Angst in Kultur und Politik der Gegenwart: Beiträge zu einer Gesellschaftswissenschaft der Angst [1. Aufl.] 9783658304300, 9783658304317

Angst ist nicht nur eine menschliche Grundemotion, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Jüngst wurde sie zum charakt

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German Pages X, 228 [231] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Von der Zeitdiagnose zur Gesellschaftswissenschaft der Angst. Eine Einführung (Susanne Martin)....Pages 1-19
Front Matter ....Pages 21-21
Der Affekt Angst und die (Soziologie der) Gegenwartsgesellschaft. Notizen über die Zukunft (Christoph T. Burmeister)....Pages 23-42
Das Veralten des Liberalismus der Furcht (Veith Selk)....Pages 43-60
Zur Pathogenese politischer Apathie. Neurotische Angst und politische Regression im Spätwerk Franz L. Neumanns (Stefan Vennmann)....Pages 61-77
Front Matter ....Pages 79-79
Klima der Angst. Klimawandelszenarien (Jörn Ahrens)....Pages 81-97
Angst um …/Sorgetragen für … (Gabriele Werner)....Pages 99-118
Angst und Architektur. Beton und Brutalismus in Zeitdiagnosen der alten Bundesrepublik (Jörg Probst)....Pages 119-138
Front Matter ....Pages 139-139
Entfremdung vom Sozialstaat? Angsterfahrungen in Arbeitskontexten der Daseinsvorsorge (Sigrid Betzelt, Ingo Bode)....Pages 141-158
Gesellschaft der Angst? Kommunikationskultur der Angst. Über die mikropolitische Nutzung der Angstrhetorik (Judith Eckert)....Pages 159-177
‚Gefühle des Abgehängtseins‘ – ein Angstdiskurs (Larissa Deppisch)....Pages 179-203
Die quantitative Analyse textueller Daten (Andreas Schmitz, Jakob Horneber)....Pages 205-228
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Angst in Kultur und Politik der Gegenwart: Beiträge zu einer Gesellschaftswissenschaft der Angst [1. Aufl.]
 9783658304300, 9783658304317

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Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen

Susanne Martin · Thomas Linpinsel Hrsg.

Angst in Kultur und Politik der Gegenwart

Beiträge zu einer Gesellschaftswissenschaft der Angst

Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen Reihe herausgegeben von Jörn Ahrens, Universität Gießen, Gießen, Deutschland Jochen Bonz, Katholische Hochschule NRW, Münster, Deutschland Ulrike Vedder, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Annette Vowinckel, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam, Deutschland

Kultur gilt – neben Kategorien wie Gesellschaft, Politik, Ökonomie – als eine grundlegende Ressource sozialer Semantiken, Praktiken und Lebenswelten. Die Kulturanalyse ist herausgefordert, kulturelle Figurationen als ebenso flüchtige wie hegemoniale, dynamische wie heterogene, globale wie lokale und heterotope Phänomene zu untersuchen. Kulturelle Figurationen sind Produkt menschlichen Zusammenlebens und bilden zugleich die sinnstiftende Folie, vor der Vergesellschaftung und Institutionenbildung stattfinden. In Gestalt von Artefakten, Praktiken und Fiktionen sind sie uneinheitlich, widersprüchlich im Wortsinn und können doch selbst zum sozialen Akteur werden. Die Reihe » Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen « untersucht kulturelle Phänomene in den Bedingungen ihrer Produktion und Genese aus einer interdisziplinären Perspektive und folgt dabei der Verflechtung von Sinnzusammenhängen und Praxisformen. Kulturelle Figurationen werden nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren gesellschaftlichen Situierungen, ihren produktionsästhetischen und politischen Implikationen analysiert. Die Reihe publiziert Monographien, Sammelbände, Überblickswerke sowie Übersetzungen internationaler Studien.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11198

Susanne Martin · Thomas Linpinsel (Hrsg.)

Angst in Kultur und Politik der Gegenwart Beiträge zu einer Gesellschaftswissenschaft der Angst

Hrsg. Susanne Martin Universität Gießen Gießen, Deutschland

Thomas Linpinsel Universität Gießen Gießen, Deutschland

ISSN 2567-4242 ISSN 2625-0896  (electronic) Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen ISBN 978-3-658-30430-0 ISBN 978-3-658-30431-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht auf die Tagung „Angst und Regression: gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven“ zurück, die am 6./7. Dezember 2018 an der Justus-Liebig-Universität Gießen stattfand. Im Zentrum stand die Frage, welchen Stellenwert die Angst im Kontext sozialer, politischer und kultureller Entwicklungen der Gegenwart hat und inwieweit sie ein Indiz für eine regressive Modernisierung darstellt. Doch allein in politisch regressiven Phänomenen und Tendenzen erschöpft sich der gegenwärtige Stellenwert der Angst nicht. Dies demonstriert die aktuelle Corona-Pandemie, die nicht zuletzt ein globales Angstereignis ist, das den Alltag der Menschen wie kaum eine Krise der jüngeren Vergangenheit dominiert und vermutlich nachhaltig verändern wird. In den Beiträgen des Sammelbandes, der sich zum Zeitpunkt der sich ausbreitenden Pandemie bereits in der Schlussredaktion befand, konnte die Corona-Angst nicht mehr berücksichtigt werden. Dennoch ist der Sammelband keine bloße Dokumentation der Tagungsvorträge. Viele der hier versammelten Beiträge wurden neu verfasst, einige sind zusätzlich entstanden. Auf dieser Grundlage wird ein erweitertes Spektrum an Thematisierungen der Angst präsentiert, um deren vielfältige Ursachen, Auswirkungen, Repräsentationen, Ausprägungen, Deutungen und Praktiken in gegenwärtigen Gesellschaften zu beleuchten. Im Ergebnis, so hoffen wir, kann der Sammelband exemplarisch für eine Gesellschaftswissenschaft der Angst stehen, die das disziplinäre Repertoire der im weitesten Sinne sozial- und kulturwissenschaftlichen Angstforschungen bündelt, um dem vielseitigen und wandelbaren Phänomen der Angst und seinen gesellschaftlichen Bedeutungen auf die Spur zu kommen. Sowohl bei der Durchführung der Tagung als auch der Realisierung des Sammelbandes erhielten wir von unterschiedlichen Seiten Unterstützung. Der Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften (FB 03), das Graduiertenzentrum

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Vorwort

Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS) sowie die Zentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Universität Gießen haben die Tagung im Rahmen ihrer Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses finanziell unterstützt. Finanzielle und institutionelle Unterstützung erhielten wir darüber hinaus vom Institut für Politikwissenschaft und vom Institut für Soziologie der Universität Gießen. Die Realisierung des Sammelbandes ermöglichten zuallererst unsere Autorinnen und Autoren durch eine ausnahmslos gute und konstruktive Zusammenarbeit. Bei der redaktionellen Betreuung der Beiträge hat uns außerdem Inga Schüßler mit viel Engagement und Sorgfalt unterstützt. Allen genannten Personen und Einrichtungen möchten wir an dieser Stelle sehr herzlich danken. Unser Dank gilt schließlich auch dem Springer Verlag, allen voran Cori Antonia Mackrodt, sowie den Verantwortlichen der Reihe Kulturelle Figurationen: Artefakte Praktiken Fiktionen, die den Sammelband in ihr Programm aufgenommen haben und uns im gesamten Publikationsprozess hilfreiche Ansprechpartner*innen waren. Gießen April 2020

Susanne Martin Thomas Linpinsel

Inhaltsverzeichnis

Von der Zeitdiagnose zur Gesellschaftswissenschaft der Angst. Eine Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Susanne Martin Angst, Politik und Gesellschaft Der Affekt Angst und die (Soziologie der) Gegenwartsgesellschaft. Notizen über die Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Christoph T. Burmeister Das Veralten des Liberalismus der Furcht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Veith Selk Zur Pathogenese politischer Apathie. Neurotische Angst und politische Regression im Spätwerk Franz L. Neumanns. . . . . . . . . . . . . . . 61 Stefan Vennmann Angst und (Medien-)Kultur Klima der Angst. Klimawandelszenarien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Jörn Ahrens Angst um …/Sorgetragen für …. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Gabriele Werner Angst und Architektur. Beton und Brutalismus in Zeitdiagnosen der alten Bundesrepublik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Jörg Probst

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Inhaltsverzeichnis

Empirie der Angst Entfremdung vom Sozialstaat? Angsterfahrungen in Arbeitskontexten der Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Sigrid Betzelt und Ingo Bode Gesellschaft der Angst? Kommunikationskultur der Angst. Über die mikropolitische Nutzung der Angstrhetorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Judith Eckert ‚Gefühle des Abgehängtseins‘ – ein Angstdiskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Larissa Deppisch Die quantitative Analyse textueller Daten. Das Beispiel des Angstdiskurses in US-amerikanischen TV-Präsidentschaftsdebatten 1960–2016. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Andreas Schmitz und Jakob Horneber

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Susanne Martin, Dr. phil. wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt Lehre am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen; Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie und kritische Theorie; Emotions- und Affektsoziologie, insbesondere Soziologie der Angst; Soziologie und Geschichte der Intellektuellen. Thomas Linpinsel, Mag. Artium  wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen; Arbeitsschwerpunkte: Theorien radikaler Demokratie; Gesellschaftstheorie und Wissenschaftstheorie.

Autorenverzeichnis Jörn Ahrens, Dr. phil.  Universität Gießen, Gießen, Deutschland Sigrid Betzelt, Dr. phil. Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Berlin, Deutschland Ingo Bode, Dr. rer. pol.  Universität Kassel, Kassel, Deutschland Christoph T. Burmeister  Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Larissa Deppisch Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig, Deutschland Judith Eckert, Dr. phil.  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland IX

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Jakob Horneber  Universität Bonn, Bonn, Deutschland Susanne Martin, Dr. phil.  Universität Gießen, Gießen, Deutschland Jörg Probst, Dr. phil.  Universität Marburg, Marburg, Deutschland Andreas Schmitz, Vert.-Prof., PD Dr.  Universität Bonn, Bonn, Deutschland Veith Selk, Dr. phil.  Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland Stefan Vennmann  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland Gabriele Werner, Dr. phil. Weißensee Kunsthochschule Berlin, Berlin, Deutschland

Von der Zeitdiagnose zur Gesellschaftswissenschaft der Angst. Eine Einführung Susanne Martin 1 Zeitdiagnosen einer „Gesellschaft der Angst“ Soziologischen Zeitdiagnosen zufolge leben wir in einer Gesellschaft der Angst. Demnach ist Angst zum dominanten Gefühl in westlichen Gegenwartsgesellschaften geworden, das mittlerweile sämtliche Lebensbereiche beeinflusst (Bauman 2006; Furedi 2006, 2018; Bude 2014). Ob als Terrorangst, Abstiegsangst, Bindungsangst, Angst vor Migrant*innen, Arbeitsplatzverlust, genveränderten Nahrungsmitteln oder dem Klimawandel – Angst wird als Wahrnehmungs- und Handlungsprinzip identifiziert (Bude 2014, S. 11), das zunehmend losgelöst von konkreten Bedrohungen operiert. Die Rede ist auch von einer liquid fear (Bauman 2006), einer Angst, die angesichts heterogener oder zukünftig eventuell eintretender Bedrohungen unspezifisch bzw. diffus ist und sich dadurch umso leichter an diverse Phänomene heften kann. In ihrer Vielzahl und Diversität werden gegenwärtige Ängste deshalb bloß als die emergenten Symptome einer zugrunde liegenden culture of fear, eines die westlichen Gesellschaften prägenden emotionalen Schemas aufgefasst: „a framework through which we interpret a variety of experiences“ (Furedi 2007, S. 4). Dass Angst zum charakteristischen Gefühl der Gegenwart erklärt wird, markiert einen auffälligen Wandel gegenüber den eher optimistisch gestimmten populären Zeitdiagnosen der 1970er bis frühen 1990er Jahre (Delhey und Lübke 2019). Selbst Ulrich Becks (1986) Diagnose der Risikogesellschaft, die die wachsende Bedeutung der Angst bereits vermerkt, schließt Chancen der S. Martin (*)  Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_1

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Beherrschbarkeit neuartiger Bedrohungen allein schon semantisch ein: wo Risiken sind, sind auch Chancen. Entsprechend hielt Beck (ebd., S. 65 f.) eine „Solidarität aus Angst“ als gemeinsamkeitsstiftende und politisch handlungsleitende Grundlage des Umgangs mit Risiken für möglich. Im Anschluss an ihn wurde argumentiert, dass allen voran technische Entwicklungen spätmoderne Bedrohungen nicht nur eindämmen, sondern überdies den gesellschaftlichen Fortschritt sicherstellen würden. Verglichen damit indiziert die Diagnose der Angstgesellschaft tendenziell nicht-bewältigbare Zustände und relativiert insofern potenzielle Solidaritäts- oder Fortschrittschancen. Mehr noch, Angst wird überwiegend mit regressiven Phänomenen und Entwicklungen in Verbindung gebracht. Basierend auf emotions- und affektsoziologischen Befunden werden Passivität und Konformität (Kemper 1978; Flam 2000), Lagermentalitäten und Freund-Feind-Stereotype (Ahmed 2014) als Haupteffekte der Angst identifiziert, die gepaart mit übermäßigen Sicherheitsvorkehrungen Politik und Gesellschaften eher blockieren als dynamisieren (Böhme 2013). Als jüngste (politische) Ausprägungen angstgeleiteter regressiver Tendenzen gelten insbesondere der Aufstieg des Rechtspopulismus, die Zunahme fremdenfeindlicher Einstellungen sowie die Ausweitung von Nationalismus und Protektionismus durch autoritär geführte Regierungen inner- wie außerhalb Europas (Bauman 2016; Geiselberger 2017). Dazu passen die mit den Angstdiagnosen1 verbundenen Ursachenanalysen. Eine zentrale Annahme ist, dass viele Wohlstandsgesellschaften hinter das Niveau ökonomischer und sozialer Integration und Sicherheit zurückgefallen sind, das in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde (Bude 2014; Nachtwey 2016). Vor allem die im Zuge der neoliberalen Wende unternommenen Reformen des Arbeitsmarktes und Sozialstaates hätten durch den Abbau von Normalarbeitsverhältnissen und wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen zu einer „normalisierte[n] Unsicherheit“ beigetragen (Betzelt und Bode 2018, S. 10 f.; Castel und Dörre 2009; siehe auch Betzelt und Bode in diesem Band). Komplementär werden die Individuen in erweitertem Ausmaß für ihren Lebensverlauf verantwortlich gemacht, von der eigenen Gesundheit und Bildung über individuelle Berufs- und Karrierechancen bis zur persönlichen Altersvorsorge. Doch trotz anhaltender Forderungen, die eigenen Möglichkeiten kreativ auszu-

1Unter

Angstdiagnosen bzw. angstbezogenen Zeitdiagnosen fasse ich nicht nur die wohl populärste Variante von Bude (2014), sondern auch weitere aktuelle Gesellschafts- und Gegenwartsanalysen, in denen Angst eine tragende Rolle spielt (Delhey und Lübke 2019, S. 10). Dadurch soll im Folgenden ein umfassender Einblick in die These einer Angstgesellschaft ermöglicht werden.

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schöpfen und das eigene Leben zu optimieren, mehren sich strukturell bedingte Erfahrungen, dass das meritokratische Prinzip, wonach Leistung sich lohnt, sozialen Aufstieg ermöglicht oder zumindest den erreichten Status erhält, immer weniger zutrifft. In der Summe, so lautet eine Kernthese der Angstdiagnosen, markieren die genannten Veränderungen einen „Wechsel im gesellschaftlichen Integrationsmodus“: vom „Aufstiegsversprechen“ zur „Exklusionsdrohung“ (Bude 2014, S. 19) bzw. Abstiegsdrohung (Nachtwey 2016). Daraus entspringe eine permanente Angst davor, die falsche Wahl zu treffen, die besten Optionen zu verpassen oder zu scheitern und schließlich unwiderruflich abgehängt zu werden:2 „Die Angst kommt daher, dass alles offen, aber nichts ohne Bedeutung ist. Man glaubt, in jedem Moment mit seinem ganzen Leben zur Disposition zu stehen.“ (Bude 2014, S. 20). Als weitere Ursache wird die im Zuge des war on terror, globaler Fluchtund Migrationsbewegungen oder im Zusammenhang mit Naturkatastrophen oder Epidemien erheblich intensivierte Sicherheitspolitik westlicher Gesellschaften identifiziert. Zu den sowohl von staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Seite installierten Maßnahmen zählen unter anderem die massenhafte Erfassung und Speicherung von Daten, die Überwachung von Kommunikationsund Informationsströmen, öffentlichen Räumen und Einrichtungen sowie die substanzielle Einschränkung von Grundrechten. Damit vollzieht sich eine signifikante Verschiebung innerhalb der Sicherheitsmaßnahmen weg von der defensiven Abwehr oder nachträglichen Kompensation von gesellschaftlichen Gefahren und Risiken „hin zu deren Prävention und […] aktiven Steuerung“ (Lemke 2004, S. 94, Herv. i. O.; Sunstein 2007). Die Grundlage bilden Gefahrenund Risikosimulationen (bspw. Worst-Case-Szenarien), die von konkret bestimmbaren oder zeitlich befristeten Bedrohungen entkoppelt sind und sich dadurch umso leichter auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche ausweiten lassen. Die dagegen in Stellung gebrachten präventiven Sicherheitsmaßnahmen wurden auch als „Technologien der Angst“ beschrieben: Sie machen mögliche zukünftige Bedrohungen im Modus der Angst allgegenwärtig, indem sie die Individuen in einen permanenten Zustand der Beunruhigung und affektiven Alarmbereitschaft versetzen (Massumi 2005, 2010; siehe auch Burmeister in diesem Band). Übermäßig präventiv gesicherte Gesellschaften geraten demnach in eine Sicher-

2Die

vielfach unverminderte Akzeptanz des meritokratischen Prinzips entgegen seiner strukturellen Blockaden dürfte diese Angst zusätzlich vergrößern.

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heitsfalle, da ihre Maßnahmen das gesellschaftliche Unsicherheits- und Angstniveau erhöhen, zu dessen Abwehr sie offiziell entwickelt werden. Als Folge wird eine „Beschränkung von Möglichkeiten“ registriert, die sich sozialpsychologisch in Konformismus, Abwehr oder Aggression, gesellschaftlich in konservativen bis regressiven Tendenzen und Entwicklungen niederschlagen kann: In permanente Angst versetzt, handle man nicht zukunftsbezogen, sondern „klammert […] sich am Vergangenen fest“ (Böhme 2013, S. 280). Auch wenn die Ursachenanalysen variieren, stimmen die meisten angstbezogenen Zeitdiagnosen darin überein, dass der gegenwärtige Stellenwert der Angst das Resultat eines umfassenden sozialen Wandels der letzten vier Jahrzehnte ist, in dem der zuvor waltende Zukunftsoptimismus zunehmenden Negativerwartungen und einer generalisierten Unsicherheit gewichen ist. Ausgehend davon stützen sich die Angstdiagnosen im Wesentlichen auf drei Befunde (Eckert 2019, S. 12 f.; Delhey und Lübke 2019, S. 13), die ich ansatzweise bereits umrissen habe und im Folgenden unter Rückgriff auf einschlägige Forschungen zusammenfasse. Erstens, Angst betrifft sämtliche Bereiche des Lebens: Angst entspringt in vergleichsweise hoch gesicherten westlichen Gesellschaften nur selten existenziellen Gefahren. Stattdessen ist sie das Produkt von unspezifischen bzw. heterogenen und möglichen zukünftigen Bedrohungen (sowie deren sicherheitspolitischen Prävention und Mediation). Abgeschnitten von konkreten Gefahrenquellen mutiert sie zu einer diffusen Angst,3 die in sämtliche Lebensbereiche eindringen, sich an verschiedene Themen und Phänomene heften und Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen orientieren kann: „In contemporary societies, fear is unpredictable and free-floating. It is volatile, often because it is unstable and not focused on any specific threat. So […] fear can migrate freely from one problem to the next without any causal or logical connection.“ (Furedi 2007, S. 5) Nimmt man diese Feststellung ernst, wird der diagnostizierte Stellenwert der Angst nicht, wie vielfach unterstellt, mit einem Anstieg konkreter Ängste erklärt. Vielmehr gelten konkrete Ängste – aktuell bezogen auf diverse Phänomene wie Terror, Umweltzerstörung, digitale Überwachung, Krankheiten, Ernährungspraktiken, Kindererziehung, Arbeitslosigkeit – als Symptome bzw. Evidenzen einer zugrunde liegenden generellen Angstbefindlichkeit (Bauman 2006, S. 143; Dehne 2017, S. 76 f.). Genaugenommen wird das Verhältnis als Übertragung der Angst

3Ohne

die begriffliche Trennung zu akzentuieren, übernehmen die Angstdiagnosen damit die klassische Unterscheidung zwischen bestimmter, objektbezogener Furcht und unbestimmter, objektloser Angst.

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auf konkrete Ängste interpretiert, die sich dadurch selbst reproduziert: „[W]e seek substitute targets on which to unload the […] fear that has been cut off from its natural outlet […].“ (Bauman 2006, S. 143, Herv. i. O.)4 Mit diesem Befund unterstreichen die Zeitdiagnosen die Normalisierung und Alltäglichkeit der Angst. Angst verliert, insoweit sie nicht mehr ohne weiteres auf konkret bestimmbare oder zeitlich befristete Bedrohungen zurückzuführen ist, den Charakter eines Ausnahmephänomens. Als gesellschaftsprägender Begriff verweist Angst zudem nicht allein auf einen Anstieg distinkter Ängste, sondern auf eine sich verallgemeinernde emotionale Wahrnehmungs- und Handlungspräferenz. Nahezu übereinstimmend wurde Angst in Affekttheorien als permanente affektive Hintergrundstimmung, als low-level-fear charakterisiert, die subtil bzw. latent immer mehr Lebensbereiche prägt (Massumi 1993). Zweitens, Angst kennt keine sozialen Grenzen: Der überwiegend auf quantitative empirische Studien zurückgehende Befund, dass Ängste in höheren Soziallagen vergleichsweise gering ausgeprägt sind (Rackow et  al. 2012; Lübke 2019), wird in den Angstdiagnosen infrage gestellt. Stattdessen wird angenommen, dass die diagnostizierte Angstbefindlichkeit soziale Grenzen überschreitet und sich auch in objektiv gesicherten Soziallagen ausbreitet. Damit schließen sie an die in den letzten 10 Jahren intensiv betriebenen Forschungen zur sogenannten Krise der Mitte an (Burzan und Berger 2010; Mau 2012; Burkhardt et al. 2013). Diesen zufolge richtet sich die Angst der Mittelschicht, die im Zuge neoliberaler Transformationen massiv zugenommen habe, vor allem auf das Szenario des sozialen Abstiegs.5 In „der Mitte“ fühle man sich durch eine verschärfte globale Marktkonkurrenz, den Rückgang von Normalarbeitsverhältnissen und dynamisierte Lebenszusammenhänge besonders bedroht (Burzan 2008; Kraemer 2010). Dabei wird durchaus konstatiert, dass in der Mittelschicht, verglichen mit den unteren Soziallagen, die objektive Gefahr von bspw. prekärer Beschäftigung, Niedrigeinkommen oder anhaltender Arbeitslosigkeit gering(er) ist. Diese Diskrepanz zwischen objektiv gesicherter Soziallage und subjektiv empfundener Statusbedrohung wird in den Angstdiagnosen als Indiz für die

4Die

Annahme findet sich als sogenannte Generalisierungsthese auch in der Kriminalitätsforschung. Diese besagt, dass Kriminalitätsangst primär Ausdruck einer generellen unspezifischen Angst sei, die aus gesellschaftlichen Transformationsprozessen resultiere und auf das Phänomen der Kriminalität projiziert werde (Hirtenlehner 2009). 5Für differenzierte Befunde zum jeweiligen Ausmaß der Abstiegsangst in unterschiedlichen Segmenten der Mittelschicht vgl. Schöneck et al. 2011.

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grenzüberschreitende Ausweitung von Unsicherheit bzw. Angst gewertet. Auch wenn jüngste Untersuchungen seit einigen Jahren einen Rückgang der Abstiegsangst in der Mittelschicht ermitteln, lag deren Wert 2016 noch bei über 30 % (Lengfeld 2019, S. 70). In den von den negativen Folgen der neoliberalen Transformationen des Arbeitsmarktes und Sozialstaates stärker betroffenen Unterschichten erreichte sie im genannten Jahr einen Wert von knapp 40 % (ebd., S. 70). Ungeachtet der sozialstrukturellen Unterschiede markieren die Werte ein ausgeprägtes Angstausmaß – zumal in Anbetracht des im europäischen und globalen Vergleich nach wie vor hohen Wohlstands- und Sicherheitsniveaus in Deutschland. Ob statusmäßig begründet oder nicht, spiegeln sie die verbreitete Angst vor einer Verschlechterung des eigenen sozialen Lebensstandards, „die bis in die gehobene Mittelschicht hineinreich[t]“ (Schöneck et al. 2011, S. 9), und scheinen insofern den grenzüberschreitenden Stellenwert der Angst zu unterstreichen. Drittens, Angst hat verstärkt (regressive) politische Auswirkungen: In den Zeitdiagnosen gilt Angst als emotionale Grundlage von aktuellen sowie möglichen zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen: „In Begriffen der Angst wird deutlich, wohin die Gesellschaft sich entwickelt, woran Konflikte sich entzünden […].“ (Bude 2014, S. 10) Angst wird als – wenn auch nicht einziger, so doch wesentlicher – Beweggrund für verschiedene, vor allem jüngere politische (Protest-)Phänomene aufgefasst: etwa die Occupy-Bewegung, die ­Indignados-Proteste (Nachtwey 2016) oder, am anderen Ende des politischen Spektrums, die Pegida-Demonstrationen (Rehberg et al. 2016), AfD-Wahlerfolge (Amann 2017; siehe auch Deppisch in diesem Band), verstärkte Fremdenfeindlichkeit (Bauman 2016). Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf den Zusammenhang von Angst und Rechtspopulismus. Anlass gibt nicht zuletzt die „Angst vor Zuwanderung“, die seit knapp 10 Jahren kontinuierlich steigt und im Jahr 2016 mit 59 % in Ostdeutschland und 44 % in Westdeutschland bisherige Höchstwerte erreichte (Lübke 2019, S. 44 f.; ähnliche Werte bei Eisnecker und Schupp 2016; Gerhards et al. 2016). Diese wurden zwar als Reaktion auf die starke Zuwanderung von Geflüchteten in den Jahren 2015/2016 interpretiert (Lübke 2019, S. 45 f.). Dennoch rückten sie die Frage in den Vordergrund, welche Rolle der Angst bei den Erfolgen rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen zukommt. Ihr wird diesbezüglich eine zweifache Bedeutung zugeschrieben: Erstens ist Angst ein zentrales Mittel rechtspopulistischer Akteur*innen, d. h. diese erzeugen und legitimieren Angst (vor Überfremdung, Ausländerkriminalität, Sozialkonkurrenz etc.), um ihre politischen Inhalte zu lancieren (Wodak 2016; Amann 2017). Zweitens wird Angst als Motiv für rechtspopulistische Einstellungen und rechtspopulistisches Wahlverhalten identi-

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fiziert (Kohlrausch 2018; Hertel und Esche 2019). Neben anderen negativen Emotionen wie Ärger (Rico et al. 2017), Scham (Salmela und von Scheve 2017) oder Ungerechtigkeitsempfinden (Droste 2019) ist sie ein wesentlicher Faktor zur Erklärung rechtspopulistischer Erfolge. Angst leistet demnach politisch rückwärtsgewandten und anti-demokratischen Entwicklungen Vorschub und wird komplementär von deren Protagonist*innen instrumentalisiert (für eine historische Betrachtung dieses Zusammenhangs siehe Vennmann in diesem Band). Bisweilen geraten mit diesem Fokus jedoch mögliche alternative bzw. weitere politische Effekte oder Funktionen der Angst – etwa bezogen auf den für liberale Demokratien konstitutiven Stellenwert der Angst (siehe Selk in diesem Band) – in den Hintergrund, was Anlass zu Diskussionen über eine potenzielle Engführung der aktuellen politischen Angstdebatte gibt.

2 Interdisziplinäre Ergänzungen der Angstdiagnosen Die Angstdiagnosen wurden einerseits als treffende Charakterisierung des gegenwärtigen Zeitgeistes interpretiert (Prisching 2015 über Bude 2014) und erfuhren allen voran in der Medienöffentlichkeit großen Zuspruch. Andererseits sind sie anhaltender Kritik ausgesetzt, die im Kern den generellen Einwänden gegen soziologische Zeitdiagnosen folgt (Schimank 2007). Diese beinhaltet erstens den Vorwurf der sachlichen Vereinseitigung, da das Phänomen der Angst zum zentralen bzw. alleinigen Charakteristikum von Gegenwartsgesellschaften erklärt und weitere Strukturmerkmale vernachlässigt würden (Nunner-Winkler 2016 über Bude 2014). Zweitens wird problematisiert, dass die Angstdiagnosen in „Panikmache“ verfielen, da angstbezogene gesellschaftliche Fehlentwicklungen akzentuiert würden, ohne Alternativentwicklungen zu berücksichtigen (Delhey und Lübke 2019, S. 20–24). Drittens steht der Vorwurf der fehlenden theoretischen Reichweite oder eigenen Theoriebildung im Raum (Dehne 2017, S. 101–104). Und viertens wird eine fehlende empirische Fundierung kritisiert, da Angstdiagnosen sich eher „auf dichte Eindrücke […] als auf statistische [oder qualitative, S.M.] Daten“ stützen, dadurch aber letztlich „unbelegt“ bleiben würden (Nunner-Winkler 2016 über Bude 2014, o. S.; Eckert 2019; Delhey und Lübke 2019). Diese Einwände sind nicht unberechtigt. Allerdings können einige der genannten Leerstellen durch aktuelle und mitunter länger vorliegende Analysen der interdisziplinären Angstforschung ergänzt werden. Empirische Ergänzungen: Die Relevanz von einzelnen Ängsten und Angstdiskursen im Alltagsleben der Menschen wird derzeit in der empirischen Sozial-

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forschung verstärkt untersucht. Zwar liegen bisher erst wenige qualitative Studien vor (Eckert 2019; Eisch-Angus 2019; siehe auch Eckert in diesem Band), doch existiert eine Fülle an quantitativen Untersuchungen, die das Ausmaß, die sozialstrukturelle Verteilung oder zeitliche Entwicklung von Ängsten und Angstdiskursen ermittelt (beispielhaft Lübke und Delhey 2019; zu einem ­quantitativ-diskursanalytischen Verfahren siehe Schmitz und Horneber in diesem Band). Sowohl qualitative als auch quantitative Studien geben differenzierte Antworten bspw. auf die Fragen, mit welchen konkreten Lebensbereichen, Phänomenen oder Themen Ängste verbunden sind, in welchen Soziallagen oder Bevölkerungsgruppen sie wie stark auftreten, inwieweit sie von gesellschaftlichen Ereignissen oder Diskursen beeinflusst sind oder welche Folgen sie für das Handeln und Verhalten der Verängstigten haben. Quantitative Studien kommen häufig zu dem Schluss, dass der in den Zeitdiagnosen behauptete Stellenwert der Angst „überzogen“ sei, da sich empirisch keine „systematische Zunahme von Sorgen und Ängsten“ feststellen lässt (Delhey und Lübke 2019, S. 24). Einige verweisen dabei auf den bereits skizzierten Unterschied zwischen konkreten Ängsten und diffuser Angst (Dehne 2017, S. 77; Delhey und Lübke 2019, S. 25) und räumen ein, dass möglicherweise „die Entwicklung dieser diffusen [Angst] mehr Indizien für eine Angstgesellschaft geliefert hätte“ (Delhey und Lübke 2019, S. 25). Empirische Untersuchungen der diffusen Angst stehen indes noch weitgehend aus. Diesbezüglich könnte unter der Annahme einer Selbstreproduktion der Angst durch Übertragung, wonach konkrete Ängste die Symptome einer generellen Angstbefindlichkeit, d. h. einer angstbezogenen Wahrnehmungs- und Deutungspräferenz darstellen, ein Perspektivwechsel sinnvoll sein: „The starting point to gaining an insight into the socio-cultural nature of contemporary fear is to emphasise the quality and the meaning of fear, rather than its quantity.“ (Furedi 2007, S. 1). Kulturwissenschaftliche Ergänzungen: Inwieweit Angst sowohl das Resultat als auch die Ursache sozialer, politischer und kultureller Strukturen und Entwicklungen darstellt, haben kulturwissenschaftliche und kulturhistorische Forschungen lange vor den Angstdiagnosen gezeigt. Sozial- und kulturhistorisch ist weitgehend unumstritten, dass Angst einen entscheidenden Antrieb für Kulturleistungen und die Konstituierung und Entwicklung von Gesellschaften bildet (Elias 1997; Freud 2013a, b). Kulturelle und gesellschaftliche Errungenschaften gehen vielfach auf menschliche Schutz- und Sicherheitsbedürfnisse zurück, die – noch vor rationalen Erwägungen und Interessen – durch Angst (vor Natur und Mitmenschen) motiviert sind. Hinzu kommt, dass komplementär zur Eindämmung angsterzeugender äußerer Gefahren die „Gewissensangst“ im Innern

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der Individuen wächst, die maßgeblich zu deren Selbstüberwachung und Normbefolgung beiträgt. Vor diesem Hintergrund kann Angst einerseits als konstanter Bestandteil von Gesellschaften betrachtet werden (Böhme 2000; Ahrens 2013). Andererseits ist Angst ein äußerst wandelbares Phänomen, das abhängig von sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen unterschiedliche Prägungen, Erscheinungsformen, Repräsentationen oder Praktiken aufweist (Bourke 2005; Laffan und Weiss 2012; Koch 2013a). Ausgehend davon wurde bereits auf eine spezifisch moderne Angst aufmerksam gemacht, die – im Unterschied zu vormodernen Ängsten, die vor allem religiös-metaphysisch und durch äußere Gefahren motiviert waren (Delumeau 1985) –, aus Erfahrungen der Komplexität und Kontingenz moderner Gesellschaften resultiert (Böhme 2013; Koch 2013b). Diese moderne Angst „entsteht aufgrund zweier parallellaufender Bewusstwerdungsprozesse: Dass die moderne Welt zu komplex geworden ist, um sie noch als sinnvolles Ganzes denken zu können. Und dass alle szientistisch, politisch-moralisch oder ästhetisch imprägnierten Narrative, die sich gegen den Veränderungstaumel der Moderne kontinuitäts- und kohärenzstiftend stellen, einen immer nur vorläufigen und immer prekären Status inne haben“ (Koch 2013b, S. 6; siehe auch Ahrens in diesem Band).

Die unter dieser Annahme untersuchten Entstehungs- und Wirkungskontexte, soziokulturellen Prägungen, kollektiven Praktiken oder kulturellen Repräsentationen moderner Angst (für letzteres siehe auch Probst in diesem Band) bilden zentrale Bezugspunkte, um deren gegenwärtigen Stellenwert zu erklären. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Rolle der Massenmedien, die „emotionale Schablonen“ für kollektive Wahrnehmungen, Deutungen und Praktiken der Angst anbieten (Koch 2013c, S. 2) und die die Frage provozieren, inwieweit ihre spezifische Vermittlung angstbezogener Ereignisse, Phänomene und Themen zu einer Intensivierung der Angst beiträgt (Altheide 2002; Glassner 2009). Modernisierungstheoretische und affekttheoretische Ergänzungen: Jüngere Modernisierungstheorien verorten Angst systematisch in spätmodernen Gesellschaften und machen sie als deren wesentliche Begleiterscheinung sichtbar. Dabei wird im Zuge spätmoderner Entwicklungen, in denen sich modernetypische Kontingenzen und Ambivalenzen intensivieren (Giddens 1995; Beck et al. 1996; Bauman 2003), eine Transformation der Angst registriert: Sie entspringt maßgeblich dem Modernisierungsprozess selbst, seinem heterogenen und möglichen zukünftigen Gefahrenpotenzial und erhält dadurch einen diffusen und

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tendenziell permanenten Charakter (Bauman 2006). Neue Modernisierungsrisiken gelten als paradigmatisches Beispiel für eine diese Form der Angst evozierende spätmoderne Bedrohungslage (Beck 1986). Als weitere potenziell angsterzeugende Entwicklungen werden die mit der Globalisierung einhergehende gestiegene Komplexität, Dynamisierung und Ent-Traditionalisierung der Lebensweisen akzentuiert. Durch die Herauslösung der Subjekte und sozialen Beziehungen aus traditionalen Lebensformen erodieren orientierungsstiftende Muster der Identitätsbildung und Lebensführung (Giddens 1991; Bauman 1997). Damit gehen einerseits erhebliche Autonomie- und Freiheitsgewinne für die Subjekte einher. Andererseits steigen die Anforderungen, auf Basis einer wachsenden Zahl an Deutungs- und Handlungsoptionen die Identitätsbildung und Lebensführung selbst aktiv zu gestalten. Daraus resultierende Reflexions-, Entscheidungs- und Verantwortungslasten können zur Quelle einer anhaltenden, mitunter „existenziellen Angst“ (Giddens 1991) vor dem Versagen werden: „Als Grundangst wirkt in der dynamisierten […] Moderne die universale Beunruhigung […], in einer Welt wachsender Kontingenzen unwiderruflich ‚abgehängt‘ zu werden, entscheidende Optionen und Anschlusschancen zu verlieren oder in unaufholbaren Rückstand zu geraten.“ (Rosa 2005, S. 284 f.) Der modernisierungstheoretische Befund einer frei-flottierenden und sich übertragenden Angst findet sich auch in Affekttheorien, etwa in der genannten Analyse einer Angst-Hintergrundstimmung, der sogenannten low-level-fear (Massumi 1993). Auf Basis von Affektkonzepten lassen sich die Übertragungen der Angst bzw. des Angstaffekts näher bestimmen und in politischen Machtkonstellationen und -praktiken verorten. Affekte werden nicht als Zustände, die in stabilen, distinkten (Emotions-)Kategorien fassbar wären, sondern als Relations- und Interaktionsphänomene betrachtet (Clough 2007; Seigworth und Gregg 2010; Slaby und Mühlhoff 2019). Affekte „zirkulieren“ demzufolge zwischen Körpern und Subjekten und stellen intersubjektive Verbindungen her, bspw. durch Stimmungen, die körperlich gespürt werden, aber auch durch ­diskursiv-mediale Dynamiken von „emotion words“ (Ahmed 2004, 2014). Unter dieser Annahme hat Angst das Potenzial, Körper und Subjekte im „gleichen affektiven Milieu“ anzusiedeln (Opitz 2014, S. 277), d. h. zu einem affektiven Angstzusammenhang bzw. Angstkollektiv zu verbinden (Ahmed 2014). Dieses Potenzial des Angstaffekts hat enorme politische Implikationen: Es bildet im Kontext der zunehmenden Prävention und Steuerung von Bedrohungen die affektive Grundlage für „Politiken der Angst“ (politics of fear, Massumi 2005, 2010; Ahmed 2014). Darunter sind Angstaffekte adressierende oder modulierende Sicherheitsmaßnahmen, politische Diskurse und Stellungnahmen, Medien- und Bildberichterstattungen etc. zu verstehen, die auf die affektive Formung und

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Beeinflussung von Körpern, Subjekten sowie deren Handeln und Verhalten zielen (siehe auch Werner in diesem Band): „They [address] not subjects’ cognition, but rather bodies’ irritability. […] Addressing bodies from the dispositional angle of their affectivity, instead of addressing subjects from the positional angle of their ideations, shunts government function away from the mediations of adherence or belief and toward direct activation.“ (Massumi 2005, S. 32 ff., Herv. i. O.)

Mit ihrem Fokus auf Politiken der Angst eröffnen Affekttheorien eine machtkritische Perspektive auf Angst. Diese wird – weit entfernt von einer bloß individuellen Empfindung – als Adressat und Resultat einer affective modulation (ebd., S. 32), d. h. einer politischen Steuerung von Angst analysierbar.

