkind« (HT 22). Durch das Motiv der verliebten Alten, mit dem hier gespielt wird, wird die Figur ins Lächerliche gezogen. Anders als bei Aschenbach in Thomas Manns Der Tod in Venedig81 geschieht das nicht über eine peinliche kosmetische Camouflage des wahren Alters, sondern durch die Übertreibung der gefühlten emotionalen Verjüngung. 82 Der positive Antrieb, den Rosemarie trotzdem durch ihre Verliebtheit erhält und der sogar dazu führt, dass sie ihr Leben ändern will, kippt aber schon bald ins Krankhafte. Statt offensiv um Witold zu werben, beginnt sie damit, ihm nachzustellen: Sie wird zur Voyeurin83, die in seinem Garten herumkriecht und längst schon die Kontrolle über sich verloren hat: »[…] ich hatte das Gefühl einer Süchtigen« (HT 31). Ihr Spanner-Verhalten bringt sie schließlich auch in jene Situation, die die eigentliche Kriminalhandlung des Textes einleitet. Durch Witolds Fenster beobachtet Rosemarie einen Streit zwischen Witold und seiner Ehefrau, in dessen Folge der deutlich Angetrunkene seine Angetraute mit einem Schuss schwer verletzt. Rosemarie eilt dem verwirrten Witold zur Hilfe, erschießt seine Ehefrau, flößt ihm beträchtliche Mengen Alkohol ein, um seine Unzurechnungsfähigkeit bei einer möglichen Gerichtsverhandlung zu garantieren, und entschwindet mit der Tatwaffe. Nachdem der unmittelbare Tatverdacht von Witold abgefallen ist, meldet sich Rosemarie telefonisch bei ihm und als seine anfänglichen Bedenken, sich nicht besser doch der Polizei zu stellen, aus dem Weg geräumt sind, beginnen die beiden sich zu treffen. Schnell muss Rosemarie jedoch erkennen, dass Witold weder amouröses noch sexuelles Interesse an ihr hat und die von ihr erzwungene Zweckbeziehung alles ist, was sie verbindet. Dies hält sie jedoch nicht davon ab, Witold umso mehr als Erlöserfigur zu imaginieren, der ihr beides sein soll, Kind und Liebhaber zugleich. Schon vor dem Mord, als sie Witold und seine Frau durchs Fenster beobachtet, artikuliert sie deutlich ihre Vorstellung von sich als mütterlicher Partnerin für den Begehrten: »Wäre ich seine Frau, hätte er sich 81 | Vgl. Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Berlin 212008 [1912], S. 128-131. 82 | Das Motiv der (plastisch-)kosmetischen Verjüngung klingt trotzdem an: »Ob ich mich im Gesicht liften lassen sollte [...]? Er war neunundvierzig und sah unerhört gut aus – Männer in diesem Alter, so hört man immer wieder, bevorzugen nicht gerade Frauen in meinem Alter.« (HT 29) 83 | In diesem Punkt, ebenso wie in ihrer höchst ambivalenten und starken Bindung an ihre verstorbene Mutter, deren Werteerziehung sie reproduziert, ist sie mit Erika Kohut aus Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin (1983) vergleichbar.

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das [Rauchen, M. R.] längst abgewöhnt.« (HT 31f.) Und als sie sich um den unter Schock stehenden Beinahe-Mörder kümmert, beruhigt sie ihn »mütterlich«: »Alles wird wieder gut«, was Witold mit dem Grinsen eines »zurückgebliebene[n] Kind[es]« (HT 36) quittiert. An anderer Stelle wird die Mütterliche jedoch selbst zum Kind. Nach einem Ausflug mit Witold, dem einzigen Zusammentreffen, bei dem ein wenig zwischenmenschliche Nähe zwischen den beiden aufgekommen ist, heißt es: Zu Hause riß ich als erstes die zierlichen Sandalen von meinen großen Füßen. Ich mußte an Andersens »Kleine Seejungfrau« denken, die einem Mann zuliebe ihren Fischschwanz durch zwei hübsche Beine ersetzt hatte, aber bei jedem Schritt Schmerzen leiden mußte, als trete sie auf ein zweischneidiges Schwert. (HT 70f.)

Der Hinweis auf Hans Christian Andersens Die kleine Seejungfrau ist der zweite intertextuelle Verweis aus dem Stoff kreis der Wasserfrauen in Nolls Roman. Er gewinnt im Text, neben der von der Figur gelieferten Ausdeutung, insbesondere Gewicht für Rosemaries Vorstellung von Witold als Erlöserfigur. Die kleine Seejungfrau gehört in Andersens Märchen dem Volk der Wasserleute an, die keine Seele besitzen und von denen nach ihrem Tod nicht mehr übrig bleibt als Schaum auf dem Wasser.84 Die einzige Möglichkeit, dieses Paradigma zu ändern, ist die Verbindung mit einem Menschen, durch dessen Liebe sie eine Seele erhalten.85 Wie die kleine Seejungfrau so will auch Rosemarie durch einen Mann ›beseelt‹ werden. Das macht deutlich, welche riesigen Glücksversprechungen sie an Witold heftet. Die Idee vom Manne als Erlöser der Frau ist dabei nicht allein ein latent misogyner Gedanke; solche kindlichen Identifikationsfiguren und Liebeskonzepte weisen die Vorstellungen der alternden Rosemarie über zwischengeschlechtliche Beziehungen auch als regressives Phantasma aus. Im weiteren Verlauf des Romans jedoch tritt eine andere Figur mit Bezug zum Wasser als Identifikationsfolie an die Stelle der kleinen Seejungfrau, die Seeräuber-Jenny aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper. Zu diesem Zeitpunkt hat Rosemarie bereits ihre beste Freundin Beate getötet, da sie ihr fälschlicherweise eine Affäre mit Witold angedichtet hat. Es ist bezeichnenderweise auch der Zeit84 | Vgl. Hans Christian Andersen: Die kleine Seejungfer, in: ders.: Sämmtliche Märchen. Einzige vom Verfasser besorgte deutsche Ausgabe, Leipzig 201886 [1837], S. 274-294, hier S. 283f. 85 | Diese Idee geht auf die um 1540 entstandene Abhandlung des Paracelsus Liber de Nymphis zurück, in der dieser die geistlichen Vorbehalte gegenüber Elementargeistern, sie seien teuflische Wesen, durch die Interpretation, sie gingen mit den Menschen Verbindungen ein, um eine Seele zu erhalten, widerlegt. Vgl. dazu: Stefan Fuchs-Jolie: Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens, in: Harald Haferland (Hg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin 2010, S. 99-117, hier S. 109.

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punkt, an dem ihre Gefühle für Witold schwächer werden und sich die Haltung zu ihren Morden schlagartig ändert. Mordete sie anfangs, um Konkurrentinnen auszuschalten, wird diese ergebnisorientierte Strategie nun durch den psychologisch beflügelnden Wert der Taten an sich überlagert: ein erhebendes Machtgefühl. Schon Beates Beerdigung evoziert bei Rosemarie ein Hochgefühl: »Stolz durchflutete mich […]. Ohne mich wäre diese unvergeßliche Feier nie zustande gekommen.« (HT 129) Und später heißt es: Im Autoradio hörte ich Lotte Lenya das Lied von der Seeräuberjenny singen […], Jenny hatte sich gerächt für alle Demütigungen. »Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden…«, sang Lotte Lenya mit überzeugender Eindringlichkeit. Auch bei mir wußte niemand, mit wem er redete. Der Chef ahnte nicht, daß er einer Mörderin immer neue unangenehme Aufträge zuschob, Arbeiten, für die er im Grunde zu faul war. Wenn ich in meinem abgelegenen Bürozimmer saß und nach dem gemeinsamen Essen in der Kantine vor meinem geistigen Auge die fressenden und schwafelnden Kollegen Revue passieren ließ, dann rollte mancher Kopf, und ich sagte bloß »hoppla!« Macht über andere Menschen war fast besser als Liebe und im Grunde das Gegenteil davon. Wer liebt, ist machtlos, ohnmächtig und abhängig. (HT 141f.)

Doch wie bei Brecht, so bleibt diese Rache an den die Figur unterdrückenden Gesellschaftskonstellationen auch hier Fantasie und ist vor allem eine nachträgliche Umdeutung ihrer bisherigen Taten. Das subversive Potential, das Rosemarie nun in ihren Morden sehen will, erweist sich letztlich als Selbsttäuschung, die kathartische Wirkung ihrer Taten ist von kurzer Dauer86 und mündet schließlich in Selbstzerstörung: Die vermeintlich psychosomatischen Erscheinungen, die bei Rosemarie bereits nach der ersten Tat einsetzen und die sie fortan nach jedem Mord empfindet, stellen sich gegen Ende des Romans – nach zwei weiteren Morden – als Symptome eines Karzinoms heraus. Ihre Aggressionen richten sich darüber hinaus ohnehin gegen die Falschen: gegen eigentlich »positiv […] gemeinte Frauengestalten« ihres Alters – wie etwa die lebenslustige und flexible Beate – die sie auslöscht, gerade weil sie sie »gleichzeitig haßt und bewundert«.87 Durch den stark psychologisierenden Blick, den Ingrid Noll in ihrem Romanerstling auf die ältere Ledige wirft, sowie durch die Rolle der Täterin innerhalb der Kriminalhandlung, unterscheidet sich Rosemarie Hirte wesenhaft von Miss Marple. Geht es in den Texten Agatha Christies strukturell immer wieder darum, den Wert der ausgegrenzten und belächelten Älteren für die bestehende Gesellschaftsordnung am Beispiel Miss Marples herauszustellen und deren geistige Beweglichkeit zu betonen, erweist sich die alternde Serienmörderin Ingrid Nolls als 86 | Hommel-Ingram: Der Mörder ist selten der Butler, S. 203f. betont: »Auch hier ist Nolls Figur untypisch für den klassischen Krimi, da sich in diesem die Figuren entwickeln und deren Entwicklungen nachvollzogen werden können. Rosi rastet aber nur aus, unterzieht sich keiner Katharsis und endet, leicht verzerrt, wieder am Anfangspunkt.« 87 | Vgl. Strauch: Tötungsarten: die Mörderinnen bei Ingrid Noll, S. 139.

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eine in höchstem Maße zerrissene, trotz ihres destruktiven Potentials kindlichregressive Figur, die emotional versehrt, zutiefst amoralisch und (auto-)aggressiv, das Bild der unscheinbaren lächerlichen Älteren letztlich doch bestätigt: »Aber mir war nicht mehr nach weiblich Verspieltem zumute. […] Ich war eine alternde Frau und sah auch so aus; vielleicht sollte ich für meine grauen Haare ernstlich Frau Römers Altweiberblau in Betracht ziehen.« (HT 265) Mit der Beleuchtung der Konflikte, die Rosemarie Hirte als Angehörige der ersten Frauengeneration, die dieses Problem zu bewältigen hat, zwischen prä- und postemanzipatorischen Anforderungen psychologisch austrägt 88, löst der Text den Anspruch des Frauenkrimis, ›frauenrelevante‹ Themen zu verhandeln, dennoch ein.

L ITER ATUR Primärtexte Andersen, Hans Christian: Die kleine Seejungfer, in: ders.: Sämmtliche Märchen. Einzige vom Verfasser besorgte deutsche Ausgabe, Leipzig 201886 [1837], S. 274294. Christie, Agatha: Nemesis, London 2002 [1971]. Christie, Agatha: Sleeping Murder: Miss Marple’s last Case, London 2002 [1976]. Christie, Agatha: The Murder at the Vicarage, London 2002 [1930]. Christie, Agatha: The Tuesday Night Club, in: dies.: The Complete Short Stories. Miss Marple and Mystery, London 2008 [1928], S. 304-313. Egenolf von Staufenberg: Der Ritter von Staufenberg, hg. v. Eckhard Grunewald, Tübingen 1979. Fontane, Theodor: Unterm Birnbaum, durchges. Ausgabe, Stuttgart 2002 [1885]. Homer: Die Odyssee, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Reinbek b. H. 2008. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig, Berlin 212008 [1912]. Noll, Ingrid: Der Hahn ist tot, Zürich 1993 [1991].

Sekundärtexte Arend, Helga: Nette alte Dame mit Leiche im Keller: Ingrid Nolls Kriminalromane als Unterrichtsthema, in: Carmen Birkle, Sabina Matter-Seibel, Patricia Plummer (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001, S. 273-286. 88 | Helga Arend (Nette alte Dame mit Leiche im Keller: Ingrid Nolls Kriminalromane als Unterrichtsthema, in: Carmen Birkle, Sabina Matter-Seibel, Patricia Plummer (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001, S. 273-286, hier S. 276) vertritt die These, Rosemarie durchbreche mit ihren Taten die »vorgefertigten Meinungen über langweilige alte Jungfern«.

Figurationen der älteren Ledigen in den Kriminalromanen A. Christies und I. Nolls

Auerbach, Nina: Foreword, in: Laura L. Doan (Hg.): Old Maids to Radical Spinsters. Unmarried Women in the Twentieth-Century Novel, Illinois 1991, S. IX-XV. Baumgarten, Katrin: Hagestolz und alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene, Münster 1997. Birkle, Carmen; Matter-Seibel, Sabina; Plummer, Patricia: Unter der Lupe. Neue Entwicklungen in der Kriminallandschaft, in: dies. (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001, S. 1-13. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 95 (1999) H. 1, S. 87-112. Fuchs-Jolie, Stefan: Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens, in: Harald Haferland (Hg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin 2010, S. 99-117. Göckenjan, Gerd; Taeger, Angela: Matrone, Alte Jungfer, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 30 (1990), S. 43-79. Greg, William Rathbone: Why are Women Redundant?, London 1869 [1862]. Haller, Miriam: ›Aging trouble‹. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.): Altern ist anders, Münster 2004, S. 170-188. Hartung, Heike: ›Spinster Sleuth‹ und ›Iron Dowager‹. Lebensgeschichten und alte Frauen im Detektivroman, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Theorien und Geschichten des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 191-210. Herwig, Henriette: Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor Fontanes, in: Andrea von Hülsen Esch, Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg.): Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Bd. 1.: Aufsätze, Regensburg 2006, S. 52-62. Hommel-Ingram, Gudrun: Der Mörder ist selten der Butler. Gesellschaftskritik in der Kriminalliteratur von E.T.A. Hoffmann, Theodor Fontane und Ingrid Noll, Ann Arbor, MI. 1998. Keitel, Evelyne: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt 1998. Kenney, Catherine: Detecting a Novel Use for Spinsters in Sayer’s Fiction, in: Lora L. Doan (Hg.): Old Maids to Radical Spinsters. Unmarried Women in the Twentieth-Century Novel, Illinios 1991, S. 123-138. Kungl, Carla T.: Creating the Fictional Female Detective. The Sleuth Heroines of British Women Writers 1890-1940, Jefferson/London 2006. Küpper, Thomas: Derrick und Miss Marple: Lebens- und Leseerfahrung im Krimi, in: ders.: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010, S. 48-55.

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Maike Rettmann

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Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart Miriam Seidler

D AS A LTER IN GESELLSCHAF TLICHEN UND WISSENSCHAF TLICHEN D ISKURSEN Eekman: [...] Jeder Mensch weiß, dass man das eine nicht vom anderen trennen kann, und das finden wir auch ganz normal. Aber bei alten Leuten wollen wir das ganz plötzlich auseinandernehmen: Liebe ist ganz in Ordnung, aber bitte kein Sex, weil das finden wir eklig. Bühlig: Wir finden es niedlich, wenn Oma und Opa händchenhaltend durch die Gegend laufen... Eekman: ... und wir finden es sogar noch niedlich, wenn die Oma als Witwe im Heim sitzt und einen Mann ganz nett findet. Bühlig: Süß finden wir das. Eekman: Süß. Aber wir wollen bloß nicht wissen... Bühlig: ... wie sie es machen, wenn sie es machen... ob sie es machen. Eekman: Dass sie es machen.1

Die beiden Regisseure Katrin Bühlig und Piet Eekman, die sich hier zum Thema Alterssexualität äußern, haben jeweils einen Dokumentarfilm über Liebe im Alter gedreht. Katrin Bühlig hat für Kribbeln im Bauch (2001) vier frisch verliebte alte Paare interviewt, Piet Eekman hat 1998 den Dokumentarfilm Die Männer meiner Oma veröffentlicht, in dem er mit seiner Großmutter über die Themen Liebe und Masturbation spricht. In einem gemeinsam geführten Gespräch kommen die beiden Regisseure zu dem Ergebnis, dass der gesellschaftliche Umgang mit verliebten alten Menschen auch heute noch mit Tabus besetzt ist. Alte Menschen werden immer noch als asexuelle Wesen behandelt. Verbunden mit dieser Vorstellung ist der Glaube, dass in der Lebensphase Alter Liebe und Sexualität keine 1 | Liebe(n) und Alter(n) filmisch inszenieren. Die Regisseure Katrin Bühlig und Piet Eekman im Gespräch, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 129-147, hier S. 142.

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Bedeutung mehr haben, dass Liebe im Alter nur noch in Form von Zuneigung zu Kindern und vor allem zu den Enkelkindern gelebt wird. Dieses Stereotyp prägte nicht nur das gesellschaftliche Denken, auch in der Altersforschung wurde es lange Zeit nicht hinterfragt. »Weil wir dachten ältere Menschen hätten keine Sexualität, haben wir sie nicht befragt. Und weil wir sie nicht befragt haben, dachten wir, sie hätten keine.« 2 Mit dieser Erklärung beschreibt ein amerikanischer Sexualwissenschaftler Mitte der 1990er Jahre ein Defizit der Sexualforschung: Die Sexualität alter Menschen wurde nicht untersucht. Die kulturelle Sichtweise alter Menschen als asexuelle Wesen beeinflusste das Forschungsdesign, die Wissenschaftler zogen als zu untersuchende Probanden nur 18- bis 59-jährige heran. Damit wurde von der Altersforschung ein wichtiger Gesichtspunkt von Paarbeziehungen ausgeklammert. Die zahlreichen Veröffentlichungen in Soziologie, Psychologie und Pflegewissenschaften zum Themenkomplex Alter, Liebe und Sexualität der letzten Jahre verweisen darauf, dass sich in der Gegenwart ein Wandel vollzieht. Nicht nur hat sich die Überzeugung weitgehend durchgesetzt, dass Alter(n)skonstruktionen und Geschlechterkonstruktionen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, zumindest für die Forschungen zum Dritten Alter (60 bis ca. 75 Jahre) spielt der Themenkomplex Liebe und Alter(n) zunehmend eine Rolle, für das Vierte Alter (75 plus) gibt es hingegen kaum Untersuchungen.3 Trotz dieser zunehmend differenzierteren Sichtweise von Liebe und Sexualität im Alter schlug das Pendel zu Beginn der Forschung in die entgegengesetzte Richtung aus. Alterssexualität, verstanden als letzte Phase der menschlichen Sexualität, wurde nun einerseits durch eine numerisch festgelegte Marke und nicht durch eine der Sexualität innewohnende Veränderung bestimmt.4 Da die Sexualfunktion weniger schnell altert als andere Körperfunktionen und meist durch Erkrankungen und biographische Veränderungen beeinträchtigt ist 5, erscheint bereits diese Festlegung als problematisch. Andererseits wird (Alters-)Sexualität in vielen Studien mit Geschlechtsverkehr gleichgesetzt.6 So wurde die Koitushäufigkeit als Kriterium für eine erfüllte Sexualität bestimmt.7 Damit entsteht ein enormer Erwartungsdruck. Der aktive Senior/die aktive Seniorin hat nun nicht 2 | Elmar Brähler, Hermann J. Berberich: Vorwort, in: Elmar Brähler, Hermann J. Berberich (Hg.): Sexualität und Partnerschaft im Alter, Gießen 2009, S. 7-9, hier S. 7. 3 | Vgl. den Forschungsüberblick von Gertrud M. Backes, Martina Wolfinger: Liebe(n) und Alter(n). (K)ein Thema für die Wissenschaft?, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 33-53. 4 | Vgl. Ingelore Ebberfeld: »Es wäre schon schön, nicht so allein zu sein«. Sexualität von Frauen im Alter, Frankfurt a. M. 1992, S. 15. 5 | Vgl. Erich Grond: Sexualität im Alter. (K)ein Tabu in der Pflege, Hagen 2001, S. 11. 6 | Vgl. Ebberfeld: »Es wäre schon schön, nicht so allein zu sein«, S. 17. 7 | Vgl. Thomas Bucher: Altern und Sexualität, in: Elmar Brähler, Hermann J. Berberich (Hg.): Sexualität und Partnerschaft im Alter, Gießen 2009, S. 45-63, hier S. 50.

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mehr nur kulturelle Leistungen zu erbringen,8 sondern er/sie muss sein erfolgreiches Altern darüber hinaus durch Koitusraten beweisen, die denen von jungen Menschen entsprechen.9 Altersbedingte Veränderungen in der Sexualität werden in Folge dieser Setzung von medizinischer Seite sogar zu »sexuellen Dysfunktionen« umdefiniert.10 Es geht also nicht darum, mit den normalen körperlichen Veränderungen im Alter umzugehen, sondern diese werden als krankhaft angesehen und es werden Vermeidungsstrategien entwickelt.11 Im Rahmen des Forschungsprojektes »Determinanten sexueller Zufriedenheit und sexueller Aktivität in der zweiten Lebenshälfte« haben Thomas Bucher u. a. eine andere Herangehensweise gewählt, die eine weitere Definition von Sexualität zugrunde legt. Die sexuelle Aktivität, die im Verständnis dieser Studie neben dem Koitus auch andere Formen von Zärtlichkeit und körperlicher Nähe einbezieht, wird in Bezug gesetzt zum sexuellen Interesse und der sexuellen Zufriedenheit der Probanden: »Die Ergebnisse zeigen, dass kommunikative und partnerschaftliche Aspekte für die sexuelle Zufriedenheit im mittleren und höheren Lebensalter genauso bedeutend sind wie die sexuelle Aktivität.« 12 Zwar bleibt damit der Geschlechtsverkehr auch im Alter noch ein für die Lebensqualität nicht zu unterschätzender Faktor, im Unterschied zu früheren Lebensphasen nimmt seine Bedeutung für eine geglückte Paarbeziehung aber ab. Als wichtig erlebt wird jedoch das Wissen um die gemeinsame sexuelle Biographie eines Paares. Darüber hinaus werden die Beziehungen als zufriedenstellend erlebt, in denen die Kommunikation über Sexualität möglich ist.13 Neu an dieser Sicht auf das Alter ist die Tatsache, dass das Erleben der Sexualität nicht mehr als reine ›Triebbefriedigung‹ interpretiert wird, sondern dass der Mensch

8 | Vgl. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000. 9 | Ein Beispiel für den gesellschaftlichen Druck nennt Utz Jeggle (Sexualität im Alter, in: Hans-Liudger Dienel u. a. Hg.: Späte Freiheiten. Geschichten vom Altern. Neue Lebensformen im Alter, München u. a. 2001, S. 49-56, hier S. 49). Er verweist auf die Forschungsergebnisse des britischen Neuropsychologen David Weeks, der aufgrund von Interviews zu dem Ergebnis kam, dass »Freude durch Sex der entscheidende Faktor für die Bewahrung der Jugend« sei. Diese Aussage differenziert der Neuropsychologe weiter. Nur wer dreimal pro Woche und häufiger Sex habe, sehe jünger aus als der Durchschnittserwachsene seiner Altersgruppe. 10 | Bucher: Altern und Sexualität, S. 59. 11 | Vgl. Backes, Wolfinger: Liebe(n) und Alter(n), S. 39. 12 | Bucher: Altern und Sexualität, S. 58. 13 | Vgl. Susanna Re: Entwicklungsformen der Partnerschaft im Alter, in: Elmar Brähler, Hermann J. Berberich (Hg.): Sexualität und Partnerschaft im Alter, Gießen 2009, S. 11-26, hier S. 17.

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Miriam Seidler ganzheitlich als biopsychosoziales Beziehungswesen gesehen [wird, das] auf Beziehung angewiesen ist. Sexualität wird als intime körpersprachliche Kommunikation Ausdruck der leib-seelischen Einheit, die lebenslang als das persönlichste Kommunikationsmittel in partnerschaftlicher Beziehung erlebt wird.14

Fragt man nach dem Beitrag der Literaturwissenschaft zum interdisziplinären Forschungsfeld der Gerontologie, so ist es gerade diese ganzheitliche Perspektive, die charakteristisch für die literarische Altersrepräsentation ist und die die literaturwissenschaftliche Analyse in den Blick nimmt. Der Themenkomplex Paarbeziehung, Sexualität und Alter ist immer gesellschaftlich und biographisch eingebunden, denn eine literarische Figur wird nur dann als überzeugend bewertet, wenn sie – wie eine Person im wirklichen Leben – in einen sozialen Kontext integriert ist und eine Geschichte hat, auf deren Grundlage das erzählte Geschehen angesiedelt ist. Auch in der Literaturgeschichte ist ein geschlechtsspezifischer, am Ideal der Jugend orientierter Blick auf das Alter zu beobachten. Ein eindeutiges Indiz für diese einseitige Sicht auf Liebe und Sexualität in der Lebensphase Alter liefert das in der Literatur- und Kunstgeschichte immer wieder behandelte Motiv des verliebten Alten. Blickt man in das Standardwerk zur Motivgeschichte, Elisabeth Frenzels Motive der Weltliteratur, so findet man unter dem Eintrag »Alte, Der verliebte« folgende Charakterisierung: Weisheit und Würde sind Eigenschaften, die den betagteren Mann gemeinhin vor dem jüngeren auszeichnen und derentwegen er Anspruch auf Respekt erhebt. Leidenschaft, Verliebtheit sowie die Verlorenheit aus beidem, Gefühle, die den jungen Mann nach alttestamentlichem Zeugnis dazu drängen und berechtigen, Vater und Mutter zu verlassen und sich an eine Frau zu hängen, gelten bei dem älteren Mann als überwunden. Wenn er in eine solche Haltung zurückfällt und, Weisheit und Würde vergessend, einer Frau nachläuft oder sich unter ihr Joch begibt, wird er als töricht und lächerlich empfunden […]. Meist ist es noch dazu ein jugendlich-attraktives, also altersmäßig nicht passendes weibliches Wesen, zu dem der Alte von seiner späten Neigung hingezogen wird. Diese Disproportion der zwei Zentralpersonen steigert die Komik.15

Die moralische Bewertung, die mit dem Motiv verbunden ist, verweist darauf, dass gerade dieses hervorragend geeignet ist, Erwartungscodes an alte Menschen zu formulieren. Leidenschaft und Verliebtheit, Sexualität und Erotik sind mit der Vorstellung eines Würde und Weisheit verkörpernden Greises nicht vereinbar. Im Verlachen, in der komischen Darstellung verliebter alter Figuren kommt 14 | Grond: Sexualität im Alter, S. 11. 15 | Elisabeth Frenzel: Alte, Der verliebte, in: dies. (Hg.): Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 6., überarb. und erg. Aufl., Stuttgart 2008, S. 1-11, hier S. 1.

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dies zum Ausdruck. Auch in der Gegenwartsliteratur wird dieses Motiv gerne aufgegriffen. Allerdings dient es hier nicht mehr dazu, den alten Menschen vor Augen zu halten, wie lächerlich sie sind, wenn sie sich in fortgeschrittenem Alter noch einmal verlieben. Vielmehr hat sich das Motiv des verliebten Alten zu einem hoffnungsfrohen Motiv entwickelt, da an ihm exemplarisch gezeigt wird, dass das Alter eine Lebensphase ist, in der noch neue Erfahrungen möglich und in der positive Entwicklungen erlebbar sind. So wie Philip Roth in den letzten Jahren mit The Human Stain (2000), The Dying Animal (2001) und Exit Ghost (2007) das Motiv des verliebten Alten in der amerikanischen Literatur durchdekliniert hat, hat Martin Walser die Aktualität des Figurenmodells für die deutsche Literatur bewiesen. Am Beispiel seines Romans Der Augenblick der Liebe aus dem Jahr 200316 wird aber auch die Ambivalenz des Motivs in der Literatur der Gegenwart deutlich. Der ehemalige Immobilienmakler Gottlieb Zürn erhält Besuch von einer jungen amerikanischen Studentin, die durch zwei wissenschaftliche Publikationen zu dem französischen Aufklärer und Philosophen Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) auf ihn aufmerksam geworden ist. Trotz eines Altersunterschieds von vierzig Jahren erliegt der alternde Mann der Verlockung der jungen Frau. Er folgt einer Einladung ihres Professors zu einem Kongress. Während seines Aufenthalts in Amerika versagt er auf doppelte Weise: Dem wissenschaftlichen Fachpublikum ist er ebenso wenig gewachsen wie den Ansprüchen der jungen Frau. Er flieht in die Arme seiner langjährigen Ehefrau Anna, die das heimliche Machtzentrum des Romans darstellt. Bereits während eines Telefonats mit dem in Amerika weilenden Gatten stellt sie eine zentrale Frage: »Sie wäre ihm dankbar, wenn er, weil er doch so schlau ist, wenn er ihr erklären könnte, warum sie ihn noch liebt. Das ist ein Leiden, gegen das sie immer noch kein Mittel gefunden hat.«17 Bereits hier wird der sexuellen Begegnung mit der jungen Frau die langjährige emotionale Verbundenheit des Paares gegenübergestellt. Gottliebs Rückkehr aus Amerika begeht das gemeinsam gealterte Paar mit einem an die Überschwänglichkeit der Jugend erinnernden Liebesakt auf einem Stapel Buchenstämme im Wald. Aber auch im heimischen Ehebett wird die Heimkehr ausgiebig gefeiert: »Bis drei Uhr nachts hatten sie einander hineingeredet, hineingerissen in eine Festlichkeit, hatten, was sie einander taten, Feiern genannt.« 18 Das sexuelle Erlebnis mit der älteren Frau wird wesentlich intensiver erlebt. Trotz der Konfrontation mit dem eigenen alternden Körper durch die Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen an seiner langjährigen Ehefrau Anna kann das Abenteuer mit der jungen Beate die Gemeinschaft der Zürns nicht ernsthaft gefährden. In der langjährigen Ehe ist ein Zusammenspiel aller Komponenten der Liebe, so wie sie im Folgenden verstanden wird, zu beobachten: Neben einer starken emotionalen Bindung schließt 16 | Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Roman, Reinbek b. H. 2003. 17 | Ebd., S. 176. 18 | Ebd., S. 223.

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die Liebeserfahrung auch Erotik im Sinne von Erregung sexueller Lust und Sexualität als körperliche Beziehung ein. Geht man mit Georgeta Vancea davon aus, dass »die Bedingungen der Erotik und der Sexualität sowie deren literarische Ausgestaltungen von den ästhetischen Parametern und den dominierenden soziokulturellen Paradigmen der Zeit geprägt« 19 sind, so zeigt sich in Walsers Roman aufgrund der facettenreichen Beschreibung der Beziehung des alternden Paares einerseits ein historischer Wandel, andererseits stellt sich aufgrund der Rückeroberung des Ehemanns durch die ihn (immer noch) liebende Frau in Walsers Roman aber die grundsätzliche Frage, ob der Lexikoneintrag zum Motiv des verliebten Alten nicht einen Teil der Motivgeschichte ausblendet. Warum werden im Lexikoneintrag keine (scheiternden) liebenden alten Frauen genannt? Liegt dies daran, dass mit dem Motiv des senex amans traditionell das Scheitern einer lächerlichen Figur verknüpft ist und die Fallhöhe nur für einen männlichen Protagonisten hoch genug ist? Oder spielen verliebte alte Frauen in der Geschichte der Weltliteratur bislang keine Rolle? Dem ist nicht so20, aber bereits die Leerstelle im Lexikoneintrag verweist darauf, dass das Altern bis in die Gegenwart hinein geschlechtsdifferent wahrgenommen wird. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer formuliert dies in ihrem Essay Das Alter. Ein Traum von Jugend folgendermaßen: Die Art, wie Männer sich das Alter ausmalten und wie Frauen es erlebten und erleben, hat wenig miteinander zu tun. Männer machen sich ein Bild vom Alter, Frauen erkennen seine Zeichen erschrocken und viel zu früh am eigenen Leib. Der Körper, von dem ein Mann, solange es irgend geht, nichts wissen will, ist das eigentliche Guthaben einer Frau, und es schwindet von Tag zu Tag mehr. Auch im Alter gibt es zwei Kulturen. 21

Diese unterschiedliche Kultur des Alter(n)s hat laut Hannelore Schlaffer auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Altersliebe. Den Inbegriff von Lebensglück stellt daher das Paar ›alternder Mann mit junger Frau‹ dar; es zeigt das Alter, das kein Alter spürt, weil ihm die Jugend zur Seite geht. Die Übertragung des Modells auf Frauen, die Konstellation ›alte Frau – Jüngling‹ wirkt immer noch fragwürdig; es gibt sie kaum. Die Medien zeigen ein paar alternde Filmstars mit jungen Liebhabern, um die Gleichheit der Chancen vorzutäuschen; doch haben diese Paare, anders als der berühmte

19 | Georgeta Vancea: Die Elementarteilchen der Liebe in den Geschichten des Begehrens, in: LILI. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 34 (2004) H. 135, S. 110-136, hier S. 110. 20 | Vgl. zur Geschichte des weiblichen Figurenmodells die Übersichtsdarstellung in meiner Dissertation: Miriam Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2010, S. 151-162. 21 | Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend, Frankfurt a. M. 2003, S. 95.

Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwar t Mann mit seiner jungen Frau, im bürgerlichen Leben kaum Entsprechungen; vor allem sind die Verbindungen so gut wie nie dauerhaft. 22

War Martin Walsers Roman bereits ein erstes Beispiel dafür, dass sexuelle und emotionale Beziehungen alter Männer mit jungen Frauen nicht per se glücklich verlaufen, so stellt sich im Anschluss an Schlaffers Überlegungen und unter Rückgriff auf das Motiv des senex amans dennoch die Frage, warum die Beziehung von altem Mann und junger Frau kulturell so hoch bewertet wird und welche Auswirkungen diese Wahrnehmung auf die Bewertung der alternden Frau (in der Literatur) hat. Wenn bereits ein Mann, dem historisch eine höhere Position zugesprochen wird als einer Frau, einen Statusverlust durch eine vermeintlich unangemessene Liebe erlebt, welche Wertung erfährt dann erst eine verliebte alte Frau? Welche Erwartungscodes werden mit der Figur der verliebten Alten verbunden? Geht vielleicht mit der von Hannelore Schlaffer angesprochenen Aufwertung des alten Mannes eine Abwertung der alten Frau einher, da das ›Scheitern‹ in der altersdifferenten Beziehung an diese delegiert wird? Oder hängt diese negative Bewertung grundsätzlich damit zusammen, dass für Frauen die »Möglichkeit, Sexualität ›just for fun‹ anzunehmen, [...] ans Obszöne [grenzt], da ihre Sexualität im Gesellschaftsgefüge auf Fortpflanzung (und Liebe) ausgerichtet war und ist«?23 Folgt man diesem Denkmodell, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass das, was der jungen Frau verwehrt ist, für die alte Frau jenseits der Menopause undenkbar wird: Sexualität und Liebe. Ist damit eine Umkehr der Rollenzuschreibung in der Gegenwart anzunehmen, wie sie Hannelore Schlaffer andeutet: Wenn gegenwärtig der alte Mann durch die junge Frau an seiner Seite ›geadelt‹ wird, wird dann die komische und moralisch verwerfliche Seite der Altersliebe in der Literatur der letzten Jahrtausendwende an die Frau delegiert? Sind somit die Beispiele verliebter alter Frauen nur neue Spielarten des Figurenmodells der lüsternen Alten? Oder irrt Hannelore Schlaffer zumindest in Bezug auf die Literatur? Ist in der Gegenwartsliteratur bereits zu beobachten, was die Autorin Monika Maron in dem Roman Endmoränen (2004) ihrer Figur Igor, einem dynamischen russischen Galeristen, als Zukunftsentwurf in den Mund legt: Bald, so ist der Mittvierziger überzeugt, werden »die Vorstellungen von Schönheit nicht mehr allein durch sexuelles Begehren geprägt werden, sondern auch von allen anderen Begehrlichkeiten.«24 Dann, so prophezeit er seiner Gesprächspartnerin Johanna, »wird die Zeit der reifen, intelligenten, gutverdienenden Frauen anbrechen«.25 Sie wird sich im fortgeschrittenen Alter ebenso mit einem jungen Mann schmücken können, wie dies gegenwärtig nur bei Männern zu beobachten ist.

22 | Ebd., S. 99f. 23 | Ebberfeld: »Es wäre schon schön, nicht so allein zu sein«, S. 17f. 24 | Monika Maron: Endmoränen. Roman, Frankfurt a. M. 2004, S. 236. 25 | Ebd.

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Mit dieser »Revolution der Geschlechterbeziehungen« 26 wird eine kulturelle Neubewertung der Frau einhergehen. Sie ist bedingt durch die Wahrnehmung der Frau als intellektuelles Wesen, wodurch der Körperlichkeit (und der Familie) ein völlig neuer Stellenwert zukommt, da sie nicht mehr alleine den ›Marktwert‹ der Frau bestimmt.27 Da die Identität in der abendländischen Gesellschaft eng mit der Sexualität verknüpft ist, stellt sich gerade in Anbetracht des Tabus der Alterssexualität die Frage, inwiefern sich alte Menschen und vor allem alte Frauen über ihre Sexualität definieren bzw. welchen Anteil diese an der Identitätskonstruktion hat. Literarische Texte können mit Volker Neuhaus verstanden werden als äquivalent mit Diskursbeiträgen, doch handelt es sich bei ihnen wegen ihrer hohen ästhetischen Qualität und damit einhergehenden Aktualisierbarkeit in verschiedenen Kontexten in der Regel um komplexer strukturierte und weniger leicht zu erschließende Diskursbeiträge. 28

Das heißt, in der Literatur wird das Thema der Alterssexualität verhandelt. Dabei greifen diese Diskursbeiträge einerseits auf aktuelle Diskussionen und Rollenmuster zurück, diese erhalten aber durch die Art der literarischen Darstellung einen ästhetischen Mehrwert. Damit geben sie die Realität nicht eins zu eins wieder, sondern können diese auch verfremdet darstellen. Wie literarische Diskursbeiträge zur gesellschaftlichen Diskussion um Liebe und Sexualität im Alter aussehen, soll anhand einiger exemplarischer Beispiele dargestellt werden.

A M E NDE EIN A NFANG — L IEBE UND S E XUALITÄT IM D RIT TEN L EBENSALTER Barbara Bronnen wählt für ihren Roman Am Ende ein Anfang (2006)29 ein realistisches Umfeld. Sie entwickelt eine »frische Liebe zwischen Gleichaltrigen jenseits

26 | Ebd., S. 238. 27 | Interessant ist in diesem Kontext der Beitrag von Horst-Jürgen Gerigk (»Männlich – weiblich«. Hohes Alter als literarisches Thema, in: Thomas Fuchs u. a. (Hg.): Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg 2010, S. 183-198), der dem Greis als Liebhaber die Greisin als Liebesobjekt gegenüber stellt. Hierbei verkehrt er aber gerade den von Maron skizzierten Zusammenhang. Die alten Frauen werden nur aufgrund ihres Wissens oder ihres Kapitals begehrt. Der alte Körper wird hingegen als verfallender Körper gezeigt. Damit verweist der Beitrag auf die Diskriminierung der alten Frau, verkauft dies aber als Blick auf die Würde des Alters. 28 | Stefan Neuhaus: Sexualität im Diskurs der Literatur, Tübingen 2002, S. 17f. 29 | Barbara Bronnen: Am Ende ein Anfang. Roman, Zürich/Hamburg 2006, im Folgenden zitiert mit der Sigle EA und Seitenzahl in Klammern.

Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwar t

der Pensionsgrenze«30. Allerdings hat diese Liebe eine Vorgeschichte. Bronnen thematisiert die Wiederbegegnung und das Wiederfinden eines Paares, das sich dreißig Jahre zuvor nach einer kurzen aber intensiven sexuellen Begegnung getrennt hat. Charlotte ist inzwischen 69, Johannes 72 Jahre alt. Im Rückblick auf all das, was in der Zeit nach ihrer Trennung geschehen ist, wird der Text zu einer Altersklage. Die erfolgreiche Photographin Charlotte hat innerhalb weniger Jahre ihre Mutter und ihren an Demenz erkrankten Mann verloren. Johannes, von Beruf Verleger, musste erfahren, wie er innerhalb kürzester Zeit aufgrund von Neustrukturierungen in seinem Verlag den Arbeitsplatz verlor. Beide fühlen sich in gewisser Hinsicht nutzlos. Die Frage, ob ihre Trennung vor dreißig Jahren die richtige Entscheidung war, bringt sie einander ebenso näher wie die gemeinsamen Erinnerungen. Seinen besonderen Charme erhält der Text durch die Art der Darstellung. Es handelt sich um einen Briefroman, der geprägt ist von der Innenperspektive der Figuren, einer durch das Medium bedingten Langsamkeit, der schonungslosen Reflexion der Schreibenden über das Altern und die Erfahrungen mit dem Tod sowie von einer ungewöhnlichen Behutsamkeit mit sich und dem anderen. Bei aller Freude, daß Du Dich für mich interessierst: Besteht die mindeste Hoffnung, daß Du begreifst, wie sehr Du mir mit Deinem Auftauchen mein neugefaßtes Lebenskonzept verhagelst? Wenn man einen geliebten Menschen zu Grabe getragen hat, weiß man ein wenig mehr vom Leben, versteht aber weniger, zieht sich zurück in seine Einsamkeit, nur zögernd kehrt das wirkliche Leben wieder. Doch wird es immer schwerer zu glauben, daß noch einer kommt, den man lieben könnte, unmöglich, körperliche Liebe auch nur zu erwägen. Man hält sich fest an einer ganzen Reihe von Glaubenssätzen über das künftige Leben, die man nicht mehr in Frage stellt. (EA 49f.)

Im Folgenden wird der Leser eingeladen nachzuvollziehen, wie sich die emotionale Beziehung zwischen den beiden Figuren neu entfaltet. Die Angst vor dem Scheitern wird unter anderem am Beispiel der Sexualität vorgeführt. Charlotte hat als selbstbewusste Frau vor der Wiederbegegnung mit Johannes durchaus auch im fortgeschrittenen Alter ihre Lust ausgelebt. Eine erotische Beziehung zu einem jüngeren Mann beendete sie, als sie feststellen musste, dass ihr Körper jugendlichen Ansprüchen nicht mehr genügt. Hier wird das Modell der verliebten Alten aufgerufen und von der Protagonistin selbst abgelehnt. Im Rückblick beschreibt sie die Erfahrung als bedrückend. Die Beziehung basierte letztendlich nur auf körperlicher Kommunikation und ein Hexenschuss beim Geschlechtsverkehr schien ihr ein Symbol dafür zu sein, dass diese Form der Lust und des Begehrens einer alten Frau nicht mehr zustehe (vgl. EA 67f.). Im Folgenden über-

30 | Edelgard Abenstein: Längst vergangenes Begehren. Briefroman von Barbara Bronnen, in: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/528494/ [Zugriff: 04.08.2009].

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nimmt sie die traditionellen Vorstellungen, die auch in Hannelore Schlaffers Essay zur Sprache kamen: Ich glaube, dass die Art, wie Mann und Frau ihr Alter erleben, völlig verschieden ist. Wir alternden Frauen können heute alles leben, außer der körperlichen Liebe – über das Alter werden wir nie triumphieren. Es sei denn, wir pflegen eine wohlbedachte Liebe, die nicht auf Leidenschaft gegründet ist. Warum verträgt die Liebe so schlecht Zeit oder die Zeit so schlecht Liebe? Höchste Zeit, die gebrochenen Flügel am Bett aufzuhängen und einen Schlussstrich zu ziehen. (EA 68f.)

Interessanterweise geht Johannes nicht direkt auf diese resignative Anpassung an traditionelle Rollenmuster ein. Er weckt die Erinnerung an einen gemeinsam verbrachten Nachmittag im Hotelzimmer – nackt, aber ohne Beischlaf. Ihm gelingt es im Laufe des Romans, Charlotte von einem gemeinsamen ›Neubeginn‹ zu überzeugen, aber auch für ihn gilt es, Hürden zu überwinden. Aus der Erfahrung, beim »Vögeln eine schmerzhafte Bauchlandung« (EA 56) erlitten zu haben, zieht er die Konsequenz, dass im Alter eine neue Form von Sexualität entwickelt werden muss. Für diese ist eine zentrale Herausforderung, dass die in der Jugend geltenden Bewertungsmaßstäbe, wie z.  B. die Koitushäufigkeit, nicht mehr anwendbar sind. Hier zeigt sich also die Abkehr von dem Denkmodell, das auch die Sexualforschung verworfen hat. Die positive Überraschung, die die Entdeckung einer neuen Form der sexuellen Lust mit sich bringt, beschreibt Charlotte: Als wir zusammenlagen und Du mich küsstest, über und über. Als sich das Bündel der Kräfte zusammenschloß, dem wir den Namen Sinne geben. Fünf Sinne, und einer wagte sich weit hinaus, den Du fast erschrocken mit einem Ruck zurückbefahlst, und doch ist er uns nicht entglitten. Wir haben Zeit, sagtest Du, viel Zeit. Du warst es, der mich niederhielt und besänftigte und meinen Aufruhr in Schach hielt, indem Du uns Grenzen setztest. Und doch spürte ich, welche Kraft dahinter war, und meine Ungläubigkeit, auch im Alter noch mit Haut und Haar geliebt zu werden, schwand. (EA 155)

Der Lernprozess, den die beiden Figuren durchleben, indem sie sich von Vorstellungen früherer Lebensphasen lösen, wird von Barbara Bronnen einfühlsam nachgezeichnet. Ob das anfängliche Scheitern tatsächlich auf das Alter der Protagonisten zurückzuführen ist, ist zu bezweifeln. Vielmehr ist es der Erwartungsdruck, den die Figuren aufgrund biographischer Erfahrungen selbst auf bauen, der die Annäherung erschwert. Die Reflexion der Beziehung und die langsame körperliche Annäherung der beiden alten Figuren sind Ausweis dieses Lernprozesses. Die zögernde Charlotte erscheint hier als weise, aber ängstliche Figur, wohingegen Johannes immer wieder Züge des alternden Schwerenöters zeigt. Nachdem ihn seine letzte Partnerin, die vierzigjährige Renate, wegen einer Frau verlassen hat (EA  64), hat er zwar seine Einstellung zu altersdifferenten Paarbeziehungen geändert: »Nun, heute glaube ich, dass das Verhältnis alter Mann

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– junge Frau ohnedies mit fortschreitendem Alter immer mehr an Absurdität zunimmt.« (EA  66) Dennoch ist es nicht nur die aus der Beschreibung dieses Scheiterns resultierende Komik, die die alte Figur zum Klischee erstarren lässt, sondern die Tatsache, dass der alte Mann seine junge Partnerin geschwängert hat. Damit wird er mit Anfang 70 Vater, übernimmt also eine Verantwortung, die die sich neu entwickelnde Beziehung zu Charlotte gefährdet. Das traditionelle Motiv des Altersspotts wird aufgerufen und reflektiert. Und doch dient es nur dazu, ein anderes Modell kontrastiv hervorzuheben. Es ist die Partnerschaft des gleichaltrigen Paares, die Bronnen im Kontrast zu der von altem Mann und junger Frau als Ideal entwirft. Die Beziehung von Charlotte und Johannes wird als »Berührung zwischen Ebenbürtigen« (EA 66) beschrieben. Die verschiedenen Beziehungsaspekte werden thematisiert und ihre Bearbeitung wird textintern aufgezeigt. Damit wird aus der Perspektive der weiblichen Autorin das Motiv der Altersliebe aufgegriffen, um implizit den mit diesem Motiv verbundenen Erwartungscode zu reformulieren.

»[…] DAS IST DOCH UNAPPE TITLICH IN DEM A LTER «! K ÖRPERLICHE N ÄHE IM P FLEGEHEIMROMAN Trotz der Rehabilitation der Alterssexualität in vielen Forschungsfeldern und der gelungenen Darstellung in der Literatur, wie sie am Beispiel von Bronnens Roman aufgezeigt wurde, stellt sich dennoch die Frage, ob die von Michel Foucault in Der Wille zum Wissen geäußerte These, dass Sexualität im öffentlichen Diskurs immer noch an der Fortpflanzung ausgerichtet ist und somit das »sich fortpflanzende Paar«31 die Norm darstellt, für alte Menschen nicht immer noch von zentraler Bedeutung ist.32 Zwar ist das Sprechen über Sexualität nicht mehr wie Ende der 1970er Jahre als Form des Widerstandes zu verstehen. In einer Zeit, in der auf jeder Plakatwand leicht bekleidete Frauen zu sehen sind und beinahe jede Frauenzeitschrift ihren Leserinnen die idealen Stellungen für das Liebesspiel verrät, kann das Sprechen über Sexualität nicht mehr als subversiver Akt verstanden werden. Allerdings gilt diese Entwicklung bis in die Gegenwart nur für das potentiell fortpflanzungsfähige Paar. Liebe und Sexualität, die sich jenseits dieser Norm abspielen, sei es die zwischen homosexuellen oder alten Menschen, unterliegen noch immer der von Foucault beschriebenen Repression. Wenn der Sex unterdrückt wird, wenn er dem Verbot, der Nichtexistenz und dem Schweigen ausgeliefert ist, so hat schon die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen, etwas von einer entschlossenen Überschreitung. Wer diese Sprache spricht, 31 | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, übers. von Ulrich Raulff, Walter Seitter, Frankfurt a. M. 2008, S. 11. 32 | Diesen Aspekt betont auch Bronnen mit der späten Vaterschaft ihres Protagonisten.

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Mit Foucault kann der literarische Diskurs über diese ausgegrenzten Formen der Liebe und der Sexualität als Antizipation dieser künftigen Freiheit interpretiert werden. Anhand von zwei Außenseiterfiguren, die eine Liebesbeziehung im Pflegeheim eingehen, soll das Zusammenspiel von Macht und Sexualität im literarischen Diskurs der Altersliebe dargestellt werden. Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten (2006)34 gehört zur Gattung der Pflegeheimromane.35 Sein Thema ist die Tristesse im Pflegeheim, der alle Beteiligten machtlos gegenüberstehen.36 Im Fokus der Erzählung stehen Regina und Ernst, zwei erwachsene, selbst bereits alternde Kinder, die jeden Dienstag ihre pflegebedürftigen Eltern im Pflegeheim »Haus Ulmen« besuchen. Sie lernen sich dort kennen. Aus dem Austausch über ihre Erfahrungen entsteht eine sexuelle Beziehung, die aber immer von der Verantwortung für ihre Eltern und den Beziehungen zu ihnen überschattet wird. Die Eltern sind Frau von Kanter und Herr Sander. Frau von Kanter ist nach einem Schlaganfall nicht mehr in der Lage zu sprechen. In der internen Fokalisierung gibt der Roman aber immer wieder Einblick in ihre Gedanken. Sie ist geistig rege und beobachtet ihre Tochter teilweise mit beißendem Spott. Herr Sander, ein emeritierter Professor, leidet an einer Demenzerkrankung und stellt damit eine Kontrastfigur zu Frau von Kanter dar. Annette Pehnt greift mit dieser Figur ein in der Gegenwartsliteratur neu entwickeltes Figurenmodell auf. Der emeritierte Professor, der es gewohnt war, auf die Sprache als sein wichtigstes Handwerkzeug zurückzugreifen, verliert durch die Erkrankung seinen Zugang zur Welt. Zurück bleiben Momente der Leere und der Verzweiflung.37 33 | Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 14. 34 | Annette Pehnt: Haus der Schildkröten. Roman, München 2006, im Folgenden zitiert mit der Sigle HdS und Seitenzahl in Klammern. 35 | Überlegungen zur Gattungsdefinition finden sich in meiner Dissertation: Figurenmodelle des Alters, S. 315-349. Im Kontext des Familienromans wird der Roman von Petra Brunnhuber gelesen: Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur, in: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 183-194. 36 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Henriette Herwig: Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart, in diesem Band. 37 | Seidler: Figurenmodelle des Alters, S. 409. Hierbei handelt es sich um eine in der Literatur immer wieder mit der Demenzerkrankung verbundene Situation (vgl. z. B. Gerhard Köpf: Ein alter Herr. Novelle, Tübingen 2006), die sich aber auch in der Realität findet. Wie das Beispiel des Germanisten und Altphilologen Walter Jens verdeutlicht, sind auch Wissenschaftler von dieser Krankheit nicht ausgenommen.

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Aber nicht die Familienkonstellationen oder die Liebe im Erwachsenenalter soll hier analysiert werden, sondern die als Kontrastfigur zu Regina angelegte Figur Frau Hint. Früher hätte man Frau Hint als ›alte Jungfer‹38 bezeichnet, doch die klassischen Merkmale dieses Figurenmodells werden nicht aufgerufen, eine soziale Stigmatisierung findet nicht statt. Frau Hint war in ihrem Berufsleben »Kummerkastentante« (HdS 98) bei einer Zeitung. Sie ist keine ›Finalpatientin‹, die nach einem Schlaganfall oder einer anderen einschneidenden Erkrankung nicht mehr alleine leben kann, sondern sie gehört zu dem kleinen Teil der rüstigen Bewohner des Pflegeheims. Sie hat ihr Leben lang alleine gelebt und ihre Freiheit immer als Vorteil empfunden (auch wenn die vom auktorialen Erzähler nachgetragene sexuelle Belästigung durch ihren Chefredakteur eine andere Version ihrer Geschichte erzählt)39: Während alle Welt zu Hause bei den Kindern hockte und Strumpfhosen stopfte, ließ Frau Hint es sich gut gehen, ins Kino ging sie, wann immer ihr der Sinn danach stand, und Urlaube gönnte sie sich, […] Frau Hint schaute sich Kunstausstellungen an, in London, in Kopenhagen, die Postkarten hat sie noch in ihrem Zimmer, die hat sie nicht aussortiert, die zeigte sie manchmal [...]. (HdS 38)

Und so zieht die Rentnerin durch das Seniorenheim und bietet ihre Erinnerungen an, zeigt die Postkarten, Stadtpläne und Fahrkarten, die sie auf bewahrt hat. Die geistig agile Frau hat sich selbst für den Umzug ins Pflegeheim entschieden, da sie keine Angehörigen hat, die sie pflegen könnten. In Haus Ulmen fühlt sie sich aber unterfordert. Die Eigenarten der anderen Bewohner und das Verhalten der Pflegerin Gabriele erwecken in ihr immer wieder den Eindruck, Haus Ulmen sei ein »Irrenhaus« (HdS 33 und 116). Lediglich der Pfleger Maik, der die Heimbewohner als ebenbürtige Gesprächspartner behandelt und sich für ihr Leben vor dem Einzug interessiert, ist für Frau Hint ein Ansprechpartner. Eine neue Aufgabe findet Frau Hint darin, sich um ihren Zimmernachbarn Herrn Lukan zu kümmern. Herr Lukan ist ein Vollpflegefall. Er sitzt im Rollstuhl, kann sich kaum mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Er leidet, ähnlich wie Frau von Kanter, unter der Rücksichtslosigkeit seiner Mitmenschen und der Pflegerin Gabriele (HdS 33). Frau Hint holt in der Beziehung mit Herrn Lukan das nach, was ihr in ihrem Single-Dasein gefehlt hat: Sie lebt in einer Beziehung mit einem Mann. Die Ent38 | Göckenjan: Das Alter würdigen, S. 188-194. 39 | »Dass nie Männer im Haus waren, erzählt sie nicht, denn sie hat es vergessen, sie erinnert sich doch an den Schnauzbart in der Oper und an Herren, die ihr in den Mantel geholfen haben, und an den Chefredakteur der kleinen Zeitung, der manchmal abends in ihr Büro kam [...] und sie an die Wand drängte, es schmeichelte ihr, die warme Redakteurszunge, der Druck an den Lenden, so jedenfalls erinnert sie sich, die entschlossenen Finger, Hornhaut an den Fingerkuppen, das kam vom Schreiben.« (HdS 116)

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wicklung einer Leidens- und Lebensgemeinschaft kommt aber nicht nur darin zum Ausdruck, dass sie viel Zeit im Zimmer von Herrn Lukan verbringt; sie kümmert sich auch um sein körperliches Wohl, indem sie seine Nägel manikürt, das Zimmer regelmäßig lüftet und ihm ein geeignetes Fernsehprogramm auswählt. Zwar ist die Beziehung von Frau Hint und Herrn Lukan auch dadurch gekennzeichnet, dass sich die alte Frau ihrem Zimmernachbarn aufdrängt, aber es gibt immer wieder intensive Momente körperlicher Nähe, die nahe legen, dass Herr Lukan diese emotionale Nähe positiv aufnimmt. So legt Frau Hint dem alten Mann die Hand auf den Kehlkopf – die einzige Möglichkeit, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Seine Reaktion – »er summt verhalten und dehnt den Hals ein wenig ihren Fingern entgegen« (HdS 115) – interpretiert sie als positive Antwort auf ihre Berührung. Am Beispiel des alten Paares wird somit aufgezeigt, was sich Regina und Ernst, die Liebenden in der mittleren Lebensphase, noch nicht einzugestehen bereit sind: dass die »Paradoxie zwischen dem postmodernen Ethos der Freiheit und dem ewigen Bedürfnis nach Geborgenheit«40 nur in der romantischen Liebesbeziehung und nicht in der Sexualität aufhebbar ist. So ist es auch zu verstehen, dass die alte Frau Hint klassische Verhaltensweisen eines Liebespaares aufruft, die stets auch eine erotische Komponente enthalten. Wenn sie angeekelt von den Speichelfäden, die sich zwischen Herrn Lukans Lippen spannen, den Blick auf seine »weiße[n] Hände mit cremigen Fingern und hübschen runden Fingernägeln« (HdS 41) richtet, fühlt sie sich von Herrn Lukan angezogen. Der auktoriale Erzähler deutet diesen Wandel vom abstoßenden Ekelgefühl zur erotischen Anziehungskraft vorsichtig an, wenn er die weiteren Ereignisse beschreibt: »[D]a nahm Frau Hint, sie wußte gar nicht, was über sie kam, Herrn Lukans warme und trockene Hand, legte sie auf ihr Knie und streichelte die Knöchel und die weichen Finger.« (HdS 41) Die Hand wird zum »erotischen Pars pro toto«41 und die alte Frau wird sich lange verdrängter Gefühle bewusst. Die Aktivität, die die alte Frau in diesem Moment zeigt, legt sie nun auch in anderen Bereichen an den Tag. Sie richtet sich beispielsweise im Zimmer von Herrn Lukan ein. In seinem Badezimmer liegen nun »neben seinen Windeln ihre eigenen Feuchttücher« (HdS 115) – ein Hinweis darauf, dass alle alltäglichen Verrichtungen nun in seinem Wohnbereich stattfinden. Diese allmähliche Annäherung bleibt an einem Ort, der keine Intimsphäre mehr erlaubt, nicht unbeobachtet. Bemerkungen der Pflegerin Gabriele wie die Bezeichnung des Paares als »Turteltäubchen« (HdS  115) oder der flapsige Kommentar »ein Schäferstündchen, wie goldig« (HdS 41) signalisieren keine Kritik, sondern eher leisen Spott den alten Menschen gegenüber. Eine Wende erfährt dieses Verhalten, als das Bedürfnis nach Nähe bei Frau Hint neue Ausmaße an40 | Vancea: Die Elementarteilchen der Liebe, S. 116. 41 | Wolfgang Schneider: Die Heimleitung sieht das gar nicht gern. Schauplatz Altenheim: Annette Pehnt erzählt in ihrem Roman Haus der Schildkröten von den Nöten der Alten und ihrer Kinder – geduldig, unerbittlich und mit abgründiger Anmut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.2007, Nr. 23, S. Z5.

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nimmt und sie die Nacht im Bett von Herrn Lukan verbringt. (HdS 85f.) Diese nächtlichen Besuche bleiben nicht lange unbemerkt und die Reaktion von Seiten der Heimleitung folgt schnell und ist eindeutig. Die Leiterin des Heimes ermahnt Frau Hint mit folgenden Worten: »[Es ist uns] zu Ohren gekommen, daß Sie sich mit einer Intensität um Ihre Mitbewohner bemühen, die Ihrer eigenen Gesundheit vielleicht nicht zuträglich sein könnte. [...] Sie sollten die Nächte in Ihrem eigenen Bett verbringen, verstehen Sie, sagt die Heimleitung [...].« (HdS 122f.)

Die Heimleitung, die »mehr oder minder das Gute will und oft zwangsläufig das Böse schafft«42, verdeutlicht der Greisin, welches Verhalten für ihr Lebensalter angemessen ist. Ein Recht auf Zärtlichkeit und Liebe im Sinne einer emotionalen Beziehung zu einem gleichaltrigen Mann ist im Vierten Alter nicht mehr denkbar. In der Umgebung des Pflegeheims wird sie gar zu einer absurden Idee. Die Argumentation wird von der Pflegekraft Gabriele noch einmal bestätigt. Im Gespräch mit ihrem Mann sagt sie: »irgendwo hört es doch auf, wie die Kaninchen, das ist doch unappetitlich in dem Alter [...]« (HdS 137). Der Umschlag vom mitleidigen Lächeln über das Verhalten der Alten hin zum Ekel bei der Imagination von Sexualität zwischen alten Menschen wird sensibel nachgezeichnet. Die Kaninchen als Tiere, die aufgrund ihrer enormen Reproduktionsfähigkeit als Metapher für die scheinbar nicht mehr zielführende, weil nicht mehr im Kontext der Nachwuchsproduktion stehende Alterssexualität angeführt werden, verweisen einerseits auf ein an christlichen Maßstäben orientiertes Verständnis von Sexualität. Andererseits zeigt die Äußerung der Pflegekraft aber auch ein Unbehagen, das sich einstellt, wenn sich die alten Figuren der Institutionalisierung ihres Körpers entziehen.43 Hier zeigt sich einmal mehr die Gefühllosigkeit der Pflegekraft. Aufgrund der Lähmung des Herrn Lukan ist ein sexueller Kontakt zwischen den beiden alten Menschen kaum mehr denkbar. Was Frau Hint sucht und Herr Lukan zumindest als angenehm zu empfinden scheint, ist die körperliche und emotionale Nähe zu einem anderen Menschen und damit das, was in einem Pflegeheim eigentlich nicht vorgesehen ist. Frau Hint wird mit der Zurechtweisung durch die Heimleitung gewissermaßen der Boden unter den Füßen weggezogen. Ganz spontan reagiert sie mit dem Wunsch, das Pflegeheim zu verlassen, und dann zieht sie sich in ihr Bett zurück, 42 | Angelika Overath: Das Drama der alten Kinder. Annette Pehnts beeindruckender Roman Haus der Schildkröten, in: Neue Zürcher Zeitung, 06.11.2008, S. 27. 43 | Vgl. zur Frage von Institutionalisierung und Machtausübung im Pflegheimroman: Ulla Kriebernegg: »It’ll remain a shock for a while«: Resisting Socialization into Long-Term Care in Joan Barfoot’s Exit Lines, in: Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 189-207.

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wo sie wimmernd den Abend verbringt. Sie wirkt auf den Pfleger Maik wie ein Kind (HdS 126) und nimmt damit die wehrlose und rechtlose Rolle an, die ihr zugewiesen wurde. Die Zurückweisung hat aber auch psychosomatische Auswirkungen. In der Nacht glaubt sie, erblindet zu sein. Sie leidet unter Angstzuständen, die aber wiederum auf Herrn Lukan gerichtet sind: »Sie murmelt, wenn das je aufhört, lass’ ich ihn nie wieder allein, nie wieder, das verspreche ich, und dann schließt sie die Augen und wartet.« (HdS 136) Im Bett sitzend findet sie die Pflegerin Gabriele dann auch am nächsten Morgen vor – mit einem großen Urinfleck zwischen den Beinen, obwohl die Figur bislang keine Anzeichen von Inkontinenz gezeigt hat. Aber – und auch das deutete sich bereits an – Frau Hint lässt sich von der Heimleitung und den Pflegekräften letztendlich nichts sagen. Sie ist davon überzeugt, richtig zu handeln. Dennoch bleibt das Aufzeigen von Tabugrenzen nicht ohne Folgen. Es führt zur Ausgrenzung des Paares. Frau Hints Selbstbewusstsein hat gelitten, die erotische Geste und ihre Weltwahrnehmung haben sich gewandelt. Um den Mut zu finden, die »warme schlaffe Hand« von Herrn Lukan auf ihr Bein zu legen, benötigt sie nun »einen kleinen Schluck oder zwei« (HdS 181) aus ihrem Sherryglas. Darüber hinaus zieht sich das alte Paar nun immer mehr aus der Gemeinschaft der Pflegebedürftigen zurück. Selbst Frau Hint verliert die Kommunikationsfähigkeit mit der Außenwelt. Sie »redet nicht mehr viel mit Maik und auch mit niemand anderem, es ist nicht mehr nötig.« (HdS 182) An der großen Silvesterparty nehmen die beiden nicht teil. Das Aufzeigen von Tabugrenzen führt somit zum Verlust von Lebensqualität und drängt das Paar in eine Dyade, die keine Rückkehr in die Gemeinschaft mehr zulässt. »Revolte und Resignation« 44 von Jean Améry als Gegenpole dargestellt, sind hier nicht mehr zu trennen. Ist die alte Frau für ihren Widerstand und die Behauptung ihrer Würde zu bewundern, so scheitert sie letztendlich doch an den Lebensbedingungen im Pflegeheim. Liebe als körperliche Nähe und gemeinsame Gestaltung des Alltags wird hier einerseits zur Stütze in einer Umgebung, in der der alte Mensch per definitionem isoliert zu sein scheint. Andererseits ist diese Form der Paarbeziehung aber nur möglich in der Abgrenzung von der Gemeinschaft und begründet damit im Grunde nur eine andere Form der Isolation.

S E XUALITÄT UND L EBENSQUALITÄT IM V IERTEN A LTER Einen konträren Zugang zum Thema Liebe und Sexualität im Alter wählt die Autorin Kathrin Schmidt in ihrem Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998)45. Der Roman spielt in der thüringischen Kleinstadt W. im Jahr 1976 und schildert die Expedition der 80-jährigen Therese mit ihrer schwangeren Urenkelin Josepha 44 | Jean Améry: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 82004. 45 | Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman, Köln 1998, im Folgenden zitiert mit der Sigle GLE und Seitenzahl in Klammern.

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Schlupf burg in die Familiengeschichte. Josepha arbeitet als Druckerin im VEB Kalender und Büroartikel Max Papp und lebt mit ihrer Urgroßmutter Therese zusammen, da die beiden dazwischenliegenden Generationen, repräsentiert durch Thereses Kinder Ottilie und Fritz sowie Ottilies Sohn Rudolph, durch den Zweiten Weltkrieg bzw. durch die Tätigkeit der Staatssicherheit von Therese getrennt wurden. Die Erzählergegenwart ist zeitlich auf einen nicht näher definierten Zeitpunkt nach der Wende verlagert. Die Gunnar-Lennefsen-Expedition, die dem Roman den Namen gibt, hat kein reales Vorbild. An männliche Entdeckungsreisen angelehnt soll sie mit Hilfe einer imaginären Leinwand einen Vorstoß in den »tiefsten Norden ihrer weiblichen Gedächtnisse« (GLE 18) ermöglichen und verknüpft die Gegenwart des Jahres 1976 mit Episoden aus der Familiengeschichte. Damit liefert Kathrin Schmidt nicht nur einen Streifzug durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern gibt auch einen Überblick über die Biographie Thereses. Mit Hilfe der Expedition kommt es auch zur Kontaktaufnahme mit der seit der Flucht vor der Roten Armee im Jahr 1945 verschollenen Ottilie, die als Witwe im bayrischen N. lebt und im Verlauf des Romans nach einer nur drei Monate dauernden Schwangerschaft im sensationellen Alter von 60 Jahren ein gesundes Kind zur Welt bringt. Wird am Beispiel von Ottilie auf äußerst phantastische Weise Liebe und Sexualität im Dritten Lebensalter dargestellt – Ottilies Ehemann stirbt, als er mit dem Eintritt ihrer Menopause die Hoffnung aufgegeben hat, einen Nachfolger zeugen zu können; seine 60-jährige Witwe bringt dann aber doch einen Sohn zur Welt, der aus dieser Ehe hervorgegangen sein soll (GLE 62) –, so thematisiert Kathrin Schmidt am Beispiel von Therese Liebe und Sexualität im Vierten Alter. Anhand beider Frauenfiguren zeigt sich somit nicht nur die Abhängigkeit der Sexualität von biographischen Erfahrungen, sondern auch ein Wandel in der literarischen Repräsentation alter Frauen. Therese macht im Verlauf des Romans einen sehr schmerzhaften Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern durch. Gerade diese Bereitschaft, sich mit der eigenen Biographie auseinanderzusetzten und nicht nur schöne Erlebnisse an die Urenkelin weiterzugeben, macht sie zu einem positiven Vorbild. Dabei verhindert Thereses grundsätzlich positive Lebenseinstellung ein Abgleiten in Depression oder Melancholie. Die Vergangenheitsbewältigung spielt nicht nur eine wichtige Rolle im Verhältnis zu ihrer Urenkelin, sondern auch für die Entwicklung der 80-jährigen Therese. Es wird ihr durch das gemeinsame Nacherleben der Familiengeschichte mit Josepha bewusst, was sie alles verdrängt hat. Neben der verunglückten Beziehung zu ihrem Sohn spielt vor allem der Schock, den die kurze Ehe mit dem 32 Jahre älteren Adolf Erbs bedeutet hat, eine wichtige Rolle. Erst durch die Expedition in die Vergangenheit gelingt es Therese, dieses Trauma zu überwinden, eine neue Identität auszubilden und wieder ein ›normales‹ Verhältnis zu ihrem Körper zu entwickeln. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass Therese sich lange unterdrückte sexuelle Wünsche eingesteht und sehr gezielt nach einem Mann Ausschau hält,

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mit dem sie diese ausleben kann. Damit wird der Roman anschlussfähig an die aktuelle Forschung zu Liebe und Sexualität im Alter. Sehr nachdrücklich wird dargestellt, dass Therese sich wie ein junger Mensch nach körperlicher Nähe und Sexualität sehnt, dass diese als wesentliche Komponente von Lebensqualität auch von alten Menschen beansprucht werden. Dass das lustvolle Ausleben sexueller Wünsche auch in Thereses Umfeld nicht selbstverständlich ist, zeigt ein gedachter Dialog zwischen der Urgroßmutter Therese und ihrer Urenkelin Josepha, der kurz vor dem Eintreffen des »zweiundneunzigjährige[n] rüstige[n] Rentner[s] Richard Rund« (GLE 214) stattfindet: Josepha verärgert sich über der augenscheinlichen Gleichgültigkeit, wo doch Therese schon Schweißtröpfchen zeigt in Erwartung des Rentners Rund. Mit welchen Dingen geht denn das zu, doch nicht mit rechten? Und der alberne Nachmittagskaffee im volkssolidarischen Klub, das ist lachhaft, Therese, wie du auf einmal nur noch an dich denkst! Therese denkt gegenteilig zurück: So einen feinen Mann noch mal küssen dürfen und einkehren lassen, das ist doch ein festlicher Anlaß, der eignen Tochter nachzueifern im Glück! Da bin ich doch gleich viel mehr bei der Sache, sie gut zu begrüßen und ihr ein Zuhause vorzustellen, das nicht nur aus weiblichen Körpern besteht. (GLE 219)

In dieser Textstelle erfolgt der Blick auf die älteste Generation aus der Perspektive der jüngeren. Josepha wehrt sich gegen die Veränderung im Zusammenleben mit der Urgroßmutter, die sich durch die unerwartete Ankündigung des Liebhabers anbahnt. Der formulierte Vorwurf, keine Rücksicht auf andere zu nehmen, ist ein Anzeichen dafür, dass Therese sich nicht so verhält, wie traditionelle Vorstellungen vom Verhalten alter Menschen es vorgeben. Legitimiert wird die Altersliebe dann allerdings dadurch, dass sie sich von den anderen Beziehungen insofern unterscheidet, als sie nicht als Kampf der Geschlechter beschrieben wird46, sondern durch ein liebevolles Auf-den-anderenEingehen charakterisiert ist. Die Beziehung ist durch gegenseitige Rücksicht und Geduld gekennzeichnet, die sich von der Eile der anderen Generationen unterscheidet. Der Roman vollzieht damit auch nicht den im gegenwärtigen Altersdiskurs zu beobachtenden »Wandel von der normverordneten Asexualtität zur Erfüllung angeblich medizinisch indizierter Koitus-Quoten«47 als Garantie für ein gesundes Alter nach, er stellt vielmehr körperliche Nähe und Erotik in den Mittelpunkt. Es geht nicht darum, jugendliche Standards auch im Alter einhalten zu können, sondern eine neue Form der Sexualität zu entdecken. Dies beschreibt 46 | Vgl. Claudia Breger (Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes, in: Paul M. Lützeler (Hg.): Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung. Tübingen 2000, S. 97-125, hier S. 111), die diese besondere Beziehung zwischen den beiden Rentnern übersieht, vielleicht weil der Aspekt des Kampfes in der Beziehung von Ottilie und Reveslueh immer wieder betont wird. 47 | Jeggle: Sexualität im Alter, S. 55.

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der Roman im Hinblick auf die etwas anders geartete Wahrnehmung alternder Sinne sehr eindrücklich: Richard Rund wird ins Männerzimmer geschickt und fügt sich, wenn ihm auch eher nach einem Bettstündchen wäre mit Therese, die im Zustand der vollkommenen Sättigung wie ein Berg zu besteigen ist und beim Erreichen des Gipfels Rülpser und Fürze aus ihrer Reglosigkeit entlässt, sich öffnet wie ein Vulkan, aus dem die noch heißen Dünste der Speisen aufsteigen und Richard Rund, da er ja nicht mehr hören kann, erregen wie früher Worte und Seufzer, ja, das hätte er gern [...]. (GLE 295)

Zudem strahlt die positive Wirkung der Alterssexualität auch auf den literarischen Umgang mit dem alternden Körper aus. Auffallend an der Beschreibung von Thereses und Richards Körpern ist, dass Kathrin Schmidt zwar auch mit traditionellen Bildern wie etwa Falten, grauen Haaren und Unbeweglichkeit arbeitet, dass diese aber in einen neuen Kontext gestellt werden. So wird z. B. ein gemeinsames Frühstück der beiden alten Frischverliebten folgendermaßen geschildert: Der Nochsommer draußen legt dunkle Sonne auf Thereses Haut, nach der sich Richard vorsichtig streckt. Schwer werden will er ihr nicht, das hat er sich vorgenommen, aber wie sie zu spielen versteht, aus seinen und den eigenen Lüsten bauchige Dampfschiffe faltet und darauf die gemeinsamen Nächte durchschippert, das findet er schon unerwartet grandios und verlockend. Und sie versucht ihn auch gleich und schiebt ihre Hand übern Tisch nach der Buttermilch, dabei rutscht ihr der Ärmel des acetatseidenen Kleides, grau und mit Blümchen in Rosa und Lindgrün bedruckt, sehr langsam (weil sie bedächtig ausgreift) über den Handknöchel nach oben. Die Haut ist fein gefältet und duftet, milchkaffeefarbene Spritzer des Alters breiten sich darüber aus. (GLE 227f.)

In einer sehr poetischen Sprache schildert Kathrin Schmidt die Anziehungskraft, die die beiden aufeinander ausüben, die Sehnsucht, die sie gemeinsam zu erkunden und zu stillen suchen, und die Schönheit des alternden Körpers. So assoziiert man mit »fein gefältet« eigentlich keine alte Haut, sondern eher einen feinen und wertvollen Stoff (im Gegensatz zum Kleid der Frau!), der sehr liebevoll beschrieben wird. Die Erkundung des männlichen Körpers ist hier also eine zweite Expedition Thereses, wenn sie ihre »Fingerspitzen in Richards Falten aus[führt]« (GLE 228).48 Diese Darbietung des alten Körpers ist aber keine Verherrlichung. Kathrin Schmidt beschreibt die Würde des alten (weiblichen) Körpers und zugleich das Nachlassen seiner Kräfte. Sie entwickelt damit explizit eine Gegenposition zur

48 | Charakteristisch für die Darstellung der Alterssexualität in Schmidts Roman ist der bereits angesprochene bedächtige Umgang. Im Gegensatz zur jugendlichen Ungeduld, reiht Therese die Sexualität als eine von verschiedenen Handlungen in ihre alltäglichen Lebensabläufe ein (GLE 228).

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traditionellen Darstellung der Greisin als Hexe49 oder zur ekelhaften alten Frau, die der Inbegriff alles Tabuierten 50 ist. Überraschend ist, dass in diesem Zusammenhang viele alltägliche Verrichtungen in die Erzählung einfließen, wie z. B. Thereses gedankenlos in den Mund geschobene Zahnprothese, das morgendliche Fußbad (GLE 15) oder die ersten Anzeichen von Inkontinenz, die von Therese als Hinweis auf ihre erneute Großmutterschaft interpretiert wird (GLE 149f.). Trotz dieser Detailgenauigkeit in der Schilderung des Alternsprozesses wird das Altern der Frauen im Text nie als Verlust von Schönheit beschrieben. Die Veränderungen werden sehr genau registriert und der ihnen innewohnende Moment des Schönen und Faszinierenden, das Staunen des Beobachters, tritt in den Vordergrund. Die erfüllte Alterssexualität, die am Beispiel der Figur Therese geschildert wird, verweist auf aktuelle Forschungen zur Lebensqualität im Alter. Nach einer sexuell frustrierenden Ehe erlebt Therese im hohen Alter – also jenseits von Angst vor einer Schwangerschaft und den Problemen der Menopause – eine glückliche Lebensphase mit Richard Rund, die sie mit dem eigenen Körper und ihrem Verhältnis zu Männern versöhnt. Therese fällt damit auch der Abschied von einem Leben, das sie in der Expedition noch einmal durchleben und reflektieren konnte, leicht. Genauso wie sie als in sich ruhende, in ihrer Rolle als alte Frau aufgehende Persönlichkeit gezeichnet wird, nimmt sie auch den Tod als Teil des Lebens an und sieht ihm gelassen entgegen.

Z USAMMENFASSUNG Sexualität, so kann man mit Volker Neuhaus die Ergebnisse zusammenfassen, ist und bleibt eine Technik der Macht, die in zwei Richtungen wirkt: Sie gibt Normen vor und verlagert die Entscheidung in das Individuum, das entsprechend der Normen sozialisiert wurde und dem es auf diese Weise schwer gemacht wird, etwas grundsätzlich Anderes zu denken als das, was es kennt, beispielweise eine sexuelle Beziehung, die nicht durch Über- und Unterordnung und durch Reproduktion tradierter Muster, sondern durch freie (und nicht nur frei scheinende) Entscheidung beider Partner für ein gemeinsames Modell des Zusammenlebens gekennzeichnet ist. 51

Der Altersliebe kommt in diesem Kontext die Funktion zu, Liebes- und Sexualitätskonzepte zu hinterfragen und neue Modelle der Beziehung zu erproben. In der literarischen Darstellung liebender alter Figuren spielen Erotik und Sexualität

49 | Vgl. Gerigk: »Männlich – weiblich«. Hohes Alter als literarisches Thema, S. 189. 50 | Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 16. 51 | Neuhaus: Sexualität im Diskurs der Literatur, S. 53.

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auch im Dritten und Vierten Alter eine zentrale Rolle. Auch für alte Menschen gilt, was Michel Foucault in Dispositive der Macht formuliert hat: Das Problem sieht so aus: wie kommt es, daß in einer Gesellschaft wie der unsrigen die Sexualität nicht einfach das ist, was für die Fortpflanzung der Art, der Familie, der Individuen sorgt? Nicht einfach etwas, was Lust und Genuß bereitet? Wie kommt es, daß sie als der privilegierte Ort angesehen worden ist, an dem sich unsere tiefe ›Wahrheit‹ ausspricht oder ablesen läßt? Denn das ist das Wesentliche: seit dem Christentum hat das Abendland unaufhörlich wiederholt: ›Um zu wissen, wer du bist, mußt du wissen, was mit deinem Sex los ist.‹ Stets war der Sex der Knotenpunkt, an dem sich gleichzeitig die Geschicke unserer Spezies und unsere ›Wahrheit‹ als menschliches Subjekt verknüpfen. 52

Aber selbst wenn die Sexualität – neben Lust und Genuss – zentrales Element der Identitätskonstruktion ist, so zeigt sich anhand der analysierten Texte ebenso wie durch die Rückbindung an wissenschaftliche Untersuchungen, dass sich die Ansprüche und Wahrnehmungen mit zunehmendem Lebensalter ändern. Fragen der Fortpflanzung sind naturgemäß für ältere Paare nicht mehr wichtig. Stattdessen erproben sie nach der Abkehr von traditionellen Alterskonzepten neue Möglichkeiten der körperlichen Lust und der Partnerschaft. Damit bestätigt sich auch eine Vermutung, die Leopold Rosenmayer formuliert hat: Nachdem die Sexualität für die Jungen und die Frauen zum Emanzipationssymbol geworden ist, übernimmt sie diese Funktion auch für ältere Menschen.53 Mit dieser Lesart wird verständlich, warum Alterssexualität im Gegensatz zu Konzepten von Weisheit und Würde des Alters im literarischen Diskurs heute eine so wichtige Rolle zukommt. Liebe und Sexualität verweisen in der Literatur nicht zwangsläufig nur auf reale sexuelle Erfahrungen alter Menschen, sondern diese dienen vielmehr als Metapher, als Emanzipationssymbol. Die Alterssexualität versinnbildlicht den »Reifungsweg für die Gesamtperson« 54, in dem sich eine historische Veränderung anhand eines immer noch tabuisierten Themas zeigt. Dies ist die spezifische Leistung der literarischen Darstellung. In der Literatur gelingt dieser »Reifungsweg« zumindest in Einzelfällen bereits. So erscheint die Liebessehnsucht der sich noch im hohen Alter verliebenden Protagonisten nicht mehr komisch oder »eigentlich negativ, sondern eher positiv emanzipatorisch, weil sie aus einer defizitären ehelichen Sättigung herausführt und den Schritt in die Selbstpreisgabe und in den Verzicht auf Lebenwollen ver-

52 | Michel Foucault: Dispositive der Macht: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, übers. von Jutta Kranz u.a., Berlin 1978, S. 176. 53 | Vgl. Leopold Rosenmayer: Eros und Liebe im Alter, in: Margret M. Baltes (Hg.): Produktives Leben im Alter, Frankfurt a. M. 1996, S. 258-289, hier S. 278. 54 | Ebd.

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zögert«.55 Der Begriff ›Emanzipation‹ kommt ursprünglich aus dem Lateinischen. Dort bezeichnet das Verb emancipare einen Rechtsvorgang. Der Sohn oder ein Sklave werden aus der Gewalt des Vaters in die zivilrechtliche Selbständigkeit entlassen.56 Der Begriff hat in den letzten 2000 Jahren mehrere Bedeutungsverschiebungen erfahren. Grundlegend ist aber, dass er immer dazu diente, Abhängigkeitsverhältnisse zu überwinden. Im Lauf der Geschichte wandelte sich die Bedeutung der Emanzipation vom Gnadenakt hin zu einem Prozess aktiver Selbstbefreiung. Insofern sind literarische Figuren Stellvertreter, anhand derer aufgezeigt wird, wie eine Emanzipation von überkommenen Altersvorstellungen aussehen kann. In dieser Hinsicht leistet die Literatur einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung einer großen Vielfalt an neuen Lebensentwürfen. Dass diese Entwicklung in den meisten Beispielen an Frauen delegiert wird, zeigt, dass ein anderer Emanzipationsprozess – nämlich jener der Geschlechter – bereits weit(er) fortgeschritten ist. Weibliche alte Figuren dienen nicht mehr als »wenig schmeichelhafte realistische Darstellungen des körperlichen Verfalls, Allegorien der Vergänglichkeit und Symbole des Bösen, der Lust und des Todes« 57, sondern sind in der Gegenwartsliteratur mit positiven, emanzipatorischen Entwicklungen verbunden. Nichtsdestotrotz besteht eine wichtige Entwicklungsaufgabe für die alternde Frau darin, die von Hannelore Schlaffer formulierte Idee der zwei Kulturen des Alterns über Bord zu werfen und den Mut zu entwickeln, ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu formulieren. Aus der Abkehr vom Denkmodell der zwei Alterskulturen entwickeln sich in der Gegenwartsliteratur neue positive Alterskonzepte. Dieser Wandel in der Wahrnehmung des Alters und der alten Menschen hat gerade erst begonnen. In Zukunft ist eine große Vielfalt an Modellen zu erwarten.

L ITER ATUR Primärtexte Bronnen, Barbara: Am Ende ein Anfang. Roman, Zürich/Hamburg 2006. Köpf, Gerhard: Ein alter Herr. Novelle, Tübingen 2006. Maron, Monika: Endmoränen. Roman, Frankfurt a. M. 2004. 55 | Helmuth Kiesel: Das Alter in der Literatur, in: Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin/Heidelberg 2008, S. 173-187, hier S. 186. 56 | Vgl. Waltraud Wende: Emanzipation, in: Rüdiger Schnell (Hg.): Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart: Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Stuttgart/Weimar 2000, S. 113-114, hier S. 113f. 57 | Heike Hartung: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht: Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld 2005, S. 7-18, hier S. 10.

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Pehnt, Annette: Haus der Schildkröten. Roman, München 2006. Schmidt, Kathrin: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman, Köln 1998. Walser, Martin: Der Augenblick der Liebe. Roman, Reinbek b. H. 2003.

Sekundärtexte Abenstein, Edelgard: Längst vergangenes Begehren. Briefroman von Barbara Bronnen, in: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/528494/ [Zugriff am: 04.08.2009]. Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 82004. Backes, Gertrud M.; Wolfinger, Martina: Liebe(n) und Alter(n). (K)ein Thema in der Wissenschaft?, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 33-53. Breger, Claudia: Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes, in: Paul M. Lützeler (Hg.): Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung, Tübingen 2000, S. 97-125. Brähler, Elmar; Berberich, Hermann J.: Vorwort, in: dies. (Hg.): Sexualität und Partnerschaft im Alter, Gießen 2009, S. 7-9. Brunnhuber, Petra: Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur, in: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 183-194. Bucher, Thomas: Altern und Sexualität, in: Elmar Brähler, Hermann J. Berberich (Hg.): Sexualität und Partnerschaft im Alter, Gießen 2009, S. 45-63. Bühlig, Kartin; Eekman, Piet: Liebe(n) und Alter(n) filmisch inszenieren. Die Regisseure Katrin Bühlig und Piet Eekman im Gespräch, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 129-147. Ebberfeld, Ingelore: »Es wäre schon schön, nicht so allein zu sein«. Sexualität von Frauen im Alter, Frankfurt a. M. 1992. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, übers. v. Ulrich Raulff, Walter Seitter, Frankfurt a. M. 2008. Foucault, Michel: Dispositive der Macht: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, übers. von Jutta Kranz, Hans-Joachim Metzger, Ulrich Raulff, Walter Seitter und E. Wehr, Berlin 1978. Frenzel, Elisabeth: Alte, Der verliebte, in: dies. (Hg.): Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 6., überarb. und erg. Aufl., Stuttgart 2008, S. 1-11. Gerigk, Horst-Jürgen: »Männlich – weiblich«. Hohes Alter als literarisches Thema, in: Thomas Fuchs u. a. (Hg.): Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg 2010, S. 183-198. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000.

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Grond, Erich: Sexualität im Alter. (K)ein Tabu in der Pflege, Hagen 2001. Hartung, Heike: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht: Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 7-18. Jeggle, Utz: Sexualität im Alter, in: Hans-Liudger Dienel u.  a. (Hg.): Späte Freiheiten. Geschichten vom Altern. Neue Lebensformen im Alter, München u.a. 2001, S. 49-56. Kiesel, Helmuth: Das Alter in der Literatur, in: Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin/Heidelberg 2008, S. 173-187. Kriebernegg, Ulla: »It’ll remain a shock for a while«: Resisting Socialization into Long-Term Care in Joan Barfoot’s Exit Lines, in: Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 189-207. Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999. Neuhaus, Stefan: Sexualität im Diskurs der Literatur, Tübingen 2002. Overath, Angelika: Das Drama der alten Kinder. Annette Pehnts beeindruckender Roman Haus der Schildkröten, in: Neue Zürcher Zeitung, 06.11.2008, S. 27. Re, Susanna: Entwicklungsformen der Partnerschaft im Alter, in: Elmar Brähler, Hermann J. Berberich (Hg.): Sexualität und Partnerschaft im Alter, Gießen 2009, S. 11-26. Rosenmayer, Leopold: Eros und Liebe im Alter, in: Margret M. Baltes (Hg.): Produktives Leben im Alter, Frankfurt a. M. 1996, S. 258-289. Schlaffer, Hannelore: Das Alter. Ein Traum von Jugend, Frankfurt a. M. 2004. Schneider, Wolfgang: Die Heimleitung sieht das gar nicht gern. Schauplatz Altenheim: Annette Pehnt erzählt in ihrem Roman Haus der Schildkröten von den Nöten der Alten und ihrer Kinder – geduldig, unerbittlich und mit abgründiger Anmut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.2007, Nr. 23, S. Z5. Seidler, Miriam: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2010. Vancea, Georgeta: Die Elementarteilchen der Liebe in den Geschichten des Begehrens, in: LILI. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 34 (2004) H. 135, S. 110-136. Wende, Waltraud: Emanzipation, in: Rüdiger Schnell (Hg.): Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart: Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart/Weimar 2000, S. 113-114.

Demenz und Pflege als Thema der Literatur

Altersdemenz als kulturelle Herausforderung Hans-Georg Pott

E INLEITUNG Phantasien vom ewigen Leben oder gar von ewiger Jugend haben sich dem unaufhaltsamen Zug der Zeit folgend aus den Sphären von Religion und Kunst in die der Biotechnologien verschoben. Zwar sind als in naher oder ferner Zukunft möglich behauptete 122 oder 400 Jahre Lebenszeit1 lächerlich angesichts des ewigen Lebens, doch Techniker freuen sich, wenn die Maschine ein paar Jahre länger läuft. Ein längeres Leben im Diesseits erscheint offenbar auch denen wünschenswert, die an das ewige Leben und eine unsterbliche Seele glauben. Es fragt sich nur: um wie viel länger und um welchen Preis.2 Der Preis ist nicht nur ein finanzieller, sondern beinhaltet auch die Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz der technischen Mittel, die zur Veränderung des Selbstbildes und der Befindlichkeit eines jeden Menschen beitragen. Es stellen sich jedem Menschen die Fragen: wie er sein möchte, wie er sich selbst akzeptiert, welchen Sinn er in seinem Leben sieht, wie er sich fühlt und anderes mehr. Auch das ist von den jeweiligen Lebensphasen und Lebensumständen abhängig. Angesichts massenmedial verbreiteter und pekuniäre Gewinne versprechender biotechnologischer Heilsversprechen und Angebote für das Anti-Aging bedarf es einer gewissen Unabhängigkeit und Selbstbildung des Charakters, um Werte und Wollen selbst zu bestimmen. Freie Geister hat es zu allen Zeiten gegeben, die von religiösen und heute massenmedialen Zwängen unbeeindruckt sich äußern. Ein Beispiel ist der alte Fontane, der als Sechzigjähriger schreibt: Alles was uns werthvoll dünkt, ist ja nicht werthvoll an sich, sondern ist in seinem Werthstand einfach durch unser Leben bedingt. Schweigt das Leben, so schweigt der Wunsch.

1 | Vgl. etwa Andreas Campobasso: Stopp! Die Umkehr des Alterungsprozesses, München 2008; Roman Brinzanik, Tobias Hülswitt: Werden wir ewig leben? Berlin 2010. 2 | Vgl. Sebastian Knell, Marcel Weber (Hg.): Länger leben? Philosophische und biowissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt a.M. 2009.

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Hans-Georg Pott ›Das Leben ist der Güter höchstes nicht.‹ Daß man lebt, ist nicht nötig; nur das empfind ich immer tiefer: wenn man überhaupt lebt, muß man auch leben können. 3

Nur zwei Tage vor seinem Tod bilanziert er nihilistischer: »Ein so glückliches und bevorzugtes Leben und doch: was soll der Unsinn?« 4 Menschen haben keinen Wert, sondern Würde. Wenn ungeachtet dessen von ›Humankapital‹ die Rede ist, zeigt das, unter welcher Herrschaftsform wir leben. Diese Würde hat ein doppeltes Gesicht: ein sichtbares und ein normatives. Ein würdevolles Erscheinungsbild, Auftreten und Verhalten sind im hohen Alter oftmals schwer aufrecht zu erhalten – abgesehen davon, dass es an einer Kultur würdevollen ›anständigen‹ Betragens (z.B. Höflichkeit, Respekt) bei Jungen und Erwachsenen oftmals ebenso mangelt. Dennoch wird es bei den Alten, die eine äußerlich sichtbare Würde nicht mehr zeigen können, als defizitär wahrgenommen. Der normative Begriff der Würde hingegen darf nicht verloren gehen und geht in unserer Rechtsordnung auch nicht verloren. Wie auch immer sein Erscheinungsbild ist: Achtung und Anerkennung im Umgang mit dem alten Menschen, in welchem Stadium immer, sind ein Zeugnis von Zivilisation und Kultur. Achtung und Wertschätzung des alten Menschen werden durch vorgängige normalistische Dispositive präfiguriert: den gesellschaftlich, in erster Linie massenmedial vermittelten Vor-Bildern und normativen Vor-Einstellungen, die nicht nur die Vorstellungswelt der Einzelnen, sondern auch die der Institutionen prägen.5 Weil Altern und Hochaltrigkeit ihre Singularität verlieren und Teilbestandteil der durchschnittlichen Lebenserwartung werden, wie dies erst seit wenigen Jahrzehnten der Fall ist, sind Angehörige und natürlich auch die Betroffenen selbst damit konfrontiert, dass es noch keine ›neue‹ Alterskultur gibt, die sich erst im Laufe der Zeit herausbilden kann, nachdem finanzielle und institutionelle Anpassungen schon vorgenommen worden sind.6 Das gilt insbesondere für die mit steigendem Lebensalter vermehrt auftretenden demenziellen Erkrankungen. Das bedeutet, dass Angehörige und Patienten keine Vorbilder in kulturellen Strukturen und Mustern vorfinden, die normativ und normalisierend den Umgang mit Demenzkranken präfigurieren. Es bedarf 3 | Theodor Fontane: Brief vom 28. Juni 1879, in: ders.: Der Ehebriefwechsel. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 3, hg. von Gotthard Erler, Berlin 1998, hier S. 187. 4 | Ebd., S. 553. Brief vom 18. September 1898. Am 20. September ist Fontane gestorben. 5 | Zum Normalismus vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen 1996; Hans-Georg Pott: Alterskonzepte zwischen Normalismus und Eigensinn. Ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zur Gerontologie, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 58 (2010), S. 67-70. 6 | Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen, Berlin 2002, S. 352.

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also einer ›neuen Kultur‹ »der Integration alter und sehr alter Menschen im Diskurs der Generationen«.7 Eine Voraussetzung für die Entwicklung einer Kultur der Hochaltrigkeit ist die Bereitschaft von Jüngeren, die Wahrnehmung und die Erlebniswelt der Hochalten zu reflektieren und um ihre gesellschaftliche Anerkennung zu kämpfen. Vor allem der Verlust kognitiver Leistungen, von Autonomie und Identität bedarf der Kompensation – zum Beispiel in der verstärkten Akzeptanz emotionaler Ausdrucksformen. Der wahre Prüfstein für die im Grundgesetz verankerte unantastbare Würde des Menschen liegt u.a. in dieser Endphase des Lebens. Es gehört zu den Aufgaben einer kritischen Kulturwissenschaft und ›kritischen‹ Gerontologie8, als transdisziplinäre Wissenschaft, auch den Normalismus zu reflektieren, neue Konzepte für das hohe Alter und für Demenzkranke zu entwickeln, die dann wiederum in das normalistische Dispositiv einfließen können. Sie untersucht deskriptive und normative Aussagen, emotive und kognitive Gehalte, die sowohl unterschieden als auch zusammen gebracht werden. Das Folgende möchte sich als Beitrag zu einer solchen Aufgabe verstehen. Ich möchte versuchen zu zeigen, auf welche Weise uns die Dichtung über das Alter belehren kann. Ich habe in meinem Buch Eigensinn des Alters das Thema Demenz, das als solches fast nur in der jüngsten Literatur behandelt wird, also der Literatur der letzten zwanzig Jahre 9, ausgelassen und versuche es nun zu ergänzen.

7 | Ebd., S. 58. 8 | Vgl. Anton Amann, Franz Kolland (Hg.): Das erzwungene Paradies des Alters. Fragen an eine kritische Gerontologie, Wiesbaden 2008. 9 | Vgl. Hans-Georg Pott: Eigensinn des Alters, München 2008. Weitere Arbeiten zum Thema ›Literatur und Demenz‹ liegen inzwischen vor: z. B. Ulrike Vedder: Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Literatur, in: Zeitschrift für Germanistik NF 22 (2012) H. 2, S. 274-289; Heike Hartung: Small World? – Narrative Annäherungen an Alzheimer, in: SPIEL 24 (2005) H. 1, S. 163-178. Roberta Maierhofer: Generations Connecting: Alzheimer’s Disease and Changes of Cultural Values, in: Gender Forum. An Internet Journal for Gender Studies 28 (2010) [http://www.genderforum.org/index.php?id=420, Zugriff: 23.08.2013]; Seidler, Miriam: Zwischen Demenz und Freiheit. Überlegungen zum Verhältnis von Alter und Geschlecht in der Gegenwartsliteratur, in: Heike Hartung u.a. (Hg.): Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln u.a. 2007, S. 195-212; Heike Hartung: Fremde im Spiegel: Körperwahrnehmung und Demenz, in: Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.): »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Unsichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 123-138; Hannelore Bublitz: Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt. Zur performativen Hinfälligkeit des Körpers, in: Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.): »Für Dein Alter siehst Du gut aus!«, S. 33-50.

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Was bedeutet überhaupt ein gutes Leben, eine hohe Lebensqualität im hohen Alter? Lebensqualität wird im vierten Altenbericht verstanden als das Ausmaß, in dem einer Person mobilisierbare Ressourcen zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre Lebensbedingungen in bewusster Weise und zielgerichtet beeinflussen kann. Personen werden in dieser theoretischen Betrachtung als aktive und kreative Individuen konzeptualisiert, die nach Autonomie und Erfüllung bei der Erreichung selbst gesetzter Ziele streben. Ziele sind positiv bewertete Zustände, die eine Person anstrebt.10

Nimmt man noch basale Ressourcen wie Gesundheit, körperliche und mentale Leistungsfähigkeit, soziale Netzwerke und anderes hinzu, so wird sofort einsichtig, dass mit diesem Konzept Leben im hohen Alter einzig als defizitär bewertet werden kann, da die genannten Ressourcen letztlich schwinden. Insbesondere bei Hochalten und dementen Alten stellt sich die Frage, ob man mit den genannten Kriterien arbeiten kann, stellen sie doch die Perspektive des ›gesunden‹ Lebens dar. Man kann dann nur feststellen, dass ein hohes Alter mit erheblichen Risiken für die Lebensqualität verbunden ist. Man sollte also besser nicht ein hohes Alter erreichen wollen. Zahlreiche jüngere und ältere Menschen dürften dieser Meinung sein – vielleicht auch mangels Perspektiven und mangels einer ›neuen‹ Kultur des hohen Alters. Dabei kann es nicht darum gehen, die Dinge schön zu reden. Die ›subjektive‹ Lebensqualität, Wohlbefinden, Zufriedenheit oder gar Glücklich-Sein, kann niemand als jeder für sich selbst beurteilen.11 Mit welchen Kriterien soll man aber arbeiten, wenn die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, ihre ›objektive‹ Situation zu erkennen und zu beurteilen, und wenn Äußerungen über subjektive Befindlichkeiten für Außenstehende schwer oder gar nicht zu verstehen sind, weil sie sich der gewöhnlichen Kommunikation entziehen? Natürlich ist es unsinnig, normalistische Konzepte einer ›gesunden‹ Lebensqualität auf Demenzkranke zu übertragen und noch unsinniger, von ›außen‹ beurteilen zu wollen, wie zufrieden ein Mensch ist. Gleichwohl sind die Betroffenen auf Hilfe von außen angewiesen und Außenstehende müssen sich ein Urteil bilden – auch um den Preis, die ›Wirklichkeit des Anderen‹ zu verkennen. Erkenntnisse über das innere Erleben und die innere Gedankenwelt von Demenzkranken sind naturgemäß schwer zu gewinnen. Lediglich für das Frühstadium bestehen fundierte Erkenntnisse.12 Es gibt aber inzwischen zahlreiche Berichte von Angehörigen über ihre Erfahrungen mit Alzheimer- und DemenzKranken sowie multidisziplinäre Forschungs- und Ausbildungszentren, die neben den biomedizinischen auch die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen 10 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 71. 11 | Vgl. ebd., S. 72. 12 | Vgl. ebd., S. 175f.

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einbeziehen. Und es gibt zunehmend Werke der schönen Literatur, die sich mit der Thematik befassen. Deren Problematik bedarf einer besonderen Kommentierung (vgl. die nächsten Abschnitte). Soviel kann aber auf einen ersten Blick gesagt werden: Im Mittelpunkt steht der Verlust von Identität mit den unterschiedlichsten Folgen für die Betroffenen und für die Angehörigen. Bei den Erkrankten kommt es zu einer massiven Erschütterung ihrer Existenz, die zu Ängsten und emotionaler Unsicherheit führt. Kognitive Defizite werden zunächst zu verbergen versucht und durch Routinen ersetzt. Das Identitätsgefühl stützt sich zunehmend auf die Erinnerung an längst vergangene Lebensjahre. Bei abnehmenden kognitiven Fähigkeiten bleibt zumeist einzig die emotionale Kontaktfähigkeit erhalten, vermutlich bis zum Tod.13 Diese Umbildungen der Identität sind genauestens und sorgfältig zu studieren. Nicht nur für die unmittelbar betroffenen Angehörigen und Pflegepersonen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt ist es wichtig, die Transformationen und Wandlungen der Persönlichkeit zu erkennen und anzuerkennen. Die ›normale‹ oder ›gesunde‹ Umgebung muss sich den Eigenwelten der Erkrankten anpassen, die es umgekehrt nicht mehr können. Bei den Angehörigen besteht die naheliegende Versuchung und Gefahr, den Kranken mit dem Identitätsbild und Identitätsmuster aus gesunden Tagen zu vergleichen und im Vergleich den Verlust zu bilanzieren. So gesehen müssen Alter und Altern immer als Verlustgeschäft erscheinen. Dem entspricht das alte konventionelle Halbkreis-Lebenslauf-Modell von Aufstieg, Höhepunkt und Abstieg, wobei eine gesunde, arbeitsintensive, produktive Lebensphase (Lebensmitte) verabsolutiert und zum Maßstab gesetzt wird. Um eine andere Wertung zu postulieren, müsste man sagen: Jede Lebensepoche ruht in sich selbst, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was ihr vorausgeht und folgt, sondern in ihrer gegenwärtigen Existenz. Ungeachtet dessen bleibt die Aufgabe und Notwendigkeit, sichtbares Leiden zu mildern.

L ITER ATUR UND W ISSEN Was kann ein Geistes- und Kulturwissenschaftler zur Altersforschung beitragen? Literaturwissenschaftler beschäftigen sich mit dichterischen, also fiktionalen Werken. Schon Platon (im Ion) beschämte unsere Vorläufer, die »Rhapsoden«: Ebenso wie die Dichter seit Homer hätten sie ohne Sachkenntnis lediglich »viel und Schönes« zu erzählen.14 Immerhin hat dann Horaz in der berühmten dritten Epistel im Vers 333 seiner De Arte Poetica der Dichtung neben dem Unterhaltungswert (delectare) auch einen Belehrungswert (prodesse) zugestanden: 13 | Vgl. ebd., S. 177. 14 | Platon: Ion, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Hamburg 1957, S. 97-110, hier S. 110.

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»[A]ut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.«15 Literatur, Poesie und (Natur-)Wissenschaft, die Literatur-Wissenschaft als wundersames Weltkind inmitten, überliefern eine lange spannungsreiche Geschichte zueinander, geprägt von gegenseitiger Ignoranz, über Konflikte und Friktionen (betreffend Geltung und Geld, insofern es an den Hochschulen auch darum geht) bis zu der Einsicht der Komplementarität der Diskurssphären der geisteswissenschaftlich-literarischen und der naturwissenschaftlich-technischen Kulturen. Nicht nur die aktuelle Nachfrage nach Ethik, auch die wachsende Einsicht, dass Dichter und Künstler nicht nur unter den Titeln des schönen Scheins und der Fiktionalität ›Lügen‹ verbreiten, bezeugen ein Bedürfnis nach Belehrung und Unterhaltung, wobei eine unterhaltende Belehrung nicht zu verachten ist. Die Dichtung verwendet andere ›Methoden‹ der Beobachtung und Beschreibung als die empirischen und ›logischen‹ Wissenschaften: rhetorische und stilistische Kniffe, verschiedene ›Bauformen‹ des Erzählens, um zu sagen, was sich anders nicht sagen lässt. Das ist nur dann keine triviale Bemerkung, wenn man gegen Traditionen einer alteuropäischen Semantik der lügenden Dichter Poesie als Erkenntnis- und Wissensform ernstnimmt. Der Erkenntnisanspruch der Dichtung liegt in den besonderen Sprachformen begründet. Dabei ist er kein grundsätzlich anderer als in allen Wissenschaften: es geht um ›lesen‹ und ›verstehen‹ vor dem Horizont von ›Wahrheit‹. Somit geht es um Formen und Funktionen des Fiktiven im Hinblick auf die »Lesbarkeit der Welt« 16 und ihre verschiedenen Wissensordnungen und Erkenntnismodelle. Nicht ganz unabhängig voneinander verhalten sich nämlich die verschiedenen Symbol- und Schriftsysteme der Mathematik und Logik, der Chromosomen (der DNA) und der natürlichen Sprachen zueinander, wie u.a. Blumenberg gezeigt hat.17 Der Nobelpreisträgers für Chemie, Manfred Eigen, äußert sich in Bezug auf die Entschlüsselung des menschlichen Genoms nicht nur sehr zurückhaltend; er bedient sich auch eines sehr alten literarisch-theologisch-hermeneutischen Topos: »Wir haben das Buch des Lebens identifiziert und gerade gelernt zu buchstabieren. Unsere Bemühungen, in diesem Buch zu lesen, stecken noch in den Kinderschuhen, und gar zu verstehen, was wir da lesen, das ist Zukunftsvision!«18 Es scheint die Einsicht zu wachsen, dass unterschiedliche Perspektiven und eine komplexe, multiple Beschreibung der Welt der Wirklichkeit angemessener 15 | Horaz: De arte poetica liber, in: ders.: Sämtliche Werke, Lateinisch und deutsch, übers. und zusammen mit Hans Färber bearbeitet v. Wilhelm Schöne, München 1967, S. 230259 (Teil 2), hier S. 250. 16 | Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981. 17 | Vgl. ebd. 18 | Manfred Eigen: »Was war das Leben?« Thomas Mann und die Evolution, in: Norbert Elsner, Werner Frick (Hg.): »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 335-350, hier S. 349.

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sind als eine monistische. Die Welt ist nämlich alles, was der Fall ist, und alles, was der Fall sein könnte. Das Weltbild der Quantenphysik ist eines der Möglichkeiten und der statistischen Wahrscheinlichkeiten und seit Musils großem Romanessay Der Mann ohne Eigenschaften können auch Geisteswissenschaftler wissen, dass die Moral mit der kinetischen Gastheorie mehr verbindet als eingefleischte Vertreter der Autonomie des Geistes zugeben können.19 Als gemeinsamer Nenner lässt sich festhalten, dass es nicht (mehr) eine wahre Repräsentation der Welt gibt, sondern nur verschiedene Symbolsprachen und Symbolwelten, die unterschiedliche Funktionen ausfüllen, die auf den Anspruch auf ›wahre Erkenntnis‹ aber nicht verzichten können. Ein literarischer (dichterischer) Text kann die verschiedenen Wissensformen und Diskurse integrieren und transformieren, sei es als wie immer kontextualisiertes Zitat oder verwandelt in unterschiedlichen Formsprachen bis hin zum Gegen- und Metadiskurs der Ironie, Satire usw. Der Anfang von Musils Der Mann ohne Eigenschaften ist ein nahezu ›klassisches‹ Beispiel. Die epische Integration naturwissenschaftlichen Wissens transformiert dieses Wissen in eine amivalente Form, in der Sein und Sollen oftmals ununterscheidbar sind. Die Welt ist, wie sie ist, und wie sie nicht sein soll. Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn, Entzauberung und Verzauberung der Welt, durchdringen sich in großer Dichtung. Entdeckt der entzaubernde Blick die große Sinnleere alles Geschehens, so der verzaubernde den Sinn, weil er aus dem Verlangen nach Sinn hervorgeht. Geschichten machen Sinn. Eine ganz besondere Eigenart der ›Technik‹ der epischen Dichtung ist die des auktorialen Erzählers. Die Wissenschaften nehmen generell einen (objektiven) Beobachterstandort in der dritten Person (von außen) ein und unterscheiden zum Beispiel neuronale und mentale Prozesse, um funktionale Korrelate zwischen beiden zu untersuchen. Kognitive und neuronale Leistungen werden dabei mit verschiedenen Beschreibungssystemen erfasst.20 Selbst wenn neuronale Prozesse meinen Geist kausal determinieren sollten und meine Gründe und Erwägungen nur (nachträgliche) Illusionen wären, die Gründe für kausal-determinierende Ursachen unterschieben, so kann ich mich für einen schlechten Aufsatz nicht damit entschuldigen, dass mein Gehirn ihn gemacht und ich nur aufgeschrieben habe, was es diktiert hat.21 Aus der Erlebnisperspektive der ersten Person macht es 19 | Vgl. Wolf Kittler: Der Zustand des Romans im Zeitalter der Zustandsgleichung. Über die kinetische Gastheorie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Bernhard J. Dotzler, Sigrid Weigel (Hg.): »fülle der combination«: Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 189-218. 20 | Vgl. Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung, in: HansPeter Krüger (Hg.): Hirn als Subjekt? Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie, Berlin 2007, S. 39-59, hier S. 42. 21 | Vgl. Gerhard Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise? in: Hans-Peter Krüger (Hg.): Hirn als Subjekt? Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie,

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gar keinen Sinn, zwischen meinem Organ Gehirn und meinem Geist (dem Ich, dem Bewusstsein, dem Denken, den Gefühlen) zu unterscheiden. Es ist nun die Besonderheit der Dichtung, dass sie ihre Beobachtungen sowohl aus der Ich-Erlebnis-Perspektive der ersten Person als auch – unter Umständen: zugleich! – aus der Beobachtungsperspektive der dritten Person beschreiben kann. Ein Kunststück und Sprachspiel, das nur der Dichtung erlaubt sein kann. Mit den Worten Thomas Manns: »Es ist freilich zweierlei: ein Ding sein und es betrachten. Und doch gibt es Ebenen und Sphären, wo beides auf einmal statthat: der Erzähler ist zwar in der Geschichte, aber er ist nicht die Geschichte […].« 22 Ein Beispiel: »kurz, er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, daß er Unsinn getrieben habe«.23 Nur ein auktorialer Erzähler kann die Gedanken anderer lesen und ›wissen‹, dass der am Fenster stehende Ulrich, aber der Name tut hier nichts zur Sache, im Kopf gerechnet hatte, welches er mit dem Werturteil »Unsinn getrieben« für sich selbst kommentiert. Das ließe sich natürlich auch in der Ich-Perspektive formulieren. Das wäre dann aber Ausdruck eines subjektiven Meinens. Im auktorialen Erzählermodus wird die Objektivität eines Beobachters von außen suggeriert, der ein bestimmtes Wissen generiert. Soviel Allwissen über innere Zustände billigen wir sonst nur noch dem lieben Gott zu – mit dem allwissende Erzähler auch verwechselt werden könnten. Noch einmal: Was kann ein Geisteswissenschaftler zur Altersforschung beitragen, wenn es um das gegenwärtig hochaktuelle Sachthema ›Demenz‹ geht? Von der ›Sache‹ der großen Literatur aus gesehen, haben wir es immer schon mit Störungen, Behinderungen, Krankheiten des Leibes und des Geistes, Ausnahmen, Unfällen, Ab- und A-Normalitäten aller Art als dem dichterischen Ernstund Normalfall zu tun. Abweichungen von gültigen Normen und vom Normalen haben in der Dichtung stets eine Form gefunden. Und ohne Form gibt es kein Erkennen und kein Verstehen – was wiederum die Voraussetzung dafür ist, ethische Fragen zu behandeln und Verhaltensmaximen zu entwerfen. Nun sind gerade im Fall der Altersdemenzen die Übergänge vom Normalen ins Anormale nahezu unmerklich und fließend. Man unterscheidet ein ›normales‹ Vergessen von einer pathologischen Demenz (z. B. Alzheimer). Eine eindeutige Zäsur, die angibt, was (gerade noch) normal ist und was krankhaft, scheint es nicht zu geben. Das hat aber einschneidende Konsequenzen für die BeschreiBerlin 2007, S. 27-38. Gründe sind »der ›innere‹, erlebte Aspekt, Ursachen der ›äußere‹ neurophysiologische Aspekt eines umfassenden Dritten, das ganz offenbar deterministisch abläuft, uns aber grundlegend verschlossen ist. […] Wir handeln aus Ursachen, aber wir erklären dieses Handeln mit Gründen.« (Ebd., S. 36f.) 22 | Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IV, Frankfurt a. M. 21974, S. 821. 23 | Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. H. 1978, S. 12.

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bung und Erkenntnis; denn man hat es nicht mit wesentlichen und transparenten Entweder-Oder-Diskontinuitäten zu tun, sondern mit Übergängen, bei denen die Einstellung des Beobachters eine entscheidende Rolle spielt. Betroffene und Angehörige wollen die Abweichungen vom Normalen oft nicht wahrhaben und spielen Versteckspiele mit sich selbst und anderen. Davon lernen wir Beispiele kennen. Sodann stellt sich das noch viel größere Problem mit der Frage, ob der demente (kranke) Mensch überhaupt ein ›anderer‹ ist; denn es lässt sich immer noch die Lebensgeschichte eines individuellen Menschen erzählen – mit wie vielen Brüchen und Diskontinuitäten immer, die es ja auch sonst im Leben gibt. Das Ergebnis wird und muss sein, dass der Begriff der Identität zur Bestimmung menschlicher Personalität in Frage gestellt wird und eine neue (andere) Form erhält.

D ARSTELLUNGEN VON D EMENZ IN DER L ITER ATUR Auch wenn Alter keine Krankheit ist, so gilt nicht nur in Bezug auf die sich oft häufenden Altersbeschwerden, was Thomas Mann von der Krankheit seines Protagonisten Hans Castorp im Zauberberg sagt: »Und nun ist auf so ganz andere Weise sein Körper in den Vordergrund getreten und hat sich selbständig und wichtig gemacht, nämlich durch Krankheit. […] denn Krankheit macht den Menschen viel körperlicher, sie macht ihn gänzlich zum Körper […].« 24 Das gilt insbesondere beim Verfall der geistigen Fähigkeiten. Konnte man Krankheiten des Körpers, die nicht den ›Kopf‹ betreffen, noch mit einem dualistischen Köper-Geist-Modell kompensieren, das nach einem trostreichen Alterstopos erklärt, warum bei schwindenden Körperkräften ein starker Geist erhalten bleibt, so kollabiert der Dualismus spätestens bei Krankheiten des Gehirns. Mit denen ist unsere alternde Gesellschaft zunehmend konfrontiert. Das Alter bringt die »Leibeigenschaft des Geistes« verstärkt zum Bewusstsein.25 Angesichts des Verlustes von Geisteskräften, der Reduktion des Menschen auf letzte elementare Körperfunktionen und eines flackernden, verlöschenden Lichtes des Geistes in ›letzten Stadien‹, werden (ethische) Fragen nach der Würde des Menschen und seiner Persönlichkeit unabweisbar. Was ist der Mensch? Was ist das Leben? Ohne diese Fragen abschließend

24 | Thomas Mann: Der Zauberberg, Sonderausgabe o. J. (S. Fischer 1972), S. 251. 25 | Der Ausdruck »Leibeigenschaft des Geistes« findet sich in Jeans Pauls Siebenkäs: »Endesunterschriebener, der mit andern Augustäpfeln jetzo gelbt und abfället, will, so nahe am Tode, der die körperliche Leibeigenschaft des Geistes aufhebt, noch einige frohe Rückund Seitenpas und Großvatertänze machen, drei Minuten vor dem Basler Totentanz.« (Jean Paul: Siebenkäs, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg. v. Norbert Miller, München/Wien 1975, S. 7-576, hier S. 504) Ich möchte auf das stilistisch filigrane und bedeutungsschwere Zitat von Jean Paul nicht eingehen.

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beantworten oder auch nur ausführlich erörtern zu können, soll doch aufgezeigt werden, wie sie sich im Licht der Altersdemenzen überhaupt stellen.

Die Materialität des Gehirns Für Beobachter scheint das erste und auffälligste Merkmal einer Demenzerkrankung das Vergessen zu sein. Erinnern und Vergessen gehören zum Kern des Menschseins. Ein wie immer partieller Verlust des Gedächtnisses wird als Verlust der Persönlichkeit empfunden. Das gilt nicht nur für die Alzheimer-Krankheit, für die das informative Buch von David Shenk The Forgetting: Alzheimer’s Portrait of an Epidemic26 und ein erzählender autobiographischer Essay von Jonathan Franzen Das Gehirn meines Vaters27 als Beispiele gelten können. Da demenzielle Erkrankungen zumeist eine Veränderung der Persönlichkeit, der personalen Identität, bewirken, stehen in den Berichten von Angehörigen Identitätsprobleme im Vordergrund. Dazu sind in letzter Zeit zahlreiche Schriften, auch literarische Werke (Biographien, Autobiographien, fiktionale Erzählungen und Romane) erschienen. Das Gehirn meines Vaters handelt vom Erinnern an das Vergessen und erfüllt damit eine der wichtigsten Funktionen von Literatur, Gedächtnis zu stiften, auch im Angesicht der Krankheit des Vergessens. Stilistisch bemerkenswert ist der Versuch, den neurologischen Diskurs über das Gehirn in einen literarischen einzubauen. Der Vater hatte einige Jahre vor seinem Tod an einer Universitätsstudie über Gedächtnis und Altern teilgenommen mit der Vergütung einer kostenlosen Autopsie seines Gehirns (für wen eigentlich?). Franzen erinnert sich zu Beginn an ein »Valentinspäckchen« von seiner Mutter, das unter anderem den Autopsiebericht des Gehirns seines Vaters enthält, um überzugehen in einen neurologischen Diskurs: Ja noch während jenes Valentinsvormittags griff mein Gehirn auf schon vorhandene Kategorien von ›rot‹ und ›Herz‹ und ›Mr. Goodbar‹ zurück; der graue Himmel in meinen Fenstern war mir von tausend anderen Wintervormittagen vertraut, und Millionen meiner Neuronen widmeten sich schon einem Bild meiner Mutter – ihrer Knickerigkeit beim Frankieren, ihrer romantischen Zuneigung zu ihren Kindern, ihres schwelenden Zorns auf meinen Vater, ihres eigenartigen Mangels an Takt und so weiter. Meine Erinnerung an jenen Vormittag besteht daher, entsprechend den jüngsten Modellen, aus einer Reihe fest installierter Nervenverbindungen zwischen den maßgeblichen Bereichen des Gehirns sowie einer Prädisposition

26 | David Shenk: The Forgetting. Alzheimer’s: Portrait of an Epidemic, New York 2003. 27 | Jonathan Franzen: Das Gehirn meines Vaters, in: ders.: Anleitung zum Alleinsein. Essays, übers. v. Eike Schönfeld, Reinbek b. H. 2007, S. 13-46. Im Folgenden zitiert mit der Sigle GmV und Seitenzahl in Klammern.

Altersdemenz als kulturelle Herausforderung der gesamten Konstellation, sofort – chemisch, elektrisch – aufzuleuchten, wenn ein Teil des Kreislaufs stimuliert wird. (GmV 14)

Im Einklang mit neuesten neurophysiologischen Erkenntnissen beeinflusst das wiederholte Erinnern die Architektur des Gehirns, so dass das Valentinspäckchen schließlich im Meer des Vergessens umgeben von älteren Erinnerungen aus der Kindheit wie ›rot‹ und ›Herz‹ und ›Mr. Goodbar‹ herumschwimmt. So werden Familiengeschichten erzählbar, wenn sie nicht medial (schriftlich, bildlich, in Briefen, Tagebüchern, Fotos, Filmen) außerhalb von menschlichen Gehirnen gespeichert werden. Das meiste wird aber sowieso vergessen. Die Subjektivierung oder Anthropomorphisierung der Beschreibungssprache der Neurologie (»Millionen meiner Neuronen widmeten sich […]«) zeitigen einen ironischen Effekt, womit implizit ein naturwissenschaftlicher Reduktionismus ad absurdum geführt wird. Die natürliche Sprache bleibt eben die letzte Metasprache für unser Verstehen. Ganz ähnlich beginnt ja der Anfang des Mann ohne Eigenschaften mit den barometrischen Minima und Maxima, den Isothermen und Isotheren, die »ihre Schuldigkeit« taten, um uns das »Tatsächliche« erst verständlich zu machen mit dem Satz: »Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«28 Vielleicht liegt in der Fähigkeit zur Ironie das höchste und erstaunlichste Vermögen des Gehirns – und ohne Ironie gibt es keine Freiheit. Franzen kommentiert seine Beschreibung mit dem Satz: »Ich finde es schön und postmodern.« (GmV  16) Er distanziert sich damit von dieser Art der Betrachtung. Erklärt die Zusammensetzung der naturwissenschaftlichen Beschreibung neuronaler Aktivitäten mit dem, was im Bewusstsein als persönliche Erinnerungen sich entfaltet, irgendetwas? Ein Zusammenhang, eine Abhängigkeit der Ichgefühle von der organischen Materie Gehirn –einem »Klumpen Fleisch« (GmV  26) – besteht zweifellos. Gleichwohl läuft die sprachliche Zusammenfügung gleichsam ins Leere; denn was, außer der Tatsache der Abhängigkeit, hat der Klumpen Fleisch mit den Vorstellungen zu tun, die wir von ihm oder dem Universum oder von uns selbst (dem Ich) haben? Was hat das mit dem Sinn zu tun? Schreibt das Organ unsere Lebensgeschichte (vor)? Neuronen sind schließlich keine Wörter. Und nur als »seine Geschichte« macht die Krankheit Sinn. »Das war seine Krankheit. Es war, könnte man sagen, auch seine Geschichte. Aber Sie müssen sie sich schon erzählen lassen.« (GmV 17) Die soeben gestellten Fragen beantworten sich im Verlauf der Geschichte, die Franzen erzählt. Nur Geschichten machen Sinn. Der Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit des Vaters ist für den sich erinnernden Sohn schwer zu bestimmen, denn auch Gesunde werden mit zunehmendem Alter vergesslich. Aber was heißt dann ›gesund‹? »Von den ersten Jahren seines geistigen Verfalls kann ich nur eine einzige Erinnerung abrufen: wie er sich einmal, am Ende der Achtziger, daran abmühte und letztlich scheiterte, bei 28 | Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 9.

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einer Restaurantrechnung die Höhe des Trinkgeldes zu berechnen.« (GmV  18) Die Betroffenen, der Vater ist einer von vielen, arbeiten selbst daran, ihren Verfall zu verbergen. Unaufhaltsam häufen sich beim Vater die Anzeichen einer degenerativen Erkrankung. Das sind zunächst: der Verlust des Zeitgefühls (nächtliches Aufstehen) und eine zunehmende Vergesslichkeit. Als Gegenmaßnahme werden Zettel angebracht.29 So findet der Sohn diese Anstrengungen gegen das Vergessen stapelweise im Schreibtisch des Vaters (Geburtsdaten der Söhne, Adressen der Kinder usw.). Mit dem Verlauf verwickeln und verstricken sich die Angehörigen zunehmend in die Krankheit. Die Mutter hat Angst, ihren Mann eine längere Zeit allein zu lassen, der Sohn muss von weither anreisen. Schlimmer sind aber das Missverstehen und das Spiel der Verstellungen. Der Vater akzeptiert oder erkennt nicht, dass man ihm helfen will. Um seinen Stolz nicht zu verletzten, vereinbarten sie [die Mutter, H.G.P.] und ich, so zu tun, als würde ich nicht seinetwegen, sondern ihretwegen kommen. […] Ich reiste nach St. Louis, weil seine Behinderungen für sie absolut real waren; als ich dort war, benahm ich mich, als wären sie das für mich überhaupt nicht. (GmV 21)

Er will in seinem Vater den »alten, gänzlich ganzen Earl Franzen« sehen und gelangt zu der bemerkenswerten Selbsterkenntnis: »Ich brauchte ihn weiterhin als Akteur in der Geschichte meiner selbst.« (GmV 22) Das erklärt, warum es den Angehörigen so schwer fällt, mit dem Identitätsverlust umzugehen. Denn zur Identität des Sohnes wie eines jeden gehört die Kontinuität einer Lebensgeschichte, die man erinnern, sich erzählen kann, in die auch das Bild des Vaters verwoben ist. Daran ändern auch (post-)moderne Theorien eines fragmentierten oder multiplen Selbst nichts, die die praktische ›Identitätspolitik‹ kaum beeindrucken. Mit dem Zerfall der Persönlichkeit des Vaters, wie ›der Sohn ihn kannte‹, ist dessen eigene bedroht. Der nicht stetige, aber unauf haltsame Fortgang der Krankheit lässt die Manipulationen des Bewusstseins schließlich kollabieren. Der Vater verdöst den Tag und tobt zu nachtschlafender Zeit. Eine Pflegekraft muss eingestellt werden, weil die Angehörigen es nicht mehr schaffen. Das kostet Geld. Das Wort und die Diagnose Alzheimer kommen in den Gesprächen der Familie immer noch nicht vor. Diese Verdrängung hat ihren Grund in der kulturellen Konstruktion unseres Selbst, unseres Personseins, ein Zusammenhang, der von Franzen schonungslos aufgedeckt wird: Von meiner heutigen Warte aus verstehe ich, der ich mich jeden Monat ein paar Minuten darüber aufrege, was für ein selbstgerechter Dreißiger ich mal war, mein Widerstreben, 29 | Vgl. auch Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt a.M. 1979.

Altersdemenz als kulturelle Herausforderung den Begriff ›Alzheimer‹ auf meinen Vater anzuwenden, als Versuch, das Besondere des Earl Franzen vor dem Allgemeinen eines benennbaren Befundes zu schützen. Befunde haben Symptome; Symptome verweisen auf die organische Grundlage von allem, was wir sind. Sie verweisen auf das Gehirn als Klumpen Fleisch. Und wo ich eigentlich akzeptieren sollte, ja, das Gehirn ist ein Klumpen Fleisch, bewahre ich mir offenbar einen blinden Fleck, über den ich dann Geschichten lege, die die seelenartigeren Aspekte des Ich betonen. Meinen leidenden Vater als Bündel organischer Symptome zu sehen würde mich dazu verleiten, den gesunden Earl Franzen (und mich) ebenfalls in symptomatischen Kategorien zu sehen – unsere geliebte Persönlichkeit auf eine endliche Reihe neurochemischer Koordinaten zu reduzieren. Wer will schon so eine Lebensgeschichte? (GmV 26)

Wer will das schon? Wer will mit der naturalistischen oder materialistischen Sicht unsrer individuellen Persönlichkeit konfrontiert sein? Sind deshalb die Vorstellungen von der eigenständigen Persönlichkeit, eine überaus wichtige und wirkungsmächtige kulturelle Konstruktion, eine Illusion? Aus Abhängigkeit von einer naturwüchsigen Bestimmtheit, Endlichkeit und Vergänglichkeit des Personseins, lässt sich nicht auf den illusionären Charakter dieser Konstruktion schließen. Bevor ich auf diese Problematik nochmals näher eingehe, sei mit Franzen demonstriert, dass »Senilität nicht nur eine Auslöschung von Sinn, sondern auch eine Quelle von Sinn« (GmV 32) ist. Es kommt in der Erzählung von Franzen zu einer denkwürdigen Verkehrung: »Für meine Mutter blieb er derselbe Earl Franzen, der in seinem Zimmer ein Schläfchen hielt und nichts mitbekam. Paradoxerweise war sie es, die langsam und sicher ihr Ich verlor, indem sie mit einem Mann zusammenlebte, der sie mit ihrer Mutter verwechselte [...].« (GmV 32) Der ehemals Tonangebende wird zum hilflosen Kind. Die Rollen verkehren sich, die Mutter muss nun beider Leben in die Hand nehmen. Das lässt sie in eine Autonomie hineinwachsen, die ihr »nie gestattet gewesen war: die Gelegenheit, einige sehr alte Rechnungen zu begleichen«. (GmV 32) Das Ich, das der Mutter zugeschrieben wird, enthüllt sich als die erinnerte Konstruktion des Sohnes. Für die Mutter selbst kommen unterdrückte Teile des Ich zum Vorschein. Die Belastung, die damit verbunden ist, kann allerdings nicht als Befreiung angesehen werden. Die Beziehungen innerhalb der Familie ändern sich aber teilweise auch zum Positiven. Der Ich-Erzähler und sein Bruder lernen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Und schließlich lernt der Erzähler auch etwas über sich selbst, was überrascht: Und seltsam, obwohl mir meine Intelligenz und mein gesunder Menschenverstand und mein Selbstwertgefühl immer viel bedeutet hatten, merkte ich, dass ich, indem ich mit ansah, wie mein Vater alle drei verlor, immer weniger ängstlich davor war, sie irgendwann selbst zu verlieren. Ich wurde allgemein etwas weniger ängstlich. Eine dunkle Tür ging auf, und ich merkte, dass ich in der Lage war, hindurchzugehen. (GmV 33)

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Hier tut sich ein weiteres Fenster zum Sinn auf, zu einer neuen Sicht, die Sinn nicht mehr an die Einheit von Bewusstsein und Erinnerung bindet und an das Bild der Persönlichkeit, wie es als kulturelle Norm westlicher Zivilisation gilt. Trotz des Ich-Verlusts bleibt der Wille des Vaters bestehen »unterhalb von Bewusstsein und Erinnerung« (GmV  38). Inmitten des geistigen Verfalls gibt es lichte Momente und klare Worte, Worte, die er früher nicht sagen konnte wie: »Ich habe deine Mutter immer geliebt. Immer.« (GmV 35) Verkehrung der Rollen: denn daran will die Mutter sich gar nicht erinnern. Der Bericht von Jonathan Franzen endet mit einer medienpolitischen Betrachtung über den Naturalismus, der hier Materialismus genannt wird. Der Wunsch, unauslöschlich aufzuzeichnen, Geschichten in unvergänglichen Worten niederzulegen, scheint mir verwandt mit der Überzeugung, dass wir mehr sind als unsere biologischen Prozesse. Ich frage mich, ob unsere gegenwärtige kulturelle Empfänglichkeit für die Verlockungen des Materialismus – unsere zunehmende Bereitschaft, die Psychologie als chemischen Vorgang, die Individualität als genetische Anlage und das Verhalten als Ergebnis früherer Erfordernisse der menschlichen Evolution zu verstehen – nicht unmittelbar mit dem postmodernen Wiederaufleben des Mündlichen und dem Schwinden des Schriftlichen verbunden ist: unserem ständigen Telefonieren, unserem flüchtigen E-Mailen, unserer unerschütterlichen Hingabe an die Flimmerkiste. (GmV 41)

Ich möchte ein wenig einschränken, denn auch nicht schriftfixierte Kulturen – und darunter verstehe ich auch kleine Familienkulturen – kennen die mündliche erzählende Erinnerung auf Geburtstagsfeiern und Familientreffen, sie kennen erzählende Großväter und Großmütter usw. Die Reduktion des Geistes auf materielle Prozesse wie überhaupt die Unterscheidung Geist versus Materie lässt sich als eine selbst geistige Bewegung seit der Antike beobachten und erweist sich somit als kulturelle Konstruktion. Man muss kein Hegelianer sein, um die Kraft des Denkens zu erfahren. Sie ist fast so groß wie die Liebe, die den Tod besiegt. Das zeigt uns Jonathan Franzen: Selbst als die verbleibenden Teile seines Ichs noch kleiner und fragmentierter wurden, betrachtete ich ihn weiterhin hartnäckig als ein Ganzes. Noch immer liebte ich, ganz spezifisch und individuell, den Mann, der da in dem Bett gähnte. Und wie konnte ich aus dieser Liebe nicht Geschichten bilden […]. (GmV 44)

Nur mit dem Tod lassen sich keine neuen Geschichten mehr erzählen. Die alten aber bleiben. »Es würde keine neuen Erinnerungen an ihn mehr geben. Die einzigen Geschichten, die sich nun erzählen ließen, waren die, die wir schon kannten.« (GmV 46) Die Demenz konfrontiert uns verstärkt mit der Materialität unseres Seins und mit der Infragestellung der Begriffe Person und Personalität, wie sie in der Tradition der europäischen Aufklärung geformt worden sind und die Grundlage unse-

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res Rechtverständnisses und Wertesystems bilden. Die Frage stellt sich: »wieviel man von sich selbst verlieren kann, ohne aufzuhören, ein Mensch zu sein […].«30 Angesichts der demenzkranken Mutter des Autors lesen wir in dem Roman Scar Tissue von Michael Ignatieff von einem Staunen angesichts eines Experiments an einem offen gelegten Gehirn. Der Hippocampus wird mit einem Stromstoß stimuliert und die Patientin beginnt »mit leiser, abweisender Stimme davon zu erzählen, wie sie und ihre Schwester eines Nachmittags beim Schaukeln im Garten mit den Füßen Mutters Teeservice erwischt und in hohem Bogen durch die Luft ins Gras befördert hätten« (LBS 65). Obgleich es sich um ein naturwissenschaftliches Experiment handelt (gezeigt in einem Dokumentarfilm im Fernsehen), erscheint das dem Ich-Erzähler wie ein Wunder: »Es kam mir wie ein Wunder vor, daß in einem pochenden Stück Menschenfleisch Erinnerung stecken sollte, Erinnerung als materielle Substanz, als Quelle dieses körperlosen Geflüsters.« (LBS 65) Ein Wunder. Im Weltbild der Naturwissenschaften gibt es keine Wunder und so resultiert das Staunen und Verwundern daraus, dass wir etwas nicht zu verstehen vermögen. Und sollten wir nicht darüber staunen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wenn eine wie immer geartete Verbindung zwischen bedrucktem Papier und den ›grauen Zellen‹ meines Gehirns die Schlacht von Borodino lebendig werden lassen kann, mich eine Vergangenheit ›erinnern‹ lässt, die ich nie erlebt habe und zudem mein Wissen der Geschichte erweitert – wenn ich nämlich Krieg und Frieden von Tolstoi lese? Der Erzähler des Romans Scar Tissue stellt sich der Herausforderung an das Verstehen ausgehend von neurologischen Erkenntnissen über die Gedächtnisfunktionen, bei der verschiedene Gehirnregionen zusammenarbeiten, und kommt angesichts der Demenz seiner Mutter zu dem Schluss, dass sie nicht »in der Lage war, sich selbst in einen sinnvollen Zusammenhang« (LBS 66) mit einzelnen Ereignissen zu stellen, an die sie sich erinnert. Er diagnostiziert also eine Krankheit des Selbst. Ich vermutete in ihrem Gedächtnisverlust das Symptom einer schwereren Störung der Fähigkeit, ein im Zeitablauf zusammenhängendes Bild von sich selbst zu erzeugen und festzuhalten. […] Sie wußte nicht mehr, wer das ›Ich‹ in ihren Sätzen war. (LBS 66)

Wir finden in dieser Diagnose implizit die der europäischen Auf klärungstradition entstammende anspruchsvolle, reflexive Fassung eines Selbst der performativen Selbstzuschreibungen, das sich als Autor seiner eigenen Lebensgeschichte versteht. Das ist in einer Hinsicht eine Illusion, wenn dem Ich nämlich die un30 | Michael Ignatieff: Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs. Geschichte einer Familie, übers. v. Werner Schmitz, Frankfurt a.M. 1998 [Scar Tissue. A Novel, London 1993], S. 150. Im Folgenden zitiert mit der Sigle LBS und Seitenzahl im Text. Der Autor nennt seinen Roman »Aufzeichnungen über eine noch nicht verstandene Krankheit« (LBS 17). Wir sind heute immer noch am Anfang des Verstehens. Es ist gleichwohl auf den Weg gebracht.

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bedingte Autonomie eines freien Willens zugeschrieben wird, die auch in der Aufklärungstradition schon stets gebrochen war, sich aber als ›Ideologie‹ durchaus behauptet hat. Sie prägt das Selbstverständnis der western civilisation im (Irr-) Glauben, mit hinreichender Entschlossenheit und Tatkraft die Dinge und vor allem sich selbst im Griff zu haben und Herr des Geschehens zu sein. Das Gefühl, dass etwas uns entgleitet, und gar: wir uns selbst, und zwar prinzipiell und unwiderruflich, lässt sich schwer ertragen, obgleich wir diese Erfahrung doch nahezu täglich machen müssen. Was aber bleibt, wenn die Verbindung der Erinnerungen zu dem eigenen Ich gekappt ist? Beim Versuch, das zu verstehen, versagen gerade die Diskurse der Neurologie und der Medizin. Ignatieff schildert diesen Bruch zwischen der Erkenntnis der objektiven Tatsachen und dem subjektiven Verstehen-Wollen: »Die Ärztin betrachtet Mutters PET-Aufnahmen und sieht eine Erkrankung der Gedächtnisfunktion, die einen festgelegten Namen und eine bestimmte Prognose hat. Ich dagegen sehe eine Krankheit des Ichbewußtseins, ohne Namen und bestimmte Ursache.« (LBS 75) Wo Tatsachen und Begriffe dem Verstehen nicht auf die Sprünge helfen, tritt die Poesie in Kraft mit ihren Metaphern, Gleichnissen und Vergleichen. Wenn es darum geht, zu ergründen, »mit was für einem Bewußtsein man es erlebt, wenn einem die Zeit im Kopf stehenbleibt, wenn einem nicht mehr bewußt ist, daß man etwas vergessen hat« (LBS 45), dann helfen ›Bilder‹. Der Erzähler stellt sich vor, wie seine Mutter mit einem Pinsel vor einer Leinwand steht. Ihre Hand bewegt sich nach vorn, auf einmal stockt sie. Der Moment, der Wunsch und Tun verbindet, der die Bewegung ihrer Hand von der Palette zum Pinsel zur Leinwand koordiniert, beginnt zu vibrieren wie ein gespannter Faden. Der Faden wird straffer, er glitzert und summt. Plötzlich reißt er. (LBS 43)

Ihm hilft auch der Vergleich mit Kindern, die im Kino sitzen, die über die reflexive Fassung ihres Selbst nicht verfügen oder sie vergessen und die aufschreien, wenn der Wolf ins Zimmer springt – was auch Erwachsenen geschehen kann, die nicht einmal närrisch wie Don Quijote zu sein brauchen, wenn er ein Puppentheater zertrümmert, um die Prinzessin zu retten. »Es gab zwischen ihr und der Leinwand keine Distanz mehr, keine Trennwand des Wissens. Wie die Kinder war sie dem Wolf schutzlos ausgeliefert.« (LBS 149) Das Verstehen endet mit der Erfahrung der Unverfügbarkeit, mit der Akzeptanz von Schicksal. Wem »Herrschaft über sich selbst als Haupttugend gilt« (LBS  83), nicht nur über das Selbst, sondern auch über die gesamte Natur, der wird sich mit dem Unverfügbaren nicht so leicht abfinden. Dennoch kollabiert »die moderne weltliche Religion der Selbstentwicklung und Selbstverbesserung« (LBS 83), die angesichts von Demenz und Tod sinnlos erscheint. Das Leben ist kein Roman, den wir selbst verfassen. Tatsächlich haben wir »mit dem Anfang der Erzählung nichts zu tun; lediglich im Mittelteil dürfen wir uns ein bißchen

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betätigen; das Ende ist dann wieder kaum von uns zu verantworten, sondern beruht auf Vererbung, biologischem Schicksal und Zufall« (LBS 84). Eine Revision des Identitätsbegriffs der Person als Kontinuität eines Selbst, das durch die Lebensgeschichte hindurch mit sich identisch bleibt, ist vonnöten. Damit muss das Konzept von Herrschaft über uns selbst aufgegeben werden. Wir müssten aufs Neue verstehen lernen, was Schicksal ist: dass man am Ende immer als Verlierer vom Platz geht! In Wahrheit nämlich, ist man es selbst, der »von den Schnüren zum Tanzen gebracht wird« (LBS 92).

Jonathan Franzen: Korrekturen Franzen hat die Geschichte seiner Familie in einem inhaltlich und fiktional erweiterten Rahmen ausgebaut in seinem großen Roman Die Korrekturen, The Corrections, den ich zur ›großen Literatur‹ zähle.31 Franzen erzählt die Geschichte einer starken, wenn auch problematischen Familienbande, im Doppelsinn des Wortes Bande, um den demenzkranken Patriarchen Alfred, einen pensionierten Eisenbahningenieur, aus dem amerikanischen Mittelwesten. Das erste Wort des Romans The Corrections lautet: »Der Irrsinn«/»The Madness«. Mich interessiert in erster Linie die Darstellung der Demenz, die mit der Beschreibung des Alltags von Alfred und seiner Ehefrau Enid und der »Alarmglocke der Angst« 32 (K  9) beginnt. Diese Angst ist namenlos und bildet eine Art Hintergrundgeräusch. Sie kann jederzeit manifest werden. »Enid war sicher, dass sie selber einen klareren Kopf bekommen würde, wenn sie sich nicht alle fünf Minuten fragen müsste, was Alfred im Schilde führte.« (K 11) Ihr Leben ist geprägt von einem Nicht-anerkennen-wollen und Nicht-akzeptieren-wollen der Krankheit. Enid behandelt ihren Mann, als würde er aus Bosheit alle Verhaltenserwartungen und -normen verletzten. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn einfach nicht dazu bringen, sich für das Leben zu interessieren. Wenn sie ihn ermunterte, sich doch wieder einmal seinem Labor zuzuwenden, sah er sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Wenn sie ihn fragte, ob es nicht irgendetwas im Garten zu tun gebe, sagte er, die Beine täten ihm weh. Wenn sie ihn darauf aufmerksam machte, dass die Männer ihrer Freundinnen allesamt Hobbys hatten (Dave Schumpert seine Glasmalerei, Kirby Root seine raffinierten Chalets als Nistkästen für Rotfinken, Chuck Meisner die stündliche Überprüfung seines Aktiendepots), tat er so, als wolle sie ihn von einer wichtigen Arbeit abhalten, und worin bestand die? Darin, die Gartenmöbel zu streichen? Mit dem Korbsofa war er nun schon seit dem Labor Day beschäftigt. Das letzte Mal, als er die Gartenmöbel gestrichen hatte, war er, wenn sie sich recht 31 | Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Roman, übers. v. Bettina Abarbanell, Reinbek b. H. 22004 [The Corrections, New York 2001]. Im Folgenden zitiert im englischen Original mit der Sigle C und in der deutschen Übersetzung mit der Sigle K und Seitenzahl in Klammern. 32 | »[…] an alarm bell that no one but Alfred and Enid could hear directly.« (C 3)

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Hans-Georg Pott erinnerte, nach zwei Stunden mit dem Sofa fertig gewesen. Jetzt verschwand er Morgen für Morgen in seiner Werkstatt, und als sie sich nach einem Monat einmal zu ihm hineingewagt hatte, um nachzusehen, wie es voranging, hatte sie entdeckt, dass er über die Beine des Sofas nicht hinausgekommen war. (K 11f.)

Der kranke Alfred, dessen klinische Diagnose lautet: »Parkinson, Demenz, Depression sowie Nervenleiden der Beine und des Harnsystems« (K 778), wird in seiner veränderten Persönlichkeit nicht anerkannt. Er entzieht sich aus Unsicherheit und bringt die Tage untätig im Keller zu. Was immer er tut: Es ergibt keinen Sinn. Dieser Sinn ist der von Franzen meisterhaft geschilderte normale ›Wahnsinn‹ der amerikanischen Mittelklassekultur, die sich nur in Nuancen von der anderer westlicher Kulturen unterscheidet – wie die Begegnung mit Norwegern und Schweden auf dem Kreuzfahrtschiff klarmacht. Niemand kann ihm sein Leben untertage nachsehen oder gar gönnen. Nicht nur die anderen, er selbst stellt an sich unerfüllbare Anforderungen und will das Zittern der Hände, die Inkontinenz, die Depressionen, die Gehschwäche nicht akzeptieren. Ein verändertes Selbst ist für alle schwer zu ertragen. Enid kann sich damit nicht abfinden. Sie möchte, dass Alfred anders ist, und anders heißt: wie die Männer ihrer Freundinnen. Sie gibt Alfred die Schuld, als hätte er eine Wahl und behandelt ihn wie ein ungezogenes Kind. Umgekehrt gibt Alfred seiner Frau die Schuld dafür, dass sie seiner Verwirrung »durch bloße Zeugenschaft zur Existenz verhalf« (K 20). Denn er versucht sie ebenso zu verbergen (wie eine geheime Schuld), wie seine Frau seine Krankheit nicht wahrhaben will: »Doktor Hedgpeth sagt, was er hat, ist ein ganz leichter Fall und mit Medikamenten fast völlig in den Griff zu kriegen.« (K 29) Andererseits benutzt sie seine Krankheit und entmündigt ihn gar, wenn es darum geht, Konsequenzen für sich selbst abzuwehren. Das ganze Dilemma kommt in dem Dialog mit der Tochter Denise zum Ausdruck (die drei Kinder, zwei Söhne, Gary und Chip und die Tochter Denise sind längst aus dem Haus): »[…] Gary möchte, dass wir uns für betreutes Wohnen anmelden. Er begreift nicht, dass es dafür schon zu spät ist. Solche Heime nehmen Leute, die in einem Zustand sind wie Dad, gar nicht mehr auf.« »Aber wenn Dad nun dauernd die Treppe runterfällt.« »Denise, er benutzt das Geländer nicht! Er hört einfach nicht, wenn ich ihm sage, dass er beim Treppensteigen nichts tragen darf.« (K 91)

Ein in langen Ehejahren eingespieltes Muster wird weiterhin benutzt. Da das aber an die Grenzen des Faktischen der Krankheit stößt, beginnt ein gegenseitiges Versteckspiel. Enid wird zur »Guerillera«, die einen Kampf im Verborgenen, hinter dem Rücken von Alfred und zum Teil verbündet mit dem Mustersohn Gary, führt. »Enids scheinbarer Feind war Alfred, doch zur Guerillera machte sie das Haus. Es nahm sie beide in die Pflicht. […] Unglücklicherweise fehlte Enid das nö-

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tige Temperament und Alfred das neurologische Rüstzeug, um ein solches Haus zu führen.« (K 14) Dieser Kampf wird von Franzen in wahrhaft epischem Ausmaß erzählt. Alfreds bevorzugte Rückzugsorte sind ein alter Sessel im Keller, in dem er vor sich hindöst, und eine alte Tischtennisplatte. Die Tischtennisplatte war das einzige Feld, auf dem der Bürgerkrieg in aller Offenheit tobte. Am östlichen Ende wurde Alfreds Rechenmaschine aus dem Hinterhalt von Topflappen mit Blumendruck, Souvenir-Untersetzern vom Epcot Center und einem Kirschentkerner angegriffen, den Enid seit dreißig Jahren besaß und nie benutzte, während Alfred am westlichen Ende aus keinem für Enid auch nur entfernt begreiflichen Grund einen aus Kiefernzapfen und farbig besprühten Hasel- und Paranüssen geklebten Kranz in seine Einzelteile zerlegte. (K 15)

Franzen idealisiert kein Familienmitglied. Diese gehen sich auf die Nerven und können doch nicht voneinander lassen – ja, vielleicht lieben sie sich wirklich: trotz Enids Spießigkeit und ihrer diversen Obsessionen, mit denen sie Ehemann, Kinder und Enkel tyrannisiert (z.B. mit dem Wunsch, unbedingt Weihnachten in der Heimatstadt St. Jude zu verbringen); trotz Chips beruflicher Pleiten, Denises erotischen Eskapaden und Garys ganz normalem Wahnsinn eines beruflich erfolgreichen Ehemanns der amerikanischen gehobenen Mittelschicht; trotz Alfreds patriarchisch-tyrannischer Sturheit, die seine Demenz bis zum Ende überlebt. »Enids Versuche, ihn zu korrigieren, hatten allesamt nichts gefruchtet. Er war noch genauso stur wie an dem Tag, als sie ihn kennen gelernt hatte.« (K 781) Ist das nicht ein Ausdruck dafür, dass wir im Kern unserer Persönlichkeit unzerstörbar sind, so unangenehm dieser Kern auch für die anderen (und vielleicht auch für uns selbst) sein mag? Letztlich können sie sich aufeinander verlassen und stehen sich bei. Schließlich muss Alfred zur Untersuchung in eine gerontopsychiatrische Klinik gebracht werden. Er nimmt die Umgebung als Gefängnis wahr. Eindringlich beschreibt Franzen den letzten Rest eines fragmentierten Bewusstseins, das sich an sich selber gerade noch zu erinnern vermag, wie es einmal war: Wie eine Ehefrau, die gestorben, oder ein Haus, das abgebrannt war, genauso lebhaft hatte er die Klarheit, die man zum Denken, und die Kraft, die man zum Handeln brauchte, noch in Erinnerung. Durch ein Fenster zur nächsten Welt konnte er sie sehen, diese Klarheit, konnte sie sehen, diese Kraft, nur knapp außerhalb seiner Reichweite, gleich hinter den Thermopanescheiben. (K 769)

Diese Schwelle der Erinnerung an die einstige Klarheit des Denkens markiert vielleicht die größte Grausamkeit der Krankheit Demenz: das Bewusstsein, sein einstiges Ich nur noch von einem Jenseits aus betrachten zu können. Wird auch dieses Fenster verdunkelt, werden Schmerz und Trauer vergehen.

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Die Tatsache, dass Enid ihren Mann am Ende jeden Tag im Pflegeheim besucht, hat etwas Zwiespältiges. Einerseits wird die Familiensolidarität beibehalten. Andererseits ist er erst im Pflegeheim für Enid erträglich. Sie bekommt, was sie ihr Eheleben lang vermisst hat. Sie war froh, wenigstens seinen Körper wiederzuhaben. Seine Größe, seine Gestalt, seinen Geruch hatte sie immer geliebt, und jetzt, da er im Rollstuhl saß, war er bedeutend nahbarer und außerdem unfähig, Einwände gegen ihre Zärtlichkeit klar verständlich zu formulieren. Er ließ sich küssen und schreckte nicht zurück, wenn ihre Lippen ein wenig bei ihm verweilten; er zuckte nicht zusammen, wenn sie ihm übers Haar strich. (K 778)

Gleichzeitig kann sie ihm nicht den kleinsten Fehler nachsehen. Wenn er sie für ihre Mutter hielt, verbesserte sie ihn ärgerlich: »Ich bin es, Al, Enid, deine Frau seit achtundvierzig Jahren.« Wenn er sie für Denise hielt, waren ihre Worte dieselben. Sie hatte sich ihr Leben lang IM UNRECHT gefühlt, und jetzt hatte sie endlich die Chance, ihm zu sagen, wie sehr er IM UNRECHT war. (K 779)

Der lebenslange Ehezwist geht bis zum Sterbebett weiter. Ich sehe darin kein Zeichen eines Pessimismus, sondern eher die Schilderung einer Lebenswirklichkeit, die nicht aus einer durchweg guten, gelingenden Lebensform bestehen kann. Auch das Leben im Wohlstand ist als Beziehungstheater kein Kinderspiel und der vielleicht nicht an der Oberfläche der Erzählung aufscheinende Optimismus des Buches liegt darin, dass die Familien-, soll man sagen: Liebesbande, der Lamberts völlig intakt und unzerstörbar sind. Dieser Roman gehört deshalb zu den großen Meisterwerken der Weltliteratur, weil er den Situationen angepasst seine Stilmittel wählt: Humor, Satire, Ironie wechseln mit realistisch-naturalistischen Erzählelementen, die mit akribischer Detailgenauigkeit vorgetragen werden. Ich möchte an wenigen Beispielen diese Meisterschaft vorführen. Eine der großen Schwierigkeiten besteht für einen Autor fiktionaler Texte in der Darstellung von Demenz als Bewusstseinswirklichkeit des Betroffenen und nicht so sehr in Aufzeichnungen aus der Perspektive des außenstehenden, geistig ›normalen‹ Beobachters. Franzen versucht, dieses Problem mit wechselnden Stilmitteln zu bewältigen, die je für sich betrachtet werden müssen. Der humoristische Stil zeigt sich beispielsweise in einer Essensszene, die ein allgemeines Problem des Umgangs mit Hochaltrigen aufzeigt. So wie die Welt gewöhnlich nicht behindertengerecht eingerichtet ist, so auch nicht für Demenz- und Alzheimer-Kranke. Welche Schwierigkeiten sich auftun, zeigt ebenso humorvoll wie traurig-ernst die Beschreibung einer Mahlzeit, welche die Tochter und Gourmetköchin Denise zubereitet.