3 Skizze einer Gesellschaftswissenschaft der Angst Die hier schlaglichtartig präsentierten Ergänzungen der empirischen, kulturwissenschaftlichen, modernisierungstheoretischen und affekttheoretischen Angstforschung lassen aus meiner Sicht vor allem drei Schlussfolgerungen zu: Erstens, dass die Zeitdiagnosen einer Angstgesellschaft nicht überschätzt werden sollten. Zwar stellen sie „eine [Variante] von ‚public sociology‘“ dar, die wichtigen „Denkstoff“ zur Deutung der Gegenwartsgesellschaft über die Grenzen der Fachcommunity hinaus anbietet (Prisching 2015 über Bude 2014, S. 575, 579). Doch diesen Anspruch realisieren sie häufig auf Kosten der Fundierung und Differenzierung ihrer Erkenntnisse. Die angesprochenen sachlichen, theoretischen und empirischen Leerstellen treten im Spiegel der interdisziplinären Ergänzungen deutlich hervor. Zweitens, dass die Befunde der Angstdiagnosen dennoch nicht übergangen werden sollten. Die Feststellung, dass sie „überzogen“ bzw. „mehr Panikmache denn angemessene Beschreibung der heutigen Gesellschaft“ seien (Delhey und Lübke 2019, S. 24), greift zu kurz. Auch dies illustrieren die Ergänzungen, allen voran die kulturwissenschaftlichen, modernisierungstheoretischen und affekttheoretischen Forschungen, die der (diffusen) Angst eine signifikante Bedeutung in der Gegenwartsgesellschaft beimessen. Drittens, so mein Vorschlag, dass diese Bedeutung bzw. Bedeutungen im Rahmen einer Gesellschaftswissenschaft der Angst erforscht werden sollten. Das meint, das Spektrum der im weitesten Sinne sozial- und kulturwissenschaftlichen Angstforschungen zu nutzen und zu verknüpfen. Eine solche Verknüpfung

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disziplinär unterschiedlicher konzeptueller Zugänge, m ­ ethodisch-empirischer Verfahren, theoretischer Perspektiven und erkenntnisleitender Interessen verspricht erhebliche Erkenntnisgewinne:6 Eine Gesellschaftswissenschaft der Angst betrachtet Angst innerhalb ihrer sozialen, politischen und kulturellen Kontexte und verfolgt ihre historischen Variationen und Veränderungen. Sie nimmt körperlich-affektive Erregungs- und Übertragungsvorgänge ebenso wie sozial und kulturell geprägte Realisierungen und Ausprägungen der Angst in den Blick. Sie widmet sich den kulturellen Repräsentationen der Angst etwa in Literatur, Film oder Kunst und den vielfältigen Angst-Kommunikationen, Angst-Diskursen oder Angst-Bildern in den Massenmedien. Und sie fragt nach den Funktionen und Auswirkungen der Angst in politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen und nicht zuletzt bei der Reproduktion gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Für diese und weitere gesellschaftsbezogenen Fragestellungen, die das Phänomen der Angst aufwirft, kann eine Gesellschaftswissenschaft der Angst das Repertoire ihrer beteiligten Disziplinen ausschöpfen und ihre Erkenntnisse und Befunde im Dialog abwägen, ergänzen oder korrigieren. Dazu möchte der vorliegende Sammelband einen Beitrag leisten. Er versammelt Aufsätze aus der Soziologie, Politikwissenschaft, Kunst- und Kulturwissenschaft sowie der empirischen Angstforschung, die sich unter disziplinspezifischen Fragestellungen mit unterschiedlichen konzeptuellen, theoretischen und methodisch-empirischen Zugängen der Angst widmen. Bei aller Vielfalt der ­ vorgestellten Thematisierungen der Angst teilen die Beiträge ein gemeinsames Interesse: Sie betrachten Angst als gesellschaftliches Phänomen – im Sinne von gesellschaftlich geprägt und gesellschaftsprägend – und versuchen auf dieser Grundlage ihren vielfältigen Ursachen, Auswirkungen, Repräsentationen, Ausprägungen, Deutungen und Praktiken auf die Spur zu kommen. Mit dem Fokus auf westliche Gesellschaften der Gegenwart (und teils jüngeren Vergangenheit) wurde eine weitere Klammer gewählt, um die interdisziplinären Betrachtungen zu verbinden. Unter diesen Voraussetzungen kann der Sammelband hoffentlich dazu beitragen, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedeutungen der Angst zu erhellen.

6In

den Kulturwissenschaften wurde eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit bereits initiiert, vgl. das ­Angst-Handbuch von Koch 2013a.

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4 Aufbau und Beiträge des Sammelbandes7 Die Struktur des Sammelbandes erfasst mit einem sozial- und gesellschaftstheoretisch, kulturanalytisch und empirisch ausgerichteten Kapitel drei Kernbereiche einer aktuellen Gesellschaftswissenschaft der Angst. Die Beiträge des ersten Kapitels widmen sich dem Stellenwert und den Funktionen der Angst vor dem Hintergrund sozialer und politischer Entwicklungen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit. Christoph T. Burmeister untersucht die Bedeutung der Angst im Kontext zunehmend präventiv gesicherter Gesellschaften. Dazu entwickelt er eine affekttheoretisch informierte Heuristik, mit der Angst als Effekt von Dispositiven der Affizierung analysiert werden kann. In Diskussion moderner und spätmoderner Präventivdispositive charakterisiert er Angst nicht als Ursache, sondern als Resultat affektbezogener Sicherheitspolitiken. Dabei wird Angst im gegenwärtig dominierenden Dispositiv der (Vor-)Vorsorge als Hauptadressat und -resultat eines vorsorgenden Aktivismus sichtbar, die desto umfassender evoziert wird, je diffuser und unkalkulierbarer die Gefahren der Zukunft imaginiert werden. Veith Selk beleuchtet den Stellenwert der Angst in liberalen Demokratien vor dem Hintergrund von deren jüngsten Erosionen. Ausgehend von aktuellen Diskussionen in der Politischen Theorie untersucht er die Renaissance des Liberalismus der Furcht als normative Orientierung, mit der eine um sich greifende diffuse Angst in politisch beherrschbare Furcht verwandelt werden soll. Was zunächst als attraktive Leitidee erscheint, kritisiert Selk als anachronistisches Ideal, das keine adäquate Antwort auf den postdemokratischen und rechtspopulistischen Illiberalismus bieten könne. Er plädiert daher im Sinne Deweys für eine anhaltende kritische Prüfung und experimentelle Reform der in Krise geratenen Institutionen der Demokratie. Auch Stefan Vennmann betrachtet Angst als politisches Phänomen und charakterisiert sie mit Franz L. Neumann als Indiz für politische Desintegration und Apathie in modernen kapitalistischen Gesellschaften. In Rekonstruktion von Neumanns politischer Theorie der Angst, die Marx’ Kritik der politischen Ökonomie und eine psychoanalytische Sozialpsychologie verbindet, macht er Angst als Resultat von Entfremdung und Katalysator von politischer Regression sichtbar. Obwohl Neumanns Überlegungen maßgeblich von totalitären Entwicklungen beeinflusst sind, bilden sie laut Vennmann einen konstruktiven Bezugspunkt, um regressive

7In

allen Beiträgen wird eine gendergerechte Sprache verwendet. Da wir keine vereinheitlichte Umsetzung vorgegeben haben, variieren die verwendeten Schreibweisen.

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politische Kräfte, die im Modus der Angst ihre Anhängerschaft mobilisieren, zu analysieren. Das zweite Kapitel versammelt Beiträge, die den Zusammenhang von Angst und (Medien-)Kultur akzentuieren und sich kulturellen Repräsentationen sowie (massen-)medial geprägten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern der Angst und Angstbearbeitung widmen. In seinem kulturphilosophisch orientierten Beitrag diskutiert Jörn Ahrens am Beispiel des Klimawandels die Krise der angstbearbeitenden kulturellen Praktiken der Erzählung und Verbildlichung. Narrativ oder bildlich ist der menschengemachte Klimawandel ihm zufolge nicht mehr hinreichend einhegbar – allenfalls im dystopischen, das Ende menschlichen Lebens symbolisierenden Bild des „braunen Planeten“ –, weshalb die Angst vor dem Klimawandel eine gesellschaftlich und kulturell desintegrierte Angst darstellt. Politisch führt sie laut Ahrens zu einer umfassenden Lähmung, was auch und gerade die weitgehend hilf- und ziellosen globalen wie nationalen Klimaschutzagenden offenbarten. Ausgangspunkt für Gabriele Werner bilden Pressefotos von islamistischen und rechten Terroranschlägen in den USA und Europa, die zur kollektiven Angstbewältigung beitragen sollen. Sie arbeitet heraus, inwieweit diese von Selbstverständnissen des Weißseins imprägniert sind, die auf Basis hegemonialer Männlichkeit, imaginierter Feindbilder, rassistischer und nationalistischer Ressentiments als wesentliche Bezugspunkte der Verbundenheit und Wehrhaftigkeit westlicher Gegenwartsgesellschaften fungieren. In kritischer Abgrenzung macht sie das Konzept des Critical Care, das die politische Praxis des Sorgetragens und der Verantwortung ins Zentrum rückt, als alternatives Mittel der Angstbewältigung stark. Jörg Probst geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit der Brutalismus als ästhetisch-baulicher Ausdruck einer Angstepoche gelten kann. Dazu rekonstruiert er eine von Eberhard Schulz angestoßene architekturkritische Debatte der 1960er Jahre, in der dieser neu entstandene bunkerartige Betonbauten als Chiffren einer kollektiven Angst vor der Atomgefahr interpretiert hatte. Probst unterzieht diese Position einer kritischen Prüfung. Dabei akzentuiert er die komplexe Eigenlogik brutalistischer Bauten und zeigt die Problematik der Annahme eines unmittelbaren ­ (Abbildungs-) Zusammenhangs zwischen baulichen Artefakten und kollektiven Gefühlslagen auf. Die Beiträge des dritten Kapitels diskutieren auf Basis unterschiedlicher methodischer Verfahren aktuelle empirische Befunde zu Ursachen, Ausprägungen und Auswirkungen von Angst und Angstdiskursen. Zunächst stellen Sigrid Betzelt und Ingo Bode internationale arbeits- und organisationssoziologische Studien vor, die den Stellenwert von Ängsten in Dienstleistungsbereichen der sozialen Daseinsvorsorge untersuchen. Dabei gehen sie der Frage nach, inwieweit neue

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betriebliche Steuerungsmaßnahmen systematisch zu Verunsicherungen und Ängsten sowohl aufseiten der Beschäftigten als auch der Nutzer*innen beitragen. In der Summe deuten die Befunde auf eine angstbasierte Entfremdung von sozialstaatlichen Institutionen hin. Es finden sich jedoch auch Hinweise auf Solidarisierungen von Beschäftigten und Nutzer*innen, die als Widerstandspotenziale gegen forcierte Entsicherungen und Vermarktlichungen gewertet werden können. Judith Eckert präsentiert Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung der Bedeutungen und Funktionen von Angstgefühlen in Alltagskontexten, die die Diagnose einer Angstgesellschaft differenzieren. Ihre Befunde legen nahe, dass die Angstäußerungen der Befragten nicht zwangsläufig Ausdruck einer gefühlten Angst sind, sondern strategisch für eigene mikropolitische Zwecke genutzt werden. Es sei daher angemessener, statt von einer Gesellschaft der Angst von einer Kommunikationskultur der Angst zu sprechen. Diese Unterscheidung strukturiert auch ihre Überlegungen zum Rechtspopulismus. Dessen Erfolge führt sie nicht primär auf Angst, sondern auf Ungerechtigkeitsgefühle zurück, die in der Sprache der Angst vermittelt würden. Hinsichtlich der Bedeutung der Angst für rechtspopulistische Erfolge kommt Larissa Deppisch zu einem anderen Schluss. In ihrer materialreichen Diskursanalyse ­populär-medialer Beiträge untersucht sie, inwieweit „Gefühle des Abgehängtseins“ in ländlichen Räumen und damit einhergehende Ängste eine Erklärung für den Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 bieten. Sie identifiziert drei Hauptnarrative, in denen zum Ausdruck kommt, dass die etablierten Parteien weder die Abgehängtseinsängste ernst (genug) nehmen noch die Probleme, die diese bezeichnen, hinreichend bearbeiten. Im Rückgriff auf vergleichbare Befunde jüngerer soziologischer Forschungen geht Deppisch davon aus, dass dies ein virulentes Motiv für die (Protest-)Wahl der AfD darstellte. Der abschließende Beitrag von Andreas Schmitz und Jakob Horneber schließt an die Tradition quantitativer Diskursanalysen an, die im Kontext von Big Data neuen Aufschwung erfährt. Am Beispiel der amerikanischen TV-Präsidentschaftsdebatten von 1960 bis 2016 wird ein Analyseverfahren präsentiert, das sowohl synchrone Strukturen als auch diachrone Entwicklungen verwendeter Angstreferenzen sichtbar macht. Schmitz und Horneber ermitteln drei empirische Angstkonzepte, die mit spezifischen Politikfeldern verbunden sind. Im betrachteten Zeitraum weisen sie nicht nur aufschlussreiche Konstanten, sondern auch signifikante Unterschiede und historische Veränderungen der Angstkommunikation der Kandidat*innen nach. Die Beiträge des Sammelbandes vermessen exemplarisch das Feld einer interdisziplinären Gesellschaftswissenschaft der Angst. Damit ist das geteilte Interesse verbunden, dass die Analysen weitere Forschungen anregen können, die

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die vielfältigen sozialen, politischen und kulturellen Bedeutungen der Angst in gegenwärtigen Gesellschaften beleuchten.

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Susanne Martin, Dr. phil.; wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt Lehre am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen; Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie und kritische Theorie; Emotions- und Affektsoziologie, insbesondere Soziologie der Angst; Soziologie und Geschichte der Intellektuellen.

Angst, Politik und Gesellschaft

Der Affekt Angst und die (Soziologie der) Gegenwartsgesellschaft. Notizen über die Zukunft Christoph T. Burmeister 1 Angst und die (Soziologie der) Gegenwartsgesellschaft. Einleitung In einem Interview berichten die Beastie Boys Michael Diamond und Adam Horovitz von den Anfängen ihrer Band und dem Aufwachsen im New York der frühen 1980er Jahre: „Ich konnte wegbleiben, solange ich wollte“, konstatiert Diamond, „dabei war die U-Bahn damals nachts wirklich nicht sicher. Aber genau diese Freiheit war der Nährboden für unsere Band. […] Heute wären die Beastie Boys nicht mehr möglich. Ich zum Beispiel bin ein ängstlicher, besorgter Vater, der seinen Kindern nicht diese Freiräume lässt.“ (Dallach et al. 2018, S. 22)

Damit ist Diamond nicht allein, Angst ist (wieder) omnipräsent. Nicht nur in der elterlichen Praxis, auch im politisch-journalistischen sowie im soziologischen Diskurs nimmt Angst eine zunehmend prominente Rolle ein: als Erklärung bürgerlichen Protests und staatlicher Sicherheitspolitiken ebenso wie als zeitdiagnostische Gegenwartsbeschreibung. Eine Soziologie, „die ihre Gesellschaft verstehen will“, so zum Beispiel Bude (2014, S. 10), müsse „heute die Gesellschaft der Angst in den Blick nehmen“. Dabei ist all diesen Angst-Diskursen eins gemein: Je entschiedener von Angst die Rede ist und je umfassender die ihr zugestandene

C. T. Burmeister (*)  Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_2

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Erklärungslast, desto weniger bedarf es scheinbar der Klärung, von was eigentlich die Rede ist und wie Angst die Dinge bewirkt, die sie bewirken soll. Diese begriffliche Unbestimmtheit der Angst hat eine lange Tradition in der Soziologie. Angefangen bei Webers Protestantischer Ethik, dessen zentraler Mechanismus der Prädestinationslehre als Erklärungsmodell der Genese des Kapitalismus ohne Angst nicht auskommt, und doch wird weder Angst systematisch bestimmt noch die ‚Angst vor Verdammung‘ in der soziologischen Kanonisierung gebührend reflektiert (Flam 2002, S. 44–51). Gleichwohl nun erste systematisierende Ansätze vorliegen, ist Angst in der Soziologie auch weiterhin ebenso präsent wie chronisch unterbestimmt (Ahrens 2013, S. 61; Opitz 2014, S. 270; Dehne 2017, S. 12 f.). Symptomatisch dafür ist die bereits erwähnte Studie Gesellschaft der Angst (Bude 2014), die einen tagesaktuellen Nerv zu treffen scheint, indem sie verstreute gesellschaftliche Entwicklungen, Tendenzen der Entsicherung und Entgrenzung, auf den Begriff der Angst bringt, ohne diesen jedoch genauer zu fassen. Eine solche alltagssprachlich-diffuse Verwendungsweise des Begriffs Angst findet sich jedoch keinesfalls nur bei Bude, sie ist vielmehr die Regel, ungeachtet der Kraft, die ihr zugestanden wird. Dabei ist ein jeder sozial- und kulturwissenschaftliche Text zum Sujet zwangsläufig Teil des Angst-Diskurses, durch mangelnde begriffliche Klarheit läuft er jedoch zudem Gefahr, den Eindruck opaker Omnipräsenz der Angst noch zu befeuern. Ein solcher sozial- und kulturwissenschaftlicher Text als Bestandteil des ­Angst-Diskurses bietet indes auch die Chance, ihm eine etwas andere Form zu geben, seine Aussageordnung zu verändern oder ihr zumindest ein anderes Element hinzuzufügen. Denn Soziologie kann und soll entzaubern, sie soll im besten Sinne (und im besten Falle) gesellschaftliche Selbstaufklärung betreiben – und nicht gesellschaftliche Selbstbeschreibungen bedienen. Einem solchen Versuch sind die vorliegenden Notizen verpflichtet. Es gilt, den Angst-Diskurs ein wenig zu entzaubern, ihm seine Opazität zu nehmen und seine gegenwärtige Omnipräsenz zu durchbrechen. Dazu soll Angst weder von der Individualpsyche ausgehend gedacht werden noch als politisches Herrschaftsinstrument und auch nicht als Zeitdiagnose, wie sie für die Spätmoderne vor Bude bereits von zum Beispiel Furedi (2006) sowie Dunant und Porter (1996) formuliert wurde (empirisch und konzeptuell kritisch dazu Eckert 2019). Angst wird hier als Affekt verstanden, dem eine spezifische Temporalstruktur inhärent ist, der Unsicherheiten und Ungewissheiten aufgrund erwarteter, zukünftiger Gefahren zum gegenwärtigen Sein verhilft, sodass Angstaffekte gegenwärtig emergieren und wirksam werden. Angst ist insofern nicht Ursache, sondern ist Effekt von Politiken intensivierter Gefahren (Ahmed 2004, S. 72), die – so die These – zunehmend unsichere Zukünfte imaginieren.

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Temporalstrukturen erscheinen in einem Maße als gegeben und natürlich, dass allzu häufig unreflektiert bleibt, dass die Institution der Zeit eine soziokulturelle ist, die wie eine „Selbstzwangsapparatur“ (Elias 1987, S. xviii) internalisiert wird. Kulturelle Zeitstrukturen haben einen zugleich kognitiven und normativ verbindlichen Charakter, der den Habitus zentralerweise strukturiert und der einen „hohe[n] Grad an sozialer Normierung“ mit einem „niedrige[n] Grad an ­ moralisch-autoritativen Codes“ (Rosa 2005, S. 29) verbindet. Dabei ist entscheidend für kulturelle Zeitregime, verstanden als handlungsanleitende Praktikenkomplexe von Annahmen über und Verfahrensweisen der Zeit (Assmann 2013, S. 19), wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengefügt werden – und so auch, wie Zukünfte soziokulturell imaginiert und institutionell prozessiert werden. Ausgehend also von der enormen Präsenz von Angst in gesellschaftlichen sowie soziologischen Diskursen und den Defiziten eines theoretisch-begrifflichen Durchdringens von Angst wird folgend zunächst der Affektbegriff geklärt und werden sodann sechs Charakteristika des Affekts Angst ausführlich dargestellt. Abschließend wird argumentiert, dass die so unsicher und ungewiss erscheinende Zukunft nicht als factum brutum, sondern als Effekt heterogener Präventionsdispositive anzusehen ist.

2 Affekt als Affekt im Dispositiv Ob als phänomenologische Stimmung, existenzielle Gestimmtheit oder aisthetische Wahrnehmung, Angst ist stets etwas Leib-körperliches, ist habituelle, subjektivierte wie subjektivierende Erfahrung. Dabei ist sie keinesfalls auf physiologische Reaktionen oder psychologische Pathologisierungen zu reduzieren, vielmehr ist von einer ganzen Bandbreite verschieden skalierbarer Stimmungen und Gestimmtheiten auszugehen. Der Stimulus solch ­leib-körperlicher, habitueller Stimmungen sind Affekte, und das soziokulturelle, raum-zeitliche, historisch-materiale Arrangement, aus dem sie hervorgehen, ­ lässt sich als Dispositiv fassen. Dem Begriff des Affekts wird hier indes nicht der Vorzug gegenüber anderen Begriffen wie Emotion oder Gefühl gegeben, um ihn strikt von diesen abzugrenzen, eher dient er als „Allgemeinbegriff“ (Seyfert 2011, S. 69) für diese. So wird bereits grundbegrifflich markiert, dass Emotionen, Gefühle und Stimmungen nicht von der Individualpsyche ausgehend zu denken sind, sondern – einer relationalen Ontologie folgend – als sich materialisierende Effekte komplexer Affizierungskonstellationen. Der Begriff des Affekts ist derweil mitnichten ein klar zu bestimmender. Seine Konnotationen sind so zahlreich wie sich mitunter ausschließend, und die

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Abgrenzungen zu genannten Begriffen wie Emotion, Gefühl oder Stimmung stehen dieser Vieldeutigkeit in nichts nach (Flatley 2008, S. 11–18; für einen historischen Überblick über den Affektbegriff Stoellger 2004; Hoff 2006). Das seit den 1990er Jahren sich entwickelnde interdisziplinäre Feld der Affect Studies, welches generell einem relationalen anstelle eines dualistischen Verständnisses folgt, ist zentralerweise inspiriert von Deleuze und mit ihm von der Philosophie Spinozas. Unter Affekt versteht dieser im dritten Teil seiner Ethik „Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht der Körper vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Idee dieser Affektionen“ (Spinoza 2006 [1677], S. 114). Im Gegensatz zu Descartes, Dualismus entwickelt Spinoza einen Parallelismus, dem folgend menschliche Affekte stets beides sind: Sie sind eine körperliche und sogleich mentale Dynamik, sie sind gleichzeitig körperliche Relation und die Idee dieser Relation (Slaby und Mühlhoff 2019, S. 30 ff.). Ein solcher Affektbegriff umfasst ein korrelierendes, dynamisches Zusammen- und Wechselspiel von Affizieren und Affiziert-werden aller beteiligten Körper. Und da Affizieren und Affiziert-werden zwei Facetten desgleichen Ereignisses sind, wird eine Unterteilung in Subjekt und Objekt grundlegend unterlaufen. Zudem kontrolliert dieses Ereignis einen Übergang, bei dem der Körper von einem Tätigkeitsvermögen zu einem vermehrten oder verminderten Tätigkeitsvermögen übergeht. Ein Übergang, der Massumi (2010a, S. 70) zufolge gefühlt wird. In dieser relationalen Bestimmung des nicht hintergehbaren Zusammenhangs von Affizieren und Affiziert-werden unterläuft der Affektbegriff also eine jede Subjekt/Objekt-Dichotomie, weshalb er als Stimulus leib-körperlicher, habitueller, subjektivierter Stimmungen begriffen werden kann. Spinoza weiter folgend, verweisen Affekte auf Übergänge, Übertragungen und Interaktionen, „die bei der Begegnung von Körpern emergieren“ (Seyfert 2011, S. 69) und die sich im Prozess wechselseitigen Affizierens und Affiziert-werdens formieren, sodass mensch im Affekt „niemals alleine“ (Massumi 2010b, S. 29) ist. Sie sind strukturierende Erfahrungen, die nicht figurativ, personal oder lokal von einem Punkt ausgehend emergieren, sondern von einem Netz heterogener Elemente menschlicher und jeglicher nicht-menschlicher Körper. Daher ist es für sozialund kulturwissenschaftliche Analysen weder gewinnbringend, (überpersönliche) Affekte kategorisch von (persönlich-biografischen) Emotionen zu trennen, noch plausibel, Affekte außerhalb kultureller Wissensordnungen zu verorten. Denn bereits das Wahrnehmen von etwas setzt einen gewissen Grad der Vertrautheit mit diesem Etwas voraus (Waldenfels 1999, S. 69). Warum und wie mensch sich von einem menschlichen oder nicht-menschlichen Körper affizieren lässt oder ob überhaupt, ist also höchst verschieden und (sollte) Analysegegenstand der Soziologie (sein) (Burmeister 2018, S. 186 f.).

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Wenn nun Affekte, wie Butler (2009, S. 35) schreibt, „von Anfang an […] von anderswoher vermittelt“ werden, wie lässt sich solch ein affizierendes Geschehen eines Netzes heterogener Elemente analytisch einfangen? Der sozialtheoretischen Einsicht folgend, dass jede soziokulturelle Ordnung auch auf spezifische Weise eine affektive ist (Reckwitz 2015, S. 35), kann die Frage des anderswoher diskurs-, macht- und subjektivierungsanalytisch danach ausgerichtet werden, ­ welche (überhaupt) möglichen Affekte ein historisches Dispositiv hervorbringt (Anderson 2012; Penz und Sauer 2016; Slaby 2019). Das heißt: Die bloße Möglichkeit wechselseitigen Affizierens und Affiziert-werdens ist abhängig von soziokulturellen Ordnungen, die hier als Dispositiv gefasst werden. Dispositive lassen sich im Anschluss an Foucault (2003, S. 395) als „Strategien von Kräfteverhältnissen“ bestimmen, „die Arten von Wissen unterstützen und von diesen unterstützt werden“, und die in ihrem komplexen, heterogenen Zusammenspiel von Machtverhältnissen und Wissen Weisen der Subjektivierung und Affizierung hervorbringen (Deleuze 1991, S. 155 f.; Foucault 2005, S. 275). Ausgehend von den drei Analyseachsen Wissen, Machtverhältnisse und Subjektivierungsweisen bezeichnet Dispositiv heuristisch zum einen das Netz, das aus einer kontextbezogenen Gesamtheit beziehungsweise einem Ensemble heterogener Elemente wie Diskursen, Praktiken, Materialitäten und Institutionen besteht, zum zweiten die inneren relationalen Strukturierungen sowie wandelnden Funktions- und Beziehungsbestimmungen dieser Elemente, und zum dritten eine „dominante strategische Funktion“ (Foucault 2003, S. 393), welche einem Dispositiv eine (immer prekäre) Einheit stiftet. Ausgangspunkt und dem eigentlichen Dispositiv vorausgehend sind ein ausgemachter Notstand sowie das strategische Ziel von dessen Behebung; angetrieben wird es durch die beiden Prozesse einer funktionalen Überdeterminierung einerseits und einer ständigen strategischen Ausfüllung andererseits. Auf diese Weise generieren Dispositive historisch-gegenwärtige Ordnungen, wobei Ordnung in einem zweifachen Sinne zu verstehen ist (Gehring 2004, S. 45): Zum einen als Ordnungsmuster, die die Bedingungen der Möglichkeit strukturieren, dass etwas historisch-gegenwärtig tatsächlich erscheint, existiert, ist, und zum anderen als Ordnungsprozesse, als Praktiken, die zu- und veranlassen, die an-ordnen und verwerfen. „Wirklichkeitsordnungen haben dieses Doppelgesicht, sowohl Tatsachenordnungen als auch normative Ordnungen zu sein. Sie sind sowohl ‚konstitutiv‘ als auch selektiv“ (Gehring 2004, S. 45). Es sind mithin Ordnungen, „um sehen zu machen oder sehen zu lassen, […] um sprechen zu machen oder sprechen zu lassen“ (Deleuze 1991, S. 154), sie schaffen historische Bedingungen, die „Wahrnehmung[en] veranlass[en] und ermöglich[en]“ (Schürmann 2008, S. 142). Affekte entstehen also in je spezifischen historischen sowie kulturellen Formationen h­ eterogener

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Elemente, was impliziert, dass affektive Interaktionsketten nicht zu allen Zeiten und Orten dieselben sein können. Im Anschluss an die neuere Soziologie des Affekts lässt sich folglich davon ausgehen, dass affektive Interaktionsketten von der Affizierbarkeit beziehungsweise Rezeptivität der beteiligten Körper abhängen, was auf eine Art „Training und Erziehung“ (Seyfert 2014, S. 802) der historisch, sozial und kulturell verschiedenen Formen der Rezeptivität verweist und was den Begriff des Dispositivs rechtfertigt.1

3 Der Affekt Angst Angst ist solch ein Affekt, sie ist, wie Delumeau (1988, S. 29) sagt, „die schmerzhafte Erwartung einer Gefahr, die umso beunruhigender ist, als man sie nicht genau definieren kann: Sie ist ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit.“ Auch Bauman (2006, S. 2) betont den Aspekt der Unsicherheit, der Ungewissheit, wenn er Angst als „diffuse, scattered, unclear, unattached, unanchored, free floating, with no clear address or cause“ beschreibt. Ausgehend von diesen ersten Bestimmungen, lassen sich sechs Charakteristika von Angstaffekten systematisch unterscheiden und darstellen: (1) Angst als Affekt, als habituelle, strukturierende Erfahrung entspringt immer, wie soeben gezeigt, kulturellen Ordnungen, die der Dispositivbegriff aufzuschließen ermöglicht. Diese stellen Diskurse bereit, etwa Narrationen, mithilfe derer Angst für das Subjekt repräsentierbar, sinnig und sinnlich wird, auch in ihrem Unsinn. Wenn beispielsweise mittelalterliche Bauern ihre von einer Folge unerklärlicher Missernten ausgelöste Angst mit Gottes (­Un-)Gnade in Beziehung setzen, oder Soldaten des Ersten Weltkrieges ihre Ängste als Instinkte beschreiben, jenem damaligen psychologisch-wissenschaftlichen Modewort, oder Diamond aus Angst vor diffusen Gefahren seinem jugendlichen Sohn nächtliche U-Bahnfahrten verbietet, dann sind diese Ängste immer in kulturelle

1In

der neueren Affektsoziologie bzw. den Affect Studies wird zuweilen auch das kulturelle Ordnungen irritierende, störende und emanzipative Potenzial von Affekten betont, als ein noch nicht eingehegtes Element (Slaby und Mühlhoff 2019, S. 37 ff.). Ein solches Potenzial des Affekts, wie es etwa Massumi (2010a, S. 80) betont, soll hier nicht in Abrede gestellt werden, doch liegt der Fokus auf den Mechanismen der (Re-)Produktion von kulturellen Ordnungen, die, das sollte deutlich geworden sein, auch affektiv sind.

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Ordnungen eingebettet, denen sie entspringen.2 Angst ist also intentional und propositional. Denn es ist stets Angst vor etwas, wobei dieses etwas zumeist einen Sachverhalt markiert, von dem eine unheilvolle und schädigende Wirkung vermutet wird (Fink-Eitel 1993, S. 70). Relevant sind auch die jeweiligen Materialitäten, etwa die in einer kulturellen, dispositiven Ordnung vorherrschenden und ihr Struktur gebenden Kommunikationsmedien (Baecker 2011). Kurzum: Wenn Angst durch die „schmerzhafte Erwartung einer Gefahr“ und das „Gefühl allgemeiner Unsicherheit“ und „Ungewissheit“ charakterisiert werden kann, bedarf es kultureller Ordnungen, bedarf es Möglichkeitsbedingungen, die diese oder jene Gefahren und Unsicherheiten erst hervorbringen und Angstaffekte evozieren. (2) Angst als gewissermaßen objektlos lässt sich von Furcht unterscheiden, die objektbezogen ist, gleichwohl beide intentional und propositional sind. Diese Unterscheidung findet sich bereits im Alten Testament, in der ­griechisch-römischen Antike und sie durchzieht in christlich-religiöser Prägung das mittelalterliche und frühneuzeitliche Europa. Durch den Aufstieg der Humanwissenschaften ist diese Differenz jedoch entschieden ausdifferenziert sowie systematisiert und Angst von einigen Theoretikern der Moderne gar zum Existenzial erklärt worden (Bähr 2020). So hat bekanntlich Kierkegaard (2002 [1844], S. 40) in diesem Sinne und folgenreich zwischen Angst und Furcht unterschieden. Auch bei Freud (1944 [1917], S. 407 ff.) findet sich diese Differenz wieder, wenn er eine Realangst von neurotischen Ängsten sondert. Ohne sich in existenzphilosophische oder psychoanalytische Diskussionen zu verstricken, lässt sich so eine ungewisse, objektlose Angst von einer objektbezogenen Furcht gewinnbringend trennen und kann als Angst/Furcht-Differenz für Analysezwecke dienlich sein. Keinesfalls soll so ‚vernünftige Furcht‘ gegen ‚irrationale Angst‘ ausgespielt werden, vielmehr sollte dieses Differenz-setzen beziehungsweise Ins-Verhältnis-setzen von Angst und Furcht selbst Bestandteil der Analyse sein, gerade auch, weil die deutsche Alltagssprache dieser Differenz nicht folgt (Bergenholz 1980).

2Dass

Diamonds Angst Ausdruck der herrschenden, hier aufblitzenden kulturellen Ordnung ist, zeigt sich beispielsweise spiegelbildlich in der enormen medialen Aufmerksamkeit, die der Kolumnistin Skenazy (2008) zuteilwurde, als diese darüber schrieb, warum sie ihren neunjährigen Sohn allein die New Yorker U-Bahn fahren lässt. Als ‚America’s Worst Mom‘ ist sie in die jüngere (Medien-)Geschichte der USA eingegangen.

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(3) Die intentional-propositionale Struktur von Angst und Furcht strukturiert Bedingungen möglicher Handlungen, die den Eintritt des vermuteten Schadens verhindern sollen. In Bezug auf die Handlungsbedingungen unterscheiden sich Angst und Furcht voneinander, sie geraten in ein für die Analyse zentrales (Wechsel-)Verhältnis: Unter Rückgriff auf kulturgeschichtliche Studien lässt sich nämlich ein gewisser Angst/Furcht-Mechanismus ausmachen, durch den die Objektlosigkeit oder besser „Ungewissheit“ (Dehne 2017, S. 35) der Angst ein zu fürchtendes Objekt erhält, auf das Praktiken sich beziehen können respektive das in Praktikkomplexe eingebunden ist/wird. Kittsteiner (2006) nennt dies die ­Re-Personalisierung des Feindes. Diesem Konzept zufolge besteht Angstbewältigung zu allererst darin, eine passiv erfahrene Situation der Ohnmacht in eine aktive Handlungsmöglichkeit zu überführen. Damit das Handeln irgendwo ansetzen kann, muss der Unbestimmtheit der Angst entgegengetreten werden. Denn wenn Angst verbunden wird mit der Unmöglichkeit zu handeln, dann scheint das Handeln am gefürchteten Objekt selbst gewissermaßen angstüberwindend zu sein, wobei etwas (scheinbar) Unverfügbares in den Bereich des abwehrenden oder gar des vorgreifenden Handelns überführt wird. Dieser Mechanismus ist indes weniger schematisch als dialektisch zu verstehen, denn das angstüberwindende Handeln an einem ausgemachten, gefürchteten Objekt kann wiederum Diskurse und Praktiken anleiten, die neue Ängste evozieren (Bourke 2003, S. 126–129). (4) Das Kommunizieren von Angst löst einen politisch-moralischen Aktivismus aus, der das Bestehende als potenziell gefährdet markiert und vorgibt, es zu verteidigen durch die Arbeit an entsprechend evozierten ‚wahren‘ Furchtobjekten. So weist Luhmann (2008, S. 107) daraufhin, dass das Kommunizieren von Angst „immer authentische Kommunikation [ist], da man sich selbst bescheinigen kann, Angst zu haben, ohne daß andere dies widerlegen können.“ Angst lässt sich daher als „Prinzip“ verstehen, „was nicht versagt, wenn alle anderen Prinzipien versagen. Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat. Angst gewinnt so in der Kommunikation eine moralische Existenz. Sie macht es zur Pflicht, sich Sorgen zu machen und Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren zu fordern.“ Das Postulat des moralischen Rechts ist dabei nicht normativ, sondern streng nominalistisch zu verstehen. Wenn ‚besorgte (weiße) Bürger*innen‘ beispielsweise ‚Überfremdung‘ als ihr Furchtobjekt ausgeben, sie sich und ihre Lebensweise als ‚gefährdet‘ begreifen durch ‚gefährliche fremde (nicht-weiße) Subjekte‘, wird letzteres womöglich in Zweifel gezogen, das moralische Recht ihrer Angst indes nicht (dass Ängste migrantischer und anderer nicht-dominanter Gruppen nicht derselbe moralische Status zukommt, ist Ausdruck soziokultureller Hegemonien; siehe dazu Punkt 6).

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Angstkommunikation birgt auf diese Weise Prozesse einer Re-Personalisierung des Feindes und eines Ausmachens von Objekten der Furcht, wodurch eine vermeintlich passive Angststarre überführt wird in aktive Angstbewältigung, sodass das Kommunizieren von Angst stets einen gewissen Aktivismus auslöst. Das politische Differenz-setzen von ‚gefährdetem‘ und ‚gefährlichem Leben‘ lässt sich in kritischer, machtanalytischer Wendung als Wahrheitsregime beschreiben, als hegemoniale Definitionsmacht von Wahrheit und deren Abhängigkeit von gewissen Abgrenzungen, Grenzziehungen und als selbst-evident vorausgesetzten ‚kulturellen‘ Konzepten. Eine solche Politik der Angst postuliert einen gesellschaftlichen Ist-Zustand, den zu verteidigen sie durch die Arbeit an ausgemachten, soziale Normen vermeintlich verletzenden Furchtobjekten vorgibt: „If politics reproduces itself through defending ‚what is‘ against the risk of injury or loss, then the ‚truth‘ of politics is dependent on the reproduction of social norms, and their reification as ‚life itself.‘ To make truths is not only to make worlds, but also to make worlds in defence or fear that such worlds ‚could be‘ unmade.“ (Ahmed 2003, S. 379)

(5) Angst und Furcht sind spezifische Temporalstrukturen inhärent, die sich durch einen negativen wie produktiven Zukunftsbezug auszeichnen. Bereits Delumeaus (1988, S. 29, eigene Herv.) Bestimmung der Angst als „schmerzhafte Erwartung einer Gefahr“ verweist darauf. So bezieht sich Angst stets auf zukünftige, zu erwartende Gefahren, „die sich nicht in einem aktuellen Ereignis erschöpfen“ (Opitz 2014, S. 277). Der Angst-Affekt besteht dabei gerade darin, durch seine körperliche, ‚schmerzhafte‘ Präsenz und Intersubjektivität „der zukünftigen Bedrohung […] zum gegenwärtigen Sein“ zu verhelfen (Opitz 2014, S. 277). Angst als Affekt bezieht sich also auf die Gegenwart zukünftiger Gefahren, die so körperlich vergegenwärtigt werden. Sie ist nicht die Reaktion auf ein Ereignis, sondern auf die Vorstellung und Erwartung eines Ereignisses (Barbalet 1998, S. 155), wobei Vorstellungen und Erwartungen nicht lediglich kognitiv zu verstehen sind (wie etwa die Emotionssoziologie Barbalets es nahelegt), sondern vor allem körperlich – eben als körperlich-habituelle Vergegenwärtigung und Präsenz zukünftiger Gefahren. Angst und Furcht sind daher beides „negative Erwartungsaffekte“ (Fink-Eitel 1993, S. 70), die affektive Interaktionsketten initiieren, die einstweilen nicht verhindernd oder einen Status quo konservierend, sondern produktiv sozialen Wandel antreibend wirken (Barbalet 1998, S. 149 ff.). Eine jede revisionistische soziale Bewegung etwa würde die Gesellschaft erst hervorbringen, die zu verteidigen sie vorgibt. Ein anders gelagertes, sinnfälliges Beispiel für die gegenwärtige, körperliche Wirksamkeit zukünftiger Gefahren ist der

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Alarm. Jene Technik, mithilfe derer Autoritäten Gefahren begegnen, indem sie deren Effekte zu leiten beabsichtigen – und mit dem die unheilvolle Zukunft zur körperlichen Gegenwart, Gefahr signalisiert und Angst evoziert wird.3 „Signing threat to induce fear to control its effects snatches certainty from the jaws of uncertainty. The security equivalent of the logical tautology is the certainty of the affectively self-fulfilling prophesy, falling on secured ground“ (Massumi 2005, S. 8). Massumi (Massumi 2005, S. 10) spricht von „affektiven Fakten“, die im Modus präventiver und präemptiver Sicherheitspolitiken zukünftigen, unkalkulierbaren Unsicherheiten zum gegenwärtigen Sein verhelfen. Und in dem Maße die (zukünftige) Gefahr allgegenwärtig wird, lässt sich eine jede Vorkehrung des Gefahrenvorgriffs legitimieren und immer auch rückwirkend begründen, denn „the affective fact is that they have always already been right“. (6) Angst und Furcht sind zentralerweise in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden wie auch Ausdruck dieser, dringt doch im „affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung […] die Gesellschaftsordnung in die Körper ein“. (Bourdieu 2001, S. 181; auch Matthäus 2019) So haben nicht nur Individuen und soziale Gruppen bestimmte Ängste und milieugebundene Angstkulturen, Angst vermittelt auch zwischen dem Subjekt und dem Sozialen, ihr kommt folglich eine „funktionale Rolle für die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse“ zu (Schmitz und Gengnagel 2018, S. 58). Angst stiftet dabei Zusammenhalt und begründet zugleich Ausgrenzung, sie kann soziale (Ungleichheits-)Strukturen reproduzieren, aber zuweilen auch unterlaufen und verändern. Angst als Affekt auszuweisen bedeutet also auch darauf zu insistieren, dass mit diesem eine Grenzziehung und Unterscheidung errichtet wird zwischen den Gefährdeten und den Gefährdern4 (Ahmed 2004,

3Nach

den Ereignissen 1999 im US-amerikanischen Littleton und 2002 im thüringischen Erfurt wurden beispielsweise neue Alarmpläne und auditive Alarmsignale „Amok“ in Grundschulen implementiert. Insbesondere im Kontrast zum differierenden Alarmplan und -signal „Feuer“ zeigt sich hier, wie Verhalten und (Selbst-)Führungen durch Präventionstechnologien affektiv strukturiert werden. Denn beide auditiven Warnsignale sollen zu gänzlich anderen Verhaltensweisen führen, für die das Subjekt trainiert werden muss. Dieses Beispiel demonstriert mithin auch die grundlegend affektive Dimension einer jeden (hegemonialen) kulturellen Ordnung. 4Der „Gefährder“ ist hier zunächst als analytische Kategorie zu verstehen. Es ist jedoch kein Zufall – und innerhalb der staatlich-präventiven Logik letztlich nur konsequent –, dass die Figur des „Gefährders“ im Diskurs innerer Sicherheit an Prominenz gewinnt, wo er Ausdruck einer spezifischen Rationalität der Kriminalitätskontrolle ist: den Gefahrenvorgriff; siehe dazu den folgenden Abschnitt und speziell zu dieser Figur Krasmann (2009).

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S. 72); dass überdies nicht nur relevant ist, was gefürchtet wird, sondern auch von wem, und von wem in Bezug auf wen oder was. Douglas und Wildavsky (1983) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gemeinsame Werte zu gemeinsamen Ängsten führen, und dass das Pathologisieren und Kriminalisieren bestimmter Verhaltensweisen sozialer Gruppen durch andere den jeweils eigenen normativen Zusammenhalt stützt. Praktiken der Angst haben in diesem Sinne sowohl sozial-integrative als auch -exklusive Wirkungsweisen, sie fundieren Zusammenhalt und schließen aus (Douglas 1992). Ein besonders eindringliches Beispiel dafür liefert Orwell im zweiten, essayistisch-reflektierenden Teil seines Buches Der Weg nach Wigan Pier, dem eine Sozialreportage über die Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen von Arbeiter*innen und Arbeitslosen nordenglischer Industriestädte der 1930er Jahre vorausgeht. Orwell (1982 [1937], S. 191) schreibt, dass sich das „wirkliche […] Geheimnis der Klassenunterschiede im Westen“ in „vier schrecklichen Worten“ zusammenfassen ließe: „Die unteren Klassen stinken.“ Er führt aus, wie er selbst in dem Glauben oder besser zu dem Glauben erzogen wurde, die unteren Klassen seien dreckig und würden verabscheuungswürdig riechen – und zwar ‚von Natur aus‘ –, und er betont weiter die enorme, soziale Klassen konstituierende Wirkkraft von Angstaffekten des „Gefallens oder Mißfallens“ (Orwell 1982 [1937], S. 192). Ängste sind also auch Ausdruck kultureller Hegemonien. Sie unterscheiden sich dabei sowohl hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Legitimität oder Illegitimität als auch in Bezug auf ihre gesellschaftlich ungleich verteilten Potenziale der Legitimations- und Delegitimationseffekte (Schmitz und Gengnagel 2018, S. 62). Massenmedien beispielsweise evozieren in diesem Sinne durch eine Art „Kollektivaffizierung“ (Ott 2010, S. 279) der Zuschauer*innen eine mediale Kultur der Angst, indem dichotome ­Hyper-Realitäten geschaffen werden, die Realität darstellen als Konflikt zwischen den Kräften der Gefährdeten und den der Gefährder – und die zudem dazu auffordern, zu reagieren und sich für eine Seite zu entscheiden: „The text of fear is manufactured through the use of images and language in order to coerce people into a certain idea or action where they imagine themselves as members of a certain community against another.“ (Nambiar 2010, S. 184) Auf diese Weise werden Angstaffekte evoziert und „social boundaries“ (Massumi 1993, S. 21) der Exklusion auch affizierend erzeugt. Die (medialen) Politiken der Angst (Altheide 2006, S. 15 ff.) greifen auf diese Weise über auf das Alltagsleben, sie strukturieren Wirklichkeit und üben soziale Kontrolle aus, indem sie die Dichotomisierung ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘ provozieren. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Angst ist ein Affekt, der durch Interaktionen menschlicher wie jeglicher nicht-menschlicher Körper emergiert und auf diese Weise strukturierende Erfahrungen hervorbringt. Die bloße M ­ öglichkeit

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der Affizierbarkeit und des wechselseitigen Affizierens und ­ Affiziert-werdens ist abhängig von kulturellen Ordnungen, die als Dispositiv erschlossen werden können. Ein solches historisches Dispositiv, bestehend aus Diskursen, Materialien, Institutionen, Raum-, Zeit- und Dingarrangements, ermöglicht und verhindert Affizierungen, wodurch das Affektive „als natürlich-soziale Tatsache das gesellschaftliche Feld vorstrukturiert und die Art der Subjektivierungen mitprägt“ (Ott 2010, S. 18) – und wodurch Ängste und Sorgen angeleitet werden. In diesem Sinne lässt sich Angst als Affekt im Dispositiv beschreiben. Weiter charakterisiert werden kann Angst als Affekt von Unsicherheit und Ungewissheit, sie ist im Gegensatz zur Furcht diffuser und gewissermaßen objektlos. Gemein haben Furcht und Angst, dass beide intentional und propositional strukturiert sind als Angst und Furcht vor etwas, wobei, um dies nochmals zu betonen, es kultureller Ordnungen bedarf, die sowohl diffuse Unsicherheiten als auch konkrete Furchtobjekte sowie deren ‚dialektische‘ Wahrheitsspiele erst hervorbringen. Insofern strukturiert diese intentional-propositionale Struktur von Angst und Furcht auch die Bedingungen möglicher Handlungen, die durch sie beziehungsweise in Bezug auf sie ausgelöst werden. Angst ist überdies eine spezifische Temporalstruktur inhärent, nämlich ein gleichfalls negativer wie produktiver Zukunftsbezug. Angst und Furcht sind „negative Erwartungsaffekte“ (Fink-Eitel 1993, S. 70.), die sozialen Wandel antreibende, affektive Interaktionsketten initiieren und Unsicherheiten/Ungewissheiten ob zukünftiger Gefahren gegenwärtig körperlich wirksam werden lassen. Und schließlich und ganz zentral ist Angst eingebunden in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Bereits eine Angstursache ist kultur- und damit auch klassen- und milieuspezifisch, das heißt: Sowohl Angstquelle (was wen warum ängstigt) als auch Furchtobjekt (welche Praktiken von wem an/gegen/ für was ausgelöst werden) sind soziokulturell, sozialräumlich und sozialstrukturell bedingt. Auf diese Weise begründet Angst sowohl sozialen Zusammenhalt als auch soziale Ausschließung (Balzereit 2010, S. 41 ff.). Sie ist Ausdruck kultureller Hegemonie, die zum einen über Legitimität und Illegitimität von Angst und Furcht richtet und die zum anderen durch (mediale) Politiken wie Kulturen der Angst Grenzen errichtet zwischen ‚Wir‘ und ‚den Anderen‘, zwischen gefährdetem Leben und gefährdendem Leben.

4 Moderne und spätmoderne Zukünfte. Schlussbetrachtungen Einleitend wurde Zeit mit Elias als verleibkörperlichtes Soziales beschrieben, als „zweite Natur“ des Subjekts. Zu Analysezwecken lassen sich daran anschließend mit Rosa (2005, S. 34) drei Ebenen temporaler Vermittlungs-

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prozesse unterscheiden: die repetitive und oft zyklische Alltagszeit, die Lebenszeit, die etwa Heideggers (1967 [1927]) „Dasein“ entspricht, und schließlich die jeweilige Epochenzeit. Diese drei Zeitebenen und ihre Zeithorizonte, ihre Konzeptualisierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bestimmen in ihrem komplexen Zusammenspiel die Art und Weise des „In-der-Zeit-seins“ des Subjekts (Heidegger 1967 [1927], S. 34). Dabei ist für das moderne Zeitregime das Auseinandertreten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitentscheidend, es folgt gemäß seiner temporalen Ontologie nicht der Kontinuität, sondern dem Wandel (Assmann 2013, S. 137). Koselleck (1989) hat dies beschrieben als Prozess der sukzessiven Trennung von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, als Trennung von gegenwärtiger Vergangenheit und vergegenwärtigter Zukunft. Durch diese frühneuzeitlichen Prozesse werden der Weltzugang des Subjekts und damit der Horizont möglicher Ängste nicht mehr christlich-transzendental angeleitet, sondern zunehmend weltlich-wissenschaftlich. Vergangenheit wird Wissensform „Geschichte“ und ­ Zukunft wird offen, wird Potenzialität, wobei „Geschichte“ nicht betrieben wird, um Vergangenes zu erkennen, sondern um Vergangenes zu verzeitlichen – aus Interesse an der Zukunft (Luhmann 2005, S. 140 f.). Die nunmehr offene Zukunft wiederum wird sowohl hoffnungsvoll als fortschrittlich gestaltbar als auch wissenschaftlich, kulturell und politisch als kalkulierbar gedacht. Denn es gilt, die Ungewissheiten ob all der Potenzialität zu bannen, wozu es konkreter Objekte bedarf, Objekte im Modus der Furcht. Die Zeugen dieses Prozesses, die Theoretiker der Moderne, sind sich der fundamentalen Konsequenzen durchaus bewusst. Kierkegaard (2002 [1844], S. 57) etwa spricht von Angst als „Schwindel der Freiheit, der entsteht, indem der Geist die Synthese [des Seelischen und des Leiblichen, C.T.B.] setzen will und die Freiheit nun hinabschaut in ihre eigene Möglichkeit“. In der Romantik wird diese „Angst vor der Freiheit“ ausführlich verhandelt (Krämer 2011), wie auch komplementär eine Angstlust vor dem Unheimlichen entsteht. Auf anderer, nämlich subjekt- und machtanalytischer Ebene lässt sich Angst nun als ein „aktives Gefühl“ (Galli 2012, S. 33) des liberalen, biopolitischen Regierens verstehen, da die Unbestimmtheit und Ungewissheit nicht weiter außerweltlich lokalisiert werden, sondern in einer diesseitigen Gefahren- und Risikokultur. In diesem bürgerlichen Zeitalter darf fortan „überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist“ (Horkheimer und Adorno 1988, S. 22). Dies drückt sich beispielsweise in alltäglichen Zeitpraktiken aus, wie der bürgerlichen Angst vor „leerer Zeit“, vor proletarischer Zeitverschwendung (Corbin 1993). Worauf dies indes grundsätzlich hinweist, ist die moderne, biopolitische Relation von Sicherheit, Freiheit und Angst, denn wie die Freiheit kann und soll auch die Sicherheit im bürgerlichen ­Liberalismus

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niemals fixiert werden (Foucault 2006, S. 102; Lemke 2014). Das Streben nach Sicherheit und die Analyse ihrer Bedrohungen sind dabei komplementär, sodass im biopolitischen Zeitalter Angstpolitiken (auch) „die Gestalt der Sorge“ annehmen (Balke 2013, S. 90), die vorgreifende, also präventive Dispositive haben entstehen lassen. Für die Moderne lassen sich dabei sehr schematisiert drei verschiedene Präventionsdispositive solch sorgenvoller Angstpolitiken ausmachen. Sie sind zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten entstanden und haben verschiedene Institutionalisierungen, Arrangements von Zeit und Raum, Apparaturen und Dingwelten, Verfahrens- und Verhaltensweisen, Fremd- und Selbstführungen, Affizierungs- und Subjektivierungsweisen hervorgebracht, die sich in der Spätmoderne nunmehr überlagern und Prävention zur dominanten Ratio haben werden lassen, mit der die Gegenwartsgesellschaften ihre Zukünfte imaginieren, verhandeln und organisieren (Lakoff 2007; Bröckling 2012). Dies sind das Präventionsdispositiv der Gefahrenabwehr, welches in der bürgerlichen Moderne entstanden ist, das des Gefahrenmanagements, was sich in der organisierten Moderne (weiter) entwickelt hat, und das der (Vor-)Vorsorge, welches in den 1970er Jahren in der Umweltpolitik aufgetaucht ist und sich durch den war on terror gesamtgesellschaftlich ausgebreitet hat. Sie unterscheiden sich zentralerweise durch ihre Zukunftsbezüge, ihre verschieden imaginierten und prozessierten Unsicherheiten und Ungewissheiten. So wird das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft wird im Dispositiv der Gefahrenabwehr als Kontinuum imaginiert, die Gefahr ist eine mit vorhandenem Wissen ausmachbare, die es zu identifizieren, abzusondern oder zu säubern gilt. Die vom Gefahrenmanagement imaginierte Zukunft ist eine probabilistisch-kalkulierte, Gefahren werden mithilfe probabilistisch-statistischer Verfahrensweisen zu kalkulierbaren Risiken. Dabei lassen sich zwei Formen des Gefahrenmanagements unterscheiden: Während Immunisierung der probabilistisch-kalkulierten Gefahr durch dosierte Irritationen und Veränderungen von Anreizstrukturen zu begegnen sucht (beispielsweise durch Impfungen oder der Mobilisierung von gesundheitlichen Selbststeuerungspotenzialen), um so die Resilienz des Subjekts zu erhöhen, zielt Versicherung auf kontinuierliches, reguliertes, moduliertes Durchdringen der Gesellschaft gemäß der vollzogenen Risikoabschätzung, um die Risikoabsicherung durch Einbringen des Risikos in ein Kollektiv zu gewährleisten (wobei es zunehmend zu einer Aufkündigung des Solidargedankens und einem Anstieg von Eigenverantwortung und gesonderten Risikomilieus kommt). Das Präventionsdispositiv der (­ Vor-)Vorsorge imaginiert im Gegensatz zu den anderen beiden die Zukunft entschieden diskontinuierlich als Bruch, als Katastrophe, weil das imaginierte Ausmaß des etwaigen Eintretens einer nicht kalkulierbaren Gefahr als katastrophisch

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angenommen wird. Die unbekannten, unkalkulierbaren, zukünftigen Gefahren werden durch das Entwerfen von Worst-Case-Szenarien ermittelt, die angeleitet und strukturiert werden durch die unabschließbare Frage ‚was wäre wenn?‘ (Mythen und Walklate 2008). Dabei lassen sich auch hier zwei Varianten ausmachen: (Vor-)Vorsorge einerseits durch Vermeidung und Verhinderung mithilfe bloßen Unterlassens und rechtlicher Verbote, andererseits durch vorsorgenden, vorgreifenden Aktivismus. Diese zuletzt genannte, immer weiter um sich greifende Form zeigt sich zum einen in Praktiken des Gefahrenvorgriffs, bei denen der unkalkulierbaren, als katastrophisch gezeichneten Gefahr durch präemptive An- oder Zugriffe begegnet wird (zentrales Beispiel hierfür ist der war on terror nach dem 11. September 2001, aber auch die sicherheitspolitische Kategorie des Gefährders oder die Ausweitung von Sicherungs- beziehungsweise Sicherheitsverwahrung lassen sich dazu zählen). Und zum anderen in Praktiken des Vorbereitet-seins, bei denen ‚kritische Infrastrukturen‘, also solche, deren Bestand als relevant für Erhalt der politischen, ökonomischen, sozialen Ordnung gilt, durch den Aufbau von Kapazitäten auf die vielfachen, katastrophischen Gefahren durch Simulationen und Übungen (von Militär, Zivilschutz usw.) vorbereitet werden sollen (Lakoff 2007).5 Auf eben diesen vorgreifenden Charakter der Praktiken des Gefahrenvorgriffs wie des Vorbereitet-seins verweist das Präfix

5Aufhänger

von Lakoffs (2007) Argumentation ist der Hurrikan Katrina, jene verheerende Naturkatastrophe Ende August 2005 in den südöstlichen Teilen der USA, und die Aussage „We are not prepared“ eines Reporters. Dieses gut gewählte Beispiel zeigt zum einen, dass alle Policies des Vorbereitet-seins in der realen Katastrophe gescheitert sind, dieses Scheitern aber gerade nicht dazu führt, den bisherigen Weg kritisch zu betrachten und ggf. neu zu justieren, sondern ein ‚noch mehr‘ provoziert. Zum anderen wird an dem Beispiel überdeutlich, dass die politische Rationalität auch dafür den Rahmen vorgibt, was überhaupt als politisch-relevantes Problem gesehen wird; so gelten beispielsweise Armut und eine geringe Rate an Menschen mit Krankenversicherung nicht als Faktoren des Vorbereitet-seins. Darüber hinaus ist der Hurrikan Katrina auch ein Beispiel für die rechtsstaatsaushebenden Kräfte der Praktiken des Gefahrenvorgriffs, wie sie sich anhand der Geschichte des syrisch-amerikanischen Handwerkers Zeitoun nachvollziehen lassen. Dieser rettete sich nicht durch Flucht, sondern wollte als rechtschaffender Bürger der Stadt New Orleans helfen – und geriet unter Terrorverdacht. Er wurde ohne Verdachtsmoment festgenommen, gänzlich seiner Rechte beraubt, erfuhr weder den Grund seiner Festnahme noch durfte er einen Telefonanruf tätigen, er wurde keinem Richter vorgeführt, aber verhört, misshandelt und gedemütigt (Eggers 2010). Im Vorfeld des Hurrikans hatte das USamerikanische Heimatschutzministerium davor gewarnt, Terrorist*innen könnten die Naturkatastrophe für Anschläge nutzen, was im Zeichen des Gefahrenvorgriffs das Aushebeln rechtsstaatlicher Grundsätze im Grunde nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu nötig macht.

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‚Vor‘ bei der (Vor-)Vorsorge. Denn auch das Gefahrenmanagement hat zweifellos in Teilen vorsorgenden Charakter, etwa im Aufbau von Resilienz. Doch während eine kalkulierte Gefahr eine unsichere, aber bearbeitbare Zukunft markiert, schwört eine katastrophische Gefahr eine gänzliche unsichere, ungewisse Zukunft herbei, der im Grunde nicht zu begegnen ist. Dies aber führt weder zu Fatalismus noch zu Passivität, sondern zu schier unbegrenzt vorgreifendem, also vorvorsorgendem Aktivismus. Je diffuser die zukünftige Gefahr (politisch, medial, gesellschaftlich) imaginiert und simuliert wird, desto umfassender werden Angstaffekte evoziert und Furchtobjekte erkoren. Daher bietet sich als literarische Metapher für die gegenwärtige Konjunktur staatlicher wie gesellschaftlicher Produktion von (Un-)Sicherheit die unvollendet gebliebene Erzählung Der Bau von Kafka (1997) an. Sie beginnt mit dem Satz: „Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen. […] Freilich manche List ist so fein, dass sie sich selbst umbringt, das weiß ich besser als irgendwer sonst.“ (Kafka 1997, S. 465). Kafka schildert den vergeblichen Kampf eines Tieres um die Perfektionierung seines riesigen Erdbaus zum Schutz vor Feinden. Er erzählt von der Verstrickung in die zwanghafte Beobachtung einer selbstgeschaffenen labyrinthischen Anlage, die zunehmende Paranoia erzeugt. Diese Bau-Festung ist. „der Ort eines Lebens in permanenter Angst. Ursache und Wirkung, Mittel und Gegenmittel sind nicht mehr klar voneinander zu trennen. In Kafkas Bau zeigt sich eine Anordnung, in der das, was vor dem Beängstigenden schützen soll, seinerseits beängstigend ist“ (Gann 2011, S. 30).

Dieser Bau ist zum einen allgemein vergleichbar mit dem modernen, säkularen Staat, der seine „eigentliche und letzte Rechtfertigung“ (BVerfG) herleitet aus der Sicherstellung der Sicherheit seiner Bürger*innen. Diese Metapher eignet sich aber zum anderen auch insbesondere zur Beschreibung gegenwärtiger ­staatlich-politischer wie gesellschaftlicher Kultur, die Unsicherheiten im Modus des Vorgriffs auszumachen versucht, es gilt, die bloße Möglichkeit einer Gefahr auszuschließen. Entscheidend für die gegenwärtige Omnipräsenz von Angstaffekten ist, dass die Modi der Zukunftsimaginationen zunehmend präventiven und präemptiven Logiken folgen, die qua ihrer Struktur Zukunft stets als Unsicherheit und Negativum zeichnen, der gegenwärtig zu begegnen ist und die komplexe Angst/Furcht-Mechanismen in Gang setzen. Die Analyse der Diskurse und Praktiken, der Verfahrensweisen und Mechanismen, Institutionalisierungen und Handreichungen, mit denen Zukünfte imaginiert, prozessiert und gegenwärtig wirksam werden, kann daher als Schlüssel für beziehungsweise gegen die Omnipräsenz von Angst dienen.

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Christoph T. Burmeister, M.A.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie der Humboldt-Universität zu Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie; Emotions- und Affektsoziologie; poststrukturalistische und relationale Soziologien; Praxistheorie; Soziologie und Geschichte der Kindheit.

Das Veralten des Liberalismus der Furcht Veith Selk

1 Einleitung Der Liberalismus der Furcht wurde von der US-amerikanischen politischen Denkerin Judith N. Shklar im Kontext des ausgehenden Kalten Krieges entwickelt, um der liberalen Demokratie eine attraktive theoretische Artikulation zu geben und sie besser von den Herrschaftssystemen sowjetischen Typs sowie von anderen Formen totalitärer und autoritärer Herrschaft abzugrenzen. Vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Rechtspopulismus und der wieder auflebenden Diskussion über „illiberale Demokratien“ (so bereits Zakaria 1997) erlebt er gegenwärtig eine Renaissance (Bajohr und Trimçev 2018). Seine Anhänger sehen in ihm ein Antidot gegen den Populismus und eine angemessene Reaktion auf die gegenwärtige Diskussion über das Scheitern des Liberalismus (zu letzterer Michéa 2014; Deneen 2018). Sie meinen, er sei eine Blaupause für einen erneuerten, lernfähigen Liberalismus (Müller 2019) und beinhalte praktische Vorschläge und Orientierungsmaßstäbe, mit denen die stärker um sich greifende Angst (Bauman 2006; Bude 2014) in politisch beherrschbare Furcht verwandelt werden könne.1 Für seine Anhänger wie Jan-Werner Müller handelt

1Müller

(2019, S. 93 ff.) unterscheidet zwischen unpolitischer abstrakter Angst und konkreter, politisch bearbeitbarer Furcht und sieht die Verwandlung von Angst in Furcht

V. Selk (*)  Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_3

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es sich beim Liberalismus der Furcht um eine politische Idee, die ein zeitgemäßes und normativ attraktives Verständnis von liberaler Demokratie artikuliere. Aus dessen Warte betrachtet, verspreche die liberale Demokratie ein Leben, in dem man, wie der in liberalen Diskursen zuweilen bemühte Adorno einmal geschrieben hatte, „ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno 1997 [1951], S. 131).

2 Der Liberalismus der Furcht als Antwort auf die Politisierung von Angst In seinem Buch über die Öffentlichkeit aus dem Jahre 1927 hatte der ­US-amerikanische Philosoph John Dewey (1996) die These vertreten, dass in der modernen Gesellschaft die Anzahl der als relevant erachteten Nebenfolgen individuellen wie sozialen Handelns für die an den Handlungen Unbeteiligten zunimmt, woraus eine – auch affektive – Betroffenheit sowie ein Interesse an der Regulierung dieser Folgen entstehen. Deweys bis heute gültige Beobachtung war, dass deshalb der Bereich des als regulierungsbedürftig Angesehenen stetig größer wird, wodurch sich die Öffentlichkeit auf immer mehr Sachverhalte und Handlungen erstreckt. Das Politische berührt nun auch viele derjenigen Lebenszusammenhänge, die es vorher nicht berührt hatte. Obwohl Dewey diese Konsequenz selbst nicht zog, lässt sich seine Theorie der Öffentlichkeit als eine Theorie interpretieren, die das Anwachsen von Angst in der modernen Gesellschaft verständlich machen kann. Deweys Theorie in diese Richtung weiterdenkend kann gesagt werden, dass das Bewusstsein der Abhängigkeit des Individuums von sozialen Kräften, die es individuell nicht zu beeinflussen vermag, von denen es aber betroffen ist, zu Angst führt. Diese Angst ist der affektive Ausdruck von Risiken (Beck 1986). Durch das Bewusstsein für die möglichen negativen Folgen des Handelns anderer, wird deren Handeln für uns zum Risiko, das wir fürchten. Die Funktion der Politik besteht aus diesem Grund nicht nur darin, Interessen an der Regulation von Handlungsfolgen mit

als eine zentrale Aufgabe der Politik in liberalen Demokratien an. Die Unterscheidung zwischen (abstrakter) Angst und (konkreter) Furcht ist im Deutschen spätestens seit Heidegger geläufig. Sie wird alltagssprachlich dadurch kompliziert, dass sich im Deutschen von „Furcht“ kein Plural bilden lässt, wenn man über unterschiedliche Fälle oder Arten von Furcht sprechen will. Die Rede ist dann zumeist von „Ängsten“.

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einander zu vermitteln. Politik muss auch die in der modernen Gesellschaft entstehende Angst mindern. Diesen Gedanken hat der politische Theoretiker Danilo Zolo (1997) zum Grundstein seiner „realistischen Theorie der Politik“ gemacht. Er definiert die Funktion der Politik dort wie folgt: „[I]n den modernen Gesellschaften besteht die besondere Funktion des politischen Systems darin, die Verteilung sozialer Risiken selektiv zu regulieren und daher die Angst durch agonistische Zuweisung von Sicherheitswerten zu mindern. Von diesem Standpunkt aus sind die beiden spezifischen Kriterien des politischen Kodexes das Prinzip der Unterscheidung innerhalb/außerhalb und das asymmetrische Verhältnis von Macht/Unterordnung.“ (Zolo 1997, S. 63)

Zolo zufolge spielen in politischen Konflikten zwei Fragen eine Rolle. Erstens geht es um die Frage, wer in den Genuss der Minderung von Angst kommen soll und welches Risiko wie reguliert wird. Das heißt, eine Grundfrage des Politischen ist, wo die Grenze zwischen privat und öffentlich verlaufen soll. Zweitens ist es für Politik kennzeichnend, dass sie auf legitimen Zwang bezogen ist und damit in letzter Instanz auf die Ausübung oder Androhung öffentlicher Gewalt, um dadurch kollektiv verbindliche Entscheidungen durchzusetzen und Risiken effektiv zu regulieren. Damit sind die für Politik und das politische Handeln konstitutiven Macht- und Herrschaftsverhältnisse angesprochen. Es geht in der Politik, implizit oder explizit, auch immer um die Frage, wer unter welchen Bedingungen wem gehorchen muss und wer legitimerweise befehlen kann. Zolo weist deshalb zu Recht darauf hin, dass das politische System zwar die Angst minimiert, aber Angst in ihm zugleich auch als ein Regierungsmittel eingesetzt wird. Das bedeutet: Auch in der Demokratie fußt legitime politische Herrschaft auf der Angst der Herrschaftsunterworfenen vor negativen Sanktionen oder dem Entzug positiver Sanktionen. Um Angst mindern zu können, muss die Politik Angst machen. Zolo verstand seine Theorie in der Tradition Machiavellis als eine realistische Theorie, die die politische Wirklichkeit auf den Begriff bringt und normative Fragen nur am Rande berührt. Seine Überlegungen werfen allerdings ein normatives Problem auf, das sich in der Praxis wie der Theorie der Politik stellt. Wie und in welchen institutionellen Arrangements soll welche Angst von wem gemindert werden und bis zu welchem Ausmaß soll hierbei Angst selbst als ein Regierungsmittel eingesetzt werden? Im Liberalismus der Furcht wird dieses Problem behandelt. Bevor ich auf Shklar eingehe, will ich zunächst den Ursprung des Liberalismus der Furcht in Thomas Hobbes’ Staatstheorie in den Blick nehmen, da dieser ideengeschichtliche Bezug ihrer Theorie oftmals übersehen wird.

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3 Die Entstehung des Liberalismus der Furcht Bis in die frühe Neuzeit wurde das politische Denken über Angst vom aristokratischen Paradigma der Tugendethik geprägt (Selk 2016). Eine Prämisse dieses Denkens war, dass ein tugendhaftes Leben nur für die hervorragenden Wenigen möglich sei. Die Vielen hingegen seien zur Tugend unfähig, deshalb müssten sie durch Angst diszipliniert werden. In einer guten politischen Ordnung kontrollierten die Wenigen ihre Angst mittels der Tugend selbst, wohingegen die Vielen durch Furcht und Schrecken vor den Wenigen im Zaum gehalten werden. Dieses Modell war auch für das christliche politische Denken der Angst in Spätantike und Mittelalter maßgebend, nur dass hier die normative Integration der regierenden Wenigen und der regierten Vielen über eine christliche Tugendethik vermittelt wurde. Im Zentrum dieses politischen Denkens stand eine hierarchisch-teleologische Metaphysik, die die politische Ordnung auf ein ­ summum bonum als höchstes Gut ausrichtete. Auch in dieser Denkweise sollte das Regieren der Angst durch eine tugendethisch hervorragende Führungsschicht, die normative Verpflichtung der Ordnung auf die Verfolgung eines höchsten Gutes (Seligkeit, Vortrefflichkeit, Gerechtigkeit) sowie vermittels klug eingesetzter, Angst erzeugender Herrschaftstechniken erfolgen, mit denen die Vielen diszipliniert werden könnten. Ein anderes politisches Verständnis von Angst bildete sich aufgrund des Wandels der politischen Herrschaftsstruktur und der politischen Subjektivität in der anbrechenden Neuzeit heraus. Es ist ein Kind der Säkularisierung, der Freisetzung von Subjektivität und Kontingenzbewusstsein, der alltagsweltlichen Rationalisierung und Profanisierung des Daseins sowie der Pluralisierung der Bekenntnisse. Im „Prozess der Zivilisation“ (Elias 1997 [1939]) bildete sich eine neue gesellschaftliche Struktur heraus, mit einer zentralisierten öffentlichen Staatsgewalt einerseits, und arbeitsteiliger, frühkapitalistischer freier Geldwirtschaft sowie langsichtiger, kalkulierender instrumenteller Vernunft nebst internalisiertem Zwang zur Affektkontrolle andererseits. Das Regieren der Angst wurde nun nicht mehr als eine Aufgabe einer universalen christlichen Tugendethik oder als ein politisches Betätigungsfeld einer tugendhaften Aristokratie begriffen. Es wurde nun als eine Aufgabe der souveränen Staatsgewalt sowie der eigeninteressierten, aufgeklärten, freien Subjekte beschrieben. Die neuzeitlichen Vorschläge zum Regieren von und mit Angst zielten auf das subjektive Eigeninteresse, auf die instrumentelle Rationalität und auf damit verbundene institutionelle Ordnungsentwürfe. Das Regieren der Angst wurde in einem sich säkularisierenden Welthorizont thematisch. Zugleich entstand dabei eine Perspektive auf die öffentliche Gewalt, die im Verzicht auf eine tugendethische

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Integration die Voraussetzung für eine Durchsetzung des Prinzips der Autonomie erkannte und der Angst eine Schlüsselrolle bei der normativen Integration zuwies. Der Schlüsselautor dieses epochalen Überganges ist Thomas Hobbes (1984 [1651]), er ist der Stammvater des Liberalismus der Furcht. Gegen das holistische Denken der Tradition setzte er die resolutiv-kompositorische Methode, mit der er Politik als Zusammenspiel eigeninteressierter Individuen rekonstruierte. In seinem Denkmodell des Naturzustands erscheinen die natürlicherweise freien, gleichen und ungebundenen Menschen als sich wechselseitig gefährdende Lebewesen, die in einem Zustand der Feindschaft, des Misstrauens und der Angst leben und in dem keine Zivilisationsgewinne möglich sind. Hobbes argumentierte, der absolute Staat des Leviathan als einem Monopolisten der Gewalt und der Todesdrohung sowie als Verkörperung einer alle einschüchternden Schreckensmacht könne diesen Zustand aufheben und Aussicht auf Zivilisationsgewinne eröffnen. Dieser absolute Staat solle deshalb ­weltlich-private Orientierungen fördern, und er müsse selbst als die größte irdische Macht erscheinen; von Straftaten habe er effektiv abzuschrecken und die Untertanen zu unpolitischen Privatmenschen zu erziehen. Hobbes beschrieb die wechselseitige Angst der Menschen voreinander als einen Katalysator der Integration und nutzte sie dadurch als Rechtfertigungsfigur für politische Herrschaft im neuzeitlichen Staat. Die kollektive Angst vor dem Leviathan integriere die sich andernfalls wechselseitig misstrauisch ängstigenden und bekämpfenden Subjekte in die politische (Zwangs-)Ordnung – die zugleich die Voraussetzung ihrer Freiheit in Gesellschaft sei. Hobbes reflektierte damit ein reales Integrationsproblem. Es entstand durch die neuzeitliche, zunehmend freie und eigeninteressierte Handlungsorientierung und die frühkapitalistische Konkurrenz, die partikulare Interessen, subjektive (Zweck-)Rationalität und den Verlust eines umgreifenden summum bonum mit sich brachten. Hobbes Lösung: Zwar teilen die Menschen kein summum bonum, aber eine Sache verbindet sie, und zwar ein summum malum: die Angst vor dem Tod. Und der Staat könne diese Angst der Menschen voreinander in eine politische Form bringen. Er stifte Ordnung, indem er die wechselseitige Angst der Menschen minimiert. Das ermögliche eine widerspruchsfreie Ausübung von Freiheit, die über das Zwangsrecht und die Androhung des Todes im Fall des Rechtsbruchs vermittelt werde. Hier tritt nun das Paradox auf, das auch der oben zitierte Danilo Zolo thematisiert hatte. Der Leviathan kann die Angst nur minimieren, indem er selbst Angst macht. Für Hobbes ist hierbei aber wichtig, dass er dies mittels des Rechts tun soll, in dessen Grenzen negative Freiheit gesichert werde. Aufgrund dieser Auffassung von Freiheit als durch das Recht abgesicherter Willkürfreiheit ist Hobbes ein Gründungstheoretiker des Liberalismus (Owen 2005).

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Das bedeutet nicht, dass Hobbes vor allem liberal rezipiert wurde. Der Leviathan lieferte Anschlusspunkte für eine heterogene Rezeption (Parkin 2007). Mit Blick auf das hier interessierende Thema, den politischen Umgang mit Angst, lassen sich aus seiner Theorie mindestens zwei Modelle herauslesen. Aufgrund seiner eigenen rechtlichen Ungebundenheit lässt sich der Hobbessche Staat einerseits als ein autoritärer Maßnahmenstaat verstehen, der die soziale Angst zwar durch Abschreckung vor dem Rechtsbruch mindert, der aber seinerseits diffuse Angst verbreitet, da er als absoluter Souverän selbst nicht an das Recht gebunden ist. Andererseits sollte der Leviathan laut Hobbes aber gerade nicht als unberechenbarer Willkürstaat handeln. Hobbes forderte, der Staat solle die Sanktionen durch allgemeine Rechtsnormen berechenbar machen. Die Rechtsform politischer Herrschaft ermögliche negative Freiheit und sie verwandele diffuse Angst in konkrete Furcht, denn im Rechtsstaat können die Untertanen wissen, was sie tun dürfen und was nicht. In Hobbes’ Leviathan ist alles erlaubt, was nicht durch ein positives Gesetz verboten ist. Hobbes’ individualistische und unmoralische Staatsbegründung war revolutionär, da sie den Staat aus dem Interesse und der wechselseitigen Angst der Individuen hervorgehen ließ. Recht und Staat erschienen darin als Funktion vergesellschafteter, freier, gleicher und sich voreinander ängstigender Individuen. Damit konnte zwischen funktional notwendiger Abschreckungsgewalt im Dienste von Freiheit und Gleichheit sowie funktional überflüssiger Herrschaft unterschieden werden. Der Hobbessche Liberalismus der Furcht ließ sich mit der Idee der Demokratie verbinden. Diesen Schritt hat Judith N. Shklar vollzogen, auch wenn sie ihr Hobbessches Erbe verleugnete. Zudem verstand sie Liberalismus und Demokratie als zwei unterschiedliche Ordnungsideen, die begrifflich geschieden werden müssen. In der politischen Wirklichkeit gehören Demokratie und Liberalismus aber auch für Shklar zusammen. Das Ergebnis dieser Verbindung ist die liberale Demokratie, und deren normativen Sinn sollte ihr Liberalismus der Furcht ausbuchstabieren.

4 Shklars Liberalismus der Furcht Shklar grenzt ihren Liberalismus der Furcht von zwei anderen Formen des Liberalismus ab. Sie unterscheidet zwischen einem Liberalismus der Rechte, der eine liberale Ordnung durch Freiheitsrechte begründet sieht, und einem Liberalismus der Selbstvervollkommnung, der das Ziel der liberalen Ordnung darin sieht, den Individuen zur Selbstentfaltung und Perfektionierung zu verhelfen. Für Shklar (2013) haben sowohl perfektionistische Selbstentfaltung als auch Frei-

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heitsrechte eine große Bedeutung. Das Spezifische ihres Liberalismus der Furcht besteht jedoch darin, dass er eine liberale Ordnung auf einem anderen Wege rechtfertigt, und zwar auf der angeblich allen Menschen gemeinsamen Angst vor Grausamkeit.2 Wie Hobbes geht Shklar davon aus, dass es kein summum bonum gibt, das alle Menschen in gleichem Maße erstreben. Hingegen teilten die Menschen ein summum malum. Dieses höchste Übel, vor dem sie Angst haben und das sie vermeiden wollen, sei das Erleiden von Grausamkeit. Grausamkeit habe viele Gesichter. Zu ihnen zählen physische Verletzungen durch Gewalt, aber auch symbolische Verletzungen, zum Beispiel infolge demütigender verbaler Angriffe, oder institutionelle Diskriminierung. Das Ziel von Shklars Liberalismus der Furcht ist die Verhinderung aller aktuellen oder in Zukunft möglichen Formen angsterregender Grausamkeit. Eine liberale Ordnung zeichnet sich Shklar zufolge dadurch aus, dass sie die Angst vor Grausamkeit minimiert und den Opfern von Grausamkeit eine Stimme gibt. Shklar entwickelt damit Hobbes’ Ansatz der Rechtfertigung und rhetorischen Plausibilisierung einer liberalen Ordnung durch den Rekurs auf eine vermeintlich allgemein-menschliche Angst weiter. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Mittel, die sie in ihrem programmatischen Aufsatz zur Erreichung des Ziels der Minderung der Angst vor Grausamkeit vorschlägt, durchweg konventionell sind. Shklar beschränkt sich auf das bekannte Set liberal-demokratischer Institutionen und Praktiken. Hierzu zählen: Rechtsstaatlichkeit, Privateigentum, kapitalistische Marktwirtschaft und Machtteilung; Pluralismus, Toleranz und Meinungsvielfalt; eine repräsentative, konstitutionell beschränkte Regierung, die sich regelmäßig einem offenen (Parteien-)Wettbewerb stellen muss; eine aktive Zivilgesellschaft und eine politische Öffentlichkeit; die Minderung sozialer Notlagen durch den Wohlfahrtsstaat und moderate Umverteilung; sowie schließlich die Erziehung zur Demokratie. Auf der institutionellen und praktischen Ebene fügt Shklar der liberalen Demokratie und der mit ihr korrespondierenden bürgerlichen Gesellschaftsform keine neuen Institutionen und Verhaltensweisen hinzu, sondern gibt bereits existierenden Institutionen und Praktiken nur eine veränderte Deutung. Ihr Sinn sei die Minimierung der Angst vor Grausamkeit.

2Bülte

(2018) zeigt, dass Shklar universalistisch gemeinte Begründungsbemühungen skeptisch beurteilte und keine universalistische Fundierung einer liberalen Ordnung anstrebte. In meinen Augen spricht dennoch nichts dagegen, ihren Liberalismus der Furcht als ein Rechtfertigungsnarrativ für die liberale Demokratie zu betrachten. Im Gegensatz zu Bülte bezweifle ich, dass es Anknüpfungspunkte für eine zeitgemäße Herrschaftskritik anbietet.