Altersdemenz als kulturelle Herausforderung Aus dem Ende eines französischen Brotlaibs hatte Denise drei kleine Fahrzeuge mit Krustenboden fabriziert. Auf das eine setzte sie wie vom Wind geblähte Buttersegel, in ein anderes lud sie Parmesanscherben in einem Holzwollnest aus klein geschnittener Rucola, und das dritte belegte sie mit gehäckselten Oliven in Olivenöl und deckte eine dicke rote Paprikapersenning darüber. (K 95)

Man ahnt die Katastrophe: seine zittrigen Hände, die Scham, vor Denise seinen Zustand offenbaren zu müssen, seine wachsende Panik, das Buttersegelschiff zu fassen und, ohne es kentern zu lassen, im Mund unterzubringen. Das wird zunächst aus der Außenperspektive beschrieben: »Er lehnte sich vor, griff, indem er die nehmende Hand mit der stützenden stabilisierte, nach dem Buttersegelschiff […]«, leitet dann über in eine (auktorial beschriebene) Innenperspektive: die »Kruste schnitt ihm ins Zahnfleisch«, um in eine Art inneren Monolog überzuleiten: »Die süße schmelzende Butter, das weiblich Weiche des gebackenen, gesäuerten Weizens« (K  98f.).33 Beim dritten Häppchen stürzt die Brotgondel ab und beschmiert Hose und Polster. Seine Frau Enid nimmt das Missgeschick im Angesicht der Tochter zum Anlass, befriedigt darüber zu sein, ihrer Tochter einen kleinen Einblick in das zu verschaffen, »was sie jeden Tag, rund um die Uhr, daheim in St. Jude auszustehen hatte« (K 110).34 Noch drastischer, aber desto eindringlicher schildert Franzen die Entdeckung und das Erleben der eigenen Inkontinenz. Um die Innensicht darstellen zu können, bedarf es der dichterischen Fiktion in Form eines dramaturgischen Tricks, nämlich die Exkremente sprechen zu lassen. Wir wissen, was Inkontinenz ist: eine Körperfunktion, die nicht mehr beherrschbar ist. Vielleicht stellen wir uns noch darunter irgendetwas Unangenehmes vor. Doch damit wissen wir noch lange nicht, was es für den Betroffenen bedeutet: wie er ›es‹ erlebt und damit ›fertig‹ wird. Die Fiktionskunst von Franzen erlaubt es, das innere Erleben Alfreds in einem Dialog vorzustellen, der den Schrecken und die Reaktion Alfreds zwischen Hilflosigkeit und Auflehnung, seinen inneren Kampf, erkennbar werden lässt. Die Erzählung seiner Pein erstreckt sich auf zwölf Druckseiten (K 390-402) und kann als ein Meisterwerk der Prosaliteratur gelten. Es handelt sich um die Erzählung von seinem Kot, einem Scheißhaufen, der sich verselbständigt und ihm als närrischer Kobold gegenübertritt. Dazwischen die Hilfe suchenden und ungehörten Rufe nach Enid. Ich kann hier nur in Auszügen einige markante Textstellen zitieren und kommentieren. »Psst! Arschloch!« Mit einem Ruck wachte Alfred auf und spürte das Zittern und träge Krängen der Gunnar Myrdal. War noch jemand in der Kabine? 33 | »The sweet butter melting, the feminine softness of baked leavened wheat.« (C 68) 34 | »[…] a small taste of what she had to put up with every day, around the clock, at home in St. Jude.« (C 76)

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Hans-Georg Pott »Arschloch!« »Wer ist da?«, fragte er halb herausfordernd, halb ängstlich. Dünne skandinavische Bettdecken fielen von ihm ab, als er sich aufsetzte und ins Halbdunkel spähte, angestrengt über die Grenzen seines Selbst hinauslauschend. (K 390) »Arschloch, Arschloch!«, höhnte der Besucher und trat aus der Dunkelheit in die Bettranddämmerung. Mit Bestürzung erkannte Alfred ihn. Zuerst sah er die eingesackten Konturen, dann stieg ihm ein Hauch von bakteriellem Verfall in die Nase. Das war keine Maus. Das war der Scheißhaufen. »Auch noch Urinprobleme, he, he!«, sagte der Scheißhaufen. Es war ein soziopathischer Scheißhaufen, ein weicher Stuhl mit losem Maul. In der Nacht zuvor hatte er sich mit Alfred bekannt gemacht und ihn so in Erregung versetzt, dass nur Enids Fürsorge, helles elektrisches Licht und Enids beruhigende Hand auf seiner Schulter, die Nacht hatten retten können. »Fort!«, befahl Alfred streng. (K 392) »Nee, nee, José«, sagte der Scheißhaufen. »Zuerst kriech ich in deine Kleider.« »Nein!« »O doch, Alter. Ich kriech in deine Kleider und mach die Polster dreckig. Schmier rum und hinterlass’ne Spur. Und stinke erst mal kräftig!« »Warum? Warum willst du so etwas tun?« »Weil es mir entspricht«, krächzte der Scheißhaufen. »So bin ich eben. […]« […] »Die Zivilisation steht und fällt mit der Beherrschung der Triebe«, sagte Alfred. »Zivilisation? Überbewertet. Ich frag dich, was hat die schon je für mich getan? Mich im Klo runtergespült! Mich wie Scheiße behandelt!« (K 393)

Das unverkrampfte Verhalten von Kleinkindern zu ihren körperlichen Ausscheidungen ist der ›Zivilisation‹ gewichen, auf der phylo- wie der ontogenetischen Ebene. Indem eine elementare Körperfunktion (wieder) unbeherrschbar wird, drängt sich auf unangenehme, stinkende und schmutzige Weise die Leibeigenschaft nicht nur des Geistes, sondern der gesamten zivilisierten, abgegrenzten Persönlichkeit wieder auf. Würde, Freiheit und Macht über die Natur, auf denen der Person-Begriff in der westlichen Zivilisation maßgeblich beruht, werden zumindest relativiert. Von der nicht mehr beherrschbaren Körperfunktion geht eine Bedrohung des ›weißen Mannes‹ aus. Der Kothaufen wird zu einem Symbol für das in der ›weißen‹ Kultur Störende schlechthin und der Dialog mit ihm zu einer Parabel oder einem Gleichnis für den unzivilisierten Umgang der Zivilisierten mit dem und den Ausgegrenzten, mit Kindern, Polynesiern, Negern (Kommentar: Kann man das heute noch schreiben? – Das steht so bei Franzen), Teenagern, Kariben, Chinesen, Frauen, Homosexuellen, Juden usw. Also all denen, die auf irgendeine Weise Schmutz verbreiten, wobei unter Schmutz all das zu verstehen

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ist, was von der Norm und Normalität einer Spießerkultur abweicht. Hier wird die mit Ressentiment geladene Sau rausgelassen gegen diejenigen Scheißtypen, zu denen er nunmehr selbst buchstäblich gehört. »Der Teufel soll dich holen!«, sagte Alfred. »Du gehörst hinter Schloss und Riegel!« Der Scheißhaufen keuchte vor Lachen, während er sehr langsam an der Wand hinabglitt und mit seinen klebrigen Pseudosaugnäpfen auf die Laken zu tropfen drohte. »Mir scheint«, sagte er, »ihr analfixierten Typen hättet gern alles hinter Schloss und Riegel. Kleine Kinder zum Beispiel, absolute Katastrophe, Mann, die reißen dir deinen Plunder aus den Regalen, kleckern auf den Teppich, nölen im Kino, pinkeln daneben. Ab in den Knast mit ihnen! Und die Polynesier, Mann, die tragen Sand ins Haus und schmieren Fischsauce auf die Möbel, und all die geschlechtsreifen Puppen mit ihren entblößten Möpsen? Einsperren! […]« (K 395) »[…] He, komisch, Fred, die einzigen Leute, die nicht in dein Gefängnis gehören, sind nordeuropäische Männer der oberen Mittelschicht. Und du hältst mir vor, dass ich die Dinge so haben möchte, wie ich will?« »Was muss ich tun, damit du diesen Raum verlässt?«, fragte Alfred. »Locker den Schließmuskel, Alter. Lass es raus.« »Niemals!« (K 396f.)

Die abgespaltene Körperfunktion von Alfred hat sich verselbständigt und Selbstbewusstsein erlangt (»Kotrebellen«, K  397), die sein reinlich sozialisiertes Ich nicht mehr beherrscht. ›Es‹ geht seinerseits zur Anklage über, parodiert das Ich und bringt die ressentimentgeladene ›Weltanschauung‹ von Männern der euroamerikanischen Mittelschicht zum Ausdruck. Aber dieser Rebell bietet auch eine Chance: sich nämlich mit dem Schmutz zu identifizieren, seine regressive Funktion zu akzeptieren (das Kleinkind, das er einmal war, zu integrieren) und das beschissene Selbst-wert-bewusstsein zu relativieren. Der Scheißhaufen macht ihm ein Angebot. Aber das geht über seine Kräfte und Möglichkeiten.

Wenn einem die Zeit im Kopf stehenbleibt Ich möchte das Erkenntnisproblem: wie kann man die Bewusstseinswirklichkeit eines Dementen darstellen, sein Selbsterleben, seine Ich-Perspektive, wenn er sich nicht mehr für Außenstehende verständlich artikulieren kann und für sich selbst möglicherweise auch nicht, an einem weiteren Beispiel erörtern, das mit der Darstellung von Demenz als dem ›Unbeschreiblichen‹ auftaucht. Denn Versuche, eine fiktionalisierte, fragmentierte und weitgehend unverständliche Sprache aufzuschreiben, die es gibt, lassen ›normale‹ Leser wie mich ziemlich ratlos zurück, weil ich dann auch nichts verstehe. Ich möchte an dem Beispiel zeigen, wie es Franzen ein weiteres Mal mit großer stilistischer Meisterschaft gelingt, uns ein defektes Inneres verständlich zu machen, indem er uns mit den

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formal-stilistischen Mitteln von Metapher, Vergleich und Gleichnis eine Episode, ein ganz unscheinbares Ereignis, erzählt. Und vielleicht ist ja das Gleichnis die höchste uns Menschen erreichbare Erkenntnisform des Unzulänglichen, Unbeschreiblichen.35 Die folgende Szene schildert, wie Al schon am Donnerstag die Koffer packt, obwohl die beiden erst am Samstag verreisen wollen. Auf die Frage Enids: »Al? Was machst du da?« beginnt er einen Satz: »Ich habe – «. Da er sich durch die Frage überrumpelt fühlt, kann er den Satz nicht vollenden und es entsteht eine Pause, nach der er dann schließlich den Satz beendet: »›meinen Koffer gepackt‹, hörte er sich sagen«. Die Lücke in Alfreds Antwort füllt der Autor mit einem über eineinhalb Seiten langen komplexen Satzgefüge, das in der Perspektive des auktorialen Erzählers der dritten Person die der ersten Person einnimmt und erzählt, was in ihr vor sich geht. Die Lücke wird ausgefüllt, mit Sinn gefüllt, und so wird uns verständlich, warum sie überhaupt entsteht und wieso Al den Satz schließlich doch beenden kann. Man muss ihn schon zur Gänze hören, um zu verstehen. »Al? Was machst du da?« Er drehte sich zur Tür um, in der sie aufgetaucht war. Dann begann er einen Satz: »Ich habe – «, doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, dass die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, dass es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes, Korpuskelhaftes, und in der Tat hatte er als emsiger Teenager in McKay’s Treasury of English Verse für »dämmrig« das Wort »crepuscular« gefunden, woraufhin die Korpuskeln der Biologie, die Blutkörperchen nämlich, für immer in sein Verständnis dieses Wortes eingeflossen waren, sodass er sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch die Dämmerung als Korpuskularität wahrgenommen hatte, vergleichbar der Körnigkeit eines hoch empfindlichen Films, wie man ihn benutzte, wenn man bei schummriger Innenbeleuchtung fotografieren wollte, vergleichbar auch einer Art düsteren Verfalls; daher die Panik eines Mannes, den man, verraten und verkauft, tief im Wald allein gelassen hatte, wo die Dunkelheit eine Dunkelheit von Staren war, die den Sonnenuntergang verfinsterten, oder von schwarzen Ameisen, die ein totes Opossum stürmten, eine Dunkelheit, die nicht einfach nur da war, sondern die Wegmarkierungen, die er vernünftigerweise ausgelegt hatte, um sich nicht zu verlaufen, regelrecht verschlang; in der Sekunde jedoch, da er begriff, dass er die Orientierung verloren hatte, wurde die Zeit wunderbar langsam, und er entdeckte bis dahin nie geahnte Ewigkeiten im Abstand zwischen einem Wort und dem nächsten oder, besser gesagt: Er war gefangen in den Lücken zwischen den 35 | Vgl. Hans-Georg Pott: Das Gleichnis, in: ders.: Kontingenz und Gefühl, München 2013, S. 167-192.

Altersdemenz als kulturelle Herausforderung Wörtern und konnte bloß dastehen und zusehen, wie die Zeit ohne ihn weitereilte, wobei der gedankenlose, jungenhafte Teil von ihm blindlings durch den Wald davonstürzte, bis er außer Sichtweite war, während er, gefangen, der erwachsene Al, mit sonderbar unpersönlicher Spannung abwartete, ob der von panischem Schrecken erfüllte kleine Junge, auch wenn er nun nicht mehr wusste, wo er war oder an welcher Stelle er den Wald dieses Satzes betreten hatte, es vielleicht trotzdem schaffen würde, auf die Lichtung zu stolpern, auf der Enid, ohne irgendwelche Wälder wahrzunehmen, auf ihn wartete – »meinen Koffer gepackt«, hörte er sich sagen. Das klang richtig. Possessivpronomen, Substantiv, Verb. Vor ihm stand ein Koffer, eine wichtige Bestätigung. Er hatte nichts verraten. Aber Enid hatte schon wieder etwas gesagt. Der Ohrenarzt hatte behauptet, er sei leicht schwerhörig. Alfred runzelte die Stirn, weil er sie nicht verstanden hatte. »Heute ist Donnerstag«, sagte sie, lauter. »Wir fahren doch erst Samstag.« (K 20f.)

Dieses lange Satzgefüge beginnt mit einem metaphorischen Vergleich: Jeder Satz ist ein Abenteuer im Wald, in den Alfred eintaucht. Er wird zum Hänsel des Grimmschen Märchens, der Brotkrumen streut, die die Vögel aufpicken, so dass er sich verirrt. Gretel fehlt, sie wartet auf der Lichtung. Sodann assoziiert er die Dämmerung mit der Korpuskularität über das Wortspiel ›corpuscular‹/ ›crepuscular‹, eine Jugenderinnerung, woran der Erzähler weitere Vergleichsketten anfügt: »as of the graininess of the high-speed film, as of a kind of sinister decay« (C 11), die mit einem Semikolon abgeschlossen werden. Orientierungslos im Wald der Wörter ereignet sich das Wunder der Verlangsamung und Aufhebung der Zeit: in der Sekunde jedoch, da er begriff, dass er die Orientierung verloren hatte, wurde die Zeit wunderbar langsam […] Er war gefangen in den Lücken zwischen den Wörtern und konnte bloß dastehen und zusehen, wie die Zeit ohne ihn weitereilte, wobei der gedankenlose, jungenhafte Teil von ihm blindlings durch den Wald davonstürzte [...] (K 20)

Der alte Al, gefangen in den Lücken zwischen den Wörtern, sieht dem jungen Al zu und fragt sich, ob der junge »auch wenn er nun nicht mehr wusste, wo er war oder an welcher Stelle er den Wald dieses Satzes betreten hatte, es vielleicht trotzdem schaffen würde, auf die Lichtung zu stolpern, auf der Enid, ohne irgendwelche Wälder wahrzunehmen, auf ihn wartete«. Er spaltet sich in den alten und den jungen Al, wobei der junge blindlings davon stürzend die rettende Lichtung (Orientierung) erreicht, auf der Enid wartet. Dieser junge Al, der noch in dem alten auf eine geheimnisvolle Weise anwesend ist, ermöglicht es aufgrund dieser Spaltung, den Satz zu vollenden: »›meinen Koffer gepackt‹, hörte er sich sagen.« Die Tatsache, dass die rettende Lichtung, Orientierung, auf der Enid wartet, vom jungen Al »blindlings« erreicht wird, der sozusagen dem alten zu Hilfe eilt und die (Satz-)Lücke schließt, lässt sich auch als im wahrsten Sinn des Wortes erhellende Erinnerung an die längst verschüttete junge Liebe, das einstige ZueinanderFinden der beiden, verstehen.

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Ich betrachte das Ganze als ein langes komplexes Gleichnis. Hier zeigt sich, was Dichtung zu leisten vermag, mit den viel zitierten letzten Worten der FaustDichtung Goethes: »Das Unzulängliche/ Hier wird’s Ereignis« (V. 12106f.).36 Diese Vergleichsketten und Motivverflechtungen leisten, was kein anderer Diskurs vermöchte: die Innenansicht eines dementen Bewusstseins zu simulieren, eben im Gleichnis, das aus einem Versagen ein grandioses Sagen macht. Ein weiterer Versuch, zu erklären, wie ein dementes Bewusstsein funktioniert, betrifft ebenfalls die Zeitdimension. Wenn das Gedächtnis schwindet, schwindet möglicherweise auch ein stabiles Weltverständnis. Wenn der gegenwärtige Augenblick nicht mit der Vergangenheit verknüpft werden kann, so ist der nächste Moment der Zeit ganz neu, voller Überraschungen und Möglichkeiten. Mit jedem Zeitmoment bricht gleichsam ein neuer unverständlicher Tag an. Es kann gleichsam ALLES passieren. Mit anderen Worten: Es gibt keine Kontinuität oder nur dort, wo die »unveränderlichen historischen Wurzeln der Dinge« lagern: »unter Tage«. Das sind die Dinge, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind, wie die »Midland Pacific Railroad«, bei der Alfred sein Berufsleben weitgehend zugebracht hatte. Franzen bedient sich wieder der Gleichnisrede, mit »wie« eingeleitet: Aber Denise ging schon aus der Küche und brachte den Teller Alfred, für den das Problem des Daseins dieses war: dass die Welt, wie ein aus dem Boden emportreibender Weizensämling, sich auf der zeitlichen Achse vorwärts bewegte, indem sie ihrem äußeren Rand Zelle für Zelle hinzufügte, also einen Moment auf den anderen schichtete, und dass es, selbst wenn man die Welt in ihrem frischesten, jüngsten Moment begriff, keinerlei Garantie dafür gab, dass man sie auch einen Moment später noch begreifen konnte. Als er gerade verstanden hatte, dass seine Tochter Denise ihm im Wohnzimmer seines Sohnes Chip einen Teller Snacks reichte, reifte bereits der nächste Augenblick im Ablauf der Zeit zu einer urtümlichen, noch unbegriffenen Existenz heran, in der Alfred zum Beispiel die Möglichkeit, dass seine Frau Enid ihm im Salon eines Bordells einen Teller Fäkalien reichte, nicht vollkommen ausschließen konnte, und kaum hatte er sich der Gegenwart von Denise, den Snacks und Chips Wohnzimmer vergewissert, da hatte der äußere Rand der Zeit bereits eine weitere Schicht Zellen hinzugewonnen, sodass er abermals mit einer andersartigen, noch unbegriffenen Welt konfrontiert war, weshalb er es, anstatt seine Kräfte bei diesem Wettlauf zu verausgaben, zusehends vorzog, seine Zeit unter Tage zuzubringen, zwischen den unveränderlichen historischen Wurzeln der Dinge. (K 96)

Nahtlos leitet Franzen den verzerrten Diskurs des Dementen in den der verständlichen Langzeiterinnerungen über, seine Tage bei der Midland Pacific Railroad,

36 | Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3, hg. von Erich Trunz, 14., durchges. Aufl., München 1989, S. 146-364, hier S. 364.

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nicht ohne partiellen Verlust des Gedächtnisses als einen der Sprache selbst zu markieren: Es gab Kapitel in Hedgpeths kleinen Büchern, die nicht einmal Alfred, fatalistisch und diszipliniert, wie er war, zu lesen vermochte, Kapitel, die sich mit den Problemen des Schluckens befassten, mit den späten Qualen der Zunge, mit dem endgültigen Zusammenbruch des Signalsystems … Der Verrat hatte bei den Signalen angefangen. (K 99)

»Der Verrat hatte bei den Signalen angefangen«: Das lässt sich als assoziativ-metaphorische Wendung zu einem inneren Monolog begreifen, als eine inszenierte Bewusstseinswirklichkeit, mit der der demente Alfred seine eigene Demenz erklärt.

G EHIRN UND G EIST In dem vielleicht bedeutendsten Werk der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Musils Der Mann ohne Eigenschaften, steht der viel zitierte Satz: »Es ist leider in der schönen Literatur nichts so schwer wiederzugeben wie ein denkender Mensch.«37 Und der weitere: »Je besser der Kopf, desto weniger ist dabei von ihm wahrzunehmen.«38 Vielleicht zollen wir Geisteswissenschaftler auch deshalb unserem Gehirn nicht genügend Respekt, weil es sich im Normalfall so wenig zur Erscheinung bringt. In diesem Sinn ist es nur zu begrüßen, wenn die moderne Hirnforschung die Aufmerksamkeit auf unser bisher nicht transplantierbares Organ lenkt. Sie erweist eindrucksvoll und immer detaillierter die Leibeigenschaft des Geistes in einem doppelten Sinn: Es gibt keinen Geist, einen Sinnzusammenhang sprachlichen Geschehens, unabhängig von einem Körper, der mikro- und/oder makrophysikalischen Gesetzen unterliegt, und in einem quasi juristischen Sinn, der in dem alten feudalen Rechts-Macht-Verhältnis der Leibeigenschaft noch anklingt: der Geist muss dem Leib gehorchen, wir müssen ihm zu Willen sein. Ob der Geist daneben noch einen eigenen Willen hat, das eben ist eine offene Frage. Sind wir, also unser eingebildetes Ich, nur ein Epiphänomen einer neuronalen Veranstaltung? Wie dem auch sei: Der Begriff der ›freien‹ individuellen Persönlichkeit steht angesichts von demenziellen Erkrankungen in Frage. Das traditionsmächtige Menschenbild eines Dualismus von Körper und Geist konnte sich bestätigt finden angesichts von geistigen Kräften bei körperlichem Verfall alter Menschen, was durchaus nicht selten zu beobachten ist. Der körperliche Verfall konnte durch die geistige Identität (Erhalt der Persönlichkeit) ausgeglichen werden. Das mochte 37 | Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 111. 38 | Ebd., S. 112.

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auch eine Trostfunktion haben: Dem jugendlichen Körper als Idealbild und Norm (die Helden, die schönen Frauen) konnte der reife Geist des Alters als Gegenbild dienen. Mehr noch: Da in langer christlich-platonischer Tradition Seele oder Geist den wesentlichen ›ewigen Wert‹ des Menschen ausmachen, müssen sie unabhängig vom materiellen Verfallskörper gedacht werden. Die Alzheimer-Krankheit und verschiedene Formen der Demenz irritieren in besonderem Maße diesen abendländischen Geist-Körper-Dualismus. Wird der Geist ausgelöscht, was bleibt dann vom Menschen zu Lebzeiten. Wird er nicht zu einem Zombie? Als eine Art Zombie-Dasein schildert Franzen die Befindlichkeit des mit mehreren Krankheiten geschlagenen Alfred. Der ironische Ton resultiert aus der Transformation des medizintechnischen in einen verkehrstechnischen Diskurs: Am Morgen beschleunigten sich alle Prozesse und katapultierten Alfreds Medikamente an ihre Bestimmungsorte: das kanariengelbe spindelförmige Ding gegen Inkontinenz, die kleine runde rosafarbene Kugel gegen das Zittern, das weiße Oval gegen Übelkeit, die blassblaue Tablette zur Bekämpfung der Halluzinationen, die von der kleinen runden rosafarbenen Kugel kamen. Am Morgen herrschte in seinem Blut dichter Pendlerverkehr, Glukoseboten, Lakto- und Urinhygienespezialisten, Hämoglobinspediteure, die in ihren zerdellten Lieferwagen Mengen frisch aufbereiteten Sauerstoffs transportierten, unerbittliche Vorarbeiter wie das Insulin, das enzymische mittlere Management und die leitenden Epinephrine, Leukozytenpolizisten und Notfallwagenteams, teure Berater, die in ihren rosafarbenen und weißen und kanariengelben Limousinen herbeigefahren kamen, den Aorta-Fahrstuhl nahmen und über die Arterien ausschwärmten. Vor zwölf Uhr am Mittag war die Quote der Arbeitsunfälle gering. Die Welt war neugeboren. (K 458)

Aber auch das Umgekehrte gilt: Ein Gefühl, eine Angst, ein Schuldkomplex als Bestandteil einer Persönlichkeit vermag sich neurophysiologisch zu verfestigen. Vom Sohn Chip des dementen Vaters Alfred schreibt Franzen: »Er hatte unter diesen Schulden gelitten, bis sie den Charakter eines Neuroblastoms angenommen hatten, das so mit seiner Gehirnarchitektur verwachsen war, dass er bezweifelte, die Operation, bei der es herausgeschnitten würde, zu überleben.« (K 757) Auch das ist ironisch gesagt, verweist aber ernsthaft auf die wechselseitige Abhängigkeit von Körper und Geist. Damit steckt man aber inmitten der Debatten über den Naturalismus oder Materialismus des Menschenbildes, auf die ich noch einmal zurückkomme. Nun besteht im Abendland eine lange gegenläufige Geschichte zum GeistKörper-Dualismus. Die kann hier nicht nacherzählt werden. Ich möchte nur auf den Mediziner und ›Idealisten‹ Schiller hinweisen, der in seiner dritten Version einer medizinischen Dissertation, die im Jahr 1780 im Druck erschien, den Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen vorlegte. Diese Schrift unter dem Einfluss des schottischen Philosophen Adam Ferguson und dessen Übersetzer, des deutschen Philosophen Christian Garve, versucht, die funktionale (!) Einheit von Körper und Seele zu erweisen. Dabei

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betont Schiller sogleich die »Eingeschränktheit der menschlichen Seele«: die »Tätigkeit der menschlichen Seele ist […] an die Tätigkeit der Materie gebunden«.39 Schon mehrere Philosophen haben behauptet, daß der Körper gleichsam der Kerker des Geistes sei, daß er solchen allzusehr an das Irdische hefte und seinen sogenannten Flug zur Vollkommenheit hemme. Wiederum ist von manchem Philosophen mehr oder weniger bestimmt die Meinung gehegt worden, […] daß sich alle Vollkommenheit des Menschen in der Verbesserung seines Körpers versammle. 40

Das Letztere beschreibt sehr gut die heutige Realität massenmedialer Meinungsbildung. Gegen diese einseitigen Auffassungen beruft sich Schiller auf das, was wir von der Evolution des einzelnen Menschen und des gesamten Geschlechts historisch wissen und philosophisch erklären können. Der ›Idealist‹ entpuppt sich einmal mehr als Realist: »Hunger und Durst zu löschen, wird der Mensch Taten tun, worüber die Menschlichkeit schauert, er wird wider Willen Verräter und Mörder, er wird Kannibal […].«41 Aus dieser realistischen Einschätzung ergibt sich ein gewisser evolutionärer Vorrang der tierischen Natur über die geistige. In einem Brief an Körner vom 7. Mai 1785 spricht er sogar von der »traurigen Diktatur« 42 des Körpers über die Seele. Insgesamt aber herrsche, so Schiller, eine Wechselwirkung: die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes; d.h. jede Überspannung von Geistestätigkeit hat jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge, so wie das Gleichgewicht der erstern oder die harmonische Tätigkeit der Geisteskräfte mit der vollkommensten Übereinstimmung der letztern vergesellschaftet ist. 43

Der Ausdruck »vergesellschaftet« erscheint überaus treffend, weist er doch darauf hin, dass Körper und Geist eine Gemeinschaft bilden, miteinander kommunizieren – wie ja auch der ›ganze‹ Mensch wiederum mit der Umwelt vergesellschaftet ist. So wie Physis und Geist im Menschen ›gesellschaftlich‹ interagieren, so im ›Gesellschaftsleib‹ selbst. Die neuere Hirnforschung spricht vom ›Geist‹ als »der 39 | Friedrich Schiller: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, München 41967, S. 287-324, hier S. 291. 40 | Ebd., S. 290. 41 | Ebd., S. 296f. 42 | Friedrich Schiller: Brief an Körner, 7. Mai 1785, in: ders.: Schillers Briefe, Bd. 1, hg. v. Fritz Jonas, Stuttgart o. J., S. 247. 43 | Schiller: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, S. 306.

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selbstreferenziell-sprachlichen Eigendynamik soziokultureller Phänomene«. 44 Sie ist damit gar nicht weit vom idealistischen Begriff des Geistes wie bei Schiller oder Hegel entfernt. Im Fall bestimmter Überspannungen in der Gesellschaft – der Ausdruck einer ›kranken Kultur‹ mag dafür stehen – betrete ich das freilich hochspekulative Gebiet der Epochenkrankheiten, das die Krankheiten des Leibes und der Gesellschaft, wie Thomas Mann in Der Zauberberg, analogisiert. Beispielsweise gilt die Neurasthenie als sinnbildliches Symptom für (eigentlich gegen) die ›nervösen‹ Großstädte Paris, Wien, Berlin um 1900, oder die Demenzkrankheiten stehen für und damit gegen den Informations-Tsunami von Massenmedien und Internet und den Boom von Gedächtniskulten in der Gegenwart.45 Versuche, einen ursächlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen den ›geistigen‹ Pathologien einer Gesellschaft und dem gehäuften Auftreten einer bestimmten Krankheit in einer Epoche herzustellen, sind schon deshalb unstatthaft, weil eine epochale Großbefindlichkeit empirisch schwer zu verifizieren sein dürfte, ganz abgesehen von der Frage: Wer diagnostiziert die Pathologien einer Gesellschaft? Die Approbation dafür könnte nur den Dichtern und unter besonderen Auflagen intellektuellen Kulturkritikern erteilt werden. Warum kann es eigentlich nur den Dichtern gestattet sein, derartige Spekulationen anzustellen? Weil Gleichnisse und Analogien, auf denen ja solche Zuschreibungen beruhen, nicht nur das Salz und die Würze der Poesie sind, sondern auch Sinnzusammenhänge herstellen, wo ursächliche Zusammenhänge nicht bestehen oder nur gemutmaßt werden können. Gleichzeitig ist, mit Susan Sontag und ihrem Essay Krankheit als Metapher46, vor einer unstatthaften Übertragung von (Schuld-)Metaphern auf Krankheitsbilder zu warnen. Konnte für Thomas Mann die Schwindsucht (Tuberkulose) ein Sinnbild für den Zustand des Vorkriegseuropa sein, genauer der Zustand einer leicht erhöhten Körpertemperatur, um die im Zauberberg ein regelrechter Kult vom Erwerb eines Thermometers bis zum ständigen Messen getrieben wird, um so an den Messwerten geistig-seelische Befindlichkeiten abzulesen, ein Zustand, der analogisiert wird mit dem Fieber der Völker Europas, bis die Krankheit, der Krieg, vollends ausbricht – so wird in jüngster Zeit die Krankheit Alzheimer und das Vergessen als Sinnbild unserer Gesellschaft gedeutet. So heißt es in dem schönen Buch von Arno Geiger Der alte König in seinem Exil:

44 | Hans-Peter Krüger: Das Hirn im Kontext exzentrischer Positionierungen. Zur philosophischen Herausforderung der neurobiologischen Hirnforschung, in: ders.: Hirn als Subjekt? Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie, Berlin 2007, S. 61-98, hier S. 79. 45 | Vgl. Frank Dengler, Christian Kohlroß (Hg.): Epochen/Krankheiten: Konstellationen von Literatur und Pathologie, St. Ingbert 2006. 46 | Susan Sontag: Krankheit als Metapher, übers. v. Karin Kersten, Caroline Neubaur, München, Wien 1978 [Illness as Metaphor, New York 1977].

Altersdemenz als kulturelle Herausforderung Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben meines Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand. Angesichts dieser mir während der Jahre heraufdämmernden Erkenntnis lag es nahe, dass ich mich mit dem Vater mehr und mehr solidarisch fühlte. 47

In Bezug auf letzte Fragen muss es bei Analogie und Gleichnis sein Bewenden haben. Thomas Mann entfaltet im Zauberberg einen langen, auch medizinisch gestützten Diskurs über die Natur des Menschen und die dreimal wiederholte Frage: Was ist das Leben? Die Natur des Menschen wird im Zauberberg auch Gegenstand des kulturellen Diskurses der Medizin in literarischer Umkleidung, genauer der Anatomie und Physiologie, und die Durchleuchtung und Abbildung mittels des Röntgenapparates führen genau zu jener ›Entzauberung der Welt‹, die seit Max Weber ein Schlagwort geworden ist. Es gehört zu den nicht geringen Leistungen der Dichtkunst, dass sie diese Entzauberung mit zauberhaften ›schönen‹ Worten zu gestalten vermag, etwa wie in der Schilderung des ›Durchleuchtungsleibes‹ im Röntgenapparat. Und was ist mit dem Geist? Thomas Mann erweist sich wie sein geistiger Bruder Robert Musil (nicht sein ›leiblicher‹ Bruder Heinrich, der Settembrini einige Züge geliehen haben dürfte) als Schüler von Friedrich Nietzsche und Ernst Mach: Bewußtsein seiner selbst war also schlechthin eine Funktion der zum Leben geordneten Materie, und bei höherer Verstärkung wandte die Funktion sich gegen ihren eigenen Träger, ward zum Trachten nach Ergründung und Erklärung des Phänomens, das sie zeitigte, einem hoffnungsvoll-hoffnungslosen Trachten des Lebens nach Selbsterkenntnis, einem Sich-insich-Wühlen der Natur, vergeblich am Ende, da Natur in Erkenntnis nicht aufgehen, Leben im Letzten sich nicht belauschen kann. 48

Der Geist, so könnte man zusammenfassen, ist der letztlich vergebliche Versuch der Natur, sich selbst zu ergründen; denn – wie auch die jüngste Forschung zu bedenken gibt – das Gehirn wurde »von der Evolution nicht in erster Linie zu einem kognitiven System ausgebildet«, das die Welt objektiv und vollständig erfassen und zudem sich selbst begreifen soll.49

47 | Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil, München 2011, S. 58. 48 | Mann: Der Zauberberg, S. 382f. 49 | Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung, S. 39.

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»Was war also das Leben?«50 Thomas Mann wiederholt diese Frage dreimal und zwischendurch beschäftigt er sich ausführlich mit Zellbiologie, Embryologie und Pathologie, vor allem mit dem Lehrbuch der Physiologie von Ludimer Hermann in der 14. Auflage von 1910 und mit Oscar Hertwigs Allgemeiner Biologie von 1920 in der 5. Auflage. Man könnte von Plagiaten sprechen, Thomas Mann spricht von »höherem Abschreiben«51 – in einem Brief an Adorno vom 30. Dezember 1945 im Zusammenhang mit dem Abschreiben aus dessen Musikphilosophie im Doktor Faustus. Er kommt zu der nicht abgeschriebenen Schlussfolgerung, auf die Frage, was das Leben ist: »Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem, ein Phänomen, getragen von Materie, gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme.«52 Bei diesem Gleichnis, »gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme«, muss es sein Bewenden haben. Ein Mehr an Erkenntnis ist der Dichtung nicht möglich. Aber auch den anderen Diskursen ist ein Mehr an Erkenntnis nicht möglich. Das behaupte ich kühn mit etlichen Naturwissenschaftlern wie Manfred Eigen, Hans Peter Dürr53 und anderen. Es bleibt dabei: »Was war das Leben? Niemand wusste es.«54 Thomas Mann notiert einmal: »Ein großer Neurologe hat eines Tages das Gewissen als ›soziale Angst‹ bestimmt. Das ist, mit allem Respekt, eine unangenehm ›moderne‹ Bestimmung, – ein typisches Beispiel dafür, wie man heute alle Sittlichkeit und Religiosität im Sozialen aufgehen lässt.«55 Man kann heute weitergehend, mit Blick auf die ›unangenehm modernen Bestimmungen‹ der Gehirnforscher, formulieren, dass auch das Soziale letztlich eine Funktion von neuronalen Prozessen ist, so dass alle Sittlichkeit, aller Geist und alle Kultur in elektrochemischen Prozessen aufgehen. Zwar sind die Forscher noch nicht soweit, das im Einzelnen nachweisen zu können. Noch kann man die neuronalen Zustände in meinem Gehirn nicht beobachten, die beispielsweise meinem Wunsch, eine Tasse Tee zu trinken, isomorph wären. Aber das Erkenntnisziel ist in dieser Weise abgesteckt. Unangenehm modern. Warum unangenehm? Wird

50 | Mann: Der Zauberberg, S. 330. 51 | Thomas Mann: Brief an Adorno, 30. Dezember 1945, in: ders.: Briefe, Bd. 2, hg. v. Erika Mann, Frankfurt a. M. 1979, S. 470. 52 | Mann: Der Zauberberg, S. 384f. 53 | Vgl. Hans Peter Dürr: Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen. Die neue Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaft, Freiburg i.Br. 2004. Dürr argumentiert gegen einen Wirklichkeitsbegriff, der diese als dinghafte Realität vorstellt. Es geht vielmehr ›immateriell‹ um Beziehungsstrukturen und Potenzialitäten. Inwiefern seine Vorstellung der Quantenphysik mit literarisch-philosophischen Weltbildern zusammenpasst, wäre zu untersuchen. 54 | Mann: Der Zauberberg, S. 331. 55 | Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M. 1983, S. 573.

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unser menschliches Selbstverständnis einmal mehr enttäuscht? Steht das »ethische Selbstverständnis der Gattung« in Frage?56 Bevor ich auf politische Probleme eines ethischen Selbstverständnisses der Gattung eingehe, die Fragen nach Schuld und Verantwortung für unser Handeln aufwerfen angesichts des unleugbaren Zusammenhangs von Hirnschäden, Medikamenten- und Drogenkonsum und geistig-seelischer Persönlichkeit, die eine wie immer formulierte Unabhängigkeit des Geistes von der Natur obsolet erscheinen lassen, möchte ich im Anschluss an die neuere Naturalismus-Debatte die dringend notwendige Neujustierung der Begriffe Freiheit, Natur, Gesellschaft, Persönlichkeit wenigstens kurz skizzieren. Ohne eine Neujustierung im Rahmen von Theorie lässt sich meines Erachtens nicht gesellschaftspolitisch gehaltvoll über die Probleme von Demenz diskutieren. Freud und Musil stellten fest: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, die neuere Hirnforschung spricht vom »Thronsturz des Großhirns« 57. In welcher Weise betrifft es unser Selbstverständnis, wenn wir akzeptieren: Alle psychischen (seelischen) Vorgänge beruhen auf biologischen, physikalisch-chemischen Abläufen, die den allgemeinen Naturgesetzen folgen? Betrifft es unser Selbstverständnis, dass es keine Sondersphäre des Geistes gibt, in der andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als in der Natur, einschließlich stochastischer Wahrscheinlichkeiten und quantenmechanischer Unbestimmtheiten? Wenn Bewusstsein und bewusstes Entscheiden nur einen kleinen Ausschnitt in einer komplexen Systemdynamik des Gehirns bilden neben einer Palette von unbewussten Einflussfaktoren wie emotionalen Gestimmtheiten, Wahrnehmungen, Erinnerungen u.a., heißt das nicht, dass Bewusstsein überhaupt keine Rolle spielt oder nur als eine Art Begleitmusik. Die Interdependenzen zwischen Körperchemie und Geist sind offenkundig. Lassen sich geistige Funktionen überhaupt sinnvoll in ihren Eigenwerten betrachten? Unter Eigenwerten von geistigen Funktionen verstehe ich die rational begründete Zuständigkeit, also die sinnvolle Verwendung von Begriffen wie Ich und Person, oder gar ein mit freiem Willen begabtes Individuum. Ob wir den Cartesianismus der Zwei-Welten-Lehre der res extensa und res cogitans ablehnen oder nicht, wir bezeichnen mentale Vorgänge in einem anderen Vokabular als physische. Ich verwende sinnvoll das Wörtchen ›Ich‹, auch wenn es ›das Ich‹ im Sinn einer substanzhaften, unwandelbaren Wirklichkeit nicht gibt. Es gehört zu den Symbolen der Lebenswelt, mit denen wir unsere Erfahrung beschreiben.

56 | Vgl. zum ethischen Selbstverständnis der Gattung Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zur liberalen Eugenik? Frankfurt a.M. 2001, S. 73-77. 57 | Zitiert nach Yvonne Thorbauer: Ethische Implikationen der Hirnforschung, in: Gerhard Roth, Klaus-Jürgen Grün (Hg.): Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie, Göttingen 2006, S. 67-81, hier S. 7.

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»Symbole der Lebenswelt sind keine Hirngespinste.« 58 Das sagt ein bekannter Neurowissenschaftler. Aber was ist dann der Geist (Selbstbewusstsein, Denken, Empfinden Wollen, Wünschen usw.)? Auf eine bis heute nicht geklärte Weise entsteht aus elektrochemischen Erregungsmustern eine bewusste Erfahrung, auch die einer Einheit des Bewusstseins, vermittelt über eine »Ebene« oder »Dimension« der Symbolwelten, die auch Sprachwelten sein können. Die Symbolkompetenz befähigt den Menschen, die Schatten der Wirklichkeit, wie sie sich in seinem Gehirn darstellen, also die neuronale Repräsentation seiner Lebenswelt, in Symbolen dieser Lebenswelt, sich selbst in der Reflexion und andere in der Kommunikation vorzustellen. Diese reflexive Schleife mittels der Symbole der Wirklichkeit konstituiert Bewusstsein von uns selbst und von anderen. 59

Welches Modell von Psyche und Physis auch immer in Anschlag gebracht wird: Kein Zweifel kann daran bestehen, dass es ein bewusst intentionales Handeln bei vollständiger Durchsichtigkeit der Gründe und Motive (von kausalen Determinanten zu schweigen) nicht gibt. Das tangiert den Freiheitsbegriff. Der Hirnforscher Wolf Singer schlägt vor, statt des weltanschaulich belasteten Begriffs der Freiheit von Mündigkeit zu sprechen als einer Art von gradueller Freiheit oder besser: verminderter Bestimmtheit durch nicht durchschaute Ursachen und Motive. Je mündiger eine Person ist, umso mehr ist sie in der Lage, sich Argumente bewusst zu machen und diese nach sprachlogischen Regeln, welche die jeweilige Gesellschaft vorgibt, abzuwägen und dabei jenes Wissen heranzuziehen, das im deklarativen Gedächtnis gespeichert ist. Dabei handelt es sich ganz vorwiegend um explizites, sprachlich fassbares Kulturwissen. Mündigkeit also, verstanden im Sinn von Sagbarkeit.60

Eine solche Mündigkeit ist stark von individuellen Fähigkeiten und der Bildung des einzelnen Menschen abhängig. Ganz ähnlich argumentiert auch Jürgen Habermas. Autonomie und freier Wille fallen nicht vom Himmel und sind in Habermas’ säkularisierter Fassung als intelligible Eigenschaften nicht einfach vorhanden, sondern sind zu erarbeitende und zu erkämpfende »prekäre Errungenschaften endlicher Existenzen, die nur eingedenk ihrer physischen Versehr58 | Otto Detlev Creutzfeldt: Modelle des Gehirns – Modelle des Geistes, in: Friedrich Cramer (Hg.): Erkennen als geistiger und molekularer Prozeß, Weinheim 1991, S. 89-120, hier S. 115. 59 | Ebd., S. 114. 60 | Julian Nida-Rümelin, Wolf Singer: Erregungsmuster und gute Gründe, in: Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hg.): Zukunft Gehirn. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen, München 2011, S. 253-277, hier S. 269.

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barkeit und sozialen Angewiesenheit überhaupt so etwas wie ›Stärke‹ erlangen können«.61 Menschenwürde und Moral sind gerade die Antwort auf Abhängigkeiten und Schutzbedürftigkeit besonders in schwachen Phasen des Lebens (Kindheit, Krankheit, Alter), aber auch gegenüber den Hilfsbedürftigen generell. Menschenwürde ist eine Unantastbarkeit, die auf gegenseitiger Anerkennung moralisch verpflichteter Wesen in sozialen Verbänden beruht. Dazu gehört es auch, Verantwortung für den anderen zu übernehmen, wenn dieser zur Übernahme eigener Verantwortung nicht mehr in der Lage ist, wie das bei Dementen und kleinen Kindern der Fall ist. Bei Kindern ist das selbstverständlich. Schwerer fällt es schon, für Eltern und Großeltern Entscheidungen zu treffen, wenn diese nicht mehr dazu in der Lage sind. Mütter oder Väter in Heime zu stecken, bereitet fürsorgenden Kindern oftmals große Gewissensqualen, zumal wenn jene bei klarem Verstand geäußert haben, sie wollten dort niemals untergebracht werden. Oft geht es nicht anders und manchmal ist es sogar besser für sie, was sie selbst und auch die Angehörigen vorher nicht wissen konnten.

Z UR POLITISCHEN K ULTUR DER G EGENWART : D EMENZ UND DER NOT WENDIGE W ANDEL KULTURELLER W ERTE Prägnant benennt Jürgen Habermas die geistige Situation der Zeit: »die Ausbreitung naturalistischer Weltbilder und der wachsende politische Einfluss religiöser Orthodoxien«.62 Weltanschauliche Glaubenssysteme polarisieren und gefährden durch einen exklusiven Geltungsanspruch die politische Kultur und möglicherweise auch die Rechtskultur einer im Kern säkularen, liberal-demokratischen Gesellschaft. Das betrifft insbesondere die Grenzbereiche des menschlichen Lebens, die elementar auf Rechtsschutz angewiesen sind: das werdende und das sterbende Leben – Embryonen, Komapatienten, demente und hochaltrige Menschen. Die politische Kultur eines Landes bemisst sich nach der Geltung und Durchsetzung von Rechtsnormen. Das Rechtssystem entlastet in einer heterogenen Gesellschaft vom unauflöslichen Dissenz zwischen säkularen und religiösen Bürgern, denn sie müssen sich nicht über Weltanschauungsfragen aufeinander beziehen. Weltanschauliche Gegensätze in einer heterogenen Gesellschaft lassen sich nicht einfach Auf klärung und Gegenauf klärung, Glauben und Wissen, Wahrheit und Irrtum zurechnen. Auch Wissenschaft wird zur Ideologie und Glaubenssache, wenn sie nach naturwissenschaftlichen Methoden erzeugte Partikularerkenntnisse der Biogenetik oder der Hirnforschung zum Weltbild eines szientistischen Naturalismus erhebt, der alle Aussagen entwertet, die sich nicht auf experimentelle Beobachtungen und kausal-deterministische Erklärungen zu61 | Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 63f. 62 | Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2005, S. 7.

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rückführen lassen. Weniges widerspricht aufgeklärtem Denken krasser als mit neurologischen Erkenntnissen religiöse Glaubenswahrheiten in Frage zu stellen, oder aus dem Geist ein Gespenst zu machen, und das heißt: zu leugnen, dass es Leistungen und Funktionen von Bewusstsein und Geist (Sprache!) gibt, die, wie immer mit der neurophysiologischen Datenverarbeitung zusammenhängend, eine eigenständige kulturelle Sphäre konstituieren; die eigenständige autopoietische Systeme, um mit Luhmann zu sprechen, bilden, die nicht auf die Funktionen von ›Materie‹ reduzierbar sind. Aber auch religiöse Weltbilder machen es sich zu einfach, wenn sie eine Sphäre des (Offenbarungs-)Glaubens für sich reklamieren und daraus Macht und Herrschaftsansprüche ableiten. Mit Ausnahme des Rechtsgutes der Menschenwürde endet jeglicher Glaubensanspruch dort, wo jemand anderer Meinung ist. Ein aufgeklärtes Denken nimmt die Vielfalt menschheitlicher Diskurse auf, beurteilt sie und prüft neue Mischungen. Jean Paul hat das in seiner Vorschule der Ästhetik viel schöner gesagt: Nur das einseitige Talent gibt wie eine Klaviersaite unter dem Hammerschlage einen Ton; aber das Genie gleicht einer Windharfen-Saite; eine und dieselbe spielet sich selber zu mannigfachem Tönen vor dem mannigfachen Anwehen. Im Genius stehen alle Kräfte auf einmal in Blüte; und die Phantasie ist darin nicht die Blume, sondern die Blumengöttin, welche die zusammenstäubenden Blumenkelche für neue Mischungen ordnet, gleichsam die Kraft voll Kräfte. 63

Ich nenne einen vernünftigen Wahrheitsdiskurs im Anschluss an Habermas einen Diskurs, der nicht beansprucht eine Lebensform im Ganzen zu repräsentieren (also zu einem geschlossenen Weltbild sich nicht rundet), der metaphysische und religiöse Sätze gleichwohl zu seiner Genealogie (zur ›Geschichte des Geistes‹, hegelisch gesprochen) rechnet und – um es hier vorerst negativ zu formulieren – sich weder szientistisch noch religiös-metaphysisch bestimmen lässt. Einerseits besteht er auf einer strikten Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen; andererseits wendet er sich »gegen den Ausschluss der religiösen Lehren aus der Genealogie der Vernunft«.64 Obgleich von einem materiell-organischen Substrat abhängig, thematisiert dieser Diskurs Sinnfragen, zum Beispiel nach der Geltung von Werten oder nach der Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens. An den Grenzen und Bruchlinien einer liberal-demokratischen Gesellschaft sind auch Rechtsfragen strittig und zu diskutieren. Über Beginn und Ende des Lebens streiten Wissenschaft und Religion. Religiöse Dogmen haben sich der Arbeit der Vernunft und das heißt einer hermeneutischen Selbstreflexion zu stellen, wie umgekehrt ihnen ein vernünftiger Gehalt nicht von vornherein 63 | Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 9, hg. v. Norbert Miller, München 1975, S. 7-456, hier S. 56. 64 | Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 147.

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abgesprochen werden kann. Habermas konzediert den großen Weltreligionen »vernünftige Intuitionen und lehrreiche Momente unabgegoltener, aber legitimer Forderungen«.65 Das gilt ebenso für große Philosophen wie Theodor Adorno mit seinem sensiblen Sinn für das Unabgegoltene und das Nichtidentische. Gleichzeitig müssen wir uns, ob Gläubige oder Skeptiker, damit abfinden, dass eine naturwissenschaftlich-technische und ökonomische Praxis uns überrollt, die sich einem öffentlichen Diskurs von mündigen Bürgern, die rational Argumente austauschen und einen politischen Willen artikulieren, weitgehend entzieht. Zudem ist zu berücksichtigten, dass wissenschaftliche Stellungnahmen nicht frei sind von ökonomischen Interessen. Ein hochbedeutsames Beispiel für die Aneignung und Integration religiöser Gehalte in einen Diskurs der nachmetaphysischen Vernunft bietet der Begriff der Menschenwürde. »Die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen ist eine solche rettende Übersetzung.« 66 Die Menschenwürde ist ein kulturelles Gut und ein Rechtsgut, das bei aller Achtung oder Toleranz für Andersgläubigkeit und Differenz nicht diskutierbar ist. »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Diese Fundamentalnorm nicht nur des Grundgesetzes der BRD bildet auch die Grundnorm der Charta der Vereinten Nationen von 1946 sowie zahlreicher internationaler Vereinbarungen, z.B. der UN über die Rechte des Kindes, auch zahlreicher Verfassungen vor allem europäischer Länder. Menschenwürde ist kein leerer und formaler Begriff, der mit beliebigen Inhalten irgendwelcher Traditionen, auf die sich ethnische, religiöse oder nationale Gemeinschaften berufen, gefüllt werden könnte. »Die kulturellen Berechtigungen und Ermächtigungen finden ihre Grenze an den normativen Grundlagen der Verfassung, aus der sie sich rechtfertigen.« 67 Gleichwohl sind damit nicht alle gesellschaftspolitischen Probleme gelöst. Es soll hier nicht darüber debattiert werden, wie dieser Begriff näher begründet werden kann. Es reicht, dass mit ihm der Mensch und nicht Gott als oberster Wertbegriff gesetzt ist. Theologen mögen ihn dann wie immer religiös begründen.68 65 | Ebd., S. 12. 66 | Ebd., S. 115f. 67 | Ebd., S. 278. 68 | In gewisser Weise ersetzt er den ›god-term‹. Das wird besonders im deutschen Grundgesetz augenfällig, da sich seine Gründungsväter mit der knappen Mehrheit von einer Stimme nicht auf den Hinweis auf Gott als Urgrund aller Wertbildung einigen konnten. So steht der Begriff der Menschenwürde an oberster Stelle. Er fungiert in säkularen Gesellschaften als Religionsersatz. Das wiederum macht ihn angreifbar. Ohne die Debatte um die Säkularisation aufzugreifen, aber mit ihrer Beachtung, muss die Frage aufgeworfen werden, ob es einen unbedingten obersten Wertbegriff als unabwägbare und unverfügbare

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Wie auch immer: Es kommt auf die Praxis an. Das Grundgesetz der BRD beispielsweise hält sich nicht damit auf, diesen Satz zu deuten oder auch nur zu erläutern. Es geht gleich zu den Menschenrechten über. Der Artikel 1 des GG lautet: (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. 69

Praktisch entspringt aus dem Absatz 1 das Bekenntnis zu den Menschenrechten, womit gleichsam ein konkreter Boden von positiven Rechten betreten ist. Der Anspruch auf Achtung und Schutz wird in einzelne Menschenrechte aufgelöst. 70 Das Sollen, das in der Transformation des Satzes in positives Recht impliziert ist, verweist, wie schon der einflussreiche Kommentar von Günter Düring mit Bezug auf die Formel Kants ausführt, auf ein unverlierbares Sein. Dieses Sein begründet einen individuellen und staatlichen absoluten Achtungsanspruch. Der normativ-rechtliche Gehalt dieser »Seinsgegebenheit«71 besteht in der freien Selbst- und Lebensgestaltung. Das setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus: das des animal rationale; neben Natur ist Vernunft ein Faktum, eine Wesensbestimmung des Menschen. In der Empirie einzelner Menschen, wie der Gattung ›Mensch‹, gehören Vernunft und Freiheit zum – um mich hier verkürzt auszuGröße geben muss und, wenn ja, wie er begründet werden kann. Das ist deshalb bedeutsam, weil die Pflicht auch des Staates, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, sich in einer säkularen Gesellschaft nicht auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen oder das Erbe des christlichen Abendlandes berufen kann. Im Übrigen hatte das christliche Abendland die längste Zeit die Menschenwürde gar nicht auf ihrem Programm. Sie ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer zentralen Argumentationsfigur geworden. Vgl. Tatjana Hörnle: Die Menschenwürde: Gefährdet durch eine ›Dialektik der Säkularisierung‹ oder ›Religion der Moderne‹? in: Walter Schweidler (Hg.): Postsäkulare Gesellschaft: Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Freiburg 2007, S. 170-189. H. C. Nipperdey: Die Würde des Menschen, in: Gerd Brudermüller, Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde: Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 189-238; vgl. ebenso den Abschnitt: Dokumente – Internationale Abkommen, ebd., S. 149-166. 69 | http://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/ gg_01.html [Zugriff: 23.08.2013]. 70 | Vgl. Günter Düring: Der Grundrechtssatz der Menschenwürde, in: Gerd Brudermüller, Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde: Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 173-188, hier S. 175. 71 | Ebd., S. 180.

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drücken – Problembestand des Menschentums. Die Neurowissenschaften stellen ja durchaus das Menschenbild des animal rationale infrage; unbedingter der demente Mensch selbst. Damit kann und darf die Menschenwürde, genauer: dürfen die Rechtsfolgen der Menschen- und Grundrechte, aber nicht infrage stehen. Selbst wenn der Mensch alle diese Eigenschaften (Vernunft, freien Willen) nicht hat, gilt: »Wer von Menschen gezeugt wurde und wer Mensch war, nimmt an der Würde ›des Menschen‹ teil.« 72 Diese Bestimmung erzeugt natürlich wiederum eine Reihe von Problemen, die hier nicht diskutiert werden sollen. Es geht vielleicht nur darum, »ein kritisches Prinzip zu formulieren und wach zu halten, das darauf gerichtet ist, alle Formen fundamentaler Bedrohung von Humanität zu identifizieren und von daher der Kritik zu unterziehen«.73 So anspruchsvoll und komplex die Begriffsbestimmungen auch sind: Menschenwürde ist besonders für diejenigen Menschen von höchster Bedeutung, die den Achtungsanspruch selbst nicht durchsetzen können. Daher formuliert die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in ihrer Präambel: Jeder Mensch hat uneingeschränkten Anspruch auf Respektierung seiner Würde und Einzigartigkeit. Menschen, die Hilfe und Pflege benötigen, haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen und dürfen in ihrer besonderen Lebenssituation in keiner Weise benachteiligt werden. Da sie sich häufig nicht selbst vertreten können, tragen Staat und Gesellschaft eine besondere Verantwortung für den Schutz der Menschenwürde hilfe- und pflegebedürftiger Menschen.74

Um Kant die Ehre zu geben: Das Postulat sittlicher Autonomie gilt unbedingt, unabhängig von empirischen Tatsachen. Man erkennt die Vorzüge des kantischen Rigorismus: Da es in der Begriffsbestimmung nicht um den empirischen Menschen geht, sondern um das theoretisch bestimmte allgemeine Gattungswesen Mensch, kommt es auf den einzelnen Menschen gar nicht an, der möglicherweise die Fähigkeit zu sittlicher Autonomie gar nicht hat; aus welchen Gründen immer, sei es, dass ihm die vitalen Voraussetzungen dieser Fähigkeit verwehrt sind, sei es, dass es einen autonomen freien Willen gar nicht gibt. Würde kommt dem Menschen prinzipiell und unbedingt zu und damit der Anspruch, als ein sittlich handelndes Wesen betrachtet zu werden. Und gleichwohl wird die Garantie

72 | Ebd., S. 181. 73 | Gerhard Luf: Der Grund für den Schutz der Menschenwürde – konsequentialistisch oder deontologisch, in: Gerd Brudermüller, Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde: Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 43-66, hier S. 46. Zur Kritik am Begriff der Menschenwürde vgl. Franz Josef Wetz: Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation, Stuttgart 1998. 74 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Pflege-Charta. 2007 [http://www.pflege-charta.de, Zugriff: 23.08.2013].

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der Menschenwürde als Schutz jedes einzelnen Menschen begriffen und nicht als Schutz eines bestimmten Menschenbildes oder der Gattung Mensch.75 Die Garantien und Rechtsnormen sind eines, die Praxis ein anderes. So wünschenswert ein hohes Alter erscheint, so sehr wird es doch auch als Belastung für den Einzelnen, die Angehörigen, den alten Menschen selbst, wie für die Gesellschaft insgesamt empfunden. Zahlreiche Familien sind mit der Herausforderung der Pflege und Betreuung dementer Angehöriger konfrontiert, überfordert und extrem belastet. Der Vierte Altenbericht stellt unmissverständlich klar: Die Kommission ist der Überzeugung, dass Menschen in allen Lebensabschnitten, also auch im hohen Lebensalter als handelnde Personen anzusehen sind, die selbstständiges und selbstbestimmtes Leben anstreben. Diese grundsätzliche Überzeugung gilt auch für demenziell erkrankte ältere Menschen, wobei hier die Unterstützung und Begleitung in Abhängigkeit von den Kompetenzen der betroffenen Personen gestaltet werden muss. 76

Was aber folgt praktisch aus der Tatsache, dass beim alten und/oder dementen Menschen der integrierte Basiswert der Menschenwürde, die Mündigkeit/Autonomie eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden, sozusagen ein Pfeiler Persönlichkeit herausgebrochen ist? Als erstes die Forderung, die Möglichkeiten zur autonomen Lebensgestaltung, so lange es geht, aufrecht zu erhalten. Sodann der ›emotionalen Intelligenz‹ verstärkt Beachtung zu schenken. Zahlreiche empirische Befunde zeigen, dass auch bei höchsten körperlichen und kognitiven Einbußen ein »differenzierter emotionaler Ausdruck zu beobachten« ist.77 Welchen Stellenwert der Emotionalität eingeräumt wird, das wiederum hängt mit dem Menschenbild einer Gesellschaft zusammen. Es fehlt in der westlichen Zivilisation schlicht die Tradition, in philosophisch-wissenschaftlichen Diskursen der Emotionalität einen hohen Rang der Wertschätzung und der Beachtung einzuräumen – vor allem dem emotionalen In-Beziehung-Sein. Der Verlust geistiger Kompetenzen und die Möglichkeiten, ›anders‹ zu kommunizieren wird besonders eindringlich und tröstlich-schmerzlich geschildert in der Elegie für Iris, dem ›Trauergesang‹ von John Bayley, dem Ehemann der Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch, der in Form einer Autobiographie die Biographie seiner an Alzheimer erkrankten Frau erzählt. Die narratologische 75 | Mit Verweis auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts Matthias Herdegen: Deutungen der Menschenwürde im Staatsrecht, in: Gerd Brudermüller, Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde: Begründung, Konturen, Geschichte, S. 57-66, hier S. 63. 76 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 51. 77 | Andreas Kruse: Der Respekt vor der Würde des Menschen am Ende des Lebens, in: Thomas Fuchs u.a. (Hg.): Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg 2010, S. 27-55, hier S. 27.

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Form soll uns hier weniger interessieren. Das Leben der beiden war und bleibt geprägt von einer liebevollen und vor der Krankheit ›hochgeistigen‹ Form der Kommunikation zweier Intellektueller. Bayley beschreibt, wie sich die Formen ihrer Kommunikationen verändern und vergleicht sie mit der zwischen einem Forscher und einem Wilden: Humor scheint alles zu überleben. Ein Lachen, ein paar Knittelverse, die Bruchstücke eines Liedes, neckender Unsinn, dessen liebevoller Austausch früher ein Ritual war, rufen eine unvermutet positive Reaktion und ein plötzliches, strahlendes Lächeln hervor. So muß es sich in der Vergangenheit zwischen Forschern und Wilden abgespielt haben, als eine komische Pantomime der ersteren bei letzteren oft augenblickliches Verstehen und große Erheiterung hervorgerufen zu haben scheint.78

Die Fähigkeit, derart miteinander umzugehen, beruht auf der Geringschätzung von Identität.79 Die beiden ›twittern‹80 emotional mit einer fast idealen kindlichen Offenheit, einer Art Naivität höherer Ordnung, die in der Erzählung Bayleys allerdings narratologisch eingefangen wird, indem er die Lebensgeschichte seiner Frau und sein Erleben mit ihr in die Identitätsmuster einer Auto(r)-Biographie der Außensicht einer ersten und dritten Person einfügt, sodass das Du nicht selbst zur Sprache kommt.81 Eine Korrektur am identitätsfixierten Menschenbild kann sich an beispielhaften literarischen Werken orientieren, aber auch an Denkern wie Adorno, der in seiner Negativen Dialektik aufzeigt, was am Identitätskonzept falsch ist und inwieweit Spielräume des Nichtidentischen zu eröffnen sind.82 Die personale Identität ist ein kulturelles Konstrukt, das den erwachsenen Menschen definiert und einen normativen Anspruch formuliert, der im Angesicht der Demenz zu Irritationen und Ablehnung führt. Wenn die Tochter eines dementen Vaters sagt: »Er macht, was er will …«83, so ist das als Vorwurf gemeint. Was bei Kindern entzückt, die spontane Unberechenbarkeit von Handlungen, wird schon den Aufwachsenden ausgetrieben und bei Älteren und Alten erscheinen »Augenblicke von Spontaneität«84 als Laster, jedenfalls als Last. Nun können »Augenblicke von Spontaneität«

78 | John Bayley: Elegie für Iris, übers. v. Barbara Rojahn-Deyk, München 2000, S. 53. 79 | »Iris once told me that the question of identity always puzzled her.« John Bayley: The Iris Trilogy (2003), zit. nach Hartung: Small World, S. 173. 80 | »[…] Iris sometimes twitters away […]«, zit. nach ebd., S. 173. 81 | nach Hartung: Small World, S. 172-176. 82 | In diesem Sinn vgl. für den amerikanisch-feministischen Sektor Maierhofer: Generations Connecting: Alzheimer’s Disease and Changes of Cultural Values. 83 | Margit Schreiner: Nackte Väter, München 2005, S.78. 84 | Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, S. 216.

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durchaus als Ausdruck von Freiheit gewertet werden, »verstellt unter gegenwärtigen Bedingungen«.85 Das dämmernde Freiheitsbewußtsein nährt sich von der Erinnerung an den archaischen, noch von keinem festen Ich gesteuerten Impuls. Je mehr das Ich diesen zügelt, desto fragwürdiger wird ihm die vorzeitliche Freiheit als chaotische. Ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die Idee von Freiheit nicht zu schöpfen, welche doch ihrerseits in der Stärkung des Ichs terminiert. In dem philosophischen Begriff, der Freiheit als Verhaltensweise am höchsten über das empirische Dasein erhebt, dem der Spontaneität, hallt das Echo dessen wider, was bis zur Vernichtung zu kontrollieren das Ich der idealistischen Philosophie für die Bewährung seiner Freiheit hält. 86

Die ichfremden Impulse, eine Spontaneität, die Kindern verziehen wird oder in ihrem Fall sogar Entzücken hervorruft, wird bei dementen Menschen, wie jegliche psychische Identitätsstörung, als ein Verstörendes betrachtet, welches den Menschen »erst recht dem Bann der Natur einverleibt«.87 Sie werden den chemischen Prozessen im Gehirn zugerechnet, die nichts mehr mit der ›eigentlichen‹ Person zu tun haben, wie es der Sohn eines demenzkranken Vaters in Annette Pehnts Haus der Schildkröten demonstriert: Ernst spürt eine verzweifelte Hitze, nein, denkt er, ruhig Blut, er kann nichts dafür, er macht das nicht extra, es sind chemische Prozesse, es ist das Gehirn, das hat nichts mit ihm zu tun […]. Du bist nicht mehr wiederzuerkennen, sagt Ernst, ich kann nicht mehr mit dir reden. 88

Ein anderer ›literarischer‹ Sohn erkennt, dass er »neue Maßstäbe« braucht: »Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.«89 Der Vater war Person, Charakter, kontrollierend-kontrolliertes Ich, gewesen. Im Unterschied aber zu Neurotikern, die die Spaltung zwischen dem Ich und den ichfremden (archaischen) Impulsen oder Trieben in sich selbst erfahren (›das bin ich doch gar nicht‹), wird den dementen Alten diese Spaltung von den außen stehenden Beobachtern zugeschrieben. Sie selbst scheinen sie in fortgeschrittenen Stadien der Demenz nicht zu bemerken (und dann möglicherweise auch nicht darunter zu leiden). Der Sohn, der seinen Vater liebt, ist auf der verzweifelten Suche nach dem Vater, der er einmal war. Daran erweist sich der Identitätszwang und -bann, der eine Handlung als identisch mit einer Person nur anerkennt, wenn unterstellt werden 85 | Ebd. 86 | Ebd., S. 219. 87 | Ebd. 88 | Annette Pehnt: Haus der Schildkröten, München 2008, S. 147. 89 | Geiger: Der alte König in seinem Exil, S.11.

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kann, dass der Handlung die bewusste Entscheidung eines ›freien‹ zurechnungsfähigen ›Subjekts‹ zu Grunde liegt. Der alte, demente Vater wird auf die res extensa eines physischen Körperteils reduziert und damit selbst zur res extensa vergegenständlicht. Der ganze Mensch, der ja noch redet und handelt, wenn auch nicht unter dem Prinzip normaler Kommunikation, der lebendige, auch noch psychisch agierende Mensch wird verleugnet. Die Einheit persönlichen Selbstbewusstseins als Idee von Freiheit ist selbst zwanghaft, weil sie Herrschaft über sich selbst bedeutet, über das ganze konkrete leiblich-geistig-seelische Dasein. Das ist nicht nur Selbsttäuschung, seit bekannt ist, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist. Die Hypostasierung des Ich als Herrschaftsinstanz und Ursache freier Handlungen begibt sich der Möglichkeit von Autonomie, die einzig »im Verhältnis zu seiner Andersheit«90 sich bewährt. Dieses autonome Subjekt weiß sich abhängig vom Anderen, das Autonomie gewährt oder verweigert. Ein solches Anderes sind auch jene Impulse, die zu scheinbar unverständlichen und irrationalen Handlungen führen – aber nur in der Perspektive eines Beobachters von außen! Impulse stammen aus einer Phase vor einer SubjektObjekt-Spaltung des Extra- und Intramentalen.91 »Der Impuls, intramental und somatisch in eins, treibt über die Bewusstseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört.«92 Ihn anzuerkennen und nicht auszumerzen, was ohnehin nur in der Theorie geht, hieße Geist und Natur versöhnen, nicht Subordination unter die Vernunft. Adorno nennt diesen Impuls »das Hinzutretende«.93 Es gilt, sich von der ›Moral‹ der Einheit der Person zu verabschieden, d.h. jemanden als Menschen auch dann anerkennen, wenn er dissoluto, aufgelöst ist. So heißt bezeichnenderweise im italienischen Titel der Don Giovanni, ein Bösewicht in den Augen der Moral und des Sittengesetzes.94 Leicht sind in den Augen der ›Normalen‹ unterschwellig die dementen Alten Bösewichter. Gegenüber dem Spontanen, Anarchischen, Aufgelösten finden sich in den Darstellungen und Beschreibungen Spuren des Ekels, des Abscheus, des Abwertenden. Der Horizont der Beurteilung wäre das Prinzip des Nichtidentischen und das Ziel die Utopie, »die angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen«.95 »Vielleicht wären freie Menschen auch vom Willen befreit«96 – jedenfalls von dem Willen, der als ›freier‹ Wille dem Identitätsund Herrschaftsprinzip dient und selbst seine ›Freiheit‹ untergräbt. Zu konzipieren wäre ein humanes Menschenbild als Nichtidentisches. »Human sind die Menschen nur dort, wo sie nicht als Person agieren und gar als solche sich setzen; das Diffuse der Natur, darin sie nicht Person sind, ähnelt der 90 | Adorno: Negative Dialektik, S. 220. 91 | Ebd., S. 225. 92 | Ebd., S. 226. 93 | Ebd., S. 226. 94 | Vgl. ebd., S. 235. 95 | Ebd., S. 259. 96 | Ebd., S. 259.

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Lineatur eines intelligiblen Wesens, jenes Selbst, das vom Ich erlöst wäre«.97 Person-Sein wäre dann nur ein Äußerliches wie ein Ausweis oder Reisepass. Das darf nicht auf Depersonalisierung hinauslaufen und abstrakte Negation der Identität. Es ist »kein Glück, als wo das selbst nicht es selbst ist«.98 Wie soll das gehen, wenn es zugleich vom Ich erlöst sein soll? Vielleicht hilft zum Verständnis ein Gleichnis, mit dem Musil in seinem großen Romanwerk Der Mann ohne Eigenschaften den »zehnten Charakter« des Menschen bezeichnet – neben den neun anderen, die seine Identität ausmachen. Dieser zehnte Charakter, die »passive Phantasie unausgefüllter Räume«, ist »eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie [die neun anderen Identitäts-Charaktere, H.G.P.] hineinsickern und aus der sie wieder austreten […].«99 Das ist vielleicht ein ›Bild‹ für ein Selbst, das vom Selbst erlöst wäre, ohne doch nicht es selbst zu sein. Soviel ›Dialektik‹ muss sein. Und soviel Moral: »versuchen, so zu leben, dass man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein«.100

A BSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Die Alzheimer-Krankheit sowie alle Formen der Demenz, die vom Laien nur schwer zu unterscheiden sind, stellen, obgleich organisch bedingt, mit ihren Symptomen der Sonderbarkeiten und Verrücktheiten eine Art von Geisteskrankheit dar, die sowohl in den konkreten Ausgestaltungen der Betroffenen als auch in den Diagnosen und den Wahrnehmungen Außenstehender immer auch kulturell gebunden ist. Diese kulturelle Komponente wurde und wird in der Diskussion um ›Wahnsinn und Gesellschaft‹ und ›Das Eigene und das Fremde‹ schon seit längerem in den Geisteswissenschaften reflektiert und erforscht. Demenzkranke und Hochalte bilden andere, heterogene Formen menschlicher Existenz und sind nicht auf vegetierende Körpermaschinen reduzierbar. Menschenbild und Welt97 | Ebd., S. 272. 98 | Ebd., S. 275. 99 | Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 34. Man muss vielleicht den ganzen Abschnitt zitieren: »Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.« 100 | Adorno: Negative Dialektik, S. 292.

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anschauungen spielen gravierend in die (Wert-)Urteilsbildung hinein. Alter und hohes Alter sind ebenso natürliche Bestandteile des menschlichen Lebenszyklus wie alle anderen Phasen auch. Hohes Alter als Massenphänomen ist das Ergebnis zivilisatorischer Bemühungen. Wir gehen davon aus, dass die Zivilgesellschaft eine solidarische Gesellschaft ist, die im Sozialstaatsprinzip auch rechtlich verankert ist. Die im Grundgesetz festgelegte Würde des Menschen ist unantastbar und gilt für alle Menschen unabhängig von ihrem Zustand. Das macht eine Ethik des solidarischen Handelns nicht überflüssig. Allgemeine und abstrakte Prinzipien helfen aber nur wenig angesichts der praktischen Herausforderungen von Demenz und hohem Alter. An dem Verhalten der Gesellschaft gegenüber den Menschen, die ökonomisch nicht mehr nützlich sind, zeigt sich der Ernstfall der Humanität: ob der Mensch »Zweck an sich selbst« sein kann. In der berühmten Formel Kants: Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.101

Ohne in eine philosophisch-ethische Diskussion einsteigen zu wollen, lässt sich sagen, dass sich die conditio humana darin erweist, ob und in welcher Weise ein Mensch anerkannt wird, wenn er für nichts und niemanden mehr von Nutzen ist, selbst keine Pflichten mehr übernehmen kann und nur noch eine Belastung für Einzelne wie für die Gesellschaft darstellt. Gerade die ›alten‹ hermeneutischen, verstehenden und deutenden ›Wissenschaften‹ können einen bedeutsamen Übersetzungs-Beitrag liefern, die Hochaltrigen in die menschliche Gemeinschaft einzubeziehen, die immer schon von der Sprache und dem Menschen als einem sprechenden Wesen bestimmt ist. Nun ist die sprachliche Kommunikation gerade bei Menschen mit der Alzheimer- und Demenz-Erkrankung in je spezifischer Weise beeinträchtigt oder gestört (neben anderen Funktionsstörungen, die aber hier nicht im Vordergrund stehen, jedoch dann, wenn sie – wie immer – sprachlich-symbolisch artikuliert werden). Es gibt keine eindeutigen, verlässliche Aussagen der Betroffenen über ihr Befinden und für die Beobachter ist es oft sehr schwer, darüber zu urteilen, wie sich die Person fühlt, oder gar darüber, ob sie aus deren Sicht ein gutes oder schlechtes Leben führt. Die Aussagen sind oftmals von einem irritierenden Sinn und bedürften der Interpretation, die dann auch fehlgehen kann. Oftmals fehlt ganz und gar der Schlüssel zum Verständnis. Die Hermeneutik bietet Schlüsseldienste an, versteht sie sich doch als die ›Kunst‹, Sinn zu finden (auch da, wo keiner ist). Vor diesem 101 | Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werke in sechs Bänden, Bd. IV, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1966, S. 59f.

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Hintergrund gilt es, ein komplexes und kontextuelles Feld zu erforschen und es stellt sich die Frage, ob daraus gewonnene Deutungen überhaupt an die betroffenen Personen herangetragen werden können oder sollen. Die Herausforderung besteht darin, diese Ausdrucksformen wie eine fremde Kultur, ein inneres Ausland, zu akzeptieren und in ihren Eigenwerten anzuerkennen. Solange diese Krankheiten nicht geheilt werden können, kann das Fremde in uns auch nicht bekämpft werden. Und dann ist zu fragen: Welche Brücken, welche Übersetzungen gibt es vom Leben des fremd gewordenen, einst vertrauten Anderen zum eigenen Selbstverständnis und zum Selbstverständnis des common sense der Gesellschaft? »There is only more translation …«102

L ITER ATUR Primärtexte Bayley, John: Elegie für Iris, übers. v. Barbara Rojahn-Deyk, München 2000. Fontane, Theodor: Der Ehebriefwechsel. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 3, hg. von Gotthard Erler, Berlin 1998. Franzen, Jonathan: Das Gehirn meines Vater, in: ders.: Anleitung zum Alleinsein. Essays, übers. v. Eike Schönfeld, Reinbek b. H. 2007, S. 13-46. Franzen, Jonathan: The Corrections, New York 2001. Franzen, Jonathan: Die Korrekturen. Roman, übers. v. Bettina Abarbanell, Reinbek b. H. 22004. Frisch, Max: Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt a.M. 1979. Geiger, Arno: Der alte König in seinem Exil, München 2011. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3, hg. von Erich Trunz, 14., durchges. Aufl., München 1989, S. 146-364. Horaz: De arte poetica liber, in: ders.: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, übers. und zusammen mit Hans Färber bearbeitet v. Wilhelm Schöne, München 1967, S. 230-259 (Teil 2). Ignatieff, Michael: Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs. Geschichte einer Familie, übers. v. Werner Schmitz, Frankfurt a.M. 1998 [Scar Tissue. A Novel, London 1993]. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M. 1983. Mann, Thomas: Der Zauberberg, Sonderausgabe o. J. (S. Fischer) 1972. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1., hg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. H. 1978. 102 | James Clifford: Routes: Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, MASS. 1997, S. 12.

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Paul, Jean: Siebenkäs, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg. v. Norbert Miller, München/Wien 1975, S. 7-576. Pehnt, Annette: Haus der Schildkröten, München 2008. Platon: Ion, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Hamburg 1957, S. 97-110. Schiller, Friedrich: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, München 41967, 287-324. Schreiner, Margit: Nackte Väter, München 2005. Shenk, David: The Forgetting. Alzheimer’s: Portrait of an Epidemic, New York 2003.

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Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwartsliteratur Michiko Mae

E INLEITUNG Japan ist heute wie Deutschland eines der Länder, in denen die Überalterung der Gesellschaft am schnellsten fortschreitet und mit der immer höheren Lebenserwartung steigt auch die Zahl pflegebedürftiger Menschen. »Wir leben in einer ›ergrauenden Welt‹«1, schreibt Ursula Lehr bereits 1972. Seit der Ersten Weltversammlung zur Frage des Alterns, die 1982 in Malta stattfand, und dem UNO-Jahr des Alters 1999 wird weltweit ein Diskurs über eine veränderte Haltung gegenüber alten Menschen und eine gesellschaftlich notwendige Aufwertung des Alters geführt. Erscheint Alter als »Reife oder Last«2, als »Erfolgs- oder Verfallsgeschichte«, als Befreiung oder Entfremdung?3 Längst sind solche Fragen auch ein wichtiger Teil der kulturwissenschaftlichen Debatten und des Gender-Diskurses geworden. Wie Gender wird auch Alter als ein kulturelles Konstrukt verstanden und man geht dabei von der unterschiedlichen kulturellen Erfahrung des Alters für Männer und Frauen aus. Jede Gesellschaft und Kultur hat eine »spezifische Semantik des Alter(n)s« und verfügt über Praktiken, Identifizierungen und Zuschreibungen, »die darüber entscheiden, ›wie man alt gemacht wird‹«.4 Dabei kann es zu einer »Perspektivierung« von Alter kommen, in der diese Lebens-

1 | Ursula Lehr: Psychologie des Alterns, 10., korr. Aufl., Wiebelsheim 2000, S. 30. 2 | Mit Bezug auf den Titel einer Gesprächsreihe des Deutschlandfunks vom Juli 2004 Heike Hartung: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld 2005, S. 7-18, hier S. 8. 3 | Vgl. ebd., S. 8. 4 | Rüdiger Kunow: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 21-43, hier S. 26.