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Aber wie sorgt das liberale Set von Institutionen dafür, dass Grausamkeit verhindert oder minimiert wird? Shklar äußert sich in ihrem klassischen Aufsatz dazu nicht in einer systematischen Weise. Man kann aber mit Thomas H. Marshalls klassischer Trias der Rechte eine Auslegung vornehmen, die dem nahe kommen dürfte, was Shklar im Sinne hatte. Thomas H. Marshall (1992) unterschied drei Typen von Rechten, die in liberalen Demokratien zur Geltung kommen: negative Schutz- und Abwehrrechte, politische Partizipationsrechte und soziale Teilhaberechte. Mit Shklars Liberalismus der Furcht kann man diesen Rechten und den durch sie geschaffenen Institutionen den folgenden Sinn geben. Die Schutz- und Abwehrrechte, die das Individuum vor dem Staat, aber auch vor den Mitbürgern schützen, sollen dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger sicher sein können, dass weder die Staatsgewalt noch die Mitbürger illegale Grausamkeiten begehen. Die demokratischen Partizipationsrechte wiederum sollen ihnen ermöglichen, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und mitzubestimmen, welche Angst machenden Grausamkeiten wie vom Staat beseitigt werden sollten. Die sozialen Teilhaberechte schließlich haben dafür zu sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht aufgrund einer prekären sozio-ökonomischen Lage fremdbestimmt handeln müssen, wodurch sie zum ­ Opfer institutioneller oder persönlicher Grausamkeit werden können, etwa weil sie sich aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit nicht von einem gewalttätigen Beziehungspartner oder von einer despotischen Vorgesetzten trennen können. Dieses Set an Rechten und die durch sie geschaffenen Institutionen führen nicht dazu, dass in einer liberalen Demokratie niemand Angst haben muss. Deutet man sie aber im Sinne des Liberalismus der Furcht, ist mit ihnen das Versprechen verbunden, dass durch sie diffuse Angst in politisch kontrollierbare und persönlich erträgliche Furcht verwandelt werden kann. Der Shklar-Interpret J­ an-Werner Müller (2019, S. 147) geht sogar noch weiter, wenn er behauptet: „Rechte schützen den Einzelnen und eröffnen furchtfreie Räume.“ Diese Formulierung ist allerdings irreführend, denn sie überdeckt die Dialektik des Rechtsstaats, die bereits Hobbes herausgearbeitet hatte. Der Rechtsstaat minimiert diffuse Angst dadurch, dass er Furcht institutionalisiert.3

3Eine

weitere Eigenheit des Rechtsstaats, die sowohl von Müller als auch von Shklar nicht hinreichend beachtet wird, ist dessen „scheinbare Unparteilichkeit“; infolge der nur formalen Rechtsgleichheit verschleiert der Rechtsstaat die Asymmetrie der Machtverhältnisse und die Dominanz von ressourcenstarken Gruppen und Personen (Scheuerman 2019, S. 104 f.). Müller meint, dieses Problem könne durch die Demokratisierung des liberalen

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Shklar betont, dass Rechte zur Minderung von Angst vor Grausamkeit notwendig sind. Aber sie setzt nicht nur auf die angstmindernde Funktion gesicherter Rechte und entsprechender Institutionen. Im Unterschied zu Hobbes und anderen Liberalen, die im Paradigma des Rechts denken, hebt sie die Bedeutung der Tugenden der Einfühlung und des Perspektivenwechsels hervor. Diese sollen für eine stetige und umfassendere Erweiterung des Sinns für Grausamkeit sorgen, damit bisher unberücksichtigte Erfahrungen von Grausamkeit entdeckt werden können. Hierfür seien vor allem Empathie, die Fähigkeit des Perspektivenwechsels und das Erzählen von Geschichten wichtig, in denen die Opfer von Grausamkeit eine Stimme erhalten und mittels derer die soziale Distanz zwischen Menschen überwunden werden kann. Vor allem soziale Distanz sorge dafür, dass wir gegenüber den Erfahrungen von Demütigung, Grausamkeit und Ungerechtigkeit blind sind, die diejenigen machen, denen wir uns nicht verbunden fühlen. Deshalb betont auch Jan-Werner Müller (2019, S. 83), es gelte, „vor allem denen, die sich als benachteiligt betrachten, genau zuzuhören“. Müller (2019, S. 147) hebt die Bedeutung von „Sensibilität“ hervor, und er formuliert „die konkrete Aufforderung, erst einmal den Opfern zuzuhören“, damit deren Gründe, die sie für die Behauptung vorbringen, sie würden grausam behandelt, anschließend in einem Prozess öffentlicher Deliberation geprüft werden könnten (Müller 2019, S. 138).

5 Das Veralten des Liberalismus der Furcht Der demokratische Liberalismus der Furcht, wie Shklar und Müller ihn propagieren, ist ein attraktives Ideal. Er scheint deshalb als ein Rechtfertigungsnarrativ für die liberal-demokratischen Institutionen geeignet zu sein. Allerdings ist der Liberalismus der Furcht zugleich auch ein wirklichkeitsfernes, veraltetes Ideal. Der Grund dafür ist die Erosion liberaler Demokratien (auf die zeitgenössische Liberale oftmals nicht hinreichend eingehen). Ich will diese These

Rechtsstaats behoben werden. Im folgenden Abschnitt werde ich argumentieren, dass die Empirie gegen diese optimistische Sicht auf die liberale Demokratie spricht. Eine weitergehende, hier nicht zu behandelnde Frage ist, ob das Problem einer Dialektik geschuldet ist, die den liberalen Institutionen selbst innewohnt (so Michéa 2014) oder historischkontingente Gründe hat (so Rorty 1992).

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mit Blick auf zwei problematische Transformationen westlicher Demokratien (Puhle 2016) begründen. Erstens hat sich das bereits von John Dewey beobachtete Problem der Desorientierung der Öffentlichkeit verschärft. Die Gesellschaft wird zunehmend unübersichtlich, da sich die Handlungsketten zwischen den Menschen verlängern, schneller ablaufen und komplizierter werden. Das führt zur Desorientierung und zur Zunahme von diffuser Angst. Bei einem größer werdenden Teil der Bevölkerung wird diese Angst jedoch nicht in konkrete Furcht verwandelt. Die liberalen Institutionen versagen zusehends bei der Erfüllung der ihnen vom Liberalismus der Furcht zugedachten Funktionen. Die Anhänger des Liberalismus der Furcht hoffen, in der bürgerlichen Öffentlichkeit könnten sich die Bürgerinnen und Bürger wechselseitig aufklären, rational über Probleme verständigen, die soziale Distanz zwischen sich überwinden und sich in fremde Verletzungserfahrungen einfühlen. Diese Hoffnung auf ein sich selbst aufklärendes, empathisches Publikum erfüllt sich jedoch nur begrenzt. Die liberale Öffentlichkeit ist in hohem Maße eine Sphäre der Manipulation, der Desinformation, der Rationalisierung und der Ignoranz (Rosenberg 2017). Beispielsweise sind die grausamen Arbeitsbedingungen, denen die von Müller (2019, S. 101) erwähnten „Amazon-Lageristen“ unterworfen werden, kein Geheimnis, und es gibt gute Gründe für die Ansicht, dass diese Menschen nicht selbst schuld an ihrer Situation sind, dennoch finden diese Gründe in unserer liberalen Öffentlichkeit wenig Gehör und haben nur geringen politischen Einfluss. Die von Shklar und Müller geforderte Perspektivenübernahme und das wechselseitige Verstehen in der Öffentlichkeit werden zudem durch das Problem der ungleichen Verteilung politischen Wissens erschwert, das man als politische Kognitionsasymmetrie bezeichnen kann. Sie stellt ein schwerwiegendes Problem dar. Denn während die Untertanen des Hobbesschen Leviathan abgesehen vom Inhalt der Gesetzesbefehle des Souveräns nichts von Politik verstehen müssen und auch die Lebensumstände ihrer Mituntertanen nicht zu kennen brauchen, gehört eine relativ hohe und zugleich egalitäre Verteilung politischen Wissens zu den Voraussetzungen demokratischer Vergemeinschaftung und Legitimation. Und auch der Liberalismus der Furcht setzt voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger voneinander und insbesondere von fremden Lebensumständen und Problemen wissen. Tatsächlich sind, wenn es um das Wissen über politische Problemlagen, über politische Institutionen und politische Themen geht, die beiden genannten Kriterien (eine hohe und egalitäre Verteilung von Wissen und von kognitiven Kompetenzen) nicht erfüllt (Westle 2012). Politisches Wissen ist in der Bürgerschaft weder hoch noch gleichverteilt. Converse (2000, S. 331, eigene Über-

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setzung) bringt das auf die folgende Formel: „[D]as durchschnittliche Niveau [des politischen Wissens] ist sehr niedrig, aber die Varianz ist sehr hoch.“ Die zunehmende Kognitionsasymmetrie und das Wissensdefizit der Bürgerschaft sind jedoch nicht nur für den Liberalismus der Furcht ein Problem, der in dieser Hinsicht anspruchsvoll ist und ein wechselseitiges Verstehen sowie die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme in der Bürgerschaft erfordert. Sie falsifizieren auch minimalistische Theorien der Demokratie, die von den Bürgerinnen und Bürgern ‚nur‘ annehmen, dass diese Regierungen im Lichte von deren Leistungen und Entscheidungen in einer Amtsperiode beurteilen, verantwortlich machen und bei der nächsten Wahl folgerichtig, d. h. zweckrational abstrafen oder bestätigen können. Selbst Schumpeter (1972, S. 467) betonte, dass in seinem Modell der demokratischen Elitenauslese die „Wählerschaft“ (und die Parlamentarier) auf einem „genügend hohen intellektuellen und moralischen Niveau stehen“ müssen. Im Lichte jüngerer Forschung über die Rationalität der Wahlentscheidung kann man bezweifeln, ob diese Voraussetzung gegeben ist, kommt jene Forschung doch zu dem Ergebnis, dass Wahlentscheidungen in hohem Maße von Kurzsichtigkeit, Fehlurteilen, Wissensdefiziten, Gruppendenken und Rationalisierungen geprägt sind (Bartels und Achen 2016). Sozialstrukturell und hinsichtlich der Klassenlage kommen hierbei gewiss verschiedene habituelle Dispositionen und ungleiche Zugangsmöglichkeiten zu Wissen ins Spiel. Und wer über Macht und Geld verfügt, kennt zumeist auch die eigenen Interessen samt der Wege zu ihrer Durchsetzung. Die Tendenz, um die es mir an dieser Stelle geht, ist allerdings die folgende: Wer nicht professionell mit Politik befasst ist oder direkt an ihr teilnimmt, verfügt über nur wenig allgemeines Wissen über deren Prozesse, Inhalte und Folgen. Und selbst direkte Teilnahme an oder professionelle Beschäftigung mit Politik sorgen nicht dafür, dass zentrale Institutionen und Abläufe verstanden werden, da sich das Engagement zumeist auf eine konkrete policy und bestimmte Themenfelder beschränkt, wohingegen sich der allgemeine Zusammenhang des politischen Prozesses der Anschauung entzieht. Man mag sich vor diesem Hintergrund fragen, wie viele Bundestagsabgeordnete, Politikwissenschaftlerinnen und Journalisten den politischen Prozess, auch im Zusammenspiel mit der multi-level-governance in der Europäischen Union, im Ganzen verstehen. Und wie viele Bürgerinnen und Bürger könnten beispielsweise die Inhalte der „Rettungsmechanismen“ EFSM, EFSF und ESM erläutern oder einigermaßen zutreffend zusammenfassen, welche Gesetzesänderungen und Reformvorhaben die Große Koalition in dieser Legislaturperiode durchgeführt hat? Das Problem mangelnden politischen Wissens wird dadurch verschärft, dass mit der sozialen Komplexität die politische Komplexität ansteigt, auch in Reaktion auf jene soziale Komplexität, wodurch die kognitiven Anforderungen

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an die Bürgerschaft nochmals erhöht werden (Greven 2020, S. 167 ff.). Politik differenziert sich zunehmend aus und findet unter Beteiligung einer immer größeren Zahl politischer Akteure in heterogener werdenden Arenen und Politikfeldern statt. Zu diesen gehören Parteieliten und Berufspolitikerinnen, Bürokraten, Soziale Bewegungen, Aktivisten, NGOs, Berater, Lobbyisten, Journalisten, Expertinnen, Gerichte, Expertenkommissionen, „Runde Tische“ und partizipierende Bürgerinnen und Bürger. Politik wird netzwerkförmiger und ist oftmals charakterisiert durch Verhandlungen über nationale Grenzen hinweg, die auf unterschiedlichen politischen Ebenen stattfinden, etwa im Rahmen von transnationalen Regimen und in der Europäischen Union. In diesem Kontext sind politische Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen für normale Bürgerinnen und Bürger nur schwer richtig zuzuordnen; diese Aussage gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sie nur über geringes politisches Wissen verfügen. Politik wird situativer, informaler, opak und verwirrend – zumindest erscheint es den Normalbürgerinnen und -bürgern so. Sie verlieren den Überblick und bemerken dies auch selbst. Die Ergebnisse des politischen Prozesses müssen ihnen als das Resultat eines undurchsichtigen Machtspiels von Insidern oder als die Folge eines Krisenmanagements im Modus des Durchwurschtelns vorkommen – und nicht als planvolle und zweckrationale Verwirklichung demokratisch entschiedener Ziele. Welche Folgen das für die Legitimität der Demokratie hat, sieht man an der Deutung der sogenannten Flüchtlingskrise, aber auch an der Wahrnehmung des Umgangs mit der Euro- und Finanzkrise, und hier insbesondere der Maßnahmen zur Banken- und Kapitalrettung. Auch die Konjunktur von Verschwörungstheorien und der Erfolg der populistischen Simplifizierungsstrategie haben mit diesem zunehmend opak wie exklusiv anmutenden Charakter der Politik zu tun. Diesem Wandel der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung entspricht auf der Ebene des Rechtsstaats die Ausbreitung weichen Rechts, welches unbestimmte Rechtsbegriffe enthält und den Ermessenspielraum der Exekutiven erweitert (Frankenberg 2010). Es erhöht die Rechtsunsicherheit derjenigen, die sich gegenüber den Verwaltungsapparaten nicht zu wehren wissen. Zweitens werden infolge der postdemokratischen Schwächung der demokratischen Institutionen (Crouch 2008) ressourcenstarke politische Gruppen und Verbände begünstigt. Dies ist eine zweite folgenreiche Veränderung l­iberal-westlicher Regime, die gewiss nicht unabhängig von der oben beschriebenen Kognitionsasymmetrie ist, aber analytisch getrennt von ihr betrachtet werden kann. Sie hat zur Folge, dass die politische und soziale Ungleichheit in der Bürgerschaft zunimmt. Infolge der partizipatorischen Revolution der letzten Jahrzehnte (Kaase 1984) lässt sich zwar die Zunahme

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direkter Bürgerbeteiligung beobachten, doch diese wird von der akademischen Mittel- und Oberklasse dominiert. Die Ungebildeten, Schwachen und Armen beteiligen sich selten, sei es in der Öffentlichkeit, sei es bei der Wahl, und in der Folge werden zunehmend politische Entscheidungen getroffen, die nicht in ihrem Sinne sind (Schäfer 2015). Hingegen gewinnen diejenigen, die über mehr Machtmittel als nur den Wahlzettel verfügen, an politischem Einfluss. Beispielhaft zeigt sich dies in Deutschland an der „Berateraffäre“ im Verteidigungsministerium sowie anhand der „Konsultationen“ von Wirtschaftskanzleien und Banken bei der Erstellung finanzpolitischer Gesetzesvorlagen; in den USA wird es durch die Ausweitung der Möglichkeit zur Finanzierung politischer Kampagnen für ressourcenstarke (aber mitgliederschwache) Lobbyorganisationen infolge der ­citizens-united-Entscheidung des obersten Verfassungsgerichts illustriert. Die institutionellen Schranken zwischen den happy few und der Politik sind poröser geworden. So hat das Wachstum des Reichtums der oberen Zehnprozent mit ihrem gewachsenen Einfluss auf die Politik zu tun, der empirisch gut belegt ist (Elsässer et al. 2017). In den liberalen Demokratien entstand ein sich selbst verstärkender Zirkel von sozialer und politischer Ungleichheit. Die Sinndeutung der politischen Gemeinschaft als einer Gemeinschaft gleicher Bürgerinnen und Bürger wird unplausibel und die soziale Distanz in der Bürgerschaft nimmt zu. Zumindest einem Teil der Bürgerschaft muss das Versprechen, die Politik führe zu einem Zustand, in dem man „ohne Angst verschieden sein“ kann, unglaubwürdig oder gar verlogen vorkommen.

6 Rechtspopulismus als Illiberalismus der Furcht In den liberalen Demokratien verschlechtert sich damit die Aussicht, dass diffuse soziale Angst in konkrete, politisch kontrollierbare und persönlich erträgliche Furcht verwandelt wird – jedenfalls für die gesamte Bürgerschaft. Die Funktion der Minderung von Angst vor Grausamkeit wird von den liberalen Institutionen verstärkt sozial selektiv erfüllt, denn nicht alle sind in gleichem Maße von sozialer Unsicherheit, der Schwächung demokratischer Institutionen und der Aufweichung des Rechtsstaats betroffen. Abstiegsangst und Arbeitsplatzunsicherheit, die Betroffenheit von Kriminalität, Krankheit und psychischen Problemen, die Demütigung am Arbeitsplatz, bei den Behörden und in der statusfixierten Öffentlichkeit sowie die Angst vor Repressionen der Staatsgewalt konzentrieren sich bei den Armen, Ungebildeten und Schwachen, während die Vorzüge der liberalen Institutionen – Rechtssicherheit, politische Beteiligung, soziale Sicherheit und wohlfahrtsstaatliche Leistungen – vornehmlich den Reichen,

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Gebildeten und Starken zugutekommen. Die Folge hiervon ist die Entstehung von Legitimationskrisen in den liberalen Demokratien, die sich zunehmend rechtspopulistischen Revolten ausgesetzt sehen. Der Aufstieg des Rechtspopulismus lässt sich in nahezu allen liberalen Demokratien beobachten. Es bestehen beachtliche Unterschiede zwischen den Rechtspopulisten, dennoch kann man ein Muster beobachten: Der Rechtspopulismus propagiert einen Illiberalismus der Furcht, der eine Alternative zum Liberalismus der Furcht darstellt. Er setzt auf ein starkes Durchregieren einer Regierungszentrale, die den vermeintlichen Volkswillen umsetzt, beschwört die ethnische Homogenität des Volkes – als einen symbolischen Ersatz für die schwindende soziale Sicherheit – und setzt verstärkt auf eine sozialprotektionistische Agenda (Jörke und Nachtwey 2016, mit weiteren Verweisen). Außerdem fordert er mehr law and order und einen stärkeren Sicherheitsstaat, der die imaginierte nationale Gemeinschaft vor tatsächlichen oder vermeintlichen Fremden schützt. Die soziale Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Politik kontert er mit einer Vereinfachungsstrategie, indem er einfach verständliche Lösungen anbietet. Insgesamt zielt er auf die Wiederherstellung eines angeblich einstmals goldenen Zeitalters der Vergangenheit. Seine Parole lautet: „Zurück zu sicheren Verhältnissen“. Dies stößt auf Zustimmung, die durch Ethnozentrismus und Xenophobie motiviert ist. Der Aufstieg des rechtspopulistischen Illiberalismus der Furcht hat aber auch etwas damit zu tun, dass ein nicht geringer Teil der Bürgerinnen und Bürger die Erosion der Demokratie als eine Zunahme von Unsicherheit und diffuser Angst erlebt, die der Verselbstständigung der liberalen Elemente der Demokratie geschuldet ist. Einige von ihnen suchen deshalb bereits nach Alternativen – und manche finden sie im Repertoire der illiberalen Politikmodelle der Vergangenheit. Ob ihnen Shklars Liberalismus der Furcht, eine alte Idee aus der Endphase des Kalten Krieges, als die bessere Alternative historischer Politikformen schmackhaft gemacht werden kann? Jan-Werner Müller (2019, S. 151) schließt sein Plädoyer für einen zeitgenössischen Liberalismus der Furcht jedenfalls mit dem hoffnungsvollen Satz: „Vermachtete Märkte und oligarchische Formen des Rentierskapitalismus sind Herausforderungen, auf die auch der Liberalismus der Furcht antworten kann – aber nur, wenn man sich die Mühe macht, das Spezifische an der Gegenwart zu verstehen.“ Es mag dahingestellt bleiben, ob der Liberalismus der Furcht ein taugliches Mittel gegen einen oligarchischen Kapitalismus sein kann, den auch Müller mittlerweile als einen Grund für den Aufstieg des Rechtspopulismus erkannt hat. Fraglich ist jedenfalls, ob er auch auf die Postdemokratie, die Kognitionsasymmetrie und die zunehmende politische Komplexität eine Antwort anbietet. Die Anhänger des Liberalismus der Furcht

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scheinen die Schwere dieser neuartigen Herausforderungen zu bemerken, aber in Reaktion auf sie fällt ihnen nicht mehr ein als die Bekräftigung eines zusehend anachronistisch werdenden Sets liberaler Institutionen, das sie den glorreichen Zeiten der erstarkenden Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablesen. Das verbindet sie mit den Rechtspopulisten, denn sowohl die Rechtspopulistinnen als auch die antipopulistischen Liberalen begegnen den Herausforderungen der Gegenwart mit rückwärtsgewandten Rezepten. Diese rückwärtsgewandte Orientierung ist durchaus folgerichtig, denn der Liberalismus der Furcht setzt funktionierende demokratische Institutionen und vitale liberale Tugenden voraus. Das „Spezifische an der Gegenwart“ besteht darin, dass diese beiden Voraussetzungen nicht mehr als gegeben unterstellt werden können. Sie müssten wiederhergestellt werden, es ist aber nicht zu sehen, wie dies durch eine bloße Affirmation des Ideals liberaler Demokratie gelingen könnte. Die Bekräftigung der Vorzüglichkeit liberaler Demokratie, die sich nicht nur in demokratietheoretischen Traktaten, sondern auch in öffentlichen Stellungnahmen von Politikerinnen und Politikern und im Rahmen von PR-Aktionen wie der im letzten Jahr großflächig in Deutschland plakatierten Kampagne „Wir sind Rechtsstaat“ findet, ist jedenfalls kaum geeignet, diejenigen für die Demokratie zurückzugewinnen, die sich bereits von ihr verabschiedet haben. Im Kontext einer politischen Wirklichkeit, die sich diesem Ideal nicht fügen will, wird die bloße Bekräftigung des Ideals liberaler Demokratie die Krise der Demokratie nicht überwinden (Jörke und Selk 2015).

7 Schluss Wie könnte eine Alternative zum rückwärtsorientierten politischen Denken aussehen? Der eingangs zitierte John Dewey repräsentiert einen anderen Ansatz im Umgang mit der Herausforderung von politischen Institutionen. Da Dewey für die Übertragung der experimentellen Methode der Naturwissenschaft auf das politische Leben mittels demokratischer Reformen plädierte, kann sein politisches Denken auch als „demokratischer Experimentalismus“ bezeichnen werden (Brunkhorst 1998). Dewey argumentierte, dass politische Institutionen stets einer Überprüfung unterzogen werden müssen. Andernfalls gerate aus dem Blick, wenn sie neuartigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind. Ist dies der Fall, müssten sie experimentell verändert werden. Für Dewey war die Angst vor einer kritischen Prüfung und experimentellen Reform von überlieferten Institutionen ein Hemmnis des politischen Fortschritts. Er schrieb:

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V. Selk „Die Menschen haben sich in physikalischen und technischen Dingen an die experimentelle Methode gewöhnt. In menschlichen Angelegenheiten fürchten sie diese noch immer. Die Angst ist umso wirkungsvoller, weil sie – wie alle tiefsitzenden Ängste – von allen möglichen Arten der Rationalisierung verdeckt und verkleidet wird. Eine ihrer häufigsten Formen ist die wahrhaft religiöse Idealisierung und Verehrung etablierter Institutionen, in unserer eigenen Politik zum Beispiel der Verfassung, des Obersten Gerichtshofs, des Privateigentums, der Vertragsfreiheit und so fort.“ (Dewey 1996, S. 144 f.)

Hinter der Renaissance des Liberalismus der Furcht steckt nicht nur die Angst vor der nachhaltigen Erosion der liberalen Demokratie. Im Liberalismus der Furcht kehrt auch die von Dewey kritisierte „Idealisierung und Verehrung“ von Institutionen wieder, die dadurch einer kritischen Prüfung entzogen werden. Aus der Perspektive von Deweys Experimentalismus betrachtet, haben politische und soziale Institutionen jedoch „nichts Heiliges an sich. Diese Dinge sind Instrumente“ (ebd., S. 126). Wenn sich die Bedingungen der Politik verändert haben, sollten sie kritisch geprüft und experimentell verbessert werden. Die rückwärtsgewandte Blickrichtung des Liberalismus der Furcht liefert hierfür keine Orientierungshilfe.

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Veith Selk, Dr. phil.;  wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt; Arbeitsschwerpunkte: Demokratietheorie; Populismus; Angst und Politik.

Zur Pathogenese politischer Apathie. Neurotische Angst und politische Regression im Spätwerk Franz L. Neumanns Stefan Vennmann Angst [ist] ein durch Einfalt und Unwissenheit geschaffener Existenzzustand (Neumann 1953, S. 120)

1 Einleitung Angst und politische Regression gehen gegenwärtig eine toxische Symbiose ein. Ihr realpolitisches Resultat, das sich als autoritärer Populismus global beobachten lässt, formiert sich gegen die Errungenschaften der Moderne – Freiheit und Gleichheit –, obwohl gerade die vermeintliche Reconquista dieser Werte die populistischen Banner schmückt. Die Kritik an autoritären Formationen bleibt aber oft bei der Beobachtung von Oberflächenphänomenen (Geiselberger 2017; Jörke und Selk 2017, S. 91 ff.; von Beyme 2018, S. 105 ff.) und Narrativen (Müller und Precht 2019) stehen. Die Dechiffrierung der politikund gesellschaftstheoretischen Implikationen wird ebenso selten behandelt wie die theoretische Reflexion über die Relevanz der Mobilisierung sozialer Ängste zu politischen Zwecken. Eine Theorie der Angst scheint meist nur kontextualisierende Notwendigkeit zu sein, um empirische Analysen voranzutreiben (Dehne 2017). Eine Ausnahme bilden Veith Selks Publikationen zur politischen Ideengeschichte (2016) und Funktion der Angst (2011). Letztere nimmt kurz Bezug auf Franz L. Neumanns Vortrag Angst und Politik, ohne ihn S. Vennmann (*)  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_4

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detaillierter zu beachten (ebd., S. 26). Dieser nahezu unbeachtete Versuch einer materialistischen, politischen Theorie der Angst, den Franz L. Neumann (1954a) unternahm, um die regressiven Tendenzen in der Nachkriegsgesellschaft zu analysieren, soll folgend im Zentrum der Rekonstruktion stehen. Als an politischer Realität und Entwicklung regressiver Gesellschaftsstrukturen orientierter Theoretiker, der auf das dialektische Verhältnis von Angst und Politik deutlich verweist, war Neumann in seinen Analysen auf konkrete, politische Phänomene konzentriert, die auch für die Gegenwart relevant sein können. Der Behemoth, Neumanns opus magnum zum Nationalsozialismus, zeichnet sich trotz der Diagnose der Totalität der deutschen Gesellschaft durch die Analyse politischer Konstellationen und Konflikte innerhalb von Staat, Partei und Bewegung seit der Weimarer Republik bis zum nahenden Ende des Krieges aus (Neumann 1998, S. 90 ff.). Den Akteuren attestiert Neumann (ebd., S. 533), selbst wenn er den Nationalsozialismus in toto als antirationalen, antipolitischen Unstaat analysiert, einen genuin politischen Charakter: „Die Totalität des Nationalsozialismus wird realisiert von der totalen Bewegung, d. h. von der Partei, die wiederum ausschließlich repräsentiert wird durch den totalen Führer. Die Bewegung handelt durch den Führer, der von der Volksidee durchdrungen ist. Der Führer repräsentiert das Volk. Die totale Bewegung wird aufgefaßt als die dynamische Kraft, die gegen die statische Kraft der Staatsmaschine zu stehen kommt.“ (Neumann 1980, S. 343)

Die theoretische Perspektive auf politische Akteure ist der Konvergenzpunkt, an dem Behemoth und Spätwerk amalgamieren. Jene Bewegungen besitzen genuin politischen Charakter und müssen daher, so Neumann, auch in ihren Forderungen ernstgenommen, analysiert und kritisiert werden. Zwar konstatiert er, „daß jedes politische System auf Angst basiert“ (Neumann 1954a, S. 282, H.i.O.), allerdings sei zu differenzieren, dass Demokratien in der Tendenz bestrebt sind, die Ängste ihrer Bürger rational zu minimieren, während Autoritarismen auf einer irrationalen Stabilisierung von Angst beruhen. Neumann weist aber darauf hin, dass Demokratien nicht vor solchen politischen Irrationalitäten gefeit sind, sondern durch ihren relativen Pluralismus – als Schreckensszenario bezieht sich Neumann (1980, S. 318 ff.) auf Weimar – immer auch die Gefahr zum Rückfall ins Autoritäre enthalten. Folgend wird der Versuch unternommen, diese auf der Stabilisierung von Angst beruhenden Strukturen zu untersuchen und Angst als politiktheoretischen Begriff zu rahmen. Das Phänomen, das Neumann politische Apathie nennt, ist die zentrale Schwierigkeit, die die moderne Demokratie in ihrer potenziellen Gewährleistung politischer Freiheit tangiert. Probleme ökonomischer Monopolisierung,

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undurchsichtig erscheinende Praxis demokratischer Politik und die negativen Auswirkungen des Kapitalismus lassen für Neumann (1950, S. 378) keinen Zweifel daran, dass individuelle Versuche politischer Veränderungen nahezu hoffnungslos scheinen. Um den Gründen irrationaler, neurotischer Ängste und deren politischer Instrumentalisierung nachzugehen, soll Neumanns (1954a, S. 264) eigener Methodik gefolgt werden, nach der er zunächst „eine saubere Scheidung“ zentraler Begriffe vornimmt. Alsdann wären die voneinander geschiedenen Begriffe „wieder zusammenzubringen“ (ebd., S. 264), um das Verständnis des komplexen Phänomens politischer Entfremdung zu konturieren. Diese ist das Resultat einer dialektischen Beziehung zweier anderer Entfremdungsformen, die Neumann (ebd., S. 265, 281) mit Marx1 als soziale, mit Freud als psychische Entfremdung versteht. Beide bringen Angstphänomene hervor, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst begründet sind. Da Neumann aufgrund seines plötzlichen Unfalltodes 1954 nur Fragmente einer politischen Theorie der Angst hinterlassen hat, soll folgend durch die Fokussierung auf den Begriff der psychischen Entfremdung die Grundlage für ein tieferes Verständnis politischer Apathie und deren repressiven Mobilisierungspotenzials geschaffen werden.

2 Die Wurzeln politischer Apathie Neumanns am Institut für Sozialforschung sowie beim Office of Strategic Services (OSS) verfasste Analysen bilden die Wurzeln seines Begriffs politischer Apathie. Wie vielen Exilintellektuellen nötigten ihm die Verbrechen der Nazis eine theoretische wie politische Transformation des Denkens ab. Zum Verständnis regressiver Tendenzen in der Demokratie geht Neumann (ebd., S. 277) von Deutschland als „Land der Entfremdung und der Angst“ aus, da er den Übergang von Weimar zum Nationalsozialismus und die Zerstörung demokratischer Institutionen als Resultat politischer Apathie nach dem Ersten Weltkrieg deutet. Diese Situation hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg kaum verändert, wie Neumann (1946, S. 767 f.) an Horkheimer schreibt:

1Neumann

bezieht sich hier auf Marx‘ Entfremdungskritik der Manuskripte (Marx 1968, S. 517 f.). Demnach werde die Masse respektive das Proletariat bewusst von politischen Agitatoren und Kapitalisten manipuliert, um deren persönliche und ökonomische Macht auszubauen. Diese Interpretation wurde für die abstrakte Herrschaft des Kapitals als unangemessen beschrieben (Postone 2003, S. 240 ff.; Jaeggi 2016, S. 47 f.).

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S. Vennmann „Deutschland heute ist schlimmer als 1945. Man hat das Gefühl der völligen Hoffnungslosigkeit und der totalen intellektuellen und politischen Stagnation. 1945 konnte man noch annehmen, daß vielleicht etwas neues wachsen würde – 1946 findet man nur noch altes, das sehr vermodert ist.“

Politische Apathie ist die Reaktion auf entfremdete ökonomische, psychische und politische Strukturen, die der Dynamik des Kapitals immanent sind. Das „Destruktive, Angsterzeugende ist gerade die Machtlosigkeit des Einzelnen, der sich der technologischen Apparatur einzufügen hat“ (Neumann 1954a, S. 280). Die Destruktivität der Verhältnisse bedingt politische Apathie, die durch Desinteresse und Ablehnung demokratischer Praxis und Hinwendung zu Alternativen autoritärer Provenienz zum „Wegbereiter des autoritären Staates“ (Neumann 1950, S. 379, H.i.O.) heranwächst. Neumann ist bestrebt, eine politiktheoretische Analyse des Verhältnisses von Angst und deren Mobilisierungsmacht für autoritäre Politik zu leisten, um die „wachsende Relevanz von Indoktrination als Mittel politischer Herrschaft“ und die „Anfälligkeit für die demagogische Manipulation von Angst“ (Pross 1967, S. 22 f.) zu verstehen. Er stellt die These auf, dass politische Apathie einerseits zwar aus der gesellschaftlichen Totalität der ökonomischen Verhältnisse heraus bestimmt, andererseits aber auch als Resultat der geschickten, massenpsychologischen Agitation verstanden werden muss, die die realen Ängste der Einzelnen auf neurotische Weise politisch kanalisiert. Die „Apathie der Massen […] überlässt das politische Feld entschlossenen Minderheiten, die nicht unbedingt die unbewussten Wünsche der Masse zum Ausdruck bringen“ (Neumann 1944, S. 543). Dieser Tendenz zur Politisierung der Angst soll im Werkkontext Neumanns nachgegangen werden. Neumann (1998, S. 129) leistet im Behemoth keine sozialpsychologische Analyse, sondern beschreibt lediglich, dass politische Apathie als „vollkommen irrationaler[r] Glaube […] in Situationen auf[tritt], die der Durchschnittsmensch nicht verstehen und rational erfassen kann. Nicht die Angst allein treibt die Menschen in die Arme des Aberglaubens, sondern das Unvermögen, die Ursachen ihrer Hilflosigkeit, ihres Elends und ihrer Erniedrigung zu erkennen.“

Hier führt er die Irrationalität und mangelnde Reflexivität der Massen noch unbegründet auf eine Bindung an eine charismatische Führerfigur im Sinne Max Webers Herrschaftstypologie zurück. Erst im Spätwerk wird Neumann konkreter. In Zum Begriff der politischen Freiheit zeigt er, dass es sich bei Angst um ein für die Kulturentwicklung konstitutives Moment handelt, das bei Nichtbewältigung politische Regression

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und Identifizierung mit autoritären Führerfiguren generiert. Ausgehend von Angst als der „fundamentalen Voraussetzung“ (Neumann 1953, S. 120) politischer Regression, konstituiert sich autoritäre Herrschaft. Sofern Angst politisch kanalisiert wird, befördert sie nicht nur das Bedürfnis nach Identifizierung, sondern die „völlige Aufhebung der Freiheit im Totalitarismus“ (ebd., S. 120). Um die Herrschaft der Angst zu verstehen, entwickelt Neumann aus Freuds Massenpsychologie und einer daraus folgenden – aber implizit bleibenden – Kritik an Carl Schmitt eine politische Theorie der Angst.

3 Notizen zur Theorie der politischen Apathie Die politische Bedeutung der Angst, die in systematisch Prekarität produzierenden Verhältnissen begründet ist, schlägt sich insbesondere in der Psyche der Subjekte nieder (Neumann 1954a, S. 265), in der soziale und psychische – Neumann nennt sie philologisch inkorrekt psychologische (Gottschalch 1984, S. 131) – Entfremdung zu einem dialektischen Komplex geronnen sind. Neumann geht davon aus, dass Angst unterschiedliche Folgen haben kann, von denen aber nur eine den Weg zur politischen Apathie ebnet. Angst kann erstens eine Schutzfunktion besitzen, die es den Menschen erlaubt Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen. Zweitens kann sie eine neurotische, destruktive Wirkung entfalten, die zur Paralyse und dem Glauben an die Unfähigkeit des Widerstands gegen die angsterzeugenden Verhältnisse gedeiht. Drittens kann Angst einen kathartischen Effekt haben, der in Überwindung der Angst die Menschen zur freien Entscheidung befähigt. Wie diese Überwindung genau von Statten gehen soll, lässt Neumann offen, es lässt sich aber davon ausgehen, dass hier Adornos (1951a, S. 116) Gedanken gefolgt wird, nach dem die freie Gesellschaft als Zustand zu denken ist, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“. In der gesellschaftlichen Konstellation, die er beobachtet, hält Neumann diesen kathartischen Effekt der Angst allerdings für utopisch. Um die politische Regression durch Angst zu analysieren, rekurriert Neumanns politische Theorie auf ein psychoanalytisches Verständnis neurotischer Angst. Die Genese politischer Apathie hat in der Realangst vor der Übermacht der gesellschaftlichen Verhältnisse ihr Fundament, die vice versa zur Steigerung neurotischer Ängste führen. Während bei Neumann (1954a, S. 266) die „äußeren Gefahren, die einem Menschen drohen“ eher in der Bedrohung der ersten Natur – Gefahr für Leib und Leben – zu suchen sind, der mit der Zunahme gesellschaftlicher Naturbeherrschung beizukommen wäre, wurzeln neurotische Ängste in

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der Realität der zur zweiten, sozialen Natur geronnenen Verhältnisse, die stetig gesellschaftliche Katastrophen produzieren, denen sich der Einzelne ohnmächtig ausgeliefert sieht. Um politische Apathie auf dieser Grundlage zu bestimmen, ist zu analysieren, welche psychischen Strukturen dazu beitragen, berechtigte Realangst vor den Dynamiken moderner Gesellschaften in neurotische Angst umschlagen zu lassen. Die Angst vor den Verhältnissen besitzt insofern ein ‚Körnchen Wahrheit‘ und ist „niemals ganz falsch“ (ebd., S. 270, H.i.O.), als dass die Verhältnisse systematisch Leid der Subjekte produzieren und die politische Aktivierung und Kanalisierung ermöglichen, mit der Angst zum Movens politischer Regression mutiert.

3.1 Angst als Massenpsychopathologie Ausgehend von Freuds zweiter, psychologischer Angsttheorie2 nähert sich Neumann dem Begriff politischer Apathie über das Konzept des psychischen Konfliktes zwischen Ich, Es und Über-Ich. Der in der Psyche ausgetragene Kampf der Instanzen ängstigt das Ich, da es die Konflikte nicht zu vermitteln in der Lage ist. Neurotische, primär im Ich stattfindende Angst entsteht, wenn das Ich Triebregungen aus dem Es wahrnimmt, deren Realisierung aufgrund gesellschaftlicher Ge- und Verbote seitens des Über-Ichs tabuiert sind (Freud 1967a, S. 287 f.; Laplanche und Pontalis 1973, S. 425). Sollten doch Handlungen oder Gedanken erfolgen, die mit dem Über-Ich, der durch elterliche Autorität aufgebauten Repräsentanz gesellschaftlicher Normen, nicht in Einklang stehen, ist von Gewissens- oder Über-Ich-Angst zu sprechen (Freud 1967a, S. 288 f.). Die neurotische Angst als Angstsignal warnt vor einer möglichen Gefahr, ihre Entstehungsbedingungen reichen weit in der Entwicklung von Organismus und Kultur zurück. Während primäre Ängste biologisch adaptiven Charakter haben, ist das Angstsignal sekundärer Affekt, der aus ödipalen Konfliktsituationen mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und der Angst vor dessen Strafe resultiert (Krohne 2010, S. 156). Diese Angst vor und die Ausübung der Strafe kann durch die Identifizierung mit der gleichgeschlechtlichen Autoritätsfigur gelöst werden.

2Die

Bestimmung einer ersten und zweiten Angsttheorie bei Freud suggeriert „eine (zeitliche) Distinktheit“ (Krohne 2010, S. 151), die in der Form bei Freud nie bestand. Vielmehr verschiebt sich der Schwerpunkt von einer neurophysiologischen zur psychologischen Angsttheorie (Michels et al. 1985). Da sich Neumann auf die psychologische Angsttheorie bezieht, soll die neurophysiologische nicht ausgeführt werden.

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Freud zeichnet zur Rekonstruktion der Identifizierung kulturhistorisch die Rolle des Vaters der Urhorde als ursprüngliche Form sozialer Organisation nach, die er auf moderne Massenphänomene münzt. Das, was Freud (1967b, S. 484) als ‚soziale Angst‘ bezeichnet, macht die Abhängigkeit der Individuen von einer als väterlich imaginierten Autorität deutlich: „Noch heute bedürfen Massenindividuen der Vorspiegelung, daß sie in gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, aber der Führer selbst braucht niemand anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein, absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbstständig.“ (Freud 1967c, S. 138)

Auch wenn Freud (ebd., S. 166) die Identifizierung zunächst als Ambivalenz von Zärtlichkeit und Wunsch der Beseitigung erklärt, lässt sich Identifizierung eher als Akt des Konformismus aus Angst betrachten. Die Rebellion gegen die Vaterautorität ist von dessen Machtstellung in der bürgerlichen Kleinfamilie präformiert, die die Angst vor der Autoritätsstruktur der Realität abseits der Familie vorwegnimmt und die Möglichkeit zum Widerstand bricht. Denn indem „das Kind in der väterlichen Stärke ein sittliches Verhältnis respektiert und somit das, was es mit seinem Verstand als existierend feststellt, mit seinem Herzen lieben lernt, erfährt es die erste Ausbildung für das bürgerliche Autoritätsverhältnis“ (Horkheimer 1988, S. 391). Freud (1967c, S. 115) beschreibt, dass die Angst vor der väterlichen Autorität nicht zur Rebellion gegen diese, sondern zur Unterdrückung und Verdrängung feindseliger Gefühle führt und stattessen „eine vorbildliche Identifizierung“ mit dem Ich-Ideal stattfindet. In der Verdrängung der Angst vor der gesellschaftlichen Autorität kann die unbewusste Triebregung in transformierter Form erneut zutage treten und als „Abkömmling“ (Freud 1946, S. 289) des Unbewussten Druck auf das Ich ausüben. Abkömmlinge bestehen aus Wünschen, Gedanken und Phantasmen, die erneut Angst freisetzen, deren Ursachen den Individuen verschlossen sind und deren kulturhistorisch-konkreter Auslöser nicht erkennbar ist. Die dadurch verstärkte neurotische Angst kann auf eine zu schwache Verdrängungsenergie des Ichs, Ich-Schwäche bis hin zu Ich-Verlust in der totalitären Bewegung zurückgeführt werden (Neumann 1954a, S. 268). Das Ich reagiert auf diese perpetuierte Angst mit Abwehrmechanismen, die die als unangenehm erlebte Angst reduzieren sollen. Auch wenn weitere Abwehrmechanismen bestehen (Laplanche und Pontalis 1973, S. 24 ff.), sollen im Folgenden nur die von Neumann als zentral erachteten betrachtet werden: Identifizierung mit und Idealisierung von politischen Autoritäten sowie die Projektion politischer, sozialer und persönlicher Probleme auf Dritte.