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phase als ein Risiko und eine »unentrinnbare Gefährdung«5 erscheint. In dieser Sicht kann Alter nicht nur als eine individuelle, sondern sogar als eine »gesamtgesellschaftliche Gefährdungslage«6 wahrgenommen werden. Gerade in Japan, aber auch in Deutschland gilt die Überalterung der Gesellschaft als ein bedrohliches Zukunftsproblem, insofern man Alter »im Modus des Defizitären« 7 sieht und mit Krankheit und Krankenpflege in Verbindung bringt. Alter ist in dieser Sicht das negative Gegenbild zur Jugend: »Our cultural tradition understands age in terms of a binary system. Old age is defined in relation to young and thus essentially by what it lacks«.8 Aber diesem »Defizitparadigma« des Alters trat bereits im Jahr 1922 der Psychogerontologe Stanley Hall entgegen; er widersprach der Auffassung, »Altern sei gleichsam die Umkehrung der Jugendentwicklung« und es gebe im Alter eine »Rückentwicklung«.9 Heute steht in Japan und in den anderen westlichen Ländern dem Defizitmodell und der Angst vor der alternden Gesellschaft auch eine positive Vorstellung vom Alter gegenüber. Alter wird als eine eigenständige Lebensphase mit neuen Freiheitsspielräumen gesehen, die in freier Selbstbestimmung gestaltet werden kann: Jeder ist selbst für ein »erfolgreiches Altern« verantwortlich.10 Aber welchen Wert und welche Bedeutung hat dann ein Alter, das durch Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit geprägt ist? Und wenn man den Prozess des Alterns – wie es der konfuzianischen Denkweise entspricht, aber auch den Wachstumstheorien in der westlichen Gerontopsychologie, die eine Zunahme an Reife und Weisheit im Alter postulieren – als eine lebenslange Entwicklung und Steigerung bis zum Erreichen des hohen Alters versteht, in dem man in seinen Fähigkeiten nicht nachlässt, sondern sogar sich durch Lernen noch weiterentwickelt und einen Vorbildcharakter für die Jüngeren gewinnt, bedeutet dann der Verlust der körperlichen und geistigen Kräfte und Fähigkeiten auch den Verlust der Würde und sozialen Anerkennung, die zum Alter gehören? Diese beiden Fragen zielen auf das Problem der Pflegebedürftigkeit im Alter. Wenn es dabei um Wert und Bedeutung, Würde und soziale Anerkennung des Alters in dieser schwierigen Situation geht, wird nicht nur in Japan vorausgesetzt, dass Familienpflege die beste Form der Pflege sei; auch im subjektiven Erleben der Pflegebedürftigen selbst ist diese Haltung zu beobachten.11 Wie weit es eine 5 | Ebd., S. 29. 6 | Ebd. 7 | Ebd., S. 33. 8 | Anca Cristofovici zit.n. Kunow: »Ins Graue«, S. 33. 9 | Vgl. Lehr: Psychologie, S. 16. 10 | Vgl. dazu Michiko Mae: Zur Entstehung einer »Age-free«-Gesellschaft: Herausforderungen durch neue Altersbilder in Japan, in: Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Begriffe des Alter(n)s, Bielefeld 2014 (in Vorbereitung). 11 | Lehr weist allerdings darauf hin, dass dies keineswegs durch empirische Forschungen bestätigt werde. Vgl. Lehr: Psychologie, S. 267.

Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwar tsliteratur

innere Bereitschaft zur Übernahme der Pflege von alten Angehörigen gibt, hängt sehr stark von der bisherigen Qualität der Beziehungen zwischen den Beteiligten ab. Vertrauen und gegenseitige Anerkennung, Identifikation und emotionales Engagement sind Voraussetzungen für ein positives Erleben der Pflegesituation und für einen positiven Umgang mit ihr. Die Pflegesituation ist mit großen psychischen und auch körperlichen Belastungen verbunden – für alle Beteiligten. Findet die Pflege in der Familie statt, kann es leicht zu einer Überforderung der beteiligten Personen kommen. Aber nicht nur die Überforderung kann eine Ursache für Gewalt in Pflegebeziehungen innerhalb der Familie sein12; auch ungeklärte Probleme in der Familiengeschichte, die Unfähigkeit zur Kommunikation und vor allem die Umkehrung der Eltern-Kind-Rollen können zu schweren Konflikten in Pflegebeziehungen führen. Aggressive Gefühle können auch durch das Verhalten der pflegebedürftigen Personen selbst ausgelöst werden, wenn sie z.B. ihre Abhängigkeit von Hilfe dazu nutzen, Schuldgefühle bei der pflegenden Person hervorzurufen. Die Pflegesituation ist also nicht nur ein ambivalentes, sondern auch ein sehr komplexes Phänomen. In modernen Gesellschaften wie der heutigen japanischen ist an die Stelle der traditionellen konfuzianischen Pietätspflicht der Kinder gegenüber ihren alten Eltern die freiwillige Anerkennung einer Versorgungspflicht für die pflegebedürftigen Eltern getreten. Die meisten Menschen sehen – in Japan wie in Deutschland – die Pflegeübernahme innerhalb der Familie und zwischen Ehepartnern als selbstverständlich an. Trotz aller Probleme und Belastungen hat also auch heute noch das »vorinstitutionelle Hilfesystem«13 Familie und Ehe für die Bewältigung der Pflegearbeit eine wichtige Funktion. Allerdings muss hier differenziert werden: Wenn von Ehe und Familie gesprochen wird, kommt die Gender-Thematik ins Spiel. Gender, das sozial und kulturell konstruierte Geschlecht, ist eine grundlegende Differenzkategorie, die das gesellschaftliche Leben und die Identität der Menschen bestimmt. Alter ist eine Lebensphase, die sehr stark von der Geschlechterdifferenz und geschlechtsspezifischen Lebenslagen geprägt ist, weil die Lebenssituation im Alter von den früheren Lebensphasen und dem bisherigen Lebenslauf beeinflusst ist. Wenn im Alter Schwäche, Abhängigkeit, Hilfs- und Schutzbedürftigkeit zunehmen, sind das Merkmale, die traditionell der Weiblichkeit zugeschrieben wurden. Haben deshalb Frauen bessere Voraussetzungen, mit dem Alter und der Pflegesituation umzugehen? Haben Männer dagegen größere Umstellungsschwierigkeiten, die Altersphase mit ihrem Männlichkeitsbild zu vereinbaren, wenn sie mit Schwäche und Abhängigkeit verbunden ist? Erfahren also Männer und Frauen das Alter 12 | Vgl. dazu Willi Rückert: Von Mensch zu Mensch. Hilfe und Pflege im Alter, in: Annette Niederfranke u.a. (Hg.): Funkkolleg Altern 2: Lebenslagen und Lebenswelten, soziale Sicherung und Altenpolitik, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 399-433, hier S. 426ff. 13 | Ebd., S. 412.

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unterschiedlich, weil auch im Alter das hierarchisch-komplementäre Geschlechterverhältnis und die damit verbundene Hierarchie der geschlechtsspezifischen »Lebenslagechancen« 14 weiter bestehen? Oder kann es gerade im Alter zu einer Nivellierung der Geschlechterunterschiede kommen, weil das Alter bei Männern zu einer »Angleichung an weibliche Vergesellschaftungsformen«15 und Lebensweisen führt? Vor allem wegen der höheren Lebenserwartung von Frauen und weil besonders Frauen Pflegearbeit leisten, ist das höhere Alter weiblich geprägt; man spricht hier von einer »Feminisierung des Alters«.16 Das gilt auch in einem negativen Sinn: Wegen ihrer von der weiblichen Rolle geprägten Lebensumstände als Mutter und Hausfrau ist die häufigste Erwerbsform von Frauen die Teilzeitbeschäftigung. Dadurch sind Frauen in hohem Maß durch Altersarmut gefährdet. Ein Leben lang haben sie Kinder, kranke und alte Menschen gepflegt, aber im Alter, wenn sie selbst Hilfe brauchen, haben sie oft niemanden mehr. Ihre Fokussierung auf die Familie führt bei Frauen im Alter häufig nicht nur zu Armut, sondern auch zu sozialer Isolation und psychischen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen.17 Männer sind dagegen im Alter zwar finanziell besser gestellt, aber durch den Wegfall ihrer beruflichen Stellung und den damit zusammenhängenden Bedeutungsverlust – durch den Verlust von sozialer Anerkennung, Prestige, Macht und Bestimmungsmöglichkeiten – sind sie einer viel größeren Lebensumstellung und altersbezogenen Umorientierung ausgesetzt als Frauen. Viele Männer sind in Japan durch die zu große Fokussierung auf die Berufstätigkeit nach deren Wegfall in ihrem sozialen Umfeld oft sehr isoliert und haben kein soziales Netzwerk. Mit zunehmendem Alter kommen sie in eine eher ›weiblich‹ strukturierte Lebenslage und müssen manchmal sogar die Rolle des Pflegenden übernehmen. Damit haben sie nicht nur praktische Schwierigkeiten, weil sie nie darauf vorbereitet wurden, sondern sie geraten auch in Konflikt mit ihrem Männlichkeitsbild und kommen in eine Identitätskrise. Das Alter bedeutet also sowohl für Frauen als auch für Männer eine Herausforderung, wenn auch in einer jeweils verschiedenen Weise, bezogen auf die jeweilige Lebenslage. Gerade in der Pflegesituation tritt die Gender-Problematik besonders deutlich hervor. Der geschlechtsspezifische Unterschied in der Pflege beruht vor allem darauf, dass durch die höhere Lebenserwartung die meisten Pflegebedürftigen Frauen

14 | Gertrud M. Backes: Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden ³2010, S. 454-460, hier S. 457. 15 | Ebd., S. 455. 16 | Ebd., S. 456. 17 | Vgl. ebd., S. 455.

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sind, auch wenn die Zahl pflegebedürftiger Männer zunimmt.18 Auch bei den Pflegenden gibt es viel mehr Frauen als Männer, doch auch hier steigt die Zahl pflegender Männer – auch in Japan. Vor allem ihre Bereitschaft, Pflegearbeit zu leisten, nimmt gerade im Alter deutlich zu. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie schon in jungen Jahren, in Deutschland früher durch den Zivildienst und heute durch das freiwillige soziale Jahr, Erfahrungen mit der Pflegearbeit sammeln konnten. Man kann also Pflege nicht mehr als eine nur weibliche Tätigkeit stereotypisieren. So erhöht sich auch die Chance, dass Pflege nicht nur als private Familienarbeit, sondern zunehmend als »eine von der Gesellschaft zu verantwortende Aufgabe« 19 verstanden wird. Das muss aber nicht heißen, dass Pflege eine ausschließlich institutionell und professionell ausgeübte Tätigkeit werden muss. Vielmehr sollte es zu einer Vernetzung privater und professioneller Pflege kommen, durch die vor allem pflegende Angehörige entlastet werden. Die Pflegesituation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der alten Menschen extrem einschränkt. Sie können leicht zu Objekten in einem »managed care environment« werden und sind »Formen intensivierter Kontrolle« unterworfen.20 Das gilt auch für die Pflege innerhalb der Familie. Kunow spricht – mit Bezug auf Habermas – von »Strukturen entmachteter Sozialität«.21 In dieser Situation stellt sich die Frage, wie die alten pflegebedürftigen Menschen, aber auch die pflegenden Angehörigen »überhaupt ›zu Wort‹ kommen« können.22 Wie sollen Menschen, die keine wissenschaftlich-theoretischen oder praktisch-professionellen Grundlagen haben, sondern unmittelbar als Subjekte von der Pflegesituation – ob als Pflegebedürftige oder als Pflegende – betroffen sind, zur Sprache und zum Sprechen über ihre Probleme kommen? Hier liegen die Aufgabe und die Möglichkeiten der Literatur, besonders wenn es sich um autobiographische Literatur handelt. In literarischer Form können Betroffene selbst als Subjekte sprechen, zugleich kann den nicht selbst schreibenden Betroffenen eine Stimme gegeben werden. Es ist die besondere Leistung der Literatur, Menschen unmittelbar selbst sprechen und handeln zu lassen und sie gleichzeitig von außen in ihrer Lebenssituation und -geschichte, in ihren Beziehungen zu anderen, in ihrem Verhalten und in ihrem Umfeld darzustellen. Diese Doppelperspektive und die Möglichkeit, eine fiktive Realität zu schaffen und durch ästhetisch-literarische Mittel Wirkungen bei den Leserinnen und Lesern hervorzurufen, ein Problembewusstsein zu schaffen und zu einer Einstellungs- und Verhaltensänderung zu motivieren, geben der literarischen Beschäftigung mit der Pflegeproblematik ihre 18 | Vgl. zum Folgenden Detlef Oesterreich; Eva Schulze: Frauen und Männer im Alter. Fakten und Empfehlungen zur Gleichstellung, Berlin 2011, S. 83ff. 19 | Ebd., S. 84. 20 | Kunow: »Ins Graue«, S. 38. 21 | Ebd., S. 37. 22 | Ebd., S. 27.

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besondere Bedeutung. Und vielleicht könnte man noch einen Schritt weitergehen und mit Bezug auf Kunow fragen, ob man auch das fiktionale, biographische und autobiographische Schreiben über das Alter in der Pflegesituation als eine »Praxis des ›writing back‹ aus dem fernen Land des Alter(n)s«23 verstehen kann. In dieser Perspektive könnte durch das Schreiben von Pflegeliteratur ein kritisches Potential und eine »Perspektivenvielfalt« freigesetzt werden, die zeigen, dass der »Weg ›ins Graue‹« nicht zu einem »Weg ins Grauen«24 der »care hell«25 werden muss. Bevor im Folgenden die Pflegeproblematik im Alter bezogen auf die Geschlechterdifferenz am Beispiel einiger Werke der japanischen Gegenwartsliteratur behandelt wird, soll in einem kurzen Überblick ein statistisches Bild der alternden Gesellschaft und der Pflege alter Menschen in Japan gegeben werden.

S TATISTISCHER Ü BERBLICK ÜBER A LTER UND P FLEGE IN J APAN Der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung ist in Japan besonders groß und er nimmt sehr schnell zu. Von den ca. 128 Millionen Japanerinnen und Japanern waren im Jahr 2011 etwa 29 Millionen über 65 Jahre alt; das macht einen Anteil von 23 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.26 Die Zahl der über 75-Jährigen lag bei ca. 14,7 Millionen und machte ca. 11,5 Prozent der Bevölkerung aus. Bei einer insgesamt abnehmenden Bevölkerungszahl wird der Anteil der über 65-Jährigen bereits im Jahr 2013 25 Prozent überschreiten und im Jahr 2055 werden zwei von fünf Personen über 65 Jahre alt sein. Gleichzeitig haben die Menschen in Japan weltweit eine der höchsten Lebenserwartungen (bei Frauen 86 Jahre, bei Männern 79 Jahre; 2011), und es gibt heute bereits ca. 51.000 über 100-jährige Menschen. Was die Familienverhältnisse der alten Menschen betrifft, gab es im Jahr 2010 von insgesamt 48,6 Millionen Haushalten 20,7 Millionen (42,6 Prozent) Haushalte mit über 65-jährigen Personen. Der Anteil von Dreigenerationenhaushalten, der im Jahr 1980 noch 50 Prozent betrug, sank bis 2010 auf 16 Prozent. Dagegen stieg die Rate der Haushalte, die nur aus einem Ehepaar bestanden, von 16 auf 30 Prozent. Die Rate der Einpersonenhaushalte stieg von 11 auf 24 Prozent. Diese Zahlen zeigen, dass viele über 65-jährige Menschen allein oder nur mit ihrem Ehepartner bzw. ihrer Ehepartnerin leben.

23 | Ebd., S. 39. 24 | Ebd., S. 29. 25 | Lisette Gebhardt: Age and Ageing in Contemporary Japanese Literature, in: Florian Coulmas u.a. (Hg.): The Demographic Challenge: A Handbook about Japan, Leiden/Boston 2008, S. 491-511, hier S. 498. 26 | Im Folgenden werden die Zahlen aus dem Weißbuch Heisei 24-nendo ban KĤreishakai hakusho [Weißbuch zur Überalterungsgesellschaft von 2012] entnommen: http://www8.cao. go.jp/kourei/whitepaper/w-2012/zenbun/24pdf_index.html [Zugriff am: 09.05.2013].

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Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen nimmt ab dem Alter von 75 Jahren zu; bei den 65- bis 74-Jährigen betrug ihr Anteil 3 Prozent und bei den über 75-Jährigen 22 Prozent (im Jahr 2009). Bei der Frage, wer die Pflege übernimmt, ist es zu 26 Prozent der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin, zu 21 Prozent sind es die Kinder und zu 15 Prozent Ehepartner bzw. die Ehepartnerin der Kinder (2010). Aufgeteilt nach Geschlecht waren es 31 Prozent Männer und 69 Prozent Frauen. 65 Prozent der pflegenden Männer waren über 60 Jahre alt; bei den Frauen waren es 61 Prozent. Das bedeutet, dass im Alter auch viele Männer die Pflege ihrer Partnerinnen oder sogar die Pflege der eigenen Eltern übernehmen müssen. Diese Tendenz, dass alte Menschen sehr alte pflegebedürftige Familienmitglieder pflegen, nimmt stetig zu. Wegen der Übernahme von Pflegearbeit mussten 82 Prozent der pflegenden Frauen ihre Stelle aufgeben oder eine andere Arbeit finden. Lange Zeit – und teilweise heute noch – wurde die Pflegearbeit als Aufgabe der Frauen betrachtet. Japan galt in besonderem Maß als »eine Gesellschaft, in der die Gendernorm ›Pflegearbeit als Frauenaufgabe‹ herrscht«.27 Nach einer Untersuchung wurde noch 1977 87 Prozent der Pflegearbeit von Frauen übernommen, davon 37 Prozent von den Schwiegertöchtern (im Japanischen yome, Ehepartnerin des Sohnes)28, 25 Prozent von den Ehepartnerinnen und 18 Prozent von den Töchtern; der Anteil der Pflege durch männliche Familienmitglieder betrug 9 Prozent (6 Prozent waren Ehemänner und 2 Prozent Söhne). Aber wegen des demographischen Wandels und der sich verändernden Familien- und Haushaltsstrukturen müssen immer mehr Männer die Pflege übernehmen; heute wird bereits 31 Prozent der Pflegearbeit von Männern geleistet. In der ersten Untersuchung über pflegende Männer in Japan 29 wurde im Jahr 2006 festgestellt, dass viele von ihnen selbst gesundheitliche Probleme haben (57 Prozent werden ambulant behandelt, insgesamt 65 Prozent fühlen sich selbst nicht gesund). Sie konnten die Pflegearbeit nur schwer mit ihrer Erwerbsarbeit vereinbaren. 52 Prozent der pflegenden Männer lebten in einem Zweipersonenhaushalt mit dem pflegebedürftigen Familienmitglied, wie Ehefrau, Mutter oder Vater. Darin zeigt sich eine ›geschlossene‹ Lebenssituation. Pflegende Männer haben wegen ihrer fehlenden Erfahrung mit

27 | Kisuyo Kasuga: Kaigo mondai no shakaigaku [Soziologie der Pflegeproblematik], Tokyo 2001. Alle Übersetzungen der japanischen Zitate im vorliegenden Aufsatz sind von der Verfasserin. 28 | Selbst wenn die alten Eltern auch Töchter hatten, wurde in erster Linie die Ehefrau des ältesten Sohns für die Pflege verantwortlich gemacht, weil er als das nächste Familienoberhaupt eine besondere Stellung innehatte. Das war noch ein Rest der alten patriarchalen Familienstruktur in Japan, der auch nach 1947 weiter bestand, dem Jahr, in dem das neue Familienrecht in Kraft trat. 29 | Mao SaitĤ: Otoko ga kaigo-suru to iu koto. Kazoku, Care, Gender No Interface [Pflege durch Männer. Die Schnittstelle von Familie, Pflege und Gender], in: Ritsumeikan SangyĤshakai ronshľ 45 (2009) H. 1, S. 171-187, hier S. 173ff.

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der Haushaltsführung praktische Probleme.30 41 Prozent hatten kaum Kontakte mit Nachbarn, und dies zeigt, dass pflegende Männer in der Pflegesituation eher in die Vereinsamung geraten als Frauen. Dass in verzweifelten Pflegesituationen Misshandlungen oder sogar eine Tötung geschehen, ist nicht selten. Seit 2006 gibt es in Japan ein Gesetz zur Vorbeugung gegen Misshandlungen alter Menschen [Kōreisha gyakutai bōshi-hō]; seit dieser Zeit gibt es auch Statistiken zu gemeldeten Misshandlungen und Tötungen pflegebedürftiger Menschen. Die gemeldeten Zahlen sind zwar noch sehr gering, wobei die Dunkelziffer wesentlich höher geschätzt werden muss. Der Anteil von Frauen als Opfer von Misshandlungen beträgt 77 Prozent gegenüber 23 Prozent Männern (2011).31 Täter sind zu 41 Prozent die Söhne, die Ehemänner zu 18 Prozent und die Töchter zu 17 Prozent. 87 Prozent sind Fälle, in denen die Misshandelten mit den Misshandelnden in einem Haushalt zusammen leben. Diese Zahlen zeigen, dass es auch hier eine deutliche Geschlechterdifferenz gibt: Mehr Frauen werden Opfer und mehr Männer sind Täter. Es gibt allerdings nur wenige Fälle, in denen die Opfer zu Tode kommen. All dies zeigt deutlich, dass die Pflege für die pflegenden Familienmitglieder zu einer schwerwiegenden Belastung werden kann.

A LTER UND P FLEGE IN DER JAPANISCHEN G EGENWARTSLITER ATUR Die genannten Zahlen geben nicht nur eine statistische Darstellung des Alters und der Pflegesituation in Japan wieder; in ihnen sprechen auch Geschichten von Menschen, die leiden oder an den Problemen der Pflege zerbrechen. Die literarische Thematisierung des Alters und der Pflege hilft mit zu verstehen, welche Geschichten hinter den Zahlen stehen und welche Probleme sich hinter ihnen verbergen. Deshalb möchte ich im Folgenden einige literarische Werke vorstellen und analysieren, aus denen man einen aufschlussreichen Einblick in die Altersund Pflegethematik in der japanischen Gesellschaft gewinnen kann. Ich werde zunächst ein Werk von Ariyoshi Sawako32 (1931-1984) behandeln, die 1972 den ersten wichtigen Roman über die Demenz-Krankheit und über die Pflegesituation in einer Familie geschrieben hat. Dann stelle ich einige Pflegeromane und -erzählungen von männlichen Autoren vor: Aoyama Kōji (1913-2008; Wagimoko 30 | Es gibt in Japan seit 2000 ein Pflegeversicherungssystem. Wenn ein Familienmitglied mit der pflegebedürftigen Person in einem Haushalt lebt, kann ein ›homehelper‹ geschickt werden, um Alltagslebensunterstützung wie Kochen etc. zu leisten. 31 | Die statistischen Zahlen stammen aus dem Bericht des Gesundheits- und Arbeitsministeriums von 2012: www.mhlw.go.jp/stf/houdou/2r9852000002rd8k-att/2r9852000 002rda1.pdf [Zugriff am: 09.05.2013]. 32 | Im Folgenden werden im Text alle japanischen Namen in der japanischen Reihenfolge geschrieben: zuerst Familienname und dann Vorname wie Ariyoshi Sawako.

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kanashi [Trauer um meine Frau], 2003) und Kō Haruto (1906-1988; Tenjō kara furu kanashii oto [Das traurige Warnsignal von der Decke], 1986); Donna go-en de [Warum Du?]; Sō kamo shirenai [Das könnte sein], 1988) haben ihre Frauen gepflegt und diese Erfahrung in autobiographischen Erzählungen festgehalten; Sae Shūichi (Jg. 1934; Kōraku [Das Fallen gelber Blätter], 1995) hat über die Pflege seiner Eltern durch seine Ehefrau geschrieben. Zum Schluss werde ich auf den kürzlich erschienenen sehr ungewöhnlichen Kriminalroman des jungen Autors Hamanaka Aki, Lost Care (2012) eingehen, in dem die Pflegeproblematik behandelt wird und der mit einem bedeutenden Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Lassen die statistischen Zahlen erwarten, dass auch in der literarischen Auseinandersetzung mit der Pflegebedürftigkeit die Pflege von Männern durch Frauen im Zentrum steht, so ist der tatsächliche Befund ein anderer: Mehr männliche Autoren beschreiben die Pflege ihrer Frauen oder die Pflege ihrer alten Eltern. Da Pflegearbeit durch Männer immer noch eher selten und ungewöhnlich ist, zieht sie die Aufmerksamkeit der Gesellschaft stärker auf sich. Pflegende Männer erhalten bei ihrer Pflege mehr Hilfe und mehr Unterstützung durch ihr Umfeld. Wenn sie ihre Frauen pflegen, bekommen sie dafür nicht nur mehr Beachtung, sondern auch mehr Respekt und Mitleid. Die hohe Wertschätzung der – besonders männlichen – Kritiker für die im Folgenden vorgestellte Pflegeliteratur männlicher Autoren ist zum Teil auf diese unterschiedliche Wahrnehmung der Situation zurückzuführen. Wenn man das Thema Alter und Pflege in der japanischen Gegenwartsliteratur behandeln will, kann die Auswahl, auch wenn sie sich auf repräsentative Werke beschränkt, nur exemplarisch bleiben. Die hier ausgewählten Romane und Erzählungen sind in der japanischen Gesellschaft bekannt gewordene Werke; sie wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet oder sind sogar Bestseller geworden.

– A RIYOSHI S AWAKOS R OMAN KOKOTSU NO HITO Mein erstes literarisches Beispiel ist der Bestsellerroman Kōkotsu no hito [Der Mann in Ekstase] der bedeutenden Schriftstellerin Ariyoshi Sawako (1931-1984), der im Jahr 1972 erschienen ist, also in einer Phase, in der über die zunehmende Altersproblematik und Pflegethematik in Japan noch nicht gesellschaftlich diskutiert wurde; vielmehr eröffnete gerade dieser Roman erst eine breite Diskussion. Die Autorin Ariyoshi hatte sechs Jahre lang sehr intensiv die Alters- und Pflegeproblematik studiert, um auf diese Thematik aufmerksam machen zu können. Der nicht autobiographische Roman Kōkotsu no hito erzählt von einer Familie, in der der Großvater an Demenz erkrankt. Anfang der 1970er Jahren war die Demenz noch kein großes gesellschaftliches Thema und es war auch nicht bekannt, was diese Erkrankung für eine Familie bedeutet. Ariyoshi ist eine Autorin, die sehr früh brisante gesellschaftliche Themen wie Umweltverschmutzung, Rassendiskriminierung und eben auch die Altersproblematik aufgegriffen

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und in literarischer Form behandelt hat. Ihr Roman Kōkotsu no hito hat damals über zwei Millionen Leser erreicht und eine Schockreaktion über die Realität der Demenz-Krankheit und die damit verbundene Pflegeproblematik in der breiten Öffentlichkeit hervorgerufen.33 Der Roman hatte auch Auswirkungen auf konkrete politische Maßnahmen, die alte Menschen betreffen. Der Schriftsteller Inoue Hisashi sagt, es sei dieser Roman gewesen, der eine neue Realität anbahnte, in der z.B. nur für alte und kranke Menschen vorgesehene Sitzplätze (silver seats) in den Bahnen und freie Pässe für Busse etc. eingeführt wurden. 34 In dem Roman wird bei dem 84-jährigen Tachibana Shigezō nach dem plötzlichen Tod seiner Frau eine Demenz diagnostiziert. Shigezō, der als sehr traditionell patriarchalisch, streng und schwierig charakterisiert wird, lebte mit seiner nun verstorbenen Frau in einer Wohnung, die auf demselben Grundstück wie das Haupthaus seines Sohns steht. Weil seine Frau, von der die eigene Tochter sagte, dass sie wie eine Sklavin lebte, sich allein um ihn kümmerte und sich nie über ihn beschwerte, hatten die anderen Familienmitglieder von seiner DemenzErkrankung bis dahin überhaupt nichts bemerkt. Shigezō erkennt dann ironischerweise in seinem dementen Zustand nur noch seine Schwiegertochter Akiko, die Protagonistin des Romans, weil sie sich – abgesehen von seiner verstorbenen Ehefrau – am meisten um ihn gekümmert hat und sich weiterhin um ihn sorgt, obwohl er bis dahin ihre Berufstätigkeit missbilligt und sie immer schlecht behandelt hatte. Sofort wird seine Pflege – wie selbstverständlich – ihre Aufgabe und sie pflegt, badet und windelt ihn. Ihr Mann, obwohl Shigezō sein eigener Vater ist, kümmert sich dagegen gar nicht um ihn; nicht nur wegen seines Berufs und weil er praktisch dazu unfähig ist, sondern auch, weil er damit psychologisch Probleme hat, als sähe er in seinem Vater seine eigene Zukunft. Alle möglichen Phasen und Situationen der schwierigen Pflege werden in dem Roman sehr plastisch und detailliert beschrieben, auch in humorvoller Situationskomik. Obwohl die Pflege für Akiko eine große Belastung ist, entsteht in ihr allmählich das Bewusstsein der Verantwortung, dass nur sie Shigezōs Zustand für ihn erträglich und angenehm gestalten kann. Als er einmal eine Lungenentzündung durch ihre gute Pflege überwunden hat, entschließt sie sich, ihm mit ihrer Kraft ein Leben auch in dieser schwierigen Situation zu ermöglichen. Es entspricht der damaligen gesellschaftlichen Realität, dass sie als Schwiegertochter nach dem 33 | Der Roman wurde 1973 verfilmt, in einer Bühnenfassung häufig aufgeführt und als Fernsehdrama gezeigt (1990, 1999 und 2006). 34 | Hisashi Inoue: Besuto serÝ no sengo-shi [Nachkriegsgeschichte des Bestsellers], in: Bungei Shunjľ 73 (1995) H. 5, zit.n. Yonemura, Miyuki: KĤreishakai no ›kaishaku‹ o kaeru. Ariyoshi Sawako »KĤkotsu no hito« to ›genjitsu‹ no enshutsu [Die ›Interpretation‹ der alternden Gesellschaft verändern. Ariyoshi Sawakos »KĤkotsu no hito« und die Dramaturgie der ›Realität‹], in: Miyuki Yonemura, Akiko Sasaki (Hg.): ›KaigoshĤsetsu‹ no fľkei. KĤreishakai to bungaku. [Die Landschaft der ›Pflegeliteratur‹. Überalterungsgesellschaft und Literatur], Tokyo 2008, S. 117-154, hier S. 119.

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Tod ihrer Schwiegermutter die Pflegeaufgabe allein übernehmen muss. Dass diese Aufgabe aber nicht nur eine gesellschaftlich aufgezwungene Pflicht ist, der sie sich nicht entziehen kann, sondern dass in der Pflegesituation auch tröstliche Momente liegen, zeigt der Roman, wenn Shigezō, der früher niemandem gegenüber freundlich war, allmählich zu Akiko immer freundlicher, ja sogar anhänglich wie ein Kind wird. Er ist – wie es im Titel des Buchs ausgedrückt wird – nicht nur ein Pflegefall, sondern er kann sich, wie in Ekstase an schöne Dinge wie eine besondere Blüte oder einen Vogel verlieren. Auch Akikos Sohn, der ihr zumindest ab und zu hilft, sagt nach Shigezōs Tod, es wäre gut gewesen, wenn er noch etwas länger hätte leben können. Darauf hin kann Akiko über Shigezōs Tod weinen, obwohl sie früher zu ihm keinen Zugang und keine Beziehung hatte. Obwohl Akiko eine selbstständige berufstätige Frau ist und den altmodischtraditionellen Verhältnissen und Einstellungen gegenüber kritisch ist, übernimmt sie ohne großen Widerstand die Pflege ihres Schwiegervaters. So hat selbst sie die gesellschaftliche Norm, dass Pflege die Aufgabe der Frau ist, internalisiert: Sie ist zwar eine moderne Frau, aber auch immer noch eine ›gute Ehefrau und Mutter‹ [ryōsai kenbo] nach dem traditionellen japanischen Muster. Als sie im lokalen Wohlfahrtsbüro für Altenpflege um Beratung bittet, sagt der Chef des Büros: »Die Pflege alter Menschen ist ein so schwerwiegendes Problem, dass zurzeit keine Aussicht auf seine Lösung besteht. Viele Familien werden dadurch zerstört. Vorläufig gibt es keinen anderen Ausweg, als auf die Hausfrauen zu zählen, die die Pflegearbeit tapfer durchstehen.«35 Ariyoshi hat ihren Roman mit knapp über 40 Jahren ohne eigene Pflegeerfahrung geschrieben, weil sie sich der Alters- und Pflegeproblematik bewusst geworden war, die erst nach den 1970er Jahren in Japan aktuell wurde. Man erkannte damals, dass dieses Problem in Zukunft massiv auf die Gesellschaft zukommen würde. Weil in Japan der Überalterungsprozess, wie bereits erwähnt, sehr schnell fortschreitet, kommt es oft vor, dass alte Menschen noch ältere oder genau so alte Menschen pflegen müssen. Sehr häufig pflegen alte Ehefrauen ihre Ehemänner. Es gibt aber – wenn auch nur halb so viele – auch umgekehrte Fälle. In der literarischen Welt Japans fällt auf, dass mehr Werke von männlichen Autoren die Pflege ihrer alten oder kranken Ehefrau thematisieren als umgekehrt. Beispiele dafür sind die Autoren, die ich im Folgenden behandle: Aoyama Kōji: Wagimoko kanashi [Die Trauer um meine Frau] und Mugen kairō [Der unendliche Korridor] sowie Kō Haruto: Tenjō kara furu kanashii oto [Das traurige Warnsignal von der Decke]; Donna go-en de [Warum Du?] und Sō kamo shirenai [Das könnte sein]. Diese beiden Autoren sind Schriftsteller, deren Werke wenig bekannt waren und die erst durch ihre Alterswerke ihren entscheidenden Durchbruch erreicht haben, eben durch ihre autobiographische Pflegeliteratur. Beide pflegten als über 80-Jährige ihre Frauen und thematisierten ihre Pflege literarisch. Darüber hinaus wird noch ein weiterer 35 | Sawako Ariyoshi: KĤkotsu no hito [Der Mann in Ekstase], Tokyo 2012, S. 312.

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Autor behandelt: Sae Shūichi: Kōraku [Das Fallen gelber Blätter]. In diesem Fall schreibt zwar der männliche Autor über die Pflege seiner alten Eltern, aber die Pflege wird hauptsächlich von seiner Frau übernommen.

– E RZ ÄHLUNG WAGIMOKO K ANASHI A OYAMA K OJIS Der Autor Aoyama Kōji wurde im Alter von 90 Jahren für seine autobiographische Erzählung Wagimoko kanashi mit dem Kawabata-Yasunari-Literaturpreis ausgezeichnet, als der älteste Preisträger in der Literaturwelt Japans überhaupt. Es geht um das Zusammenleben eines Schriftstellers, Sugi Keisuke, und seiner an Alzheimer erkrankten Ehefrau Kyōko; beide sind über 80 Jahre alt. Die meisten Kritiker lobten dieses Werk als »Ausdruck der höchsten Form der Liebe«36; sie meinten, dass der Ehemann Keisuke durch die schwer zu ertragende Pflege seiner Frau die »Verantwortung für seine Liebe«37 erfüllt habe. Beim genauen Lesen wird man zwar von den traurigen Erscheinungsformen der Alzheimer-Krankheit seiner Frau berührt, ist aber an manchen Stellen von den Reaktionen des Protagonisten seiner Frau gegenüber auch befremdet. In der ersten Szene empfängt er die Redakteurin einer Kochzeitschrift, die einen Text abholen will. Die kranke Kyōko will ihr Tee servieren und bringt auf dem Tablett ihre Medikamente anstatt Tee oder Süßigkeiten. In dieser Szene steht der Protagonist Keisuke nicht zu seiner Frau, die trotz ihrer Krankheit gastfreundlich sein will, sondern stellt eine Art Komplizenschaft der ›Normalen‹ mit der jungen Redakteurin her, indem er sagt: »Das ist doch erschreckend, nicht wahr?«38 Er beschreibt dann das schnelle Fortschreiten der Krankheit seiner Frau und welche verwirrenden Sachen im Haushalt geschehen, für den selbstverständlich seine Frau verantwortlich ist, die immer noch versucht, ihre Aufgaben als Hausfrau zu erfüllen. In einem der Essays, die er für eine Kochzeitschrift verfasst, beschreibt er seine früheren Reisen mit Freundinnen; er sagt zu der Redakteurin, er könne diese Serie jetzt immer weiter fortsetzen, weil keine Gefahr mehr bestehe, dass seine Frau sie lesen könne. Später treffen sich alle drei zufällig in einem Café. Kyōko begrüßt die Redakteurin, ohne sie zu erkennen. Keisuke erklärt ihr, dass sie kurz zuvor noch bei ihnen zu Hause war. Die junge Redakteurin ermahnt ihn scherzhaft wegen seiner spottenden Bemerkungen über seine Frau und sagt ihm, er solle doch ernsthafter sein. Sie selbst bedankt sich bei seiner Frau für den Kuchen und meint damit die Medikamente in Kapselform, die die kranke Frau mit Kuchen verwechselt und ihr angeboten hatte. Darauf hin scherzt er, dass sie als Expertin einer Kochzeitschrift sogar Kuchen in Kapselform kenne. Dieses komplizenhafte Sich-über-seine-Frau36 | Sasaki, Akiko: ›Kioku‹ o kaku otoko-tachi. Aoyama KĤji to KĤ Haruto no rĤrĤkaigoshĤsetsu, S. 36. 37 | Ebd. 38 | KĤji Aoyama: Wagimoko kanashi [Trauer um meine Frau], Tokyo 2006, S. 10.

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lustig-Machen scheint auch ein Ausdruck der männlichen Eitelkeit der jungen Frau gegenüber zu sein, ist aber seiner kranken Frau gegenüber kränkend. Er behandelt sie, als wäre sie als Person nicht mehr existent. Man kann deshalb verstehen, dass Kyōko sich immer wieder über ihre Einsamkeit beklagt und sagt, sie wisse nicht, was sie machen solle, in dieser Einsamkeit.39 Keisuke beteuert zwar immer wieder, dass seine Liebe zu seiner Frau immer noch bestehe; in Wirklichkeit scheint diese Liebe aber nur noch in der Vergangenheit zu liegen. Immer wieder erinnert er sich daran, wie sehr er »sie damals geliebt habe«.40 Die Liebe zu seiner Frau wird in dieser Weise immer als Erinnerung an seine Liebe zu ihr in der Vergangenheit beschrieben. Deshalb denkt er: Man muss für seine Liebe Verantwortung tragen. […] Das müsste der Mensch tun. Ich kann meine Liebe mit meinem ganzen Leib und meiner Seele von damals auch jetzt nicht in Zweifel ziehen. Dass diese Liebe nur noch im Gedächtnis besteht, stimmt so nicht. Auch jetzt lebt sie noch. Wenn das so ist, muss ich für meine Liebe Verantwortung tragen. Bis zum Ende der Zeit. 41

Direkt anschließend denkt er aber daran, dass er seine Frau nicht mehr pflegen könnte, wenn sie bettlägerig würde. Bereits jetzt kann er sie immer wieder zu einer Altenpflegeeinrichtung bringen, in der sie für längere Zeit gepflegt werden kann. Er fühlt sich – und gibt dies ehrlich zu – danach befreit, erst später tut sie ihm leid. Die letzte Episode, mit der die Erzählung abgeschlossen wird, ist Keisukes Erinnerung an ein französisches Restaurant in Kyoto, in dem er mit seiner Frau vor drei Jahren sehr gut gegessen hatte. Nach dem Essen bestand seine Frau darauf – die beiden waren schon draußen –, dass er unbedingt Trinkgeld hätte geben sollen (was in Japan nicht üblich ist). Er folgte ihrem Rat, wunderte sich aber über sie, weil sie sonst immer eher sparsam war. Im letzten Satz denkt er nachträglich, dass sie schon damals merkwürdig war. Dass diese Erzählung – die im Blick auf die kranke Frau an einigen Stellen fast brutal erscheint – von einigen Kritikern so gelobt wurde, könnte daran gelegen haben, dass ein Mann im hohen Alter – in diesem Fall sogar ein 80-Jähriger –, der seine Frau pflegt, in den Augen männlicher Kritiker erstaunlich genug ist. Über die Krankheit schreibt der Autor und Ich-Erzähler sachlich und etwas distanziert. Aber an einer Stelle, in der er die Schränke in seinem Haus beschreibt, in die von seiner Frau alles Mögliche hineingesteckt wurde, spricht der Protagonist von der »Verwüstung des Herzens«.42 Kann man solche nicht nur distanzierenden, sondern manchmal auch ›verspottenden‹ Beschreibungen seiner Ehepartnerin 39 | Vgl. ebd., S. 51. 40 | Ebd., S. 52. 41 | Ebd., S. 61. 42 | Ebd., S. 22.

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wirklich als ›Ausdruck der höchsten Liebe‹ verstehen oder sind sie nicht vielmehr eine Art Verrat, den Keisuke an seiner Frau begeht?

K O– H ARUTOS TRILOGIE Die drei Erzählungen, die Kō Haruto (1906-1988) über die Pflege seiner Frau geschrieben hat, könnte man als eine Geschichte lesen, in der es um seine immer kränker werdende Frau und um die letzten gemeinsamen Jahre der Eheleute geht, die beide über 80 Jahre alt sind. Auch diese drei Erzählungen sind autobiographisch. Der Ehemann, der ohne Namen nur als Ich-Erzähler dargestellt wird, ist ein Schriftsteller. Auch seine Frau wird ohne Namen »meine Frau« genannt. Sie war berufstätig und arbeitete bei einer Zeitschrift, weil beide allein vom Einkommen des Ehemannes nicht leben konnten, da er nicht regelmäßig und nicht gut verdiente. Seine Frau wollte ursprünglich sogar berufstätig sein und allein leben, ohne zu heiraten. Sie wurde trotzdem auch Hausfrau, die sich um den ganzen Haushalt und um ihren Mann kümmerte, bis sie wegen ihrer DemenzErkrankung allmählich unfähig wurde, alles allein zu erledigen. Als beide fast 80 Jahre alt waren, merkte der Ich-Erzähler, dass seine Frau anfing, beim Einkaufen Sachen zu vergessen, das Essen beim Kochen anbrennen zu lassen etc. Jetzt muss er sich allmählich um sie kümmern und auf sie aufpassen; dabei wird ihm immer wieder bewusst, dass seine Frau seit ihrer Eheschließung den ganzen Haushalt einschließlich des Geldverdienens allein übernommen hatte und er nur deshalb so leben konnte, wie er es tat: »Seit unserer Hochzeit hatte ich unter ihrer liebevollen Fürsorge ohne Sorgen gut gelebt, und nun fühlte ich, dass ich ›nackt‹ [und schutzlos] aus diesem Leben hinausgeworfen worden bin.«43 Weil seine Frau manchmal alles vergisst, bricht einmal beim Kochen Feuer in der Küche aus; es drohte ein Brand, und er lässt danach einen Brandmelder an der Decke anbringen. Ein anderes Mal wird der Ich-Erzähler um drei Uhr in der Frühe von seiner Frau geweckt mit der Erklärung, sie habe nun für ihn das Essen fertig gemacht. Als er in der Küche den Gasofen brennen sieht, schlägt er sie zum ersten Mal aus Angst wegen des drohenden Feuers. Als er aber sieht, dass seine Frau während der Vorbereitung des Essens für ihn seine Kleider, die er ausgezogen und einfach hingeworfen hatte, ordentlich gefaltet hat, möchte er vor ihr niederknien und er entschuldigt sich. Die zweite Erzählung der Trilogie beginnt damit, dass seine Frau, die bisher gern mit der Hand die Wäsche gewaschen hat, sagt, sie könne dies nun nicht mehr tun. Bis sie eine Waschmaschine kaufen, übernimmt er diese Aufgabe; sofort merkt er, welch schwere Arbeit dies auf die Dauer ist und denkt dabei, dass 43 | Haruto KĤ: TenjĤ kara furu kanashć oto [Das traurige Warnsignal von der Decke], in: ders.: IchijĤ no hikari; TenjĤ kara furu kanashć oto [Ein Lichtstrahl; Das traurige Warnsignal von der Decke], Tokyo 2009, S. 103-151, hier S. 112.

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seine Frau seit fünfzig Jahren fast jede Nacht im Bad seine Wäsche gewaschen hat, ohne ein einziges Wort der Beschwerde. Er merkt plötzlich auch, dass seine Frau für ihn fast hundert Unterhemden gekauft hat, sie selbst aber nur zehn Unterwäsche-Kimonos besitzt. Er erkennt erst, welch ein egoistischer Mensch er gewesen ist und dass sie so lange mit wenigem Geld gehaushaltet und nur für ihn immer wieder neue Unterhemden gekauft hat, als sie nicht mehr selbst die Wäsche waschen kann. Als er sie baden muss, denkt er beim Anblick ihres abgemagerten Körpers, er habe sie so gemacht. Als sie später von einer Pflegefachkraft gebadet wird, glaubt er, ihr magerer Körper würde in seinen von Tränen getrübten Augen immer schöner und in einem Heiligenschein erstrahlen: Sie hat sich fünfzig Jahre lang selbstlos für ihn aufgeopfert. In der dritten Erzählung ist der Ich-Erzähler selbst schwer krank. Der Titel »Das könnte sein« kommt aus dem Mund seiner Frau, die, von einer Pflegerin begleitet, ihn im Krankenhaus besucht, ihn nicht mehr erkennt und auf den Hinweis der Pflegerin, diese Person sei ihr Mann, antwortet: »Das könnte sein«.44 Dennoch denkt er, dass seine Frau ihn gerettet hat. Denn nur weil er sich immer auf ihren Besuch gefreut und dafür um sein Leben gekämpft hatte, konnte er von der Intensivstation wieder in ein normales Krankenzimmer verlegt werden. In dieser Reihe von drei Erzählungen reflektiert der Ich-Erzähler nach fünfzig Jahren Ehe erst aufgrund des Ausbruchs der Demenz-Erkrankung seiner Frau, was sie für ihn getan hat. Er entwickelt ein starkes Schuldbewusstsein, als sei er für ihre Krankheit mit verantwortlich. Nach seiner Darstellung war er in seinen großen Lebensproblemen immer eher feige, während sie tapfer war und ihn unterstützte. Zu spät, nach ihrem 50-jährigen Eheleben, erkennt er endlich ihre Leistung. Bei seiner Frau kann man trotz ihrer schweren Demenz-Erkrankung immer wieder spüren, dass ihre Persönlichkeit hinter ihrer Krankheit weiterhin besteht und sich deutlich bemerkbar macht, nicht nur, wenn sie sich bei ihm bedankt oder wenn sie über ihren eigenen Zustand weint, sondern auch, wenn sie einer rücksichtslosen Pflegerin gegenüber in ihrer Art Widerstand leistet. So wird sie in den Erzählungen nicht nur aus der Sicht des Ich-Erzählers als Objekt dargestellt, sondern auch als Subjekt, ihre hinter der Krankheit verborgene Persönlichkeit wird indirekt vermittelt. Aber bis auf die wenigen Szenen, in denen man in den Reaktionen seiner Frau ihre Gefühle und ihre Person noch erahnen kann, sind auch diese Erzählungen aus der Sicht des männlichen Ich-Erzählers geschrieben. Man kann die Stimme seiner Frau nicht hören und ihre eigene Geschichte nicht erfahren. Der Ehemann konstruiert aus seinen Schuldgefühlen eine Schuld-und-Sühne-Geschichte, in der er seine Frau zu einer ›Heiligen‹ stilisiert. Wie er selbst feststellt, könnten durch seine Schuldgefühle, die ihn dazu veranlasst haben, die Pflege seiner Frau 44 | Haruto KĤ: SĤ kamo shirenai [Das könnte sein], in: ders.: IchijĤ no hikari; TenjĤ kara furu kanashć oto [Ein Lichtstrahl; Das traurige Warnsignal von der Decke], Tokyo 2009, S. 185-220, hier S. 217.

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selbst zu übernehmen, eine bessere Behandlung und Pflege für sie verzögert worden sein. In den fünfzig Jahren Eheleben war der Protagonist ignorant und egoistisch, danach war er unfähig, seiner Frau rechtzeitig eine angemessene Behandlung und Pflege zuteil werden zu lassen. Auch wenn seine Lage schwierig ist, könnte hier sein männlicher Stolz und ein paternalistisches Denken ihn zu der Haltung gebracht haben, als Ehemann und Beschützer allein für seine Frau sorgen können zu müssen, ohne dabei im Sinne seiner Frau zu denken und zu handeln. Der Autor Kō Haruto starb 1988 noch vor seiner Frau. Seine Trilogie hat in Japan einen stillen Boom für die Werke dieses unscheinbaren aufrichtigen Autors hervorgerufen.

– – S AE S H UICHIS R OMAN K ORAKU Auch beim dritten Schriftsteller, Sae Shūichi, enthält dessen ebenfalls autobiographischer Roman Kōraku viele solcher Gender-bezogenen Probleme.45 In diesem Roman muss das Ehepaar Satō Tomoaki und Fukiko mit fast 60 Jahren die alten Eltern Tomoakis pflegen. Seine Mutter ist zu Beginn des Romans 87 und sein Vater 92 Jahre alt. Auch hier ist der Ehemann und Ich-Erzähler Schriftsteller, der zwar meist zu Hause arbeitet, aber die Pflege seiner Eltern, die nicht weit von seinem Haus entfernt allein leben, seiner Frau überlässt. Man kann in diesem Roman die Geschlechterverhältnisse zwischen Eheleuten in zwei Generationen beobachten und sehen, wie mit der Pflegeproblematik in dieser Konstellation umgegangen wird. Als die alte Mutter des Ich-Erzählers mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus gebracht wird, kommt damit eine noch schwierigere Pflegeaufgabe auf seine Ehefrau Fukiko zu. Fukiko, die Kochkurse gibt, die ganze Haushaltsarbeit allein bewältigt und sich auch um die beiden alten Eltern ihres Mannes kümmert, hat bereits wegen der schweren Pflegearbeit starke Rückenbeschwerden. Ihr Mann, der ihr trotzdem allein die Pflege auflädt, streitet wegen seines schlechten Gewissens häufig mit ihr und schlägt vor, sie solle sich doch von ihm scheiden lassen und sich so von ihm und von der Pflege seiner Eltern befreien. Darauf antwortet sie, er verstehe gar nichts, er solle stattdessen die Windeln seiner Mutter wechseln und so ihr helfen. Während die Mutter der pflegenden Schwiegertochter gegenüber dankbar ist und eine sehr gute Beziehung zu ihr hat, zeigt der Vater, ein Tyrann, seinen egoistischen Charakter immer deutlicher: Er ist Fukiko gegenüber nie freundlich, er verdächtigt sie sogar des Diebstahls seines Geldes. Es stellt sich immer deutlicher heraus, dass die beiden alten Leute, die durch eine arrangierte Ehe geheiratet haben, keine glückliche Beziehung hatten. Der Mann hat seine Frau immer wieder betrogen, geschlagen und schlecht 45 | Die Geschichte wurde als Fernsehdrama und auch als Bühnenstück gezeigt.

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behandelt, was sich erst nach und nach herausstellt. Als sie bettlägerig und völlig pflegebedürftig wird, versteckt sie ihre Abneigung ihm gegenüber nicht mehr, sondern greift ihn in einem Zustand der Verwirrtheit nach einem zweiten Aufenthalt im Krankenhaus sogar an. Später denkt der Ich-Erzähler, sie habe, bevor sie selbst stirbt, die anderen von seiner Pflege befreien wollen, indem sie versuchte, ihn mit ihren letzten Kräften zu töten. Sie ihrerseits versucht in ihrem kranken Zustand, das Essen zu verweigern, als wollte sie verhungern und so besonders die Schwiegertochter von der schweren Last der Pflege befreien. Als der Sohn Tomoaki ihren Entschluss ahnt, ist er zwar verwirrt, denkt aber, dass eine solche Entscheidung typisch für seine Mutter sei, die sehr stark, entschieden und geradlinig war. Auf ihrem Krankenbett sagt sie als Letztes Fukiko und Tomoaki ihr Dankeswort und dann zu deren beider Überraschung: »Ich bin … nicht verheiratet«.46 Sie verleugnet die Ehe mit ihrem Mann, den sie nicht geliebt hat, und kehrt so – Tomoaki und Fukiko haben dieses Gefühl – innerlich zurück zu der jungen Frau, die sie einmal war. Ähnlich krisenhaft zeigt sich auch die Beziehung zwischen Tomoaki und Fukiko; dies spitzt sich bei der Beerdigung der alten Frau zu. In seiner Trauerrede bedankt sich Tomoaki bei allen, die seine Mutter kannten und sich um sie gekümmert haben, außer bei seiner Frau, die als einzige die alte Mutter die ganze Zeit liebevoll und fürsorglich betreut und gepflegt hat. Als er nach der Trauerfeier nach Hause kommt, sieht er, dass seine Frau mit der Tochter und dem Sohn zusammensitzt; beide Kinder ziehen sich zurück, ohne ihm etwas zu sagen. Auf seine Frage hin erzählt seine Frau, dass die Kinder zu ihr gesagt hätten, es habe ihnen leid getan, dass ihr Vater ihr nicht gedankt habe. Er erklärt, sie solle doch verstehen, dass er sich zurückgehalten habe, in der Öffentlichkeit ihr, gerade weil sie seine nächste Person sei, zu danken; er habe gehofft, dass jemand anders ihre Pflegeleistung erwähnen würde. Sie sagt aber, sie habe sich gewünscht, dass gerade er ihr danken würde. Resignierend meint sie, zumindest seine alte Mutter habe gewusst, was sie alles für sie getan habe. Tomoaki ärgert sich über sich selbst, weil er als altmodischer japanischer Mann nicht einmal ein Dankeswort seiner Frau gegenüber über die Lippen bringen konnte, obwohl er ihr natürlich sehr dankbar war. Nicht nur in dieser Unfähigkeit, sondern auch in seinem Egoismus und der Einbildung, sie müsse ohnehin verstehen, was er denkt, ohne dass er ihr etwas sagt, erkennt er eine Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er spricht dabei immer wieder von der Abneigung und dem Ekel vor dem »schmutzigen Blut« 47 und meint damit, dass auch genetisch sein egoistischer, rücksichtsloser und manchmal gemeiner – zumindest im Alter so gewordener – Vater einen Anteil an seiner Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, und seinem Egoismus hat. Dieser alte Vater wird nach dem Tod seiner Frau, die früher alle seiner negativen Eigenschaften nach außen gegenüber den anderen abgeschirmt hatte, immer 46 | Shľichi Sae: KĤraku [Das Fallen gelber Blätter], Tokyo 1999, S. 227. 47 | Ebd., S. 262.

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gemeiner und egoistischer, besonders seiner Schwiegertochter Fukiko gegenüber. Er macht ihr gegenüber sogar obszöne Andeutungen und belästigt sie, die ihn pflegt. Tomoaki versucht, seine Frau zu beschützen und ihn zurechtzuweisen, was aber keine große Wirkung hat. Man habe die falsche Vorstellung – so reflektiert er über seinen Vater –, die Menschen würden im Alter wieder zu einem unschuldigen Kind werden. Im alten Japan gab es in der Tat diese Vorstellung: Zum 60. Geburtstag feiert man heute noch das kanreki-Fest, bei dem man früher dem zu Feiernden symbolisch ein rotes Schürzchen umgehängt hat (kanreki bedeutet: Zurückkehren zum Beginn des alten chinesischen Tierkreiskalenders). Aber wenn Tomoaki seinen alten Vater beobachtet, besteht der für ihn nur aus »Geldgier und Ignoranz, Erotik und Unschuldsmiene, Vorsicht und Misstrauen, Unschuld und Scheußlichkeit, Lächerlichkeit und Unheimlichkeit in seinem verfallenden Körper«.48 Tomoaki benutzt für seinen Vater den Spitznamen »altes Monster« [rōkai-san], als wohnte bei ihm ein solches altes Monster. Gerade bei diesem alten Mann wird das Thema der Erotik im Alter behandelt. Er lernt bei einem Aufenthalt in einem Altenheim eine 80-jährige Frau kennen, die ihm später immer wieder schreibt und ihn anruft. Diese Liebe wird von der Familie abgelehnt. Fukiko, die sich mit seiner verstorbenen Frau identifiziert, verabscheut ihn, weil diese noch nicht einmal ein Jahr tot ist. Tomoaki ist gespalten. Einerseits denkt er mit Staunen und halber Bewunderung, dass sein Vater mit über neunzig Jahren noch die Energie hat, jemanden zu lieben, und möchte ihn unterstützen, andererseits empfindet auch er Abscheu vor ihm. Darin wird die Problematik der Pflege durch Familienmitglieder deutlich, da Erotik und Sexualität alter Menschen oft gerade von den Familienmitgliedern, besonders von der Kindergeneration, abgelehnt werden. Der Ich-Erzähler Tomoaki, der schon in seiner Jugend die Lebensweise des Vaters abgelehnt und sich von ihm gelöst hatte, denkt nun, dass die Ehe seiner Eltern nicht nur für seine Mutter, sondern auch für seinen Vater nicht leicht gewesen sein muss, da dieser sich jetzt im hohen Alter mit einer ebenfalls alten Frau besser verstehen und mit ihr sein Hobby, Kurzgedichte (Haiku) zu schreiben, teilen kann. Während dieser Vater, wie auch die alten Männer in den anderen behandelten Romanen und Erzählungen, auch vor der Pflegephase als schwierig charakterisiert wird, werden die alten Frauen, die gepflegt werden, als dankbar, anpassungsfähig und kooperativ dargestellt. In den Erzählungen von Aoyama wird Kyōko immer – abgesehen von der frühen Phase der Krankheit – als ruhig, sanft und sogar als anhänglich beschrieben. Diese Verhaltensweise könnte aber aus ihrer Angst und Einsamkeit herrühren und ein Schutzmechanismus sein, damit sie nicht von ihrem Mann allein gelassen wird. Deshalb betont sie auch in ihrer Krankheit, dass er für sie die wichtigste Person und wie nett er zu ihr sei. Die alte Ehefrau in den Erzählungen von Kō Haruto will auch in ihrem kranken Zustand immer noch für ihn sorgen und kocht mitten in der Nacht, bis sie ihn am Ende nicht mehr erkennt. 48 | Ebd., S. 361.

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In der zweiten Erzählung fragt sie sogar voller Schuld- und Schamgefühl, durch welche Schicksalsfügung gerade er sich um sie kümmern müsse, und entschuldigt sich dafür. Ihre Frage: »Warum Du?« ist auch der Titel dieser Erzählung. Und die alte Frau Satō Kinu in dem zuletzt behandelten Roman Kōraku wird durchgehend als eine freundliche Person dargestellt, abgesehen von ihrer Abneigung und Aggression ihrem alten Ehemann gegenüber in ihrer Krankheit. Als sie pflegebedürftig wird, versucht sie, für ihre Schwiegertochter die Belastung so gering wie möglich zu halten. Sie wird eine »liebenswerte Oma« – ein Topos in Japan, in dem man alte Menschen quasi wie Kinder (zum Kindsein zurückgekehrt) betrachtet und auch so behandelt. Sie nennt ihre Schwiegertochter Fukiko mit Respekt und Dankbarkeit, aber auch nicht ohne eine gewisse Ironie »Frau Dr. Fukiko« [Fukikosensei], da sie sie wie eine Ärztin pflegt und sich um sie kümmert, sie aber auch in ihrer fürsorglichen Art unbewusst bevormundet. Am Ende versucht sie, durch Essensverweigerung zu sterben, weil ihr klar geworden ist, dass sie nicht mehr gesund werden kann. Sie ist keineswegs nur eine hilflose alte Frau wie ein Kind, sondern sie hat einen klaren Verstand und eine starke Entscheidungskraft. Dass sie aus eigenem Willen stirbt, wird im Roman sehr positiv beschrieben und sogar vom Ich-Erzähler als vorbildhaft für sich selbst gesehen. Sie zeigt in dieser Weise noch im Alter und in der Krankheit ihre Würde und Willensstärke. Aber es stellt sich auch die Frage, ob es für sie wirklich keinen anderen Ausweg mehr gegeben hat oder ob es nicht vielmehr daran lag, dass sie nicht mehr der Familie zur Last fallen wollte. Als es ihr nach zwei Stürzen und Krankenhausaufenthalten nicht gut geht, versucht sie immer wieder, ihren Mann, den sie nicht liebt, zu erwürgen. Der Ich-Erzähler denkt zuerst, sie sei verrückt geworden. Er gibt ihr ein Schlafmittel und bindet ihre Hände ans Bett, nachdem sie eingeschlafen ist. In dieser Situation denkt er heimlich an ihren Tod und daran, dass dies für seine Frau und ihn eine Erleichterung wäre. Kurz darauf beginnt seine Mutter tatsächlich, das Essen nicht mehr zu sich zu nehmen. Sie dankt ihrer Schwiegertochter Fukiko für das Essen, ohne es anzurühren. Daraufhin verstehen die Eheleute ihre Absicht, in diesem Zustand nicht länger leben zu wollen. Ihr Tod bleibt insofern ambivalent, als er zwar die eigene Entscheidung der alten Frau war, sie andererseits aber durch die für die Familie fast untragbar gewordene Situation dazu gedrängt worden sein könnte. Zwischen einer möglichen Reaktion auf die ausweglos erscheinende Situation für die Familie und der eigenen Entscheidung der alten Frau, ihre Würde zu wahren, bleibt die Beurteilung ihres Todes in der Schwebe.

H AMANAK A A KIS K RIMINALROMAN L OST C ARE Die schwierige Situation der Pflege durch Familienmitglieder thematisiert auch der 2013 erschienene Kriminalroman Lost Care von Hamanaka Aki. In diesem Roman wird die Pflegesituation in verschiedenen Zusammenhängen umfassend thematisiert. Der Protagonist Ōtomo Hideki, ein Staatsanwalt, kann mit den fi-

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nanziellen Mitteln der Familie seinen alten Vater in das Luxuspflegeheim »Forest Garden« einliefern, an dem sein Studienfreund beteiligt ist, der das Leben darin als »wie im Himmel« empfiehlt. Das Motto des Heims stammt aus der Bibel: »Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.« (Mt 22, 36-40). Der Roman beginnt mit der Gerichtsszene, in der einem Serienmörder, der im Text immer nur »Er« genannt wird, das Todesurteil verkündet wird – in Japan gibt es noch die Todesstrafe für besonders schwere Verbrechen. Haneda Yōko, deren an Demenz erkrankte Mutter von ihm getötet wurde, beobachtet als Nebenklägerin die Szene. Von ihrem gewalttätigen Mann geschieden lebte sie mit ihrem sechsjährigen Sohn wieder bei ihrer Mutter und pflegte diese zu Hause. Die Pflege ging über ihre Kräfte, weil ihre Mutter sie nicht mehr erkannte und immer wieder in Panik geriet. Alles deutete auf eine Katastrophe und auf eine Familientragödie hin. Als Haneda eines Tages nach der Arbeit spät in der Nacht zurückkam, lag ihre Mutter tot in ihrem Bett, an das sie angebunden war. In jedem Kapitel des Romans wird die Geschichte einer Person aus deren eigener Perspektive erzählt, darunter Kapitel, in denen auch »Er«, der Mörder, seine Geschichte erzählt. Der Pfleger Shiba Munenori arbeitet bei dem Pflegeunternehmen »Forest« und fährt im Rahmen der ambulanten Pflege mit Kolleginnen und Kollegen in einem Spezialwagen zum Badedienst für Patienten. Sein eigener Vater, bei dem sich nach einer Operation die Demenz-Krankheit verschlechterte und der nach vier Jahren intensiver Pflege durch seinen Sohn verstarb, war auch ein schwerer Pflegefall. Im Roman werden Menschen in verschiedenen Lebenslagen und Situationen dargestellt und dabei wird die Pflegeproblematik eingehend thematisiert, auch Themen wie das Pflegeversicherungssystem, Pflegeunternehmen, das Verhalten einzelner Pflegerinnen und Pfleger, verbrecherische Geschäfte und Betrug an alten Menschen. Das große Pflegeunternehmen »Forest« gerät durch finanzielle Unregelmäßigkeiten in die Kritik und wird am Ende aufgelöst. Der Staatsanwalt Ōtomo wird zufällig durch einen anderen Fall auf die Daten dieses Pflegeunternehmens aufmerksam und merkt, dass im Bereich eines bestimmten Pflegezentrums eine besonders hohe Sterblichkeitsrate bei den gepflegten Menschen aufgetreten ist. Durch seine Nachforschungen stößt er auf einen Angestellten des Unternehmens, in dessen freier Zeit besonders viele Pflegepatienten starben. So entlarvt er den tatsächlichen Mörder, den Pfleger Shiba Munenori, der bereits 42 alte Menschen, die besonders schwere Pflegefälle waren, mit einer Giftspritze getötet hat. Diese Mordfälle wurden aber nicht bemerkt. Shiba, der bei der Befragung bereitwillig seine Taten gesteht und keine Reue zeigt, beschäftigt Ōtomo sehr. Der Staatsanwalt, der Christ ist und immer an das Gute im Menschen glaubt, gerät durch Shiba in Zweifel und versucht, dessen wahre Absicht zu verstehen. Shiba ist nämlich überzeugt, dass er durch seine Tötungen, die er als »Pflege des Verlusts« bezeichnet, den alten Menschen und auch deren Familienmitgliedern, die sehr unter der Pflegesituation gelitten hatten, nur ge-

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holfen habe.49 Es geht dann um die Auseinandersetzung Ōtomos mit Shiba, der sein Töten nicht als Verbrechen versteht. Shiba erklärt, warum er den Mord an seinem eigenen Vater – seinen ersten Mord – nicht als Verbrechen betrachtet. Sein Vater war nach der Operation ein schwerer Pflegefall und aggressiv geworden. Shiba konnte wegen der Pflege nicht mehr arbeiten und stand kurz vor dem Verhungern. Als er um Sozialhilfe bat, wurde ihm gesagt, er könne und solle doch arbeiten. Da merkte er, dass es »in dieser reichen Gesellschaft ein Loch gibt und dass man, einmal hineingefallen, nie wieder heraus kommen kann«. 50 Auf den Vorwurf von Ōtomo hin sagt Shiba, dass er natürlich auch von der Pflege befreit werden wollte, dass aber sein Vater sich in einem klaren Moment gewünscht habe, von ihm getötet zu werden. Als ich ihm antwortete: Ich habe Dich verstanden und werde Dich töten, sagte mein Vater zufrieden lächelnd: ›Danke. Ich bin nicht mehr klar im Kopf … möchte Dir deshalb sagen, wenn ich es noch sagen kann: Dass Du da warst, hat mich glücklich gemacht. Danke, dass Du mein Sohn warst.‹ Ich kann mich an jedes Wort von ihm erinnern. Dann habe ich gemerkt, dass der Mensch noch Mensch ist, auch wenn er, alt und körperlich behindert, nicht mehr selbständig ist und sein Selbst durch Demenz zerstört wird, ein Mensch, der sich mal freut und mal traurig ist, zwischen Glück und Unglück hin- und herwandert. Und wenn man ein Mensch ist, dann gibt es eine Würde, die geschützt werden muss. Wenn man in einen Zustand geraten ist, in dem durch das weitere Leben die Würde zerstört wird, dann soll diesem Menschen der Tod gegeben werden. 51

Shiba, der wegen der vier Jahre langen Pflege seines alten Vaters mit seinen 31 Jahren wie ein alter Mann aussieht, sagt auf Ōtomos Frage, warum er nicht hier aufgehört habe mit dem Morden, er habe nur das getan, was er selbst sich gewünscht hätte, dass jemand anderes es für ihn getan hätte, und das wollte er fortsetzen. Ōtomo fällt nun ein, dass das, was Shiba sagt, in einem verkehrten Sinn mit dem christlichen Grundsatz übereinstimmt: »Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.« Er kämpft nicht nur mit Shiba, sondern auch mit seinem eigenen Gewissen und sagt: »Nein, Dein Vater hat sich nicht den Tod gewünscht, sondern nur auf das Leben verzichtet«.52 Shiba antwortet, dass, wenn der Tod keine Rettung sei, sondern ein Verzicht auf das Leben, dann habe die Gesellschaft diese Situation geschaffen, in der es besser ist, auf das Leben zu verzichten. Der »gute Mensch« Ōtomo, dem Shiba vorwirft, er sei ein Mensch in 49 | Der Titel des Buchs Lost Care bezieht sich auf die Erklärung Shibas, dass er durch die Tötung der Pflegepatienten sie selbst und ihre Familien »gerettet« habe. Was er getan habe, sei »Pflege« gewesen, »Pflege des Verlusts« [»sĤshitsu no kaigo«]. Aki Hamanaka: Lost Care, Tokyo 2013, S. 253. 50 | Ebd., S. 270. 51 | Ebd., S. 273. 52 | Ebd., S. 277.

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der »Sicherheitszone« und könne ihn nicht wirklich verstehen, fühlt sich in diesem Gespräch in der Defensive, weil er mit seiner christlich-moralischen Lebensanschauung und Rhetorik Shiba nicht überzeugen kann und vor dessen Logik machtlos ist.53 Später leuchtet ihm ein, dass Shiba durch seine Taten, wie er sagte, nicht nur leidenden Menschen in der Pflegesituation helfen wollte, sondern vor allem erreichen wollte, dass in der Gesellschaft über seine Geschichte diskutiert wird, damit für die Pflege viel mehr Hilfe und Unterstützung geleistet wird und die bestehende Situation für die Menschen verbessert werden kann.

S CHLUSS In der Form eines Kriminalromans wird in diesem Roman die Pflegesituation, in der es auch um den Tod geht, in einer zugespitzten Weise thematisiert. Während die alte Frau Satō Kinu im Roman von Sae in einer für sie ausweglosen Situation den Weg des Selbst-Sterbens wählt, kommt es hier zu Tötungen. Der Pfleger Shiba hat zuerst aus Liebe seinen Vater und später als Pfleger andere Pflegebedürftige aus Mitleid getötet. Auch in dem vielfach preisgekrönten Film Liebe des Regisseurs Michael Haneke aus dem Jahr 2012 tötet der Protagonist seine Frau – aus ›Liebe‹? Da die Frau nicht mehr ihren Willen äußern kann, kann man nur vermuten, dass ihre Situation für sie unerträglich geworden ist und sie nicht mehr weiterleben will; denn sie wehrt den Versuch ihres Mannes, ihr zu trinken zu geben, ab. Es ist andererseits offensichtlich, dass auch der alte Ehemann an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen ist, trotz der professionellen Hilfe durch Pflegerinnen. Er will seine Frau nicht in eine Pflegeeinrichtung geben, sondern sie selbst pflegen, merkt aber, dass er dies nicht mehr kann. Wie die Tochter fragt man sich als Zuschauer, ob und warum es keine andere Möglichkeit gibt für diese beiden Menschen in ihrer verzweifelten Situation. Wenn es in einer solchen Situation zur Tötung kommt, könnte man dies als eine letzte Tat der Liebe verstehen. Aber man fragt sich trotzdem, warum es keinen anderen Ausweg gibt. Das Töten – abgesehen von den Fällen, in denen die leidende Person selbst ausdrücklich den Tod will – darf nicht geschehen, schon gar nicht im Namen der Liebe. Damit die zu pflegenden Menschen und die pflegenden Angehörigen auch in schwierigsten Pflegesituationen ihre Würde bewahren können, muss ein gemeinschaftliches Unterstützungsnetz aufgebaut werden, das verhindert, dass einzelne Menschen wie die alte Frau Satō Kinu durch die Ausweglosigkeit ihrer Situation den Tod wählen müssen. Zu diesem quasi Selbstmord, der in dem Roman von Sae mit viel Respekt und Trauer beschrieben wird, äußert die Soziologin Ueno Chizuko ihre Skepsis und zieht sogar eine Parallele zu der alten Hauptfigur Orin in der im Jahr 1956 erschienenen Erzählung Narayama bushikō [Die Ballade von

53 | Ebd., S. 280f.

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Narayama] des Schriftstellers Fukazawa Shichirō. 54 Darin wird die alte Sage thematisiert, in der in einem armen Dorf alte Menschen mit 70 Jahren aus Armutsgründen auf einem Berg ausgesetzt werden.55 Die Hauptfigur Orin ist eine mutige entschlossene Frau, die mit 69 Jahren für diesen Tag alles vorbereitet hat und von sich aus ihren Sohn drängt, sie auf den Berg zu bringen. Ueno fragt, ob die in Saes Roman positiv dargestellte Selbsttötung Kinus nicht dazu führen könnte, alte Menschen zu einer »tapferen […] Selbsttötung« [keppekina jishi e no susume] 56 zu überreden. In diesem Zusammenhang zitiert sie eine Aussage der Schriftstellerin Ariyoshi Sawako in einem Interview mit dem Literaturkritiker Hirano Ken. Während der damals 64-jährige Hirano betont, dass er im dementen Zustand nicht weiter leben möchte, sagt Ariyoshi, die selbst in ihrem Roman am Beispiel des Protagonisten Shigezō die Demenz thematisiert hat: »Aber ich will weiterleben, auch wenn ich ganz alt und ›verkommen‹ bin. Und auch wenn ich dement bin und der Umgebung zur Last falle, will ich weiterleben«. 57 Ariyoshi selbst starb mit nur 53 Jahren, und deshalb können wir nicht erfahren, was sie heute dazu sagen würde. Für die Soziologin Ueno ist es eine zukünftige Aufgabe unserer Gesellschaft, dass alte Menschen das Leben selbst, wie es auch aussehen mag, als »Arbeit« betrachten und so als glücklich empfinden können.58 Das ist aber nur möglich in einer Gesellschaft, in der gegenseitige Fürsorge, Unterstützung und Gemeinschaftlichkeit ein stärkeres Gewicht bekommen. Dafür muss vor allem die Geschlechterungleichheit und die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung beseitigt werden: Auch Männer müssen Beziehungs- und Pflegearbeit – von der Kinderpflege und -erziehung bis zur Pflege alter Menschen – übernehmen können, eine Arbeit, die ihnen nicht nur praktisch schwerfällt, sondern die auch mit ihrem bisherigen männlichen Selbstbild schwer vereinbar ist. Es ist eine ›konstruierte Inkompetenz‹, die dieser Unvereinbarkeit zugrunde liegt. Zu einer nachhaltigen Verbesserung der Pflegesituation sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegenden kann es nur durch eine »Feminisierung der Gesellschaft« insgesamt kommen. Wenn auch Männer das Alter und die Pflege als Herausforderung und Aufgabe annehmen, kann für sie darin die Chance liegen, ihr bisheriges männliches Selbstbild zu verändern. Durch die 54 | Vgl. Chizuko Ueno: RĤjin kaigo bungaku no tanjĤ [Die Entstehung der Pflegeliteratur], in: dies.: Ueno Chizuko ga bungaku o shakaigaku-suru [Ueno Chizuko analysiert Literatur soziologisch], Tokyo 2003, S. 65-113, hier S. 110ff. 55 | Es geht dabei um eine Überlieferung aus dem alten Japan, die sogenannte ubasute (Aussetzung von alten Menschen), die nach dem Ethnologen Yanagita Kunio ihren Ursprung in Indien in einem alten buddhistischen Text hat; sie wird allerdings häufig erzählt als eine Geschichte, in der der alte Mensch, oft ist es die Mutter, gerettet wird, weil man merkt, dass ihre Altersweisheit hilft, schwierige Probleme zu lösen. 56 | Ueno: RĤjin kaigo bungaku no tanjĤ [Die Entstehung der Pflegeliteratur], S. 111. 57 | Sawako Ariyoshi, Ken Hirano: Taidan »Oi« ni tsuite kangaeru, Tokyo 1972. 58 | Ueno: RĤjin kaigo bungaku no tanjĤ [Die Entstehung der Pflegeliteratur], S. 112f.

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Angleichung der Geschlechter können dann Männer wie Frauen an einem umfassenden Netzwerk gegenseitiger Fürsorge partizipieren.59 Die Überwindung der Geschlechterungleichheit ist also ein wichtiger Schlüssel zur Verbesserung der Pflegesituation. Gerade die Pflegesituation, wie sie in den behandelten literarischen Werken in ihrer Komplexität und Ambivalenz dargestellt wird, kann auf das verweisen, was moderne Gesellschaften wie die japanische und die deutsche zur Lösung ihrer sozialen Probleme brauchen: eine Feminisierung der Gesellschaft, in der jeder Pflegearbeit übernehmen kann und in einem umfassenden gesellschaftlichen Netzwerk die gegenseitige Fürsorge möglich wird, unabhängig von der Familiensituation und der Geschlechtszugehörigkeit. In einer solchen Gesellschaft muss sich niemand zur Selbsttötung oder zur Tötung einer pflegebedürftigen Person gezwungen sehen.

L ITER ATUR Primärtexte Aoyama, Kōji: Wagimoko kanashi [Trauer um meine Frau], Tokyo 2006. Ariyoshi, Sawako: Kōkotsu no hito [Der Mann in Ekstase], Tokyo 2012 [1972]. Hamanaka, Aki: Lost Care, Tokyo 2013. Haneke, Michael: Liebe. Das Buch, München 2012. Kō, Haruto: Tenjō kara furu kanashī oto [Das traurige Warnsignal von der Decke], in: ders.: Ichijō no hikari; Tenjō kara furu kanashī oto [Ein Lichtstrahl; Das traurige Warnsignal von der Decke], Tokyo 2009 [1986], S. 103-151. Kō, Haruto: Donna go-en de [Warum Du?], in: ders.: Ichijō no hikari; Tenjō kara furu kanashī oto [Ein Lichtstrahl; Das traurige Warnsignal von der Decke], Tokyo 2009 [1986], S. 153-184. Kô, Haruto: Sō kamo shirenai [Das könnte sein], in: ders.: Ichijō no hikari; Tenjō kara furu kanashī oto [Ein Lichtstrahl; Das traurige Warnsignal von der Decke], Tokyo 2009 [1986], S. 185-220. Sae, Shūichi: Kōraku [Das Fallen gelber Blätter], Tokyo 1999 [1995].

Sekundärtexte Ariyoshi, Sawako; Hirano, Ken: Taidan. »Oi« ni tsuite kangaeru [Ein Dialog. Nachdenken über das Alter], Tokyo 1972.

59 | Nancy Frazer schlägt ein neues Bürgermodell vor, nach dem jeder die Pflegerolle als universaler »Caregiver« übernehmen sollte, und spricht von einer »Caregiver Parity« (Nancy Frazer: Justice Interruptus: Critical Reflections on the »Postsocialist« Condition, New York 1997).

Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwar tsliteratur

Backes, Gertrud M.: Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 3 2010, S. 454-460. Frazer, Nancy: Justice Interruptus: Critical Reflections on the »Postsocialist« Condition, New York 1997. Gebhardt, Lisette: Age and Ageing in Contemporary Japanese Literature, in: Florian Coulmas u.a. (Hg.): The Demographic Challenge: A Handbook About Japan, Leiden/Boston 2008, S. 491-511. Hartung, Heike: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 7-18. Kasuga, Kisuyo: Kaigo mondai no shakaigaku [Soziologie der Pflegeproblematik], Tokyo 2001. Kunow, Rüdiger: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 21-43. Lehr, Ursula: Psychologie des Alterns, 10., korr. Aufl. Wiebelsheim 2000. Mae, Michiko: Zur Entstehung einer »Age-free«-Gesellschaft: Herausforderungen durch neue Altersbilder in Japan, in: Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Begriffe des Alter(n)s, Bielefeld 2014 (in Vorbereitung). Oesterreich, Detlef; Schulze, Eva: Frauen und Männer im Alter. Fakten und Empfehlungen zur Gleichstellung, Berlin 2011. Rückert, Willi: Von Mensch zu Mensch. Hilfe und Pflege im Alter, in: Annette Niederfranke, Gerhard Naegele, Eckhart Frahm (Hg.): Funkkolleg Altern 2: Lebenslagen und Lebenswelten, soziale Sicherung und Altenpolitik, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 399-433. Saitō, Mao: Otoko ga kaigo-suru to iu koto. Kazoku, kea, jendā no intāfeisu [Pflege durch Männer. Die Schnittstelle von Familie, Pflege und Gender], in: Ritsumeikan Sangyōshakai ronshū 45 (2009) H. 1, S. 171-187. Sasaki, Akiko: ›Kioku‹ o kaku otoko-tachi. Aoyama Kôji to Kō Haruto no rôrôkaigo-shôsetsu [Männer, die ihre ›Erinnerung‹ schreiben. Literarische Werke über die Altenpflege durch alte Menschen von Aoyama Kōji und Kō Haruto], in: Miyuki Yonemura, Akiko Sasaki (Hg.): ›Kaigoshōsetsu‹ no fūkei. Kōreishakai to bungaku. [Die Landschaft der ›Pflegeliteratur‹. Überalterungsgesellschaft und Literatur], Tokyo 2008, S. 31-67. Suzuki, Akira: Rōjin-bungakuron. Sensō, seiji, sei o megutte [Über die Altersliteratur. Krieg, Politik und Sexualität], Tokyo 2011. Ueno, Chizuko: Rōjin kaigo bungaku no tanjō [Die Entstehung der Pflegeliteratur], in: dies.: Ueno Chizuko ga bungaku o shakaigaku-suru [Ueno Chizuko analysiert Literatur soziologisch], Tokyo 2003, S. 65-113. Yonemura, Miyuki: Kōreishakai no ›kaishaku‹ o kaeru. Ariyoshi Sawako »Kōkotsu no hito« to ›genjitsu‹ no enshutsu [Die ›Interpretation‹ der alternden Gesell-

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schaft verändern. Ariyoshi Sawakos »Kōkotsu no hito« und die Dramaturgie der ›Realität‹, in: Miyuki Yonemura, Akiko Sasaki (Hg.): ›Kaigoshōsetsu‹ no fūkei. Kōreishakai to bungaku. [Die Landschaft der ›Pflegeliteratur‹. Überalterungsgesellschaft und Literatur], Tokyo 2008, S. 117-154. Yonemura, Miyuki; Sasaki, Akiko (Hg.): ›Kaigoshōsetsu‹ no fūkei. Kōreishakai to bungaku. [Die Landschaft der ›Pflegeliteratur‹. Überalterungsgesellschaft und Literatur], Tokyo 2008.

I NTERNE TQUELLEN Heisei 24-nendo ban Kōreishakai hakusho [Weißbuch zur Überalterungsgesellschaft 2012], http://www8.cao.go.jp/kourei/whitepaper/w-2012/zenbun/ 24pdf_index.html [Zugriff: 09.05.2013]. Heisei 23-nendo Kōreisha gyakutai no bōshi, kōreisha no yōgosha ni tsisuru shientō ni kansuru hōritsu ni motozuku taiōjyōkyōtō ni kansuru chōsakekka [Bericht des Gesundheits- und Arbeitministeriums zu Untersuchungsergebnissen über Misshandlungen alter Menschen 2011], www.mhlw.go.jp/stf/ houdou/2r9852000002rd8k-att/2r9852000002rda1.pdf [Zugriff: 09.05.2013].

Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Jürg Schubigers Haller und Helen Henriette Herwig

D EMOGR APHISCHER W ANDEL UND D EMENZ Zu wenige Kinder auf der einen Seite, ein dramatisch schnell wachsender Bevölkerungsanteil alter Menschen auf der anderen, das ist eine der großen Herausforderungen der Zukunft.1 Sie betrifft zunächst die hoch entwickelten Industriegesellschaften – Deutschland und Japan in besonderem Maße –, bald schon die Weltgesellschaft. In einer ersten Phase hat die öffentliche Diskussion sich auf die Überforderung der Sozialversicherungssysteme konzentriert. Inzwischen sieht man deutlicher, dass der demographische Wandel in alle Bereiche des privaten und gesellschaftlichen Lebens hineinwirken wird. Eines der großen Probleme der Zukunft ist die Zunahme demenzieller Erkrankungen, unter ihnen besonders die der Alzheimer-Krankheit.2 Diese von Alois Alzheimer 1906 auf einer psychiatrischen Tagung in Tübingen erstmals vorgestellte Krankheit3 ist eine neurodegenerative Erkrankung des Gehirns, die vermutlich durch ein im Gehirn auftretendes Eiweiß ausgelöst wird, das Amyloid-`-Protein. »Kleine niedermolekulare Aggregate dieses Proteins« richten »erste Schäden an den Synapsen der Nervenzellen« an und verhindern so die 1 | Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner: Vorwort, in: dies. (Hg.): Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin/Heidelberg 2008, S. 1-8, hier S. 5. 2 | Vgl. Michael Jürgs: Alzheimer. Spurensuche im Niemandsland, München 2006, und Jesse F. Ballenger: Self, Senility, and Alzheimer’s Disease in Modern America: A History, Baltimore 2006. 3 | Vgl. die erste schriftliche Darstellung von Alois Alzheimer: Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und Psychisch-Gerichtliche Medizin 64 (1907) H. 1, S. 146-148.

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»Weiterleitung der elektrischen Signale«; »große hochmolekulare Aggregate lagern sich im Gehirn ab und sind Auslöser u.a. von lokalen Entzündungen im Gehirn und von oxidativem Stress«.4 Oxidierung führt zu Verklumpungen von Eiweißmolekülen, die zusammen mit den Proteinaggregaten das Überleben der Zellen gefährden. Ob ein Patient an Alzheimer oder an einer anderen Form von Demenz erkrankt ist, ließ sich bis vor kurzem erst bei der Autopsie feststellen. Inzwischen führt die Verbindung von neuen bildgebenden Verfahren mit Liquordiagnostik schon in Frühphasen der Erkrankung zu differentialdiagnostischen Befunden.5 Nur bei Alzheimer zeigen sich die spezifischen Ablagerungen im Gehirn, die sogenannten Amyloid-Plaques. Trotz intensiver Forschung seit über 100 Jahren ist die genaue Ursache der Krankheit bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Es gibt keine kausale Therapie. Die Krankheit verläuft schleichend, über viele Jahre, fünf bis zwölf, und endet zwangsläufig letal. Sie erfasst immer größere Teile des Gehirns, »erst das Zwischenhirn, wo das Gedächtnis sitzt, […] dann das Großhirn, das die Bewegungen lenkt, schließlich das Stammhirn, das den Atem, den Hunger, den Schlaf steuert«.6 Dieser Prozess zerstört langsam alle kognitiven Fähigkeiten des Menschen: das Gedächtnis, die Orientierung in Raum und Zeit, die Kombinatorik, das Urteilsvermögen, die erlernten Fertigkeiten, die Sprache. »Am Ende ist der Kranke sich selbst abhanden gekommen und weiß nicht mehr, wer er ist.« 7 Denn ohne Gedächtnis gibt es keine Identität. In einer »auf Autonomie und Selbstbestimmung bedachten Kultur« stellt das einen gravierenden »Angriff auf das Selbstverständnis des Menschen« dar.8 Sie muss lernen, den Menschen nicht mehr nur über das cartesianische cogito ergo sum zu definieren. Wie die meisten Formen der Demenz gehört die Alzheimer-Krankheit zu den negativen Folgen der Langlebigkeit. In der Regel tritt sie erst jenseits der 60 auf. Mit über 70 steigt das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, rapide an, bei den über 90-Jährigen liegt es bei 35 Prozent.9 40 bis 60 Prozent der Bewohner von 4 | Christian Behl, Bernd Moosmann: Molekulare Mechanismen des Alterns. Über das Altern der Zellen und den Einfluss von oxidativem Stress auf den Alternsprozess, in: Ursula M. Staudinger, Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)?, S. 9-32, hier S. 29. 5 | Johannes Schröder u.a.: Früherkennung und Diagnostik demenzieller Erkrankungen, in: Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 297-315, hier S. 311f. 6 | Urs Faes: Er ist nicht mehr da, wenn er da ist, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz, München/Wien 2006, S. 23-46, hier S. 33. 7 | Klara Obermüller: Das schleichende Vergessen, in: dies. (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz, S. 5-13, hier S. 8. 8 | Verena Wetzstein: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten. Alzheimer-Demenz und Angehörige bei Annette Pehnt und Katharina Hacker, in: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.): Jahrbuch Literatur und Medizin, Bd. 4, Heidelberg 2010, S. 169-184, hier S. 171. 9 | Schröder u.a.: Früherkennung und Diagnostik, S. 297.

Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwar t

»Alten- und Pflegeheimen in Deutschland leiden Schätzungen zufolge« an Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz.10 Nach Herz-Kreislauf-Problemen, Krebs und Schlaganfall ist Alzheimer in der westlichen Welt inzwischen die vierthäufigste Todesursache. Weit über eine Millionen Menschen sind derzeit allein in Deutschland an Alzheimer erkrankt. Bis zum Jahr 2030 wird sich die Zahl Berechnungen zufolge vermutlich verdoppeln.11 Auch lebenslange geistige Arbeit schützt nicht wirklich vor dieser neurodegenerativen Erkrankung des Gehirns.12 Sie ist eine gnadenlose Gleichmacherin. Das zeigt beispielsweise der in Deutschland populär gewordene Fall von Walter Jens, aber auch der des niederländischen Wissenschaftlers René van Neer.13 Der Hauptrisikofaktor ist das Alter.14 In der Endphase der Krankheit werden alle Patienten zu Dauerpflegefällen. Für viele wird damit der Übertritt in eine Pflegeeinrichtung unumgänglich. Denn die veränderten Familienformen und die oft berufsbedingte geographische Mobilität verunmöglichen es häufig, dass eines der Kinder oder ein anderer Angehöriger die Pflege übernimmt.15

10 | Susanne Re, Joachim Wilbers: Versorgung demenzkranker Menschen, in: Andreas Kruse, Mike Martin (Hg.): Enzyklopädie der Gerontologie, Bern u.a. 2004, S. 506-518, hier S. 507. 11 | Wetzstein: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten, S. 170. 12 | Eine »kognitive Reserve« kann den Verlauf der Erkrankung an Alzheimer-Demenz »modifizieren und in Grenzen auch kompensieren«, ein »hohes – lebenslanges – Aktivitätsniveau« senkt das Krankheitsrisiko (Schröder u.a.: Früherkennung und Diagnostik, S. 302), ist aber kein vollständiger Risikoschutz. 13 | Tilman Jens versucht in Demenz. Abschied von meinem Vater (Gütersloh 32009), den Ausbruch der Demenzerkrankung seines Vaters Walter Jens auf das Bekanntwerden von dessen NSDAP-Mitgliedschaft zurückzuführen. Stella Braam überträgt in »Ich habe Alzheimer«. Wie die Krankheit sich anfühlt (übers. v. Verena Kiefer, Stefan Häring, Weinheim/Basel 22007) die Krankheitserfahrungen ihres Vaters René in eine allgemein verständliche Sprache. Im Anhang ihres Buches (ebd., S. 187f.) findet sich sogar ein »Demenzwörterbuch von René van Neer«. In Amerika sorgte das öffentliche Bekenntnis des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan (vgl. Rajendra Kale: Neurodegenerative Disorders. This Major Cause of Chronic Suffering is Reason Enough for a Theme Issue, in: British Medical Journal 323 (2001), S. 879f.), sich wegen seiner Erkrankung an Alzheimer aus der Politik zurückziehen zu müssen, für eine veränderte Wahrnehmung der Alzheimer- Krankheit. 14 | Behl, Moosmann: Molekulare Mechanismen des Alterns, S. 29. 15 | Wie aus dem Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Daten, Fakten, Trends zum demographischen Wandel in Deutschland (Wiesbaden 2008, S. 29f.), hervorgeht, ist die Anzahl der in deutschen Pflegeheimen betreuten Menschen zwischen 1999 und 2008 um ca. 18 Prozent gestiegen, d.h. um 103.000 Personen. Dazu auch: Petra Brunnhuber: Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur, in: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche

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Schon wegen der quantitativen Zunahme alter Menschen wird die Altersdemenz unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten vor große medizinische, soziale und ökonomische Probleme stellen. Immer weniger, teils weit entfernt lebende Junge werden die Vollzeitpflege von immer mehr schwerkranken Alten sicherstellen müssen. Für die Angehörigen ist es ein Abschied in Raten. Mit jedem Tag schwinden mehr Facetten der Persönlichkeit, die sie kannten, geht mehr an geteilter und gemeinsam erinnerbarer Erfahrung verloren, werden die Chancen, an gelebtes Leben anknüpfen zu können, geringer, schwinden die Möglichkeiten der Kommunikation. Sprachliche Äußerungen von Alzheimer-Patienten sind oft von irritierendem Sinn, weil der Bezug zur eigenen und fremden Lebensgeschichte, zum kulturellen Wissen und zu konventionalisierten Situationen und Abläufen nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Ihre Worte, Bilder, Rituale und non-verbalen Ausdrucksweisen müssen wie eine fremde Kultur erforscht und übersetzt werden. Oftmals fehlt der Schlüssel zum Verständnis ganz. Das stellt große Anforderungen an das Einfühlungsvermögen der Bezugspersonen. Sie müssen lernen, zu ertragen, mit falschem Namen angesprochen, mit anderen verwechselt, nicht mehr erkannt zu werden und trotzdem – notfalls auch in einer falschen Rolle – die emotionale Beziehung aufrechtzuerhalten. Denn die emotionale Ansprechbarkeit von Demenz-Patienten bleibt erhalten bis zum Tod. Zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben wie dieser ist aller Sachverstand gefragt, nicht nur der der Wissenschaft, auch – und vielleicht sogar im Besonderen – jener der Literatur. Denn im Gegensatz zur öffentlichen Diskussion, die zwangsläufig von generalisierenden Konzepten des Alters wie »die Rentner«, die »Senioren«, die »neuen Alten« ausgeht16, hat die Literatur die Möglichkeit der Individualisierung.17 Literatur erzählt Geschichte aus der Sicht betroffener Einzelner. In der Einzelbiographie korrespondiert das chronologische Alter häufig nicht mit dem sozialen Alter. Die meisten Menschen fühlen sich subjektiv jünger, als sie sind, und nehmen Zeichen des Altersverfalls vor allem beim anderen wahr. Auch der Verlauf der Alzheimerkrankheit kann individuell höchst unterschiedFamilienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 183-194, hier S. 183, Fußnote 6. 16 | Das Konzept des »Rentners« kam in den 1960er Jahren auf, das der »Senioren« in den 1970ern, das der »Neuen Alten« in den 1980ern. Gerd Göckenjan: Generationsbeziehungen – Diskurskonzepte und Realbeziehungen, in: Volker Schumpelick, Bernhard Vogel (Hg.): Alter als Last und Chance, Freiburg i.Br. u.a. 2005, S. 366-377, hier S. 369; vgl. auch: ders: Altersbilder und die Regulierung der Generationenbeziehungen. Einige systematische Überlegungen, in: Josef Ehmer, Peter Gutschner (Hg.): Das Alter im Spiel der Generationen, Wien u.a. 2000, S. 93-108. 17 | Ohad Parnes u.a. (Demographischer Wandel. Kulturwissenschaftliche Perspektiven zu einer gegenwärtigen Debatte, in: Trajekte 7 (2007) H. 14, S. 32-35, hier: S. 35) sprechen der Literatur sogar die Fähigkeit zu, eine eigene qualitative Demographie- und Alternsforschung zu leisten.

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lich sein. Das gilt auch für den Umgang von Angehörigen mit den Erkrankten. Ob sie die aufwändige Pflege selbst übernehmen oder an professionelle Kräfte delegieren, hängt von unterschiedlichsten ökonomischen, sozialen und emotionalen Faktoren ab. Biographische und literarische Krankheits-Narrative tragen zum besseren Verständnis der Krankheit und ihrer Folgen für den Patienten und sein soziales Umfeld bei, sie sind eine Schule des Fremdverstehens. Als solche erinnern sie die Gesellschaft an – manchmal unbequeme – ethische Handlungsprinzipien wie ihre Fürsorgepflicht für die Kranken, Dementen und Alten.18 Auf gesellschaftliche Veränderungen dieser Art reagiert die Literatur seismographisch. Davon zeugen die Romane und Erzählungen, die in letzter Zeit das Thema der Demenz aufgegriffen haben. Dabei zeigt sich eine signifikante Akzentverschiebung: Stand – wie in Katrin Seebachers Morgen oder Abend (1996) und J. Bernlefs Hersenschimmen (1984, dt.: Hirngespinste, 1986) – »zunächst die Frage nach der Innensicht, nach dem persönlichen Erleben« der Betroffenen im Zentrum, hat sich der Fokus von der »individualethische[n] Frage nach dem Status der Person mit Demenz« heute auf »die sozialethische Frage nach der lebensweltlichen Ausgestaltung der Relationalität, dem Beziehungsleben der Personen« verschoben; der Blick weitet sich »auf den Menschen als Beziehungswesen und die Demenz als Beziehungsgeschehen«.19 Da die wichtigsten Beziehungen oft die zu den eigenen Kindern sind, wird mit der Darstellung der Demenz zugleich auch das Verhältnis der Generationen reflektiert. Beispiele hierfür sind Annette Pehnts Haus der Schildkröten (2006), Katharina Hagenas Der Geschmack von Apfelkernen (2009), Katharina Hackers Die Erdbeeren von Antons Mutter (2010) und Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011). Im Unterschied zur Erinnerungsliteratur des späten 20. Jahrhunderts steht der Generationendiskurs in Deutschland heute nicht mehr vorrangig im Zeichen der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Bemühungen, demenzkranke Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen, stecken allerdings noch in den Anfängen.20

18 | Dazu Eberhard Schockenhoff, Verena Wetzstein: Relationale Anthropologie. Ethische Herausforderungen bei der Betreuung von dementen Menschen, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 38 (2005) H. 4, S. 262-267, und Verena Wetzstein: Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz, Frankfurt a.M. 2005. 19 | Wetzstein: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten, S. 172f. 20 | Eine Dokumentation bietet Demenz Support Stuttgart (Hg.): »Ich spreche für mich selbst«. Menschen mit Demenz melden sich zu Wort, Frankfurt a.M. 2010.

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G ENER ATIONENBEZIEHUNGEN Mit guten Gründen werden Generationenbeziehungen in der Soziologie als Ambivalenzbeziehungen konzeptualisiert.21 Soziologische Konzepte »haben Orientierungsfunktionen für soziale Teilbereiche«, wie medizinische Modelle sind sie nicht die ganze Wahrheit.22 Auch die Rede vom ›Zerfall der Familie‹ stimmt nur zum Teil. Sicher nimmt die Scheidungsrate, die Zahl der unverbindlichen Partnerschaften, der Patchwork-Familien und der Single-Haushalte in den westlichen Industriegesellschaften zu. Damit verringern sich für ältere Menschen die Möglichkeiten häuslicher Pflege durch Angehörige. Heißt das auch, dass uns – wie Frank Schirrmacher behauptet – angesichts der ›Überalterung‹ der Gesellschaft und der damit verbundenen Veränderung der Sozialstrukturen ein ›Krieg der Generationen‹ bevorsteht, ein Kampf um materielle, medizinische und kulturelle Ressourcen von bisher nie gekannter Härte? In gewisser Weise ist der Generationenkrieg der älteste und zugleich modernste aller Kriege. Er ist der älteste, weil er […] biologisch programmiert ist. Er ist der modernste, weil er seit Jahrtausenden in der Menschheit nur als psychologischer Krieg, als Krieg der Worte und Demütigungen, geführt wird. Die Jungen töten die Alten, indem sie die Identität der Alten zerstören. Das geschieht fast ausschließlich mit den Mitteln der Sprache und der Bilder. 23

Nicht nur die Alltagserfahrung, auch die soziologische Generationenforschung und die historische Familienforschung legen die gegenteilige Annahme nahe: Die Beziehungen zwischen den Generationen sind im Verlauf der Geschichte nicht schlechter geworden, sondern besser. Die affektiven Bindungen sind heute enger als früher, die Kontakthäufigkeiten auch bei Wohnentfernung dichter, Konflikte und Solidaritätsleistungen schließen sich in Generationenbeziehungen nicht aus. Wenn Projekte »mit Familienzielen übereinstimmen«, ist die Bereitschaft der Eltern, die Kinder zu unterstützen, hoch; umgekehrt »werden für pflegebedürftige Eltern vielfältige Versorgungsarrangements gefunden, um den Übergang in

21 | Kurt Lüscher: Generationenbeziehungen – Neue Zugänge zu einem alten Thema, in: Kurt Lüscher, Franz Schultheis (Hg.): Generationenbeziehungen in »postmodernen« Gesellschaften, Konstanz 1993, S. 17-47, hier S. 44; vgl. auch: Urie Bronfenbrenner: Generationenbeziehungen in der Ökologie menschlicher Entwicklung, ebd., S. 51-74; Agnès Pitrou: Generationenbeziehungen und familiale Strategien, ebd., S. 75-93, hier S. 82; Martin Kohli, Marc Szydlik: Einleitung, in: dies. (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 7-18. 22 | Göckenjan: Generationsbeziehungen, S. 369. 23 | Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott, München 2004, S. 54.

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Pflegeheime zu vermeiden«.24 Denn diese Lösung ist für beide Seiten oft nur der letzte Ausweg.25 Was leistet in dieser Hinsicht die zeitgenössische Literatur? Hilft sie uns, die Probleme der alternden Gesellschaft frühzeitig zu erkennen, Gefahren in Chancen zu überführen? Welche Bilder alter Menschen, der Lebens- und Kommunikationsformen im Alter, der Altersliebe und der Beziehungen zwischen den Generationen vermittelt sie? Sind die Zeichnungen alter Figuren in der Literatur von Diskursen und Alterstopoi26 oder von Erfahrungen mit Realbeziehungen, die diesen nicht entsprechen müssen, geprägt? Was trägt die Literatur zur Differenzierung von Altersstereotypen und zur Entwicklung neuer Alterskonzepte bei? An Negativ-Szenarien wie Björn Kerns Roman Die Erlöser AG (2007) oder die Dokufiction 2030 – Aufstand der Alten (2007) denke ich jetzt nicht. Gegenstand meiner Untersuchung sind weniger spektakuläre Texte, die beim Einzelfall ansetzen und die Auswirkungen von Altern, Krankheit und Sterben für die Betroffenen, ihre Angehörigen, die Pflegepersonen und -institutionen ausleuchten. Das will ich im Folgenden anhand von zwei Beispielen untersuchen, die der neuen Gattung des Pflegeheimromans zugeordnet werden können: Annette Pehnts Haus der Schildkröten27 und Jürg Schubigers Haller und Helen (2002)28.

D ER P FLEGEHEIMROMAN H AUS DER S CHILDKRÖTEN Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten spielt im Altenpflegeheim. Vier Hauptpersonen stehen im Zentrum: zwei Alte, zwei Junge, Mutter und Tochter, Vater und Sohn. Die Alten, Frau von Kanter und Professor Sander, sind kein Paar. 24 | Göckenjan: Generationsbeziehungen, S. 372. 25 | Eine eindrückliche Schilderung des inneren Kampfes, der dieser Entscheidung vorausgeht, gibt Gabriela Zander-Schneider: Sind Sie meine Tochter? Leben mit meiner alzheimerkranken Mutter, Reinbek b. H. 2006. 26 | In der aktuellen Toposforschung werden nicht mehr nur die »konservativen und statischen Momente der Topik« betont, sondern auch die dynamischen; so rückt der mit Umdeutungen und Neueinschreibungen von Topoi verbundene Prozess des Wissenswandels stärker in den Blick. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Anja Hallacker: Topik: Tradition und Erneuerung, in: Thomas Frank, Ursula Kocher, Ulrike Tarnow (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 15-27, hier: S. 21f. Zum Wandel traditioneller Alterstopoi in der Literatur der Gegenwart vgl. Miriam Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2010. 27 | Annette Pehnt: Haus der Schildkröten. Roman, München/Zürich 22009, im Folgenden zitiert mit der Sigle HdS und Seitenzahl in Klammern. 28 | Jürg Schubiger: Haller und Helen. Roman, Innsbruck 2002, im Folgenden zitiert mit der Sigle HuH und Seitenzahl in Klammern.

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Was sie, als Empfangskomitee neben der Drehtür von Haus Ulmen aufgestellt, verbindet, ist das Warten auf den wöchentlichen Besuch ihrer Kinder. Die Jungen, Regina und Ernst, versuchen vergeblich, ein Paar zu werden, nachdem sie sich »bei der Erleichterungszigarette nach erfüllter Besuchspflicht«29 auf dem Parkplatz von Haus Ulmen kennengelernt haben. Die Alten sind hinfällig. Sie haben keine Zukunft außerhalb des Heimes mehr. Professor Sander ist an Demenz erkrankt, »ein professioneller Denker, dem die Voraussetzungen des Denkens abhanden gekommen sind, ohne dass er selbst es gemerkt hat«.30 Er lebt im subjektiven Wahn, Tag und Nacht an einem gelehrten Werk zu arbeiten, obwohl die Notizen, die er sich dafür macht, nur noch aus Gekritzel bestehen. Er hat zwar noch das Auftreten eines gelehrten Redners, doch die Gebärden sind inhaltsleer, Hohlformen ohne Situationsbezug. Er hält eine Fassade aufrecht, simuliert den Wissenschaftsbetrieb im Altenheim. Die Symptome seiner Erkrankung – Gedächtnisverlust, raum-zeitliche Desorientierung, Wortfindungsprobleme, motorische Unrast, Schreikrämpfe, Agnosie und Apraxie31 – lassen auf eine Erkrankung an Alzheimer schließen. Manchmal erkennt er seinen eigenen Sohn nicht mehr. Lili, die fünfjährige Enkelin, verwechselt er mit Anna, seiner längst verstorbenen Frau. Der geschiedene Sohn Ernst muss seine Lebensprobleme allein verarbeiten und sich bei den Fehlleistungen des Vaters immer wieder sagen: »[…] er kann nichts dafür, er macht das nicht extra, es sind chemische Prozesse, es ist das Gehirn« (HdS 147). Einmal gelingt ihm das nicht und es bricht aus ihm hervor: »Du bist nicht mehr wiederzuerkennen, […] ich kann nicht mehr mit dir reden. Du bist ein Gemüse« (HdS 147), was beim Vater zu Erheiterung, beim Sohn zu Schuldgefühlen und zur sofortigen Zurücknahme des Gesagten führt. Nach Vaterbesuchen wie diesem braucht Ernst den »Gegenzauber« (HdS 151) von Lilis Liebe und löst damit prompt Abwehr und »tödliche[.] Kinder-Sätze«32 wie: »[…] heute muß ich zu meinem Papa« (HdS 43) aus. Gibt es noch Entwicklungsmöglichkeiten für eine Beziehung, wenn der eine den anderen nicht mehr erkennt? Frau von Kanter, früher eine stolze Schönheit, jetzt eine in ihrer Herrschsucht verletzte, scharfsichtige Alte, sitzt – nach einem Schlaganfall gelähmt – im Rollstuhl. Sie kann nicht mehr sprechen, das Gesicht kaum noch zu einem Lächeln 29 | Wolfgang Schneider: Die Heimleitung sieht das gar nicht gern, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 23, 27.01.2007. 30 | Martin Krumbholz: Die Immergleichen, in: Die Zeit. Literatur, September 2006, S. 41f., hier S. 41. 31 | Holger Helbig: Alzheimer-Krankheit, in: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, Sp. 46-50, hier Sp. 47. V. Limmroth, P. M. Faustmann: Alzheimer-Krankheit, in: Pschyrembel Handbuch Therapie, 3, überarb. u. erg. Aufl., Berlin/New York 2005, S. 35f., hier S. 35. K. Schmidtke, M. Hüll: Alzheimer-Demenz, in: Claus-Werner Wallesch, Hans Förstl (Hg.): Demenzen, Stuttgart/New York 2005, S. S. 152174, hier S. 157-164. Re, Wilbers: Versorgung demenzkranker Menschen, S. 507. 32 | Krumbholz: Die Immergleichen, S. 41.

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verziehen. Doch ihr Geist ist wach. Er verfolgt jede Lebensregung ihrer Tochter Regina mit boshaften Kommentaren. Umgekehrt wirkt Reginas Fürsorge, wenn sie der Mutter die Schnabeltasse mit dem Orangensaft zwischen die Lippen presst, wie ein gewaltsamer Übergriff. Das Machtverhältnis zwischen Mutter und Tochter hat sich umgekehrt: Regina, die zeitlebens unter ihrer dominanten Mutter gelitten hat und in einer Art Hassliebe auf sie fixiert geblieben ist, beansprucht jetzt die Deutungshoheit »über die Empfindungen und Wünsche der Mutter«.33 Sie nimmt sich nicht die Zeit, die Mutter wahrzunehmen, ihre Bedürfnisse zu erkunden. Sie hat immer schon vorausverstanden und redet ohne Unterlass über den Kopf der Behinderten hinweg. Deren Wut, Verzweiflung, Menschen- und Gottverlassenheit will sie gar nicht sehen. Ihre Geschenke, das Vogelhäuschen zum Beispiel, zielen an der Mutter vorbei. Mit lauter Geschäftigkeit und unterschwelliger Aggression überspielt sie ihr schlechtes Gewissen darüber, die Mutter ins Pflegeheim abgeschoben zu haben, obwohl sie als alleinstehende Frau ohne weitere Verpflichtungen die Pflege auch selbst hätte übernehmen können. In Wahrheit ist Regina froh, die Wohnung an der Beethovenstraße jetzt für sich allein zu haben. Die Kleider der in Modefragen anspruchsvollen Mutter will sie schon zu deren Lebzeiten verschenken. Im Gegensatz dazu ruft Maik, der sensible Pfleger, der an Silvester festlich gekleideten alten Dame zu: »Frau von Kanter, Sie sehen wunderbar aus.« (HdS 180) Geistiger Verfall auf der einen Seite, körperlicher auf der anderen, das ist die Herausforderung für die Kinder. Was Regina und Ernst verbindet, ist der Fluchtimpuls, die Erleichterung darüber, der bedrückenden Atmosphäre des Altersheims wieder einmal entkommen zu sein. Als sie sich nach dem ersten längeren Gespräch zufällig in der Sauna treffen, nehmen sie eine sexuelle Beziehung zueinander auf, nicht aus Lust, eher aus dem Bedürfnis, sich ihrer Vitalität zu versichern und »die Angst vor dem Alter durch die körperliche Nähe«34 abzuwehren. Doch ein Glücksgefühl will sich nicht einstellen. Der Topos der Liebe, die den Tod überwindet, wird nicht bedient: Die Kinder können dem Einflussbereich der alten Eltern nicht entrinnen. Als Vertreter der mittleren Generation sind sie selbst schon Opfer des beschädigten Lebens. Ernst hat eine gescheiterte Ehe hinter sich und leidet unter der Trennung von seiner Tochter Lili. Regina ist es gar nicht erst geglückt, eine dauerhaftere Beziehung herzustellen, sie lebt das freudlose Leben eines kinderlosen weiblichen Singles jenseits der 40 und kommt sich für eine neue Beziehung zu alt vor. In Fragen des Umgangs mit Kindern ist sie von eingeschränkter Empathiefähigkeit, sonst wüsste sie, dass sie Lili in ihre Liebe zu Ernst integrieren müsste. Der Schatten von Haus Ulmen holt das vergleichsweise junge Paar auch beim Liebesakt ein. Beide nehmen an ihrem Körper und dem des andern vor allem die Alternssymptome wahr. Auch der Malaysia-Urlaub, den sie antreten, um Distanz zwischen sich und Haus Ulmen zu legen, ist vom Sterben der Alten überschat33 | Brunnhuber: Endstation Seniorenheim, S. 188. 34 | Brunnhuber: Endstation Seniorenheim, S. 187.

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tet.35 Die von »Inkontinenz und Spitzendeckchen«36 geprägte Heimatmosphäre, in der mit Weihnachtsliedern, Bastelkreis und Tanzübungen gegen einen Trübsinn angekämpft wird, der dadurch nur größer wird, verfolgt das Paar bis an den Urlaubsort. Das Verdrängte, die Verantwortung für die Zurückgelassenen und das Schuldgefühl, den »Generationenvertrag«37 gebrochen zu haben, stecken im seelischen Reisegepäck. Daran scheitern auch die Gesprächsanläufe, die Ernst immer wieder unternimmt. Die Ferienanlage des Urlaubsparadieses erweist sich als exakte Spiegelung von Haus Ulmen. Hier werden die Jungen von professionellen Kellnern, die ihnen gleichgültig gegenüberstehen, umsorgt wie dort die Alten von ihren Pflegern. Die gekaufte Zuwendung macht nicht glücklich. Im Schildkrötentümpel eines Hindu-Tempels, den er ohne Regina besucht, erlebt Ernst, wie eine alte schrundige Schildkröte, beim Versuch, dem Gewimmel des Tümpels zu entkommen, auf den Rücken fällt, zurücksinkt und langsam verendet, ein symbolischer Spiegel des Leidens seines Vaters. Bei der Rückkehr ins Hotel schweigt er über dieses Erlebnis. Selbst im Tropenparadies, das keinen Herbst und keinen Winter kennt, können Regina und Ernst nicht miteinander reden, nur miteinander schlafen, und weil sie nicht miteinander reden können, bald auch nicht mehr miteinander schlafen. Körpernähe ohne geistig-seelischen Kontakt lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. Ohne den inneren Frieden mit den Eltern fehlt den Jungen eine wichtige Voraussetzung für ihre Bindung. Wenn die Vergangenheit in die Gegenwart nicht integriert werden kann, gibt es für eine Beziehung auch keine Zukunft. Ein Moment der Nähe entsteht nur, als Regina gesteht, dass sie in der Kathedrale von Wells um den Tod ihrer Mutter gebetet hat. Auf die Frage, was sie auf eine einsame Insel mitnehmen würde, hat sie kurz zuvor aber spontan geantwortet: »Meine Mutter« (HdS 102). Braucht Regina den Tod ihrer Mutter, um leben zu können, oder eine andere Art von Beziehung zu ihr? Eine Veränderung der Mutter-Tochter-Beziehung bahnt sich nach der Rückkehr aus Malaysia immerhin an. Als die Mutter – wie zur Strafe für das Verlassen-worden-Sein – einen Anfall simuliert, der den Eindruck erweckt, als sei sie in Lebensgefahr, wendet Regina sich ihr wirklich zu, hält ihre Hände und sagt: »Mama, ich bleibe bei dir« (HdS 145). Und als es gelingt, bei der Betrachtung der Urlaubsfotos einen kurzen Moment der Gemeinsamkeit zu viert zu stiften, in dem Regina beim Blick auf ein Foto des Hotelzimmers gestehen kann: »Und hier haben wir uns geliebt«, ist es der demenzkranke Professor, der die Peinlichkeit 35 | Ulrike Vedder (Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik NF 22 (2012) H. 2, S. 274-289, hier S. 279) hält fest, dass die »zerfallende Selbstgewissheit der Alzheimer-Patienten« in Fällen wie diesem auch die Selbstbestimmtheit der Folgegeneration »kontaminiert«. 36 | Schneider: Die Heimleitung sieht das gar nicht gern. 37 | Vgl. Martin Kohli: Moralökonomie und ›Generationenvertrag‹, in: Max Haller, HansJürgen Hoffmann-Nowottny, Wolfgang Zapf (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 532-555.

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auffängt, indem er hinzufügt: »Gott ist Liebe, […] und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm. I Johannes, 4,16.« (HdS 161) Das Zitat aus dem ersten Johannesbrief, das er noch im Wortlaut kennt, zaubert sogar ein Lächeln auf die Lippen von Frau von Kanter, was Regina ermöglicht, der Mutter den Puderzucker des Weihnachtsstollens »mit überraschender Behutsamkeit« (HdS 165) vom Kinn zu tupfen. Die Jungen brauchen den Segen der Alten auch dann noch, wenn er in formelhafter Sprache vorgebracht und von einem erteilt wird, der dement ist.38 Umgekehrt bleiben die Alten trotz des Abbaus der körperlichen oder geistigen Kräfte auf Formen der Zuwendung angewiesen, die sich nicht in Pflichtbesuchen erschöpfen. Sie nehmen die Steigerung der Lebensqualität, die warmherzige Zuwendung ihnen beschert, durchaus wahr und können im Rahmen der ihnen verbliebenen Möglichkeiten auch auf sie reagieren.39 Die »Altersklage ist regelmäßig ein Stellvertreterdiskurs, der historisch durch die mittlere Generation geführt worden ist«.40 Auch die vergleichsweise junge Autorin Annette Pehnt interessiert sich besonders für die Probleme der von der Hinfälligkeit der Eltern betroffenen mittleren Generation. Für Regina und Ernst stellt sich das große Glück nicht ein. Aber kleine Entwicklungen wie die eben beschriebene sind immerhin möglich. Der Schluss, Reginas allmorgendliche Übelkeit und das Ziehen in ihren Brüsten, legt die Vermutung nahe, dass sie bei einer der Umarmungen von Ernst schwanger geworden ist. Dann wäre dort, wo nichts mehr entsteht, doch etwas entstanden. Dann müssen Regina und Ernst sich zusammenraufen oder eine zweite Wochenend-Vaterschaft installieren, womit die traumatische Erfahrung des Mannes sich wiederholen würde. Wider Erwarten stellt der »Gegenzauber« der Liebe, den Ernst bei seiner Tochter Lili sucht, sich in Haus Ulmen doch noch ein, nicht bei Frau von Kanter, aber bei Frau Hint, einer Frau, die früher Kummerkasten-Tante bei einer Zeitung war, immer allein gelebt und ihre einsamen Kunstreisen als Freiheit von Verantwortung gepriesen hat. Prompt wird sie vor die Heimleitung zitiert: »[…] wir freuen uns natürlich, daß Sie sich so gut eingelebt haben«, aber sie »sollten die Näch38 | In Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (München 2011) führt die Intensivierung der dargestellten Vater-Sohn-Beziehung in einer Weise zur Belebung der sprachlichen Fähigkeiten des dementen Vaters, die vom Sohn als kreativ und nah am poetischen Sprachgebrauch wahrgenommen wird. Vgl. dazu den Beitrag von Maike Dackweiler: Die AlzheimerNarration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil, in diesem Band. 39 | »Das Verhalten von Bezugspersonen kann entscheidend stabilisierend bzw. destabilisierend auf das Befinden des Patienten wirken.« Positiv wirkt sich aus, wenn die Stärken der Kranken von Angehörigen oder Pflegenden erkannt und gezielt gefördert werden. Schröder u.a.: Früherkennung und Diagnostik, S. 312. Vgl. auch Julia Haberstroh u.a.: Evaluation eines Kommunikationstrainings für Altenpfleger in der stationären Betreuung demenzkranker Menschen (Tandem im Pflegeheim), in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 42 (2009) H. 2, S. 108-116. 40 | Göckenjan: Generationsbeziehungen, S. 367.

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te in ihrem eigenen Bett verbringen« (HdS  122f.). Frau Hint hat sich in letzter Zeit etwas zu stark um Herrn Lukan gekümmert, einen vollständig gelähmten Schwerstpflegefall. Sie weicht nicht mehr von seiner Seite, hält ihm ihre Stadtpläne vors Gesicht, raunt ihm ihre Gedanken ins Ohr, feilt ihm die Fingernägel, kontrolliert die Raumluft und die Fernsehprogramme und platziert in seinem Badezimmer ihre Feuchttüchlein neben seinen Windeln. Was sie damit stiftet, ist symbolische Intimität. Neuerdings schläft sie auch in seinem Bett. Wie Regina der Mutter das Hohe C, drängt Frau Hint dem gelähmten Mann ihre Zuneigung fast gewaltsam auf. Und doch ist es nicht dasselbe. Regina überspielt ihr schlechtes Gewissen, Frau Hint sucht im Alter die erotische Nähe, die sie ein Leben lang vermisst hat.41 Sie stiftet Gemeinsamkeit mit einem Mann, der sich nicht mehr dazu verhalten kann. Von seinen schönen Fingernägeln geht für sie eine unwiderstehliche Anziehung aus. Auch das ist eine Grenzüberschreitung, aber sie ist anders als bei Regina motiviert: Aber Frau Hint versauert nicht […], es ist nur einfach unausweichlich geworden, in Herrn Lukans weiches breites Gesicht zu schauen, hinter den langsamen Augen nach etwas zu spähen, das nur ihr gilt, und sich, wenn es dunkel wird, seine warme schlaffe Hand auf das Bein zu legen, aber dazu braucht Frau Hint einen kleinen Schluck oder zwei. (HdS 181)

Den »Schluck« gibt ihr Maik, der sensible Pfleger, der einfach alles merkt, sich im Gegensatz zu Gabriele, die Frau Hint bei der Heimleitung angeschwärzt hat, über das Liebestabu der Institution notfalls auch hinwegsetzt. Maik unterstützt damit einen Anflug von Alterssexualität. Aber ein Verhältnis wie das von Frau Hint zu Herrn Lukan ist im Alltag eines Pflegeheims nicht vorgesehen. Eine historisch überholte Stigmatisierung von Altersliebe prägt die strengen Regeln dieser Institution: »[…] man kann den alten Krabben doch nicht alles erlauben, […] wie die Kaninchen, das ist doch unappetitlich in dem Alter« (HdS 137). Ob Herr Lukan die Liebe von Frau Hint erwidert, ist schwer zu entscheiden. Der gelähmte Mann kann sich nicht mehr verständlich machen, Zustimmung oder Ablehnung nicht mehr zum Ausdruck bringen. Allerdings scheint es Maik, wenn der Besuch von Frau Hint bei Herrn Lukan einmal ausfällt, »als suche er etwas« (HdS 133). Maik glaubt offenbar an die Reziprozität dieser Altersliebe. Als ihr die Nähe zu Herrn Lukan verboten wird, weint Frau Hint wie ein Kind. In der folgenden Nacht glaubt sie zu erblinden. Da sie beim Aufwachen merkt, dass sie ihr Sehvermögen nicht verloren hat, schwört sie sich, den geliebten Mann »nie wieder allein« (HdS 136) zu lassen. Wir finden also doch ein altes Paar, auch in diesem Text, der sonst jeden Trost verweigert, einen Glücksmoment vor dem Tod, mindestens für Frau Hint. Sie, die nie jemanden hatte, für den sie sorgen konnte, außer auf dem indirekten Weg der medialen Lebensberatung, wird spät noch von einem Menschen 41 | Vgl. den Beitrag von Miriam Seidler: Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart, in diesem Band.

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gebraucht. Das gibt ihr die Kraft zum Widerstand gegen den Druck der Institution. Annette Pehnt verbindet auf sensible Weise den Liebesdiskurs mit dem Altersdiskurs und beide mit der Psychologie der Generationsbeziehungen. Ihr literarischer Stil ist »von einer geduldigen, unerbittlichen Genauigkeit«.42 Er verzichtet auf makabre Pointen. Niemand stirbt vor den Augen des Lesers. Der Text beeindruckt durch seine Mehrperspektivität, die multiple interne und externe Fokalisierung. Der Erzählerstandpunkt wechselt ständig. Die Erzählinstanz schildert alte und junge Figuren, selbst das fünfjährige Mädchen, von außen und von innen, gibt uns einmal den Gedankenbericht Reginas, ein anderes Mal den ihrer gelähmten Mutter, dann wieder den von Ernst, der sich mit dem überraschendem Verhalten seines dementen Vaters konfrontiert sieht, dann wieder die Sichtweise des Pflegepersonals. Mit Wertungen hält sie sich zurück. So entsteht eine Erzählstruktur, die es erlaubt, mit den Jungen und den Alten, den Frauen und den Männern, den Heimbewohnern und ihren Pflegern, den Hinfälligen und ihren Angehörigen mitzufühlen und zu leiden. Alle sind von den altersbedingten Verfallsprozessen betroffen. Alle entwickeln ihre je eigenen Strategien, mit diesen Belastungen umzugehen. Alle suchen den ihnen entsprechenden »Gegenzauber«. Unbefangen bleibt nur das Kind. Der Erklärung des Vaters: »Wir können nicht zu Opa, […] er ist krank. […] Sein Kopf ist müde, […] er kann nicht mehr gut denken«, entgegnet Lili lapidar: »Das macht nichts« (HdS 169). Damit öffnet der Text eine alternative Sicht auf den Abbau der kognitiven Fähigkeiten von Professor Sander. Als Alzheimerpatient findet er leichter Zugang zu Kindern als zu Erwachsenen. Die Enkelin nimmt keinen Anstoß an seinen Fehlleistungen, sie sieht in ihm, im Gegenteil, einen idealen Spielkameraden. Vielleicht ist es nur der Identitätsbegriff der Erwachsenen, ihr Anspruch auf Kontinuität und lebensgeschichtliche Erinnerung, der seinen krankheitsbedingten Persönlichkeitszerfall für sie so unerträglich macht. Es sind die Angehörigen, die erwarten, dass der Patient sich selber treu bleibt, ihnen als derjenige entgegentritt, den sie früher gekannt haben. Die Kontinuitätserwartung, die er nicht mehr erfüllen kann, die Enttäuschung in den Augen der Bezugspersonen, macht die Krankheit im Gegenzug auch für den Patienten zu einer schweren Belastung. Als Ernst erkennt, dass sein Vater die fünfjährige Lili mit seiner verstorbenen Frau verwechselt, ist er zunächst erschüttert. Es wird ihm bewusst, dass der Vater nicht mehr fähig ist, sich in die Lage seines Sohnes zu versetzen, die Probleme des von seiner Frau und seinem Kind getrennt lebenden jungen Vaters zu verstehen. Aber das, was Lili jetzt für Ernst ist, sein Lebensmittelpunkt, war Ernsts Mutter Anna früher für den Vater. Der Vater lebt innerlich nach wie vor mit Anna zusammen, dem Menschen, der ihm, dem Gelehrten, Halt gegeben und geholfen hat, den Alltag zu bewältigen, ja mit Leichtigkeit zu bestehen. Wenn diese Leichtigkeit jetzt, da Anna tot ist, von Lili ausgeht, ist das trotz der Verwechslung von Lili mit Anna ein Gewinn. 42 | Schneider: Die Heimleitung sieht das gar nicht gern.

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So absurd sie ist, die Verwechslung der Enkelin mit seiner verstorbenen Frau tut dem Vater gut. Sie belebt ihn. Sie unterbricht die Zwangshandlung des ständigen Notizenmachens und das ebenso zwanghafte Auf- und Abgehen. Ein Ansatz von »Heilung«43 oder auch nur Beruhigung geht hier – wie in vielen Familienromanen – von der dritten Generation aus. Nach der Malaysia-Reise, die für alle Betroffenen traumatisch war, ist Ernst sogar bereit, dem verstörten Vater Lili als Anna zuzuführen: »Papa, […] ich bringe dir Anna zurück«. In dem Moment erhält er die überraschende Antwort: »Red keinen Unsinn […]. Anna ist seit Jahren unter der Erde.« (HdS 159) Es ist die Bereitschaft, sich auf die subjektive Welt des Vaters einzulassen44, die einen lichten Moment des Vaters ermöglicht, diesem für einen Augenblick die Realitätswahrnehmung zurückgibt. Wessen Welt ist die richtige, die des Vaters oder die des Sohnes? Ist das überhaupt eine relevante Frage? Hat nicht jede subjektive Welt auch ihre subjektive Berechtigung? Es ist die Leistung des sensiblen Erzählens von Annette Pehnt, dass es Fragen wie diese provoziert. Die Literatur »gibt dem Gedächtnisverlust eine Stimme«, sie fördert den »Respekt für den Menschen auch und gerade dort, wo er auf unerklärliche Weise von sich selbst verlassen wird«.45 Haus der Schildkröten zeigt das Altenheim nicht nur »als Bannkreis, Gefängnis, Ort des Zerfalls, der Entmündigung und Sprachlosigkeit«46, sondern auch als Ort, an dem der Einbezug der Kinder in die Pflege der Eltern Veränderungen bewirken kann, die es erlauben, auch angesichts von Demenz, Lähmung und Sprachlosigkeit noch Momente geglückter Zwischenmenschlichkeit zu erleben. Der »Konflikt zwischen den moralischen Prinzipien Autonomie und Fürsorge«47, zwischen der Selbstbestimmung der Alten und der Autonomie ihrer Kinder, wird auch nicht einseitig zugunsten der einen oder der anderen Seite entschieden, sondern so geschildert, dass die Sichtweisen beider nachvollziehbar bleiben.

43 | Vedder: Erzählen vom Zerfall, S. 282. 44 | Im Umgang mit Demenzpatienten geht es darum, positiv erlebbare Alltagssituationen zu schaffen und dadurch das »subjektiv empfundene emotionale Wohlbefinden« der Betroffenen zu fördern; dabei hilft der Blick auf »die verbleibenden Ressourcen«. Charlotte Berendonk, Silke Stanek: Positive Emotionen von Menschen mit Demenz fördern, in: Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 157-176, hier S. 157. 45 | Obermüller: Das schleichende Vergessen, S. 13. 46 | Brunnhuber: Endstation Seniorenheim, S. 186. 47 | Wetzstein: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten, S. 175.

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D ER P FLEGEHEIMROMAN H ALLER UND H ELEN Auch die Handlung von Jürg Schubigers Haller und Helen spielt in einem Pflegeheim, in Haus Sandhalde. Die Protagonisten sind ein alter, noch nicht pflegebedürftiger Mann, Hans Haller, und eine gelähmte, auf Pflege angewiesene Frau, Helen Roux. Über weite Strecken ist der Text ein Monolog des Mannes vor der im Rollstuhl sitzenden Frau. Da Helen schweigt, höchstens einmal lacht oder mit der Zunge schnalzt und mehr mit ihrem abgerissenen Jackenknopf als mit Hallers Ausführungen beschäftigt zu sein scheint, bleibt lange Zeit unklar, ob sie Haller zuhört. Gelegentlich sagt sie Reimwörter und kleine Verse auf. Es kommt aber auch vor, dass sie ein langes Schweigen plötzlich mit dem Schrei unterbricht: »Ich kann nicht mehr laufen!« (HuH 10) Jeder scheint in seine eigene Welt versenkt. Eine dialogstrukturelle Analyse des Textes ergibt jedoch ein anderes Bild. Zunächst erzählt Haller Helen von seinem toten Freund Strack, einem unfallgefährdeten Überlebenskünstler, der dann überraschend an Krebs gestorben ist. Über das Unpassende dieses Krebstodes scheint er nicht hinwegzukommen. Haller beschäftigt die Nähe des Todes und seine Unberechenbarkeit. Sein zweites großes Thema ist die Erinnerung an seine Frau Maja, mit der er vor sechs Jahren freiwillig ins Pflegeheim gezogen und die kurz danach gestorben ist. »Solange er von ihr erzählt, hofft er, bleibt sie noch.« (HuH 50) Haller leidet unter der Vorstellung, dass »ihr Gesicht und seines nun in verschiedenen Zeiten leben« (HuH 58). Das Erzählen dient der inneren Repräsentation der Verstorbenen, stiftet aber auch Kontakt zu Helen, der Lebenden. Vor allem das »Anfänglein« (HuH 50) seiner Ehe hat es Haller angetan. Ein junges Paar kommt in diesem Text also nur in der Erinnerung des alten Mannes vor, ist in ihr aber sehr lebendig. Haller erinnert sich genau an die Schwierigkeit, eine sexuelle Beziehung zu Maja aufzunehmen, aber auch an Alltagsstreitigkeiten in ihrer Ehe. Als er von einem Missgeschick an Majas 60. Geburtstag zu erzählen beginnt, fängt Helen unvermittelt an, »Schere, Stein, Papier« (HuH 35) zu spielen. Damit holt sie ihr in die Vergangenheit vertieftes Gegenüber in die Gegenwart zurück. Mitten in diesem Kinderspiel hält sie sich plötzlich zwei Finger wie einen Revolverlauf an die Stirn und sagt mit erstarrendem Lächeln: »Fertig« (HuH 36). Das Spiel ist in tödlichen Ernst umgeschlagen, Helen signalisiert ihre Lebensmüdigkeit. Haller antwortet darauf mit einer beruhigenden nonverbalen Geste: Er legt ihr seine »steife, ein wenig zitternde Hand, sozusagen immer noch das Zeichen Papier, auf ihr Knie« (HuH 36). Ging die Berührung vorher nur von seiner Stimme aus, so jetzt auch von seiner Hand. Allmählich schleichen sich in Hallers Rede kleine Anzüglichkeiten ein, auf die Helen belustigt reagiert. Beispielsweise bemerkt er beiläufig, dass alte Männer häufig vergessen, den Hosenlatz zu schließen. An den vier möglichen Gründen für diese Form der Vergesslichkeit konkretisiert er die Steigerung des Alterszerfalls. Vom traurigen Anblick der alten Hände kommt er auf den noch traurigeren des Bauches: »Was sich unter dem Bauch versteckt, immer besser versteckt, ist nicht mehr der Rede wert, wäre es aber gern.« (HuH 37) Später wird er

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deutlicher: »Die Männer wollen immer nur das eine, Helen. Vögeln wollen sie, […] auch im Alter noch.« (HuH 39) Seine verstorbene Frau war dazu, was er bedauert, oft zu müde. Wenn Helen zum Mittagessen oder zum Toilettengang weggefahren wird, kommt Haller die Cafeteria des Pflegeheims »blöd wie eine ungesalzene Suppe vor«, er selbst fühlt sich »wie ein Spieler auf der Ersatzbank – gegen Ende des Spiels, wenn klar ist, dass er nicht mehr gebraucht wird« (HuH 93). Kaum ist Helen zurück, hellt sich seine Stimmung wieder auf. Nachdem der Pfleger ihr das Hörgerät eingestellt hat, fordert Helen Haller zum Erzählen auf: »Red nur […]. Ich mag es, wenn geredet wird.« (HuH 70) Offenbar hat sie vorher gar nichts gehört. Von nun an nehmen Rede und Gegenrede exakt aufeinander Bezug. Da Haller gesteht, dass er nichts von Frauen versteht, kann Helen zugeben: »Ich auch nicht« (HuH 86). Mit der Zeit wird Helen selbst zur Erzählerin, beginnt auch sie, von Kindheitserlebnissen zu berichten, beispielsweise davon, dass Gäste bei ihnen zu Hause zwar mit Linzertorte bewirtet wurden, die Familie aber nur darauf wartete, dass sie wieder gingen. Sie entlarvt damit die Scheinheiligkeit der zur Schau gestellten Gastfreundschaft. Wider Erwarten können die Sprecher- und Hörerrollen getauscht werden. Auch die Folge der Repliken wird dichter. Helen erweist sich dabei sogar als sprachinnovativ. Ihr Alter ist für Haller kein Makel, sondern ein Gewinn: »Du bist noch ein richtiger Vorkriegsmensch. […] Das heißt: Qualität. Kriegsmenschen nützen sich leichter ab. Nachkriegsmenschen wohl auch.« (HuH 118f.) Als Helen lachend auf seinen offenen Hosenschlitz zeigt, genießt Haller den »Taumel, den ihre unberechenbare Nähe entstehen lässt«, und denkt, auch unter dem Eindruck des Lichts: »Es gibt ein Schneeglück« (HuH 121). Denn Helen hat damit nonverbal auf seine kleine Grenzüberschreitung reagiert und die zaghafte Sexualisierung der Beziehung akzeptiert. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung entspinnt sich folgender Dialog: Haller sagt: Wenn wir miteinander vögeln würden. Helen schaut ihn interessiert an. Ja, antwortete sie. Und flüstert dann, indem sie sich vorbeugt: Ich weiß nicht mehr, vielleicht, wie alles der Reihe nach geht. Zuerst ziehen wir uns aus. Das ist kompliziert, sagt sie, und anstrengend auch. Haller behauptet: Ich weiß. Wir lassen es besser bleiben, sagt oder fragt sie. Haller denkt an die möglichen Komplikationen, wird selber kompliziert beim Versuch, in der Vorstellung Kleider und menschliche Glieder voneinander zu trennen. Und wenn du mich ausgezogen hast, schaust du mich an, wie?, fragt sie schlau. Haller, überrascht: Ja, dann schau ich dich an. Sagst du etwas dazu? Dass du mir gefällst, sage ich. Tust du etwas?

Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwar t Ich küsse dich. Und wenn ich dir nicht gefalle? Haller, immer noch beschäftigt mit der Frage der Reihenfolge, gibt keine Antwort. Und wenn ich dir nicht gefalle? Überhaupt, sagt Haller: Wir fangen mit dem Küssen an! Mit dem Küssen, mit den Füßen. Helen fasst Haller am Arm: Und wann fängt der Anfang an? Wann du willst. Haben wir uns überhaupt schon verliebt? Haller wäre nicht auf diese Frage gekommen. Helen lacht über sein verzogenes Gesicht. Sie knöpft ihre Jacke zu, von unten nach oben, Knopf für Knopf […]. Und wenn ich dir nicht gefalle?, fragt sie noch einmal und gibt selbst die Antwort: Wenn ich dir nicht gefalle und du mir auch nicht gefällst, dann ziehen wir uns wieder an. (HuH 133-135)

Obwohl Haller Helen jetzt offen sexuelle Avancen macht, erscheint er nicht als Lustgreis – dieser Topos wird nur evoziert, um sofort unterlaufen zu werden –, im Gegenteil: Haller vermittelt Helen das Gefühl von Attraktivität und damit ein Mehr an Lebensqualität. Das zeigt ihre sofortige Bereitschaft, auf sein Gedankenspiel einzugehen. Der humorvolle Lakonismus von Schubigers Erzählkunst bewahrt die Figuren dabei vor unfreiwillig komischer Entlarvung, den Leser vor der Peinlichkeit aufgedrängter Bilder von Alterssexualität: ein heiter-ironisches »Plädoyer für das Lebens- und Liebesrecht alter Menschen« 48 von bestechender Liebenswürdigkeit. Wie viel Gegenwart ist angesichts der Überfülle von Vergangenheit oder ihrem Versinken im Meer des Vergessens noch möglich? Und was sind die Voraussetzungen dafür, dass der erfüllte Augenblick auch im Alter noch als solcher wahrgenommen wird? Fragen wie diese stellt nicht die Medizin- oder Diskursgeschichte, Fragen wie diese stellt die Literatur.

L ITER ATUR Primärtexte 2030 – Aufstand der Alten (2007), Regie: Jörg Lühdorff. Bernlef, J.: Hirngespinste. Roman, Zürich 1986 [Hersenschimmen, Amsterdam 1984]. Braam, Stella: »Ich habe Alzheimer«. Wie die Krankheit sich anfühlt, übers. v. Verena Kiefer, Stefan Häring, Weinheim/Basel 22007. Demenz Support Stuttgart (Hg.): »Ich spreche für mich selbst«. Menschen mit Demenz melden sich zu Wort, Frankfurt a.M. 2010. 48 | Beatrice Eichmann-Leutenegger: Schneeglück, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 198, 28.08. 2002, S. 38.

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Faes, Urs: Er ist nicht mehr da, wenn er da ist, in: Klara Obermüller (Hg.): Es schneit in meinem Kopf, München/Wien 2006, S. 23-46. Geiger, Arno: Der alte König in seinem Exil, München 2011. Hacker, Katharina: Die Erdbeeren von Antons Mutter, Frankfurt a.M. 2010. Hagena, Katharina: Der Geschmack von Apfelkernen. Roman, Köln 2009. Jens, Tilman: Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh 2009. Obermüller, Klara (Hg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz, München/Wien 2006. Pehnt, Anette: Haus der Schildkröten. Roman, München/Zürich 22009. Schubiger, Jürg: Haller und Hellen, Innsbruck 2002. Seebacher, Katrin: Morgen oder Abend, Lengwil 1996. Zander-Schneider, Gabriela: Sind Sie meine Tochter? Leben mit meiner alzheimerkranken Mutter, Reinbek b. H. 2006.

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In der Erzählung Der alte König in seinem Exil (2011)1 schildert Arno Geiger das Leben seines dementen Vaters August Geiger. Vom Feuilleton wurde sie kontrovers besprochen: Während Franz Haas den Text in der Neuen Zürcher Zeitung als berührende Schilderung eines Lebens mit Demenz in Würde lobte2, bezichtigte Christopher Schmidt den Johann-Peter-Hebel-Preisträger in der Süddeutschen Zeitung der medienkompatiblen Ausschlachtung des väterlichen Schicksals.3 Schmidt vergleicht Arno Geigers Der alte König in seinem Exil mit einer Reihe von Prosatexten, die prominente Autoren in den letzten Jahren über die AlzheimerErkrankung naher Verwandter verfasst haben. Darunter finden sich auch die Essays von Jonathan Franzen4 und Tilman Jens5. Hinzufügen ließen sich noch John Bayleys 2001 verfilmtes Memoire Elegie für Iris6 und zahlreiche Erzählungen pfle-

1 | Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil, München 2011. Im Folgenden zitiert mit der Sigle AKE. 2 | Vgl. Franz Haas: Monument für einen Lebenden. »Der alte König in seinem Exil« – Arno Geigers beeindruckendes Buch über die Demenz seines Vaters, in: Neue Zürcher Zeitung, 09.02.2011 [www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur/monument_fuer_einen_lebenden_ 1.9423455.html]. 3 | Vgl. Christopher Schmidt: Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil – Falsche Idylle, in: Süddeutsche Zeitung, 10.02.2011 [http://sueddeutsche.dewww.sueddeutsche.de/kultur/ arno-geiger-der-alte-koenig-in-seinem-exil-falsche-idylle-1.1058426]. 4 | Vgl. Jonathan Franzen: My Father’s Brain, in: How to be alone, London 2010, S. 7-38. 5 | Vgl. Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh 32009. 6 | Vgl. John Bayley: Elegie für Iris, übers. v. Barbara Rojahn-Deyk, München 22002 [New York 1999]. Dabei handelt es sich um die deutsche Version des zweiten Teils einer Trilogie John Bayleys, deren Originaltitel lauten: Iris. A Memoir of Iris Murdoch, London 1998; Iris and the Friends. A Year of Memories, London 1999, Iris and Her Friends. A Memoir of Memory and Desire, New York 2000.

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gender Angehöriger ohne Prominentenstatus.7 Das jeweils große Medienecho, das diesen sehr unterschiedlichen Publikationen zum selben Thema gemeinsam ist, deutet darauf hin, dass die Erkrankung Alzheimer im kulturellen Problembewusstsein angekommen ist.8 Die Bewertung der moralischen Legitimität solcher Werke kann nicht Gegenstand eines literaturwissenschaftlichen Beitrags sein. Vielmehr möchte ich im Folgenden die Erzählung Der alte König in seinem Exil innerhalb des noch relativ jungen Genres der Alzheimer-Narration, einer Untergattung der Pathographie, verorten. Der Fokus richtet sich dabei auf die narratologische Darstellung der Krankheit Morbus Alzheimer und die Entwicklung des Altersbildes9 des Ich-Erzählers.

N ARR ATION UND K R ANKHEIT — D ER A LTE K ÖNIG IN SEINEM E XIL ALS PATHOGR APHIE Der alte König in seinem Exil ist die biographische Erzählung des Sohnes und homodiegetischen Ich-Erzählers Arno Geiger über seinen Vater August Geiger.10 Sowohl Arno Geiger (vgl. AKE  69, 186) als auch Jonathan Franzen 11 geben als Schreibanlass ihren Unwillen an, den eigenen Vater mit der Diagnose ›Alzheimer‹ nur noch als Summe der Symptome dieser Erkrankung zu sehen. Der thematische Schwerpunkt der Erzählung liegt auf dem Leben des Vaters und seiner Angehörigen mit der Krankheit Alzheimer.12 Für diese Art autobiographischer 7 | Als Beispiel hierfür dient in diesem Aufsatz Stella Braam: »Ich habe Alzheimer«. Wie die Krankheit sich anfühlt, übers. v. Verena Kiefer, Stefan Häring, Weinheim/Basel 22007 [Amsterdam 2005]. 8 | Vgl. Heike Hartung: Fremde im Spiegel: Körperwahrnehmung und Demenz, in: Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.): »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 123-137, hier S. 125 sowie G. Thomas Couser: Memoir and (Lack of) Memory: Filial Narratives of Paternal Dementia, in: Christopher Stuart, Stephanie Todd (Hg.): New Essays on Life Writing and the Body, Newcastle upon Tyne 2009, S. 223240, hier S. 224f. 9 | Unter ›Altersbildern‹ verstehe ich »konkurrierende, mitunter stereotype Vorstellungen von der Rolle, den Eigenschaften und dem Wert alter Menschen in der Gesellschaft«. Barbara Pichler: Aktuelle Altersbilder: ›junge Alte‹ und ›alte Alte‹, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425, hier S. 415. 10 | Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994 [1975], S. 220f. 11 | Vgl. Franzen: My Father’s Brain, S. 20. 12 | Mit dieser Interpretation widerspreche ich der im Feuilleton vertretenen These, Der alte König sei ein Buch »über einen Vater geworden. Kein Buch über Alzheimer«. Dirk Knipphals:

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oder biographischer Erzählungen persönlicher Krankheitserlebnisse hat die Anglistin Anne Hunsaker Hawkins 1993 den Begriff der Pathographie eingeführt.13 Seit den 80er Jahren des 20.  Jahrhunderts ist eine große Zahl fiktiver und (auto)biographischer Texte – meist aus der Perspektive Angehöriger und nahestehender Personen – zum Themenspektrum Demenz publiziert worden.14 Nach Verena Wetzstein lässt sich die narrative Darstellung von Demenz »als Beziehungsgeschehen«15 lesen. In diesem Zusammenhang betrachtet Ulrike Vedder die Ehe- und die Generationenerzählung als die zwei wichtigsten Modelle heterodiegetischer Alzheimer-Narrationen. Beispiele der Ehe-Erzählung einer Demenz sind John Bayleys (auto)biographische Iris-Trilogie16 und Alice Munros fiktionale Kurzgeschichte The Bear Came Over The Mountain.17 Tilman Jens’, Arno Geigers und Stella Braams Narrationen über ihre dementen Väter können als Beispiele von Generationenerzählungen gelten. Das Subgenre der Alzheimer-Narration 18 zeichnet sich gegenwärtig durch seine relative Undeterminiertheit aus. Es ist weder gänzlich eine Autobiographie oder Bekenntniserzählung noch handelt es sich um eine Biographie oder um Memoiren: Die Alzheimer-Narration ist vielmehr eine Schnittmenge dieser Genres.19 Ein erstes Spezifikum der Alzheimer-Narrationen unter den nicht-fiktiven Krankheitsnarrativen besteht darin, dass sie fast immer einen homodiegetischen Erzähler und entsprechend selten einen autodiegetischen Erzähler haben. Da die Symptome fortgeschrittener Demenz (Verlust der zeitlichen und räumlichen Orientierung, des Gedächtnisses, Wortfindungsstörungen etc.) sich mit einer Buch der Nähe. Weltzugänge: Der Schriftsteller Arno Geiger schreibt ein Porträt über seinen an Alzheimer erkrankten Vater: Der alte König in seinem Exil, in: die tageszeitung, 19.02. 2011. 13 | Vgl. Kay Cook: Illness and Life Writing, in: Margareta Jolly (Hg.): Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms, Bd 1, London/Chicago 2001, S. 456458, hier S. 456. 14 | Vgl. Couser: Memoir and (Lack of) Memory, S. 225 und Hartung: Fremde im Spiegel, S. 124. 15 | Verena Wetzstein: Von Erdbeeren, Schnecken und Schildkröten. Alzheimer-Demenz und Angehörige bei Annette Pehnt und Katharina Hacker, in: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.): Jahrbuch Literatur und Medizin, Bd. 4, Heidelberg 2010, S. 169-184, hier S. 173. 16 | Vgl. John Bayley: Iris-Trilogie. 17 | Vgl. Alice Munro: The Bear Came Over the Mountain, in: dies.: New Selected Stories, London 2011, S. 178-216. Dazu auch: Ulrike Vedder: Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik NF 22 (2012) H. 2, S. 274289, hier S. 277f. 18 | Vgl. Miriam Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2010, S. 405. 19 | Vgl. John Wiltshire: Biography, Pathography and the Recovery of Meaning, in: The Cambridge Quarterly 29 (2000) H. 4, S. 409-422, hier S. 422.

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kohärenten Erzählung nicht vereinbaren lassen, können autodiegetische Alzheimer-Narrationen nur einen relativ kurzen Zeitraum, nämlich das Anfangsstadium der Krankheit abdecken.20 Pathographien über chronische Erkrankungen werden aber meist fortlaufend über mehrere Jahre erzählt und enden offen oder mit dem Tod des Protagonisten, wenn das chronologisch-strukturierende ›Happy End‹ einer Heilung ausbleibt. Da Alzheimer unheilbar ist, ist die Mehrheit der Alzheimer-Narrative demgemäß aus der Perspektive eines Dritten verfasst. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die autobiographischen Erzählungen der Amerikaner Thomas DeBaggio, Diana Friel McGowins und Richard Taylor. 21 In Der alte König wird in der ersten Person Singular aus der internen Fokalisierung des – zeitweise pflegenden – Sohnes Arno Geiger das Leben des Protagonisten August Geiger erzählt. August Geiger kommt häufig selbst zu Wort: In einer Textmontage gibt der Ich-Erzähler sogar Auszüge aus einem 13-seitigen autobiographischen Bericht des Vaters über seine Kriegs- und Lazarettzeit (vgl. AKE  165ff.), insbesondere über die »mühselige Heimkehr« (AKE  164), wieder. Den weitaus größeren Teil machen jedoch die kurzen, kursivierten, jedem einzelnen Kapitel vorangestellten Dialoge des Ich-Erzählers mit dem Vater aus, die in direkter Rede gehalten sind (vgl. AKE 17, 29 etc.). Auch innerhalb der Erzählung werden kurze Dialoge zwischen Vater und Sohn sowie besonders prägnante Aussagen des Vaters meist in direkter Rede wiedergegeben. Mit Alzheimer-Narrationen einher geht die Schwierigkeit, dass die Sicht des Erzählers auf den Protagonisten kaum verifizierbar ist. In August Geigers Fall basiert diese Problematik in der präklinischen Phase der Demenz auf seiner ihm vom Sohn attestierten »Unfähigkeit, Gefühle mitzuteilen« (AKE 21). In den fortgeschrittenen Stadien ist eine Selbstreflexion des Vaters aufgrund der geringen Gedächtnisleistung kaum noch möglich. Für Alzheimer-Narrative ist der vorrangige Gebrauch der dritten Person ebenso kennzeichnend wie die kaum vermittelbaren Positionen von Innen- und Außensicht.22 In Geigers Erzählung findet sich eine interne Fokalisierung des Protagonisten in der bereits erwähnten Textmontage der undatierten Memoiren (vgl. AKE 165-167), die allerdings aus der Zeit vor der Demenz-Erkrankung stammen. Laut Heike Hartung versuchen die Erzählinstanzen in der Alzheimer-Narration typischerweise in der ersten und dritten Person, »sich einer nicht (mehr) 20 | Vgl. Heike Hartung: Small World. Narrative Annäherungen an Alzheimer, in: Siegener Periodikum für Empirische Literaturwissenschaften 24 (2005) H. 1, S. 123-138, hier S. 169ff. 21 | Thomas DeBaggio: Losing My Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s, New York 2002; Diana Friel McGowins: Living in the Labyrinth. A Personal Journey through the Maze of Alzheimer’s, New York 1992; Richard Taylor: Alzheimer und Ich. Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf, übers. v. Elisabeth Brock, bearb. v. Elke Steudter, hg. v. Christian Müller-Hergl, Bern 2008. 22 | Vgl. Hartung: Small World, S. 166.

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erreichbaren zweiten Person zu nähern«.23 Diese Einschätzung widerlegt Geigers Erzählung jedoch implizit: Zwar erschwert die Gedächtnisstörung die Selbstreflexion des Kranken und damit auch eine verlässliche Erzählung seines Zustands, doch gerade die Form des Dialogs ermöglicht eine große Annäherung zwischen dem Erzähler und seinem Protagonisten. Die zweite Person ist in der unmittelbaren Gegenwart der direkten Rede auch bei fortgeschrittener Erkrankung durchaus erreichbar, sofern das Gegenüber ihr abweichendes Realitätsempfinden in die Kommunikation einbezieht. Ein weiteres Merkmal der Alzheimer-Narration besteht darin, dass mit der ersten Nennung der Diagnose das ›Happy End‹ einer Heilung ausgeschlossen wird (vgl. AKE 7, 56). Damit unterscheiden sich Alzheimer-Narrationen wesentlich von den Überlebensgeschichten24 schwerer, aber potentiell heilbarer Erkrankungen wie Krebs. Nicht nur die Unheilbarkeit von Alzheimer, sondern auch das Krankheitsbild und der Krankheitsverlauf gehören aufgrund des breiten medialen Diskurses häufig bereits zum Weltwissen des Lesers.25 Damit fehlt Alzheimer-Narrationen das spannungserzeugende Moment der Gratwanderung zwischen Leben mit der Hoffnung auf Gesundung und der Todesgefahr, das Überlebensgeschichten so interessant macht. Das Leserinteresse richtet sich bei diesem Typus der Pathographie deshalb weniger auf die (erwartbare) Darstellung der Krankheitserfahrung des dementen Protagonisten als auf die so genannten Coping-Strategien der (pflegenden) Angehörigen. Der Begriff Coping bezeichnet die Verhaltensweisen, die jemand entwickelt, um problematische Situationen zu bewältigen.26 Nach Couser zeichnen sich Alzheimer-Narrationen unter den Pathographien durch die herausragende Bedeutung der Themen ›Erinnerung‹ und ›Erinnerungsverlust‹ aus. Die Demenz-Erkrankung beschleunigt die Verluste, die ein Mensch natürlicherweise im Alter erfährt. Diese Verluste betreffen die berufliche Position, das soziale Umfeld, körperliche und geistige Kompetenzen sowie das eigene Heim aufgrund der Übersiedelung ins Pflegeheim.27 Im Falle einer Alzheimer-Erkrankung werden die Auswirkungen dieser multiplen Verluste nicht nur für die Betroffenen beschleunigt, sondern wirken sich auch unmittelbar und forciert auf die folgenden Generationen aus. Die Leistung der Pflegenden besteht dann darin, nicht nur 23 | Ebd. 24 | Vgl. Anne Hunsaker Hawkins: Reconstructing Illness. Studies in Pathography, West Lafayette 21999, S. 2. 25 | Vgl. Miriam Seidler: Liebe oder Entsorgung? Überlegungen zur Thematisierung der Pflegebedürftigkeit der Eltern in Literatur und Printmedien, in: Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007, S. 175-190, hier S. 176. 26 | Vgl. [s.a.]: Coping, in: Uwe Henrik Peters (Hg.): Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinische Psychologie, 6., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., München 2007 [1971], S. 101. 27 | Elaine M. Brody: Aging and Family Personality: Developmental View, in: Lawrence R. Allmann (Hg.): Readings in Adult Psychology, New York 1977, S. 355-360, hier S. 355f.

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die Verlusterfahrungen der Betroffenen zu kompensieren, sondern zugleich ihre eigenen Verluste an Zeit, Geld und Lebensqualität auszugleichen. Die AlzheimerNarration fungiert unter diesem Aspekt als eine Coping-Strategie, die nach Couser zumindest die Verluste im Bereich der Lebensqualität bis zu einem gewissen Grad kompensieren kann: Der Schreibprozess ermöglicht es den Angehörigen, ihrem Pflegealltag, der sich an den zum Teil schwer nachvollziehbaren Bedürfnissen des Dementen orientiert, im Schreibprozess eine Dimension von Sinn und Ordnung zu geben.28 Ein weiteres Spezifikum der Alzheimer-Narration ist die besondere Struktur des discours.29 Denn eine »Krankheit, die durch die allmähliche Auflösung des Erinnerungsvermögens, des Zeitempfindens und des Ich-Bezugs gekennzeichnet ist, steht im Widerspruch zur narrativen Struktur einer chronologischen Erzählung«.30 Diese Problematik bewältigen die Erzähler der nicht-fiktiven AlzheimerNarrationen auf unterschiedliche Weise: Stella Braams Erzählung über die Demenz-Erkrankung ihres Vaters René31 geht nach einem In-medias-res-Einstieg im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung streng chronologisch vor und zwar ab der Zeit, in der die ersten Alzheimer-Symptome manifest wurden. Dominant ist die Perspektive der Tochter, doch über die Mitsicht wird auch die des dementen Vaters transparent gemacht. Ich habe Alzheimer endet mit Renés Tod im Pflegeheim. Tilman Jens erzählt in Demenz aus der Perspektive des Sohnes episodisch und achronologisch wichtige biographische Ereignisse im Leben seines Vaters Walter Jens. Diese sind vorwiegend durch ihre Beziehung zur Krankheit und zur journalistischen Entdeckung der NS-Vergangenheit von Walter Jens bestimmt. John Bayleys Elegie für Iris, der zweite Teil seiner bereits erwähnten Iris-Trilogie, beginnt ebenfalls medias in res noch vor der Hochzeit des Paares, also Jahrzehnte vor dem Ausbruch der Krankheit. Heike Hartung beschreibt Bayleys Perspektive als eine »Art ›beteiligter Außensicht‹«, die es ihm ermöglicht, sich der Krankheit seiner Ehefrau Iris aus der dritten Person heraus anzunähern.32 In Elegie für Iris werden die Demenz-Episoden der Handlungsgegenwart durch lange Retrospektiven der bewegten Vergangenheit des Paares unterbrochen.33 Wiltshire identifiziert dieses Erzählverfahren als klassische Struktur der Pathographie, in der die Biographie des Protagonisten in einen Bericht seiner gegenwärtigen Krankheit eingeflochten wird. Elegie für Iris ist eine klassische Pathographie, die auf

28 | Vgl. Couser: Memoir and (Lack of) Memory, S. 229. 29 | Ich verwende die Begriffe discours und histoire im Sinne von Gérard Genette: Die Erzählung, übers. v. Andreas Knop, 3., durchges.u. korr. Aufl., Paderborn 2010, S. 11f. 30 | Vgl. Hartung: Fremde im Spiegel, S. 126. 31 | Braam: »Ich habe Alzheimer«. 32 | Hartung: Small World, S. 172. 33 | Vgl. Suzana Raluca Burlea: Encountering the Suffering Other in Illness Narratives: Between the Memory of Suffering and the Suffering Memory, Montréal 2009, S. 179ff.