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Neumann (1954a, S. 267) schließt sich Freuds Diagnose an, nach der sich die Massenindividuen an den modernen Führer – die nicht-väterliche Autorität, die die identifizierende Rolle des Vaters aufrechterhält – libidinös ketten3 und konkretisiert dies in Bezug auf politische Bewegungen und deren Agitatoren. Die tabuierten Triebe, die das Über-Ich dem Ich aufbürdet, sollen durch die Identifizierung mit Vater-ähnlichen Führern alternativ ausgelebt werden können (Freud 1967c, S. 95). Die Massenindividuen scheinen süchtig nach der gewaltsamen Beherrschung durch das Vaterimago, sie werden nicht nur beherrscht (ebd., S. 137 ff.), sondern wollen beherrscht werden (Adorno 1951b, S. 44). Die Identifizierung heteronomer Massenindividuen untereinander und mit politischen Führern entspricht für Neumann (1954a, S. 268) einem Rückfall, dem Verlust individueller Autonomie, der individuellen Regression durch psychische Entfremdung und ist mit Massenangst, kollektiv-neurotischer Angst, zu kontextualisieren. Freud konstatiert, Massenangst sei eine Zerfallserscheinung der Bindung zwischen Führer und Masse, setzt sich aber nicht mehr dezidiert mit der Wirkung von Massenangst auseinander. Neumann übernimmt von Freud (1961a, S. 322), dass die Wurzeln der Angst sowie die ständigen Versuche ihrer Bewältigung in der Einrichtung der Gesellschaft selbst begründet sind, geht aber abweichend von der Angst als dem zentralen, die Masse zusammenhaltenden Element aus.4 Da sie Angst politisch mobilisieren, besteht die ‚Leistung‘ der Führer nicht in der Überwindung, sondern in der „Intensivierung der Angst durch Manipulation“ (Neumann 1954a, S. 274). Das unerreichte, vom Führer verkörperte Ich-Ideal,

3Bei Freud (1967c, S.  110) ist mit Führer nicht notwendig dessen Personalisierung gemeint, sondern er kann auch durch eine „führende Idee“, Volk oder Vaterland, verkörpert werden. Bei Neumann (1954a, S. 272) existieren kaum Hinweise, dass er Herrschaft abstrakt denkt. Verantwortungslose Führer können die Waffe der politischen Regression schwingen, da sie über soziale Angst erhaben sind, superiore Erkenntnismöglichkeiten über gesellschaftliche Dynamiken besitzen und aus eigener Motivation politischer Machtgier „Führer-Demagogen“ (ebd., S. 271) werden. Ähnliche Tendenzen zeigt auch seine ‚Speerspitzentheorie des Antisemitismus‘, die den NS-Antisemitismus auf eine politische Strategie zur Zerschlagung der Arbeiterklasse reduziert (Neumann 1998, S. 582 f.). 4In den Notizen zur Theorie der Diktatur scheint Neumann (1954b, S. 244) der Angst als Zerfall noch zuzustimmen, allerdings bricht seine Ausführung mit dem Hinweis der Herausgeberin – „(Ein Schlußabsatz fehlt)“ – abrupt ab. Obwohl aus der Bibliografie am Ende von Demokratischer und autoritärer Staat nicht hervorgeht, wann der Aufsatz verfasst wurde, kann davon ausgegangen werden, dass Neumann seine Angstbegriff noch nicht in der Form entwickelt hat, wie er ihn in Angst und Politik reflektiert.

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das bei Freud (1967b, S. 506) zumindest implizit die völkische Gemeinschaft meint, begründet Neumanns Umdenken: Der positiv-kathartische Effekt, den Angst normativ besitzen kann, wird in gesellschaftlichen Konstellationen, die von autoritären Tendenzen geprägt sind, in negative Katharsis gewandt. Die Hinwendung zu Volk und Führer verspricht Heilung von der unbewussten Leiderfahrung des kapitalistischen Alltags. Dabei werden bestimmte Individuen und Gruppen von Führern als Schuldige und Sündenböcke struktureller Leiderfahrungen stilisiert und zum Ausbau der eigenen politischen Macht instrumentalisiert. Da aber die Massenindividuen niemals völlig in der Masse aufgehen und Reste von Ambivalenz, Konflikt und Antagonismus zwischen Führer, Masse und Massenindividuen bestehen bleiben, muss die Angst, die den Drang zur Identifizierung hervorbringt, stabilisiert werden. Die Hoffnung auf die Überwindung neurotischer Ängste mittels Identifizierung wird somit in ihr Gegenteil, die „Institutionalisierung der Angst als Mittel zur Erhaltung der Herrschaft“ (Neumann 1954a, S. 281) gekehrt. Neumann erkennt, dass für die politische Partei, besonders in ihrer caesaristischen Form – Neumanns antizipiertes Synonym für autoritären Populismus – die Kanalisierung und Aktivierung neurotischer Ängste zentrales Konstituens ist, das über Agitation via Verschwörungstheorien5 funktioniert. Die im Kapitalismus permanente, reale Bedrohung von Familie, Eigentum, Moral und die Möglichkeit des Verlustes sozialer Integration und ökonomischem Status werden nicht als systemimmanentes Element moderner Vergesellschaftung wahrgenommen (ebd., S. 275 ff.). Sie werden vielmehr als Fundament neurotischer Ängste (Winter 2017, S. 35 f.) – in falscher Konkretheit (Neumann 1954a, S. 270) – auf innere und äußere Feinde des imaginierten Kollektivs projiziert. Psychoanalytisch ist dieser Vorgang auf einen „paranoid getönten Introjektions- und Projektionsvorgang als Urform und Vorbild einer aggressiven Objektbeziehung auf eine ursprünglich normale Abwehrreaktion gegen innere und äußere Bedrohungen in den frühesten Entwicklungsstadien von

5Auf

die Verschwörungstheorie als politisches Resultat neurotischer und politisch institutionalisierter Ängste wird nicht weiter eingegangen. Angemerkt sei aber, dass die Masse „ihre Erlösung aus Unglück durch absolutes Einssein mit einer Person erhofft, so schreiben sie ihr Unglück bestimmten Personen zu, die durch eine Verschwörung gegen die Massen das Unglück in die Weltgebracht haben. Der Geschichtsprozeß wird so personifiziert“ (Neumann 1954a, S. 270). Zentral für die weiteren Annahmen ist, dass Neumann (ebd., S. 277 ff.) allen modernen Verschwörungstheorien einen implizit antisemitischen Charakter zuschreibt.

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S. Vennmann Subjektivität, der sogenannten ‚paranoid-schizoiden Position‘ zurück[zuführen], bei der alles Gute (durch Introjektion) von innen zu kommen scheint und alles als böse empfundene (durch Projektion) nach außen abgestoßen wird.“ (Pohl 2010, S. 13 f.)

Die Gallionsfigur dieser Parallelität von kollektiver Introjektion und Projektion als Abwehrmechanismen gesellschaftlicher Ängste ist für Neumann der Staatsrechtler Carl Schmitt, den er schon im Behemoth als völkisch-autoritären Denker entlarvte. Schmitt ist darüber hinaus auch im Spätwerk ein – mal impliziter, mal expliziter – Ausgangspunkt für Neumanns kritische Theoriebildung. Sie richtet sich insofern gegen Schmitt, da dieser die von Freud beschriebene massenpsychologische Sozialangst politisch mobilisiert und die physische Vernichtung des Sündenbocks als ultima ratio einer kollektiv-projektiven Abwehrreaktion rechtfertigt. Schmitt liefert die politische Begründung dessen, was Freud und Neumann sozialpsychologisch als zentrales Problem jeder Gemeinschaftsbildung – nämlich „die Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl“ (Freud 1961b, S. 197) – erkennen. Neumann folgend ist Schmitts Begriff des Politischen die prägnanteste Explikation einer Politisierung der Angst, die daher als Basis einer politischen Theorie der Angst einer fundamentalen Kritik unterzogen werden muss.

3.2 Schmitts Phantasmen zur Politisierung der Angst Auch wenn Schmitts Theorie nicht um den Begriff der Angst kreist, ist die Angst als Motiv bei Schmitt zentral (Horn 1989, S. 32 f.). Der neurotischen Angst wird bei Schmitt mit völkisch legitimierter Souveränität, totaler Aufgabe der Individualität und der Projektion komplexer sozialer Phänomene auf ‚Feinde‘, die vermeintlich im Verborgenen globales Unheil schüren, begegnet. Schon in der Politischen Romantik findet sich Angst als mit Entwurzelungserfahrungen und dem Feindbild einer unsichtbaren Macht verbunden. Es ist die „Angst des einzelnen Individuums herauszuhören und sein Gefühl betrogen zu sein. […] In der Vorstellung einer geheimen, ‚hinter den Kulissen‘ ausgeübten Macht, die sich in den Händen weniger Menschen vereinigt und es ihnen ermöglicht, mit überlegener Bosheit unsichtbar die Geschichte der Menschen zu lenken, in solchen Konstruktionen des ‚Geheimen‘ mischt sich ein rationalistischer Glaube an die bewußte Herrschaft des Menschen über die geschichtlichen Ereignisse mit einer dämonisch-phantastischen Angst vor einer ungeheuren, sozialen Macht und oft noch mit dem säkularisierten Glauben an eine Providenz.“ (Schmitt 1968, S. 115 f.)

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Willms (1982, S. 84) rekonstruiert, dass Schmitts Verständnis der Angst in seiner Hobbes-Exegese wurzelt. Er leitet die Angst wie Hobbes als Teil des Naturzustandes ab, denn der „Schrecken des Naturzustandes treibt die angsterfüllten Individuen zusammen; ihre Angst steigert sich aufs äußerste, ein Lichtfunke der ratio blitzt auf – und plötzlich steht vor uns der neue Gott“ (Schmitt 1938, S. 48, H.i.O.). Während Hobbes die Angst im Naturzustand auf die stete Gefahr des gewaltsamen Todes zurückführt, der die Individuen aus Gründen physischer Selbsterhaltung dazu bewegt, sich dem Leviathan durch Vertrag unterzuordnen, pervertiert Schmitt diese Idee zum totalen Staat. Als Lebenselixier des Politischen muss der Krieg „sowohl als Aktion wie auch als Zustand total sein […]. Er hat daher seinen Sinn in einer vorausgesetzten, begrifflich vorangehenden Feindschaft“ (Schmitt 1988a, S. 244). Diese Feindschaft gegen einen zunächst abstrakten, „totalen Feind“ ist bei Schmitt (1988b, S. 236) ontologisch vorausgesetzt und ist das Konstituens jeglicher Gemeinschaftsbildung. Die Identifikation eines physisch zu vernichtenden Feindes, die Neumann für die regressive Bewältigung der Angst als genuin problematisch versteht, wird bei Schmitt affirmiert. Dessen Vorstellungen der Gemeinschaft basieren auf der uneingeschränkten Souveränität des totalen Staates, der Negation des Individuums und der Einschränkung politischer Freiheit. Individualismus und Freiheit sind für ihn der Grund einer modernen Sozialangst, die der moderne Liberalismus hervorbringt. Dieser sei aber nicht Resultat einer historisch-gesellschaftlichen Entwicklung, sondern wird von Schmitt (1988c, S. 302) verschwörungstheoretisch als Machenschaft finsterer Mächte herbeifantasiert. Zur Angst vor diesen Mächten gesellt sich eine ‚Fortschrittsangst‘ vor Technologie (Schmitt 1988d, S. 124) und Finanzkapital (Schmitt 1988e, S. 85), die in Schmitts Vorstellung ebenso die völkische Gemeinschaft zerstört. Um deren Souveränität aufrechtzuerhalten, müssen Feinde erklärt werden, damit „ein Volk die Mühen und das Risiko der politischen Existenz“ (Schmitt 2009, S. 49) nicht fürchten muss. Diese Feinde werden zunächst diffus als „komplexe Koalition von Wirtschaft, Freiheit, Technik, Ethik und Parlamentarismus“ (ebd., S. 69) bestimmt, die das Volk auf heteronome Konsumenten reduziert. Auch wenn Schmitt den Eindruck erweckt, der Feind wäre abstrakt, vertritt er völkische, rassistische und antisemitische Positionen (Gross 2000, S. 20). Die Feindkonstruktion offenbart nicht nur, dass „[a]merikanische Finanzleute, industrielle Techniker, marxistische Sozialisten und anarcho-syndikalistische Revolutionäre“ (Schmitt 1934, S. 82) sich im Kampf gegen das Politische befinden, sondern dass hinter all diesen ‚volkszersetzenden Akteuren‘ notwendig die stereotype Vorstellung ‚des Juden‘

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steckt, der zum „wahre[n] Feind“ (Schmitt 1991, S. 18) erkoren wird, weil – so Schmitts (ebd., S. 18) Argument – es „keinen Zweck [habe], die Parole der Weisen von Zion6 als falsch zu beweisen“. Der totale Staat fußt daher nicht auf einem abstrakten Krieg gegen abstrakte Feinde, sondern konkretisiert sich in der totalen Feindschaft gegen Kosmopolitismus, demokratischen Parlamentarismus sowie liberale Werte und Freiheiten (Marcuse 1968, S. 22; Schmitt 1996, S. 17). Da Schmitt (1938, S. 47) davon ausgeht, dass der „Ausgangspunkt der Staatskonstruktion […] die Angst des Naturzustandes ist“, müssen alle die Ordnung gefährdenden, angsteinflößenden Elemente mit Gewalt ausgesondert werden. Mit dem Phantasma irrationaler Ängste legitimiert Schmitt die von Freud kritisierte Identifizierung mit der Manifestation gesellschaftlicher Autorität und deren massenpsychologischen Folgen. Schmitts (2010, S. 92) neurotische „Angst vor den Juden und ihrem Hass“, die er in seinen Tagebüchern festhält, ist nicht nur „Ausdruck privater Gefühle“ (Schmitt 2009, S. 27).7 Vielmehr war Schmitt effektiv an der Vertreibung jüdischer Wissenschaftler beteiligt, wovon insbesondere seine Schüler profitierten, die arisierte Lehrstühle neu besetzten. Dies ist keineswegs zu bagatellisieren, sondern zeigt, dass die akribische Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus kein bloßer Opportunismus war (Gross 2000, S. 48 ff.). Stattdessen bietet er Schmitt die politische Realisierung seiner völkisch-biologistischen Prämissen. Sie richten sich politisch gegen das auf antisemitischen Konspirationsthesen beruhende Abstrakte, das Ängste schürt. Der Souverän kann diese Angst vor dem Abstrakten kanalisieren, mobilisieren und in politische Praxis transformieren. Folgt man hingegen Neumanns (1954a, S. 278) Kritik, kann eine Theorie politischer Apathie auch als politische Aktivierung der Angst zu autoritären Zwecken bestimmt werden. Diese beruht auf Elementen einer psychischen Nichtbewältigung zivilisationshistorischer Ängste, deren Institutionalisierung Neumann für zentral bei der Formierung reaktionärer Bewegungen hält. Die von Neumann mit Freud problematisierte und von Schmitt

6Die

Stelle, die in Angst und Politik explizit auf Schmitt verweist, thematisiert die Protokolle der Weisen von Zion, die von Neumann (1954a, S. 277) als Propaganda des Antisemitismus bezeichnet werden und mittels neurotischer Angst den „Haß gegen einen Feind“ produzieren. 7Schmitts Antisemitismus war maßgeblich durch die politische Semantik und Weltanschauung des deutschen Katholizismus beeinflusst (Gross 2000, S. 22). In seinem Denken mischen sich religiöse, politische und rassentheoretische Elemente zur Konstellation seiner ‚Feinderklärung‘ (ebd., S. 59).

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in Form einer politischen Theorie affirmativ propagierte psychische und ökonomische „Sozialangst“ (ebd., S. 279) führt bei Neumann in Form caesaristischer Identifizierung in „die regressivste Form, denn sie ist auf einem nahezu totalen Ich-Schwund aufgebaut“ (ebd., S. 269).

4 Politische Apathie als Katalysator politischer Regression Basis von Neumanns kritischer Theorie der Angst ist die Diagnose psychischer Entfremdung, der als Resultat politische Apathie folgen kann. Sicher ist dabei, dass politische Apathie nicht auf die Floskel der Politikverdrossenheit reduziert werden kann. Vielmehr ist sie als Resultat psychischer, auf neurotischer Angst basierender Entfremdung zu verstehen, die einer psychoanalytischen Kritik an der Dynamik reaktionärer, massenpsychologischer Bindung an Führungspersonen zu unterziehen ist. Allerdings lässt sich nicht, wie Honneth (2002, S. 201) behauptet, von einem Stufenmodell der Entfremdung ausgehen, bei dem die psychische Entfremdung den Anfang darstellt, sondern es handelt sich um ein dialektisches Verhältnis der von Neumann entfalteten Entfremdungsformen, die dieser aber in materialistischer Tradition auf die (falsche) Einrichtung der politischen Ökonomie zurückführt. Die in den ökonomischen Verhältnissen wurzelnde Angst vor sozialer Degradation, Konkurrenzprinzip, Verlust von Status und Eigentum (Neumann 1954a, S. 281) manifestiert sich in einer psychohistorischen Identifizierung mit gesellschaftlichen Autoritätsinstanzen, die Schmitt affirmativ und Neumann in Freud’scher Tradition kritisch in der autoritären, politischen Bewegung erkennt. Das explizit politiktheoretische Surplus von Neumanns Ansatz ist es, die massenpsychologischen Erkenntnisse auf politische Akteure im demokratischen Prozess zu beziehen. Neumanns Notizen zur Theorie politischer Apathie sind sowohl Analyse und Kritik reaktionärer Tendenzen als auch Appell an praktische, emanzipatorische Politik. Politische Apathie als Resultat psychischer Entfremdung ist ein relationaler Begriff, ein Index für die Möglichkeit politischer Regression. Allerdings ist politische Apathie nicht absolut, sondern konstituiert sich erst in einer bestimmten Reaktion auf psychische Entfremdungserfahrungen, die Neumann (1954b, S. 245), Adorno zustimmend, auf die Charakterstruktur autoritärer Persönlichkeiten zurückführt. Politische Apathie ist Neumanns Zeitdiagnose. Die in der Gesellschaft angelegten Ängste und deren Manipulation sind perfekter Nährboden für autoritäre Politik. Denn in der

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S. Vennmann „Regel führt diese Apathie, wenn sie innerhalb der sozialen Entfremdung operiert, zur partiellen Paralysierung des Staates und öffnet den Weg zu einer caesaristischen Bewegung, die, die Spielregeln verachtend, sich die Unfähigkeit des Bürgers zur individuellen Entscheidung zunutze macht und den Ich-Verlust durch Identifizierung mit dem Caesar kompensiert.“ (Neumann 1954a, S. 281)

Sollte es diesen autoritären Bewegungen gelingen, mittels der politischen Agitation die Angst zu institutionalisieren und zur Regierungsmacht aufzusteigen, vollzieht sich die historische Regression (ebd., S. 268). Sie kennzeichnet, dass ökonomische und psychische Entfremdung zu politischer Entfremdung mutieren, die den Verlust von politischer Freiheit und Selbstbestimmung sowie Terror und Gewalt markiert. Es geht nicht länger um den „Aufbau einer guten Gesellschaft, sondern die Vernichtung des Feindes“ (Neumann 1953, S. 134). Sollten also die Begriffe ‚Angst‘ und ‚Feind‘ die Katalysatoren von Politik bilden, ist die Möglichkeit einer demokratischen Gesellschaft unmöglich geworden. Auch wenn Neumann (1954b, S. 238 ff.) der Demokratie als Staatsform zeitlebens kritisch-distanziert gegenüberstand und stets die Dialektik des Umschlags von Demokratie in Autoritarismus bedachte, sah er doch in der Demokratie die im Bestehenden höchstmögliche Freiheit des Individuums, die es mit allen Mitteln zu verteidigen galt. Angst und Politik ist Analyse und Appell gleichermaßen: Theoretische Analyse autoritärer Politik, die gesellschaftlich verankerte, neurotische Ängste verschwörungstheoretisch mobilisiert, sowie praktischer Appell an die, die sich nicht von der neurotischen Angst der Anderen ängstigen lassen. Auch wenn Neumann (1954a, S. 285) die persönliche Hoffnung auf Emanzipation und Herrschaftsfreiheit im Angesicht seiner politischen Erfahrung nahezu völlig aufgegeben hat, scheint der Funke der Hoffnung immer wieder theoretisch auf. Freiheit – im Sinne demokratischer Selbstbestimmung – gegen die reaktionäre Mobilisierung der Angst bleibt Neumanns Losung gegen das Nachleben autoritärer Strukturen in der Demokratie.

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Stefan Vennmann, M.A.;  Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und Doktorand am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen; Arbeitsschwerpunkte: Sozialphilosophie, insbesondere Kritische Theorie; Theorien historischer Verantwortung; Nationalsozialismus; Antisemitismus.

Angst und (Medien-)Kultur

Klima der Angst. Klimawandelszenarien Jörn Ahrens

1 Mythos und Gesellschaft Die Zeiten sind vorbei, da der Sonnenstaat eine Utopie darstellte. Die Sonne scheint uns (Georg Klein), aber genau darin besteht heute das Problem. Während zu früheren Zeiten ganz elementar, und noch bis vor kurzem zumindest metaphorisch, die Sonne als Lebensspender und Fruchtbarkeitsgarant gelten konnte, hat sie heute eine völlig andere symbolische Aufladung erhalten. Im hyper-ökologischen Zeitalter der Gegenwart ist die Sonne zum Stern der Angst geworden oder vielmehr: zu dem Stern, der die Angst entfacht. Die postmoderne Sonne der Gegenwart lässt die Böden verdorren, das Wasser verdunsten, die Menschen erkranken. Was von ihr bleibt, ist die Abstrahlung tödlicher Hitze, die keine elementare Kraft des guten Lebens mehr sein kann. Diese Sonne wirkt sozial dystopisch, indem sie Lebens- und Gesellschaftszusammenhänge zerstört; zugleich bleibt ihre Destruktionskraft überschattet von dem Wissen, dass sie ein Effekt humanen, technischen Handelns und insofern zu einer Effektkraft anthropogener Wirkungen degradiert ist. Genauer gesprochen handelt es sich hierbei um Effekte des Klimawandels als einer durch humanes Handeln erzielten, global angelegten Einflussnahme auf die menschlichen Lebensbedingungen auf der Erde. Die Sonne selbst besitzt keine mythologisch-symbolische Kraft mehr. Ihre Zerstörungskraft heute ist nurmehr prothetisch zu nennen aufgrund der Beihilfe menschlicher Technologien, die ihr den Weg ebnen. Unerwartet aktualisiert sich in solchen Szenarien der von Günther Anders schon in den 1950er Jahren J. Ahrens (*)  Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_5

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geäußerte Gedanke, in der modernen „Apparatewelt“ werde der „Unterschied zwischen technischen und gesellschaftlichen Gebilden hinfällig“ (Anders 1992, S. 110) und dehnt sich zudem auf Naturverhältnisse aus, die jetzt selbst über Technik definiert sind. Dass Wirklichkeit in ihrer unbearbeiteten Form, sozusagen reale Realität als eine Hyperrealität, der der Mensch (noch) nicht gewachsen ist, als übermächtig und als eine „Quelle der Angst“ erscheint, hat Hans Blumenberg gezeigt. Er nennt dies den „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg 1990, S. 9); und dieser bringt vor allem einen Zustand der Angst hervor. Nun dient dieser „Absolutismus der Wirklichkeit“ als Blumenbergs eigenes Theoriekonstrukt, um die Anthropomorphisierung der Welt zu begründen, da er einen prämythologischen Zustand bezeichnen soll, worin „der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte“ (ebd., S. 9). Die einzige Existenzform, die dem Menschen in diesem Zustand möglich und angemessen ist, ist die der Angst als „unbestimmte Prävention“ (ebd., S. 10). Diesen Zustand bringt Blumenberg auf die Formel von der „Intentionalität des Bewußtseins ohne Gegenstand“ (ebd., S. 10). Ein Gegenstand der Angst gelangt erst in die Welt, wenn es gelingt, die Angst zu richten, ihr ein Objekt zu geben, vor dem Angst zu haben möglich ist, und daran außerdem, was wichtiger ist, Bewältigungsstrategien in Form von Erzählungen anzuschließen. Genau das leistet der Mythos, der die Handhabbarkeit der Welt durch den Menschen ermöglicht, indem er Geschichten entwirft, die von der Urbarmachung des „Absolutismus der Wirklichkeit“ erzählen. Der Mythos ist so gesehen ein Programm der Anthropogenisierung der Welt und, so Blumenberg, der Rationalisierung von Angst in Richtung einer der kulturellen Bearbeitung offen stehenden Furcht. Es sind diese „Kunstgriffe […] der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unbenennbare“ (ebd., S. 11), welche eine menschliche Existenz letztlich erst erlauben. Für Blumenberg reicht diese Notwendigkeit als Praxis weit über den initialen Mythos hinaus und in jede Form „philosophischer Kultur- und Staatstheorien“ hinein (ebd., S. 9). Auch Josef Früchtl (2004, S. 37) begreift dieses Prinzip als die Konstante schlechthin einer Möglichkeit der Welterfahrung: „Es gibt kein Ende des Mythos, denn er befriedigt das konstitutive Bedürfnis des Menschen, im Zustand der Unbegründbarkeit, ‚in der Welt heimisch zu sein‘.“ Die These Hartmut Böhmes (2000), Kultur sei zwingend und grundsätzlich eine Praxis der Angstbearbeitung, um humane Lebenswelten lebbar zu machen, muss daher präzisiert werden: Der Bodensatz von Kultur ist eine maßlose Angst, die sich nur durch hochgradig artifizielle Verfahren der Sinngebung eingehegt sieht. Insofern bleibt auch der Imperativ immer wirksam, dass die Kunstgriffe des

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Erzählens für eine Beheimatung des Menschen in der Welt und gegen die Angst niemals ein Ende finden können (White 2008; Koschorke 2012). Im Sinne einer postmythologischen Mythologie der Moderne ist die Kulturund Ideengeschichte nicht gerade arm an Begriffen, Figuren und Orten, die eine entsprechende Erzählproduktion ermöglichen; daneben ist auch die Bildebene durchgehend von größerer Bedeutung. Kultur generiert ihre jeweils eigenen symbolischen Formen, die sich dann auf die infrage stehenden Aspekte von Kultur und Gesellschaft anwenden lassen. Kultur und Gesellschaft als sinnhaft besetzte Räume greifen grundsätzlich auf derlei Verfahren zurück (Ahrens 2012, S. 59–94). Auf irgendeine Ursprungserzählung können Gesellschaft und ihre Individuen sich immer beziehen. Von hier aus lassen sich dann Erzählungen entwerfen, welche die Phänomene, Situationen, Figurationen oder Interaktionen, die Menschen in diesen Kontexten gewärtigen, in rationalisierende, einen geradezu prosaischen Handlungsverlauf entwerfende Geschichten übersetzen. Insofern Gesellschaft immer erzählende Gesellschaft ist (Ahrens 2017, S. 26), ist es von grundlegender Bedeutung, das Prinzip der Erzählung auf deren Determinanten anwenden zu können, also auf jene Faktoren, Phänomene etc., welche kulturelle Narrationen provozieren und generieren. Diese Erstellung von Narrativen, welche dem Geschehen, womit Menschen sich konfrontiert sehen, Sinn geben, findet auch in der Auseinandersetzung mit ökologischen Phänomenen wie dem Klimawandel Anwendung (Smith und Howe 2015). Soziales Handeln und kulturelle Praktiken beinhalten als basalen Bestandteil einer Genese des Sinnverstehens Elemente des Narrativen. Dieses muss sich wiederum von einer symbolischen Form ableiten lassen, welche genau jene Qualität aufweist, die Blumenberg als mythologisch adressiert und die er zugleich bis in die Gegenwart hinein universalisiert.

2 Der braune Planet Um von dieser Skizzierung der Bedeutung mythologisierender Narrative im Rahmen von Vergesellschaftungsprozessen aus an das kulturelle Konzept respektive an soziale Interaktion von Angst anzuschließen, soll der Umweg über ein gängiges Motiv aus dem Arsenal einer Mythologie der Gegenwart gewählt werden, wie sie Roland Barthes (1964) so instruktiv beschrieben hat. Mit der Erschließung des Weltraums als sogenannter last frontier, also als der letzten, verbliebenen Grenze eines humanen Handlungs- und Expansionsdrangs, hat der Blick aus dem All mit dem Bild vom „blauen Planeten“ eine der wirkmächtigsten Metaphern der Gegenwart geschaffen (Leichenko und O’Brien 2019, S. 56 f.).

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Dieses heute ubiquitär verbreitete Bild vom blauen Erdenrund, das im Kosmos schwebt, versinnbildlicht in der Perspektive einer ökologischen Ethik die Erde als gemeinsame Heimat aller Menschen. Erst der menschliche Blick aus der im Weltraum schwebenden Raumkapsel ermöglicht die Identifizierung der Erde als maßgeblich blau gefärbt, nicht etwa als grün, eine Imago, die dem Landwesen Mensch vielleicht näher läge. Erst dieser Blick ermöglicht aber auch eine Identifizierung mit diesem Planeten als Planet unter Planeten und erlaubt es so, die Erde insgesamt als Heimstatt der Spezies Mensch begreifbar zu machen und sie mit einem Pathos der Identität aufzuladen, das für die Rhetorik der Ökologie spätestens seit den 1980er Jahren bestimmend wurde. Es ist für das Naturverhältnis und für das Eigenverhältnis des Menschen gleichermaßen signifikant, dass Akte der Identifikation erst über Gesten der Distanznahme möglich werden. Anthropologisch nimmt die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung durch „volle Reflexivität“ (Plessner 1975, S. 289 ff.) eine herausgehobene Stellung ein. Jedes Selbstverhältnis des Menschen setzt insofern, auf dem Wege der Abstraktion, als persönliches, soziales oder Naturverhältnis ein spezifisches Moment der Entfremdung als Distanzqualität voraus. Erst seit sich die Spezies Mensch von außen betrachten kann, sind alle ihre Individuen auch im Gattungssinn Abkommen der Erde. Im Zuge dessen erhalten Ethik, aber auch eine Ökologie des Universalismus in gewisser Weise ein Gesicht, präziser formuliert: ein Logo. Allerdings hat erst jüngst der Blick aus dem Weltraum eben diesen Blick auf den blauen Planeten korrigieren müssen. Der Zufall wollte es, dass im Sommer 2018 mit Alexander Gerst ein deutscher Astronaut an Bord der internationalen Raumstation ISS weilte, während unten auf der Erde sich ein Rekordsommer durch die Jahreszeit walzte, der für enorme Trockenheit, für Ernteausfälle, für Waldbrände sorgte. Im August 2018 notiert Gerst einen in Medienberichten weithin zitierten Satz: „Konnte eben die ersten Bilder von Mitteleuropa und Deutschland bei Tag machen, nach mehreren Wochen von Nacht-Überflügen. Schockierender Anblick. Alles vertrocknet und braun, was eigentlich grün sein sollte.“ (dpa 2018) Adieu, blauer Planet, heißt das, während der braune Planet die Oberhand gewinnt, als Repräsentante eines vegetativ ausgelaugten, wahrlich ausgebrannten Planeten. Als eine Art Signet für die Widerlegung einer irgendwie immer noch als möglich imaginierten Rettung des blauen Planeten erstellt Gersts brauner Planet ein Angstbild im doppelten Sinne. Erstens ist er Ausdruck einer verbreiteten Angst, die Hoffnungslosigkeit könne längst die Oberhand gewonnen haben, die Katastrophe des ökologischen Untergangs sei unabwendbar. Zweitens liegt hierin die Bestätigung für einen ebenso bekannten wie einflussreichen Vorgang medialer Kommunikation, worin ein einzelnes Bild und dessen Rezeption gesellschaftliche Angstbestände zu entfachen vermag. Hier wird der Bildakt

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zum sozialen Akt par excellence und sorgt mehr oder weniger im Alleingang für einen Affektzustand der Erregung, der Schockierung, der auch umfänglich in die Nachrichtenformate gelangt (Bredekamp 2010; Ziemann 2011, S. 237–274). Zugleich ist dieses Bild, obschon eindeutig ein Bildakt, eines nicht mehr: Eine mythologisierende symbolische Form (Cassirer 1977), die für die Herkunft und für die Ordnungskonstellationen kultureller Bezüge distinkte Ursprungserzählungen bereitstellen würde. Als symbolische Form ist das Bild vom braunen Planeten vielmehr Ausdruck einer Ikonografie des Endes, die sich nicht mehr funktional übersetzen ließe. Für ein globales, ökologisches und individuell weder sichtbares noch erfahrbares Krisenphänomen wie den Klimawandel ist es, mit Blumenberg gesprochen, nicht mehr möglich, noch weiterhin Kunstgriffe der Supposition zu entwerfen. Allerdings liegt darin mehr als bloß eine Petitesse, die lediglich anzeigt, es fehle der kulturelle Luxus, eine als existenziell empfundene Bedrohung umzuschaffen in die Form einer Plastik oder einer Oper oder eines Comic. Es geht dabei um weit mehr, weil Vergesellschaftung als Konstellation an diesem Punkt an Grenzen der Möglichkeiten zu ihrer Vermittlung gelangt und sich fast ausschließlich mit der eigenen Zerstörung identifiziert, damit aber den offenen Horizont sozialen, menschlichen Handelns konsequent abschließt. Was sich hier sozial Ausdruck verschafft, ist eine neue „Tragödie der Kultur“ (Georg Simmel). Allerdings geht es nicht, wie noch bei Simmel (1986), darum, dass materialisierte Kultur sich nicht mehr problemlos erschließt, sondern umgekehrt, dass eine Konstellation sozialer Realität kulturell nicht mehr abbildbar ist – es sei denn dystopisch im Bild des braunen Planeten, aber auch das ist keinesfalls sicher. Angesichts der Erfahrung des Klimawandels macht Gesellschaft die Erfahrung, dass dieser sich nicht in einer Weise einhegen lässt, wie dies noch für Blumenbergs „Absolutismus der Wirklichkeit“ gelingt, der selbst erst die Voraussetzung menschlicher Kreativität und Produktivität bildet. Warum ist das so? Weshalb kommt es an dieser Stelle zu einer Krise der kulturellen Repräsentation, die es für den Klimawandel nicht erlaubt, eine narrativ umfassend handhabbare Gestalt im Sinne einer modernen, postmythologischen Mythologie zu finden? Zwar ist es nicht so, dass diese dilemmatische Situation allein ein Privileg des Klimawandels als kulturell, gesellschaftlich wirksames Phänomen wäre, aber sehr viele ähnlich situierte Phänomene finden sich nicht. Bezeichnenderweise fallen sie sämtlich in das Feld ökologischer Gefahrenlagen. Dazu zählen die Wahrnehmung von Radioaktivität als Signatur der Gefährdung durch Atomkraft, die Bedrohung durch das sich ausweitende Ozonloch und sogar das zunehmende Artensterben, das vornehmlich solche Spezies betrifft, die lebensweltlich für uns keinerlei Präsenz, oftmals scheinbar nicht einmal Relevanz besitzen; in gewisser Weise wäre hier sogar die unsichtbare Wirkung von Umweltgiften hinzuzuzählen,

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die nur über hoch abstrakte und komplexe Bildgebungsverfahren nachvollziehbar werden. In diesem Zusammenhang hat der Klimawandel unterdessen eine Art paradigmatischen Stellenwert erlangt. Was derlei Situationen und Objekten fehlt, um im Sinne Blumenbergs (1990, S. 9) mythologisch zu wirken, ist die anfänglich absolute Uneinholbarkeit, worin die Objektwelt als (noch) nicht benannte Natur die Bedingungen menschlicher Existenz mythologisch „in der Hand hatte“ und naturhaft diktiert. Dieser „status naturalis“ des Ausgeliefertseins der menschlichen Existenz an die Gewalt seiner naturhaften Umwelt, ändert sich Blumenberg zufolge nicht primär mit der Erfindung des Werkzeugs (Leroi-Gourhan 1988), also der Bearbeitung der Welt, sondern mit einer Instrumentalisierung von Metaphysik und Symbolproduktion aus einem Zustand existenzieller Angst heraus: „Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat“ (Blumenberg 1990, S. 12). Denn obwohl, was ihrer Angstproduktion natürlich enorm zuträglich ist, ökologische Bedrohungslagen wie Atomkraft und Klimawandel der humanen Wahrnehmung hochgradig distanziert sind und nur als Abstraktum Eingang in die Welt sozialer Perzeption finden (als Grafiken, als Metaphern, als Formeln oder als Piktogramme), fehlt beiden Phänomenen ganz entschieden die Qualität einer absoluten Distanzmacht, wie sie den blumenberg’schen vorreflexiven „status naturalis“ ausmacht. Diese Schwäche leitet sich schlicht aus dem Umstand ab, dass beide Phänomene bereits Effekte und Resultate menschlichen Handelns sind und nicht etwa menschliches Handeln auf die von ihnen ausgehende Beunruhigung antwortet. In seiner vergleichsweise frühen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel greift auch Anthony Giddens (2009, S. 2) dieses Abstraktionsproblem auf und kleidet es in eine Formel, die er „paradox“ nennt: „Since the dangers posed by global warming aren’t tangible, immediate or visible in the course of day-to-day life, however awesome they appear, many will sit on their hands and do nothing of a concrete nature about them.“

3 Angst im Anthropozän Die symbolische Einhegung des Phänomens Klimawandel, die zwar nicht so sehr Voraussetzung für eine mögliche kulturelle, aber unbedingt für eine gelingende gesellschaftliche Bearbeitung wäre, kann nicht stattfinden, weil in diesem Fall Movens und Erzählung aus einer Hand stammen und gleichermaßen anthropogenen Ursprungs sind. Was Blumenberg jedoch voraussetzt, ist eine Wirklichkeit, die sich als absolut entfaltet, noch bevor Menschen die Kompetenz erlangen, auf

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diese Wirklichkeit zu reflektieren, und die eine solche Reaktion erst provoziert. Der Klimawandel hingegen ist bereits selbst, ganz im Sinne herkömmlicher Theorien einer Dialektik sozialen Fortschritts, ein Resultat genau solch einer Reflexion auf die Wirklichkeit. Selbst als unmittelbarer Effekt kann daher ein Phänomen wie der Klimawandel nur vermittels einer „epistemologisierende[n] Perspektive“ (Nassehi 2003, S. 33) erschlossen und als gesellschaftliche Wirklichkeit eingeholt werden. In gewisser Weise lässt sich diese Situation als Dilemma einer „exzentrischen Positionalität“ (Plessner 1975, S. 288 ff.) im Anthropozän bezeichnen. Für die Humangesellschaft wird es daher zum Problem, den Klimawandel einzuhegen, zu supponieren, zu erklären, zu benennen, weil sie den Klimawandel selbst hervorgebracht hat und somit dessen Ursprung ist. Insofern stellt die Realität des Klimawandels in keiner Weise eine absolute Realität dar. Vielmehr ist sie konsequent technogen und im Wortsinn selbst fabriziert. Der Klimawandel stellt zudem heute nicht weniger dar, als den Signifikanten des sogenannten Anthropozäns, also eines Erdzeitalters, dessen Lebensbedingungen primär durch die Effekte menschlichen Handelns und Verhaltens bedingt sind (Laux und Henkel 2018). Die Herausforderung, die im Anthropozän bislang gesehen wird, besteht vor allem, wenn nicht ausschließlich darin, eine angemessene ökologische und technische Reaktionsweise auf den Klimawandel zu finden. Insofern fügt sich das Anthropozän nahtlos in scheinbar nur wenig veraltete bis zeitgenössische Parameter der Risikokalkulation und Risikovergesellschaftung ein (Beck 1986). Die entsprechende Narration handelt von Bewältigung, Effizienz und Nachhaltigkeit, wofür sämtliche Kategorien stehen, die das Anthropozän zu seiner Selbstbeschreibung bislang hervorgebracht hat – Resilienz, Adaption, Prävention etc. Dabei ist bemerkenswert, wie sehr sich solche Ansätze in erster Linie in einer sozialtechnologischen Perspektive erschließen und damit eine seit langem etablierte Linie des human und natural engineering fortschreiben (Fernow 2014). Hingegen fehlt bislang grundlegend ein Verständnis des Anthropozäns als Herausforderung, die sich auch in kultureller und in symbolischer Hinsicht stellt. Dieser Aspekt am Anthropozän ist bislang noch weitgehend unterthematisiert. Die Frage stellt sich aber unvermeidlich, wie sich auf das Anthropozän als symbolische Form reagieren ließe. Ist eine angemessene Reaktion darauf überhaupt möglich? Das ist nicht bloß eine luxurierende Überlegung, vielmehr stellt sich die Frage, ob sich kulturelle Techniken entwickeln lassen, die der Angst vor den ökologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen des Anthropozäns Einhalt gebieten. Schließlich ist das Anthropozän ganz wesentlich ein Zeitalter der Angst vor jenen Kreaturen und Eventualitäten, die der techno-humanistischen Büchse der Pandora bereits entwichen sind und ihr künftig entweichen könnten. Zu diesen entweder emergierenden oder auch bereits etablierten Gefährdungslagen, die im weitesten