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

dem Kontrast von ›damals‹ und ›jetzt‹ basiert.34 Das offene Ende der Erzählung schildert das glückliche Weihnachtsfest des Paares trotz Iris’ fortgeschrittener Demenz. Arno Geiger wählt eine Mischform der drei skizzierten Verfahren. Der alte König in seinem Exil beginnt ebenfalls medias in res. Allerdings thematisiert der Beginn die Demenz-Erkrankung des Großvaters (vgl. AKE 7f.). Die Schilderung der Krankheit des Vaters endet offen, was der Ich-Erzähler explizit begründet: »Ich wollte nicht nach seinem Tod von ihm erzählen, ich wollte über einen Lebenden schreiben, ich fand, dass der Vater, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdient, das offenbleibt.« (AKE 189) Hierin lässt sich Geigers Schreibstrategie mit der von Bayley vergleichen: Die Texte beider Autoren unterscheiden sich deutlich vom Gros der Alzheimer-Narrationen, die üblicherweise erst nach dem Tod des dementen Protagonisten geschrieben und publiziert werden.35 Auch Geigers Perspektive ist der Bayleys vergleichbar, denn er bemüht sich weder gezielt um Distanz zu seinem Protagonisten wie Tilman Jens noch versucht er wie Stella Braam in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Alzheimer-Kranken einzutauchen. Während die Alzheimer-Narrationen von Tilmann Jens und John Bayley Spannung durch die große Fallhöhe erzeugen, die der schleichende Gedächtnisverlust ihrer intellektuellen Angehörigen bedeutet, lebt Der alte König von der Schwerpunktsetzung auf das Leben einer vergleichsweise durchschnittlichen Persönlichkeit, das auch nach der Alzheimer-Diagnose weiterhin lebenswert bleibt. Der Modus von Der alte König wird durch eingeschobenes Erzählen dominiert. Da das erzählte Geschehen zum Zeitpunkt des Erzählens noch nicht abgeschlossen ist, durchdringen und durchmischen sich Momente gleichzeitigen und späteren Erzählens gegenseitig.36 Die einzelnen Erzählstränge verbinden achronologisch diverse Zeitebenen. Die erzählte Zeit des Demenz-Stranges umfasst einen Zeitraum von etwas mehr als zehn Jahren. Die Diagnose fällt etwa in das Jahr 2000. Das Ende der erzählten Zeit liegt im Jahr 2009, als der Vater 83 Jahre alt ist. Eingeschoben in die Krankheitsnarration sind Retrospektiven über relevante biographische Episoden wie August Geigers Kindheit und Ausbildung, Kriegszeit und Heimkehr, Hochzeit und Familienleben. Die Abschnitte des späteren Lebens werden im epischen Präteritum erzählt, die Gegenwart des Ich-Erzählers im Präsens. Die einzelnen Zeitstränge sind achronologisch erzählt und die zwölf Kapitel folgen ohne Nummerierung oder Titel aufeinander. Dadurch erhält die Erzählung einen dem Realitätserleben von Demenz-Patienten annäherungsweise entsprechenden, episodisch-unstrukturierten Charakter. Die hintergründige Erzählstruktur stellt die einzelnen Episoden jedoch in einen genealogischen Zu34 | Wiltshire: Biography, Pathography and the Recovery of Meaning, S. 419. 35 | Vgl. Couser: Memoir and (Lack of) Memory, S. 228. 36 | Vgl. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 8 2007, S. 69.

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sammenhang: Der Texteingang über die Erlebnisse des Ich-Erzählers im Alter von sechs Jahren mit dem dementen Großvater (vgl.  AKE  7) entwirft eine Alzheimer-Genealogie in der Familienchronik, die zum Ende des Romans in einen größeren Zusammenhang eingebettet wird. Dem zehnten Kapitel vorweg geht eine Anekdotensammlung von Verwandten und Bekannten oder Freunden des Autors, deren Zentrum jeweils die Demenz-Symptomatik Angehöriger oder ihnen nahestehender Personen bildet (vgl. AKE 137-139). Die Alzheimer-Narration über den Vater ist damit nicht nur Teil einer Familiengeschichte, sie wird auf der Mikroebene des Verwandten- und Bekanntenkreises als gesamtgesellschaftliches Phänomen inszeniert (vgl. AKE 58). Dieses narratologische Verfahren löst einen Anspruch ein, welcher der Erzählung in Form eines Zitates des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai 37 vorangestellt ist: »Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen.« (AKE 6) Die Demenz-Erkrankung, von der Millionen Menschen betroffen sind, wird in Der alte König am Beispiel eines Individuums erzählt. August Geiger stellt damit »das beziehungsvolle Beispiel dar«, welches in der Literatur erst »das Leben in allen Manifestationen erkennbar« macht38 − in diesem Fall in der Manifestation des Lebens mit der Krankheit Alzheimer. Die Struktur der Erzählung weicht damit stark von Arthur W. Franks Einordnung der Alzheimer-Narration in die paradoxe Kategorie der ›Chaos-Erzählung‹39 ab. In seiner Abhandlung über autobiographische Krankheitsnarrationen gebraucht Frank diesen Begriff zur Beschreibung von Erzählungen über das scheinbar zusammenhangslose Verhalten und den Identitätsverlust von Alzheimer-Patienten. In einem Textbeispiel verfolgt eine demente Mutter ohne erkennbare Absicht die Tochter durch die Wohnung und stellt unklare Forderungen an sie.40 In Arno Geigers Pathographie werden die scheinbar sinnlosen Suchbewegungen des Vaters nach seinen vier kleinen Kindern (vgl. AKE  123f.) oder dem Sehnsuchtsort ›Zuhause‹ stets ursächlich in den Phasen der Alzheimer-Symptomatik verortet. Dass Der alte König eben keine Chaos-Erzählung ist, verdankt der Text insbesondere den Reflexionen des Ich-Erzählers. Der Entstehungsprozess und die Niederschrift der Erzählung werden wie in Bayleys Iris and the Friends 41 thematisiert: »Ich wollte mir mit diesem Buch Zeit lassen, ich habe sechs Jahre darauf gespart.« (AKE 188) Anders als bei Bayley ist der Schreibprozess für Geiger jedoch nicht als ›Urlaub‹ von den Anforderungen 37 | Vgl. Ewa Machotka: Short Biography of Katsushika Hokusai, in: dies.: Visual Genesis of Japanese National Identity. Hokusai’s Hyakunin isshu, Brussels 2009, S. 231f. 38 | Siegfried Lenz: Die Darstellung des Alters in der Literatur, in: ders.: Über den Schmerz. Essays, Hamburg 1998, S. 73-95, hier S. 78. 39 | Vgl. Arthur W. Frank: The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics, Chicago/ London 1995, S. 97-114. 40 | Ebd., S. 99. 41 | Vgl. Bayley: Iris and the Friends, S. 177.

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

der Betreuung und Pflege des Vaters zu interpretieren.42 Das Schreiben stellt für Geiger erstens den Versuch dar, die Krankheitserfahrung zu verarbeiten, und zweitens, so viele gemeinsame Augenblicke mit dem Vater wie möglich festzuhalten (vgl. AKE 178). Während John Bayley nur neben der schlafenden oder fernsehenden Iris schreiben kann43, unterstützt August Geiger den Sohn buchstäblich beim Schreiben: […] er schaute mir interessiert dabei zu, wie ich Notizen in ein altes Schulheft machte, er hielt das Heft fest, damit es mir beim Schreiben nicht wegrutschte. Er fragte: ›Wie ist es dir ergangen mit deinen Papieren?‹ ›Mit meinen Papieren ist es mir immer gut ergangen‹, antwortete ich. ›Mir auch‹, sagte er. (AKE 178)

Die Nähe zwischen dem demenzkranken Vater und dem schriftstellernden Sohn ist also eng mit dem Prozess des Schreibens selbst verknüpft: »ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller« (AKE 114), kommentiert der Sohn. Da der Vater Beziehungsarbeit nur in der unmittelbaren Gegenwart leisten kann, weil er die Momente der Nähe nicht in der Erinnerung festhalten kann, fixiert der Sohn diese Beziehungsmomente schriftlich. Arno Geiger versucht schreibend, die fragilen Erinnerungen seines Vaters »mit aller Kraft« (AKE 178) festzuhalten. Henriette Herwig beschreibt dieses Verhältnis als einen »Abschied in Raten«: Denn mit »jedem Tag […] geht mehr an gemeinsam erinnerbarer Erfahrung verloren, werden die Chancen, an gelebtes Leben anzuknüpfen, geringer, schwinden die Möglichkeiten der Kommunikation«.44 Was dem Vater in dieser Beziehung nicht mehr möglich ist, leistet der schreibende Sohn. Das schriftliche Festhalten der flüchtigen Erinnerungen stellt die Leistung des Pathographen dar: Die Pathographie bekommt die spezifische Bedeutung eines Sinn und Ordnung stiftenden Moments in einem durch das Zusammenleben mit einem Demenz-Patienten aus den Fugen geratenen Alltag. 45 Vor dem Hintergrund des wichtigsten Symptoms der Demenz, des Vergessens, ist das zweite wichtige Strukturelement des Textes von besonderem Interesse: Der alte König in seinem Exil zeichnet sich – vergleichbar mit John Bayleys IrisErzählungen – durch einen hohen Grad an markierter Intertextualität aus. Dem schleichenden Gedächtnisverlust auf der Ebene der histoire begegnen Geiger und Bailey auf der Ebene des discours mit markierten, intertextuellen Bezügen. Damit verweisen sie implizit auf die Funktion von Literatur als langlebigem Speichermedium, welches das individuelle menschliche Gedächtnis erhält und überlebt. Aus 42 | Vgl. Wiltshire: Biography, Pathography and the Recovery of Meaning, S. 419f. 43 | Vgl. Bayley: Iris and the Friends, S. 177. 44 | Zitiert nach dem Beitrag von Henriette Herwig »Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart« in diesem Band. 45 | Wiltshire: Biography, Pathography and the Recovery of Meaning, S. 422.

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der Menge der expliziten und impliziten Verweise stechen die Vergleiche des dementen Vaters mit literarischen Figuren und Autoren besonders hervor. Anhand dieses Stilmittels lässt sich in Arno Geigers Alzheimer-Narration die Entwicklung von einer Verfalls- hin zu einer Erfolgsgeschichte zeigen. In der Phase der mittelgradigen Demenz setzt der Ich-Erzähler seinen Vater noch zu den scheiternden Protagonisten von Franz Kafka oder Thomas Bernhard in Beziehung: In Frost lässt Thomas Bernhard seinen Protagonisten sagen: Aber ich bin tief unfähig, ganz tief unfähig. Und an anderer Stelle: Mir ist alles unverständlich. ›Ich begreife das alles nicht!‹, sagte der Vater immer wieder, ein Kommentar zur Undurchschaubarkeit der Mechanismen, in die er sich gezogen fühlte. Und kategorisch der Nachsatz: ›Ich bin nichts mehr.‹ (AKE 114) 46

Der Erzähler vergleicht die Verstrickungen Kafka’scher und Bernhard’scher Protagonisten mit der Bedrohung des Menschen durch die Krankheit Alzheimer, an der sein Vater leidet.47 Dieser Bezug stellt eine hohe, künstlerische Wertschätzung der Selbstaussagen des Vaters dar und literarisiert die Alzheimer-Symptome August Geigers. Mit der ›Alterskrankheit‹ Demenz einher geht in den meisten der in diesem Aufsatz thematisierten Pathographien ein verlustorientiertes, pathologisches Altersbild.48 ›Alter‹ und ›Krankheit‹ werden analogisiert. Trotz der Vielfalt von Altersrepräsentationen lassen sich Alterskonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur häufig immer noch unter zwei polare Muster subsumieren: Alter wird entweder als Erfolgsgeschichte oder als Prozess von Degeneration und Verlust beschrieben.49 Die Abstufungen innerhalb dieser beiden Muster sind graduell, radikal neue Aspekte finden sich kaum.50 Erfolgsgeschichten konzentrieren sich häufig auf die gesteigerte Qualität sinnlicher Genüsse im Alter. Als Verfallsgeschichte erzählt, geht das Alter mit körperlicher Beeinträchtigung und/oder Krankheit einher – beispielsweise mit Alzheimer. Die binäre Struktur des Motivs ›Alter(n)‹ ist nicht auf literarische Texte beschränkt. Die Tendenz zur Beschrei46 | Die kursiv gesetzten Zitate stammen aus Thomas Bernhard: Frost, Frankfurt a.M. 1963, S. 99 u. 100. 47 | Vgl. Gerrit Bartels: »Auch das Glück gehört zur Demenz.« Interview mit Arno Geiger, in: Tagesspiegel, 27.02.2011. 48 | Vgl. Ursula Lehr: Psychologie des Alterns, 10., korr. Aufl., Wiebelsheim 2003 [1972], S. 47ff. 49 | Vgl. Heike Hartung: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 7-8, hier S. 8. 50 | Vgl. Seidler: Figurenmodelle des Alters, S. 441.

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bung des menschlichen Alterns als dichotome Gewinn- und Verlustbilanzierung zeigt sich auch in den Theoriemodellen der Gerontopsychologie.51 Das negative Altersbild des Ich-Erzählers wird am Ende der Erzählung allerdings durch den Vergleich des Vaters mit einer wesentlich positiver besetzten Hauptfigur abgelöst: Wenn ich den Vater mit einer Figur aus der Literatur vergleichen will, fällt mir Lewin ein, die männliche Hauptfigur in Anna Karenina; und das nicht nur, weil Leo Tolstoi beschreibt, wie Lewin das Gras mit der Sense mäht. Was die beiden vor allem verbindet, ist der Wunsch, die Dinge zu verbessern. (AKE 177)

Der Optimismus, den August Geiger als Person und Lewin als literarische Figur teilen, macht die beiden Protagonisten aus der Sicht des Erzählers vergleichbar. Auf Arno Geigers Erzählung trifft die Genre-Kritik der Literaturwissenschaftlerin Heike Hartung demnach nicht zu: Hartung kritisiert, dass Alzheimer-Narrationen als Bestandteil eines demographischen Diskurses die Kategorien ›Alter‹ und ›Krankheit‹ in einer Weise miteinander verschränken, die Alzheimer zur »›Normalerwartung‹ des höheren Alters« stilisiere. In Kombination mit entsprechenden demographischen Statistiken schürten sie eine »›statistische Panik‹«, die »den demographischen Diskurs« unangemessen zuspitze.52 Für Menschen im höheren Lebensalter propagiere der Diskurs der westlichen Industrienationen eine Universalität von Krankheit im Allgemeinen und Demenz im Besonderen. 53 Arno Geigers Alzheimer-Narration führt dagegen zu Beginn die »grundsätzliche[.], Differenzen einebnende[.] Pathologisierung des Alters«54 explizit aus, um sie im Verlauf der Erzählung narrativ zu widerlegen. Eine wichtige Bedeutung im Rahmen dieser Erzählstrategie kommt den intertextuellen Bezügen zu. Neben dem Protagonisten aus Tolstois zweitem, großem Roman wird in Der alte König auch auf Virginia Woolfs Erzählung To the Lighthouse55 Bezug genommen. Der alte König in seinem Exil bezieht sich laut Arno Geiger auf die Figur des Mr. Ramsey, das alte, männliche Familienoberhaupt aus To the Lighthouse. In der Fokalisierung der Hauptfigur Lili wird Mr. Ramsey wie folgt beschrieben:

51 | Vgl. Ursula Lehr: Altern aus psychologischer Sicht, in: Franz Böhmer (Hg.): Was ist Altern? Eine Analyse aus interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 33-50, hier S. 34. 52 | Hartung: Fremde im Spiegel, S. 125. 53 | Ebd., S. 125. 54 | Ebd., S. 136. 55 | Vgl. Sebastian Hammelehle, Hans-Jost Weyandt: »Das Ende des Lebens ist auch Leben«. Interview mit Arno Geiger, in: Spiegel Online, 04.03.2011 [www.spiegel.de/kultur/ literatur/0,1518,745909,00.html, Zugriff: 4.05.2011].

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Meike Dackweiler Had they [Mr. Ramsay’s teenaged children, Anm. M.D.] dared say No (he had some reason for wanting it) he would have flung himself tragically backwards into the bitter waters of despair. Such a gift he had for gesture. He looked like a king in exile. 56

Ähnlich wie Mr. Ramsay befindet sich auch August Geiger jahrelang in einer Situation familiären Unverständnisses für sein abweichendes Sozialverhalten. In der Zeit, in der seine Alzheimer-Erkrankung ihm zunehmend die Orientierung nimmt, findet zwar eine Wiederannäherung der Familienmitglieder statt. Die kann August Geiger jedoch nicht mehr als dauerhafte emotionale ›Heimat‹ wahrnehmen: Was Ovid in der Verbannung geschrieben hat – dass Heimat dort ist, wo man deine Sprache versteht –, galt für den Vater in einem nicht weniger existentiellen Sinn. Weil seine Versuche, Gesprächen zu folgen, immer öfter scheiterten, und auch das Entziffern von Gesichtern immer öfter misslang, fühlte er sich wie im Exil. Die Redenden, selbst seine Geschwister und Kinder, waren ihm fremd, weil das, was sie sagten, Verwirrung stiftete und un-heimlich war. Der sich ihm aufdrängende Schluss, dass hier unmöglich Zuhause sein konnte, war einleuchtend. (AKE 57)

Das indirekte Zitat vergleicht das physische Exil Ovids mit dem Realitätserleben des dementen Vaters als einer kognitiv-emotionalen Exilsituation. Das Gefühl des Nicht-Zuhause-Seins bezeichnet der Sohn als besonders tragisch: Die traumatischen Kriegserlebnisse des Vaters haben sich in der lebenslangen Angst davor manifestiert, die Heimat beziehungsweise das Elternhaus nie mehr zu erreichen (vgl. AKE  43ff.): »Solches Heimweh wollte er kein zweites Mal riskieren. Es ist eine seltsame Ironie, dass er viele Jahre später […] fast jeden Tag nach Hause gehen wollte – und das, weil er vergessen hatte, dass er zu Hause war.« (AKE 45) Der Titel von Geigers Erzählung ist zugleich ein intertextueller Verweis auf einen anderen Helden der Weltliteratur. Es handelt sich um König Lear aus Shakespeares Drama The Tragedy of King Lear. Die Beziehung zwischen einem DemenzPatienten und dem tragischen Helden Lear haben vor Arno Geiger bereits der Dramatiker Joachim Zelter mit seiner Tragikomödie Professor Lear 57 und der amerikanische Romancier Jonathan Franzen in seinem Essay My Father’s Brain hergestellt. Zelter hat sich zu seiner Shakespeare-Adaption durch Lears Ausspruch im vierten Akt, sechste Szene: »I fear I am not in my perfect mind«, inspirieren las-

56 | Virginia Woolf: To the Lighthouse, in: dies.: Selected Works of Virginia Woolf, hg. v. The Wordsworth Editions Limited, Hertfordshire 2007, S. 563-634, hier S. 353. 57 | Vgl. Joachim Zelter: Professor Lear, UA am 18.2.2010 im Zimmertheater Tübingen.

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

sen.58 Bei Franzen ist es das Anagramm Earl/Lear, das die Bezugnahme auslöst. 59 Die Analogie zwischen seinem Vater Earl und Shakespeares König Lear vertieft Franzen, indem er die Ähnlichkeit der Zukunftsperspektive für den Ruhestand und das ›erzählerische Interesse‹ der beiden am Leben beschreibt. Sowohl Lear als auch Earl möchten im Ruhestand als Beobachter die Schicksale und Machenschaften ihrer Kinder und der ›Welt‹ verfolgen. Die Utopie ihrer Beobachterrolle in der näheren Zukunft scheitert in beiden Fällen jedoch an der jeweils unterschiedlich gelagerten Unfähigkeit, sich in diese Rolle einzufügen. Bei Lear ist es das Nicht-wahr-haben-Wollen seines Autoritätsverlustes, bei Earl ist es die Krankheit Alzheimer. Shakespeares König Lear ist Pate und Namensgeber eines Figurenmodells, das Ruth Klüger als den King-Lear-Typus bezeichnet hat: »Das König-Lear-Modell […] fasst das Problem des Abdankens, das Weitergeben der Zügel und des Managements, in dem Problem der Erbschaft zusammen. Die Eltern treten ab und die Kinder beschlagnahmen gierig das Erbe.« 60 In diesem Figurenmodell verbindet sich der Topos des Altersspotts hinsichtlich der Selbstüberschätzung des alten Königs mit dem Topos der Altersklage über den Verlust der sozialen Stellung.61 Die Figur des König Lear dient als Paradebeispiel für die Unfähigkeit alternder Männer, die Autoritäts- und Bedeutungsverluste zu akzeptieren, die mit der Weitergabe von Amt und Würden verbunden sind.62 Lässt sich auch in der Figur des August Geiger das King-Lear-Modell erkennen? Arno Geiger spielt in seiner Erzählung auf die Situation Lears im dritten Akt der Tragödie an, wo der abgedankte König ziellos durch die stürmische Nacht irrt und sich schließlich in den Wahnsinn verliert:63 »Denn wenn es dunkel wird, kommt die Angst. Da irrt der Vater rat- und rastlos umher wie ein alter König in seinem Exil« (AKE 12). Anders als bei Lear ist die ›Exilsituation‹ August Geigers aber keinesfalls selbstverschuldet und sie basiert nicht auf der Problematik der Übergabe von Verantwortung an die Kindergeneration. Denn damit hat August Geiger schon lange vor der Diagnose seiner Demenz-Erkrankung begonnen:

58 | William Shakespeare: The Tragedy of King Lear, in: ders.: Complete Works. The RSC Shakespeare, hg. v. Jonathan Bate, Eric Rasmussen, Basingstoke/Hampshire 2007, S. 20092080, hier S. 2063. Vgl. Irene Ferchl: Joachim Zelter spricht über sein Stück und die Idee einer Shakespeare-Adaption, in: Kulturfinder, 24.2.2010 [www.kulturfinder-bw.de/index. php?id=professor-lear-interview-schaber]. 59 | Franzen: My Father’s Brain, S. 12. 60 | Ruth Klüger: »Ein alter Mann ist stets ein König Lear« – Alte Menschen in der Dichtung, Wien 2004, S. 30. 61 | Vgl. Seidler: Figurenmodelle des Alters, S. 76. 62 | Vgl. Hans-Georg Pott: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, München 2008, S. 69. 63 | Vgl. Shakespeare: The Tragedy of King Lear, S. 2040ff.

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Meike Dackweiler Der Vater entband sich selbst von praktisch allem, keine Spur mehr vom früheren Eifer, mit dem er jahrzehntelang seine Vorhaben vorangetrieben hatte. Lapidar verkündete er, dass jetzt die Jungen an der Reihe seien, er selber habe in seinem Leben genug gearbeitet. […] Weil ihm auch kleinere Aufgaben über den Kopf wuchsen und er merkte, dass er die Kontrolle verlor, trat er jegliche Verantwortung ab. (AKE 22)

August Geiger ist zwar mit einigen Merkmalen des King-Lear-Typus ausgestattet, unterläuft das Figurenmodell aber durch seine Altersperformanz. Der vermeintliche Rückzug auf das Altenteil ist aus der Perspektive des erzählenden Sohnes nur vorgeschoben. Denn der wahre Grund für das Abtreten jeglicher Verantwortung liegt darin, dass der Vater selbst merkt, wie ihn sein Gehirn »im Stich« (AKE 8) lässt. Mit ihrem hohen Grad an Intertextualität unterscheidet sich Arno Geigers Alzheimer-Narration bereits in der Überschrift deutlich von den zahlreichen Memoiren von Laienschriftstellern. Deren Titel sind laut dem Anglisten G. Thomas Couser typischerweise aus einem Element zusammengesetzt, das auf die durch Alzheimer erlittenen Verluste anspielt, und einem, das sich pointiert auf die Formel ›romantische Liebe besiegt Alzheimer‹ bringen ließe.64 Aufschlussreich sei, »dass diese Texte zwar von dramatischen Verlusten erzählen, aber auch von einer großen unverlierbaren Nähe […], anders formuliert: von der Macht der Liebe, die größer sei als Alter und Vergessen«.65 Der Titel von Geigers Erzählung verweist mit dem Begriff ›Exil‹ zwar auf den Heimatverlust des Vaters in mehrfachem Sinn, das Element der romantischen Liebe kommt jedoch nicht vor. Zu Beginn der Erzählung steht die innerfamiliäre Kommunikationsproblematik im Vordergrund. Weil der Vater nicht gelernt hat, seine Probleme anzusprechen, können die Kinder nicht erkennen, dass der Vater krank und nicht nur lethargisch geworden ist. Als aber die Diagnose gestellt ist, finden die Familienmitglieder durch den ›Wahnsinn‹ des Vaters sogar wieder zueinander und der entfremdete Sohn August kehrt emotional zu ihm zurück. Die Erzählung schließt denn auch märchenhaft mit dem Schlusssatz: »Es heißt: Wer lange genug wartet, kann König werden.« (AKE 189) Arno Geiger nimmt in Der alte König in seinem Exil die Funktion der Literatur selbst in den Blick, denn er zieht immer wieder literarische Texte heran, um den Zustand des Vaters und der Familie sowie die Probleme des Alters im Zeichen der Demenz zu erörtern. In dieser Alzheimer-Narration wandelt sich das Altersbild, das der Ich-Erzähler entwirft, vom Beginn der Erzählung bis zu ihrem Ende drastisch: Ausgehend von einem defizitären Konzept des Alters als Degenerationsprozess66 entwickelt der Ich-Erzähler zunehmend ein positiv besetztes Bild. Anfangs

64 | Vgl. Couser: Memoir and (Lack of) Memory, S. 226. 65 | Vedder: Erzählen vom Zerfall, S. 278. 66 | Vgl. Lehr: Psychologie des Alterns, S. 47ff.

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schließen sich ›erfolgreiches Altern‹67 und Demenz in der Vorstellung des erzählenden Sohnes gegenseitig aus. Zum Ende der Erzählung finden sich zunehmend Topoi des Alterslobs und das vormalige Ausschlusskriterium Demenz wird als Befreiung »aus der Leistungsgesellschaft« (AKE 187) geradezu idealisiert.

D IE D ARSTELLUNG DER A L ZHEIMER -S YMP TOMATIK IN D ER ALTE K ÖNIG IN SEINEM E XIL Die klinische Symptomatik von Alzheimer lässt sich in drei Phasen unterteilen, die in der Erzählung in chronologischer Reihenfolge – unterbrochen von Reflexionen des Ich-Erzählers und biographischen Retrospektiven – geschildert werden. Die Symptome des Anfangsstadiums der Demenz setzen kurz nach der Pensionierung August Geigers ein, als sich die ›Aussetzer‹ häufen, sein ›Hang zum Eigenbrötlerischen‹ (AKE 7) verstärkt auftritt und er sich selbst von seinen alltäglichen Aufgaben entbindet (vgl. AKE 22). Der Protagonist verwendet zwar keine externen Gedächtnisstützen, zeigt jedoch ein deutlich »fassadäres Verhalten« 68, indem er allen Angehörigen seine Gedächtnisprobleme verschweigt und zunehmend eigenwillige Lösungsstrategien für komplexere Aufgaben entwickelt, die er auf konventionellem Weg nicht mehr bewältigen kann. Die Leistungseinbußen werden in seinem Fall zwar typischerweise von nahestehenden Familienmitgliedern bemerkt69, doch diese interpretieren die Alzheimer-Symptome fälschlich als durch die Ehescheidung und die Lethargie des Ruheständlers verstärkte Charaktermerkmale: »Die frühesten Anzeichen der Krankheit zeigten sich Mitte der neunziger Jahre, doch gelang es uns nicht, die Ursache richtig zu deuten.« (AKE 19) Diese Fehlinterpretation von Alzheimer-Symptomen als ›Alterserscheinung‹ der Ruhestandslethargie gilt als typisches Phänomen im subklinischen Stadium der Erkrankung.70 Aus soziologischer Perspektive ist das Verhalten des Vaters gar nicht ungewöhnlich für seine Altersphase: Demnach tendieren ältere Menschen im Ruhestand dazu, ganze Tagesabschnitte zu ritualisieren, und entwickeln insgesamt einen deutlich ruhigeren Lebensrhythmus als Berufstätige.71 Problematisch wird 67 | Ebd., S. 56ff. 68 | Vgl. Johannes Schröder, Julia Haberstroh, Johannes Pantel: Früherkennung und Diagnostik demenzieller Erkrankungen, in: Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz. Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 297-315, hier S. 299. 69 | Vgl. ebd. 70 | Vgl. Pat Y. Chung u.a.: Carers Perspectives on the Activity Patterns of People with Dementia, in: Dementia 7 (2008) H. 3, S. 359-381, hier S. 364ff. 71 | Horst Becker u.a.: Die Älteren – Zur Lebenssituation der 55- bis 70jährigen. Eine Studie der Institute Infratest Sozialforschung, Sinus und Horst Becker, Bonn 1991, S. 72.

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dieses Verhalten erst durch das Unverständnis der Angehörigen: Ebenso wie der Ich-Erzähler in Der alte König reagiert auch Jonathan Franzens Mutter auf die für sie nicht nachvollziehbare ›Lethargie‹ ihres Mannes Earl 72 mit latenter Aggression. Für Arno Geiger sind »Patiencenlegen und Fernsehen«, die »monotonen Freuden« des Vaters, »auf Dauer kein Lebensinhalt« (AKE 22f.). Deshalb beschwört, stichelt und provoziert er seinen Vater, um ihn aus seiner vermeintlichen Teilnahmslosigkeit herauszureißen. Die Vorliebe August Geigers für monotone Tätigkeiten ist jedoch nicht – wie der Sohn anfangs zu wissen glaubt – seiner charakterlichen Disposition geschuldet. Die Ursache liegt in seiner zunehmenden Unfähigkeit zur Bewältigung alltäglicher Anforderungen. Wenn Alzheimer-Patienten ihre Defizite in der Anfangsphase selbst wahrnehmen, stellen sie die davon betroffenen Aktivitäten häufig ein. Was auf Angehörige und nahestehende Personen wie eine primäre Antriebsstörung wirkt, ist ein typisches Vermeidungsverhalten. 73 Fernsehen und Patiencenlegen vermitteln August Geiger über die Bewältigung selbst gewählter, simpler Aufgaben nicht nur Sicherheit, sondern bringen zugleich auch Selbstbestätigung durch zuverlässig wiederkehrende Erfolgserlebnisse.74 Weil seinen erwachsenen Kindern entgeht, dass der Vater »langsam seine alltagspraktischen Fähigkeiten« (AKE 20) verliert, wird die Diagnose Alzheimer erst im Stadium der mittelgradigen Demenz gestellt. Dieses Stadium zeichnet sich durch eine hochgradige Vergesslichkeit aus, die neuere Gedächtnisinhalte und autobiographische Episoden ebenso betrifft wie das Altgedächtnis und autobiographische Fakten.75 Bei August Geiger äußert sich das mittlere Krankheitsstadium darin, dass er nicht mehr in der Lage ist, sich angemessen anzuziehen, sein Essen aufzuwärmen oder Gegenstände an den dafür vorgesehenen Orten zu deponieren (vgl. AKE 25).76

72 | Vgl. Franzen: My Father’s Brain, S. 14-19. 73 | Vgl. Anita Plattner, Thorsten Erhardt: Psychotherapie bei beginnender AlzheimerDemenz, in: Andreas Maercker (Hg.): Alterspsychotherapie und klinische Gerontologie, Berlin/Heidelberg 2002, S. 230-243, hier S. 231. 74 | Vgl. Charlotte Berendonk, Silke Stanek: Positive Emotionen von Menschen mit Demenz fördern, in: Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz. Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 297-315, hier S. 158f. sowie Alexander Kurz u.a.: Sozialpsychiatrische Probleme bei der Betreuung und Therapie von Patienten mit dementiellen Erkrankungen, in: Walter-Uwe Weitbrecht (Hg.): Dementielle Erkrankungen. Diagnose, Differentialdiagnose und Therapie, Berlin/Heidelberg 1988, S. 130-140, hier S. 136. 75 | Vgl. Schröder, Haberstroh, Pantel: Früherkennung und Diagnostik demenzieller Erkrankungen, S. 299. 76 | Vgl. ebd., S. 300 sowie Plattner, Erhardt: Psychotherapie bei beginnender AlzheimerDemenz, S. 233.

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

Die Problemsituationen, die als Folge seiner Gedächtnisstörungen entstehen, versucht er zunehmend durch frei erfundene Geschichten auszugleichen.77 Das geschieht etwa, indem er den Verbleib seiner Brieftasche mit ihrem Diebstahl in Ägypten erklärt, wo er »[n]atürlich nicht freiwillig, sondern im Rahmen der Kinderlandverschickung« (AKE 28) gewesen sei. Der Ich-Erzähler bewertet diese Geschichte mit einer idiomatischen Wendung als »eine an den Haaren herbeigezogene« (AKE  27). Aus der Perspektive des Vaters ist diese Einschätzung jedoch unzutreffend, weil dieser seine spontan ›erfundenen‹ Erinnerungen selbst für real hält.78 Auch depressive Phasen in Folge des subjektiv als leidvoll erlebten Kompetenzverlustes sind Symptome der mittelgradigen Demenz, das gilt auch für das permanente Heimweh (vgl. AKE 55f., 154 und häufiger).79 Anfänglich bringt die Diagnose ›Demenz‹ der Familie Geiger »eine Erleichterung«, weil sie »für das Chaos der zurückliegenden Jahre« (AKE 25) eine akzeptable Erklärung liefert: »Wir dachten, seine Defizite kämen vom Nichtstun. Dabei war es umgekehrt, das Nichtstun kam von den Defiziten.« (AKE 22) Diese Erleichterung ist jedoch typischerweise nur von kurzer Dauer und wird bald durch die Schwierigkeiten mit der Bewältigung der täglichen Betreuung und Pflege des erkrankten Angehörigen unterminiert.80 Zur Einsicht in das Krankheitsbild braucht der Sohn einige Zeit.81 Bis der Ich-Erzähler akzeptiert hat, »dass der Vater die Toten ein bisschen lebendig machte« (AKE 59), versucht er immer wieder, »die Verbindung des Vaters zur Realität durch Hartnäckigkeit« (AKE 58) wachzuhalten. Das tut er beispielsweise, als der Vater die Absicht äußert, zu seiner Mutter zu gehen, indem er ihn selbst ausrechnen lässt, dass die Mutter bereits vor vielen Jahren verstorben sein muss (vgl. AKE 59). Aus pflegewissenschaftlicher Perspektive ist es jedoch absolut kontraproduktiv, darauf hinzuweisen, dass die Mutter tot ist, wenn der Vater den für Alzheimer-Patienten typischen Wunsch äußert, sie zu sehen.82 Wenn ein Schlüsselerlebnis dieser Art nicht mehr memoriert werden kann, ist eine ›Reaktivierung‹ der Erinnerung von außen kaum möglich. Weil neuere Gedächtnisinhalte wie der Hinweis auf den Tod der Mutter nicht behalten werden können, scheitern Versuche, die Realitätsorientierung dementer Men77 | Vgl. [s.a.]: Fabulieren, in: Uwe Henrik Peters (Hg.): Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinische Psychologie, 6., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., München 2007 [1971], S. 189. 78 | Vgl. [s.a.]: Konfabulation, in: Peters (Hg.): Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinische Psychologie, S. 298. 79 | Vgl. Schröder, Haberstroh, Pantel: Früherkennung und Diagnostik demenzieller Erkrankungen, S. 300. 80 | Vgl. Chung u.a. : Carers Perspectives, S. 367. 81 | Vgl. Henriette Herwig: Vorwort, in: dies. (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2009, S. 7-12, hier S. 7. 82 | Vgl. Ulrich Kaster, Rita Löbach: Handbuch Demenz, München 2007, S. 120f. sowie Kurz: Sozialpsychiatrische Probleme, S. 137.

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schen anzugleichen nicht nur, sie verwirren die Patienten zusätzlich und bringen ihnen ihre irreparablen Unzulänglichkeiten schmerzhaft zu Bewusstsein.83 Im Verlauf der Erzählung lösen sich die normativen Alterserwartungen des Sohnes in dieser Hinsicht so weit auf, dass er das Verhalten des Vaters als Ausdruck von dessen individuellem Realitätserleben gelten lässt: Der tägliche Umgang mit ihm glich jetzt immer öfter einem Leben in der Fiktion. Wir richteten uns in all den Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und Hilfskonstruktionen ein, mit denen sein Verstand sich gegen das Unverständliche und die Halluzinationen wappnete. (AKE 117)

Vom demenzkranken Vater wird nicht mehr erwartet, dass sein Verhalten mit gesellschaftlichen Konventionen übereinstimmt. Die anfänglich affirmative, auf Einhaltung sozialer Ordnungsmuster ausgerichtete Haltung des Sohnes gegenüber dem Vater weicht einer Neueinschreibung gültiger Orientierungs- und Sinnstiftungsmodelle84, deren Gradmesser einzig ihre Tauglichkeit in der Welt des Vaters ist. Der Sohn entwickelt zunehmend Freude an den komplexen Kommunikationsleistungen, die der Umgang mit dem Vater erfordert. Es kommt seinem kreativen Potential sogar entgegen, wenn seine »Erklärungen in den Bereich der Fiktion abgleiten« (AKE 118) dürfen. Der Sohn entdeckt, dass August Geiger bis in das späte Stadium der Demenz hinein »die weitgehende Unversehrtheit seines Charakters« (AKE 69) behält: »ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest. Seine Persönlichkeit erschien mir wiederhergestellt, es war, als sei er der Alte, nur ein wenig gewandelt.« (AKE 60) Dieses Phänomen wird auch in der Psychiatrie als typisch für den Verlauf der Erkrankung beschrieben: »Im Gegensatz zu den schwindenden Kräften des Verstandes bleiben das Gefühlserleben, die sozialen Umgangsformen und die zentralen Bereiche der Persönlichkeit in der Mehrzahl der Fälle lange erhalten.«85 Die Annahme, dass die Alzheimer-Erkrankung zwar die identitätsbildende Funktion des Gedächtnisses zerstört, aber den Charakter als Essenz einer ehemals gesunden Gesamtpersönlichkeit zurücklässt, ist ein wichtiger Topos der Alzheimer-Narration. Darin unterscheidet sich die Alzheimer-Narration von der Pathographie, deren Handlung wesentlich durch den Topos der radikalen Veränderung des Selbst aufgrund einer Erkrankung strukturiert wird.86 Das zeigt 83 | Vgl. Schröder, Haberstroh, Pantel: Früherkennung und Diagnostik demenzieller Erkrankungen, S. 300. 84 | Vgl. Miriam Haller: ›Ageing trouble‹. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.): Altern ist anders, Münster 2004, S. 170-188, hier S. 174. 85 | Kurz: Sozialpsychiatrische Probleme, S. 133. 86 | Vgl. Couser: The Body and Life Writing, in: Margareta Jolly (Hg.): Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms, Bd. 1, London/Chicago 2001, S. 121-

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

sich auch in der Erzählung der Journalistin Judy Dothard Simmons über ihre demente Mutter: It is amazing to look at the very skeleton of a personality, of a soul […]. Alzheimer’s disease is stripping Momma of the ability to dissemble and disguise that creates our private selves and fosters civility. As a result, her communications and actions reveal the bare bones of her character, not the careful image we generally at pains present to others. 87

Die Performanz der dementen Elternteile bewerten beide Erzähler als ungefilterten Ausdruck einer auf sich selbst zurückgeworfenen Gesamtpersönlichkeit und nicht als Persönlichkeitsveränderung. Diese überraschend positive Wertung des Erinnerungsverlustes durch einen Schriftsteller kann man als Coping-Strategie interpretieren. Der fortschreitende Gedächtnisverlust wird zur ontologischen Grundkonstante, zu einer Rückkehr zur ursprünglichen conditio humana, dem Zurückgeworfen-Sein des Subjekts auf sich selbst, das Nietzsche als Grundlage der moralischen Vervollkommnung des Subjekts betrachtet. 88 Während Geigers Coping-Strategie in einem euphemistischen Umgang mit dem Krankheitsbild Alzheimer besteht, das sich auch in der Literarisierung des dementen Vaters zeigt, gibt es in Elegie für Iris ein Beispiel, das zum negativen Extrem hin tendiert. Die pflegende Ehefrau eines demenzkranken Mannes gebraucht für ihr Zusammenleben mit ihm eine besonders drastische Tod-im-Leben-Metapher89: »›Als ob man an einen Leichnam gekettet ist, finden sie nicht auch?‹ bemerkte sie fröhlich. […] ›Natürlich an einen sehr geliebten Leichnam‹, verbesserte sie sich«.90 Durch ihren Sarkasmus kann sie den psychischen Druck, den das Zusammenleben mit einem beständig regredierenden Partner erzeugt, auf ein erträglicheres Maß reduzieren. In den Alzheimer-Narrationen von Bayley und Jens werden die pflegenden Angehörigen zu tragischen Heldenfiguren, die versuchen, die alltäglichen Katastrophen, die der geistige Verfall ihrer Schützlinge zeitigt, ebenso zu bewältigen wie

123, hier S. 123 und Arthur Kleinmann: The Illness Narratives. Suffering, Healing, and the Human Condition, New York 1988, S. 55. 87 | Judy Dothard Simmons: Connections. I am My Mother’s Keeper, in: Ms. Magazine 7 (July/August 1996) H. 1, S. 86-90, hier S. 90. 88 | Vgl. Miriam Ommeln: Perspektivenwechsel als Methode. Die Verkörperung von Nietzsches Ästhetik ist der Surrealismus, in: Beatrix Vogel, Harald Seubert (Hg.): Die Auflösung des abendländischen Subjekts und das Schicksal Europas. Symposion 2000 des NietzscheForums München. Vorträge aus den Jahren 2000-2002, Bd. 3, München 2005, S. 311-334, hier, S. 324. 89 | Vgl. Hartung: Small World, S. 173. 90 | Bayley: Elegie für Iris, S. 51.

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ihr Privatleben.91 Sie leben in einem permanenten Spannungsfeld zwischen pflegerischer Selbstausbeutung und der drohenden Heimeinweisung des geliebten dementen Angehörigen, die es unter großen persönlichen Opfern zu verhindern gilt. Die heimliche Hauptfigur der Alzheimer-Narration ist also der/die erzählende pflegende Angehörige oder eine nahestehende Betreuungsperson.92 Arno Geiger bewältigt die Anforderungen, welche die Betreuung eines dementen Angehörigen stellt, indem er die »innere Haltung« (AKE 8), mit der sein Vater den unauf haltsamen Verlusten begegnet, als Lebensschule für die gesunden Angehörigen im Umgang mit ihrem eigenen Alter(n) bewertet. Diese Haltung glaubt er auch dann noch wahrnehmen zu können, als der Vater bereits die eigene Biographie vergessen hat. Zur Aufrechterhaltung und Bewahrung dieser letzten Fragmente einer ehemals gesunden Gesamtpersönlichkeit dient dann ganz wesentlich der Prozess des Schreibens über die Krankheit. Im Unterschied zu den Alzheimer-Narrationen von Bayley und Jens gelingt es den zeitweise pflegenden Pathographen Braam und Geiger nicht, die drohende Heimeinweisung ihrer dementen Angehörigen zu verhindern. Wie ihre Väter vor den Symptomen der Erkrankung, kapitulieren sie selbst vor dem pausenlosen Betreuungs- und Pflegebedarf als einem Problem, das nur ein tragischer Held unter Aufopferung seines Privatlebens allein bewältigen könnte. Die Erfahrung, sich selbst und dem dementen Vater professionell helfen lassen zu müssen, bewertet Arno Geiger, anders als Stella Braam, aber nicht als persönliches und institutionelles Versagen93: Die Konvention verlangt, dass man ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man beschließt, ein enges Familienmitglied ins Heim zu geben. […] Gleichzeitig schadet es nicht, Konventionen in Frage zu stellen. Das dörfliche Seniorenheim verfügt über qualifiziertes Personal unter guten Arbeitsbedingungen. Allfällige Probleme können untereinander besprochen werden. Dort kennt man den Vater, und nicht erst, seit er krank ist. Dort sieht man in ihm die ganze Person, jemanden mit einem langen Leben, mit einer Kindheit und Jugend, jemanden, der den Namen August Geiger vor mehr als achtzig Jahren bekommen hat und nicht erst mit Beginn der Krankheit. (AKE 133f.)

Die Detailbeschreibung des letzten Tages des Vaters in seinem eigenen Haus zeigt zudem, dass August Geiger keine erinnerbare emotionale Beziehung zu dem Ort 91 | Vgl. Seidler: Figurenmodelle des Alters, S. 410 sowie Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur, Essen 2003, S. 227f. 92 | Daher rührt vermutlich auch die Zuordnung von Der alte König durch Haas zur Autobiographie, obwohl man über das Leben des Erzählers, Arno Geiger, kaum etwas erfährt, das nicht in direktem Zusammenhang mit August Geiger steht. Vgl. Haas: Monument für einen Lebenden. 93 | Vgl. Braam: »Ich habe Alzheimer«, S. 38ff.

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

oder zu den ihn pflegenden Personen mehr hat, die dem Umzug ins dörfliche Altersheim eine Bedeutung über den bloßen Ortswechsel hinaus zuweisen würde. Die Delegation der Betreuung und Pflege des Vaters an das dörfliche Seniorenheim wertet Arno Geiger als weiteres Erfolgsmoment der Vater-Sohn-Beziehung im Verlauf der Alzheimer-Erkrankung: »Auch das Eingestehen einer Niederlage kann ein Erfolg sein.« (AKE 134) Damit wird die spannungserzeugende Drohung der Heimeinweisung im Text aufgelöst und positiv umgewertet. Diese Strategie der Neubewertung und -besetzung ermöglicht dem Sohn einen positiven Zugang zu seinem dementen Vater, der nicht mehr dem verlustorientierten Altersbild entspricht. Auch dem Beginn des Spätstadiums der Demenz, in dem die Orientierung, die Identität und die Erinnerung biographischer Schlüsselerlebnisse zunehmend verschüttet sind, trotzt der Ich-Erzähler glückliche Momente ab. Bei einem seiner Besuche im Altersheim am Ende der Erzählung fehlt dem Vater in einem Gespräch beispielsweise das Wort ›Beine‹, das er durch den Ausdruck »die unteren Teile« (AKE 150) ersetzt. Die Wortfindungsstörungen, die August Geiger durch seine sprachliche Kreativität kompensiert, sind Symptome des fortgeschrittenen Stadiums der Alzheimer-Krankheit, die letztlich im totalen Sprachverlust endet.94 Bis dahin ist es die Aufgabe der Angehörigen, den »irritierende[n] Sinn« der sprachlichen Äußerungen ihrer Angehörigen zu übersetzen.95 Dieser Herausforderung stellt sich der Ich-Erzähler immer wieder und er erkennt, dass das Sprachverständnis des Vaters nach künstlerischen Maßstäben keineswegs reduziert, sondern beneidenswert hoch ist. Was der Vater äußert, hat für den Sohn »eine Tiefe«, bei der er sich fragt: »Warum fällt mir so etwas nicht ein!« Der Sohn wundert sich, »wie genau« der Vater »den richtigen Ton traf und wie geschickt er die Wörter wählte« (AKE 102). Für Ulrike Vedder zeigen diese Vergleiche in Der alte König in seinem Exil, dass »Demenz in mehrfacher Weise eine ›literarische‹ Krankheit« ist: auf Seiten des Erzählers, weil »der Verlust von Sprach-, Erinnerungs- und Erzählfähigkeit […] sprachlich-narrativ beschrieben werden muss«, auf Seiten des Kranken, weil »die Kompensationsversuche gegenüber dem Verlust von Erinnerungs- und Sprachfähigkeit in bestimmten Phasen der Krankheit geradezu poetische Qualitäten haben«.96 Dem Sohn gelingt es auf künstlerischer Ebene offensichtlich, eine Beziehung zum Vater herzustellen, welche die Entfaltung der Ressourcen aller Beteiligten ermöglicht.97

94 | Vgl. Schröder, Haberstroh, Pantel: Früherkennung und Diagnostik demenzieller Erkrankungen, S. 300. 95 | Zitiert nach dem Beitrag von Henriette Herwig »Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart« in diesem Band. 96 | Vedder: Erzählen vom Zerfall, S. 288f. 97 | Berendonk, Stanek: Positive Emotionen von Menschen mit Demenz fördern, S. 162.

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B ILDER VOM V ATER , B ILDER VOM A LTER (N) »Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss.« (AKE 136) Mit dieser Bestimmung weist Arno Geiger dem Alter – über seine biologische Faktizität hinaus – die Bedeutung einer individuellen und gesamtgesellschaftlichen Kulturleistung zu. Demenz-Erkrankungen mit ihrer spezifischen Problematik umfassender Kognitionsverluste scheinen nicht dazu geeignet, unter dem Aspekt ›Leistung‹ ein optimistisches Bild des höheren und hohen Lebensalters zu vermitteln. Arno Geiger verzichtet jedoch auf eine generelle Verschränkung von Krankheit und Alter: Allen Verlusten zum Trotz erzählt er ein Leben mit Demenz, »das es immer noch zutiefst wert ist, gelebt zu werden, und das sich vielleicht nur wenig unterscheidet, von dem Leben, dass wir alle tagtäglich führen«.98 Im Unterschied zu den verlustbetonten Erzählungen von Jonathan Franzen und Tilman Jens macht Arno Geiger im Verlauf seiner Erzählung die Entdeckung, dass es im Leben des Vaters Witz, Weisheit und Würde noch gibt (vgl. AKE 11, 67). Die Funktion von Alzheimer-Narrationen und das Interesse des Lesepublikums richten sich für gewöhnlich weniger auf die Protagonisten als auf die Coping-Strategien ihrer Erzähler, die sich meist selbst als pflegende Angehörige charakterisieren. Der alte König geht über die Funktion, ein Instrument der Psychohygiene des Sohnes zu sein, weit hinaus. Die Erzählung stellt vielmehr eine hochliterarische Annäherung an einen Alzheimer-Patienten dar, welche die Erinnerung an das Leben eines Menschen bewahrt, der sein Gedächtnis verloren hat.

L ITER ATUR Primärtexte Bayley, John: Elegie für Iris, übers. v. Barbara Rojahn-Deyk, München 22002 [New York 1999]. Bayley, John: Iris and the Friends. A Year of Memories, London 1999. Bayley, John: Iris and Her Friends. A Memoir of Memory and Desire, New York 2000. Bernhard, Thomas: Frost, Frankfurt a.M. 1963. Braam, Stella: »Ich habe Alzheimer«. Wie die Krankheit sich anfühlt, übers. v. Verena Kiefer, Stefan Häring, Weinheim/Basel 22007 [Amsterdam 2005]. DeBaggio, Thomas: Losing My Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s, New York 2002.

98 | Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Ein Buch über das Leben. Ein Buch darüber, was wirklich wichtig ist [www.arno-geiger.de/der-alte-koenig-in-seinem-exil/Zugriff: 07.05. 2012].

Die Alzheimer-Narration am Beispiel von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil

Dothard Simmons, Judy: Connections. I am My Mother’s Keeper, in: Ms. Magazine 7 (July/August 1996) H. 1, S. 86-90. Franzen, Jonathan: My Father’s Brain, in: How to be alone, London 2010, S. 7-38. Friel McGowins, Diana: Living in the Labyrinth. A Personal Journey through the Maze of Alzheimer’s, New York 1992. Geiger, Arno: Der alte König in seinem Exil, München 2011. Jens, Tilman: Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh 32009. Shakespeare, William: The Tragedy of King Lear, in: ders.: Complete Works. The RSC Shakespeare, hg. v. Jonathan Bate, Eric Rasmussen, Basingstoke, Hampshire 2007, S. 2009-2080. Taylor, Richard: Alzheimer und Ich. Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf, übers. v. Elisabeth Brock, bearb. v. Elke Steudter, hg. v. Christian Müller-Hergl, Bern 2008. Woolf, Virginia: To the Lighthouse, in: dies.: Selected Works of Virginia Woolf, hg. v. The Wordsworth Editions Limited, Hertfordshire 2007, S. S. 563-634. Zelter, Joachim: Professor Lear, UA am 18.02.2010 im Zimmertheater Tübingen.

Sekundärtexte Bartels, Gerrit: »Auch das Glück gehört zur Demenz.« Interview mit Arno Geiger, in: Tagesspiegel, 27.02.2011. Berendonk, Charlotte; Stanek, Silke: Positive Emotionen von Menschen mit Demenz fördern, in: Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz. Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 157-176. Becker, Horst u.a.: Die Älteren – Zur Lebenssituation der 55- bis 70jährigen. Eine Studie der Institute Infratest Sozialforschung, Sinus und Horst Becker, Bonn 1991. Brody, Elaine M.: Aging and Family Personality: Developmental View, in: Lawrence R. Allmann (Hg.): Readings in Adult Psychology, New York 1977, S. 355360. Burlea, Suzana Raluca: Encountering the Suffering Other in Illness Narratives: Between the Memory of Suffering and the Suffering Memory, Montréal 2009. Chung, Pat Y. u.a.: Carers Perspectives on the Activity Patterns of People with Dementia, in: Dementia 7 (2008) H. 3, S. 359-381. Cook, Kay: Illness and Life Writing, in: Margareta Jolly (Hg.): Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms, Bd. 1, London/Chicago 2001, S. 456-458. Couser, G. Thomas: Memoir and (Lack of) Memory: Filial Narratives of Paternal Dementia, in: Christopher Stuart, Stephanie Todd (Hg.): New Essays on Life Writing and the Body, Newcastle upon Tyne 2009, S. 223-240. Couser, G. Thomas: The Body and Life Writing, in: Margareta Jolly (Hg.): Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms, Bd. 1, London/ Chicago 2001, S. 121-123.

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Alterswerk, Altersstil und ›Alter‹ als Metapher

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form« Fontanes Alterslyrik Dirk Rose

D ER ALTE F ONTANE Seit Thomas Manns gleichnamigem Aufsatz von 1910 ist Der alte Fontane sprichwörtlich geworden – auch wenn diese Formulierung bereits vorher in Umlauf gewesen ist.1 In dem Text wird Fontane ein »klassischer Greis« genannt, dem »das Greisenalter das einzig gemäße ist«.2 Nicht zuletzt daraus leitet Thomas Mann die besondere Dignität von Fontanes Alterswerk ab: Erst im Alter habe Fontane zu der ihm gemäßen literarischen Ausdrucksform finden können, welche durch eine ausgesprochene Wachheit und Aufgeschlossenheit für jene zeitgenössischen Veränderungen gekennzeichnet sei, die das Ende des 19. Jahrhunderts bestimmten. Thomas Mann kommt daher zum Schluss, dass die »Vergreisung« des alten Fontane »künstlerisch, geistig, menschlich eine Verjüngung ist«. 3 Das bezieht sich natürlich in erster Linie auf Fontanes Romanwerk, welches erst in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens entstanden ist. Zugrunde liegt die Parallelität dieser Lebens- und Schaffensphase mit jenem historischen Epochenwandel, der sich grob vereinfacht als ›Durchbruch zur Moderne‹ in Deutsch-

1 | Fontane unterschrieb seine Briefe an alte Bekannte und Familienmitglieder teilweise mit »Dein alter Th. Fontane« (bspw. an Paul Heyse, 10. Dezember 1889, in: Fontanes Briefe in zwei Bänden, hg. v. Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1968, Bd. 2, S. 257). Thomas Mann kannte die Formel möglicherweise aus den seinerzeit sehr prominenten Schriften Bölsches; vgl. Wilhelm Bölsche: Vom alten Fontane, in: ders.: Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur [1901], Jena/Leipzig 1912, S. 37-49. 2 | Thomas Mann: Der alte Fontane [1910], in: ders.: Aufsätze, Reden, Essays, Bd. 1: 18931913, hg. v. Harry Matter, Berlin 1983, S. 183-210, hier: S. 184. 3 | Ebd., S. 209. Vgl. auch Martin Swales: ›Altersradikalismus‹ und Modernität. Zur Bedeutung von Fontanes Spätwerk, in: Alo Allkemper, Norbert Otto Eke (Hg.): Literatur und Demokratie, Berlin 2000, S. 117-124.

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land beschreiben lässt.4 Er gewann nicht nur seit der Reichsgründung 1871 maßgeblich an Dynamik, sondern griff in relativ kurzer Zeit auf alle sozialen Bereiche durch: sei es in der Politik (Gründung des Kaiserreichs, Aufstieg der Sozialdemokratie, Wilhelminismus), in der Wirtschaft (Gründerzeit, Eisenbahnbau, Schwerindustrie) oder der Kultur (Beginn der literarischen Moderne, Theaterreformen, Impressionismus).5 Der durchgreifende gesellschaftliche Wandel ließ schon die Zeitgenossen ahnen, man stehe am Anfang einer neuen Epoche. Dass es für diese Entwicklungen empfänglich und durchlässig gewesen ist, darin scheint für viele Interpreten das Besondere von Fontanes Alterswerk zu bestehen. So bemerkt Hans Blumenberg − nicht ohne Ironie − zu Beginn seines Essays über die Lyrik Fontanes: »Als hätte er verhindern wollen, zum ›Klassiker der Moderne‹ zu werden, ist Theodor Fontane im vorletzten Jahr des Jahrhunderts gestorben, dem ganz zugehörig man noch ein ›klassischer Klassiker‹ werden konnte.«6 Womit nahegelegt wird, dass er genau diese Rolle als ›Klassiker der Moderne‹ unter anderen Umständen hätte beanspruchen können 7 − und zwar nicht nur aufgrund seines Romanwerks, dessen enge thematische Verflechtung mit der Zeithistorie unbestritten sein dürfte.8 Doch die ›Entdeckung des Romans‹ als ein für ihn neues Genre ging bei Fontane, was oft übersehen wird, einher mit einer ›Wiederentdeckung‹ der Lyrik. Fontane hatte als Lyriker begonnen und war vor allem mit seinen Balladen bekannt geworden, hatte dann aber das Verfassen von Gedichten mehr und mehr

4 | Diese Einschätzung ist in der Geschichtswissenschaft inzwischen Konsens; vgl. bspw. das speziell dieser Frage gewidmete Kapitel bei Hans-Peter Ullmann: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a. M. 1995, S. 173-202. 5 | Das haben unter anderem Hans-Ulrich Wehlers sozialgeschichtliche Studien gezeigt; vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 71994 [1973]. 6 | Hans Blumenberg: Lebensgedichte. Einiges aus Theodor Fontanes Vielem, in: Akzente 38 (1991), S. 7-28, hier S. 7. 7 | Blumenberg fährt fort: »Doch drängt sein letztes Werk […] auf die Grenze zu und vielleicht schon über sie hinweg« (ebd.). Vgl. dazu auch den Tagungsband »Die Decadence ist da«. Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhundertwende, hg. v. Gabriele Radecke, Würzburg 2002 (darin bes. den Aufsatz von Walter Hettche: Großstadtlyrik um 1900, S. 79-93). Zur daraus resultierenden Problematik einer Epochenabgrenzung von Realismus und Früher Moderne vgl. im Hinblick auf Fontane Ursula Amrein (Hg.): Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne, Berlin u.a. 2008 sowie aktuell Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Entsorgung. Aporien des Spätrealismus und Routines der Frühen Moderne, Berlin/New York 2013 [im Druck]. 8 | Vgl. die Pionierstudie von Paul Böckmann: Der Zeitroman Fontanes [1959], wieder abgedruckt in: Wolfgang Preisendanz (Hg.): Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 80-110.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form«

zurückgestellt.9 Im Alter kehrte er zur Lyrik zurück – nun jedoch weniger zu einer balladesken oder nachromantischen Poesie als vielmehr zu einer Art Gedanken- und Spruchlyrik, welche sowohl auf thematischer als auch auf formaler Ebene eng mit dem Romanwerk verflochten ist.10 So herrscht in den Gedichten oft der ›Plauderton‹ der Romane bis zu einem solchen Grad vor, dass Karl Richter, der sich als einer der Ersten intensiver mit Fontanes späten Gedichten beschäftigt hat, sie eine »eher unlyrische Lyrik« nennt.11 Diese poetologische Verlegenheitsformel trifft freilich – das zeigt Richter an anderer Stelle noch deutlicher 12 − lediglich im Rahmen der (post)romantischen Lyriktradition zu, welche das konventionelle Lyrikverständnis vor der Jahrhundertwende noch immer bestimmte, gegen das die Poetik der Frühen Moderne zur selben Zeit programmatisch Stellung bezog.13 Hier soll hingegen gezeigt werden, dass die Alterslyrik Fontanes auch in formaler Hinsicht Beachtung verdient. Die Grundlage dafür ist weniger in bestimmten poetologischen Formtraditionen als vielmehr in der spezifischen Sprechsitu9 | Die Forschungslage zu Fontane als Lyriker ist nach wie vor überschaubar; vgl. Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung, Bd. 2, Berlin/New York 2006, S. 1561-1599. Zu nennen ist hier vor allem die Aufsatzsammlung: Helmut Scheuer (Hg.): Gedichte von Theodor Fontane. Interpretationen, Stuttgart 2001. Die letzte größere monographische Arbeit stammt von Jens Erik Classen: »Altpreußischer Durchschnitt«? Die Lyrik Theodor Fontanes, Frankfurt a. M. 2000. Sie ist freilich in ihrem ideologisch geprägten Zugriff, der die literarischen Texte allzu oft als sozialgeschichtliches Material erscheinen lässt, nur bedingt benutzbar. Sie bestätigt allerdings in ihren exemplarischen Textanalysen das deutliche Auseinanderfallen von Fontanes Lyrik in ein Früh- und Spätwerk, dem gleichsam die Mitte fehlt. 10 | Karl Richter: Die späte Lyrik Theodor Fontanes, in: Hugo Aust (Hg.): Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werks, München 1980, S. 118-142, hier S. 118: »[D]as literarisch ›Junge‹ der Altersromane [hat, D. R.] in der Alterslyrik eine beachtenswerte Parallele«. 11 | Ebd., S. 119. 12 | Vgl. Karl Richter: Lyrik und geschichtliche Erfahrung in Fontanes späten Gedichten, in: Fontane Blätter 39 (1985), S. 54-67, hier S. 55f. (im Vergleich mit dem Pfarrhausidyll von Emanuel Geibel). 13 | Helmut Scheuer schlussfolgert daher aus Richters Einschätzung sehr summarisch: »Für seine [Fontanes. D. R.] Lyrik vor allem förderlich ist seine schon sehr früh entwickelte Skepsis gegenüber dem angeblich typisch ›Lyrischen‹, denn der Verzicht auf diese Tradition macht das Signum der Moderne um 1900 aus.« (Helmut Scheuer: Vorwort, in: ders. (Hg.): Gedichte von Theodor Fontane. Interpretationen, Stuttgart 2001, S. 7-11, hier S. 8). Zur weitgehend epigonalen Lyrik der Zeit vgl. die Textsammlung Lyrik der Gründerzeit, hg. v. Günther Mahal, Tübingen 1973. Eine programmatische Gegenposition formulierte vor allem die Anthologie Moderne Dichter-Charaktere, hg. v. Wilhelm Arent, mit Einleitungen von Hermann Conradi und Karl Henckell, Berlin 1885, hier insbes. die beiden Vorreden von Hermann Conradi: »Unser Credo« (S. I-IV) und Karl Henckell: »Die neue Lyrik« (S. V-VII).

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ation dieser Texte zu suchen14, die ihrerseits aufs Engste mit der zeithistorischen Situierung von Fontanes Alterswerk zusammenhängt.15 In einem Brief an Georg Friedländer hat Fontane selbst auf diesen Zusammenhang hingewiesen, wo er einerseits das Formbewusstsein dieser Gedichte hervorhebt, das er andererseits nicht im Sinn einer normativen Gattungspoetik verstanden wissen will: [E]twas in pomphaft aufgesteifte 5füßige Jamben bringen, heißt noch nicht einen Bericht in eine Dichtung umwandeln. Ohne einen gewissen Zauber der Form geht es nicht, nur kann dieser Zauber sehr verschieden sein, hie Platen, hie Bummelton, das eine, je nachdem, so schön und so berechtigt wie das andre.16

Dieser »Zauber der Form« scheint sich für Fontane aus der Sprechhaltung des jeweiligen Gedichts, insbesondere deren inner- wie außertextueller Angemessenheit zu ergeben. Formalästhetische Aspekte spielen hingegen eine eher untergeordnete Rolle. Seiner Äußerung liegt offenbar sowohl ein morphologischer Begriff der ›inneren Form‹ zugrunde, wie er im Anschluss an Goethe gerade in den Jahren nach 1900 wieder verstärkt diskutiert worden ist17, als auch ein Formbegriff, der stärker kommunikationstheoretische Züge trägt.18 Einen solchen »Zau-

14 | Das korrespondiert in Ansätzen mit der etwa zeitgleich entstandenen Formtheorie des Germanisten Wilhelm Scherer; vgl. Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart/Weimar 2001, S. 272-279, bes. S. 276: »Die ›innere Form‹ ist für Scherer […] allein die Haltung und Wirklichkeitsauffassung des gestaltenden Künstlers, ganz unabhängig von Spezifika des Materials und der traditionsvermittelten ›äußeren Form‹«. Fontane stand Scherer freilich ablehnend gegenüber, dessen »aufs Philologische hin ansehende Berechtigung« ihm »zweifelhaft« erschien; Theodor Fontane an Friedrich Stephany, 16. April 1886, in: ders.: Werke, Schriften und Briefe, Abteilung IV: Briefe, Bd. 3: 1879-1889, hg. v. Otto Drude u. a., Darmstadt 1980, S. 466. 15 | Eine solche »Historizität der eigenen Position« prägt allerdings auch Goethes Alterslyrik, so Mathias Mayer: Weisheit, Rundblick, Dialog – Das lyrische Spätwerk, in: ders.: Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik, Frankfurt a. M. 2009, S. 247-270, hier S. 247. Untersuchungen zu Parallelen und Differenzen von Goethes und Fontanes Alterslyrik scheinen weitgehend Desiderat zu sein. 16 | Theodor Fontane: Brief vom 28. Februar 1892, in: ders.: Briefe an Georg Friedlaender, aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hg. v. Walter Hettche, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 234. 17 | Zur Begriffsgeschichte vgl. Stefanie Arend: Innere Form. Wiener Moderne im Dialog mit Frankreich, Heidelberg 2010, S. 46-76 (darin zur Reaktivierung des Begriffes durch Georg Simmel nach 1900: S. 71-76). 18 | Zu diesem in weitestem Sinn differentiallogischen Formbegriff vgl. Niklas Luhmann: Die Paradoxie der Form, in: ders.: Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, S. 243-261.

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ber der Form« glaubte jedenfalls mit ähnlichen Gründen auch Thomas Mann beim ›alten Fontane‹ entdeckt zu haben: Diese bei aller behaglichen Breite so leichte, so lichte Prosa hat mit ihrer heimlichen Neigung zum Balladesken, ihren zugleich mundgerechten und versmäßigen Abbreviaturen etwas bequem Gehobenes, sie besitzt, bei scheinbarer Lässigkeit, eine Haltung und Behältlichkeit, eine innere Form, wie sie wohl nur nach langer poetischer Übung denkbar ist, sie steht in der Tat der Poesie viel näher, als ihre unfeierliche Anspruchslosigkeit wahrhaben möchte, sie hat poetisches Gewissen, poetische Bedürfnisse, sie ist angesichts der Poesie geschrieben, […] wie seine Greisenverse […] so konzentriert und vollkommen sind, daß man sie sofort auswendig weiß […].19

Dieser Formbewusstheit der späten Lyrik Fontanes soll im Folgenden im historischen wie biographischen Kontext eines ›Alterswerks‹20 nachgegangen werden. Dabei werden in einer lockeren Folge von Einzelanalysen einige besonders charakteristische Gedichte vorgestellt und in der Verschränkung von formalen und inhaltlichen bzw. thematischen Aspekten genauer untersucht.21 Im Zentrum wird dabei der scheinbare Widerspruch zwischen einer ›unlyrischen Lyrik‹ und deren formaler Bestimmtheit stehen. In ihm werden nicht zuletzt Tendenzen einer Lyrik der Moderne sichtbar, die unter einer ganz ähnlichen Problemstellung zu einer genuinen Form zu finden versucht. So zeigt sich gerade in diesem Feld das Spezifische am Alterswerk Fontanes, das – anders als beispielsweise dasjenige Goethes – nicht von einer Abschließungs-, sondern vielmehr von einer Öffnungs19 | Thomas Mann: Der alte Fontane, S. 199. 20 | Gewissermaßen als Pendant zu dem Aufsatz von Henriette Herwig: Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor Fontanes, in: Andrea von Hülsen-Esch, Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg): Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Bd. 1: Aufsätze, Regensburg 2006, S. 52-62. Zum ›Alterswerk‹ vgl. einführend Kai Müller-Jensen: Das Alterswerk – eine Gratwanderung, Karlsruhe 2007 sowie den programmatischen Band von Henriette Herwig (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medien, Freiburg i. Br. 2009 (bes. das Vorwort der Herausgeberin). Speziell zur Literatur außerdem Wenda Focke: Mut – Schreiben heißt Leben. Über das Alterswerk deutschsprachiger Schriftsteller, Düsseldorf 1997. Zur wichtigen Differenzierung von Alters- und Spätwerk vgl. Ingo Stöckmann: Jüngers Spätwerk, in: Matthias Schöning, ders. (Hg.): Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, Berlin/New York 2011, S. 37-60, hier S. 42-44. Während das Alterswerk durch »biologische bzw. epochengeschichtliche Konstellationen« (S. 44, Anm. 34) gekennzeichnet sei, sieht Stöckmann das Spätwerk eher als »Darstellungsproblem« (ebd.). In diesem Sinn wäre bei Fontane eher von einem Alterswerk – aber eben nicht nur − zu sprechen. 21 | Einschlägige Beobachtungen zu dieser Verschränkung finden sich in den Arbeiten von Karl Richter zur Alterslyrik Fontanes: Richter: Die späte Lyrik Theodor Fontanes, sowie: Richter: Lyrik und geschichtliche Erfahrung in Fontanes späten Gedichten.

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figur gekennzeichnet ist.22 Möglicherweise liegt darin der Optimismus des alten Fontane begründet, der im Blick zurück auf sein Werk die Vermutung äußerte: »Alles, was ich geschrieben, auch die ›Wanderungen‹ mit einbegriffen, wird sich nicht weit ins nächste Jahrhundert hineinretten, aber von den ›Gedichten‹ wird manches bleiben«.23

R ÜCKBLICK Rückblicke sind das Vorrecht des Alters. Fontane macht davon in seinen späten Gedichten ausgiebigen Gebrauch; so explizit in einem Rückblick (SW 20, 32)24 überschriebenen Text, der mit der geradezu ›klassischen‹ Sprechsituation des Altersgedichts einsetzt: Es geht zu End’ und ich blicke zurück. Wie war mein Leben? wie war mein Glück?

Wie oft in den späten Gedichten Fontanes zu beobachten, werden Sprecher-Ich und Autor-Ich autobiographisch eng geführt. Darauf deutet auch die Anspielung in den folgenden Versen hin: Ich saß und machte meine Schuh’; Unter Lob und Tadel sah man mir zu.

Damit wird offensichtlich eine Parallele zu Hans Sachs, dem Nürnberger Schusterpoeten 25, gesucht, wobei die Schuhe wohl metonymisch für Gedichte einstehen sollen. Das Sprecher- als Autor-Ich ordnet sich dadurch nicht primär unter die Erzähler, sondern unter die Poeten ein. Unterstrichen wird zudem der hand-

22 | Zu Goethes ›Altersepoche‹ vgl. Marianne Henn: Goethes Verhältnis zum Überlieferten in seinem Alterswerk, Heidelberg 1986, S. 22-27. 23 | Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 9. November 1889, zit. nach: Richter: Die späte Lyrik Theodor Fontanes, S. 118. 24 | Zitiert wird nach der Nymphenburger Ausgabe mit Band und Seitenzahl im Text in Klammern nachgestellt. Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Band XX, hg. v. Edgar Groß, Kurt Schreinert, München 1962. 25 | Gleichfalls darauf aufmerksam macht Helmuth Nürnberger: »Sie kennen ja unsren berühmten Sänger«. Künstler und ihre Welt als Thema Fontanescher Gedichte, in: Fontane Blätter 51 (1991), S. 115-140, hier S. 130. Zur poetologischen Vorgeschichte dieser Anspielung vgl. Dirk Rose: ›Hans Sachs‹. Entstehung und Funktion eines poetologischen Stereotyps in der Frühen Neuzeit, in: Mirosława Czarnecka u.a. (Hg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster, Bern u.a. 2010, S. 443-468.

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werkliche Aspekt des Künstlerberufs, dessen Bedeutung Fontane beispielsweise in dem Epigramm Unter ein Bildnis Adolf Menzels hervorgehoben hat: Gaben, wer hätte sie nicht? Talente – Spielzeug für Kinder, Erst der Ernst macht den Mann, erst der Fleiß das Genie. (SW 20, 276)

Für die Struktur des Gedichts Rückblick ist der auf diesen Vergleich folgende Vers von entscheidender Bedeutung. In ihm wird fast unmerklich der Fokus von einer Eigen- zu einer Fremdperspektive verschoben. Denn derjenige, der die Schuhe respektive Gedichte fabriziert, wird nun zum Gegenstand der Beobachtung Dritter. Deren kontrastive, wenn nicht konfrontative Meinungen stehen sich in den folgenden drei, relativ abrupt einsetzenden Verspaaren jeweils gegenüber, so gleich im ersten: »Du dichtest, das ist das Wichtigste…« »›Du dichtest, das ist das Nichtigste.‹«

Durch die Anführungszeichen werden die Verse als wörtliche Rede nicht näher genannter Sprecher gekennzeichnet, die eine bestimmte gesellschaftliche Ansicht pro und contra Dichtkunst vertreten. Mit anderen Worten: Es sind Diskurse, nicht Individuen, die hier Verse machen.26 Darum sind die Sprecher auch im Indefinitpronomen ›man‹ als bloße entindividualisierte Meinungsträger präsent. Allerdings sollte man auf die sublime Handhabung der Anführungszeichen Acht geben. Während die Rede von Sprecher A, der die Position pro Dichtkunst vertritt, nur einmal in Anführungszeichen steht, erscheint die Contra-Position B in zweifachen Anführungszeichen – und damit nicht als einfaches ›Zitat‹, sondern als uneigentliche Rede, die eine zur sozialen Konvention gewordene Position ohne jede persönliche Zurechnung artikuliert.27 Freilich handelt es sich bei ihr um die zahlenmäßig größere Gruppe, wie die beiden Schlussverse zeigen. In ihnen ergreift der Sprecher des Gedichts – kenntlich durch die fehlenden Anführungszeichen – wieder das Wort:

26 | Darauf hat bereits Kurt Wölfel (im Hinblick auf Fontanes Romane) hingewiesen; Kurt Wölfel: »Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch«. Zum Figurenentwurf in Fontanes Gesellschaftsromanen [1963], in: Wolfgang Preisendanz (Hg.): Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 329-353, hier S. 343: »Das Erfassen der eigenen oder auch der anderen Person mittels vorgegebener Muster und Exempel ist für Fontanes Figuren ebenso charakteristisch, wie z. B. ihre Neigung, sich den eigenen Ausdruck durch ein Zitat zu ersparen«. 27 | Hermann Lübbe resümiert zu Recht: »Auf solche Typik kommt es Fontane an«; Hermann Lübbe: Fontane und die Gesellschaft [1963], in: Wolfgang Preisendanz (Hg.): Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 354-400, hier S. 355.

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Dirk Rose Von hundert geliebt, von tausend mißachtet, So hab ich meine Tage verbracht.

Damit endet dieser Rückblick, der den Leser vermutlich enttäuscht, zumindest aber irritiert zurück lassen dürfte. Denn das in den ersten beiden Versen gegebene Versprechen, ein Autor-Ich schaue in monologischer Sprechweise auf sein Leben zurück, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen sieht sich der Leser mit einem Stimmengewirr auf wenigen Zeilen konfrontiert, das gegensätzliche stereotype Meinungen über den Wert einer Schriftstellerexistenz artikuliert und hinter dem derjenige, der diese Existenz geführt und einen Rückblick darauf angekündigt hat, fast vollständig verschwindet. Das gilt selbst noch für die Schlusssequenz, in welcher der Sprecher des Gedichts wieder zu Wort kommt. Das Resümee, das dort gezogen wird, ist weder von einer subjektiven Aussprache noch der Gewissheit über das im Leben Geleistete getragen. Vielmehr definiert sich dieser Sprecher ausschließlich über die Urteile der Beobachter über ihn. Das Autor-Subjekt erscheint so als Konstruktion einer sozialen Kommunikation, die Identifikationsangebote durch positive oder negative Werturteile über Literatur bereitstellt, ohne dass damit im Mindesten etwas über die Person des Literaturproduzenten selbst ausgesagt wäre.28 Worauf er zurückblicken könnte, bleibt ungewiss, da es gar nicht zur Sprache kommen kann. Diese nämlich wird von einer sozialen Kommunikation bestimmt, die über kontrastive bzw. konträre Selbstpositionierungen ihrer Sprecher reguliert wird, und der das Autor-Subjekt lediglich als Objekt, nämlich als Gesprächsgegenstand, dient.29 Schon an diesem Gedicht wird deutlich, wie stark Fontane mit traditionellen Erwartungshaltungen und Sprachmustern eines ›Alterswerks‹ bricht. Eine subjektiv abgesicherte, monologische Aussprache findet nicht statt. Vielmehr bleibt sogar noch die Positionierung des Alterswerkes dem Einfluss seines Autors entzogen und in ein soziales Deutungs- wie Geltungsgeflecht eingebunden. Damit verliert es einerseits die Möglichkeit, zum idiosynkratrischen Rückzugsraum zu werden30; andererseits wird dadurch eine lyrische Form provoziert, welche nicht primär vom Monolog, sondern von Dialogizität bestimmt ist, insofern nämlich 28 | Das Problem ist in den umfänglichen Autorschaftsdebatten der letzten Jahrzehnte mitdiskutiert worden; vgl. nur die mit eigenem Anschauungsmaterial angereicherten Überlegungen von Umberto Eco: Zwischen Autor und Text [1990], in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 279-294. 29 | Vgl. die knappe Skizze zur »sozialen Dimension« von Kommunikation, die auch auf das erkenntnistheoretische Problem ihrer Subjekt-Objekt-Unterscheidung eingeht (ohne freilich wiederum nach deren sozialem Ort zu fragen), bei Dirk Baecker: Kommunikation, Stuttgart 2005, S. 52-55. 30 | Modell hierfür steht vermutlich Horaz; vgl. Hans-Christian Günther: Die Ästhetik der augusteischen Dichtung: eine Ästhetik des Verzichts. Überlegungen zum Spätwerk des Horaz, Leiden 2010.