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Sinne in den Kontext einer von Bruno Latour (2000, S. 34) beschriebenen „Politik der Dinge“ gehören, zählt an prominenter Stelle auch der anthropogene Klimawandel. Insofern lässt sich feststellen, dass Angst in der im Anthropozän angekommenen Post- oder Hypermoderne eine ­des-integrierte Angst ist. Obwohl sie weiterhin als Movens kultureller Produktivität wirkt und die Bearbeitung von Angst unverändert ein Hauptquell kultureller Energie ist, bleibt sie auf der Ebene der sie tragenden Phänomene und Objekte zugleich abgespalten. Als technogene Angst verweist sie in jedem Fall radikal auf ihre Urheber, also auf die Spezies Mensch. Die Schwierigkeit oder sogar die Unmöglichkeit, diese aktuellen Formen von Angst gesellschaftlich und kulturell zu integrieren, resultiert aus genau dem Umstand, dass sie selbst humanen Ursprungs sind und nicht etwa Kräfte, gegen die sich menschliche Existenz und ihre Erzählungen behaupten könnten. Wenn aber die Angst im Anthropozän sich nicht integrieren lässt, droht sie gesellschaftlich und kulturell zu implodieren. Nicht integrierte Angst kann nicht gesellschaftlich bearbeitet werden und kann damit faktisch keine angemessene Reaktion erfahren – weder durch die sozialen Institutionen noch durch die Individuen. Eine gelingende Vergesellschaftung dieser Angst bleibt aus. Dieses Scheitern eines sozialen und politischen Umgangs mit dem Klimawandel hat nicht nur ökonomische oder hegemoniale Gründe. Es geht insbesondere auch darum, dass eine Übersetzung des Klimawandels in den Haushalt einer sozialen Semantik und symbolischen Repräsentation von Vergesellschaftung bislang nicht gelungen ist. Ohne das können aber gar keine erfolgreichen Strategien gesellschaftlichen Handelns gegenüber dem anthropogenen Klimawandel entwickelt werden. Es muss davon ausgegangen werden, dass ein sozial agonales Verhältnis der Gattung Mensch gegenüber dem Klimawandel als einer Repräsentante des unheimlichen, gefährdenden Anderen überhaupt erst aufgebaut werden kann, wenn auch dessen symbolische Integration gelingt. Ob deren Vollzug gelingt, ist aber genau deshalb fraglich, weil sich hier jede Form der Erzählung als Supposition erübrigt. Weil sich auf die Ursprünge des zeitgenössischen Klimawandels als Resultat industrieller, anthropogener Vergesellschaftung rasch verweisen lässt, erscheint eine Supposition weder möglich noch nötig. Schließlich verweist der Klimawandel geradezu zwingend auf seine humane Determinante. Der Mensch ist hier zu seinem eigenen „Absolutismus der Wirklichkeit“ geworden, und aufgrund dieser Selbstreferentialität versagt bislang dem anthropogenen Klimawandel gegenüber offenbar auch jede Form der exzentrischen Positionalität und ihrer spezifischen Reflexivität. Das heißt nicht, dass der Klimawandel als Phänomen nicht etwa eine Wirkmächtigkeit entfalten würde, über die er die gesellschaftlichen Lebenswelten der Gegenwart ganz neu kolonisieren würde. Aber dieser Absolutismus einer ökologischen Wirklichkeit hat mit Blumenbergs Konzeption eines m ­ ythologisch

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erfahrenen „Absolutismus der Wirklichkeit“ und dessen absoluter Distanzmacht faktisch nichts mehr zu tun, sondern bleibt ein rein technologisch initiiertes Widerfahrnis, dessen Entäußerung und materieller Ausdruck das Bild des braunen Planeten ist. Das Dilemma besteht also darin, dass der Klimawandel als Phänomen und fortschreitender Prozess Resultat einer enorm starken, in ihren Wirkungen langfristig angelegten, techno-humanen Aktivität ist. Zugleich erweist er sich aufgrund seiner fehlenden Distanzierung gegenüber den Grundlagen humaner Lebenswelten und einer daraus hervorgehenden, des-integrierten Angst als Produzent einer extremen gesellschaftlichen, politischen Lähmung – daran ändert zunächst auch die Setzung des Klimawandels als inzwischen maßgebliche Variable für ein globales ebenso wie ein lokales politisches Agenda-Setting nichts. Die immer wieder faktisch scheiternde politische Adressierung des Klimawandels dürfte genau hiermit zu tun haben: Die weitestgehend unmittelbare Nicht-Erfahrbarkeit des Klimawandels steht dem Menschen als visuell-sinnlich ausgerichtetem Sozialwesen offenbar massiv im Wege. Grobe Schwierigkeiten in der Anbahnung einer globalen Ethik und bei der Organisation konzertierten politischen Handelns jenseits klassischer Machtfelder und nationalstaatlicher Folien spitzen diese Lage zu. Die durchaus vorhandenen, mit dem Klimawandel verbundenen Angstzustände in der Gesellschaft erweisen sich, ganz im Sinne Blumenbergs, als nicht hinreichend gerichtet, als zu abstrakt und ziellos, vor allem in den Gesellschaften, die nach wie vor global Hegemonie beanspruchen und durchsetzen (Comaroff und Comaroff 2012). Besonders deutlich wird dies an neueren sozialen Bewegungen zum anthropogenen Klimawandel, wie den Fridays for Future. Deren Mobilisierungspotenzial speist sich ganz primär aus der schieren Angst vor den sukzessive von der Abstraktion in konkrete Konsequenzen wechselnden Aggregatzuständen der Klimatransformation. In einer solchen Perspektive bleiben dann alle Instrumente einer nachhaltigen Politik oder eines climate engineering (Fernow 2014), so sehr diese politisch eingefordert werden, lediglich klassisch katechontische Praktiken, die die finale Katastrophe nurmehr temporär aufhalten können. Die Integration der Angst gelingt hier über die generationelle Dichotomie, indem der Klimawandel als „Absolutismus der Wirklichkeit“ für die junge Generation unter einem mythologischen Regime der Alten stilisiert wird. Allerdings geht damit wiederum die Besonderheit der Selbstreferentialität des Phänomens verloren und holt ein simpler binärer Code wie dieser weder die politische Komplexität des anthropogenen Klimawandels ein noch stellt die neue Bewegung jene techno-szientifische epistemologische Logik infrage, die den Klimawandel erst möglich gemacht hat. Im Gegenteil, diese Logik ist de facto ihr einziges Argument. Paradoxerweise

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schließt damit der Protest gegen die ökologischen Verwerfungen der Moderne nicht nur genau an deren klassische Idee des Fortschritts an, sondern nutzt diese sogar für den einzig noch verfügbaren, positiven Zukunftsentwurf. Das Paradigma speziell des wissenschaftlichen Fortschritts wird hier als utopische, mithin heilsgeschichtliche Ressource radikalisiert (Jonas 1984; Löwith 1990). Alles in allem stellt vor diesem Hintergrund der anthropogene Klimawandel heute das dystopische Modell schlechthin dar. Angesichts des Klimawandels ist die einzig verbleibende Utopie buchstäblich die Konservierung der Gegenwart, die sich in Gradverschiebungen in Celsius messen lässt (Gerstengarbe und Welzer 2013). In Wirklichkeit aber hat der Klimawandel, einmal anerkannt als sich real vollziehender Prozess, fast jede Möglichkeit der Hoffnung ausgeschaltet. Worauf Gesellschaft und Kultur sich nun sukzessive zunehmend einstellen, ist die perspektivische Verschlechterung der ökologischen Bedingungen, unter denen gesellschaftliches Leben stattfindet. Diese ökologischen Bedingungen, diese Einsicht wird langsam aber sicher auch in den Gesellschaften des Nordens zum common sense, betreffen neben der Frage nach dem Zustand der heimischen Landschaften (mit Gerst: die Frage danach, wie grün diese vom Weltraum aus wirken) massiv Fragen der Gesundheit, der sozialen Sicherung, der basalen Versorgung mit Ressourcen wie Trinkwasser, der Funktionalität von Infrastruktur, der regionalen bis globalen Konfliktlagen etc. Popkulturell formuliert: This is the end of the world as we know it; die Frage der Vergesellschaftung stellt sich von Grund auf neu. Der zur Dystopie gewordene Klimawandel trägt Eisberge ab und türmt Problemhalden auf. Einmal abgesehen von den existenziellen Konsequenzen, die damit im öffentlichen Diskurs oft verbunden werden, die sich aber noch, und zuallererst für die Bewohner der nördlichen Hemisphäre, speziell als Abstraktum der Wahrscheinlichkeiten und Gittertabellen ausdrücken, trifft der Klimawandel die gesellschaftliche Realität in epistemologischer Hinsicht auf drei Ebenen. Erstens mit Blick auf eine Vergesellschaftung des Fortschritts und der Natur; zweitens hinsichtlich der Wahrnehmung des Naturschönen, das sich nunmehr in ein Naturmonströses verkehrt; und drittens im Rahmen einer humanen oder anthropologischen Selbstzentrierung in der Welt.

4 Vergesellschaftung von Fortschritt und Natur Die drei eben genannten Aspekte sollen im Folgenden jeweils kurz diskutiert und auf die Problematik gesellschaftlicher respektive kultureller Angst bezogen werden. Insgesamt ist es wohl von größerer Bedeutung, die symbolischen und epistemologischen Rahmenbedingungen zu verstehen und nachzuvollziehen,

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unter denen sich Prozesse wie der Klimawandel vollziehen. Nur ein solches Verständnis vorausgesetzt, wären auch gesellschaftliche und kulturelle Reaktionskonzepte denkbar, die als umsetzbar erscheinen könnten. Ob diese sich dann gegen eine Gouvernementalität der Globalisierung und deren national basierte Zentren durchsetzen ließen, wäre allerdings weiterhin fraglich und keineswegs zwingend. Für die Moderne lassen sich mit Blick auf Vergesellschaftungsvorgänge zwei Charakteristika ausmachen: Erstens Vergesellschaftung durch technischen und sozialen Fortschritt – wobei letzterer in aller Regel eher als Appendix des ersteren gedacht wird –, und zweitens, daraus abgeleitet, eine umfassende Vergesellschaftung der Natur. Die Besonderheit liegt darin, dass die Verfahren und Instrumente des technischen Fortschritts nicht nur Voraussetzung sind für einen mit deren Hilfe realisierten sozialen Fortschritt, sondern auch für eine immer technologisch basierte Vergesellschaftung der Natur (Eder 1988). Instrumentelles humanes Handeln sozialisiert eine als antipodisch ausgerichtet empfundene Natur durch kulturelle Bearbeitung. Natur muss vergesellschaftet und als erste Natur, paradox genug, Teil von Kultur als zweiter Natur des Menschen werden (Sieferle 1989; Böhme 2017). Mit den Phänomenen einer postmodernen Ökologie, wie etwa dem anthropogenen Klimawandel, tritt aber eine neue Qualität auf, die zwar bereits utopisch antizipiert wurde, sich aber bis dahin vornehmlich in der Form als prosaische Fiktion äußerte. Denn die Pathologie des anthropogenen Klimawandels ist nicht mehr länger die Art vergesellschaftete Natur, wie sie mit der Industrialisierung in der klassischen Moderne ihren Höhepunkt erreichte. Vielmehr löst sich hier vergesellschaftete Natur abermals und in neuer Form von den Parametern ihrer Vergesellschaftung ab und wendet sich gegen sie. Die Krise des anthropogenen Klimawandels ist auch und nicht zuletzt eine Krise der Vergesellschaftung von Natur, weil es vergesellschaftete Natur ist, die sich hier scheinbar als epistemologisch, ökologisch und p­olitisch-mythologisch neuer Akteur aufstellt und die gerade aus dem Stand ihrer Vergesellschaftung heraus eine gegenüber ihren ursprünglichen Determinanten autonom wirkende, selbst deterministische Kraft entfaltet. Während es das Markenzeichen der klassischen Industriemoderne ist, nach Möglichkeit keinerlei Raum einer nicht vergesellschafteten Natur mehr übrig zu lassen – es sei denn in Form einer Reservation, die als formal unberührte Natur nur umso stärker vergesellschaftet ist –, spaltet sich auf dem Höhepunkt dieser Epoche ein techno-vergesellschaftetes Natursegment aus dieser Hermetik der Vergesellschaftung durch anthropogene Technik ab. Hierbei handelt es sich um eine zunächst eindeutig und erfolgreich vergesellschaftete Natur, die zugleich zum Element einer nachhaltigen Störung bis Zerstörung eben dieser Vergesellschaftung wird. Speziell Phänomene wie der Klimawandel definieren

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sich gerade dadurch, dass sie nicht mehr als naturhafte Natur vermittelbar sind, sondern nur als eine neue, nicht nur anthropogen, sondern vor allem technisch affizierte Naturform, die nur unter den Bedingungen einer umfassenden Vergesellschaftung von Natur denkbar ist. Nur deshalb lassen sich daran auch ethische Diskurse um eine humane Verantwortung und Verschuldung der Natur gegenüber anschließen, die sich allerdings, wie oben angemerkt, kaum institutionalisieren lassen. Zumal auch die Idee der Verantwortlichkeit im Verhältnis zur Natur undenkbar wäre, ohne dass menschliches Handeln Natur dominieren würde. Insofern ist Natur praktisch, ästhetisch und monströs übergegangen in das Feld humaner Determinanten; sie transformiert an dieser Stelle zu einer anthropomorphen Natur in monströser Gestalt. Zugleich löst sich genau diese in der Latenz übervergesellschaftete Natur aus dem Kontext einer durch Kulturalisierung und Vergesellschaftung hergestellten zweiten Natur des Menschen heraus, die diesem ja gerade eine Heimstatt in der Welt geben sollte, gewissermaßen als materielles Pendant zur mythologischen Erzählung, wie von Blumenberg beschrieben. Die monströs vergesellschaftete Natur tritt der anthropogenen Gesellschaft als Dissonanz, als Fehler und vor allem als etwas genuin Anderes gegenüber, das nurmehr unter größten Schwierigkeiten einzuholen ist. In gewisser Weise wäre dies als eine dritte Natur anzuschreiben, die zwar anthropogen initiiert ist, die sich aber trotzdem, oder gerade deshalb, von ihren anthropogenen Grundlagen so weit abgelöst hat, dass sie sich nun gegen diese wendet. An just diesem Punkt kommt die eingangs erwähnte Des-Integration von Natur in der Gegenwart ins Spiel. Diese nicht länger integrierte Natur ist auf neue Weise frei, gefährlich und vor allem unkontrollierbar. Als solche schlägt sie auf ihre Urheber zurück. Die individuellen und gesellschaftlichen Angstzustände, die sie auslösen kann, sind von elementarem Ausmaß, weil sie sichtlich eine ganze Reihe von Existenzgrundlagen des Menschen angreift. Sie sind aber auch ungerichtet und objektlos, weil diese anthropomorph zugerichtete, in den Modus der Störung ausgewichene Natur jenseits der Humanbeherrschung sich nicht mehr in den nach wie vor eingespielten Konzepten eines Umgangs mit der Natur begreifen oder behandeln lässt.

5 Das Naturmonströse Das Naturschöne kommt bekanntlich erst als ein Resultat einer mit der Aufklärung verbundenen Ästhetik auf, Abfallprodukt von Naturgeschichte und der Frage nach der Möglichkeit einer Ästhetik jenseits, wenn schon nicht des

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menschlichen Blicks, so doch eines menschlich kreativen Handelns (Carlson 2004). Insofern ist das Naturschöne ausgesprochen stark der Konzeption des Erhabenen verbunden. Nicht jedes Naturschöne ist bereits zwingend erhaben, oft darf gerade Natur schlicht einfältig und unschuldig schön sein, ganz ohne Intention aus sich heraus und dennoch in den Menschen das größte Vergnügen weckend. Das Erhabene bildet hier nur die äußerste Steigerung eines Naturschönen, das nicht mehr einholbar ist, nicht kognitiv, intellektuell und im Grunde auch nicht für die Wahrnehmung der Sinne, weil dieses Erhabene zu groß ist, zu komplex, zu befremdlich und überwältigend, fast im mythischen Sinne. Ästhetisch ließe sich sagen, das Panorama als Kulturtechnik und Sensation des 19. Jahrhunderts sei der Versuch, das Erhabene als Projektion handhabbar zu machen. Die Wirkung des Naturschönen liegt in einer Neutralisierung der menschlichen Wahrnehmung, in der Hingabe an eine Ästhetik gewordene Natur und eine Natur gewordene Ästhetik. Letztere ist aber nur deshalb möglich, weil Natur von der absoluten Gefährdung zu einem Vademekum der Seele transformiert werden konnte. Mit der Wendung des Naturschönen ins Naturmonströse als anthropogener Hybridisierung von Natur ist genau das nicht mehr möglich. Vielmehr wird Natur in der Gestalt eines postmodernen Naturmonströsen neuerlich zum ultimativen Angstgenerator. Natur ist dann dasjenige, das verängstigt und existenziell bedroht, und zwar gerade weil sie gleichzeitig human affiziert und dissoziiert ist. Darin liegt gewissermaßen die mythologische Wende einer dritten Natur, und der aktuelle, anthropogene Klimawandel müsste so gesehen als eine anthropogen motivierte Mutation der ansonsten als allgemein repräsentativ erachteten Natur verstanden werden. Diese Natur stellt das absolute Andere mit Blick auf eine kulturell codierte Natur des Menschen dar (Plessner 1975, S. 310). Aber monströs ist sie gerade nicht, weil sie nicht menschlich oder menschlich eingeholt und damit das Gegenteil eines humanen Ethos wäre, sondern weil sie ihren Ursprung unbedingt in einer menschlichen Auseinandersetzung mit der Natur hat. Der Stoffwechsel mit der Natur gebiert Ungeheuer.

6 Anthropologische Selbstzentrierung Die menschliche Welt ist durchgehend anthropozentrisch organisiert. Die Perspektive, welche humane Vergesellschaftung auf die Welt einnimmt, ist immer und notwendig die des Menschen selbst. Ein Außerhalb der anthropozentrischen Perspektive ist als Anthropos nicht möglich. Auch das ist eine Tragödie der Kultur, die uns fortwährend in die Kolonie und in die Episteme des M ­ enschlichen

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zwingt. Letztlich sind alle Versuche, das Problem der Anthropozentrik aufzubrechen, nur möglich, weil sie eine Kompetenz nutzen, die paradoxerweise genuin zur Anthropologie gehört und der Legitimation eines anthropozentrischen Weltbildes dient. Dies ist die Figur der von Helmuth Plessner (ebd., S. 288 ff.) entworfenen „exzentrischen Positionalität“. Indem der Mensch über sich hinausgeht, hebt er sich nicht auf, sondern kommt überhaupt erst zu sich. Humane Selbstzentrierung bedeutet nichts anderes, als dass die Welt des Menschen eine menschliche Welt ist, mit allen Konsequenzen, aber unaufhebbar, und dass diese Welt aus der Distanznahme heraus entsteht und adressiert wird. Genau diese Selbstzentrierung aus einer anthropologischen Distanznahme heraus kommt aber nie an ein Ende, wenn mit dem technoid affizierten Naturmonströsen etwas Neues und Anderes hervorbricht. Das geht zwar einerseits genealogisch auf anthropozentrische Konzepte und Parameter zurück, dissoziiert sich davon aber gleichzeitig und lässt sich kaum mehr konzeptionell einfangen. Natürlich stellt gerade ein Phänomen wie der Klimawandel, speziell als Bedrohungsszenario, ein Resultat menschlichen Handelns und Planens dar und bewegt sich insofern vorzüglich im Kanon anthropologischer Selbstzentrierung in Form einer humanisierten Natur. Da der anthropogene Klimawandel sich aber gleichzeitig monströs von dieser Zentrierung gelöst hat und nach Kriterien funktioniert, die zwar human initiiert, in ihrer Komplexität und Kontingenz aber nicht mehr human gerichtet sind, geht gerade das Monströse erfolgreich über die eingespielten und gewohnten Formen einer Vergesellschaftung von Natur und einer Zentrierung des Menschen hinaus. Das heißt der anthropogene Klimawandel ist transhumanistisch gewordene Natur. Bei den in diesem Zusammenhang generierten Angstzuständen handelt es sich daher vor allem um solche, die sich auf Aspekte einer dehumanisierten Technonatur richten, die nun selbst zum Machtakteur bezüglich der Platzierung des Menschen in einer Welt wird, welche nunmehr primär Umwelt heißt.

7 Schluss Die gesellschaftliche Konfrontation mit der als apokalyptisch imaginierten Gefährdung durch den Klimawandel sowie die Unfähigkeit, auf diesen handelnd zu reagieren, realisieren sich zum einen als Neomythologisierung des menschlichen Naturverhältnisses, zum anderen als Ausdruck einer humanen Angst vor einer uneinholbaren Gefährdung, die sich nicht hinreichend Ausdruck verleihen kann. Deutlich wird daran eine ultimative Krise des nach wie vor gängigen Modells humaner Naturvergesellschaftung und anthropozentrischer

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Selbstbemächtigung. Das verdeutlicht sich eindrücklich an der nur oberflächlich undramatischen Meldung, 2018 sei das viertwärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gewesen (WMO Report 2018). Die Prognosen der Weltorganisation für Meteorologie gehen unterdessen von einem durchschnittlichen Temperaturanstieg um bis zu 3 bis 5 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts aus – allerdings bei Beibehaltung des Status Quo. Das im Rahmen des Klimaabkommens von Paris 2015 beschlossene Ziel einer Reduktion der Erderwärmung auf 2 Grad, wenn möglich sogar auf 1,5 Grad wird unterdessen von vielen Seiten als nicht mehr erreichbar eingeschätzt. So ambitioniert dieses Ziel ist, es bewegt sich letztlich weiterhin genuin im Paradigma einer Naturvergesellschaftung des Menschen, von der sich der anthropogene Klimawandel als globales Phänomen abgekoppelt hat – und sehr wahrscheinlich gibt es, was das Dilemma eher verschärft, dazu epistemologisch gar keine Alternative. Insofern verhält sich der Klimawandel analog zum vorgeschichtlichen „Absolutismus der Wirklichkeit“ und setzt sich in eine absolute Differenz zur Humangesellschaft, die er mit einer Bedrohungslage überzieht, welche dem Schrecken eines Angst einflößenden „Absolutismus der Wirklichkeit“ ziemlich nahe kommt. Den „Absolutismus der Wirklichkeit“ konnte menschliches Handeln allerdings noch angemessen neutralisieren, indem es ihn geborgen hat. Diese Form der Integration des Schrecklichen ist nicht mehr ohne weiteres möglich, wenn der „Absolutismus der Wirklichkeit“ selbst ein Ergebnis der Defizitstrukturen technologischen menschlichen Handelns darstellt. Ähnlich hatte Günther Anders (1981) in den 1980er Jahren die Relation zur atomaren Gefährdung beschrieben. In der Konsequenz ersetzt so eine fortwährende, aber reichlich abstrakte Angst vor dem Ende das Handeln, während ansonsten weiterhin allen Wesen die Sonne scheint.

Literatur Ahrens, J. (2012). Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. Kulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film The Man Who Shot Liberty Valance. Wiesbaden: Springer VS. Ahrens, J. (2017). Einbildung und Gewalt. Film als Medium gesellschaftlicher Konfliktbearbeitung. Berlin: Bertz + Fischer. Anders, G. (1981). Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. München: Beck. Anders, G. (1992). Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München: Beck. Barthes, R. (1964). Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Jörn Ahrens, Dr. phil.;  Professor für Kultursoziologie mit Schwerpunkt Transformation von Kulturen am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen und Extra Ordinary Professor of Social Anthropology an der North-West University Südafrika; Arbeitsschwerpunkte: Angst und Gewalt; populäre Medien und Kulturen (Film, Comic); Natur und Kultur; Kultur- und Sozialtheorie.

Angst um …/Sorgetragen für … Gabriele Werner

1 Las Vegas 1. Oktober 2017, Las Vegas: Beinahe zehn Minuten lang schoss Stephen Paddock vom Mandalay Bay Hotel aus auf eine Menschenmenge, die das ­Country-Musik-Festival Route 91 Harvest besuchte, dabei tötete er 58 Menschen und verletzte weitere 489. Für das Massaker gab es in der Presse ein ikonisches Bild (Abb. 1), das wie kein anderes die ikonografische Bewältigungsstrategie dieser mörderischen Tat veranschaulichte. Eine junge weiße1 Frau mit langem blondem Haar sitzt, die Arme dicht vor ihrem Oberkörper, den Kopf auf die Fäuste gestützt, allein auf einer Bordsteinkante. Sie hat ein dünnes weißes Trägerkleid an, dazu Cowboystiefel an den Füßen. Ihre Hände umklammern etwas blau-rotes Weiches, ihr Blick auf einen Fleck vor ihren Schuhspitzen ist abgrundtief leer. Diese erstarrte, junge weiße Frau ist einerseits wie ein Symbol für den undenkbaren Terror, für das Zerreißen von Sinn und Verstehensmöglichkeit im Moment der Katastrophe (Doane 1990, S. 258, 261). Als Bild reiner, unverwundeter Unschuld, zwar weltlich, aber nah genug an einer (christlichen)

1Weiß

– entsprechend der feministischen, postkolonialen Diskurse – kursiv gesetzt, um zu verdeutlichen, dass damit eine politische Kategorie bezeichnet wird und nicht eine Hautfarbe gemeint ist; zudem ist dieser Text in einer gendergerechten Sprache verfasst und verwendet den Asteriskus, um dichotome Normativitäten zu vermeiden.

G. Werner (*)  Weißensee Kunsthochschule Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_6

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Abb. 1   Las Vegas 1.10.2017, Country-Musik Festival Route 91 Harvest. © John Locher/ AP. In Berliner Zeitung, 2017/231, (S. 3)

I­ konografie des Engelhaften, ist sie andererseits die Projektionsfläche des Trostes und der Angstbewältigung, ein Gegenbild zu Tod und Versehrung. Bildkulturelle2 Zeichen sind arbiträr, aber nicht beliebig, Pressebilder sind situativ, aber kontingent. In dem Bild der engelhaften, jungen weißen Frau vermischen sich Bildtraditionen, bedeuteter Sinn, Information und Propaganda. Durch das Bildmotiv einer hockenden Frau wird das Foto in eine ikonografische Bildgeschichte hineingezogen, deren über die Jahrhunderte weiter gesponnener Sinn geradezu als Angst-Effekt beschrieben werden kann – die Melancholie. Geht man, wie Hartmut Böhme (1989), den literarischen Rezeptionen von Albrecht Dürers Melencolia I (1514, Abb. 2) nach, so lernt man von ihm, wie dieser Kupferstich – als Ausdruck für Verwirrung, für eine in der Verzweiflung sich versagende Erkenntnis (18. Jahrhundert), für eine in der Moderne zu Bewusstsein gelangte Entfremdung, für die Abwesenheit jeglicher Sinnsicherheit oder ein Zurücksinken in ein bloßes An-Sich (19.

2„Unter

Bildkultur verstehe ich den ästhetischen Gesamtzusammenhang von Reklame, Unterhaltung, technisch produzierter Massenkunst und institutioneller Hochkunst, die umso vielfältiger in die politische Kultur hineinwirkt, je mehr sich diese über Bilder herstellt.“ (Werckmeister 2005, S. 7).

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J­ ahrhundert), für die metaphysische Antwortlosigkeit und einsame Ausgesetztheit (20. Jahrhundert) – seine Wirkung immer wieder neu und zugleich repetitiv gleichlautend bedeutet. Die melancholischen Reflexionen spiegeln auf verblüffende Weise, was mindestens seit der Aufklärung als Angstgründe moderner Menschen westlicher Zivilisationen angeführt werden kann (Koch 2013). Nun hat das engelhafte Wesen auf der Bordsteinkante in Las Vegas, anders als Dürers Genius, keine Flügel, diese muss die Melancholie als Geste und Haltung auch nicht notwendig haben (Hohl 1992), und es ist auch nicht umgeben von einer Vielzahl verklausulierter, magischer, nützlicher oder mit Bedeutung beladener Objekte (im Kupferstich sind es 35), was dem Foto die epistemische Wucht nimmt, die das Dürersche Blatt hat. Fahrtrage und Rettungswagen auf dem Foto wiegen diese Schwere nicht auf, aber als Zeichen einer technifizierten Caritas verweisen sie auf die damit einhergehende funktionierende menschliche Versorgung, weshalb das Foto eben nicht nur das Grauen des Terroranschlags zeigt, sondern auch Trost verspricht: Eine zivile Gemeinschaft sorgt für ihre Überlebenden. Was aber lässt sich über diese Gemeinschaft angesichts des Bildes einer jungen, weißen, blonden Frau im weißen Kleid sagen, ist das Bild doch ansonsten menschenleer? Countrymusik hat, ganz unabhängig davon, ob aus erfahrener Herkunft oder modischer Attitüde der weißen Mittelklasse, das Image von White Trash, von Rednecks oder Hillbillys – das heißt, der unteren Mittelschicht und der Underclass –, der weißen Arbeiter*innen aus dem US-amerikanischen Rustbelt oder den Kohlerevieren in den Appalachen (Isenberg 2016, S. 276; Vance 2017, S. 9 f.). Auch der weiße Täter dieses Massakers war in Armut aufgewachsen, jedoch durch Immobilienhandel zu Wohlstand gekommen – eine aus seiner Biografie abgeleitete Motivsuche für die Tat führte zu nichts (Büchse 2017, S. 88 ff.). Ein anderer Versuch der Annäherung an Motive von Amokläufern ist, sie mit dem Zorn über einen empfundenen Verlust von Privilegien, von als angestammt wahrgenommener Vorherrschaft zu erklären: „Der Zorn über die kränkende Enteignung ist eine geschlechtsspezifische Emotion, getrieben vom demütigenden Verlust der Männlichkeit und der moralischen Pflichten und dem Recht, diese Männlichkeit wiederherzustellen. Diese Emotion ist männlich.“ (Kimmel 2013, S. 98) Gewalt soll diese Verletzung heilen! Wenn aber dieser Zorn so unberechenbar und ungerichtet erscheint, werden Akte des „einheimischen Terrorismus“ (domestic terrorism) wie in Las Vegas zunächst in den üblichen individualisierten und damit unerklärlichen Amoklauf-Zusammenhang gestellt, und es entsteht die Frage, welches Bild es vermag, eine sich wieder ihrer selbst versichernde Gemeinschaft aufzurufen, die das auf keinen Fall dulden kann. Mehr noch, die im Moment der verstörenden Erkenntnis, dass die terroristischen (rechtsradikalen)

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Abb. 2   Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstich, im Besitz der Hamburger Kunsthalle. In H. Hohl (1992, S. 23, Abb. 25)

Anschläge unvorhergesehen, so genannt „aus der Mitte der Gesellschaft“ erfolgen, Mittel und Wege sucht, um wieder zusammenzurücken.

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Das Foto von der jungen Überlebenden in Las Vegas ist deshalb ein Zeitdokument, da es zwei Diskurse zusammenbringt, mit denen westliche Gesellschaften nach 9/11 ihre Verbundenheit und Wehrhaftigkeit bekundeten: Weißsein und geteilte Werte. Im Bild von Las Vegas dominiert auf den ersten Blick das verloren gegangene oder verloren geglaubte Heilsversprechen durch den (gesehenen, aber womöglich auch nicht erkannten, aber gleichwohl gezeigten) religiösen Bezug. Ein weiteres Bild, ebenfalls eine Fotografie, soll den Kontext weiten, um für das Bild des Weiblichen auf dem Las Vegas-Foto diese Zuordnung plausibel zu machen.

2 Abschottung Eine weiße Familie, deren Angehörige ebenfalls blond sind, ist um einen Tisch versammelt und hat sich im Gebet die Hände gereicht. Sie bildet einen geschlossenen Kreis der privaten Zurückgezogenheit, zentral im Foto platziert, eingefasst von den Rahmen des mittleren Fensters, durch das die Szene von außen fotografiert wurde (Abb. 3). Die Familie zelebriert ihr Tischgebet nicht in der heimischen Stube, sondern bei McDonalds. Nicht nur das aktuelle McDonalds Logo spiegelt sich in der Fensterscheibe, an der Wand hinter der Sitzgruppe hängt ein Bild der ursprünglichen 1950er Jahre Filialen der ­Fast-Food-Kette. Durch die inszenierte Abschottung der Familie – der Familienkreis ist (noch) geschlossen, die Familie sitzt isoliert, kein anderer Tisch um sie herum ist besetzt und kann den inneren Kreis stören, und vor allem kommt der Blick auf die Familie von Außen, d. h. von einer ausgegrenzten Position – hebt das Foto zu einer Erzählung an, die über ein angstbesetztes Weltverhältnis einer weißen, christlichen und ethnozentrischen Gemeinschaft Auskunft zu geben vermag und über ein Bekenntnis zum Glauben hinausgeht. Angela Strassheim hatte das Foto 2004, also drei Jahre nach 9/11gemacht, ein Jahr nach der offiziellen Beendigung des 2. Irakkriegs (des Dritten Golfkriegs) und während der anschließenden Besetzung des Irak; es ist das Jahr der Wiederwahl von Georg W. Bush. Mit den Terroranschlägen auf das World Trade Center und auf das Pentagon am 11. September 2001 begann nicht nur die sogenannte „Ära des Terrors“, sondern auch die Transformation US-Amerikas und nachfolgend der westlichen Welt in eine Kultur der „Angstfügsamkeit“, mit der fortan eine

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Abb. 3   Angela Strassheim, Untiteled (McDonalds), 2004 C-print, 101,6 × 127  cm. © Angela Strassheim, New York. In Draiflessen Collection (2019, Farbtafel Nr. IV)

Politik der Angst betrieben wurde.3 Die Selbstversicherung über den Glauben erfüllt als Mittel der sozialen und kulturellen Angstbewältigung eine Funktion, auf die die vorsichtig ausweichende Körperdrehung der Tochter und ihr von ihrer Familie abgewandte Blick aufmerksam zu machen vermag – auf die mit der Aufklärung einhergehende Persistenz der Rede von der Säkularisierung westlicher Gesellschaften, auf ihre „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) seit der Industrialisierung, auf den Verlust einer m ­ etaphysischen-religiösen

3Frank Furedi (2018, S. 12, 249) referiert Analysen zu einer Stimmung innerhalb der USamerikanischen Gesellschaft nach 9/11. Deutlich gleichlautend argumentieren aber auch Michael Hardt und Antonio Negri (2013, S. 26) hinsichtlich der hochentwickelten Überwachungstechnologien: „Wir nehmen es hin, in einer Gefängnisgesellschaft zu leben, weil uns das Draußen noch bedrohlicher erscheint.“ (vgl. auch Ahmed 2004, S. 62, 81).

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Orientierung oder Sinnstiftung (Koch 2013, S. 8; Böhme 2013, S. 278). So sitzt die Tochter bei dieser Bildinterpretation wie eine Kippfigur am Tisch, als den Kreis destabilisierender Ort der Angst und als Ort der Aufmerksamkeit für die (Re)Stabilisierungsversuche. Gegen das Gefühl zunehmender Unbehaustheit und einer Entfremdung von neu entstehenden Normen und Strukturen reagierte der ängstliche, das kapitalistische (und heute neoliberale) Gebot der Flexibilität fürchtende Mensch mit durch Angst motivierten Ressentiments, mit einer Rückbesinnung auf imaginierte nationale Zugehörigkeiten (Heimat), mit der Verklärung des Vergangenen und mit einer kulturellen (Ein)Schließung eines Gruppen-Wir, das aus Nation/Volk, Familie und Christentum gebildet wird (Kimmel 2013, S. 40; Koppetsch 2017, S. 8, 22; Schmitz und Gengnagel 2018, S. 60). Doch ist es nicht nur das begründungsfreie Für-wahr-Halten, das dem Pluralismus des liberalen Weltbildes, für den Werte und Moral keine unhinterfragbaren, feststehenden Haltepunkte (mehr) sind, entgegengebracht wird. Es ist vielmehr das Versprechen der Religiosität, das dem entorteten ängstlichen Menschen Trost und vor allem Heil(ung) verspricht: „Genau das bedeutet ja das Wort ‚heil‘ (indemne): das Reine, Nicht-Kontaminierte, Unberührte, das Sakrale oder Heilige, das noch nicht entweiht, geschändet, verwundet worden ist, an dem man sich noch nicht vergangen und das noch keine Verletzung erlitten hat.“ (Derrida 2001, S. 41, FN 20). Dieses von Außen gesehene melancholische „Versinken im Unbenennbaren“ (Weiss 1981, S. 132) in der Situation erfahrener und überlebter Gewalt einerseits und unversehrten Weißseins andererseits im Bild des Weiblichen mit all den Möglichkeiten seiner Gemeinschaft bildenden Schichtungen erklärt die Besonderheit dieses Fotos als ikonisch für den Terroranschlag von Las Vegas. Dort, wo Religiosität den eigenen privaten Raum verlässt und in der Öffentlichkeit zum Argument wird, wird sie auf eine Weise politisch, die verdeutlicht, wie die „metaphysische Rahmenlosigkeit der Moderne“ (Böhme 2013, S. 279) auch zu einer ressentimentgeladenen Wagenburgmentalität regredieren kann. Der Fernsehprediger Jerry Falwell markierte beispielsweise sehr eindeutig, wen diese Umfriedung nicht einschließt, als er sich am 13. September 2001 in der US-amerikanischen Fernsehsendung The 700 Club, die von dem Prediger Pat Robertson moderiert wird, zu den Terroranschlägen vom 11. September äußerte: „I really believe that the pagans, and the abortionists, and the feminists, and the gays and lesbians who are actively trying to make that an alternative lifestyle […] all of them who have tried to secularise America […] I point the finger in their face and say, ‚you helped this happen’.“ (Zit. n. Ahmed 2004, S. 77).

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Vor die Terrorangst schiebt sich eine andere Angst, die aber verdeutlicht, dass Ängste vor einem sozialen Abstieg oder kultureller Ausgegrenztheit, die Angst vor Demütigung oder verweigerter Anerkennung aufgrund von finanzieller oder wertschätzender Ungleichverteilung nicht individuelle phobische Reaktionen sind, sondern Angstverhältnisse in Machtkonflikten, und insofern bilden unterschiedliche Ängste und Angstformen unterschiedliche soziale Gruppen und soziale Ordnungen heraus.4 Dabei ist es nicht unerheblich, in welcher Weise das christliche Ideal der Reinheit (des Heilens) auch in postchristlichen (säkularisierten) Zeiten Gemeinschaften in ihrer Gemeinsamkeit und mittels ihrer Ausschlüsse konstituiert: „Die Gesetze der Reinheit dienen letztlich dazu, dem Kollektivkörper, der über keine genau definierten Grenzen verfügt, dennoch den Anschein einer körperlichen Geschlossenheit zu verleihen.“ (von Braun 1997, S. 9).

3 London Semantisch ist Reinheit mit der Farbe Weiß, politisch mit Weißsein verbunden (Hund 2017, S. 151 ff.). Wie diese semantischen und politischen Bedeutungen in eine Bildgebung für einen speziellen Kollektivkörper hineinwirkten, zeigt eine weitere Fotografie, die, ähnlich wie das Foto der jungen Frau in Las Vegas, einen ikonischen Status als das meist verbreitetste Foto nach den Anschlägen am 7. Juli 2005 in London bekam. An jenem Tag sprengten sich drei Selbstmordattentäter in drei verschiedenen Londoner U-Bahnen in die Luft und töteten dabei 49 Menschen; eine Stunde später gab es einen vierten Bombenanschlag in einem Doppeldeckerbus, bei dem weitere 13 Menschen starben. Insgesamt wurden über 700 Personen zum Teil schwer verletzt. Schon in der Nacht gab es offizielle Verlautbarungen, wonach eine Al-Qaida-nahe Gruppe die Anschläge verübt habe. Seit dem 11. September 2001 war Al-Qaida der Name für islamistischen Terror, aber auch für einen Terrorismus, der von außen in ein Land eindringt und eine Nation bedroht. Eine Bedrohung aus dem Inneren der eigenen Gesellschaft heraus war dagegen eine schwer zu verkraftende Vorstellung, waren doch die organisierten mörderischen Attacken und Bombenanschläge der Roten Brigaden in Italien (1988), der RAF in Deutschland (1998), der IRA in Nordirland

4Schmitz

(2019), S. 3. Ich danke Andreas Schmitz dafür, mir sein Manuskript vor Erscheinen des Buches zur Verfügung gestellt zu haben. Vgl. auch Koppetsch (2018).