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im Alterswerk exemplarisch konträre Positionen und Zeitströmungen gebündelt werden, durch die es erst seine spezifische Kontur gewinnt.

D IE A LTEN UND DIE J UNGEN Anführungszeichen stehen auch zu Anfang des Gedichts Die Alten und die Jungen (SW 20, 71): »Unverständlich sind uns die Jungen« Wird von den Alten beständig gesungen; Meinerseits möchte ich’s damit halten: »Unverständlich sind mir die Alten.«

Der erste Vers ist dabei erneut als stereotype Aussage einer bestimmten Gruppe zu verstehen, von der sich der Sprecher auf geradezu kategorische Weise abzugrenzen versucht. Das wird in dem Chiasmus von erstem und zweitem Verspaar ebenso deutlich wie in dem Semikolon, das eine Zäsur zwischen beiden setzt, sowie nicht zuletzt in dem Wechsel vom Kollektiv- zum Personalsingular (von »uns« zu »mir«). Mit ihm wird die Eigenständigkeit der Position des Sprechers gegenüber kollektivierenden Sprech- und Denkkonventionen betont, die durch die Selbstansprache zu Beginn des zweiten Verspaares (»meinerseits«) unmissverständlich hervortritt. Bereits der Beginn des Gedichts markiert so aufs Schärfste jene antithetische Struktur, die ihm zugrunde liegt.31 Sie findet sich auch im Titel des Textes angekündigt; freilich in einer etwas anderen Konstellation. Dort sind mit den Alten und den Jungen zwei gesellschaftliche Gruppen aufgerufen, die sich – ähnlich wie in dem Gedicht Rückblick – konfrontativ gegenüber stehen. Allerdings erscheint hier der Konflikt grundsätzlicherer Natur. Denn waren es dort die Verteidiger und Verächter der Poesie, so sind mit den Alten und den Jungen zwei biologisch determinierte Gruppen als Streitparteien eingeführt, deren Zugehörigkeit man nicht frei wählen und denen man sich nicht entziehen kann. Jeder gehört entweder zu der einen oder der anderen Gruppe, ein Drittes gibt es nicht. Und doch ist es genau diese Position des Dritten, welche der Sprecher im Gedicht für sich reklamiert. Um das zu verstehen, sollte man den Konflikt zwischen Alt und Jung in dem Text nicht allein unter anthropologischen, sondern gleichfalls unter historischen Gesichtspunkten betrachten. In ihm werden die Widersprüche und gesellschaftlichen Konflikte an der Epochenschwelle zur Moderne symbolisiert.32 Man kann 31 | Zur generellen Bedeutung der Antithetik in den späten Gedichten Fontanes vgl. Richter: Die späte Lyrik Theodor Fontanes, S. 131f. 32 | Exemplarisches Beispiel hierfür ist die dezidiert ›moderne‹ Zeitschrift Jugend, die 1896 erstmals erschien; vgl. Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften 1885-1910, Stuttgart 1961, S. 51f.

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hier beispielsweise an die konservativen Bismarck-Anhänger auf der einen und die Sympathisanten für das ›junge Kaisertum‹ von Wilhelm II. auf der anderen Seite denken; schließlich sei, so Lothar Gall, mit der Entlassung Bismarcks im Jahr 1890 »der Rubikon zur modernen Industriegesellschaft in Deutschland endgültig überschritten« gewesen.33 Der Konflikt zwischen Alt und Jung wird so zur Epochensignatur, deren Spuren sich fast überall in den späten Gedichten Fontanes finden lassen.34 Er korrespondiert in auffälliger Weise mit der biographischen Situation des Autors zwischen individuellem Lebensende und historischem Epochenanfang. Gerade deshalb ist es von besonderer Bedeutung, welche Position der Sprecher in dem Gedicht Die Alten und die Jungen einnimmt, insbesondere da auch in diesem Text Sprecher- und Autorinstanz wieder relativ eng geführt werden. Hier scheint die Sache zunächst klar zu sein: Sprecher und Autor gehören selbst zu den Alten. Allerdings ist es deren Position, gegen die, wie bereits gesehen, schon in den ersten Zeilen Front gemacht, und die mit einer altertümelnden Sprechweise einige Verse später fast verhöhnt wird, wenn der Sprecher parodistisch anmerkt: »Ach, ich kann es nicht verstahn«. Da dem Text eine strenge Antithetik alt/jung zugrunde liegt, müsste der Sprecher demzufolge auf der anderen Seite, bei den Jungen, zu finden sein. Tatsächlich ergreift er für die Jugend Partei; aber er wird nicht Teil von ihr, was schon aus biologischen Gründen unmöglich ist. Vielmehr reklamiert er für sich eine Beobachterposition außerhalb der beiden Gruppen, von der aus er ein Urteil zugunsten der einen oder der anderen Seite fällen kann. Eine solche Positionierung ist aber im Streit zwischen Alt und Jung eigentlich unmöglich, da man anthropologisch gezwungen ist, einer der beiden Parteien anzugehören. Fontanes Beharren auf einer eigenständigen Position selbst noch in dieser Frage kann in mindestens zweierlei Hinsicht gedeutet werden. Realweltlich zeigt es die Freiheit, die man erlangt, wenn man sich qua Willensakt gegen eine deterministische Zuordnung entscheidet − ein zentrales Problem, und zwar gerade im Hinblick auf eine biologische Determination, in den zeitgleichen Debatten des Naturalismus.35 Literarisch unterstreicht es den spezifischen Stellenwert von Literatur (und Kunst allgemein). Erst dort wird diese Position glaubhaft möglich, da der Sprecher des Gedichts als alterslose Stimme eines Textes erscheint, der anderen Zyklen des Alters bzw. ›Veraltens‹ unterworfen ist als den

33 | Lothar Gall: Otto von Bismarck und Wilhelm II.: Repräsentanten eines Epochenwechsels?, in: ders.: Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels?, Paderborn 2000, S. 1-12, hier S. 7. 34 | Daran schließen die meisten sozialhistorischen bzw. geschichtsphilosophischen Interpretationen an; am prominentesten (und problematischsten) wahrscheinlich diejenige von Georg Lukács: Der alte Fontane [1950], in: Wolfgang Preisendanz (Hg.): Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 25-79. 35 | Vgl. Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880-1900, Berlin/New York 2009, bes. S. 41-71.

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biologischen.36 Daher kann es sich dieser Sprecher erlauben, den realweltlichen Konflikt, in dem er als Urteilsinstanz auftritt, gar nicht entscheidend zu lösen, sondern ihn – wenngleich mit Präferenz für die Seite der Jugend – in der Schwebe zu lassen.37 Als Textkonstellation wird er vielmehr dem interpretatorischen Geschick der Nachgeborenen als nun primär literaturgeschichtliches Problem übergeben38, dessen historische Situierung den Konflikt selbst bereits als historischen erscheinen lässt. Man kann darin eine generelle, wenngleich nicht überall mit derselben Intensität wirksame, rhetorische Strategie in der Alterslyrik Fontanes entdecken. Die antithetische Struktur des Textes wird zur Epochensignatur erweitert, um eine spezifische Sprechsituation zu generieren, in welcher der Sprecher des jeweiligen Gedichts zugleich Beteiligter (als historisches Subjekt) wie Unbeteiligter (als überzeitliche Sprecher- bzw. Autorinstanz) ist. Das unterscheidet letzten Endes auch Fontanes späte Lyrik von seinen Romanen.39 In ihr wird zwar analog zur Argutia-Tradition der rhetorischen Poesie, insbesondere der Frühen Neuzeit, der im Text anzitierte Konflikt meist in einen pointenhaften Schluss überführt.40 Dieser aber ›löst‹ den Konflikt nicht, sondern zeigt − auch darin der alteuropäischen Poetik verwandt − vor allem dessen kunstvolle Handhabung.41 Damit werden realweltliche historische Konflikte in einen größeren literatur- und kulturgeschichtlichen Kontext eingebettet, wo sie keine Lösung erfahren, wohl aber dem Interesse der Literar- und Kulturhistoriker begegnen können. Der ewige Konflikt zwischen 36 | Zu den unterschiedlichen ›Modi des Alterns‹ in der Kunstproduktion vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [1992], Frankfurt a. M. 2001, S. 235-249. 37 | Georg Lukács macht daraus den Vorwurf mangelnder Parteilichkeit an die Adresse Fontanes: »So wird Fontane – je reifer, desto mehr – zur schwankenden Gestalt, zu einem Menschen und Schriftsteller, der für keine der kämpfenden Klassen oder Parteien wirklich zuverlässig ist.« Lukács: Der alte Fontane, S. 40. 38 | Wie sehr Fontane seine zeitbezogenen Gedichte unter dem Aspekt ihres Kunstwerkcharakters betrachtet hat, zeigt mit weiteren Belegen Claudia Bickmann: »So banne dein Ich in dich zurück«. Zum gedanklichen Gehalt der Spätlyrik Fontanes, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband: Theodor Fontane, München 1989, S. 203-217, hier S. 210f. 39 | Und zwar dadurch, dass sich Lyrik immer erst im jeweiligen Sprechakt realisiert; vgl. Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik, in: Poetica 27 (1995), S. 38-57, bes. S. 38f. 40 | Zur frühneuzeitlichen acutezza, die ihre Wurzeln in der humanistischen Rhetorik hat, vgl. im Kontext der Lyrik Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1980, S. 209-282. 41 | Vgl. Franz Günther Sieveke: »Argutia« − ein rhetorischer Gag? Ästhetik und gelehrte Schreiberintention, in: Peter Heßelmann u.a. (Hg.): »Das Schöne soll sein«. Aisthesis in der deutschen Literatur, Festschrift Wolfgang F. Bender, Bielefeld 2001, S. 57-72.

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Alt und Jung wird so zu einer Abfolge von historischen Konflikten, die allererst ein historiographisch profiliertes Narrativ ermöglichen, an dessen Bruchstellen die Kunst als Ort der Konfliktverschärfung und -vermeidung nistet.42

S PÄTES E HESTANDSGLÜCK Unter dem harmlosen Titel Spätes Ehestandsglück (SW 20, 67f.) verbirgt sich eines der brisantesten Gedichte Fontanes. Es erzählt von einem »alten Geheimrat« 43, der mit über sechzig Jahren eine glückliche, wenngleich nicht standesgemäße Ehe mit einer »Wirtin und Plättfrau« eingegangen ist und zum Neujahrstag einen Brief an seinen Vetter schreibt, in dem er von seinem neuen Leben im Alter berichtet. Darin finden sich auch folgende Zeilen: Ich hielt es aufrichtig mit Schelling und Hegel, Jetzt bin ich für Pankow, Schönhausen, Tegel, Ich hielt es früher mit Wieland und Herder, Jetzt bin ich für Sacrow und Pichelswerder[.]

Auch wenn dieses Bekenntnis in den beiden folgenden Versen, wo heute vergessene Theaterautoren auf Kosten Goethes gelobt werden44, eine gewisse ironische Relativierung erfährt, macht es doch nicht weniger hellhörig. Und zwar nicht nur, weil hier geradezu mustergültig jene Wendung vorgeführt wird, die knapp hundert Jahre später als spatial turn theoretisch nobilitiert und als Novität angepriesen werden sollte45, sondern ebenso, weil die antithetische Struktur des Gedichts das gesamte 19. Jahrhundert umfasst, dessen Anfang und Ende diametral gegenüber gestellt werden. Die Hauptfigur des Textes erscheint dabei gewissermaßen als Verkörperung dieses Jahrhunderts, Jugend und Alter korrespondieren mit Anfang und Ende des Säkulums. Interessant ist daher die deutliche Positionierung des bejahrten 42 | Zur »narrativen Sinnbildung« und »kognitiven Prägnanz« der Historiographie im Zeichen von Ästhetik und Rhetorik vgl. Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, S. 24-34, Zitate auf S. 24. 43 | Fontane selbst hatte eine Hofratsstelle ausgeschlagen; vgl. den letzten Abschnitt dieses Beitrags. 44 | Es handelt sich dabei um Gustav Heinrich von und zu Putlitz (1821-1890), Gustav von Moser (1825-1903) und Hugo Lubliner (1846-1911), allesamt erfolgreiche Berliner Autoren ihrer Zeit, vor allem von Lustspielen. 45 | Vgl. beispielhaft das Kapitel Spatial turn, endlich bei Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M. 22007, S. 60-71; wobei hinzugefügt werden muss, dass es Schlögel gerade um eine Historisierung dieses turns geht.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form«

Sprechers. Seine Sympathien gelten nicht jener durch Philosophie und Literatur geprägten Epoche seiner Jugend, sondern vielmehr der zeitgenössischen Gegenwart kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert, die offenbar unter einem neuen Paradigma steht. Diese Sprecherpositionierung dient auch dazu, den alten Geheimrat als einen von sozialen Konventionen unabhängigen Menschen zu zeigen, der sich gleichermaßen über Standesvorurteile wie über tradiertes Bildungsgut hinwegsetzt, so dass er seinem Vetter als Generalregel mit auf den Weg geben kann: O lern’ auch Du hinter derlei Sachen Ein großes Fragezeichen machen[.]

Das Fragezeichen, das die weiter oben zitierten Verse ›machen‹, ist allerdings von geradezu historischer Dimension. Es ist die definitive Verabschiedung jener von Heine so genannten und bereits von ihm für beendet erklärten »Kunstperiode«46, deren normative Kraft nichtsdestoweniger das ganze 19. Jahrhundert kulturell prägte.47 In den vier Versen Fontanes erleidet diese von Transzendentalphilosophie und klassischer Ästhetik geprägte Tradition an den Gestaden von Havel und Spree endgültig Schiff bruch.48 Denn es sind nicht etwa neue geistige Strömungen oder Autoren, die als zeitgemäßes Gegenbild aufgerufen werden; vielmehr sind es einzelne, topographisch lokalisierbare Orte, die einen eigenen, der klassischen Tradition überlegenen Wissensanspruch zu begründen in der Lage sein sollen.49 An die Stelle eines Buch- bzw. Schriftwissens, das über kanonische Autoren bzw. Texte tradiert wird50, tritt ein Erfahrungswissen, das seinen konkreten Ort in der empirischen Realität hat und mit Hilfe der Historiographie lediglich ›vertieft‹ werden kann.51 Man darf das nicht zuletzt als ideengeschichtliche Recht46 | Heinrich Heine: Die romantische Schule, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3., München/Wien 31996, S. 357-504, hier S. 395. 47 | Entsprechende Tendenzen lassen sich bspw. aus der Studie ablesen von Michael Feldt: Ästhetik und Artistik am Ende der Kunstperiode, Heidelberg 1982, bes. S. 13-15. 48 | Wie immer lässt sich bei Fontane auch ein Gegenbeispiel finden. So heißt es in dem Gedicht von Fritz Katzfuß (SW 20, 55-57): »Ein Band von Goethe / Blieb mir bis heut mein bestes Wehr und Waffen«. 49 | Zu den epistemischen Voraussetzungen eines solchen Geltungsanspruchs vgl. Dirk Rose: Die Verortung der Literatur. Präliminarien zu einer Poetologie der Lokalisation, in: Martin Huber u.a. (Hg.): Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien, Berlin 2012, S. 39-57. 50 | Zu den schriftkulturellen Anfängen und Grundstrukturen einer kanonischen Tradierungspraxis vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 103-129. 51 | Vgl. aktuell Katrin Scheiding: Raumordnungen bei Fontane, Marburg 2012, bes. S. 175-187, wo die räumlichen Kategorien freilich zu stark abstrakt und nicht in ihrer konkrethistorischen Dimension, wie bei Fontane selbst, gedacht werden.

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fertigung für die Wanderungen durch die Mark Brandenburg lesen52, die weit mehr als bloße Reiseliteratur sein wollen. So lohnend und notwendig es wäre, diese brisante ideengeschichtliche Konstellation weiter zu verfolgen, so muss hier genügen, festzuhalten, dass die antithetische Form, welche einen Großteil der Alterslyrik Fontanes prägt, auch eine geschichtsphilosophische Dimension besitzt. Ihr liegt die Wahrnehmung eines fundamentalen historischen Wandels gegen Ende des 19. Jahrhunderts zugrunde, welcher nahezu alle Lebensbereiche – bis zur Eheführung – in ein antithetisches Verhältnis zu den eigenen tradierten Mustern setzt. Das greifen die Gedichte auf und steigern es häufig bis ins Paradoxe hinein; das Bekenntnis des alten Geheimrats ist davon ebenso wenig frei wie der ins Groteske übergehende Wunsch nach Reichtum in dem Gedicht Arm oder Reich (SW 20, 71-73), das mit den Zeilen schließt: So reich sein, das könnte mich verlocken – Sonst bin ich für Brot in die Suppe brocken.

Zusammengehalten werden diese historischen Fliehkräfte von einer Sprecherinstanz, die nur scheinbar abseits von ihnen steht. Denn sie ist zugleich als historisches Subjekt von eben jenen Widersprüchen zutiefst geprägt.53 Es ist letzten Endes nur noch die Form des Gedichts, welche diesen historischen Widersprüchen Gestalt verleiht; so wie es selbst seine Form erst aus ihnen, nicht aber länger aus dem Reservoir der tradierten Ästhetik, erhält. Im Grunde wird hier bereits einer Ästhetik moderner Poesie vorgearbeitet, die ihre Form lediglich aus der spezifischen Sprechsituation des jeweiligen Gedichts gewinnt.54

J A , DAS MÖCHT ’ ICH NOCH ERLEBEN Sind Rückblicke ein Vorrecht des Alters, so bisweilen auch die Resignation. Das Gedicht Ja, das möcht’ ich noch erleben (SW 20, 53f.), das erneut stark autobiographische Züge aufweist, beginnt mit den Worten:

52 | Vgl. nur das Havelland-Gedicht zu Beginn des 3. Bandes der Wanderungen, in dem eine Litanei aus brandenburgischen Ortsnamen eine ganze Strophe bildet, welche ihre Selbstevidenz aus eben diesen topographischen Bezeichnungen bezieht (Theodor Fontane: Havelland, in: ders.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3: Havelland, hg. v. Gotthard Erler, Rudolf Mingau, Frankfurt a. M. 1989, S. 7-9). 53 | Bickmann: »So banne dein Ich in dich zurück«, S. 203 spricht von einer »Skepsis als Lebenshaltung« bei Fontane, die sich auch gegen ihn selbst richte. 54 | Vgl. die Bestimmung moderner Poesie bei Roland Barthes: Le degré zéro de l’écriture. Suivi de Nouveaux essais critiques, Paris 1972, S. 38f.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form« Eigentlich ist mir alles gleich, Der eine wird arm, der andre wird reich

Der Eingangsvers wird, leicht variiert, jeweils zu Beginn der drei Strophen wieder aufgenommen. Die zweite Strophe setzt wunderbar unbestimmt ein: »Es ist alles so, so«; und am Anfang der dritten Strophe heißt es verallgemeinernd zugespitzt: »Eigentlich ist alles nichts«. Freilich deutet das Wort ›eigentlich‹ auf ein Konditionalgefüge hin, dem ein zweiter Teil folgt, der das im ersten Teil formulierte a priori relativiert, wenn nicht gar aufhebt.55 Und tatsächlich schließt an das oben zitierte Verspaar das folgende an: Aber mit Bismarck, − was wird das noch geben? Das mit Bismarck, das möcht’ ich noch erleben.

Die Antithese, die hier aufgerufen wird, steht in einem direkten Verhältnis zum Alter des Sprechers: auf der einen Seite das mehr oder weniger nahe Lebensende, auf der anderen die im historischen Wandel begriffenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Für sie zeigt der Sprecher ein noch immer waches Interesse. Was es mit Bismarck ›gibt‹ − gemeint sein dürften die Vorgänge um dessen Demission 1890 −, will er jedoch vermutlich weniger aus Sympathie für dessen Politik noch erleben.56 Stattdessen erwartet er von diesem Ereignis tiefgreifende historische Veränderungen, denn es ist der Epochenwandel selbst, der in der Ablösung Bismarcks manifest wird 57, und als dessen Zeuge der Sprecher fungieren will. In Anbetracht dieser historisch-politischen Dimension überrascht, womit dem resignierenden ›eigentlich‹ in der zweiten Strophe begegnet wird. Nach der Klage, es sei bei allem »nicht viel dahinter«, heißt es: Aber mein Enkel, so viel ist richtig, Wird mit Nächstem vorschulpflichtig,

55 | Das betont auch Karl Richter in seiner Besprechung des Gedichts, der die folgenden Ausführungen viel verdanken; Karl Richter: Altersbewußtsein und Alterslyrik in Fontanes Gedicht Ja, das möchte ich noch erleben, in: Helmut Scheuer (Hg.): Gedichte von Theodor Fontane, S. 219-229, hier S. 220: »Und doch ist in dem ›Eigentlich‹ bereits versteckt die Frage enthalten, ob es sich wirklich ganz so verhält.« 56 | Bismarck ist eine zentrale historische Referenzfigur für Fontane, zu der er freilich ein ambivalentes Verhältnis pflegte; vgl. nur die knappe biographische Skizze Bismarck, in: Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bd. 19: Politik und Geschichte, unter Mitwirkung von Kurt Schreinert hg. v. Charlotte Jolles, München 1969, S. 719-729. 57 | Man denke nur an die legendäre Karikatur im Punch von John Tenniel Dropping the Pilot (»Der Lotse geht von Bord«) aus dem Jahr 1890.

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Dirk Rose Und in etwa vierzehn Tagen Wird er eine Mappe tragen, Löschblätter will ich in’s Heft ihm kleben – Ja, das möcht’ ich noch erleben.

Man kann das als Ineinander von großer und kleiner Welt lesen, als Betonung des Alltäglichen − der »näheren Dinge«, wie es in dem Gedicht Verzeiht (SW 20, 52) heißt −, das Fontane im Alter immer wichtiger wurde.58 Gleichwohl lässt sich eine thematische Analogie zur ersten Strophe herstellen, welche auf die formale Einheit des Textes abhebt. Denn wie das Geschehen um Bismarck den Beginn einer neuen Epoche markiert – nämlich des ›Wilhelminismus‹59 −, so gleichfalls die Einschulung des Enkels. Es ist seine Generation, die diese neue Epoche prägen und von ihr bestimmt sein wird.60 Die Einschulung ist dafür der erste (und möglicherweise entscheidende) Sozialisierungs- und Vergemeinschaftungsschritt.61 Die dritte Strophe wendet den Konflikt zwischen Resignation und Lebenswillen dann ins Allgemeine und stellt ihn als eine Grundkonstellation menschlicher Existenz dar: Immer klingt es noch daneben: Ja, das möcht’ ich noch erleben.

58 | Zu dieser »Geschichtlichkeit des Alltags« in der späten Lyrik Fontanes vgl. Richter: Lyrik und geschichtliche Erfahrung in Fontanes späten Gedichten, S. 54-58. Vgl. dazu auch Jürgen Fohrmann: Homogene Zeit und Alltagswelt (Theoder Fontanes späte Lyrik), in: Edward McInnes, Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848– 1890, München 1996, S. 453-456. 59 | Vgl. in kulturgeschichtlicher Perspektive Rüdiger vom Bruch: Kaiser und Bürger. Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in: Adolf M. Birke, Lothar Kettenacker (Hg.): Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München 1989, S. 119-146. 60 | Ein Vertreter dieser Generation ist unter anderem Diederich Heßling, der Protagonist von Heinrich Manns Der Untertan (1919). Die Einschulung erscheint auch hier nicht zufällig gleich zu Beginn als vielleicht markanteste Zäsur: »[N]ach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule« (Heinrich Mann: Der Untertan, hg. v. Peter-Paul Schneider, Frankfurt a. M. 1991, S. 12). 61 | Das zeigt nicht zuletzt die fast unüberschaubare Literatur zu diesem Thema; vgl. als einen Titel unter vielen: Martin Plieninger, Eva Schumacher (Hg.): Auf den Anfang kommt es an. Bildung und Erziehung im Kindergarten und im Übergang zur Grundschule, Schwäbisch Gmünd 2007.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form«

Damit wird nicht nur einer landläufigen Meinung, welche die Hauptaufgabe des Alters in Bescheidung und Vorbereitung auf das Sterben sieht 62, eine fast jugendliche Neugierde entgegengesetzt. Indem diese Neugierde auf Ereignisse gerichtet ist, deren Folgen mit einiger Wahrscheinlichkeit weit über die Lebenszeit des Sprechers hinausreichen, wird dessen eigene Position gleichsam über sein Lebensende hinaus verlängert. Das legt bereits die stufenweise Entzeitlichung der konkreten historischen Sprecherposition von Strophe zu Strophe nahe. Sind es in der ersten Strophe noch die zeitlich genau lokalisierbaren und zunächst begrenzt bleibenden Ereignisse um die Demission Bismarcks (selbst bereits ein alter Mann), so wird in der zweiten Strophe der Fokus auf den Enkel des Sprechers verschoben und damit ein Zeithorizont eröffnet, der über die Lebenszeit des Sprechers hinaus reicht. In der dritten Strophe schließlich ist ein konkreter Zeithorizont vollends zugunsten einer allgemeinen anthropologischen Aussage aufgehoben, die als zeitlose moralische Reflexion der condition humaine im Sinne der französischen Moralistik erscheint.63 Das refrainartige »Ja, das möcht’ ich noch erleben« jeweils am Strophenende ist also mehr als bloße Antwort auf die Konditionalkonstruktion zu Beginn jeder Strophe. Es transzendiert den Ort des Sprechers über seine biologisch gebundene Geschichtlichkeit hinaus – in ›die‹ Geschichte, deren Zeuge er war, und die spätere Generationen (auch mit seiner Hilfe) schreiben werden.64 62 | Und zwar in stoizistischer Tradition; vgl. Andreas Urs Sommer: Die Kunst der Seelenruhe. Anleitung zum stoischen Denken, München 2009, S. 100f. 63 | Vgl. das Standardwerk von Jürgen von Stackelberg: Französische Moralistik im europäischen Kontext, Darmstadt 1982. Fontanes Beziehung zu Frankreich, insbesondere zur französischen Literatur, wird meist mit Blick auf seine Herkunft erörtert, obwohl Paul Amann bereits 1914 warnte: »Wie es heute um Rassenpsychologie bestellt ist, wäre es ein überhebliches Spiel, in einer Reihe von Gedichten und Romanen seelische Eigentümlichkeiten ›entdecken‹ zu wollen, deren fremde, deren französische Herkunft […] nur aus diesen Dichtungen auch nicht in einem Falle zwingend darzutun wäre.« (Paul Amann: Theodor Fontane und sein französisches Erbe, in: Euphorion 21 [1914], S. 270-287 [Teil 1], hier S. 271) Entsprechend beschränkt sich Amann auf eine Analyse von textuellen Bezügen; zu Fontanes Kenntnis der französischen Klassik vgl. ebd., S. 640f. (Teil II). 64 | Auch das ist letztlich ein Plädoyer für Tegel und gegen Hegel, der angesichts der Histoire de mon temps von Friedrich dem Großen schreibt: »Hochgestellt müssen eigentlich solche Männer sein. Nur wenn man oben steht, kann man die Sachen recht übersehen und jegliches erblicken, nicht wenn man von unten herauf durch eine dürftige Öffnung geschaut hat.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1970, S. 14). So gesehen lässt sich Fontanes Werk über weite Strecken als eine alternative preußische Geschichtsschreibung lesen: nicht von oben nach unten, sondern als ein Blick gleichsam quer durch alle soziale Schichten. Zur Transzendierung von Geschichte in der Geschichtsschreibung heißt es bei Hegel zwei Seiten weiter: »Die Begebenheiten sind verschieden, aber das Allgemeine und Innere,

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W ÜRD ES MIR FEHLEN , WÜRD ICHS VERMISSEN ? Das Gedicht Würd es mir fehlen, würd ichs vermissen? (SW 20, 28) scheint auf den ersten Blick im Gegensatz zum vorhergehenden zu stehen. Es zeigt den Sprecher »nach gut durchschlafener Nacht« am Frühstückstisch, die Zeitung lesend. Danach geht er zum Fenster und beschreibt, was er dort sieht: Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter, Es trabte wieder, es klingelte munter, Eine Schürze (beim Schlachter) hing über dem Stuhle, Kleine Mädchen gingen nach der Schule.

Die morgendliche vitale Szenerie führt den Sprecher allerdings nicht zu dem emphatischen Ausruf: »Ja, das möcht’ ich noch erleben«. Vielmehr ist sie Anlass für eine Reflexion über das nahe Lebensende: Alles war freundlich, alles war nett, Aber wenn ich weiter geschlafen hätt’ Und tät’ von alledem nichts wissen, Würd’ es mir fehlen, würd’ ichs vermissen?

Diese Gedanken stehen in offenkundigem Widerspruch zu dem, was der Sprecher sieht. Freilich sind sie, anders als die vorangegangen Beobachtungen, nicht im Indikativ, sondern als Frage formuliert, die zunächst allein an den Sprecher adressiert zu sein scheint. Da sie aber am Ende des Gedichts steht, wird sie nolens volens an den Leser (oder Hörer) weitergegeben, der nun seinerseits zu einer Antwort aufgefordert ist – nicht zuletzt deshalb, weil der Nachhall und der Raum weißen Papiers, welche diesem letzten Vers folgen, eine Art Resonanz geradezu herausfordern.65 Wie der Sprecher des Gedichts diese Frage für sich beantworten mag, ist dabei unerheblich (weil nicht verifizierbar); immerhin steht die topische Möglichkeit einer Altersmüdigkeit im Raum, die sich nach dem ewigen Schlaf des Todes sehnt. Der Leser jedoch hat beinahe keine andere Wahl, als diese Frage mit ›Ja‹ zu beantworten. Denn mit einem ›Nein‹ würde er sein eigenes Interesse an dem Text negieren. Es bedeutete nämlich nicht nur, dass die geschilderte Szenerie weder fehlen noch vermisst werden würde. Gleiches gälte auch für die der Zusammenhang einer. Dies hebt die Vergangenheit auf und macht die Begebenheit gegenwärtig.« (ebd., S. 16). 65 | Diesen ›Appellcharakter‹ eines Gedichts, der bereits durch das Druckbild hervorgerufen wird, lässt Dieter Burdorf in seinen Anmerkungen zur »graphischen Ausdrucksform« bzw. zum »Rand des Gedichts« (der allererst weiß und damit offen für Einschreibungen jeder Art ist) außen vor; vgl. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart/Weimar 2 1997, S. 41-52 bzw. S. 130-134.

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Verse, in denen sie zur Darstellung gebracht worden ist. Sie wären dann so überflüssig wie ein Leser, der sie liest, um sie am Ende für überflüssig zu erklären. Man sollte diesen rhetorischen Kniff Fontanes ernst nehmen.66 Denn es geht in dem Text um nichts weniger als die Verlängerung der eigenen Schriftstellerexistenz über den Tod hinaus. Und zwar einerseits dadurch, dass die darin aufgeworfene Frage – wie gesehen – zur Beantwortung an die Nachwelt delegiert wird. Andererseits dadurch, dass die ›Rettung‹ der eigenen physischen Erfahrungswelt im und durch das Gedicht sichergestellt werden soll. Das macht vor allem der recht prosaisch anmutende Vers von der Schürze beim Schlächter deutlich.67 Schon stark an eine impressionistische Methode erinnernd68, bildet er den Wahrnehmungsvorgang des Sprechers ab, der zunächst auf die Schürze aufmerksam wird und erst im Anschluss daran sich selbst mit Hilfe seines Erfahrungswissens darüber informiert, an welchem Ort sie sich befindet, wobei durch die Einklammerung der Information auf fast schon mimetische Weise das Unter- oder Nebenbewusste dieses Vorgangs illustriert wird.69 Eine Schürze über einem Stuhl (zumal beim Schlachter) wäre nun wahrlich nichts, was keinesfalls vor dem Vergessen bewahrt werden müsste. Doch indem dieses Objekt überhaupt erst jenen Wahrnehmungsvorgang stimuliert, der dann eine Verszeile generiert, in welcher eben dieser Vorgang festgehalten wird, gewinnt die Schürze jene auratische Wirkung einer Epiphanie, wie sie auf den zeitgleichen Gemälden des Impressionismus gerade den unspektakulärsten, alltäg-

66 | Im Sinne der klassischen Rhetorik wird hier ein enthymema des Widerspruchs aufgebaut, dessen Auflösung aber nicht vom Redner selbst vollzogen, sondern den Zuhörern (Lesern) aufgetragen wird; vgl. Gert Ueding: Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 1976, S. 217f. 67 | Zur Bedeutung solcher Prosaelemente für die Genese der Modernen Lyrik vgl. Ludwig Völker: »Alle Erneuerung geht von irgendeiner Prosa aus«. Die lyrische Moderne und der Naturalismus, in: Robert Leroy, Eckart Pastor (Hg.): Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch, Bern u.a. 1991, S. 203-235, bes. S. 216f. Fontane selbst schreibt: »Es ist das Schwierigste, was es gibt (und vielleicht auch das Höchste), das Alltagsdasein in eine Beleuchtung zu rücken, daß das, was eben noch Gleichgültigkeit und Prosa war, uns plötzlich mit dem bestrickendsten Zauber der Poesie berührt« (zit. nach Richter: Die späte Lyrik Theodor Fontanes, S. 134). 68 | Zu diesem Entwicklungsprozess vgl. Heinz Schlaffer: Lyrik im Realismus. Studien über Raum und Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste und Liliencrons, Bonn 21973, bes. S. 100f. 69 | Man fühlt sich unwillkürlich an die zeitgenössische Analyse der Empfindungen (1885) Ernst Machs erinnert, wo anhand vieler Beispiele eine solche nachordnende Subjektkonstitution als Rationalisierung von Momenteindrücken beschrieben wird; bspw. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1885], Jena 41903, S. 3, Anm. 1.

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lichsten Dinge innezuwohnen scheint.70 Denn nicht nur die Schürze über dem Stuhl würde fehlen, wenn der Sprecher weitergeschlafen hätte, sondern das ganze Gedicht. In seinem Objektcharakter als Artefakt werden der Augenblick des Lebensvollzugs sowie die damit verbundenen Dinge auf Dauer gestellt. Das geschieht allerdings nicht in der Form eines bloßen Reihens und Archivierens von Eindrücken, wie es im literarischen Impressionismus häufig zu beobachten ist.71 Durch die provokative Schlussfrage wird vielmehr der Leser zur Verlebendigung dieses Wahrnehmungsvollzugs in der eigenen Rezeptionsleistung gezwungen:72 Es ist die Schürze seiner Gegenwart (im Lesen oder Hören des Gedichts), die ebenso fehlen würde wie in der inzwischen historisch gewordenen Gegenwart der Schreibsituation des Gedichts. Mit anderen Worten: Der Text, der eine Altersresignation als Frage ins Spiel bringt, verlängert durch seine performative Form der Gesprächssituation mit dem Leser die Existenz seines Sprechers und der dargestellten Gegenstände über deren Tod und Verschwinden hinaus.

S UMMA S UMMARUM Nun also doch: Der monologische Lebensrückblick eines Autorsubjekts, welcher in dem oben zitierten Gedicht Rückblick versagt worden ist. So scheint es zumindest angesichts des Textes Summa Summarum (SW 20, 412), der unverkennbar autobiographische Züge trägt, und der erst aus dem Nachlass bekannt geworden ist.73 Allerdings unterscheidet er sich trotz seiner monologischen Sprechhaltung von dem mehrstimmigen Resümee, das in Rückblick gezogen wird, gar nicht allzu sehr. Denn die äußerst verknappte Lebensbilanz, die in ihrer Lakonie fast schon sarkastische Züge aufweist, konzentriert sich vor allem auf gesellschaftliche Stationen des Sprechers. Das machen bereits die ersten beiden Verse deutlich:

70 | Vgl. bspw. den voluminösen Bildband von Ingo F. Walther: Malerei des Impressionismus 1860-1920, Köln 2000. 71 | Vgl. Harmut Marhold: Impressionistische Dichtung, in: ders. (Hg.): Gedichte und Prosa des Impressionismus, Stuttgart 1991, S. 9-37, hier S. 27f. 72 | Das bedeutet eine noch schärfere Akzentuierung als in Prosatexten jener »Leerstelle«, die nach Wolfgang Iser »erst […] einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens [gewähren]« kann; Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228-252, hier S. 236. 73 | Zur Überlieferung des Textes vgl. knapp Helmuth Nürnberger: Epigrammatik und Spruchpoesie. Grillparzer und Fontane blicken auf ihr Jahrhundert, in: Theodor Fontane, Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, hg. v. Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, Bd. III, S. 87-103, hier S. 94.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form« Eine kleine Stellung, ein kleiner Orden (Fast wär ich auch mal Hofrat geworden)

Auch die nachfolgenden Informationen zu den eigenen Kindern beschränken sich ganz auf deren soziale Stellung. Die Schriftstellerexistenz wird hingegen nur indirekt angesprochen, wenn es heißt: Mit siebzig ’ne Jubiläumsfeier Artikel im Brockhaus und im Meyer.

Wichtig an dieser Lebensbilanz sind also die gesellschaftlichen Positionen. Nicht die subjektive Bewertung einer individuellen Lebensleistung steht im Vordergrund; stattdessen bildet die Soziabilität des Autor-Ichs, und zwar in der Wahrnehmung durch Dritte, ihr entscheidendes Kriterium.74 Dementsprechend wird auf die eigene Dichterbiographie kein besonders großer Wert gelegt. Betont wird lediglich mit dem Hinweis auf die Lexikoneinträge das ›symbolische Kapital‹, das sie produziert hat – und auch das nicht ohne bittere Ironie.75 Insofern scheint Vorsicht geboten, diesen Text gleichsam als Lebenssumme Fontanes in einem subjektzentrierten Sinn zu verstehen.76 Schließlich heißt es am Ende lapidar: Altpreußischer Durchschnitt. Summa summarum Es dreht sich alles um Lirum, larum, Um Lirum larum Löffelstiel, Alles in allem, es war nicht viel.

Hier wird keine individuelle Lebensbilanz formuliert, sondern es werden deren Veräußerlichungen aufgezählt, welche das eigene Leben lediglich in den zur Konvention gewordenen Maßstäben der anderen zeigen. Ihre Kommunikationsweisen erscheinen dabei als Hohlformen, in denen das individuelle Leben zum Verschwinden gebracht wird. Formale Überlegungen drängen sich dabei geradezu auf. So frappiert die saloppe, alltagsnahe Sprache, die mit Metonymen, Verkürzungen, Anspielungen 74 | Dessen Bedeutung für das Entstehen einer modernen Gesellschaft in Deutschland untersucht Wolfgang Hardtwig: Macht, Emotion und Geselligkeit. Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500-1900, Stuttgart 2009. Freilich spielen bei ihm, wie der Titel bereits verrät, emotive Ursachen eine größere Rolle als kommunikative; vgl. in der Einleitung, ebd., S. 10f. 75 | Noch deutlicher in dem Gedicht An meinem Fünfundsiebzigsten (SW 20, 409-410). Vgl. dazu sowie zum Selbstbild Fontanes als Autor in dieser Zeit Hans-Jürgen Schmelzer: Theodor Fontane, Berlin 2004, S. 202-204. 76 | Vgl. die stark an der Oberfläche bleibende Interpretation des Textes bei Classen: »Altpreußischer Durchschnitt«?, S. 229-231.

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arbeitet. Es ist eine Sprache, die aus lauter idées reçues zu bestehen scheint 77 und die lediglich die Floskeln einer ›oberflächlichen‹, situativ unverbindlichen sozialen Kommunikation reproduziert.78 Ob Fontane damit allerdings eine radikale Kritik solcher Sprachverwendung bezweckte, ist fraglich. Ebenso ließe sich mit Blick auf seine Romane und sogar seine Briefe vermuten, dass er möglicherweise von der Überzeugung ausging, eine andere Sprache stehe gar nicht zur Verfügung − insofern jede Form gesellschaftlicher Kommunikation immer schon (sozial determinierter und determinierender) Diskurs ist. 79 Hierüber herrscht bei Fontane offenbar stillschweigendes Einverständnis mit den Rezipienten seiner Texte, da nur auf dieser Basis eine Reihe von Floskeln und Anspielungen überhaupt entschlüsselt werden kann.80 Fontane scheint es eher darum zu gehen, die Ambivalenz dieses Sprechens vorzuführen: In sozialen Situationen kommunizieren nicht Individuen, sondern Kommunikationsteilnehmer, denen nur ein diskursiv eingeschränktes Sprachregister zur Verfügung steht.81 Diese Sprachauffassung unterscheidet sich beispielsweise von derjenigen des zeitgenössischen Naturalismus, wo eine solche ›Floskelsprache‹ eher in denunziatorischer Absicht gebraucht wird, um damit die Figuren als diskursive Reproduktionsmaschinen zu entlarven, die in der sozialen Determination ihrer Sprache ihre eigene Deter-

77 | Auch in dieser Hinsicht steht Fontane Flaubert sehr nahe; vgl. dessen berühmtes Dictionnaire des idées reçues, in: Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet. Avec un choix des scénarios, du Sottisier, L’Album de la Marquise et Le Dictionnaire des idées reçues, hg. v. Claudine Gothot-Mersch, Paris 1979, S. 485-555, wo es beispielsweise unter dem Stichwort »poésie« heißt: »Est tout à fait inutile« (S. 547). Fontane hat Flauberts Dictionnaire nicht nur gekannt, sondern auch für seine eigenen Texte benutzt; vgl. Rainer Warning: Flaubert und Fontane, in: ders.: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 185-239, hier S. 219f. 78 | Wie beispielsweise am Ende des Gedichts Lebenswege (SW 20, 29-30), als die Jugendbekannten sich mit den Worten trennen: »›Kenn’ ich, kenn’ ich. Das leben ist flau… / Grüßen Sie Ihre liebe Frau.‹« 79 | Vgl. Michel Foucault: L’ordre du discours, Paris 1971, S. 44f., wo Foucault deutlich macht, dass sozial erfolgreiche Kommunikation eine »conformité avec les discours validés« voraussetzt, welche »lie les individus à certain types d’enonciation et leur interdit par conséquent tous les autres«. 80 | Das ist auch einer der Gründe dafür, warum Fontanes Texte heute oft eines historischen Kommentars bedürfen, um angemessen verstanden werden zu können. 81 | Vgl. Niklas Luhmanns apodiktische Formulierung (und ihre Begründung): »Nur die Kommunikation kann kommunizieren« (Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation?, in: ders.: Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, S. 94-110, hier S. 95). Paradoxerweise interessiert sich Luhmann für kommunikativ angepasste Sprachregister nur am Rande; vielleicht, weil er seinen Kommunikationsbegriff explizit nicht sprachzentriert verstanden wissen will. Das lässt freilich Raum für die Frage, was gesagt, aber nicht kommuniziert werden kann.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form«

miniertheit verraten.82 Gleichwohl lassen sich Parallelen zwischen Fontanes Texten und der Sprachverwendung der naturalistischen Bewegung finden.83 Auch bei Fontane stehen nicht Sprecherindividuen, sondern Diskursoptionen im Zentrum, die nicht zuletzt über die jeweilige Position in der Gesellschaft bestimmen (und von ihnen bestimmt werden). Was für eine naturalistische Milieustudie plausibel erscheinen mag, verwundert jedoch bei einem Gedicht, das als Lebensrückblick eines Autorsubjekts auftritt – und erweist sich dort am Ende möglicherweise sogar als radikaler.84 Nicht ganz zu Unrecht dichtete der alte Fontane am Ende von Nur nicht loben (SW 20, 39): Ein Glück, so hab’ ich oft gedacht, Daß Zola keine Balladen gemacht.

Um diese Radikalität zu verstehen, muss noch einmal auf den Titel des Gedichts verwiesen werden. Summa summarum – das verspricht eine ultimative und abschließende Bilanz.85 Ihm antwortet im Text das phonetisch ähnlich lautende: »Lirum larum«, das Teil eines Kinderreimes ist, der gleichfalls anzitiert wird: »Lirum larum Löffelstiel«. Im Kontext des Lebensrückblicks erscheint diese Anspielung so einsichtig wie überraschend. Der Kinderreim verweist auf den Anfang jenes Lebens, dessen Summe nun gezogen wird. Im Angesicht des Todes nähern sich in ihm symbolisch Anfang und Ende einander an. 86 Eine ähnlich strukturbildende Funktion findet sich auch in der ungleich bekannteren Ballade vom Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, deren kinder82 | Das gilt vor allem für das ›soziale Drama‹ im Naturalismus; vgl. zu diesem und anderen damit verbundenen Aspekten Ingo Stöckmann: Naturalismus, Stuttgart/Weimar 2011, S. 96-120. 83 | Fontanes Verhältnis zum französischen Naturalismus untersucht die frühe Studie von Emil Aegerter: Theodor Fontane und der französische Naturalismus, Heidelberg 1922. 84 | Hellsichtig bemerkt Sebastian Haffner, ähnlich wie Fontane selbst Publizist und Historiker: »[D]iese berühmte Fontanesche nachsichtige Güte, dies ›lächelnde Darüberstehen‹, ist oft, auf eine unnachweisbare Art, schärfer, tieferblickend und gnadenloser als die ätzendste Kritik« (Sebastian Haffner: Theodor Fontane, in: ders., Wolfgang Venohr: Preussische Profile, Königstein/Taunus 1980, S. 115-130, hier S. 122). 85 | Zu dieser aus der vormodernen Ökonomie stammenden Praxis vgl. bspw. Gudrun Gleba, Ilse Eberhardt: Summa Summarum. Spätmittelalterliche Wirtschaftsnachrichten und Rechnungsbücher des Osnabrücker Klosters Gertrudenberg − Transkription und Kommentar, Münster 2011. 86 | Die Annahme, im »ersten Lebensjahre ›stecke der ganze Mensch‹«, liegt auch Fontanes eigenen Aufzeichnungen über seine Kindheit gegen Lebensende zugrunde; Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Vorwort, in: ders.: Sämtliche Werke, Band XIV, hg. v. Jutta NeuendorffFürstenau, München 1961, S. 7.

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liedartige Strophen das Weiterleben des alten Ribbeck garantieren sollen,87 der noch nach seinem Tod Birnen an die Kinder verteilen kann: Und kommt ein Jung’ über’n Kirchhof her, So flüstert’s im Baume: »wiste ne Beer?« Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: »Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick gew’ Di ’ne Birn.« (SW 20, 249f.)

Sicher trug die Nähe zum Kinderlied nicht unwesentlich zum Überleben dieses Textes selbst bei, der eines der bevorzugten Gedichte zum Auswendiglernen im Schulunterricht geworden ist.88 Darüber hinaus wird in der Ballade durch die Verbindung von Kindheit und Alter und das Fortwirken des Alten im Jungen der als Epochenkonflikt präsente Gegensatz von Alt und Jung gleichsam im Generationenpakt zwischen Großeltern und Enkeln entschärft; bei dem dann die mittlere Generation als gemeinsames Feindbild und Vertreter des Neuen auftritt.89 In dem Gedicht Summa summarum aber kommt den Kinderreimen noch eine andere, weit subtilere Funktion zu. Mit ihnen wird auf jenes biographische Substrat angespielt, das in der symbolischen Kommunikation sozialer Positionierungen überhaupt nicht in Erscheinung treten kann. Die eigentliche Summe dieses Lebens, so legen sie nahe, liegt aber genau darin beschlossen.90 Freilich ist die Kindersprache hier keine ›unschuldige‹ Sprache im Sinne Rousseaus91, sondern selbst Formelsprache par excellence – allerdings mit einem anderen Assoziationshintergrund, welcher einer vermeintlich ›vernünftigen‹, weil Positionen verrechnenden und Karrierestationen verbuchenden Sprache den semantischen Boden unter den Füßen entzieht und sie auf eine Stufe mit den rein phonetisch motivierten Floskeln der Kindersprache stellt. Mit diesem Gedicht wird der alte Fontane wieder ganz jung. Auch literaturgeschichtlich scheint er damit an einem Epochenanfang, nämlich dem der Klas87 | Vgl. Classen: »Altpreußischer Durchschnitt«?, S. 209f., der in der »Analogie zu Kinderliedern« freilich eher eine Bestätigung patriarchaler Herrschaftsausübung sehen will. 88 | Hans Blumenberg bemerkt zum Herrn von Ribbeck: »Vor Zeiten, als Kinder Gedichte zu lernen pädagogisch noch nicht zu schade waren, plagten sie sich ein wenig mit Fontanes Gedicht, um sich dann ein Leben lang daran zu erfreuen. Mit der Plage ist die Freude aus dem Curriculum exstirpiert worden« (Blumenberg: Lebensgedichte, S. 19). 89 | Zu diesem Konflikt im Gedicht vgl. die knappen Bemerkungen bei Hugo Aust: Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen/Basel 1998, S. 205f. 90 | Immerhin endet eine Version dieses Kinderreimes mit der Zeile »ei! was ein lustig Leben!«. 91 | Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’Éducation, hg. v. Michel Launay, Paris 1966, S. 74: »On a longtemps cherché s’il y avait une langue naturelle et commune à tous les hommes; sans doute, il y en a une; et c’est celle que les enfants parlent avant de savoir parler«.

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sischen Moderne, zu stehen.92 Die lautmalerischen Tendenzen, die hier noch dem Zitat des Kinderreims geschuldet sind, sollten später in der Dada-Bewegung – die auch an die Kindersprache angelehnt ist – eine noch umfassendere poetische Bedeutung entfalten.93 Auch wenn man an Lyriker wie den 1883 debütierenden Detlev von Liliencron oder spätere Autoren wie Tucholsky oder Kästner denkt, drängen sich gewisse Parallelen auf.94 Dass Fontane gerade als Lyriker dennoch kaum in der Tradition der Moderne verortet wird, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass diese immer noch weitgehend mit einem hermetischen Poesiemodell verbunden wird, für das Fontane tatsächlich kaum als Vorgänger in Anschlag gebracht werden kann.95 Er selbst sah seine Position übrigens deutlich anders. Als 1889 eine Neuausgabe seiner Gedichte erschien − worin sich eine Reihe der hier vorgestellten Texte erstmals befanden −, schickte er ein Exemplar des Buches an den ungleich berühmteren und um zehn Jahre jüngeren Paul Heyse, mit dem er seit langem bekannt war. In seinem Begleitbrief empfiehlt ihm Fontane allerdings einige eher traditionellere Gedichte zur Lektüre, da diese ihm den Schreiber noch in seiner »Gestalt vor dem Sündenfall« zeigen würden.96 Der »Sündenfall«, so macht der Brief in seinem Fortgang unmissverständlich klar, ist Fontanes Eintreten für die Autoren des Naturalismus. Im Umkehrschluss heißt das: Fontane betrachtete jene Gedichte, die weniger nach dem Geschmack Heyses waren, als Teil einer neuen Epoche nach dieser literaturgeschichtlichen Zäsur. Wie tiefgreifend er diesen Epochenwandel empfand, zeigt die Wahl des biblischen Bildes.97 Es impliziert nichts weniger, als am Anfang eines neuen Abschnitts der Literaturgeschichte zu stehen. Seinen Niederschlag sollte er ausgerechnet in einer Alterslyrik finden, die – ähnlich dem biblischen Moses – die neue Epoche vor Augen hat, ohne ihrer noch teilhaftig werden zu können. Denn den »Zauber der Form« gewinnen diese Gedichte nicht mehr aus einer ›Kunstdoktrin‹, für deren ästhetizistische Tenden-

92 | Vgl. die entsprechende Würdigung bei Bölsche: Vom alten Fontane, S. 44-46. 93 | Vgl. unter anderem die Textbeispiele in Otto F. Best (Hg.): Deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 14: Expressionismus und Dadaismus, Stuttgart 1974, S. 297-313. 94 | Richter (Altersbewußtsein und Alterslyrik in Fontanes Gedicht Ja, das möchte ich noch erleben, S. 228) meint, die späten Gedichte Fontanes »stehen den Gedichte von Tucholsky oder Kästner in manchem näher als der zeitgenössischen Lyrik von Storm, Keller und C. F. Meyer.« 95 | Normativ wirkt hier bis heute nach das Buch von Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts [1956], Reinbek b. H. 1985. Dessen Defizite bei der Beschreibung insbesondere der Lyrik der Frühen Moderne notiert auch Stöckmann: Naturalismus, S. 65. 96 | Fontane: Brief an Paul Heyse, 10. Dezember 1889, S. 257. 97 | Zur Bedeutung von Bibelmotiven in der Alterslyrik Fontanes vgl. Blumenberg: Lebensgedichte, S. 24-26.

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zen nicht zuletzt der Name Paul Heyses steht 98, sondern aus ihrer zeithistorischen wie biographischen Situierung auf eben dieser Epochenschwelle selbst.

L ITER ATUR Primärtexte Arent, Wilhelm (Hg.): Moderne Dichter-Charaktere, mit Einleitungen von Hermann Conradi und Karl Henckell, Berlin 1885. Bölsche, Wilhelm: Vom alten Fontane, in: ders.: Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur [1901], Jena/Leipzig 1912, S. 37-49. Flaubert, Gustave: Dictionnaire des idées reçues, in: ders.: Bouvard et Pécuchet. Avec un choix des scénarios, du Sottisier, L’Album de la Marquise et Le Dictionnaire des idées reçues, hg. v. Claudine Gothot-Mersch, Paris 1979, S. 485-555. Fontane, Theodor: Sämtliche Werke, Band XX: Balladen und Gedichte, hg. v. Edgar Groß, Kurt Schreinert, München 1962, S. 409-410. Fontane, Theodor: Bismarck, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 19: Politik und Geschichte, unter Mitwirkung von Kurt Schreinert hg. v. Charlotte Jolles, München 1969, S. 719-729. Fontane, Theodor: Briefe an Georg Friedlaender, aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hg. v. Walter Hettche, Frankfurt a. M./ Leipzig 1994. Fontane, Theodor: Briefe, Bd. 3: 1879-1889, hg. v. Otto Drude u.a., Darmstadt 1980. Fontane, Theodor: Fontanes Briefe in zwei Bänden, hg. v. Gotthard Erler, Bd. 2, Berlin/Weimar 1968. Fontane, Theodor: Havelland, in: ders.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3: Havelland, hg. v. Gotthard Erler, Rudolf Mingau, Frankfurt a. M. 1989, S. 7-9. Fontane, Theodor: Lebenswege, in: ders.: Sämtliche Werke, Band XX: Balladen und Gedichte, hg. v. Edgar Groß, Kurt Schreinert, München 1962, S. 29-30. Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre, in: ders.: Sämtliche Werke, Band XIV, hg. v. Jutta Neuendorff-Fürstenau, München 1961, S. 7-185. Fontane, Theodor: Rückblick, in: ders.: Sämtliche Werke, Band XX: Balladen und Gedichte, hg. v. Edgar Groß, Kurt Schreinert, München 1962, S. 32. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1970. Heine, Heinrich: Die romantische Schule, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München/Wien 31996, S. 357-504.

98 | Anschaulich gemacht in dem Ausstellungskatalog Sigrid von Moisy (Hg.): Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter, München 1981.

Lebensende, Epochenanfang, »Zauber der Form«

Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1885], Jena 41903. Mann, Heinrich: Der Untertan, hg. v. Peter-Paul Schneider, Frankfurt a. M. 1991. Mann, Thomas: Der alte Fontane [1910], in: ders.: Aufsätze, Reden, Essays, Bd. 1: 1893-1913, hg. v. Harry Matter, Berlin 1983, S. 183-210. Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’Éducation, hg. v. Michel Launay, Paris 1966.

Sekundärtexte Aegerter, Emil: Theodor Fontane und der französische Naturalismus, Heidelberg 1922. Amann, Paul: Theodor Fontane und sein französisches Erbe, in: Euphorion 21 (1914), S. 270-287. Amrein, Ursula: Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne, Berlin u. a. 2008. Arend, Stefanie: Innere Form. Wiener Moderne im Dialog mit Frankreich, Heidelberg 2010. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen/Basel 1998. Baecker, Dirk: Kommunikation, Stuttgart 2005. Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture. Suivi de Nouveaux essais critiques, Paris 1972. Baßler, Moritz (Hg.): Entsagung und Entsorgung. Aporien des Spätrealismus und Routines der Frühen Moderne, Berlin/New York 2013 [imDruck]. Beetz, Manfred: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1980. Best, Otto F. (Hg.): Deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 14: Expressionismus und Dadaismus, Stuttgart 1974. Bickmann, Claudia: »So banne dein Ich in dich zurück«. Zum gedanklichen Gehalt der Spätlyrik Fontanes, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband: Theodor Fontane, München 1989, S. 203-217. Blumenberg, Hans: Lebensgedichte. Einiges aus Theodor Fontanes Vielem, in: Akzente 38 (1991), S. 7-28. Böckmann, Paul: Der Zeitroman Fontanes [1959], in: Wolfgang Preisendanz (Hg.): Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 80-110. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [1992], Frankfurt a. M. 2001. Bruch, Rüdiger vom: Kaiser und Bürger. Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in: Adolf M. Birke, Lothar Kettenacker (Hg.): Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München 1989, S. 119-146. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart/Weimar 21997

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Endspiele oder Altern als Lebensform Zu einem literarischen Motiv des Fin de siècle Sonja Klein »Jugend, gewiß, gewiß, sie hat ihr Gutes, aber sie wird gewissermaßen überschätzt.«1 G RAF S TREITH in Fürstinnen »[…] ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich.« 2 G OETHE an WILHELM VON H UMBOLD t

Fast immer scheint es die gleiche Kulisse, die die schmalen Romane und Erzählungen Eduard von Keyserlings eröffnet: Da sitzt ein ausgedienter Major vertieft in ein Halma-Spiel mit der altjüngferlichen Gouvernante, von zu vielen Kindbetten kränkliche Gräfinnen belegen müde die beschatteten Couchettes und Rohrstühle, während gediegene Herren mit ergrauten Backenbärten ihre Zigarren rauchen und anhand längst leer gewordener Patriotismusformeln die Tagespolitik passieren lassen, zu der die Levkojen, Flieder und Tuberosen den übersüßen Duft der Vergänglichkeit aus dem Park zu den steinernen Terrassen hinauf senden. Und sie scheint mit Händen greif bar, die Langeweile, das Erstarrte und Tote, das sich in der stehenden Sommerhitze in den Räumen und angrenzenden Gärten der baltischen Landgüter mit derselben Unbarmherzigkeit ausbreitet wie die die Szenerie stets durchleuchtenden grellen Sonnenstrahlen. »Ja, Kind«, sagte so auch die Baronesse Arabella in Abendliche Häuser (1914) zu ihrer jungen Nichte, »wir

1 | Eduard von Keyserling: Fürstinnen, in: ders.: Werke, hg. v. Rainer Gruenter, Frankfurt a.M. 1973, S. 87. 2 | Brief Johann Wolfgang von Goethes an Wilhelm von Humboldt vom 1.12.1831, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimarer Ausgabe, Weimar 1887-1919, Nachdruck München 1987, Abt. IV, Bd. 49, S. 164-167, hier S. 165.

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haben nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten«.3 Und es ist ein Satz, wie ihn nahezu jede von Keyserlings Protagonistinnen aussprechen könnte, ein Satz, der in geringfügigen Abwandlungen und unfehlbar in jedem seiner Werke fallen wird. »Was kann man anders tun, man wartet«4, bemerkt der alte Jude Laibe. »Man lebt nur, um die Füße in die rote Decke zu wickeln, und auf Schmerzen zu warten«5, resümiert der sterbende Graf auf Dumala, während sich der junge Felix vorspiegelt, es sei »gut, so in der Frühlingsnacht zu stehen und auf ein Mädchen zu warten, da war Leben«6. Und wer da nicht explizit vom Warten spricht, der tut doch nichts anderes als eben jenes: wie Doralice in den Wellen (1911), die jede Nacht mühsam auf den Schlaf wartet und später dann – ebenso fruchtlos – auf die Rückkehr ihres ertrunkenen Geliebten; wie der Pfarrer Werner, der in grausamer Selbstzerfleischung in jeder Nacht die Kutsche des Nebenbuhlers auf dem Weg zu der von beiden geliebten Frau erwartet; wie der ausharrende Graf Streith, der auf die Hand der Fürstin hofft, bis es für beide zu spät sein wird; wie Sidonie, Nicky, Marie und all die unzähligen anderen Figuren, die darauf warten, dass ihr Leben endlich beginnen möge, um am Ende resigniert festzustellen, dass es eben jenes Warten ist, das ihr eigentliches Leben ausgemacht hat und – schlimmer noch – weiterhin ausmachen wird. »Und dieses Warten«, sagt so auch der junge Baron Egloff, der sich nur wenig später in der Nachfolge Werthers eine Kugel durch den Kopf schießen wird, »macht uns alle zum Narren, man wartet und wartet, man tut dies und das, um sich die Zeit zu vertreiben, aber das Große, die Hauptsache, die soll noch kommen. Und die Zeit vergeht, und nichts kommt, und wir sind die Narren.«7 Keyserlings Figuren warten und wissen doch zugleich, dass die Zukunft nichts schenken kann, das des Wartens lohnt. Das einzige, was ihnen beschieden sein mag, ist ein kurzer, oft rührend unbedeutender Augenblick des Glücks: die zeitweilige Erregung am Spieltisch, eines bevorstehenden Duells oder des waghalsigen Rittes über eine morsche Brücke vor gähnendem Abgrund, ein flüchtiges Moment der phantasierten oder tatsächlichen Liebe, die aber ebenso schnell vergeht, wie sie gekommen ist. Der Mensch sei, konstatiert in diesem Sinne auch der Pianist Fanoni, dessen Schwindsucht weniger körperlicher Natur ist, denn aus einer seelischen Mangelerscheinung, einem Mangel an Leben resultiert, »nur für ein einziges Glück geschaffen, so sparsam ist das Schicksal. Zuweilen nur für

3 | Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser, in: ders.: Werke, hg. v. Rainer Gruenter, Frankfurt a. M. 1973, S. 365. 4 | Ebd., S. 383. 5 | Eduard von Keyserling: Dumala, in: ders.: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden, hg. v. Ernst Heilborn, Berlin 1922, Bd. 2, S. 19. 6 | Keyserling: Fürstinnen, S. 113. 7 | Keyserling: Abendliche Häuser, S. 383.

Endspiele oder Altern als Lebensform

das Glück einer Stunde; aber das ist der Zweck seines Lebens, alles andere zählt nicht. Versäumt er dieses Glück, dann hat er umsonst gelebt«8. Seit Beginn der Rezeption und seither ungebrochen hat man diesen literarisch evozierten Mangel an Leben, in dem das Alte längst erstarrt ist und die Jugend sich selbst am lockenden Rausch des Augenblicks und noch vor ihrer Reife verglüht, als Signum einer längst schwindsüchtigen Adelsgesellschaft in einem zerfallenden europäischen Kulturraum gelesen. Schon Thomas Mann – der mehr von Keyserling gelernt hat, als sein, wenngleich enthusiastischer, Nekrolog auf den Dichter zunächst erahnen ließe – 9 (miss)versteht dessen »Künstlertum« in diesem Sinne als die Sublimierung, Übertragung, Vergeistigung adeliger Lebensstimmung, adeliger Leichtigkeit und Verpflichtung, adeliger Diskretion, Haltung, Reinheit, Anmut und Strenge. Indem er Künstler wurde, hörte er nicht auf, ein Edelmann zu sein; sondern als Künstler war er, auf höherer Ebene, nur noch einmal ein Edelmann.10

In einem durch umgekehrten Standesdünkel geprägten bürgerlichen Zeitalter konnte dieses Adelssiegel nicht folgenlos bleiben.11 Keyserling zeige uns eine »ebenso liebevoll wie kritisch ausgemalte Adelswelt«, schreibt so auch noch Helmut Koopmann 1989, in deren Bild sich »die Klage um deren lautlosen, schleichenden Verlust«12 mische. Martin Mosebach spricht von der »Morbidität adligen Daseins im Baltikum« und dem »Hinwelken adliger Lebensform«, die »Keyserling so eindringlich beschreib[e]« 13. Solche und ähnliche Lesarten haben nicht wenig dazu beigetragen, dass Keyserling bis heute letztlich als ein Autor zweiten Ranges gilt, dessen Werke man nur 8 | Eduard von Keyserling: Nicky, in: Die neue deutsche Rundschau 26 (1915) H. 5, S. 627656, hier S. 650. Später veröffentlicht in ders.: Schwüle Tage. Erzählungen, Zürich 2005, S. 231-299, hier S. 284. 9 | Vgl. hierzu die folgenden Ausführungen. 10 | Thomas Mann: Zum Tode Eduard Keyserlings, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt a.M. 1990, Bd. X, S. 413-417, hier S. 414. 11 | Vgl. auch »Schon ein Vierteljahr [nach der Publikation von Manns Nekrolog, S. K.] später hätte der Mann’sche Hymnus auf die aristokratische Erscheinung des Eduard von Keyserling – aristokratisch als Mensch, aristokratisch als Künstler – einen merkwürdigen, wahrscheinlich sogar negativen Beigeschmack erhalten. Wenn es irgend etwas gab in der wackeligen Republik von Weimar, das als unzeitgemäß gelten konnte, dann war es das Aristokratische, Edelmännische.« (Tilman Krause: Nachwort, in: Eduard von Keyserling: Im stillen Winkel, Zürich 2006, S. 231-248, hier S. 231f.) 12 | Helmut Koopmann: Weltuntergang ostelbisch, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen, Frankfurt a.M. 1989, Bd. 1, S. 212-218, hier S. 213. 13 | Martin Mosebach: Nachwort, in: Eduard von Keyserling: Schwüle Tage, Zürich 2005, S. 427-440, hier S. 437; 432.

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ungern im selben Atemzug mit denen Rilkes, Manns oder Georges nennt und deren literarische Bedeutung stets etwas verschämt mit der erzählerischen Verwandtschaft zu Fontane begründet wird.14 Übersehen wird dabei aber, dass Keyserlings Prosa weit mehr über die Zeit ihrer Entstehung erzählt, als dies in seinem kleinen, wenngleich keineswegs auf kurländische Landgüter begrenzten, fiktional gestalteten Raum auf den ersten Blick zum Ausdruck kommt, und dass sie vielmehr oft bereits vorwegnimmt, was die geläufigeren Namen der Klassischen Moderne erst später poetisch manifestieren werden. Nicht nur dass sein Werk all die für die Epoche bezeichnenden Momente der Auflösungen bereits enthält: die des Vertrauens in eine verlässliche Sprache, die Hofmannsthals Lord Chandos fast zeitgleich in seinem so berühmt gewordenen Brief15 formuliert; den Zerfall der eigenen Identität, der mit diesem Verlust der Sprache einhergeht und die europäische Literatur bis weit über Keyserlings Tod hinaus bestimmen wird; die Zersetzung von über Jahrhunderte gewachsenen und tradierten Werte- wie Glaubenssystemen, denen der sich stetig beschleunigende Wandel nichts Kompensatorisches an die Seite zu stellen vermag. Neben all diesem ist es vor allem das Motiv des – zumeist unzeitgemäßen – Alterns, das Keyserlings Werk von Beginn und bis zu den letzten Erzählungen gesteigert prägen wird und darin weit mehr formuliert als den Untergang einer im wahrsten Sinne des Wortes ›veralteten‹ baltischen Adelsgesellschaft. Wir können dies schon aus der topographischen Gestaltung, den Park- und Gartenanlagen, herauslesen, in denen die Überfülle längst aus der Mode geratener Stauden und Sträucher wie der Stockrosen, Georginen, Levkoien, Lilien und Tuberosen in ihrer schwülen Üppigkeit bereits auf das Herbstliche und die Fäulnis verweisen16, während noch in fast jedem Keyserling’schen Garten die »Frühbirnen«, gleich der dargestellten Jugend, vor der Zeit vom Baum des Lebens abfallen. Und fast scheint es, als habe der baltische Dichter hierin umgesetzt, was Stefan George in seinem programmatischen Gedicht komm in den totgesagten park (1897) – von dem Hofmannsthal seinen Clemens in dem fiktiven Gespräch über Gedichte einmal sagen lässt, »es atme[] den Herbst«17 – poetisch ins Bild fasst: 14 | Schon Thomas Mann tut dies, wenn er schreibt: »man wird den Namen Fontanes immer nennen, wenn von Keyserling die Rede ist« (Thomas Mann: Zum Tode Eduard Keyserlings, S. 414; vgl. auch ähnliche Textstellen auf S. 415f.). 15 | Hugo von Hofmannstahl: Ein Brief (1902). 16 | So sind denn auch die dem Gartenraum entnommenen Blüten vielfach nicht mehr Schmuck des Lebendigen, sondern Beigaben der Verstorbenen wie u.a. die Tuberosen, die in ihrem betäubenden Duft das Totenzimmer des Vaters in Schwüle Tage (1906) ebenso wie später diejenigen des Vaters und Großvaters von Hans Castorp in Der Zauberberg (1924) füllen werden. 17 | Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hg. v. Anne Bohnekamp u.a., Frankfurt a.M. 1975ff., Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe, hg. v. Ellen Ritter, Frankfurt a.M. 1991, S. 74-86, hier S. 75.

Endspiele oder Altern als Lebensform Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade. Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb. das weiche grau Von birken und von buchs. der wind ist lau. Die späten rosen welkten noch nicht ganz. Erlese küsse sie und flicht den kranz. Vergiss auch diese letzten astern nicht. Den purpur um die ranken wilder reben. Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.18

Was in diesen Versen mit nahezu makelloser Schönheit anklingt, scheint zunächst nicht mehr als die Beschwörung einer zu Ende des Jahres in ihren Farben und Formen noch einmal sich auf bäumenden Landschaft, die aber in ihrem herbstlichen Aufleben bereits auf der Schwelle zu ihrem Abbruch und dem winterlichen Verstummen, das den Tod meint, steht – eine Natur- und Jahreszeitenmetaphorik, wie sie dem Leser aus zahlreichen Vorgängergedichten bereits vertraut ist. Die »gestade« lächeln zwar noch, doch nurmehr in einem »schimmer« aus weiter Ferne und sind damit längst ebenso unerreichbar geworden wie die Wolken und das »unverhoffte[] blau« des Himmels und damit der – in Anspielung auf die romantische Epoche – menschlichen Sehnsucht. Das »tiefe gelb« wird in seiner Reife und Sättigung noch im selben Vers mit dem »weichen grau« der Vergänglichkeit kontrastiert, die »späten rosen« welken zwar »noch nicht ganz«, aber sie welken eben doch schon und selbst das wilde und damit von der Kultivierung durch menschliche Hand unberührte Rebengewächs des wilden Weins kann sich in seiner Röte dem allgemeinen Vergehen nicht entziehen. Die »letzten astern«, die Gottfried Benn nur wenig später von dem Park in die Morgue (1912) verlegen und einem Bierkutscher »zwischen die Zähne«19 klemmen wird, tragen ebenso bereits den Tod in sich wie der zu flechtende »kranz«, der traditionell die junge, bräutliche Frau schmücken soll, hier aber zugleich der Totenkranz ist und in dieser Doppelfunktion – es wird darauf zurückzukommen sein – auch den Schlusspunkt von Keyserlings Fürstinnen (1917) bildet. Nichts Neues also, möchte man meinen, selbst wenn man die Perfektion des Gedichtes bewundern muss, in dem der Dichter parallel zu der geschilderten Landschaft auf formale Weise, sprachlich und lautmalerisch, rhythmisch und 18 | Stefan George: komm in den totgesagten park, in: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. IV, Stuttgart 1982, S. 12. 19 | Gottfried Benn: Kleine Aster, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Gerhard Schuster, Holger Hof, Bd. I, Stuttgart 1986, S. 11.

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reimend, selbst noch einmal das poetische Füllhorn des Herbstes ausschüttet, das die zeitgenössische Lyrik stilistisch doch schon bald als einer bereits vergangenen, überlebten Epoche zugehörig erachten musste. Und dennoch ist in diesem Gedicht etwas, das auch die Texte Keyserlings wie viele andere literarische Zeugnisse der Zeit durchzieht, etwas, das sich auf eine fast beunruhigende Weise nicht in den Kontext der zahllosen poetischen Herbstbilder einpassen will und das sich vielleicht fassen ließe mit dem Schlussvers in Hölderlins Mnemosyne: »Gleich fehlet die Trauer.«20 Auch bei Hölderlin beginnt alles mit einer herbstlichen Szenerie: Die »Frücht« sind reif, und es ist das »Gesetz« dieser Endzeitstimmung, »[d]aß alles hineingeht«.21 Zuletzt sind dem lyrischen Ich noch »[s]ein Achilles« und »Ajax« gestorben22, gleichwohl bleibt »die Trauer« hierüber ebenso aus wie in den Landschaften Keyserlings und Georges. Sein Park ist zwar »totgesagt«, aber eben noch nicht »tot«23; vom »grüne[n] leben« blieb zwar nicht viel, aber es gibt doch noch etwas; der Verlust wird zwar konstatiert, er ist jedoch im doppelte Sinne zu »verwinde[n]« – also nicht nur im Flechtwerk des Kranzes, sondern vor allem im Sinne des Ertragens. Und dieses »Verwinde[n]« ist »leicht« sogar, wenn man nur ein »herbstliche[s] gesicht« in sich finden kann. Und genau an diesem Punkt eröffnet sich Georges Gedicht als ein Zeitdokument, das nicht mehr vornehmlich den Schwanengesang einer unwiderruflich verlorenen Epoche anstimmt, sondern vielmehr auf Basis der nicht verleugneten, sondern im Gegenteil bekräftigten Verlusterfahrung eine alternative Lebensanweisung zu formulieren sucht: Es gilt, sich mit dem Verbliebenen, so dürftig es im Vergleich zu vergangener sommerlicher Pracht auch erscheinen mag, zu bescheiden und mit »herbstlichem gesicht« dessen stille Schönheit wahrzunehmen. Ganz anders also als Hebbels »letzte Rose« des vergehenden Sommers rückt hier nicht mehr das morbid ›Blutrote‹ der Blütenblätter in den Vordergrund, das das lyrische Ich schließlich zu dem Ausruf führt: »So weit im Leben, ist zu nah am Tod!«24 Was George lyrisch bekräftigt und letztlich auch willkommen heißt, ist eben diese Nähe zum Tod, ist die bereits welkende Rose, ist der Wind, der zwar 20 | Friedrich Hölderlin: Mnemosyne, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1992, S. 364f., hier S. 365. 21 | Ebd., S. 364. 22 | Ebd., S. 365. 23 | Und hierin muss der Deutung Rainer Gruenters widersprochen werden, der zu Beschluss seiner Kurzanalyse des Gedichtes dogmatisch festhält: »Der totgesagte Park ist tot.« (Rainer Gruenter: Herbst des Gefühls, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1994, S. 118-120, hier S. 120.) 24 | »Ich sah des Sommers letzte Rose steh’n / Sie war, als ob sie bluten könne, roth; / Da sprach ich schauernd im Vorübergeh’n: / So weit im Leben, ist zu nah’ am Tod!« (Friedrich Hebbel: Sommerbild, in: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria Werner, Abt. I: Werke, Berlin 1901–1903, Bd. 6, Berlin 1902, S. 230.)

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weder kalt, noch heiß, aber immerhin noch »lau« den Park durchzieht. Und desgleichen weiß das lyrische Ich in Rilkes Herbsttag (1902) zwar noch von einem Sommer zu erzählen, der »sehr groß«25 war. Aber seine Zeit ist im Moment des lyrischen Sprechens bereits vergangen, weshalb nicht mehr bleibt, als darum zu bitten, demgemäß die »Schatten« auf die »Sonnenuhren« zu legen und anzuerkennen, dass nun die kaum bewegte Phase des Lesens, des Wachens, des Schreibens langer Briefe angebrochen ist 26 – eine Zeit des Wartens eben, wie wir sie bei Keyserling allenthalben vorfinden. Es ist eben diese notwendige Bejahung des Welkens, des Herbstlichen, des nah am Tode Stehenden, die auch einen grundlegenden Wandel innerhalb der Figurengestaltung der Literatur des Fin de siècle nach sich zieht. Sie führt dazu, dass in den um 1900 entstehenden Texten das Alter, alternde Menschen überhaupt als menschliche Entsprechung zu dieser pflanzlichen Metaphorik des Herbstes eine Prominenz erlangen, die weder vorher noch in der Folge Ihresgleichen finden könnte. Dabei – und dies ist das eigentlich Erstaunliche – wird das ›Alter‹ hier häufig nicht mehr aus der biologischen Perspektive des tatsächlichen Lebensalters, sondern vielmehr implizit aus einer existentiellen Grundhaltung heraus bestimmt. Altern und Alter stehen so nicht mehr vornehmlich in Bezug zu den zu zählenden Lebensjahren, sondern zu der Erfahrung von sich beschleunigender Zeit und Wandel und damit zu einer Grundstimmung der Epoche. Wenn Keyserling demnach in einer essayistischen Betrachtung festhält: »Aber wer lebt sich in unserer Zeit des schnellen und oberflächlichen Lebens satt? Die meisten stehen an der Schwelle des Alters und sehen ratlos, wie das Leben vor ihnen entweicht, wie ihr Stuhl sachte aus dem Kreis des Lebensgetriebes hinausgerückt wird«27, dann bezeichnet er hiermit nicht allein tatsächlich alte Menschen, sondern auch all diejenigen, die die Zeit noch vor ihrer körperlichen Reife längst überholt und zur Unzeit hat ›veralten‹ lassen, all diejenigen, die sich gleich dem späten Goethe »mehr und mehr geschichtlich« 28 vorkommen müssen, ohne dass sie dabei aber auf eine dementsprechende Lebensspanne verweisen könnten. In diesem Sinne wandelt sich der Altersbegriff um die Jahrhundertwende von einem biologischen zu einem vorrangig philosophisch fundierten Konzept, das aus den historischen Wechselfällen der Zeit abgeleitet wird. Keyserling ist einer der Ers25 | »Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren laß die Winde los.« (Rainer Maria Rilke: Herbsttag, in: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden, hg. v. Manfred Engel u.a., Bd. 1, Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 281.) 26 | Vgl. ebd.: »Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben«. 27 | Eduard von Keyserling: Über die Liebe, in: ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen, Göttingen 2008, S. 131-150, hier S. 146. 28 | Brief Goethes an Wilhelm von Humboldt vom 1.12.1831, in: Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 49, S. 165.