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(1998) und der ETA in Spanien (2011) beendet, und die Weather Unterground Organization in den USA war schon 1976 Geschichte. Wie sich im Falle Londons herausstellen sollte, waren drei der vier Attentäter Briten pakistanischer Herkunft (Klonk 2017, S. 82 ff.). Die Ereignisse in London markieren den Beginn einer unheilvollen Verquickung aus Angstbewältigung und Angsterzeugung, die deutlich werden lässt: Angst ist keineswegs objektlos – auch wenn man sich unter dem Objekt nicht eine real existierende Person mit einer Bombe am Körper vorstellen muss. Am Tag nach den Anschlägen bebilderten nicht nur britische, sondern auch deutschsprachige Tageszeitungen die Ereignisse mit dem gleichen, wiederkehrenden Bild (noch fünf Jahre später benutzte der Guardian exakt dieses, Abb. 4): Eine weiße Frau mit weißer Gazemaske vor dem Gesicht wird beschützend von einem weißen blonden Rettungshelfer in den Arm genommen und vom Anschlagsort wegbegleitet. Man mag in der Maske zunächst nichts weiter sehen als einen notwendigen Schutz bei erlittenen Verbrennungen und in dem blassen jungen Mann den spontan Fürsorge leistenden ehemaligen Feuerwehrmann Paul Dadge (ebd., S. 83).

Abb. 4   London 7.7.2005, Edgware Road Underground Station. © Lindsay Parnaby/epa Bildfunk

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Aber häufig wurde dieses Bild von der Headline begleitet, die einer Stellungnahme des damaligen britischen Premierministers Tony Blair unmittelbar nach den Anschlägen entnommen war: „We will not allow violence to change our societies or our values.“5 Dieser Satz verwandelt das Bild in ein Symbol des überwältigenden Weißseins, und dieses Weißsein in die angstlindernde Schutzzone des geschlossenen weißen Kollektivkörpers. Gleichzeitig wird damit Angst geschürt. In einer gesonderten Erklärung der Downing Street sagte Tony Blair (2005) später am selben Tag: „We know these people act in the name of Islam, but we also know the vast and overwhelming majority of Muslims here and abroad are decent and law-abiding people who abhor this act of terrorism.“ Und der Rest, der von ihm nicht zur „Mehrheit der Muslime“ hinzugerechnet wurde? Seither sollte dieser vage bleibende Rest sowohl die Mehrheit unter Verdacht stellen, aber auch die unbestimmte und unbestimmbare Bedrohung aufrechterhalten, die imaginierte Feindbilder ebenso wie Objekte für Hass, Angst und Verachtung hervorbringt, die ihrerseits wiederum als Projektionsflächen für emotional besetzte Furcht und Sorge dienen (Puar 2007, S. 218, Abb. 24; Lummerding 2011, S. 147). Mit der gemeinschaftsstiftenden Konstruktion von Feindbildern soll hier der Focus zugleich auf dem politischen Umgang mit der Angst rund um terroristische und durch Hass motivierte Anschläge und der Beobachtung liegen, wie vermittels der medialen Herstellung eines Weißseins und der damit verbundenen Wertedebatte Ängste eingehegt werden (sollen). Was ich diesem Zugang wesentlich zugrunde lege, ist, dass Angst nicht einzig und allein in der Natur des Menschen begründet ist und dass eine Unterscheidung zwischen Angst und Furcht wenig Sinn ergibt, wenn zwischen Angst als objektlos, unbestimmt und Furcht als affektive Regung vor einem realen Objekt differenziert wird. Denn wenn zutrifft, dass Angst als Affekt kulturell bedingt ist und affektive Reaktionen immer vermittelt sind respektive bestimmte Deutungsrahmen ins Spiel bringen (Butler 2009, S. 40), dann gilt zu berücksichtigen: „The way people fear also depends on a variety of specific variables – such as their cultural, political and religious attitudes and affiliations, their socio-economic circumstances, their gender and age.“ (Furedi 2018, S. 6). Die Rolle der Medien hinsichtlich des Erlebens von Angst ist nicht, diese zu verursachen, aber sie kreieren Symbole und Bilder, wodurch sie greifbar und visuell dramatisch – inszeniert – wird. Angst wird auf

5Aus

der gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs, die am Tag der Anschläge am G8-Gipfel in Schottland teilnahmen und die von Tony Blair in Gleneagles verkündet wurde (G8 Leaders Issue Statement in wake of Attacks 2005).

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diese Weise intensiv persönlich (ohne die Situation unmittelbar und konkret zu erleben). So ist die Angst vor Terrorismus oder vor Hassattacken (glücklicherweise) für die überwältigende Mehrheit eine nur mittelbare Angst oder eben eine vor einer diffus herannahenden, durchaus näher rückenden Bedrohung. Diese stellt zwar gerade keine akute Gefährdung dar, sondern eine imaginierte in der Zukunft, die aber immerhin als so bedrängend wahrgenommen wird, dass sie aktuelle Angst erzeugt (Ahmed 2004, S. 65). Keinesfalls werden dadurch die Verwerflichkeit und das Grauen der Attentate infrage gestellt. Wichtig ist nun aber vor allem, wie aus diesen Realitäten ein ideologischer Angstbegriff gemacht und vor allem ein Objekt der Angst erzeugt werden. Daher lässt sich anhand der Angst vor terroristischen und durch Hass motivierten Attentaten ziemlich deutlich beschreiben, wie soziale, politische, kulturelle und religiöse Diskurse und Praktiken in das Angsterleben einfließen und nach welchen Mustern die Ängste reguliert werden.

4 Paris Zehn Jahre nach den Bombenanschlägen von London musste Paris im Januar 2015 das Massaker in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und die Ermordung von jüdischen Personen in einem koscheren Supermarkt bei der Porte de Vincennes verarbeiten. Wie nie zuvor schien es notwendig, ein Bild dafür zu finden, was Tony Blair gemeinsam mit den Staatschefs auf dem G-8-Gipfel nach den Londoner Terroranschlägen behauptet hatten: „Dieser ­ Terrorismus […] ist kein Angriff auf eine Nation, sondern auf alle Nationen und auf zivilisierte Menschen überall.“ (G8 Leaders Issue Statement in wake of Attacks 2005, eigene Übersetzung). In ihren Berichten über die öffentliche Demonstration der Anteilnahme am 11. Januar 2015 stellte nicht nur die Zeitung Die Welt, sondern auch andere konservative Medien die Allegorie der Republik von Léopold Morice auf dem gleichnamigen Platz in Paris als hegemoniales Zeichen ins Zentrum des die Berichte begleitenden Bildes (Abb. 5). Darauf sieht man eine homogenisierte Masse, wodurch das vielfach in die Höhe gehaltene „Je suis Charlie“ als gleichzeitiges Bekenntnis zu einer republikanischen Identität bedeutet wird. Während dieser Volksversammlung auf der Place de la République hatten sich die obersten Repräsentant*innen und hohe Politiker*innen aus über 40 Ländern auf der Place Léon Blum zum Gedenken für ein Pressebild aufgestellt und untergehakt. Alle Attentäter waren Franzosen gewesen, aber das Objekt der Angst erhielt seither zunehmend die Gestalt des „die oder der sieht aus wie …“, „die oder der könnte

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Abb. 5   Place de la République, Paris 11.1.2015. © confins Revue Franco-Brésilienne de Géographie. https://doi.org/10.4000/confins.9910

… sein.“ (Ahmed 2004, S. 75 f.) Ein solches Reden über diese übrigen anderen, die nicht die überwältigende Mehrheit sind, ermöglichte die furchtsame Feindlichkeit gegenüber Personen, die entsprechenden Stereotypen nach als nicht … ja, was oder wer oder wie?: als nicht weiß und damit nicht zu einem entsprechenden Wir dazugehörig erklärt werden. Und so hat eine Politik der Angst eine Engführung etabliert, für die jene aus der Wochenzeitung Die Zeit nur symptomatisch steht. Sie bezieht sich im Sommer 2016 rückblickend auf die Ereignisse ab September 2015, als Geflüchtete aus Ungarn über Österreich nach Deutschland kamen: „In den folgenden Wochen kommen Zehntausende ins Land, weithin unkontrolliert und unregistriert. Faktisch verliert der Staat die Kontrolle. […] Erst im Dezember, das wird auch im Kanzleramt heute eingeräumt, gewinnt der Staat die Steuerungsfähigkeit zurück. Die AfD, im Sommer politisch schon fast erledigt, wird enormen Zulauf finden, bei vielen Bürgern wird das Misstrauen gegen die Institutionen wachsen, Merkels Umfragewerte werden sinken. In der Silvesternacht werden

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Frauen in mehreren deutschen Städten von Migranten und Asylbewerbern sexuell belästigt werden, und in Ansbach und Würzburg werden Flüchtlinge im Sommer 2016 zwei islamistisch motivierte Anschläge verüben.“ (Blume et al. 2016)

5 Einheimischer Terrorismus Westliche Nationalstaaten sehen sich mit einem Gewaltphänomen konfrontiert, das sich weder mit vereinzelten Amokläufen noch mit Taten ausländischer Terrororganisationen auf Distanz halten lässt, sondern das als im eigenen Land entstandene zielgerichtete Gewalt, als einheimischer Terrorismus einer ernsthaften Befassung bedarf. Gefordert wird dadurch eine Auseinandersetzung damit, dass ein einheimischer Terrorismus gezielt Feindbildgruppen angreift, auch wenn die Akte als willkürlich erscheinen, dass es ihm darum geht, Angst und Schrecken innerhalb dieser Feindbildgruppe zu verbreiten und darum, Spannungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu verschärfen. Deshalb gibt es keinen ideologiefreien Terror, und deshalb müssen auch Amokläufe strukturell als Produkte einer Gemengelage aus Männlichkeitskult und Gewaltbereitschaft betrachtet werden (Autor*innenkollektiv FE.In 2019, S. 111; Rosenbach und Wiedmann-Schmidt 2019, S. 50). Auch aus diesem Grund möchte ich für meinen Zusammenhang zu bedenken geben, dass die verbreiteten Auffassungen eine Illusion sind, die Furcht sei von ihrer Natur her dem Objekt, von dem Gefahr ausgeht, adäquat, und entsprechend hinsichtlich der Angst vor etwas hätte dieses Etwas einen gegebenen Träger (Lacan 2016, S. 198). Die komplexen Folgen von Hassreden und wutschnaubenden Besitzansprüchen auf Macht und Privilegien werden damit nicht erfasst. Wiederum: Zu sagen, dass Angst nicht objektlos ist, heißt nicht notwendigerweise, dass es eine objektive Gefahr gibt, sondern erfordert, die Verantwortung verstehen zu wollen, wie eine Politik der Angst Gefährdung herstellt und zugleich verhindert, die Angriffsziele genau zu erfassen. Die Bombenanschläge und Autoattentate in Toronto, Manchester, Orlando oder Charlottesville zwischen 2016 und 2018 waren keine Angriffe auf eine imaginierte Nation mit einer Leitkultur, sondern Hassverbrechen gegen Personen, die als bedrohliche Feindbilder klassifiziert werden: Frauen, Homosexuelle, Schwarze. Christchurch, El Paso, Gilroy, Halle (Saale) 2019: muslimische Neuseeländer*innen, mexikanisch-migrantisch positionierte Menschen, jüdische und nichtjüdische Deutsche. Das heißt, es gibt Personen innerhalb von Gesellschaften, die ganz konkrete Angst haben (müssen), und es gibt Personen, die innerhalb von Gesellschaften ganz konkreten Personen Angst machen. Deshalb war es mehr als überfällig, vom „einheimischen Terrorismus“ (domestic terrorism) zu sprechen

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und das Augenmerk darauf zu lenken, dass jenseits einer ethnifizierenden oder politischen Markierung der Täter terroristische Gewalttaten eine selbstversichernde Stabilisierungsfunktion für Männer hat. (Theweleit 2015, S. 92; Mishra 2017, S. 305 ff.).

6 Rechter Terror „Im Unterschied zu Gefühlen, die Machtlosigkeit oder Ohnmacht ausdrücken – dazu zählen Trauer, Verzweiflung, Angst, Enttäuschung – besitzt Zorn etwas Ermächtigendes.“ (Frevert 2012, S. 55) Umso dringender ist es festzustellen, dass rechte Politik auf Zorn und nicht Angst setzt, um einer Atmosphäre der Ressentiments und Aversionen das emotionale Unterfutter zu liefern, denn Angst ist hier nur vorgeschoben (Rico et al. 2017, S. 445 f.).6 Was diesen Zorn so unberechenbar und bedrohlich macht, ist, dass er zusammen mit hegemonialer Männlichkeit und bei rechtem Terror mit einer White-Supremacy-Ideologie daherkommt und ihr Zorn sich nicht gegen etwas richtet, sondern an jemandem ausgelassen wird. Oder in den Worten von Debbie, einer 33-jährigen Mutter aus Harrisburg, Pennsylvania auf einer ­Tea-Party-Veranstaltung: „Ich habe Angst. Ich glaube ich bin zornig, weil ich so Angst habe. Wissen Sie. Ich habe Angst, dass wir unsere Kinder in den Bankrott treiben. […] Wir werden ihnen ein absolutes Chaos hinterlassen: ein schuldenzerfressenes Land, in dem Einwanderer von unseren Steuern leben, als würden wir ihnen verdammt noch mal die Brust geben. Das ist einfach falsch. Es steht alles auf dem Kopf.“ (Kimmel 2013, S. 87)

Debbie, die ängstliche und zornige weiße Frau hat einen ängstlichen und zornigen weißen Mann an ihrer Seite, der ebenfalls nach unten schaut, wenn er seinen gefühlten Besitzstand verteidigt. Er schaut auf die Horden „der Anderen“, die ihm wegnehmen, was ihm zusteht, und die dabei von einem Staat unterstützt werden, den sie in ihren Bann gezogen haben. (ebd., S. 84) Die toxische Wirkung von in Angst verkleidetem Zorn ist geschlechtsneutral, die Akzeptanz hegemonialer Männlichkeit nützt auch Frauen, denn beide bestätigen sich im Muster des „care racism“ (Sager und Mulinari 2018, S. 152)7 In dem Konstrukt eines weißen,

6Diesen 7Auch

Literaturhinweis verdanke ich Gabriele Dietze. diesen Literaturhinweis verdanke ich Gabriele Dietze.

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heteronormativen ethnonationalistischen „Wir“ gibt es den männlichen, weißen Beschützer der weißen wehrlosen Frau –, und zur Verbreitung dieser Auffassung braucht es gar keine rechtsradikalen Wortführer. In jeder Debatte über sexuell übergriffige „Migranten“, über Kopftuch tragende muslimische Frauen, über die Grundsicherung von Asylbewerber*innen, über die Infrastruktur und den öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Raum, über Mietpreise und Wohnungsknappheit in Ballungsräumen schwingt das: „Wir beschützen und tragen Sorge für unsere eigenen Leute“ (ebd., S. 155) mit. Der weiße Engel von Las Vegas, das weiße Londoner Paar, die Allegorie der Republik sind Bildzeichen, die unter diesem Aspekt einer repräsentationskritischen Relektüre unterzogen werden müssen.

7 Critical Care Das Architekturzentrum Wien (AzW) veranstaltete im Sommer 2019 eine Ausstellung unter dem Titel „Architektur für einen Planeten in der Krise“ und ihr Motto war Critical Care. Anhand 21 internationaler Beispiele zu Architektur und Urbanismus wurde die Haltung des Sorgetragens verhandelt: „Akteur*innen des Sorgetragens sind vielfältig“, aber „Sorgetragen ist immer konkret“.8 Jedes Beispiel benannte deshalb, worüber sich Sorgen gemacht wurde (Ist-Zustand), wofür Sorge getragen wird (Aspekte bei einer Veränderung) und wer die Handelnden des Sorgetragens sind. Auf einer der Info-Tafeln wurde auf den aus Sicherheitsgründen nach den Terroranschlägen vom 13. November in Paris verbotenen Klimamarsch am 29. November 2015 hingewiesen. Unterlegt war der Text mit einem Foto vom Place de la République am Tag des Marsches, der übersät war mit leeren Schuhen (Abb. 6). Mit dieser Aktion wurde nicht nur die kollektive Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Die auch in anderen Pressebildern prominent zu sehende Allegorie der Republik verwandelte sich durch den Akt des Widerstandes von einem nationalistische Identität suggerierenden Hoheitszeichen zu einer Repräsentation der herausgeforderten Staatsmacht, Sorge zu tragen – bei gleichzeitig bezeugtem Respekt vor den vielen Opfern der Anschläge. In der Alltagssprache ist der Begriff der Sorge im Affekthaushalt eines Individuums beheimatet; als philosophischer Terminus beschreibt er das subjekt-

8Angelika

Fitz und Elke Krany im Video zur Ausstellung (Ausstellung Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise 2019).

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Abb. 6   Place de la République, Paris 29.11.2015, © Ian Langsdon/dpa picture alliance

konstituierende In-der-Welt-Sein. Bestimmt wird dieses In-der-Welt-Sein durch ein emphatisches (mit-)weltliches (und mit-menschliches) Dasein. Der Begriff Sorge beschreibt eine grundlegende Befindlichkeit, die nicht nur zu Handlungen motiviert, sondern wodurch die Welt als etwas verstanden wird, das eine*n angeht, das heißt nahekommt, berührt, betrifft, aber auch fordert: „Befindlichkeit hat je ein Verständnis […] Verständnis ist immer bestimmt.“ (Heidegger 2006, S. 142; vgl. auch Bal 2006, S. 7) Mithilfe dieses Begriffs der Sorge kann sich der politische Diskurs in eine Richtung öffnen, die in jüngster Zeit eingefordert wird: hin zur Rückbesinnung auf die affektive Dimension politischen Handelns (Assmann 2018, S. 164)9, zur leidenschaftlichen, antihegemonialen Parteilichkeit, zur Förderung und Fortschreibung demokratischer Entwürfe (Mouffe 2007, S. 13).10 Neuere Forschungen versuchen daran anschließend, die Sorge weg von einem zentrischen Kreisen um ein Selbst zu einer exzentrischen Einbeziehung des

9Aleida

Assmann schreibt zwar über Empathie, aber auch sie nutzt den Begriff als Verstehenskategorie. 10„Um Leidenschaften für demokratische Entwürfe mobilisieren zu können, muss demokratische Politik einen parteilichen Charakter haben.“ (Mouffe 2007, S. 13) Parteilichkeit meint für Chantal Mouffe die Notwendigkeit, die Existenz einer Pluralität zu akzeptieren und somit die Notwendigkeit, Interessen in agonistischen Formen auszutragen.

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­ itmenschen anders zu fassen (Lindemann 2016, S. 73–98), und es ist keinesfalls M gefühlsduselnd gemeint, wenn gegen ein Leben in Angst und Schrecken an einen „liebevollen sozialen“ Austausch untereinander appelliert wird. (Hardt und Negri 2013, S. 37) So sympathisch und zugleich sehr ernst zu nehmend diese Aufforderungen sind, positiven Emotionen gegen eine Angstkultur und populistische Feinseligkeiten im politisch-sozialen Zusammenleben wieder Raum zu geben, so wesentlich ist es auch, diese mit dem Terminus der Verantwortung zusammenzudenken und Verantwortung als übergeordneten Handlungsgrund (Verantwortung ist Sorge), als existenzielle Bejahung des In-der-Welt-Seins zu verstehen und Fürsorge als Akzeptanz des Anderen in seiner Alterität, dessen Sein mich in der Begegnung ebenso beeinflusst wie meine Zuwendung im Gegenzug auch ihn. Verantwortung verhindert, den anderen zum Objekt und das Selbst zum hegemonialen Ort von Handlung werden zu lassen. Verantwortung ist die Ethik der Intersubjektivität und damit die Ethik eines identitätskritischen Handelns. Verantwortung heißt deshalb nicht simpel „Antworten haben“, sondern „die notwendigen antagonistischen Prozesse des Ausverhandelns als agonale (Ver)Handlungs-Spielräume wahrzunehmen“, was impliziert, „diese zugleich offenzuhalten, um Handlungs- und Denkmöglichkeiten für das Ausverhandeln aktueller Konstruktionen gesellschaftlicher Realität kontinuierlich zu erweitern und zu verändern.“ (Lummerding 2013, S. 36)

Die Handlungskonsequenzen in diesen unseren angstvollen Zeiten wären, sich gegen die Schließung jedweder Grenzen, sich gegen die Schließung von Identitäten zur Wehr zu setzten, Echokammern und Google-Blasen zu verlassen und die Legitimität der eigenen Position – „die Sorge um sich“ (Foucault 1984) – immer wieder aufs Neue verantwortungsbewusst zur Diskussion zu stellen. In diesem Sinne diskutierte das österreichische feministische Magazin an.schläge in einer Ausgabe aus dem Frühjahr 2019 das Männlichkeitsmodell der „Caring Masculinities“. Je länger Männer in der fürsorgenden Rolle leben, desto stärker entwickeln und integrieren sie diese Rolle und eine sorgsame Haltung. Denn bei „Caring Masculinities“ gehe es um die Haltung, mit der sich Männer um sich und andere kümmern, paraphrasiert Evangelista Sie (2019, S. 26) Aussagen der Leiterin des Grazer Instituts für Männer- und Geschlechterforschung Elli Scambor. Das Leitbild einer sorgenden Männlichkeit wird als Gewaltprävention verstanden und als Gegenkonzept zu einer auf Wehrhaftigkeit, Härte und begrenzter Empathie hinauslaufenden männlichen Geschlechtersozialisation. Sich-um-sich-selbst-und-andere-kümmern kommt ohne Gewalt aus.

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Gabriele Werner, Dr. phil.;  Professorin für Kulturwissenschaften an der weißensee kunsthochschule berlin; Arbeitsschwerpunkte: Theorien und Geschichte visueller Kulturen; Gender Studies; Postcolonial Studies; Theorien des Politischen.

Angst und Architektur. Beton und Brutalismus in Zeitdiagnosen der alten Bundesrepublik Jörg Probst 1 Wehrdaer Waschbeton Selbst kleine und kleinste Siedlungen wie Wehrda bei Marburg erreichte in den 1960er Jahren die internationale bauästhetische Welle des Waschbetons. Von der Straße „Unter den Eichen“ kommend, trifft das Auge von Autofahrerenden oder Fußgänger*innen in der Nähe der „Waldschule“ Wehrda auf eine komplett fensterlose, die umliegenden Häuser und auch den Waldrand überragende riesige, geschlossene Wand in der typischen Optik dicht beieinander liegender kleiner Kieselsteine (Abb. 1). Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Mauer als Stirnseite einer Turnhalle. Nicht nur der Standort am einsamen Waldrand, auch die Bauaufgabe widerspricht der auftrumpfenden „Wand von Wehrda“ und trotzdem kam es zu diesem Bedeutung heischenden baulichen Element. Der Blick auf die Gesamtgestaltung des Sportgebäudes beweist, dass es sich mit der disparat wirkenden Waschbeton-Wand um eine sehr bewusst gewählte Architektursprache handelt. So erstaunt die bereits 1964 geplante und 1968 von dem Marburger Architekten Dieter Rittmeyer errichtete Turnhalle auch durch seine Längsseiten (Abb. 2).1 Sie sind so stark durchfenstert, wie man es sonst

1Für

Hinweise danke ich sehr herzlich Markus Klöck, Untere Denkmalschutzbehörde Marburg.

J. Probst (*)  Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_7

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Abb. 1   Turnhalle in Wehrda bei Marburg, Straßenansicht. Architekt: Dieter Rittmeyer, 1968. © Jörg Probst

zumeist nur von Schwimmhallen kennt. Zu der abweisenden Geschlossenheit der Stirnseiten aus Waschbeton steht die gläsern-transparente Offenheit der Längsseiten in sehr auffallendem Kontrast. Zu der monströsen blockhaften Schwere der Betonwand in Wehrda gab es seinerzeit also durchaus gestalterische Alternativen. Dennoch fiel die Wahl auf Waschbeton. Vollends kommentarwürdig ist die monumentale „Wehrdaer Wand“, weil ihr nicht nur in Bezug auf den Standort und die Gebäudefunktion, sondern auch konstruktiv der Sinn fehlt. Die Grundrisse zeigen, dass der Bau nicht von seinen Wänden, sondern von Stützen getragen wird. Die große Durchfensterung an der Längsseite gibt das sogar offen zu erkennen. Durch die großflächigen Fenster hindurch ist die Stützenreihe deutlich sichtbar. Die „Wehrdaer Wand“ ist also bauphysikalisch absolut nicht notwendig und statisch völlig unbegründet. Die von innen stützenden Betonpfeiler machen tragende Wände gänzlich überflüssig und hätten daher auch eine weniger massive, sehr viel leichtere Fassade, ja sogar den Verzicht auf die Betonverkleidung erlaubt. Die Funktionslosigkeit des nur als

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Abb. 2   Turnhalle in Wehrda bei Marburg, Seitenansicht. Architekt: Dieter Rittmeyer, 1968. © Jörg Probst

Symbol sinnvollen wuchtigen Standings des Baues beweist, wie frei der Architekt Waschbeton verwendet und dabei fast wie ein Bildhauer gedacht und entworfen hatte. Das Material wurde rein um seiner selbst willen am Bau und städtebaulich in Szene gesetzt. Die „Wand von Wehrda“ ist ein „Wand-Bild“ im Wortsinn, eine bedeutungsgeladene Waschbeton-Schauwand, so schmucklos und banal sie zunächst auch erscheinen mag. Errichtet an einem Ort, den niemand kennt, aus einem Material, das jeder kennt, aber für einen Zweckbau viel zu pathetisch – die überambitionierte „Wehrdaer Wand“ gibt Rätsel auf. Allein kommunalpolitischer Ehrgeiz, blinde Unterwerfung unter den in den 1960er Jahren um sich greifenden Baustil des „Brutalismus“ (Elser et al. 2017) oder hybrider Architektenwille reichen als Gründe nicht aus, um diesen Widerspruch aufzulösen. Dem heutigen Betrachter mag der „erratische Block“ von Wehrda auch als das zeitgeschichtliche Zeugnis einer in ihren symbolischen Konnotationen seinerzeit kaum noch hinterfragten Baukultur erscheinen. „Baukultur“, so Werner Durth und Paul Sigel (2009, S. 17), ist

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„ein politischer Begriff, der zur Aufmerksamkeit für den Wandel von Ausdrucksformen, zum lernenden Urteilen über die maßgeblichen gesellschaftlichen Prozesse und zur Teilhabe an der Gestaltung unserer Umwelt auffordert, die unser Leben prägt. Was schließlich im Alltag zu sehen, zu spüren, zu erleben und bestenfalls auch zu lieben ist, war stets das Ergebnis von Träumen und Leiden, von Kampf und Mut, allzu oft aber auch von Angst, Versagen und längst überholten Regeln“.

Aus dieser Sicht wären die unlängst am Beispiel der Architektur von Atombunkern erforschten Angstökonomien der „Bunkerrepublik Deutschland“ (Klinke 2019) durch vergleichende Untersuchungen der metaphorisch vielmals sogenannten „Betonbunker“ brutalistischer ziviler Architektur in der Bundesrepublik zu ergänzen. Klinke erzählt eine „Sub-Geschichte“ der Bundesrepublik am Beispiel unterirdischer Atombunker und Kernwaffendepots. Sie waren auch das Ergebnis obsessiver Überlegungen von Militärs, Ingenieuren und Zivilverteidigern über Geopolitik durch Atomwaffen, deren Reichweite und Flächenwirkung die Infrastruktur besiedelter Räume und sogar nationale Grenzen negieren. Den Kriterien des Städtebaus und der Landschaftsplanung nicht unterworfen und weitgehend unsichtbar, sind diese Sicherheitsarchitekturen nicht Teil der Baugeschichte der Bundesrepublik. Aber vermochte nicht zumindest die Permanenz der Berichterstattung über Kernwaffen, Erstschlagszenarien und atomarer Nachrüstung ihren Niederschlag in der Architektur zu hinterlassen? Eine „Bunkerarchäologie“ kollektiver Ängste in der alten Bundesrepublik ist mit der Wehrdaer Turnhalle und ihrer monströsen Waschbeton-Schauwand deshalb exemplarisch zu verbinden, weil das Gebäude wohl mit einer Zeitdiagnose über Betonwände als Chiffre kollektiver Ängste mittelbar in Zusammenhang steht und darauf reagiert. Das Wissen über Atombunker und atomare Bewaffnung und der kritische Blick für aktuelle Tendenzen der Gegenwart mochten diesen Text gleichermaßen inspiriert haben und darin einen Effekt bis in die regionale Architektur bei Marburg entwickelt haben. „Der Architekt in einer Massengesellschaft heutiger Prägung wird immer das Produkt dieser Massengesellschaft sein. Wen darf es also Wunder nehmen, wenn seine Produktion ebenfalls aus den Untiefen dieser Massengesellschaft gespeist ist?“ (Hackelsberger 1991, S. 29) So erlaubt die „Wand von Wehrda“ weiterführende kritische Fragen über psychologisch deutende Zeitdiagnosen und deren Anteil an der Kanonisierung von Bauformen in der Gegenwart, aber auch einen Blick auf den selten diskutierten problematischen Umgang mit Artefakten in der Makrosoziologie (Bogner 2012; Prisching 2018).

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2 Glas und Mauer Ab 1964 in Planung, sekundiert die am Waldrand in Wehrda bei Marburg entstehende Turnhalle zusammen mit der andernorts längst vollzogenen Konjunktur des Waschbeton einer bundesweit vielbeachteten Rede, die Beton als Ausdruck des gegenwärtigen „Zeitalters“ nobilitiert hatte. Schon der Anlass dieser Ansprache, die erstmalige Verleihung des Preises für Architekturkritik am 30. Mai 1963 durch den Bund Deutscher Architekten (BDA), muss wenigstens Dieter Rittmeyer als Baumeister der Wehrdaer Halle und BDA-Mitglied mit diesen Überlegungen über Beton als Zeitgeist in Berührung gebracht haben. Als Redemanuskript in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 08. Juni 1963, als „Architektur und Angst“ betitelter Aufsatz in erweiterter Form im Katalog zu der Darmstädter Ausstellung „Zeugnisse der Angst in der modernen Kunst“ (29. Juni – 1. September 1963) und schließlich als Teil eines Sammelbandes von 1964 mehrfach veröffentlicht, mag der Text eine gewisse Fernwirkung auch in Wehrda ausgeübt haben. Fast scheint es sogar, als würde der Wehrdaer „Sportpalast“ als Widersprüche versöhnende Einheit von massiver Betonmauer und gläserner Transparenz eine unmittelbare Reaktion auf jene Rede gewesen sein, die als Zeitdiagnose unter dem Titel „Glas und Mauer“ aus der Feder des Publizisten und Architekturkritikers der FAZ Eberhard Schulz (1908–1982) ein Stück Geistesgeschichte der Bundesrepublik schrieb. Zeitdiagnosen sind als „Geschäft der Intellektuellen, die dumpfe Aktualität bewusst zu machen“ (Habermas 1979, S. 9), immer wieder durch die Suggestion künstlerischer Formen ausgelöst worden (Mitscherlich 1965). Desto genauer sind Gesellschaftsdiagnosen in ihrem Umgang mit symbolischen Formen bzw. das symbolische Denken als Faktor von Gesellschaftsdiagnosen zu untersuchen. In diesem Punkt hat der Text von Schulz über „Angst und Architektur“ von 1963 exemplarischen Charakter. Aus dem Geist der Kunst und der Architektur heraus getroffene soziologische Aussagen über gesamtgesellschaftlich geteilte Emotionen und Stimmungen müssen umso leichter fallen, als die Künste kollektive Ängste oder Psychosen immer wieder thematisieren und dadurch selbst zeitdiagnostisch agieren (Domschke 2019). Aber sowohl für die Soziologie als auch für die Kunst und die Architektur stellt sich die Frage, ob es sich dabei nur um die Ästhetisierung oder sogar Mystifizierung von Gefühlen handelt oder die Energie der bildlichen Form als solche Berücksichtigung findet. Architektur besitzt „Affektivität“ (Delitz 2009, S. 78). Sie vermag bei Betrachtern und Bewohnern massenhaft Gefühle auszulösen und daher „soziale Effekte“ zu

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erzeugen (ebd., S. 79). Aber liegt umgekehrt der Gestaltung von Architektur eine solche kollektive „Affektivität“ zu Grunde? Wird die Hand des entwerfenden Architekten von der „Stimmung unserer Situation“ und kollektiven Ängsten gelenkt (Bude 2016, S. 12)? Eine Architektur, die Angst macht, muss nicht immer schon ein Produkt individueller oder wie auch immer gearteter gesamtgesellschaftlich geteilter Angst sein. Eine Architektursoziologie, die Baukunst nicht deterministisch als „Sprache des Gefühls“ (Gombrich 1973, S. 95) oder „‚Ausdruck‘ der Gesellschaft“ (Delitz 2009, S. 18) zu deuten versucht, muss allzu pauschale Vorstellungen einer unterschiedslos von allen gleichermaßen geteilten Lebenswelt überprüfen. Ebenso ist auf die Herkunft, die Kontinuität und die Transformation der von Gebautem ausgehenden psychischen Energien eine alternative, spezifisch bildhistorische Antwort zu finden. Die beschwörende Rede von „kollektiven Ängsten“ oder „Angstgesellschaften“ ist kritisch als Suggestion zu hinterfragen, wenn ästhetische Objekte als „Widerspiegelungen“ erscheinen, um Zeitdiagnosen zu verifizieren.

3 Elementare Gefühle Auf seiner Zeitreise durch die westdeutsche Architektur um 1960 verweilte Schulz nicht zufällig etwas länger in Westberlin. Dass der Grund dafür nicht in der inneren angstbesetzten Spannung des Lebens hinter der Mauer und dem hier virulenten „Wissen um die dauerhafte Gefährdung der persönlichen Existenz und die immerwährende Bedrohung der Teilstadt“ lag (Nentwig 2014, S. 12), ergibt sich aus dem besonderen weltgeschichtlichen Zugang von Eberhard Schulz zur Architektur. Erst eine makroskopische Perspektive, die wechselnde architektonische Tendenzen als Zäsuren allgemeiner geistiger Epochen erscheinen lässt, macht ein ins Elementare gehende Oppositionsschema überhaupt erst als Zeitdiagnose verständlich. Schulz kartographierte Emotionen, aber er argumentierte universalhistorisch. Darum ist es möglich, dass ein Text von 1963 über „Architektur und Angst“ und den Gegensatz von Glas und Mauer als „Zeitgeist“ den damals erst knapp zwei Jahre zurückliegenden Mauerbau in Westberlin mit keinem Wort erwähnt. Konkrete politische Widersprüche vermied Schulz in seinen zeitdiagnostischen Klassifizierungen von Architektur ebenso wie die empirische quantitative Sozialforschung zugunsten des Panoramas einer gesamtgesellschaftlich geteilten Grundstimmung, die mit der konkreten „Mentalität“ oder dem „Lebensgefühl“ an einem bestimmten Ort wie Westberlin nicht zu verwechseln ist (Nentwig 2014, S. 9, 10).

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Dazu passt, dass Schulz in seiner Betonkritik und Phänomenologie der monumentalen Wand nicht massenhaft errichtete funktionale Zweckbauten wie die Turnhalle in Wehrda oder gar Grenzsicherungen wie die Berliner Mauer, sondern öffentliche Großbauten als zeitdiagnostisch relevant erachtete. Der Text berührt auch Privathäuser, die Warenhausarchitektur oder den Industriebau. Doch nicht der wie eine Epidemie sich ausbreitende allgemeine Erfolg eines bestimmten Baumaterials oder eines bestimmten Baumotivs, sondern die formale Neuartigkeit von Repräsentationsarchitektur ist die Grundlage der Zeitdiagnose dieses Architekturkritikers und seiner Befunde über den „Zeitgeist“ als allgemeine Gefühlslage. Formale Wandlungen gesellschaftlich und kulturell repräsentativer Bauten führen hier zu Rückschlüssen auf die Wandlungen von Kultur und Gesellschaft selbst. „Die neuen Tafelwände, grob, schwer und hart“, fasst Schulz (1963, S. 100) seine Beobachtungen über monumentale ­Sichtbeton-Wände mit Blick auf Opern, Museen und Kirchen zusammen, „treffen auf ein ähnlich elementares Gefühl“. Schulz‘ Erörterungen über das Verhältnis von Angst und Architektur fokussieren vor allem diese Form der Angst als eines „elementaren“, immer schon wirksamen existenziellen Gefühls der Bedrohtheit alles Lebendigen.

4 Tendenzwände Von Schulz nicht näher kontextualisiert, ist es die Westberliner Architektur, die für zeitdiagnostische Betrachtungen über symbolische Mauern mehr als nur ein Referenzbeispiel bereithält. „Hier muss nun ein Phänomen erwähnt werden“, so Schulz (ebd., S. 102) u. a. über die 1961 eröffnete Deutsche Oper von Fritz Bornemann in Westberlin, „das wir als die Renaissance der Mauer bezeichnen wollen, der Mauer schlechthin, welche ohne einen dringenden praktischen Zweck und ohne genaue Funktion errichtet wird“. Im Rückblick erscheint es fast unwirklich, dass Formulierungen dieser Art souverän das politische Zeitgeschehen ausklammern. Die Bemerkung über den fehlenden Zweck und die Funktionslosigkeit einer „Mauer schlechthin“ beweist jedoch erneut, dass Schulz nicht an einer politischen, sondern an einer weltgeschichtlichen Gegenwartsdiagnose mit Blick auf Wandlungen tiefer gehender kultureller Paradigmen gelegen war. Als Bruch mit dem Paradigma des Funktionalismus, der die ästhetische Form in konsequenten Zusammenhang mit dem Gebrauchswert und der Zweckbestimmung eines Baues setzt, sind nichtfunktionale skulpturale Monumentalwände in der modernen Architektur für Schulz weitaus bemerkenswerter als der Systemkonflikt des Kalten Krieges.

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Mit diesem ideengeschichtlichen Pathos entsprach Schulz letztlich auch dem Selbstbild des Funktionalismus, der sich seinerseits als welthistorische Zäsur begriff. „Die Feudalgesellschaft, wenn nicht sogar das feudale Denken, verschwindet“, zitiert Schulz (ebd., S. 99) einleitend die Fortschrittsgläubigkeit des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright. Damit suggerierte Schulz‘ einzigartiger vielgelesener, aber in der kunsthistorischen Forschung über den Brutalismus weitgehend unberücksichtigt gebliebener Text eine Tendenzwende als „Tendenzwände“. Nicht näher differenziert, erschien die Wiederkehr der von Wright noch als vormodern begriffenen Festungen und Höhlen in Gestalt von fensterlosen Wänden und Mauern in der Gegenwartsarchitektur um 1960 als weltgeschichtliche Schubumkehr um 180°. Diese notwendig vergröbernde makroskopische, vergleichend verallgemeinernde Universalhistorie von Schulz ließ spezifische funktionale und konkrete symbolische Aspekte von Bauwerken hinter sich. Auch aus diesem Grund der Übertragbarkeit einer Diagnose auf jegliche Formen des Bauens der Gegenwart mochte die bald nach Veröffentlichung von Schulz‘ Essay entworfene Waschbeton-Wand der Turnhalle in Wehrda von der neuen alten Ideen der „Mauer schlechthin“ als regressives Stimmungsbild und ebenso universelles wie elementares icon der Urangst inspiriert worden sein. Auch Schulz‘ nähere Betrachtungen des Westberliner Opernneubaus könnten als Beschreibung der Turnhalle in Wehrda (Abb. 3 und 4) dienen: „Die Seiten sind halbgeschlossen und halbverglast. Aber überraschend zeigt sich an der Straße, wo die Besucher eintreten, eine harte Wand, die beinahe bis auf Kopfhöhe heruntergezogen ist.“ (Ebd., S. 102) Die zunächst sinnverkehrend wirkende bunkerartig geschlossene Betonmonumentalität der zur Straße hin gewendeten Hauptfassade der Oper in Berlin war auch als symbolische Überhöhung der Autonomie des Raumes der Kunst zu deuten. Weil die sich selbst schützende Freiheit der Kunst im Fall der Deutschen Oper nicht durch hier buchstäblich beiseite gedrängte funktionalistische Bauhaus-Ästhetik der Transparenz und Offenheit, sondern durch hermetisch abweisende Betonmassen repräsentiert wird, ist der Bau zentral für den Wandel der Bild- und Ideengeschichte der Kunst in der Bundesrepublik. Auf hohem Niveau negierte Schulz (ebd., S. 99) jedoch solche konkreten Bezüge der Architekturikonografie zugunsten einer weltgeschichtlich vergleichenden Perspektive auf die Gestalt von „Häusern und Städten seit Jahrhunderten“. Diese diachronen, von architektonischer Symbolik als Kommunikation absehenden Deutungen von Gegenwartsarchitektur hatten vermutlich einen Anteil daran, dass sich das bauliche Motiv der monumentalen Betonwand aus dem anfänglichen Zusammenhang der konkreten Architektursymbolik bestimmter Bauwerke löste, sich massenkulturell verselbstständigte und sich schließlich sogar als Element einer Turnhalle in Wehrda wiederfand.