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ten, der dies auch ganz explizit formulieren wird, wenn er in Über das Kranksein (1910) konstatiert: Schopenhauer setzt auf der Liste der Übel, die das Leben über den Menschen bringt, Alter und Tod obenan. Aber Alter und Tod sind nicht Übel, die das Leben über uns bringt, sie sind das Leben selbst, seine Logik und sein Wesen, wie es das Wesen des Pendels ist, beständig etwas von dem Bogen seiner Bewegung abzuziehen und endlich stillzustehen. 29

Das Alter oder – um mit dem Bild Georges zu sprechen – das »herbstliche gesicht« erscheint dieser Umdeutung zufolge als die einzig verbliebene Lebensform, die der Epoche noch entsprechen kann, weshalb auch der sich immerhin erst in seinen Vierzigern befindliche Graf Streith gegenüber der nur um wenige Jahre jüngeren Fürstin festhält: »Mit dem Begriff der Jugend […] wird eigentlich Unfug getrieben. Jugend, gewiß, gewiß, sie hat ihr Gutes, aber sie wird gewissermaßen überschätzt. Wenn ich so unsere Jugend ansehe oder an die eigene Jugend denke, so finde ich, wir gleichen in den Jahren unglücklichen Klavierschülern, die ein schweres Stück üben, sie legen all ihre Begeisterung und ihr Feuer hinein, aber in jedem Augenblick kommt ein falscher Ton oder ein unreiner Akkord.« »Jugend ist Jugend«, sagte die Fürstin zärtlich. »Ich sage nichts gegen die Jugend«, fuhr Streith fort, »ich meine nur, diese sogenannte Jugendzeit ist es nicht, auf die es ankommt, für die das Leben eigentlich da ist, sondern eine Zeit, in der wir das Leben verstehen, uns mit ihm befreundet haben, da läßt sich was daraus machen. Das Leben ist ein zu schwieriges Instrument, um in die Schulstuben zu gehören.« 30

Zu Recht mag man an dieser Stelle einwenden, dass es doch gerade die Jugend und deren »Schulstuben« des Lebens sind, denen in den literarischen Produktionen der Zeit größte Aufmerksamkeit zuteil wird. Aber was ist das für eine Jugend? Treffen wir hier tatsächlich noch auf das Lebendige, den vielversprechenden Auf bruch, das – im Gegensatz zum vielfach poetisch beschworenen Herbst des Lebens – Frühlingshafte eines erblühenden Neubeginns? Oder ist es nicht vielmehr eine Jugend, die sich noch vor ihrer Reife verausgabt, sich an den Augenblick verliert, scheitert und, oftmals, einen frühzeitigen Tod findet? Da ist Rilkes Militärzögling Karl Gruber, der in Die Turnstunde (1902) einem – vielleicht bewusst herbeigeführten – Herzschlag erliegt, nachdem er sich mit letzter Kraft an der Kletterstange zu den Höhen eines Lebens und Zeitgeistes aufgeschwungen hat, die ihm nicht entsprechen können.31 Da reitet der Cornet 29 | Eduard von Keyserling: Über das Kranksein, in: ders.: Feiertagsgeschichten, S. 155159, hier S. 159. 30 | Keyserling: Fürstinnen, S. 87. 31 | Auch hier wird der Herbst als einzige Zeitangabe innerhalb der Erzählung explizit benannt: »Aber es ist, […] als sähe er [Gruber, S. K.] etwas Unbestimmtes, […] draußen

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Christoph Rilke, dessen junges Leben ganz im Gegensatz zu seinem schon »so müde geworden[en]«32 Mut und dem alles durchziehenden Anbruch des Herbstes33 zu stehen scheint und der, gleich des sich in seinem Rock befindlichen Rosenblattes, doch bereits »welkt«34, um schließlich in nur einer Nacht der Liebe und der Schlacht sein Leben zu lassen. Da geht Malte Laurids Brigge durch eine Stadt, in der ihm trotz seiner Jugend nur Krankheit, Alter und Tod begegnen35, die er als die einzigen Konstanten der Zeit erkennen muss, bis er sich schließlich selbst nur noch einen eigenen, individuellen Tod wünscht – aber auch den hat das neue Jahrhundert ja längst zu einer Massenveranstaltung verkommen lassen.36 Da sehen wir den Zögling Törleß, auf dessen ›Verwirrungen‹ weder Reue noch Reife folgen37, neben Moritz und Melchior, deren Frühlings Erwachen38 gleichfalls nur von kurzer Dauer sein wird. Da endet Hans Giebenrath ebenso im Wasser 39 wie die von ihren Geliebten verlassenen Bauernmädchen bei Keyserling oder Benns sarkastisch betitelte »Schöne Jugend«40, die nun in Gestalt einer modernen Ophelia erkaltet und unter mitleidslosem Blick im Seziersaal liegt, während ihr junger, aber bereits verbrauchter Körper nur noch einem »Nest von jungen Ratten«41 fruchtbar sein kann. Da nimmt das Kind Paul all seinen Mut zusammen, um es dem gefallenen Vater nachzutun und in einen Krieg zu ziehen, den es nicht vielleicht, vor den Fenstern, obwohl es dunkel ist, spät und Herbst.« (Rainer Maria Rilke: Die Turnstunde, in: ders.: Werke, Bd. III, S. 435-440, hier S. 437.) 32 | »Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß.« (Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, in: ders.: Werke, Bd. I, S. 141-152, hier S. 141.) 33 | »Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. […] Es muß also Herbst sein.« (Ebd.) 34 | So heißt es über die Rose des Marquis, von der der Cornet ein Blatt mit auf den Weg nehmen wird: »Er hat eine kleine Rose geküßt, und nun darf sie weiterwelken an seiner Brust.« (Ebd., S. 143) 35 | So hebt der Roman bereits mit den Worten an: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.« (Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders.: Werke, Bd. III, S. 455-660, hier S. 455.) 36 | »Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. […] der Wunsch einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.« (Ebd., S. 458f.) 37 | Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906). 38 | Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891). 39 | Hermann Hesse: Unterm Rad (1906). Vgl. hierzu auch York-Gothart Mix: Selbstmord der Jugend. H. Falladas Der junge Goedeschal, J. R. Bechers Abschied, H. Hesses Unterm Rad und der Erziehungsalltag im Kaiserreich, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994), S. 63-76. 40 | Gottfried Benn: Schöne Jugend, in: ders.: Werke, Bd. I: Gedichte 1, S. 11; Kursivierung S. K. 41 | Ebd.

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begreift, und wird bereits auf dem Weg von einem ebenso tödlichen Fieber betroffen, wie es den kleinen Hanno Buddenbrook ereilt.42 Und in all dieser Vergeudung, dem sinnlosen Verlöschen jugendlichen Lebens findet sich die Betonung des Alters im Sinne des Kontrastes nur umso deutlicher hervorgehoben. Doch nicht nur die jugendlichen Helden müssen vor dem Lauf der Zeit kapitulieren. Oft sind es gerade die Figuren mittleren Alters, die in ihrem Versuch, sich dem vorzeitigen Welken zu entziehen und zu einer längst verlorenen Jugendlichkeit und Auf bruchsstimmung zurückzufinden, am gründlichsten scheitern. Wenn es so bei Keyserling heißt: Unterdessen ging die Fürstin die Alleen des Parkes entlang, sie hielt ein Körbchen in der Hand und sammelte Veilchen. […] Im hellgrauen Frühlingskostüm, den grauen Filzhut auf dem Kopfe, fühlte sie sich hübsch und jugendlich, Wangen und Lippen waren heiß vom lauen Frühlingswinde 43,

dann ist hier allein in der farblichen Gestaltung die Vergeblichkeit der für den Moment empfundenen »Verjüngung« angedeutet. Die blaue Blume kann das von Kopf bis Fuß Ergraute der Fürstin nicht mehr aufwiegen. Ihre Wangen sind zwar vom Frühlingswind erhitzt, aber es ist ein »laue[r]« Wind, den wir schon aus dem »totgesagten« Park Georges kennen. Und auch der Graf Streith, der – des Wartens auf die Fürstin müde und ohne zu begreifen, dass es gerade auf dieses Warten ankommt – schließlich mithilfe eines jungen Mädchens zu einem neuen Lebensgefühl auf brechen will, kommt doch an eben jenem Versuch der Verjüngung zu Tode. »Ach, Kind«, sagt so der bereits Erkrankte kurz vor seinem Tod zu der Verlobten, »wie habe ich deine Jugend, deine Schönheit angebetet. Jetzt möchte ich, daß es ein wenig stille um mich ist« 44. Am Ende wird Brittas Brautkranz aus wilden Trollblumen zum Schmuck auf Streiths Sarg, »heiter in seiner Farbenpracht«, so heißt es zu Beschluss des Romans, und – auch dies erspart Keyserling seinem Leser nicht – »wie ein helles Jugendlachen«45. Bleiben und ihr Leben dem biologischen Rhythmus gemäß bis an ihr Ende führen können bei Keyserling nur die Alten, die noch aus einer früheren Epoche stammen. Für alle anderen besteht nur die Wahl zwischen einem vorzeitigen Untergang oder dem »herbstlichen Gesicht«, zwischen dem Tod für einen kurzen Augenblick des Glücks oder dem langen Warten. Und so bevölkern all diese vor der Zeit gealterten Figuren die beschatteten Rohrstühle und Liegen, müde, kränklich und voller ennui, als entstammten sie einem eingefrorenen Szenenbild Tschechows. Da geht die schöne Doralice am Ende der Wellen tagein tagaus mit 42 | Eduard von Keyserling: Im stillen Winkel (1918); Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901). 43 | Keyserling: Fürstinnen, S. 86. 44 | Ebd., S. 142. 45 | Ebd., S. 151.

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dem buckligen, alten und einzig verbliebenen Begleiter Knospelius 46 den Strand entlang und sein »lange[r] graue[r] Paletot«47 entfärbt all die satten Rottöne, die sie im Verlauf des Romans an Lippen, Schmuck und Kleidung als Zeichen der Lebensleidenschaft gezeigt hat. Und desgleichen sitzt die gescheiterte Fastrade zu Beschluss der Abendlichen Häuser neben den alten Herren still am See und ist doch kaum noch von diesen grauen Patriarchen zu unterscheiden, weil sie weiß, dass auch ihr Leben sich bereits an seinem Ende, eben im »Abendlichen« befindet, auch wenn noch viele Jahre bis zu ihrem biologischen Tod vergehen können. Und man mag an Marcel Proust denken, der sich – ebenfalls von einer Zeit überholt, die er nicht mehr als die seine annehmen konnte – in sein mit Kork ausgekleidetes Zimmer zurückzog und dessen großes Manifest der Moderne letztlich mit derselben Müdigkeit anhebt, an der nahezu alle literarischen Figuren der Epoche auf die eine oder andere Weise kranken: »Longtemps, je me suis couché bonne heure.« – »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« 48 Auch hier wird etwas »früh«, zu früh dem eigentlichen und aktiven Lebenskreis entzogen, wenngleich – eine Lösung die dem Keyserlingschen Personal versagt bleibt – am Ende die Kunst über das Leben triumphieren kann.49 In diesem Sinne muss schließlich auch Koopmann zugestehen, dass es Keyserling – dem er eine fast »unheimliche[] Prophetie«50 bescheinigt, wohl doch um mehr als das literarische Bild des Verfalls kurländischer Schlösser gehe, indem er festhält, »daß hier die Greise die Überlebenden sind und nicht die Jungen. Lächerlich, grausig das Ganze, sehr viel mehr als eine untergehende Adelswelt« 51. Und es ist eben jenes Grausige, dass auch Peter von Matt erfasst hat, wenn er von der »seltsamen Beklemmung«52 spricht, die die Lektüre von Keyserlings Romanen auslöse. Wenn hier also das Alter, sei es das tatsächliche oder das vorzeitig erzwungene, mit all den ihm zugeschriebenen Attributen wie der Krankheit, der Müdigkeit, dem Nachlassen der Aktivität, der Erstarrung in immer wiederkeh46 | Dessen Name nicht nur an Hoffmanns »Coppelius« aus dem Sandmann erinnert, sondern der auch ›Knospe‹ enthält und in diesem Sinne ironisch auf die verlorene Jugend verweist. 47 | Eduard von Keyserling: Wellen, in: ders.: Erzählungen, Bd. II, S. 302; Kursivierung S. K. 48 | Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt a.M. 71997, Bd. I: In Swanns Welt, S. 9. 49 | »Da aber ging ein neues Licht in mir auf, weniger strahlend gewiß als jenes, dem ich die Erkenntnis verdankte, daß das Kunstwerk das einzige Mittel ist, die verlorene Zeit wiederzufinden. Ich begriff, daß die Summe aller Materialien des literarischen Werkes mein vergangenes Leben war«. (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt a.M. 71997, Bd. X: Die wiedergefundene Zeit, S. 3980.) 50 | Koopmann: Weltuntergang, S. 218. 51 | Ebd., S. 217. 52 | Peter von Matt: Glanz und Farben und Verzweiflung, in: Romane von gestern, Bd. 1, S. 159-165, hier S. 159.

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renden Ritualen, der Einsamkeit und des Lebens in der Erinnerung alles übertönt und regiert, dann ist die Signatur der Epoche mit einer Deutlichkeit ins Bild gesetzt, die den vermeintlich impressionistischen Gestus des Dichters Lügen straft. Was bleibt aber nun in diesen erstarrten, »totgesagten« wiewohl nicht toten Landschaften des permanent sich wiederholenden Sonnenunterganges des Lebens, wie ihn Keyserling – ein Meister der Lichtstimmungen – immer wieder auf so unnachahmliche Weise schildert? Erneut möchte man mit Hölderlin antworten: »Vorwärts aber und rückwärts wollen wir / Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See.«53 Denn um eben jenes »Wiegen lassen« scheint es zu gehen, um den – freilich höchst unspektakulären und ennuierenden – Augenblick, der frei von einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit (»rückwärts«) wie aussichtslosen Zukunft (»vorwärts«) zur einzigen Lebensspanne wird, die vor der Zeit bestehen kann. So rücken die letzten Rosen eines einstmals großen Sommers, deren beginnendes Welken aber nicht mehr beklagt, sondern vielmehr als notwendig hingenommen wird, als die »letzten Früchte[]« und deren »letzte Süße« eines nahezu »vollendeten« 54 Lebenszyklus in den Fokus. Alter, Krankheit und der nahende Tod sind in dieser folgenschweren Umdeutung des anbrechenden neuen Jahrhunderts also nicht mehr die Gegner, sondern vielmehr der Sinn des Lebens. »Ich denke manchmal«, sagt der junge Joachim in Der Zauberberg, »Krankheit und Sterben sind eigentlich nicht ernst, sie sind mehr so eine Art Bummelei« 55. Er täte jedoch weit besser daran, eben diese »Bummelei« sehr ernst zu nehmen und sie gleich seinem Vetter, der ihn schon bald im Kranksein an der Zeit überflügeln wird, in all ihren Momenten auszukosten. Denn in dem Maße, wie die Jugend in der Literatur des Fin de siècle und auch noch in den Folgejahren als etwas Defizitäres, nicht mehr Lebenstüchtiges empfunden wird, kann der Prozess des Alterns aus dieser radikalen Verschiebung der Perspektive »als eine Art Liberalisierung und Emanzipationsprozess«56 gelten. Wer eben jenes ›Alter‹ annimmt, wer wartet, ohne sich davon etwas zu erwarten, der hat zumindest die Möglichkeit, zu überleben. Wenn also noch der Baron Egloff sich sinnlos auflehnt und festhält, »dieses Warten mach[e] uns alle zum Narren«, dann hat erst Hans Castorp ganz begriffen, dass es in seiner durch und durch närrischen Zeit auf eben jene Narretei verfrühter Endspiele ankommt. Thomas Mann – und auch hier zeigt er sich als ein überaus aufmerksamer Leser Keyserlings – legt ihm so auch die Worte in den Mund:

53 | Hölderlin: Mnemosyne, S. 364. 54 | »Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; […] / dränge sie zur Vollendung hin und jage / die letzte Süße in den schweren Wein.« (Rilke: Herbsttag, S. 281.) 55 | Thomas Mann: Der Zauberberg, in: ders.: Werke, Bd. 3, S. 76. 56 | Thomas Homscheid: Eduard von Keyserling – Leben und Werk, Norderstedt 2009, S. 487.

Endspiele oder Altern als Lebensform Warten heißt: Voraneilen, heißt: Zeit und Gegenwart nicht als Geschenk, sondern als Hindernis zu empfinden, ihren Eigenwert verneinen und vernichten und sie im Geist überspringen. Warten, sagt man, sei langweilig. Es ist jedoch ebenso wohl oder sogar eigentlich kurzweilig, indem es Zeitmengen verschlingt, ohne sie um ihrer selbst willen zu leben und auszunutzen. 57

Die Zeit als Hindernis, das es zu überwinden gilt – konsequenter kann man Keyserling nicht zu Ende denken. Ganz richtig also, möchte man vor diesem Hintergrund meinen, hat Castorp sein Recht auf Krankheit vor dem Hofrat Behrens, dem Vetter, Settembrini und schließlich seiner Leserschaft immer wieder eingefordert. Sie ist der Garant seiner im wahrsten Sinne des Wortes anachronistischen Existenz, einer Existenz, die erst in dem Moment zuschanden wird, als er dem Sanatorium den Rücken kehrt und sein frühzeitig gealtertes Leben mitsamt der längst antiquierten Reminiszenz an den Schubertschen Lindenbaum 58 in den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges ebenso untergehen muss wie die baltischen Landgüter Keyserlings.

L ITER ATUR Primärtexte Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Gerhard Schuster und Holger Hof, 7 Bde., Stuttgart 1986–2003. George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1981–2013. Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimarer Ausgabe, 143 Bde., Weimar 1887–1919, Nachdruck München 1987. Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria Werner, Abt. I: Werke, 12 Bde., Berlin 1901-1903. Hofmannsthal, Hugo von: Das Gespräch über Gedichte, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M. 1975ff., Bd. XXXI, hg. v. Ellen Ritter, S. 7486. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1992. Keyserling, Eduard von: Nicky, in: Die neue deutsche Rundschau 26 (1915) H. 5, S. 627-656.

57 | Thomas Mann: Der Zauberberg, S. 335. 58 | »Er [Castorp, S. K.] macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Füßen, bewußtlos singend: ›Und sei-ne Zweige rau-schten, / Als rie-fen sie mir zu –‹. Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung kommt er uns aus den Augen.« (Ebd., S. 993.)

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Keyserling, Eduard von: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden, hg. v. Ernst Heilborn, Berlin 1922. Keyserling, Eduard von: Werke, hg. v. Rainer Gruenter, Frankfurt a.M. 1973. Keyserling, Eduard von: Schwüle Tage. Erzählungen, Zürich 2005. Keyserling, Eduard von: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen, Göttingen 2008. Mann, Thomas: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt a.M. 1990. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 10 Bde., Frankfurt a.M. 7 1997. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden, hg. v. Manfred Engel u.a., Frankfurt a.M./Leipzig 1996.

Sekundärtexte Gruenter, Rainer: Herbst des Gefühls, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, 10 Bde., Frankfurt a.M. 1994, Bd. 5, S. 118-120. Homscheid, Thomas: Eduard von Keyserling – Leben und Werk, Norderstedt 2009. Koopmann, Helmut: Weltuntergang ostelbisch, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1989, Bd. 1, S. 212218. Krause, Tilman: Nachwort, in: Eduard von Keyserling: Im stillen Winkel, Zürich 2006, S. 231-248. Matt, Peter von: Glanz und Farben der Verzweiflung, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1989, Bd. 1, S. 159-165. Mix, York-Gothart: Selbstmord der Jugend. H. Falladas Der junge Goedeschal, J. R. Bechers Abschied, H. Hesses Unterm Rad und der Erziehungsalltag im Kaiserreich, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994), S. 63-76. Mosebach, Martin: Nachwort, in: Eduard von Keyserling: Schwüle Tage, Zürich 2005, S. 427-440.

Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig Henriette Herwig

Liebe unter schwierigen gesellschaftspolitischen Bedingungen, Altern, Krankheit und Tod und Fragen nach dem Verhältnis von privater und politischer Geschichte haben im Werk Christa Wolfs immer schon eine große Rolle gespielt seit ihrem Roman-Debüt Der geteilte Himmel (1963). Es war aber immer der Tod der anderen oder der einer Kunstfigur wie Kassandra, Medea, nicht der drohende eigene Tod. Spätestens mit der offen autobiographisch geprägten Erzählung Leibhaftig (2002)1 hat sich das geändert. Die Beschäftigung mit Liebe, Krankheit und Tod hat in ihr eine neue Verbindlichkeit erreicht. Hinter der Patientin, die in diesem Text um ihr Leben kämpft, verbirgt sich das Schicksal der – 2011 verstorbenen – Autorin Christa Wolf, ihre zum Zeitpunkt des erzählten Geschehens konkret erfahrene eigene Lebensgefahr, eine als Person und als Autorin, körperlich und seelisch erlittene. Doch trotz des autobiographischen Kerns handelt es sich um eine kunstvoll gebaute Prosa, die zwischen »Bewusstseinsstrom«, »Erinnerungsmonolog«, innerem Dialog »und erlebter Rede oszilliert«.2 Die Geschichte einer lebensbedrohenden Krankheit, einer späten Erkenntnis und einer Liebe wird aus wechselnden Perspektiven erzählt: Die erste Perspektive ist die einer schwer kranken Patientin, die in ein »Ich« und ein »Sie« gespalten wird, die zweite die der sie behandelnden Ärzte und des Pflegepersonals. Als dritte Sicht kommt die Perspektive des Lebenspartners hinzu, der die Patientin mit seiner selbstverständlichen Anwesenheit still und verlässlich begleitet. Er wird durchgängig als »Du« angesprochen. Die letzte Perspektive ist die auf das Weltgeschehen, das sich der Kranken durch die Nachrichten aus dem Radio aufdrängt. Zu Beginn des Textes stehen das Le1 | Christa Wolf: Leibhaftig. Erzählung, München 2002, im Folgenden zitiert mit der Sigle L und Seitenzahl in Klammern. 2 | Markus Winkler: Kassandra, Medea, Leibhaftig. Tendenzen von Christa Wolfs mythologischem Erzählen vor und nach der ›Wende‹, in: Barbara Beßlich u.a. (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 259-274, hier S. 270.

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ben und das lebenslange Schreibprojekt der todkranken Frau auf dem Spiel. Was hat zu dieser Gefährdung der gesamten Existenz geführt? Über die Hintergründe gibt der Text nur in Andeutungen Auskunft. Sie werden deutlicher, wenn man die politische Geschichte, die zu seiner Entstehung geführt hat, einbezieht. Zur Vorgeschichte des Textes gehört der Zusammenbruch der DDR im Jahre 1989 und die Reaktion der westdeutschen Presse auf das Erscheinen von Was bleibt (1990)3. In dieser Erzählung schildert Christa Wolf einen Tag im Leben einer DDR-Schriftstellerin, die von der Staatssicherheit überwacht wird und Angst vor dem totalitären Staat hat. Der erbitterte Streit um diesen Text, der bald europäische, ja weltweite Ausmaße annahm4, ging von seinem Erscheinungsdatum aus. Im Sommer 1979 geschrieben, im Herbst 1989 überarbeitet, erschien er im Juni 1990 mit einer Verspätung von elf Jahren. Zehn Jahre früher, selbst fünf Jahre früher, hätte er in der DDR – so hieß es in der scharfen Kritik von Frank Schirrmacher – »der Staatssicherheit wohl Schaden zufügen können«; jetzt aber, ein knappes Jahr nach der Wende sei er »bedeutungslos, anachronistisch«, eine »folgenlose Selbstbezichtigung«. Wenn eine Diktatur zu Ende ist, reden die Beteiligten nicht von Schuld und Mitverantwortung, sondern von der Notwendigkeit einer neuen Sprache. Vor der Gewissensnot in die diffusen Räume des Unsagbaren zu flüchten, das war allerdings schon die Übung der vom Nationalsozialismus belasteten Intellektuellen der Nachkriegszeit – Wiederholungszwang der Geschichte. Dieses neue Buch von Christa Wolf ist nicht nur literarisch apokryph, es ist eine apokryphe Widerstandshandlung und damit wieder jenem nachgeholten Widerstandsethos der Bundesrepublik sehr nahe. Es ist sentimental und unglaubwürdig bis an die Grenzen des Kitsches. 5

Dieses Verdikt erinnert an die Härte, mit der Thomas Mann im September 1945 von Amerika aus in einem offenen Brief an Walter von Molo alle Bücher verurteilte, die während der NS-Diktatur in Deutschland erschienen waren:

3 | Christa Wolf: Was bleibt. Erzählung, Frankfurt a. M. 31990. 4 | »In Paris berichtete am 3. August Le Monde über die ›Polemik um Christa Wolf‹, und einen Monat später griff der französische Kulturminister Jack Lang persönlich in die Debatte ein. In London hatte schon am 8. Juli der Observer seine Leser über den Streit informiert, und am 24. August erschien in der New York Times ein Artikel zum Thema.« Thomas Anz: Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland, in: ders. (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991, S. 7-28, hier S. 7. 5 | Frank Schirrmacher: »Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.1990, wiederabgedruckt in: Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, S. 77-89, hier S. 87.

Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden. 6

In beiden Fällen geht es um das Verhältnis von Intellektuellen zu einem totalitären Staat, um die Frage der Berechtigung von ›innerer Emigration‹. Auf Frank Schirrmacher und Ulrich Greiner, der sich in der Zeit vom 1. Juni 1990 ähnlich wie Schirrmacher äußerte, hat Was bleibt als Versuch einer Repräsentantin des Systems gewirkt, sich nachträglich ins rechte Licht zu rücken. Christa Wolf, die von 1963 bis 1967 Kandidatin beim ZK der SED war und erst im Sommer 1989 aus der SED austrat, wurde vorgeworfen, »sich nicht genug oder kaum gegen die Verfolgung kritischer Autoren zur Zeit des SED-Regimes ausgesprochen zu haben, sich nun aber nach dem Zusammenbruch der DDR als Opfer und Widerstandskämpfer des Systems darzustellen« 7, ein Vorwurf, der auch gegen Stephan Hermlin und Stefan Heym erhoben wurde. Der Streit wurde mit beispielloser Härte geführt. In seinem Verlauf wurde nicht nur der Text, sondern mit ihm auch die Person Christa Wolf diskreditiert. War sie eben noch die berühmteste, mit vielen Preisen ausgezeichnete Kritikerin der DDR, wurde sie jetzt als »Staatsdichterin« 8 denunziert, die in vagem Andeutungsstil an den eigentlichen Problemen ihres Landes vorbeigeredet, aus »Angst, dem ideologischen Gegner zu dienen«, bis zum Schluss geschwiegen9 und der Partei die Treue bewahrt habe. Ihre Verteidiger sahen in dieser »Disqualifizierung« der angesehensten Schriftstellerin der DDR einen Versuch, »die westdeutsche Überlegenheit und die ostdeutsche Minderwertigkeit auch auf dem Gebiet der Literatur zur Schau zu stellen«, ein Zeichen dafür, dass der »Zusammenbruch des SED-Staates« auch den »Zusammenbruch der DDR-Literatur in der westlichen Wertschätzung« gebracht habe.10 Die Titelfrage des umstrittenen Buches Was bleibt wurde zur Frage: Was bleibt von der DDR-Literatur?

6 | Thomas Mann: Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 12: Reden und Aufsätze 4, Frankfurt a. M. 1990, S. 953962, hier S. 957. 7 | Anz: Der Fall Christa Wolf, S. 8. 8 | Ulrich Greiner: Mangel an Feingefühl, in: Die Zeit, 01.06.1990, wiederabgedruckt in: Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, S. 66-70, hier S. 66. 9 | Schirrmacher: »Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten«, S. 84. Diesen Vorwurf hatte Marcel Reich-Ranicki (Macht Verfolgung kreativ? in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1987, wiederabgedruckt in: Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, S. 3540, hier S. 35) schon anlässlich ihrer Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Thomas Brasch erhoben. 10 | Anz: Der Fall Christa Wolf, S. 9.

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In Leibhaftig – und damit komme ich zum eigentlichen Gegenstand meiner Analyse zurück – liegt eine Patientin nach einem verschleppten Blinddarmdurchbruch mit einer Bauchfellentzündung im Krankenhaus. Eine Sepsis bringt sie in Lebensgefahr. In fünf aufeinander folgenden Operationen versuchen die Ärzte lange Zeit vergeblich, den Eiterherd zu entfernen. Er muss durch wiederholte Computertomographien immer wieder neu verortet werden. Mit jedem Mal wächst die Gefahr, dass die Kranke, die bereits post-operativ geschwächt ist, den nächsten chirurgischen Eingriff nicht überlebt. Die Bemühungen der Ärzte und des Pflegepersonals werden durch die Mangelverwaltung des DDR-Krankenhauses erschwert: Es fehlt an wirksamen Medikamenten, haltbaren Plastikhandschuhen, Nachthemden zum Wechseln. Aber auch der Körper der Patientin scheint nicht mithelfen zu wollen. Nach jeder Operation steigt das Fieber wieder bis zum Schüttelfrost, droht eine erneute Sepsis. Die technokratische Medizin gelangt ans Ende ihrer Kunst. Das veranlasst den behandelnden Arzt zu der Frage: »Warum ist Ihr Immunsystem derart schwach?« (L 102 und öfter) Diese Frage ist das Leitmotiv des Textes. Sie kann nur mit Bezug auf das ganze Leben der Patientin beantwortet werden, dessen Verletzungen, traumatische Erfahrungen und ungelöste Konflikte sich als ›Körperschrift‹11 ihrem Körper eingeschrieben haben. Die Frage wird wiederholte Male gestellt und macht den Text damit auch zu einem Plädoyer für die psychosomatische Medizin.12 Der behandelnde Arzt hegt nämlich den Verdacht, dass die Patientin, bewusst oder unbewusst, die therapeutischen Maßnahmen sabotiere, sich aus unerklärlichen Gründen weigere, die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren. Er hält ihren Lebenswillen für gebrochen, vielleicht unterstellt er ihr sogar einen unbewussten Todeswunsch. Sinngemäß lautet sein Vorwurf: Wir geben uns alle Mühe, ihr Leben zu retten, aber Sie helfen nicht mit. Und dieser Vorwurf scheint zunächst berechtigt zu sein. Im imaginierten Gespräch mit ihrer Anästhesistin Kora Bachmann deutet die Kranke an, dass das Gefühl der »Vergeblichkeit« ihre »Lebenssumme« (L 145), die Krankheit damit eine Art von Bilanzselbstmord sei. Erst als der Pathologe die besonders bösartigen Erreger der Infektion im Bauchraum identifiziert hat, kann das wirksame Gegenmittel in einem unbürokratischen Eilverfahren aus dem Westen herbeigeschafft und der Patientin verabreicht werden – eine Maßnahme, die jedem, nicht nur der berühmten Dichterin zugestanden hätte, wie man ihr versichert. Damit ist die Krise – die »plötzliche Wendung, […] der Punkt, wo Heilung und Tod gleichzeitig denkbar« wären13 – überwunden, 11 | Ich verwende den Begriff im Sinne von Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003 [1999], S. 241. 12 | Vgl. Christa Wolfs Erzählung Im Stein, in: dies.: Hierzulande. Andernorts, München 1999, S. 81-96, und ihren Vortrag Krankheit und Liebesentzug, in: dies.: Die Dimension des Autors, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 727-748. 13 | Martina Caspari: Im Kern die Krisis. Schuld, Trauer und Neuanfang in Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig, in: Weimarer Beiträge 49 (2003) H. 1, S. 135-138, hier S. 135.

Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig

setzt die Heilung ein. Jetzt kann der Chefarzt der Patientin auch erfreut für ihre »gute Mitarbeit« (L 117) danken. Nach einer langen Zeit des Schwebens zwischen Leben und Tod scheint sie sich für das Weiterleben entschieden zu haben. Die Versuchung, das Dilemma Weggehen oder Bleiben durch Flucht in den Tod aufzulösen, ist überwunden. Der Pathologe, der »die Frau sehen« will, »die derart gefährliche Biester in sich gezüchtet hatte« (L 166), gratuliert ihr zu ihrem »Sieg«: Wenn sie es nicht »auf letalen Ausgang«, sondern auf »Verschnaufpause« angelegt hatte, dann »habe sie sehr hoch gepokert« (L 167). Nach überstandener Todesgefahr kann die langsam Genesende am Schluss ans Fenster treten und den Blick über das Panorama der sonnendurchfluteten Landschaft in den Himmel gleiten lassen. Und dieser ist offenbar kein »geteilter Himmel« mehr. Die Ich-Erzählerin, die, wenn sie sich durch die medizinische Technik objektiviert fühlt, in die Sie-Form wechselt 14 und sich wie in Kindheitsmuster (1976) manchmal auch selbst als »du« anspricht, hat Ähnlichkeit mit Christa Wolf. Die Autorin lag 1988 selbst mit einem Blinddarmdurchbruch in einem Schweriner Krankenhaus und musste fünf Operationen über sich ergehen lassen. Sie stellte sich damals selbst die Frage, was sie so geschwächt hatte, warum sie diesen Zusammenbruch in dem Moment erlitt, »als der Untergang der DDR, eine Art Immunschwäche des Staates, unmittelbar bevorstand«.15 Auch bei ihr kann die Krankheit, als »Schutz vor Selbstentfremdung«16 verstanden werden. Wie die reale Krankengeschichte spielt auch die fiktive Ende 1988, kurz vor dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten. Der sonnige Morgen am Schluss verweist auf die Zeit der Niederschrift des Textes, in der die Wiedervereinigung Deutschlands schon vollzogen war. Vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Anspielungen ist es verständlich, dass die Erzählung nicht als Krankengeschichte, sondern als Allegorie auf den Untergang der DDR gelesen wurde.17 Das ist aber eine verkürzte Lesart. Meiner Ansicht nach ist sie beides zugleich: Individual- und Kollektivgeschichte, eine 14 | Christine Cosentino: Christa Wolfs Leibhaftig und Wolfgang Hilbigs Das Provisorium: zwei »Krankenberichte« an der Jahrtausendwende, in: Germanic Notes and Reviews 34 (Fall/Herbst 2003) H. 2, S. 121-127, hier S. 121. 15 | Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie, Reinbek b. H. 2003, S. 363. Eine Parallele zwischen individuellem Körper und Kollektivkörper konstatiert Elke Brüns: Leibhaftig: Christa Wolfs Gang ins Totenreich, in: Arne de Winde u.a. (Hg.): Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und »Memoria« in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Amsterdam u.a. 2008, S. 145-158, hier S. 145. 16 | Nikolaos-Ioannis Koskinas: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus.« Von Kassandra, über Medea, zu Ariadne: Manifestationen der Psyche im spätesten Werk Christa Wolfs, Würzburg 2008, S. 190. 17 | Stephan Maus: Kassandra im Kernspintomographen. Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig, in: Frankfurter Rundschau, 20.03.2002; Beatrix Langner: Gespenster am Krankenbett. Leibhaftig: Christa Wolf lässt die Vergangenheit aufleben, in: Neue Zürcher Zeitung,

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kunstvolle Verknüpfung der Darstellung einer persönlichen Alterskrise mit der einer Staatskrise. Sie setzt sich mit den Ursachen, die zum Zusammenbruch der DDR geführt haben, auseinander und mit jenen, die das Immunsystem der mit diesem Staat und seinem Gründungsmythos identifizierten Patientin kollabieren ließen. Bis zum Zeitpunkt der Erkrankung hat sie die DDR für das ›bessere Deutschland‹ gehalten, im Zeichen des für die DDR geltend gemachten Antifaschismus schweren Herzens über die Schwächen des real existierenden Sozialismus hinweggesehen. Jetzt muss sie sich die Frage stellen, ob sie einer Ideologie aufgesessen, einer Lebenslüge verfallen war. Ihre Wunde ist keine sichtbare, offene. Sie wurde nicht durch äußere Gewalt zugefügt. Es ist ein tief in der Bauchhöhle versteckter Eiterherd, verursacht durch das Leben in einem Staat, der selbst seine loyalsten Bürger »eingesperrt und überwacht«18 und einen noch größeren Unrechtsstaat, das NS-Regime, nahtlos abgelöst hat: »Die Infektion mochte früh erfolgt sein, die jahrzehntelange Inkubationszeit ist vorbei, jetzt bricht die Heilung aus, als schwere Krankheit.« (L 93) Den Eiterherd im Körper bekämpft das wirksame Medikament. Der gebrochene Lebenswille braucht eine andere Medizin. Die Heilung der Psyche kann nur von einer Konfrontation mit den »weißen Flecken« der eigenen Biographie kommen, mit den Stellen, wo die »wilden Tiere« hausen: »Hic sunt leones« (L 147). Sie setzt ganz im Sinne Freuds die Begegnung mit dem Verdrängten, einen schmerzhaften Prozess der Erinnerungsarbeit voraus. Diese als Archäologie verstandene Arbeit findet in den Träumen und Fieberphantasien der Patientin statt. In ihnen steigt die Erzählerin, begleitet von ihrer Anästhesistin Kora Bachmann, in die Tiefen des als »Bergwerk« (L 97) gesehenen eigenen Körpers und in die Geschichte der geteilten Stadt Berlin. In der Sprache der griechischen Mythologie ist das eine Hadesfahrt. Nicht umsonst erinnert der Vorname ihrer Begleiterin, Kore, an Persephone, die Göttin der Unterwelt, der Nachname an die Schriftsteller-Kollegin Ingeborg Bachmann, die ihr ganzes Werk, besonders das Todesarten-Projekt, der Frage, wie der Faschismus im Privaten weiterwirkt, gewidmet hat. Der von der Patientin erkundete Körper fungiert auch in Leibhaftig als Erinnerungsspeicher19, der Spuren des Lebens unter zwei totalitären Regimes, dem NS-Staat und der DDR, auf bewahrt hat. In den Fieberhalluzinationen und Halbnarkose-Träumen der Patientin gehen Körperraum und Stadtraum ineinander über. Zwei Mal fliegt sie mit ihrer Anästhesistin Kora Bachmann über die Stadtlandschaft Berlins. Am Ufer der Spree be23.02.2002; Tilman Spreckelsen: Operation Tunnelblick. Krankheitsmuster: Christa Wolf überlebt die DDR im Hades, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.2002, Nr. 46, S. 54. 18 | Helge Jordheim: Versuche zu einer Zeithermeneutik der Moderne und der Postmoderne: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Grass’ Im Krebsgang und Wolfs Leibhaftig, in: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch?, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 111-132, hier S. 128. 19 | Ebd., S. 127.

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merkt sie dabei zwei eng umschlungene Liebende, deren Namen sie nicht nennen darf, weil sie das gefährden würde. Zunächst hofft sie, dass die beiden »gültige Visa« haben und aus der DDR fliehen können. Dann trifft sie die Erkenntnis, dass der Mann als Jude hüben so gefährdet ist wie drüben, also nicht in die DDR-Realität gehört, sondern in die des Dritten Reichs. Die Umschlingung des Paares liegt demnach rund fünfzig Jahre vor dem Krankenhausaufenthalt der inzwischen gealterten Frau. Im Traum hat sich eine Gleichzeitigkeit zwischen der Erzählgegenwart der Patientin – dem Jahr vor der Wende –, ihrem Leben im geteilten Berlin der Nachkriegszeit und ihrer Kindheit in der Nazi-Zeit installiert. Zur Zeit des Nazi-Regimes hatte ihre Tante Lisbeth eine verbotene Beziehung zu einem jüdischen Arzt, Alfons Leitner, aus der ein uneheliches Kind hervorgegangen war. Die Hoffnungen dieser kleinen Familie, sich verstecken und den Nationalsozialismus als Familie überstehen zu können, erweisen sich im Nachhinein als trügerisch. Alfons Leitner musste in die USA emigrieren. Erst jetzt, in ihrem physisch und psychisch geschwächten Zustand, trauert die Erzählerin um das durch die Politik zerstörte Lebensglück dieser Familie: Ich fange an zu weinen, das hätte ich längst tun sollen, ich weine und weine und kann nicht mehr aufhören, ich weine um Lisbeth, die sich so sehr veränderte, als der Vater ihres Kindes nach der »Kristallnacht« das Land verlassen hatte, ich weine um ihr Kind, Vetter Manfred, ich weine um Doktor Leitner und um unsere Familie, ich weine um mich. (L 122)

In einem anderen Traum steigt sie in die Kellergewölbe unter den – teilweise im Bombenkrieg zerstörten – Häusern Berlins und trifft auch hier wieder auf die Familie ihrer Tante. Wieder ein anderes Mal begibt sie sich in die von Baggern aufgerissenen Gräben der Friedrichstraße und betrachtet an den Rändern die »Schichten […], in denen die Jahrzehnte ihren Schutt abgelagert haben« (L 143). Wie die Operationen die Eingeweide der Patientin offen legen, so ihre geträumten Erkundungen die Eingeweide der Stadt. Allerdings wird die Fähigkeit der Auguren, der römischen Priester, »die aus den Eingeweiden von Tieren den Götterwillen lesen« und deshalb die Zukunft voraussagen konnten, hier verkehrt: Aus den Organen eines Menschen wird vergangenes Unheil gelesen, das sich in sie eingraviert hat.20 Die Zukunft spielt nur insofern eine Rolle, als sie womöglich immer noch im Zeichen dieser Vergangenheit steht. Besteht die Gefahr, dass die mit poetischen Mitteln erzeugte »mythische Zeitlosigkeit«21 historische Unterschiede wie den zwischen dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus verwischt? Ich meine: nein. Es ist gerade das Erkennungszeichen der Genesung, dass die Patientin nach dem Durchgang durch die Schichten des in ihr und um sie abgelagerten Schutts wieder in zeitlichen Kategorien denkt, die versäumte »Zeit« (L 141) zu beklagen beginnt. Damit ist sie wieder bei den Lebenden angekommen 20 | Ebd., S. 128f. 21 | Ebd., S. 130.

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und bereit, sich der Verantwortung für geschichtliche Prozesse zu stellen. Denn nur wer hofft, noch etwas bewirken zu können, kann auch Zeit verlieren. Kora hat sie vor dem Eingang zur Unterwelt abgefangen und zu den Lebenden zurückgeschickt. Das erzähltechnische Verfahren der Verräumlichung von Zeit dient der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, ist Medium der Erinnerung an die Abfolge zweier totalitärer Staaten in Deutschland und deren Auswirkung auf die Familie der Patientin und sie selbst. Die chirurgischen Eingriffe sind auch ein Bloßlegen dieser Zeit- und Erinnerungsschichten. Zu einer dieser Schichten gehört Hannes Urban, der Gegenspieler der Protagonistin, den man als ihr negatives Alter Ego sehen kann. Hannes Urban, ein früherer »Freund und Genosse« (L 36), den die Erzählerin in ihrer Leipziger Studienzeit als Student der Germanistik und Interpret von Thomas Manns SchillerNovelle Schwere Stunde (1905) kennenlernte und der später als opportunistischer Kultursekretär im SED-Ministerium Karriere machte, hat sich als Reaktion auf eine scharfe Kritik der Partei an einer kritischen Rede von ihm das Leben genommen. Die Erzählerin reflektiert sein Schicksal und fragt ihren Lebenspartner mehrfach nach ihm. Schon damals, bei seiner Deutung des Satzes »Das Talent selbst – war es nicht Schmerz?« (L 46) aus Schwere Stunde22 hat sie Urbans Lebensproblem begriffen: »Er nämlich […] war der vernichtenden Wahrheit innegeworden, daß er kein Talent hatte, was er mehr als alles andere ersehnte«. Mit dem Wissen, das sie jetzt hat, kann sie hinzufügen: »Erst später habe ich gelernt, mich zu fürchten vor der Rachsucht der ehrgeizigen Talentlosen – und dann gründlich.« (L 47) Urban erweist sich damit als einer jener Freunde und Weggefährten, die in der Jugend utopiegläubig waren, sich dann aber zu verhärteten Realsozialisten entwickelten und am Missbrauch einer Heilsidee mitwirkten, indem sie dem Regime aus »Rachsucht« die talentierteren früheren Freunde auslieferten. In den vom Ich erinnerten Gesprächen mit ihm vertritt er einen utilitaristischen Wahrheitsbegriff: »Die Wahrheit, hatte Urban gesagt, […] sei eine Funktion des Fortschritts in der Geschichte. Alles andere sei Gefühlskitsch.« (L 139) In dieser Geschichtsphilosophie heiligt der Zweck die Mittel. Zunehmend beschäftigt die Kranke, welcher der frühere Freund durch seine Flucht innerlich wieder näher gerückt ist, die Frage, »an welchem Zipfelchen Urban und [sie] zusammenhängen« (L 180). Es ist die Versuchung, sich den Schwierigkeiten des Lebens in einem Staat, der seine Gründungsmythen verraten hat, durch den Tod zu entziehen. Vorlage für den alten Genossen Hannes Urban könnte – wie Martina Caspari vermutet 23 – der hochrangige SED-Kulturfunktionär Hans Koch gewesen sein, der allermächtigste Literaturideologe und Dogmatiker der DDR, der sich 1988 völlig unerwartet an einem Baum erhängt hat. Koch hat zusammen mit Wolf in Leipzig studiert. Bei22 | Thomas Mann: Schwere Stunde, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 8: Erzählungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 371-379, hier S. 375. 23 | Caspari: Im Kern die Krisis, S. 138.

Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig de waren Sekretäre im Schriftstellerverband, als sie Mitte zwanzig waren. Jahrzehntelang war er Direktor des Instituts für Literatur beim Zentralkomitee der SED, so dass er als der ›Literaturpapst‹ der DDR galt. 24

Zugunsten der ›Sache‹ und mit Rücksicht auf seinen hohen Posten im Ministerium für Kultur hat er lange opportunistisch zu allen SED-Verbrechen geschwiegen, manchmal auch selbst auf unsaubere Mittel zurückgegriffen: Utilitarismus, chamäleontische Wandlungen, rhetorische Worthülsen, das Stellvertreter-Opfer von Personen. Wenn Christa Wolf ihm in ihrem Text den fiktiven Namen Hannes Urban gibt, so hat das eine symbolische Funktion. Das lateinische Wort »urbanus« bedeutet städtisch, aber auch kultiviert. Urban war früher zudem ein beliebter Papstname. Die bekanntesten Päpste dieses Namens waren Urban der II. (Pontifikat 1088–1099) und Urban der VIII. (Pontifikat 1623–1644): Urban II. rief im Namen Gottes zum ersten Kreuzzug auf und entfesselte damit 300 Jahre ›gerechten‹ Krieg gegen die Ungläubigen im Nahen Osten und in Europa, gegen die Juden und die orthodoxen Christen; Urban VIII., »ein angeblich leidenschaftlicher Freund von Kunst und Wissenschaft«, führte den Prozess gegen Galileo Galilei und überließ diesen großen Gelehrten der Inquisition.25 Galilei wurde zum Tode verurteilt, weil die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungen die damals herrschende religiös-politische Ideologie in Frage stellten. In Christa Wolfs Text wird Urban zum »neue[n] Mephisto«: Er verführt »nicht mit Unsterblichkeit, sondern mit Stillstand« (L 183). In dieser Figur nimmt das Diabolische, das schon im Titel der Erzählung steckt – der ›Leibhaftige‹ ist bekanntlich der Teufel – und für das die Erzählerin buchstäblich mit ihrem ›Leib‹ ›haftet‹, Gestalt an. Urban ist ein Teufel, der »der allervernünftigsten Vernunft entstiegen« (L 119) ist. In Umkehrung der berühmten Antwort Mephistos auf die Frage nach seiner Identität in Goethes Faust (1808): »Ein Teil von jener Kraft,/ die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (V. 1335f.)26, hält das Ich ihn für einen »Teufel […], der stets das Gute will und stets das Böse schafft« (L 119). Das kann man hier sowohl auf die Utopie des Sozialismus, an die Urban so fest wie die Erzählerin selbst geglaubt hat, als auch auf das mechanistische Menschenbild der technokratischen Medizin beziehen, der die Erzählerin jetzt als Kranke ausgeliefert ist. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des DDR-Sozialismus’ zu einer Diktatur drängt sich die Frage auf, ob die Krankengeschichte der alternden Patientin als »Teufels-

24 | Koskinas: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus«, S. 209. 25 | Ebd., S. 210. Galileo Galilei – Papst Urban VIII. (1972) heißt auch ein Stück von Thomas Brasch (zus. mit Lothar Trolle). 26 | Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, in: ders.: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 3, 14., durchges. Aufl., München 1989, S. 47.

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austreibung«27 zu verstehen ist. Mit Bezug auf die moderne Medizin räumt sie selbst ein, dass sie ohne das rettende Medikament in letzter Minute gestorben wäre, auf die ›teuflische‹ technokratische Vernunft also existentiell angewiesen war. Offenbar gibt es janusköpfige »Teufel«. Wie der mit Teufelsattributen versehene Pathologe sich am Schluss als ihr Lebensretter erweist, so darf der Glaube an die Erreichbarkeit einer menschenwürdigen Gesellschaft auch dann nicht preisgegeben werden, wenn zugestanden werden muss, dass der real existierende Sozialismus seine eigenen Werte verkauft hat. Das Nachdenken über Urban löst eine Wandlung im Erkenntnisprozess der Erzählerin aus, nicht umsonst heißt das altgriechische Wort »diaballo« entzweien.28 Zunächst hat sie noch Verständnis für Urbans Verschwinden: Sie sieht es als seine »letzte Chance«, »unauffindbar« (L 68) zu sein; später deutet sie seinen Freitod nicht mehr als Akt der Verzweiflung, sondern als »Feigheit« (L 180). 29 Das gibt ihr die Möglichkeit, sich von Urban zu distanzieren, was ihr schwer fällt, weil sie »aus demselben Brutkasten« (L 13) stammen, in einem Grenzübertrittstraum sogar beide in diplomatischer Mission auf dem Weg vom westlichen Teil der Stadt zurück in den östlichen sind. Poetologisch erhält Urban damit die Rolle der Eurydike, die ein Weiterleben und Weiterdichten von Orpheus ermöglicht, wie Christa Tabbert, Maxie Wander und Brigitte Reimann, die alle drei an Krebs gestorben sind, Christa Wolf »das eigene komplementäre Überleben« 30 gesichert haben. Sein Freitod löst bei der Patientin einen Prozess der Selbstbefragung aus, eine Beleuchtung der »weißen Flecken« (L 147) auf ihrer inneren Landkarte. Die Krankheit wird für sie zum Mittel, »bis zur Wurzel des Übels« (L 138) vorzudringen, sich Abgelegtes, Verdrängtes bewusst zu machen. Als »Wurzel des Übels« erweist sich das zu lange Festhalten an der Ideologie eines Staates, der sich von seinen Ursprüngen entfernt und in einen totalitären verwandelt hat. »Warum ist Ihr Immunsystem zusammengebrochen?« (L 128) Vor dem Hintergrund der politischen Geschichte ist die Frage des Professors nicht mehr so schwer zu beantworten: Die Kranke hat ihre Kindheit im Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenleben im SED-Staat verbracht und damit übergangslos unter zwei Diktaturen gelebt. Das hat sie – wie Christa Wolf in ihrer Dankrede für den GeschwisterScholl-Preis im November 1987 in München mit Bezug auf sich und ihre Generation zugestanden hat – autoritätsgläubig gemacht:

27 | Christine Cosentino: »Aus Teufels Küche«: Gedanken zur Teufelsfigur in der Literatur nach 2000: Christoph Heins Willenbrock, Christa Wolfs Leibhaftig und Monika Marons Endmoränen, in: Germanic Notes and Reviews 35 (Fall/Herbst 2004) H. 2, S. 121-127, hier S. 123. 28 | Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, Langenscheidt, Berlin/München 261986, S. 166. 29 | Koskinas: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus«, S. 211. 30 | Magenau: Christa Wolf, S. 257.

Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig Mir scheint, dass vielen Angehörigen meiner Generation […] von ihren frühen Prägungen her der Hang zur Ein- und Unterordnung geblieben ist, die Gewohnheit zu funktionieren, Autoritätsgläubigkeit, Übereinstimmungssucht, vor allem aber die Angst vor Widerspruch und Widerstand, vor Konflikten mit der Mehrheit und vor dem Ausgeschlossenwerden aus der Gruppe. 31

Zum Zeitpunkt dieser Rede hielt Christa Wolf die DDR noch immer »für den deutschen Staat, der für ein antifaschistisches Geschichtsbewusstsein stand«.32 Leibhaftig gestaltet die Krise, in die sie die lange verdrängte, erst im Alter zugelassene Einsicht in das »wahre Gesicht« des DDR-Sozialismus gestürzt hat.33 Im Gegensatz zu den früheren Texten, Kassandra (1983) und Medea (1996), geht Zeitgeschichte in Leibhaftig nicht im Mythos auf, sie wird nur kunstvoll auf ihn bezogen. Mythologisches bleibt auf bildhafte Assoziationen und Träume beschränkt. Die großen Themen der früheren Texte: Krankheit, Liebe in Zeiten politischer Ausweglosigkeit und die Versuchung zu sterben, sind auch hier da, nun aber als »Stationen einer Katharsis«: Die Gefahr des Umschlags von »Hoffnung in tödliche Resignation« wird gebannt, »weil die Beziehung zwischen den antinomischen Zeichenwelten des Mythos und der Zeitgeschichte nun als eine eindeutig metaphorische gekennzeichnet ist«.34 Die Rückversetzung in das Jahr vor der Wende wird zum Abschied von einem zu idealistischen Bild der DDR. Der innere Kampf, der diesem Abschied vorausgeht und als Geschichte der Entgiftung eines Körpers erzählt wird, berührt auch die Frage nach dem freien Willen des Menschen. Sinngemäß fragt sich die Protagonistin: Bin ich Herrin über die Abwehrkräfte meines Körpers? Kann ich sie willentlich beeinflussen? Habe ich die Freiheit, mich für oder gegen die Genesung zu entscheiden? Habe ich Zugang zu meinen unbewussten ›Archiven‹? Wenn ja, welche Rolle spielen Träume, Erinnerungen, Gefühle und der Trost, der mir von geliebten Menschen und aus Texten, die ich liebe, zufließt, dabei? Sind es Ergebnisse neuronaler Prozesse, Emotionen und Vorgänge im limbischen System oder Willensentscheidungen, die in einem Fall wie meinem über Leben oder Tod entscheiden?35 Die Ein31 | Wolf, Christa: Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis, in: dies.: Werke. In Zwölf Bänden, hg. v. Sonja Hilzinger, Bd. 12: Essays, Gespräche, Reden, Briefe 1987–2000, München 2001, S. 103-110, hier S. 104f. 32 | Magenau: Christa Wolf, S. 358. 33 | Christine Palm Meister: Christa Wolf leibhaftig oder die hermeneutische Kraft der Phraseologie, in: Ulrich Breuer, Irma Hyvärinen (Hg.): Wörter-Verbindungen. Festschrift für Jarmo Korhonen zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 229-235, hier S. 230f. 34 | Winkler: Kassandra, Medea, Leibhaftig, S. 274. 35 | Ein aufgeklärt-nachmetaphysischer Begriff des Menschen muss sich heute als kompatibel mit den Erkenntnissen der Neurologie und der Evolutionsbiologie erweisen. Wenn Bewusstsein – wie die heutigen Hirnforscher annehmen – eine emergente Eigenschaft von Hirnprozessen ist, so steckt der ›Geist‹ im Begriff der Emergenz. Ein solcher Geist kann

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stellung ihrer Anästhesistin diesen Fragen gegenüber ist eindeutig: »[M]an soll sich entschließen, gesund zu werden. – Entschließen? – Jawohl, sagt Kora mit Nachdruck.« (L 147f.) Leibhaftig markiert einen erneuten Umschlag in der Christa Wolf-Rezeption: Galt sie nach dem Erscheinen von Nachdenken über Christa T. (1968) als »Reformsozialistin« und »regimefeindliche kritische Stimme aus der DDR«, nach Kassandra als »Mahnerin gegen den Krieg«, nach Was bleibt als »regimekonforme Staatsdichterin«, hat sie die kritischen Stimmen aus dem Westen mit Leibhaftig wieder versöhnt. 36 Mit diesem Text habe sie sich endlich selbst von ihrem Leiden an der todkranken DDR befreit. Auch in diesen Urteilen geht es wieder um Gesinnung, nicht um Ästhetik. Ihr Werk wird auf die Ost-West-Problematik und die persönliche Stellungnahme dazu reduziert. Es ist aber mehr als das: die Geschichte einer Liebe, zu einem Staat, dessen Gründung zu überschäumenden Hoffnungen Anlass gegeben hat, zu einem Menschen, der sie jahrzehntelang begleitet hat, die Geschichte einer Freundschaft – über den Verrat hinweg –, ein Plädoyer für die Psychosomatik und die Geschichte einer Bibliotherapie angesichts von Krankheit und Todesnähe. Auf das Wechselspiel von Liebe und Literatur und die Funktion der Intertextualität möchte ich im Folgenden noch eingehen. Zur Genesung der Patientin tragen nicht nur die medizinische Pflege, die stille Zuwendung des Partners und die Erinnerungsarbeit bei, sondern auch die Goethe-Gedichte, auf die durch Titel- und Verszitate, Erwähnungen und Anspielungen an zahlreichen Stellen im Text verwiesen wird (L. 6f., 15, 32, 33, 51, 96f., 99, 119, 120f., 160 und 185). Besonders die Zeilen »Lösest endlich auch einmal/ Meine Seele ganz« (L 96f.) aus der ersten Strophe der Zweitfassung von Goethes Gedicht An den Mond37 werden für die Kranke zum Bild für ihren Zustand der Entgrenzung. Mit Was bleibt ist Christa Wolf aus der Gemeinschaft der östlichen Genossen und jener der westlichen Leser herausgefallen. Vom real existierenden Sozialismus musste sie sich verabschieden, im kapitalistischen Westen ist sie innerlich nicht angekommen. Halt fand sie, wie die Kranke im Text, in der Literatur und im Leben mit einem Menschen, der die Literatur so schätzt wie sie. Literatur spricht den ganzen Menschen an, den Menschen als leib-seelische Einheit. Literatur gibt ihm Zugehörigkeit zur kulturellen Tradition, zur Gemeinschaft lebenimmer nur das Erzeugnis eines materiellen, neuronalen Prozesses sein und nicht diesem vorgängig. Allerdings gesteht auch ein überzeugter Vertreter dieser Theorie wie Wolf Singer zu, dass wir keinen Einblick in die unüberschaubar vielen Determinanten dieses Prozesses haben. Zudem brauchen wir die Illusion der Freiheit, wenn Moral eine gesellschaftlich relevante Größe bleiben soll (vgl. Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt a.M. 2002; ders.: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 30-65). 36 | Koskinas: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus«, S. 172. 37 | Johann Wolfgang von Goethe: An den Mond. Spätere Fassung, in: ders.: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 1, München 1989, S. 129f.

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der und toter Autoren, die in ihren Werken auch nach der Menschenwürde und dem unhintergehbaren Humanum gefragt haben. In Leibhaftig sind das, neben den antiken Autoren, vor allem Goethe, Thomas Mann und Ingeborg Bachmann. Die Erinnerung an die Texte dieser Autoren wirkt als Bibliotherapie. Auch sie hat einen autobiographischen Kern. Im Vortrag Krebs und Gesellschaft hat Christa Wolf versichert: Ich kann nur bezeugen, dass mir in einer sehr schweren, todesnahen Krankheitssituation außer den genau auf die Bakterienstämme abgestimmten Antibiotika Goethegedichte geholfen haben – ihr Klang ebenso wie ihr Inhalt, der ein lebendiges Assoziationsgeflecht in mir aufrief; ihre Schönheit, die mich noch nie vorher so ergriffen hatte, und das Glück, das ich fühlte, als ich auf einmal Zeilen wie diese verstand: »Alles Vergängliche/ ist nur ein Gleichnis.« 38

Dazu kommt die Liebesbeziehung zum Du. Es ist auf eine selbstverständliche Art für die Kranke da, schirmt sie ab, wenn sie des Schutzes bedarf, antwortet ihr auf die entscheidende Frage erst, als sie stark genug ist, die Antwort zu verkraften: »haben sie Urban gefunden?« »Ja. Sie haben ihn gefunden. Tot. –« (L 153), es bringt Blumen aus dem eigenen Garten und sorgt für die Aufrechterhaltung der Zuversicht: Wir sind ganz schön alt geworden, findest du nicht? Du sagst, ein Weilchen machen wir schon noch. Ich sage, ohne rechte Überzeugung: Wenn du meinst. Irgend etwas stört mich. Als du weg bist, fällt es mir ein: Ich fange wieder an, dir zu sagen, was du hören willst. Die Zeit der Rücksichtslosigkeit scheint vorbei zu sein. (L 153)

Das ist ein Zeichen der Genesung. Nur wer den Tod vor Augen hat, braucht keine Rücksicht auf sich und andere mehr zu nehmen. Wer es wieder tut, hat sich dem Leben in der Gemeinschaft wieder zugewandt. So unspektakulär sieht Altersliebe aus. War es in Der geteilte Himmel die Loyalität zu zwei verschiedenen deutschen Staaten, die eine Liebesbeziehung gefährdet, so ist es in Leibhaftig die Differenz zwischen einer kritischen und einer opportunistischen Haltung demselben Staat gegenüber, welche eine Freundschaft zerstört, die unter anderen Bedingungen vielleicht auch eine Liebe hätte werden können: »Urban, der mir einmal sehr gefallen hatte, der mir mit den Jahren immer weniger gefiel. Den ich abschrieb, als ob ich Freunde im Überfluß gehabt hätte, anstatt – anstatt was? Mit ihm zu reden?« (L 157) Urban ist tot, während die Erzählerin die leib-seelische Erschütterung ihrer Existenz überlebt hat. Das löst bei ihr Schuldgefühle und einen Prozess der kri38 | Christa Wolf: Krebs und Gesellschaft, in: dies.: Auf dem Weg nach Tabou, Köln 1994, S. 115-139, hier S. 134f. Das Goethe-Zitat verweist auf den Schluss von Faust II (V. 12104f.): Goethes Werke, Bd. 3, S. 364.

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tischen Selbstbefragung aus, der auch die »eingefrorenen« Gefühle wieder auftaut, die ihrem Empfinden nach wie »betäubt« gewesen sind: »Wovon betäubt./ Von dem Schock, dass alles, was ich sage oder schreibe, verfälscht ist durch das, was ich nicht sage und nicht schreibe.« (L 159) Das Grunddilemma einer Schriftsteller-Existenz, das die Genesende jetzt in Worte fassen kann, war in ihrem Fall verschärft, weil sie unter Zensurbedingungen arbeiten und dabei lernen musste, zu indirekten Aussageweisen Zuflucht zu nehmen, um die Wahrheit, die nicht gesagt werden durfte, wenigstens andeuten zu können. Wo aber ist der Punkt, an dem indirektes, bildliches Sprechen umschlägt in Verschweigen? Hätte sie diese Grenze überschritten, wäre ihre Existenzform nicht mehr weit entfernt von derjenigen Urbans, den sie so vehement verurteilt hat. Dann wäre nicht nur sie von ihrem Freund verraten worden, sondern auch er von ihr. Eine Ahnung dieses Zusammenhangs muss ihr zu Bewusstsein gekommen sein, sonst wäre es nicht ausgerechnet Goethes Gedicht An den Mond, das ihren Erinnerungsmonolog wie ein Mantra begleitet. In diesem Gedicht stehen ja auch die Strophen: Ich besaß es doch einmal, Was so köstlich ist! Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt! […] Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält, Und mit dem genießt, Was, von Menschen nicht gewußt, Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. 39

Was sie einst besaß und jetzt in den verschütteten Kellergewölben sucht, war der mit dem inzwischen verlorenen Freund und dem Partner geteilte Glaube an die ›konkrete Utopie‹40 einer menschenwürdigen Gesellschaft. Der Weg, sie zu erreichen, war für sie wie für Urban der Sozialismus.

39 | Goethe: Goethes Werke, Bd. 1, S. 129f. Die Erstfassung war ein Briefgedicht an Frau von Stein, das zwischen 1776 und 1778 entstand, die hier zitierte Zweitfassung ist die der Schriften 1789, sie ging in dieser Form in alle weiteren Werkausgaben ein. 40 | Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M. 31976 [1959].

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Auch die Gefahr, vor den Anforderungen des Lebens in die Literatur auszuweichen, ist der Erzählerin bewusst. Nicht umsonst kreist der am Schluss mit dem Du geführte Liebesdialog um das Verhältnis von Naturschönheit und Kunstschönheit: »Darüber, wie ein See in der Sonne blinkt, gibt es ganze Gedichte. In Natur ist es aber auch schön, sagst du. Ich sage, ja, es ist schön./ Du sollst ja nicht weinen, sagst du. Das, sage ich, steht auch in einem Gedicht.« (L 185) Die Patientin ist dem Du so vertraut, dass es sich durch Anspielungen auf ihre Lieblingsgedichte mit ihr verständigen, sie durch Zitate von Gedichtzeilen dem Leben zurückgeben kann. Es verweist hier zum einen auf das optimistische Goethe-Gedicht Auf dem See, besonders auf die Schlussstrophe: Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne, Weiche Nebel trinken Rings die türmende Ferne; Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht. 41

Zum andern aber auch auf eines der letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte Ingeborg Bachmanns, das in der Berliner Zeit der Autorin nach mehreren Krankenhausaufenthalten42 als Widmungsgedicht an Hans Werner Henze entstanden ist: Enigma. Aus ihm stammt der Vers »Du sollst ja nicht weinen«. Enigma Für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi Nichts mehr wird kommen. Frühling wird nicht mehr werden. Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus. Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen wie »sommerlich« hat – es wird nichts mehr kommen. Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik.

41 | Johann Wolfgang von Goethe: Auf dem See, in: ders., Goethes Werke, Bd. 1, S. 102f., hier S. 103. 42 | Koskinas: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus«, S. 221.

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Im Gegensatz zu diesem Ausdruck tiefer Resignation und Verlassenheit steht am Ende von Christa Wolfs Leibhaftig die Ansprache des Ichs durch das Du, ein Appell zum Weiterleben, Weiterschreiben. Schriftstellerische Tätigkeit ist dank der Zuverlässigkeit des Lebenspartners nach wie vor möglich und muss auch nicht als Rückzug ins Private abgetan werden. Gerade weil die Erzählerin nicht allein ist, das Paar durch die gesellschaftspolitischen Entwicklungen nicht getrennt wurde44, kann das gemeinsame Lebens- und Schreibprojekt auch unter veränderten (kultur-)politischen Rahmenbedingungen fortgesetzt werden. Von diesem Optimismus war Ingeborg Bachmann am Ende ihres Lebens weit entfernt. Die kritische Selbstreflexion, die Christa Wolf in Leibhaftig begonnen hat, setzt sie auch in ihrem autobiographischen Roman Stadt der Engel (2010)45 fort. In ihm denkt die berühmte Autorin, die sich selbst ein Leben lang für eine moralische Instanz gehalten hat, über ihre jugendliche Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit der DDR in den späten 1950er Jahren nach. Auch die Protagonistin von Stadt der Engel fragt sich: »Wie konnte ich das tun?« und »wie konnte ich das vergessen?«46 Bin ich Herrin über meine Erinnerung? Habe ich Vorkommnisse, die nicht zu meinem Selbstbild passen, verdrängt? Mit einem Buch, das solche Fragen stellt, hat Christa Wolf sich – das konzediert sogar ein Kritiker wie Jens Jessen – den Anspruch auf »Gerechtigkeit« verdient: »durch das Ende der Selbstgerechtigkeit«.47 Gegen ein szientistisches, monistisch-naturalistisches Weltbild würde Christa Wolf sich wehren. Sie glaubt nicht, dass alles, was die personale, soziale und kulturelle Identität eines Menschen ausmacht, auf kausal-deterministische Prozesse zurückzuführen ist, auch nicht, wenn man wie Wolf Singer Begriffe wie »Emergenz« und »Selbstorganisation« einführt. Sie hält den neurobiologischen Monismus und die technokratische Medizin für das Ergebnis einer männlich dominierten Wissenschaftstradition, die alles, was sich ihr nicht subsumieren ließ, unterdrückt hat. Mit Freud und mit der modernen Hirnforschung gesteht sie aber zu, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist. Ihre Texte machen immer wieder das Erschrecken über Dinge, die sich sozusagen hinter dem Rücken des bewussten Ichs abspielen, zum Thema: In Leibhaftig ist das ihre Nähe zu Urban, 43 | Ingeborg Bachmann: Enigma, in: dies.: Sämtliche Gedichte, München 21987, S. 181. 44 | Vgl. Koskinas: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus«, S. 223. 45 | Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2010. 46 | Jens Jessen: Reise ans Ende der Tugend, in: Die Zeit, 17.06.2010, Nr. 25, S. 47. Vgl. auch Volker Weidermann: Der ungeteilte Himmel, in: FAZ am Sonntag, 13.06.2010, Nr. 23, S. 23. 47 | Jessen: Reise ans Ende der Tugend, S. 47.

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in Stadt der Engel die vergessene eigene Spitzeltätigkeit. In beiden Fällen deckt sie einen Umschlag von äußerem Zwang in inneren Zwang auf, der nur durch das Aufsuchen der unbewussten ›Archive‹ im Traum, im Halbschlaf, unter Narkose oder durch das Studium von Dokumenten wie der ›Täterakte‹ ins »deklarative Gedächtnis«48 geholt werden kann. Der Notwendigkeit, das zu tun, hat Christa Wolf sich mit Leibhaftig gestellt und kurz vor ihrem Tod auf eindrückliche Weise noch einmal mit Stadt der Engel.

L ITER ATUR Primärtexte Bachmann, Ingeborg: Sämtliche Gedichte, München 21987. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 3: Dramatische Dichtungen I, 14., durchges. Aufl., München 1989. Goethe, Johann Wolfgang von: An den Mond, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 1: Gedichte und Epen I, 14., durchges. Aufl., München 1989, S. 129f. Goethe, Johann Wolfgang von: Auf dem See, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 1: Gedichte und Epen I, 14., durchges. Aufl., München 1989, S. 102f. Mann, Thomas: Schwere Stunde, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 8: Erzählungen, Frankfurt a.M. 1990, S. 371-379. Mann, Thomas: Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 12: Reden und Aufsätze 4, Frankfurt a.M. 1990, S. 953-962. Wolf, Christa: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994, Köln 1994. Wolf, Christa: Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis, in: dies.: Werke. In Zwölf Bänden, hg. v. Sonja Hilzinger, Bd. 12: Essays, Gespräche, Reden, Briefe 1987– 2000, München 2001, S. 103-110. Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. Erzählung, München 1973 [1963]. Wolf, Christa: Die Dimension des Autors, Darmstadt/Neuwied 1987. Wolf, Christa: Hierzulande. Andernorts. Erzählungen und andere Texte 1994–1998, München 1999. Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung, Darmstadt/Neuwied 1983. Wolf, Christa: Leibhaftig. Erzählung, München 2002. Wolf, Christa: Medea. Stimmen. Roman, München 72003 [1996]. Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T., Darmstadt 111978. Wolf, Christa: Sommerstück, Frankfurt a.M. 2008. 48 | Singer: Verschaltungen legen uns fest, S. 47.

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Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2010. Wolf, Christa: Was bleibt. Erzählung, Frankfurt a.M. 31990.

Sekundärtexte Anz, Thomas (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991. Anz, Thomas: Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland, in: ders. (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, München 1991, S. 7-28. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003 [1999]. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a.M. 31976 [1959]. Brüns, Elke: Leibhaftig: Christa Wolfs Gang ins Totenreich, in: Arne de Winde u.a. (Hg.): Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und »Memoria« in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Amsterdam u.a. 2008, S. 145-158. Caspari, Martina: Im Kern die Krisis. Schuld, Trauer und Neuanfang in Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig, in: Weimarer Beiträge 49 (2003) H. 1, S. 135-138. Cosentino, Christine: »Aus Teufels Küche«: Gedanken zur Teufelsfigur in der Literatur nach 2000: Christoph Heins Willenbrock, Christa Wolfs Leibhaftig und Monika Marons Endmoränen, in: Germanic Notes and Reviews 35 (Fall/Herbst 2004), H. 2, S. 121-127. Cosentino, Christine: Christa Wolfs Leibhaftig und Wolfgang Hilbigs Das Provisorium: zwei »Krankenberichte« an der Jahrtausendwende, in: Germanic Notes and Reviews 34 (Fall/Herbst 2003), H. 2, S. 121-127. Greiner, Ulrich: Mangel an Feingefühl, in: Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, München 1991, S. 66-70. Grosswörterbuch Griechisch-Deutsch, Langenscheidt, Berlin/München 261986. Hörnigk, Therese: Eine Suche nach der verlorenen Zeit? Christa Wolf und ihre Erzählung Was bleibt, in: Karl Deiritz, Hannes Krauss (Hg.): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder »Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge«, Hamburg/Zürich 1991, S. 95-101. Jessen, Jens: Reise ans Ende der Tugend, in: Die Zeit, 17.06.2010, Nr. 25, S. 47. Jordheim, Helge: Versuche zu einer Zeithermeneutik der Moderne und der Postmoderne: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Grass’ Im Krebsgang und Wolfs Leibhaftig, in: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch?, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 111-132. Koskinas, Nikolaos-Ioannis: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus.« Von Kassandra, über Medea, zu Ariadne: Manifestationen der Psyche im spätesten Werk Christa Wolfs, Würzburg 2008. Langner, Beatrix: Gespenster am Krankenbett. Leibhaftig: Christa Wolf lässt die Vergangenheit aufleben, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.02.2002. Magenau, Jörg: Christa Wolf. Eine Biographie, Reinbek b. H. 2003.

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Maus, Stephan: Kassandra im Kernspintomographen. Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig, in: Frankfurter Rundschau, 20.03.2002. Meister, Christine Palm: Christa Wolf leibhaftig oder die hermeneutische Kraft der Phraseologie, in: Ulrich Breuer, Irma Hyvärinen (Hg.): Wörter-Verbindungen. Festschrift für Jarmo Korhonen zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. u.  a. 2006, S. 229-235. Reich-Ranicki, Marcel: Macht Verfolgung kreativ?, in: Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, München 1991, S. 35-40. Schirrmacher, Frank: »Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten«, in: Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, München 1991, S. 77-89. Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2002. Singer, Wolf: »Der freie Wille ist nur ein gutes Gefühl«. Hirnforschung und Philosophie. Interview von Markus C. Schulte von Drach mit Wolf Singer vom 25. April 2006, in: http:www.sueddeutsche.de/wissen/668/317542/text/print. html [Zugriff am: 06.05.2010]. Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a.M. 2004, S. 30-65. Spreckelsen, Tilman: Operation Tunnelblick. Krankheitsmuster: Christa Wolf überlebt die DDR im Hades, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2002, Nr. 46, S. 54. Weidermann, Volker: Der ungeteilte Himmel, in: FAZ am Sonntag, 13.07.2010, Nr. 23, S. 23. Winkler, Markus: Kassandra, Medea, Leibhaftig. Tendenzen von Christa Wolfs mythologischem Erzählen vor und nach der ›Wende‹, in: Barbara Beßlich u.a. (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 259-274.

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Autorinnen und Autoren

Meike Dackweiler, geb. 1986, M.A., Studium der Germanistik und Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo sie seit 2011 zum Thema »Altersliebe. Beziehungskonzeptionen im Alter in der deutsch- und englischsprachigen Gegenwartsliteratur« promoviert. Zur Zeit Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Kompetenz und Praxis« an der Universität Düsseldorf. Guglielmo Gabbiadini, geb. 1984, Dr. phil., derzeit Forschungsbeauftragter am Dipartimento di Lingue, letterature straniere e comunicazione der Universität Bergamo; Arbeitsschwerpunkte u.a. deutschsprachige Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, Theorie des Duals bei Wilhelm von Humboldt, agonale Ästhetik um 1800. Henriette Herwig, geb. 1956, Prof. Dr., Habilitation 1996 über Goethes Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre, derzeit Lehrstuhlinhaberin im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Goethe und Goethezeit, historische Anthropologie, Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Schweizer Literatur, Literaturtheorie, Gender Studies und Cultural Gerontology. Andrea von Hülsen-Esch, geb. 1961, Professur für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt Mittelalter; Arbeitsschwerpunkt u.a.: transdisziplinäre Forschungen zu Alter(n)sdarstellungen sowie zu Materialität und Produktion in der Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bühnenbilder, Geschichte des Kunsthandels sowie Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte. Sonja Klein, Dr., Studium der Germanistik, Anglistik und Pädagogik in Düsseldorf. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dissertation zu Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein. Seit 2009 Habilitationsprojekt über den Körper als ästhetisches Medium im Werk Goethes. Forschungsschwerpunkte: deutsch-

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Merkwürdige Alte

sprachige Lyrik, kulturelles Gedächtnis, Goethe, Romantik, klassische Moderne, Literatur der Nachkriegszeit und literarische Künstlerkonzeptionen. Aufsätze zu Grünbein, Goethe und Sebald. Michiko Mae, Prof. Dr. Dr. h.c., Inhaberin des Lehrstuhls Modernes Japan (Kulturwissenschaften) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Universität Wien und an verschiedenen japanischen Universitäten. Mitherausgeberin der Reihe »Geschlecht und Gesellschaft«; Arbeitsschwerpunkte u.a.: moderne japanische Literatur, Kulturkonzepte, Gender-Forschung, multikulturelle und zivilgesellschaftliche Entwicklung in Japan. Hans-Georg Pott, geb. 1946, Prof. Dr., Habilitation 1980 über Schillers Ästhetik, Univ.-Prof. i.R. am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: thematisch und problemgeschichtlich orientierte Literatur- und Kulturgeschichte, Robert Musil. Maike Rettmann, geb. 1987, BA Germanistik und Anglistik; derzeit Hilfskraft am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: Alter in der Literatur, Thomas Bernhard, Hertha Müller, Lagerliteratur. Dirk Rose, geb. 1976, Dr. phil., Promotion 2007 zur galanten Literatur, derzeit Juniorprofessor am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: Literarische Polemik, Theorie und Praxis der Schriftkommunikation, Literatur und (Alte) Musik. Miriam Seidler, geb. 1975, Dissertation 2010 zu Figurenmodellen des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; derzeit Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte u.a.: Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts, Geschichte weiblichen Schreibens, Holocaustliteratur, literaturwissenschaftliche Gerontologie.