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Abb. 3   Turnhalle in Wehrda bei Marburg, perspektivische Ansicht. Architekt: Dieter Rittmeyer, 1968. © Jörg Probst

Bereits 1960 war das von Werner Düttmann errichtete Gebäude der Akademie der Künste am Hanseatenweg im Hansaviertel in Westberlin mit seinem charakteristischen riesigen, darin der Deutschen Oper vorausgehenden Waschbetonkubus als baulichem Hauptelement übergeben worden. Auch hier zeigte sich für Schulz die monumentale fensterlose Wand primär als ahnungsvolle Ablösung der fortschrittsfrohen transparenten Glasarchitektur des Bauhauses durch eine neue regressive Architektursprache. „Sie – das jüngste Bauwerk dieser Gruppe“, so Schulz (ebd., S. 103) über die Düttmann-Akademie als eines von vielen Beispielen von Sichtbeton-Bauten der 1960er Jahre in Westberlin, „ist wiederum mit jener harten Betonwand ausgerüstet“. Selbst das Gebäude einer Kunstakademie ließ Schulz von Baukunst als Kommunikation absehen, um stattdessen nach mehr oder weniger passiven architektonischen Widerspiegelungen der metahistorischen Veränderung der Welt als Verunsicherung, Verängstigung und Bedrohung zu suchen. „Ist die Störung von draußen her so heftig, dass das, was innen gezeigt wird, gegen die andere Welt draußen elementar abgeschlossen werden muss?“

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Abb. 4   Deutsche Oper Berlin, perspektivische Ansicht. Architekt: Fritz Bornemann, 1961. © Joachim Probst

(Ebd., S. 103) Das von Martin Warnke (1996, S. 16, 18) als „baupolitische Taktik“ gesellschaftlicher Akteur*innen und Konkurrent*innen konkretisiertes „formideologisches“ Wechselspiel von „Bau und Gegenbau“ wird bei Eberhard Schulz (1977) zu einem angstvollen, zutiefst emotionalen Kampf der als „Elfenbeinturm“ suggerierten modernen Kunst und Architektur gegen deren vermeintliche „Störung“ durch den „Zeitgeist“ mystifiziert.

5 Ideengeschichten der Angst „Elementar will eine solche Wand sein, das zeigt sich auch dem einfältigsten Auge“, setzte Schulz (1963, S.  103) seine Betrachtung der Waschbeton-Architektur von Werner Düttmann fort und bewies in diesem ­ Zusammenhang eine bemerkenswerte Offenheit für symbolisches Denken. Als eher konservative Deutung eines klassen- und schichtenübergreifenden, soziale Gegensätze ignorierenden „Zeitgeistes“ als „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ (Habermas 1979, S. 9) mag die Zeitdiagnostik zur Aufklärung von konkreten machtpolitischen Widersprüchen oder von Bedingungen der soziokulturellen Lebenswelt ungeeignet sein. Darin widerspricht diese Ideengeschichte als Kunstund Bildforschung auch den Anliegen der politischen Ikonografie, Bilder und

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Bauten in ihrer „aktiven Rolle im politischen Raum“ zu untersuchen (Warnke 1996, S. 9). Ideengeschichtlicher Architekturkritik in der Diktion von Eberhard Schulz geht es nicht um die ideologiekritische Dechiffrierung miteinander konkurrierender geistespolitischer Aktivierungen von Begriffen, Stilen und Symbolen. Erkenntnisziel ist vielmehr der Vergleich epochemachender parteienübergreifend wirksamer Ordnungsvorstellungen und deren Transformationen. Schulz gehört damit auch in die Nachfolge Friedrich Meineckes (1959, S. 6) und dessen Verständnis der Ideengeschichte als „einer Art Gratwanderung […] von einem der hohen Gipfel zum anderen“. Dieser auf Einfühlung und differenzierendes Verstehen gründende Denkstil vermag die Wege und Schleichwege verbaler und nonverbaler politischer Kommunikation nicht zu ermessen. Das apolitische Erkenntnisinteresse an strukturellen Wandlungen des Großen und Ganzen sensibilisiert jedoch für atmosphärische soziokulturelle Veränderungen und neuartige ästhetische Anmutungen. Daher eignet diesem ideengeschichtlichen Blick, der mit der ikonografisch oder ikonologisch vergleichenden Bildkritik nicht zu verwechseln ist, eine besondere Fähigkeit zur Assoziation und Kombinatorik. Sie schwingt mit Leichtigkeit von der mikroskopischen Betrachtung eines Architekturdetails in die makroskopische Dimension der Weltgeschichte. Beleg dafür ist Schulz‘ einzigartige fantasievolle Deutung der Zufallsornamentik von schnöden ­Waschbeton-Oberflächen. „Beton genügt nicht“, so Schulz (1963, S. 103) über die auch für Wehrda (Abb. 5) vorbildhaften Westberliner Wände aus Waschbeton, „er ist mit Kieseln vermengt, die wie Geschoßsteine mittelalterlicher Art oder wie versteinerte Augen uns ansehen“. Die historisch weit ausgreifenden Assoziationen nehmen zugleich die Grundidee Schulz‘ auf, Angst nicht als Reaktion auf konkrete politische oder kulturelle Bedrohungen, sondern als existenzielle, immer schon wirksame Todesfurcht zu deuten. Als universeller Modebaustoff begann Waschbeton sich um 1960 gerade erst durchzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Material noch den Reiz des Neuartigen, sodass nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Skulptur mit Waschbeton avantgardistisch experimentiert wurde (Erb 1968, S. 79). Einen Eindruck von dieser anfänglichen neugierigen Annäherung an ein unverbrauchtes Material vermitteln noch Schulz‘ überraschende Parallelen zum Mittelalter. Als „Wand voller Augen“ imaginieren die Flächen ­Kino-Ikonografie, etwa die berühmte beängstigende Traumsequenz aus Alfred Hitchcocks „Spellbound“ (1945). Mit dieser Ekphrasis werden die Kieselflächen zudem der tiefenpsychologischen und angstbesetzten Malerei des mit der Kunstbiennale in Venedig 1968 zu später internationaler Ehrung gelangten surrealistischen Malers Richard Oelze (1900–1980) angenähert. Auch die in Darmstadt gezeigten Gemälde von Jean

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Abb. 5   Turnhalle in Wehrda bei Marburg, Waschbeton-Oberfläche, Detail-Ansicht. Architekt: Dieter Rittmeyer, 1968. © Jörg Probst

Dubuffet (Abb. 6) deuten an, dass die abstrakt-informelle Oberflächenbelebung2 großer Flächen durch Waschbeton einen längst etablierten Trend der Malerei der Gegenwart aufnahm. Als nonfunktionale skulpturale „Mauern schlechthin“ sind die monumentalen Wände des Brutalismus ein Bruch mit oder in der Moderne. Als „betoniertes“ Informell jedoch verkörperten die malerischen Sicht- und Waschbetonwände in Berlin oder Wehrda eher eine Kontinuität. Auch aus dieser Perspektive mochte die Darmstädter Ausstellung Eberhard Schulz‘ Gedanken, in der um 1960 auflebenden blockhaften hermetischen Betonarchitektur würde das Bewusstsein für existenzielle „apokalyptische“ Angst in der Moderne erst durch den Brutalismus erneut sichtbar werden, widersprechen (Evers 1963, S. 7).

2Diese

Wortfindung verdanke ich Frederick Zucchi.

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Abb. 6   Jean Dubuffet, Leonora, 1955/58, Öl auf Leinwand, in Privatbesitz. In H. G. Evers (1963, S. 201)

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Überhaupt bezog sich die bis ins 19. Jahrhundert, in Gestalt eines Beitrags von Gustav René Hocke sogar bis in die Frühe Neuzeit zurückblickende Ausstellung in Darmstadt nicht auf die Nachkriegszeit. Vielmehr dokumentierte die Schau Angst als konstitutives Moment der Moderne: als Tribut der künstlerischen und politischen Autonomie. „Mit Angst bezahlt der Mensch seine Fähigkeit, Phantasie zu haben.“ (Ebd., S. 7) Dieser universalhistorische Blick auf die Effekte und Affekte der Säkularisierung würde auch dem Funktionalismus zu unterlegen sein, deren Befehdung durch den Brutalismus Schulz als epochenmachende Zäsur des „kollektiven Unterbewussten“ gedeutet und aus diesem Grund seinerseits universalhistorisch behandelt hatte. Mit der Darmstädter Ausstellung und dem aus diesem Anlass geschriebenen Essay über „Architektur und Angst“ von Eberhard Schulz stehen sich zwei Ideengeschichten der Angst gegenüber. Die Darmstädter Ausstellung hatte Kunstwerke wie Edvard Munchs „Der Schrei“ (1893), Pablo Picassos „Guernica“ (1937) oder Francis Bacons „Papst mit Fächerbaldachin“ (1951) vereint, um die der Kunst mögliche gestalterische Ausfaltung und gegensätzliche Deutungsvielfalt des Angst-Motivs aufzuzeigen. Schulz hingegen war es nicht um die Ideengeschichte zu tun, die von der Kunst ausgeht und erzeugt oder mindestens aktiv erforscht wird, sondern um eine Ideengeschichte, von der die Kunst passiv betroffen ist.

6 Erfahrungsräume Aus dieser Sicht stellten sich monumentale Wände aus Beton für Schulz nicht als visuell argumentierende und daher zu unterscheidende, deutungsstarke Gegenbauten gegen die allgegenwärtige und verbrauchte Bauhaus-Ästhetik dar, sondern als Indizien einer vom „Zeitgeist“ verängstigten Kunst. Aber auch als vermeintliche „Widerspiegelung“ einer klassen- und schichtenübergreifend geteilten Grundstimmung waren die brutalistischen Beton-Kolosse nur dann zu beurteilen, wenn man ihnen die Qualität fokussierter visueller Argumente absprach, d. h. die Bauwerke nicht als sensible eigenständige Kommentare zum „Zeitgeist“, sondern als seine unfreiwilligen Botschafter oder gar als dessen „Symptome“ betrachtete (Sedlmayr 1948). Mit der nach 1945 fortgeschriebenen Idee der Kunst als „Ausdruck der inneren Welt des Menschen“ (Schuster 1948, S. 132) wurde nicht nur die Bedeutung produzierende Eigenständigkeit von Artefakten und deren Rolle als sozialen Sinn stiftende oder irritierende Akteure negiert (Bredekamp 2015). Die Vorstellung von Kunst als Symbol gemeinschaftlich geteilter, identitätsstiftender Emotionen nivelliert auch die Geschichte der Gefühle, die nicht weniger konfliktbehaftet und ebenso von Widersprüchen belebt ist wie die ökonomische oder

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politische Geschichte. Die von Schulz bei Betrachtungen über Betonbrutalismus geheischte Phänomenologie der Angst mündet daher ideengeschichtlich in die beinahe völkische Idee der mentalen Zusammengehörigkeit einer Gruppe durch einen kollektiv bindenden „Erfahrungsraum“ (Koselleck 1987). Der Vergleich zeigt jedoch, dass Zeitdiagnostiken der Kunst- und Bildgeschichte nicht immer schon zuwiderlaufen. Auch die Ideengeschichte von Emotionen und die Zeitdiagnostik schließen einander nicht von vornherein aus. Es kommt darauf an, dass Gegenstand und Methode sich entsprechen. Immer wieder überrascht, dass die abstrakte makroskopische Zeitdiagnose zur Auswertung empirisch gewonnener quantitativer Daten geeignet ist. Architekturhistorische Aussagen über gemeinschaftlich und massenhaft geteilte Emotionen und Affekte lassen sich vor allem durch das massenhafte Einverständnis mit affektbesetzten Bauformen belegen. So würde der Verschleiß der revolutionären „Affektivität“ des Brutalismus zu Klischees und Konventionen durch Allerweltsbauten wie die Waschbeton-Wand in Wehrda die zeitdiagnostischen Betrachtungen von Eberhard Schulz über Brutalismus als Ausdruck gemeinschaftlich geteilter „apokalyptischer Angst“ durchaus bestätigen. Modeschübe und massenkulturelle Strömungen lassen kollektivistische Aussagen über soziokulturelle Stimmungen und Befindlichkeiten zu. Singuläre Qualitätsarchitektur aber, die als starke Gestaltung mit Vorbildwirkung diese Modeschübe auch auszulösen vermögen, ist als Statement und trennscharfe visuelle Argumentation für sich genommen zu erschließen. Dies gilt für die funktionalismuskritischen „Gegenbauten“ des Brutalismus ebenso wie für den Funktionalismus selbst, der ebenfalls als Gegenentwurf begann, bevor er zum „Zeitgeist“ wurde. Je konfrontativer ein Kunstwerk ist, desto konflikthaltiger und individueller ist es auch und kann daher nicht als makroskopisches Indiz einer Tendenz oder einer Mode begriffen werden. Im Gegensatz zu Schulz‘ welthistorischer Zeitdiagnostik der „gegenwärtig bildenden Kunst insgesamt als Symbol“ (Evers 1963, S. 9) verfolgte die Darmstädter Ausstellung Symbole der Kunst, d. h. eine aus sich selbst heraus erzählte Symbol- und Bildgeschichte. Ihr Pate ist die als „historische Psychologie“ begründete Ikonologie Aby Warburgs (2010, S. 456), der Kunstwerke ebenfalls zeitdiagnostisch gedeutet und in ihnen bedeutungsvolle „Sturmvögel“ im Sinne von tiefenhermeneutischen Zeitzeichen kultureller Transformationen erkannt hatte. Diese Bild- und Ideengeschichte zielt nicht wie bei Schulz auf einen gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Objekte zum Zweck der überhöhenden kulturhistorisch klassifizierenden Deutung dieser Ähnlichkeit, sondern auf Ähnlichkeiten als Grundlage von kulturwissenschaftlichen Unterscheidungen und Differenzierungen. Die konservative klassifizierende Zeitdiagnostik, so wäre

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die eingangs gestellte methodologische Frage nach dem Verhältnis von Bildgeschichte und Ideengeschichte bei Eberhard Schulz zu beantworten, ist eine Zurichtung von Objekten, deren Aktivierung aber nicht.

7 Negative Affekte Wie weit Schulz‘ vergleichend verallgemeinernde, auf „elementare Gefühle“ zielende Zeitdiagnostik des Waschbeton von der vergleichend differenzierenden zeitdiagnostischen Ikonologie entfernt war, zeigt sich nicht zuletzt durch eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit Begriffen und Formen der Baukunst. Der von Schulz praktizierte weltgeschichtliche, nicht das konkrete Bauwerk, sondern die Architektur insgesamt als Symbol betrachtende Blick musste zwangsläufig auf einen „gemeinsamen Nenner“ der Gegenwartsarchitektur zulaufen, so divergent sie in sich auch ist. Als gemeinsamer Nenner aktueller Architektur und zugleich Chiffre der elementaren, im „Atomzeitalter“ wieder fühlbar werdenden Urangst codiert, erschien die monumentale Wand offenbar als ein so verbindliches bauliches Zeichen, dass sie auch der Architekt einer Turnhalle am Waldrand von Wehrda kopierte. So bleiben Schulz‘ (1963, S. 100) Beobachtungen über den neuen „Festungsbau der modernen Architektur“ bei Wänden aus Waschbeton nicht stehen. Das Ende der von konservativer Seite immer schon als „gläserner Schrecken“ (Quetglas 2001) kritisierten hellen und lichtdurchfluteten Bauhaus-Architektur durch die um 1960 entstehenden neuen „Höhlen“ und „Katakomben“ sah Schulz (1963, S. 103) nicht nur durch den von ihm als „Kieselbeton“ bezeichneten Waschbeton repräsentiert. Auch jede andere Form fensterloser, das Innen vom Außen trennender und abschottender Architektur nahm Schulz vergleichend in den Blick. Das von Gottfried Böhm für sich selbst 1960 in Köln errichtete Atriumhaus aus fast fensterlosem Ziegelmauerwerk oder das von Günter Bock geschaffene Bürgerhaus in Sindlingen bei Frankfurt a. M. aus schalungsrohem Beton mit nur schmalen Fensterschlitzen verbindet nichts außer die Verdrängung des Fensters durch die Wand und dennoch wurden sie in einem Atemzug genannt. So divergent die von Schulz ausgewählten Bauwerke sind, so suggestiv muten die gesellschaftstheoretischen Rückschlüsse an, die in den Gegensätzen die innere Einheit des „Zeitgeistes“ aufzeigen sollten. „Es entsteht eine Gesellschaft, die zunehmend in einem Innenraum, ja in unterirdischen Räumen Platz nimmt und sich daran gewöhnt“, folgerte Schulz (ebd., S. 108) aus der Zusammenschau von formal und daher auch geistig einander gegensätzlichen Bauwerken. „Aus dem Außenklima wird ein Innenklima“.

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Überblickt man das Gesamtwerk von Eberhard Schulz, dann erweist sich der Zusammenhang von „Angst und Architektur“ als ein Topos, der sich seit den 1940er Jahren durch die Artikel und Essays des Journalisten zieht. „Negative Affekte: die Angst, die Vorsicht“ beschäftigen Schulz (1947a, S. 234) in Überlegungen zum „Dualismus des Höhlenmenschen“ bereits 1946 angesichts der Ruinenstädte der Nachkriegszeit. Über die Industriearchitektur des Funktionalismus als einer „Architektur der Gewalt“ und Chiffre der „Bewusstseinskrise an der Wende zum 20. Jahrhundert“ (Schulz 1960, S. 1) liest man in einem Artikel von 1960. 1963 wird Schulz (1963, S. 111) in ähnlicher Diktion die dem Funktionalismus konträre Betonarchitektur des Brutalismus als Signum des „ungeschlichteten Charakters unserer Zeit“ bewerten. 1965 erscheint die Park Avenue von New York als „letzter gewalttätigster Ausdruck“ (Schulz 1965, S. 1) der modernen Architektur. Im Aufbruchsjahr 1968 wird der Brutalismus mit seinen funktionalismuskritischen „Mauern schlechthin“ sogar zum Symbol des menschlichen Wesens schlechthin. „Es sucht die animalische Wärme. Es sucht Schutz, nicht Freiheit; Nachbarschaft und nicht kühle Einsamkeit, und ganz gewiss dienen ihm die Befreiungsgesten der Bauhauszeit nicht mehr – nicht die freien Blöcke, die Transparenz, die hygienische Isolierung, und alles was einmal zu dem vom Sozialismus übernommenen Emanzipationsprogramm gehörte.“ (Schulz 1968, S. 1)3

Die Kontinuität mag bestätigen, dass Zeitdiagnosen umso mehr zur Selbsterforschung des Autors werden, je universalistischer dessen Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch an seine vermeintliche Analyse der Gegenwart ist. Sobald „eine mehr als nur subjektive Einheit in deren Mannigfaltigkeit“ hergestellt werden soll, tritt die „Subjektivität der Geste“ der Zeitdiagnose nur noch deutlicher zutage (Habermas 1979, S. 9). Die 1963 getroffene Unterscheidung von Glas und Mauer als Signifikant „elementarer Gefühle“ betraf daher eine sehr persönliche Kondition und die Weltgeschichte zugleich. „Nun bedarf es keines besonderen Tiefsinns, um hinter

3Danach in der FAZ erscheinende Artikel von Schulz über Betonarchitektur, etwa über Gottfried Böhms Rathausbau in Bensberg (12. September 1970), die Verleihung des Betonpreises in Köln (14. Mai 1975), Beton-Architektur von Walter Förderer (2. November 1976) oder einen Architekturwettbewerb des Verbandes der Zementindustrie (25. Mai 1977) verzichten auf den Zusammenhang von Angst und Architektur.

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den schweren Höhlenwänden das Gefühl zu erkennen, dass unser Atomzeitalter bezeichnet“, fasste Schulz (1963, S. 100) seine Deutung moderner Mauern als Ausdruck apokalyptischer Bedrohung zusammen. Die Projektion spiegelte mit der seit Mitte der 1950er Jahre öffentlich intensiv debattierten globalen Gefährdung durch die zivile und militärische Atomenergie (Jungk 1956; von Weizsäcker 1957; Jaspers 1958) auch eine mentale Grundhaltung seiner Altersschicht in der Nachkriegszeit. „Die Stadt, das Land, das Volk, die Seele der Massen, die jetzt in einer dunklen Dünung auf- und niederwogt, ist vollgesogen mit der Bitterkeit des Wissens, das kaum noch eine Frage enthält: Ist es wieder soweit?“, lauten die beschwörenden enigmatischen Zeilen eines Textes von Eberhard Schulz (1947b, S. 250) von 1946 über die Furcht vor dem nächsten Krieg nach dem Krieg. Noch 15 Jahre später klingt dieses Motiv nach und es scheint, als würde die Kritik am Funktionalismus durch den Brutalismus und die „Mauer schlechthin“ für Schulz keine neuen Ängste, sondern das endlich gewonnene Verständnis der

Abb. 7    Wehrdaer Weg in Marburg, Straßenbegrenzung aus Waschbeton. Architekt unbekannt, um 1960. © Jörg Probst

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Kunst für diese Ur-Angst anzeigen. „Der Mensch nach der Jahrhundertmitte ist nicht deshalb bedrückt, weil die Versicherungsrenten oder die Aktienkurse versagen. Ihn bedrängt ein anderes Gefühl, welches zu unserer atomaren Welt gehört, und dies allein“, so Schulz (1963, S. 112) über den Brutalismus als Ästhetik der passiven Vernichtungsangst, „wird durch die merkwürdigen, als Bausymbole eigentlich häßlichen Tafelwände angerührt.“ Mit Zeitdiagnosen wie diesen, die der BDA mit dem neugeschaffenen Kritikerpreis 1963 würdigte und sogar in und um Wehrda bei Marburg den Hang zur Beton-Monumentalität als Chiffre des „elementaren Gefühls“ der Urangst weckten (Abb. 7), sprach Eberhard Schulz westdeutschen Architekt*innen seiner Generation wohl aus dem Herzen.

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Jörg Probst, Dr. phil.; Kunsthistoriker und Koordinator der interdisziplinären Forschungs- und Lehrplattform „Portal Ideengeschichte“ am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg; Arbeitsschwerpunkte: Politische Ikonologie; Kunst- und Bildgeschichte des Dokumentarischen; Ideengeschichte der Bildwissenschaft.

Empirie der Angst

Entfremdung vom Sozialstaat? Angsterfahrungen in Arbeitskontexten der Daseinsvorsorge Sigrid Betzelt und Ingo Bode 1 Einleitung Die Sozialwissenschaften führen seit Längerem eine rege Debatte um die Relevanz und Dynamik von Angstgefühlen in der Gegenwartsgesellschaft. Diese Debatte hat im Zuge der 2020 grassierenden „Corona-Krise“ spürbar Auftrieb bekommen und ist hier um neue Dimensionen bereichert worden. Aber schon vorher galt Angst vielen Zeitbeobachter*innen als Signum einer durch wachsende Unsicherheit geprägten Epoche, in der auch die Skepsis gegenüber etablierten, das soziale Leben regulierenden Institutionen anwächst (Bude 2014; Nachtwey 2016; Koppetsch 2019; im Überblick: Dehne 2017). Andere sprachen eher von krisen-, konjunktur- oder anderweitig „anlassbezogen“ auftretenden Sorgen, beispielsweise im Kontext der „Flüchtlingskrise“ (für viele: Lübke und Delhey 2019) – freilich ohne die entsprechenden Gefühlslagen als Ausdruck tiefergehender gesellschaftlicher Umbrüche zu deuten. Die entsprechende Grundsatzkontroverse entzündete sich v. a. am Thema Rechtspopulismus und der Frage, inwiefern dessen Bedeutungsgewinn eine Abwendung bestimmter Bevölkerungsteile von etablierten politischen Institutionen zum Ausdruck bringt (Decker und Brähler 2018; Crouch 2019). Einerseits wurde diskutiert, ob Ängste dabei überhaupt eine Rolle spielen oder ob andere Emotionen wie Wut und Frustration, S. Betzelt (*)  Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] I. Bode  Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_8

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ferner mangelnde soziale Anerkennung oder das „Fremdeln“ mit anderen Kulturen relevanter sind (vgl. etwa Rippl und Seipel 2018); andererseits wurde erörtert, welche sozialen Klassen oder Schichten hier besonders „anfällig“ sind (und warum) – oft mit einem Fokus auf die Mittelschicht (Iversen und Soskice 2019). Wir wollen in unserem Beitrag diese auf die Makro-Ebene sozialen Wandels abstellende, häufig mit demoskopischen Momentaufnahmen unterlegte Zeitdiagnostik hinter uns lassen und müssen auch die massiven (zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Beitrags allenfalls schemenhaft erkennbaren) Angstdynamiken im Zusammenhang mit der „Corona-Krise“ ausblenden – obwohl diese nicht zuletzt jene Bereiche betreffen, die nachfolgend im Zentrum stehen sollen: nämlich Erfahrungswelten in Organisationen, die sich der Arbeit am Menschen widmen (z. B. Pflege- und Bildungsorganisationen). Hier, so unsere Ausgangsthese, manifestiert und konstituiert sich der Zusammenhang von Unsicherheit, emotionaler Irritation und Institutionenskepsis in besonderer Weise. Es wird ersichtlich, wie – ungeachtet der Tatsache, dass Ängste auch bei der Konfrontation mit gesellschaftlich wirkungsmächtigen Diskursen und staatlichen Reformagenden mobilisiert werden (Betzelt und Bode 2017) – Erfahrungen im Arbeitsleben für diesen Zusammenhang grundlegend sind (ähnlich: Sauer et al. 2018). Zudem veranschaulicht das Beispiel jener – von der „Angstforschung“ bislang wenig beachteten – Einrichtungen, in denen Dienstleistungen der sozialen Daseinsvorsorge qua Interaktionsarbeit (Böhle 2011) bereitgestellt werden, wie hier verschiedene Dimensionen emotionaler Verunsicherung ineinandergreifen können und das zum Tragen kommt, was sich als rekommodifizierende Transformation des Wohlfahrtskapitalismus bezeichnen lässt. Wesentlich erscheint dabei einerseits, dass sozial- und arbeitspolitische Maßnahmen in den vergangenen Dekaden zur Beschränkung sozialer Sicherheiten geführt haben, was – v. a. mit Bezug auf Arbeitsmarktrisiken – vielfach dokumentiert worden ist (Betzelt und Bothfeld 2011); Einrichtungen der Daseinsvorsorge sind folglich mit Verunsicherungen auf Seiten von Nutzer*innen konfrontiert, ob nun bei Personen, die sich um ihr Humankapital sorgen oder bei Menschen, die für Angehörige oder sich selbst fürchten, schlecht versorgt zu werden. Andererseits sind die Einrichtungen von veränderten sozialstaatlichen Regulierungen betroffen (Bode 2013, S. 216–225): Viele unterliegen einem Wettbewerbs- und Qualitäts(bewertungs)druck, der sie zu veränderten Formen betriebswirtschaftlicher Steuerung veranlasst. Rekommodifizierung findet hier auch insofern statt, als Nutzer*innen zu „Kund*innen“ gemacht werden, die selbstbezügliche Präferenzen artikulieren und, z. B. im Rekurs auf digitale Informationsmedien, Marktvergleiche anstellen – wenn auch de facto oft ober-

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flächlich und mit begrenzten Einblicken in die black box interaktiver Dienstleistungsprozesse. Administrative Treuhänder wie Heimaufsicht, Medizinischer Dienst der Krankenkassen oder Bundesagentur für Arbeit agieren in einem ähnlichen Modus, indem sie (vermeintliche) Qualitätsdefizite von Anbietern vertragspolitisch sanktionieren bzw. komparative Bewertungen veröffentlichen. Das kritische Beäugen von Dienstleistungsangeboten seitens dieser Treuhänder und durch „Kund*innen“ mit Wahloptionen nährt dabei die Vorstellung, Organisationsleistungen seien innerhalb der jeweiligen Branchen prinzipiell ungleich und somit unzuverlässig. Einrichtungen der Daseinsvorsorge werden so systematisch verunsichert, und diese Unsicherheit übersetzt sich (potenziell) in einen Dauerdruck auf die Beschäftigten. Diese sehen sich diversen Instrumenten managerialistischer Output-Steuerung (s. u.) gegenüber und erfahren zugleich, dass eigene Qualitätsvorstellungen häufig verletzt werden (müssen). Sie bewegen sich vielfach in einem Dilemma zwischen Ansprüchen an berufliche Fachlichkeit und Imperativen betrieblicher Steuerung, bei gleichzeitiger Konfrontation mit ihrerseits verunsicherten Nutzer*innen. Unsere Annahme ist, dass diese Gemengelage aufseiten der Beschäftigten emotionale Begleiterscheinungen zeitigt, wobei Angst – neben anderen Emotionen – hier eine wesentliche Rolle spielen kann. Der Umgang mit unerwünschten, aber unabänderlichen Zuständen impliziert emotionalen Stress: Man erlebt (verschärfte) Diskrepanzen zwischen realen Handlungsmöglichkeiten und dem als fachlich notwendig Betrachteten, ohne zu wissen, welche Folgen (für sich und andere) welche weiteren Implikationen haben – und muss die entsprechende Unsicherheit in irgendeiner Weise ausagieren. Am Ende stehen möglicherweise starke Kontrollverluste, die – folgt man sozialpsychologischen Theorien – gerade in Drucksituationen typischerweise Angstgefühle erzeugen. In den fraglichen Arbeitskontexten dürften solche Gefühlslagen meist diffus bleiben; lähmende Angst ist eher ein Grenzfall (z. B. als Burnout). Mit (latenten) Ängsten verbundene Kontrollverluste haben indes potenziell Auswirkungen auf Einstellungen, die die gesellschaftliche Ordnung betreffen: Werden keine Möglichkeiten zur Gegensteuerung gesehen, können sie die Entfremdung gerade von jenen (sozialstaatlichen) Institutionen befördern, die im zeitgenössischen Wohlfahrtskapitalismus die Kontrolle von Unsicherheiten eigentlich erleichtern sollen. Diese Institutionen bieten heute, so eine geläufige Beobachtung, vielen leidvollen, emotional verstörenden Erfahrungen keinen Einhalt; sie wirken also wenig responsiv, und die Verhältnisse scheinen sich ihrer bewussten Gestaltung zu entziehen (analog zu Sörensen 2016, S.  414–422). Allerdings: Unter Umständen ist auch denkbar, dass aus der soeben umrissenen Gemengelage ein

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Potenzial zur Solidarisierung zwischen Dienstleistenden und Nutzergruppen erwächst, was eine praktisch-politische Wiederaneignung des Sinns der für die soziale Daseinsvorsorge grundlegenden (politischen) Institutionen befördern könnte, welche auch auf andere Teile der Gesellschaft ausstrahlt. Wir plausibilisieren unsere Thesen nachfolgend durch Befunde, die bereits vorliegenden Studien entnommen werden können und die es uns erlauben, Vermutungen über den in den fraglichen Arbeitskontexten ausgebildeten Zusammenhang von Angst und Entfremdung anzustellen, denen wir in – zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Bandes eingeleiteten – Organisationsfallstudien empirisch nachgehen.1 Unsere Ausführungen sind wie folgt gegliedert: Nach einem kursorischen Überblick über rekommodifizierende Tendenzen im „entsicherten“ Wohlfahrtskapitalismus (2.) resümieren wir Studien, die die Entwicklung von Interaktionsarbeit unter Bedingungen des Managerialismus sowie ihre emotionalen Begleiterscheinungen beleuchten (3.). Der abschließende Abschnitt. behandelt die möglichen Folgen aus den skizzierten Entwicklungen im Hinblick auf die o. g. Entfremdungsprozesse sowie Potenziale für neue Solidaritäten (4.).

2 Die rekommodifizierende Transformation des Wohlfahrtskapitalismus als Quelle von Angstgefühlen Seit etwa Mitte der 1970er Jahre (verschärft seit den 1990ern) wird in den Sozialwissenschaften ein Strukturwandel der Arbeit konstatiert, der mit ökonomisch-technologischen Umbrüchen, aber auch veränderten Arbeits­ politiken sowohl der Unternehmen als auch der Staatsadministration einhergeht (Dingeldey et al. 2015). Diagnostiziert wurde gleichzeitig ein Wandel hin zum „post-industriellen“ oder „schlanken“ Sozialstaat (Powell und Hendricks 2009; King und Le Galès 2017). Beide Entwicklungen haben soziale Sicherheiten für weite Teile der Bevölkerung eingeschränkt: durch die Entwicklung nicht-standardisierter (sog. „atypischer“) Formen der Erwerbsarbeit (Leiharbeit, Minijobs, Befristungen, Solo- und Scheinselbstständigkeit etc.) – zumeist mit

1Dies erfolgt im Rahmen eines von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsvorhabens mit dem Titel: „Emotionsregimes und Solidarität in der Interaktionsarbeit“ (Laufzeit bis 2022), welches an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sowie an der Universität Kassel durchgeführt wird. Näheres dazu auf den websites der beiden Hochschulen sowie der H ­ ans-Böckler-Stiftung (boeckler.de).

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geringerer Entlohnung und abgesenktem Sozialschutz –, und durch „Reformpakete“, die die institutionelle Absicherung gegen soziale Risiken abgesenkt haben. Beides wirkt insofern rekommodifizierend, als Marktverhältnisse stärker auf Arbeit, Lebensführung und Zukunftsplanung einwirken und zudem die Prävention bzw. Bewältigung sozialer Risiken von Bürger*innen in höherem Maße selbst organisiert werden muss – wobei sie auf Organisationen treffen, die ihrerseits stärker auf sich selbst verwiesen sind und unter Außendruck stehen. Diese mehrdimensionale Entsicherung (Heitmeyer 2012) trifft die Bevölkerung in unterschiedlicher Weise: In dem, was sich – rein pragmatisch – als „Unterschicht“ bezeichnen lässt, schafft sie spezifische Armutsrisiken; die oft niedrigen Einkommen korrespondieren mit geringen Lohnersatzansprüchen im Falle der Erwerbslosigkeit und im Ruhestand. Die Mitte der Gesellschaft verfügt über höhere Einkünfte und Absicherungsansprüche, ihre Lebensperspektive wirkt stabiler. Soziale Sicherheit gilt aber auch hier verbreitet nicht mehr als „normal“ (Hürtgen und Voswinkel 2014); und Abwärtsmobilität ist, jedenfalls subjektiv, wahrscheinlicher geworden. Entsicherung manifestiert sich dabei v. a. in Anforderungen an und Risiken von Selbstorganisation – im Umgang mit dem eigenen Humankapital oder dem von Kindern. Dessen „Pflege“ kann indes angesichts einer insgesamt voraussetzungsvoller gewordenen Lebensplanung (Schimank 2015; Reckwitz 2016) leichter misslingen (Haubl 2017) – auch dann, wenn Leistungen der Daseinsvorsorge in Anspruch genommen werden. Der entsprechende Transformationsprozess hat, wie verschiedentlich gezeigt, auch eine emotionale Dimension (vgl. etwa Bauman 2006). So provoziert der rekommodifizierte (Wohlfahrts-)Kapitalismus Gefühle wie die Furcht vor dem Scheitern (Wilkinson und Pickett 2009; Haubl 2017) oder die Sorge vor sozialem Abstieg (Nachtwey 2016). Dies geschieht besonders dort, wo die „Logik des sozialen Verdrängungswettbewerbs“ herrscht und Menschen gezwungen sind, sich „immerzu selbst zu optimieren“ – getrieben von dem Gefühl „auf Rolltreppen nach unten“ zu stehen und abzurutschen, wenn sie „nicht nach oben rennen“ (Rosa 2019, S. 147). Arbeitserfahrungen sind hier von großer Bedeutung – keineswegs nur als Sorge um den Arbeitsplatz (auf die sich weite Teile der eingangs erwähnten Forschung kapriziert und die konjunkturell stark variiert), sondern auch als Angst am Arbeitsplatz, etwa bezogen auf Unsicherheiten hinsichtlich künftiger Tätigkeitsinhalte oder auch im Hinblick auf Arbeitsbedingungen nach einem etwaigen Jobwechsel (Gallie et al. 2016; Hipp 2019). Für Angehörige der „Unterschicht“ bleibt Beschäftigungsunsicherheit ein Dauerthema, auch im Hinblick auf Lebensplanungen (Kohlrausch 2018; Sauer et al. 2018). Die in Bude (2014, S. 83–90) dokumentierte Feldstudie aus dem Niedriglohnsektor veranschaulicht zugleich, wie angstgetrieben hier

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der ganz normale Arbeitsalltag sein kann. Im Leben des prekär beschäftigten „Dienstleistungsproletariats“ wie auch von Erwerbslosen sind (drohende) Stigmatisierungen bzw. Anerkennungsdefizite an der Tagesordnung (Dörre et al. 2011) – und das Abrutschen weiter nach unten eine panikträchtige Katastrophe, die unbedingt vermieden werden soll (Grimm 2016; Betzelt und Schmidt 2018). In der Mittelschicht sind es nicht zuletzt die Dynamik sozialer Positionierungen und damit korrespondierende Unterlegenheitsgefühle, die „status anxiety“ (Wilkinson und Pickett 2009) befördern; gerade hier geht es um die eigene subjektive Verortung im bestehenden Sozialgefüge und die Antizipation künftiger Positionierungen (Neckel 2001; Groh-Samberg et  al. 2018). Emotionale Irritationen erzeugen ferner die Entwertung biografischer Leistungen bzw. Lebensstile (etwa diejenige, die durch Transformationsprozesse in Ostdeutschland nach der Wende hervorgerufen wurde) oder Prozesse sozialer Deklassierung im Kontext veränderter gesellschaftlicher Hierarchien (Koppetsch 2019). Die Rede von der „Angstgesellschaft“ (Bude 2014) mag feuilletonistisch überzogen sein, auch weil die beschriebenen Tendenzen nicht für alle (gleich) substanziell sind und beim Umgang mit den o.g. Verunsicherungen verschiedene Reaktionen denkbar erscheinen. Das gilt insbesondere für die Mittelschicht: Hier sind jenseits des angstgetriebenen Ausagierens von „ruinöser Statuskonkurrenz“ (Groh-Samberg et al. 2018, S.  352) auch das resignative S ­ich-Einrichten auf Statusverlust („giving up on the Joneses“, Paskov et al. 2016) oder die Abgrenzung von Statusstress eine Option, z. B. auf Basis alternativer Glückskonzepte (Voswinkel 2018). Freilich können auch Bemühungen, sich so den Kräften des Wettbewerbs zu entziehen, scheitern; entsprechende Erlebnisse oder die Aussicht darauf sind potenziell beängstigend. Gefühle der Wut, die manchen als typische Erfahrung der Spätmoderne gelten, weil Lebensprojekte immer wieder entwertet bzw. enttäuscht werden (Reckwitz 2018), spielen ebenfalls eine Rolle – wobei auch sie vielfach angstgetrieben sind (Haubl 2017). Insofern gibt es gute Gründe davon auszugehen, dass Angst eine wesentliche Begleiterscheinung der eingangs umrissenen Rekommodifizierungstendenzen darstellt – auch auf der Ebene von Arbeitsorganisationen.

3 Angstdynamiken in „managerialisierten“ Arbeitskontexten der Daseinsvorsorge Wie bereits erwähnt, sind auch Arbeitskontexte der Daseinsvorsorge vom o.g. Rekommodifizierungstrend erfasst worden. Träger und Beschäftigte stehen unter dem Dauerdruck von Effizienz- und Erfolgszielen, die fachliche Normen

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wie etwa die Orientierung an Einzelfallgerechtigkeit oder an nachhaltigen bzw. ganzheitlicheren Interventionen strapazieren. Das, was international verbreitet als „Managerialismus“ bezeichnet wird (für viele: Meyer und Maier 2018), unterliegt zwar hierarchisch-bürokratischen Vorgaben, ist aber in vielerlei Hinsicht marktorientiert und macht Daseinsvorsorge stärker warenförmig: Die Rede von „Dienstleistungsprodukten“ und „Kund*innen“, die Segmentierung von Nutzergruppen nach Kriterien der relativen Kosteneffizienz, Maßnahmen der komparativen Leistungsmessung und -bewertung (über Fallzahlen, Verweildauern, Vermittlungserfolge, Körperzustände) oder die Inszenierung einer komparativen Leistungsschau auf der Basis bestimmter (nur scheinbar zuverlässiger) Qualitätsindikatoren sind deutliche Indizien. Für die Beschäftigten der Dienstleister entstehen damit tendenziell dilemmatische Arbeitssituationen. Managerialistische Handlungsvorgaben widersprechen berufsethisch gebotenen Normen der Bedarfsgerechtigkeit und ganzheitlichen Unterstützung von Nutzer*innen (Hielscher et al. 2013; Flecker et al. 2014; Bode 2019; Vogel und Pfeuffer 2019). Letztere artikulieren mitunter ihrerseits hohe „Kundenerwartungen“ an (von ihnen oft kaum durchschaute) Dienstleistungsprozesse und bringen selbst oftmals zugleich jene Verunsicherungen ins Spiel, die mit den oben beschriebenen Rekommodifizierungstendenzen am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik einhergehen. Es liegt auf der Hand, dass diese Gemengelage emotionale Folgen hat; und dabei spielen, wie die Studien zeigen, gerade auch Angstgefühle eine Rolle. Beschäftigte an der „Front“ (öffentlich regulierter) sozialer Dienstleistungen leisten seit jeher Emotionsarbeit, indem sie sowohl ihre eigenen, in der Interaktion mit Nutzer*innen entstehenden Gefühle (wie Angst, Frustration, Ärger) steuern als auch die Emotionen ihres Gegenübers in möglichst zweckdienlicher Weise prozessieren. Die Verwertung spezifischer Emotionen von Arbeitskräften zur Produktivitätssteigerung wird seit längerem unter dem Stichwort emotional work/labour diskutiert (Hochschild 1983; Bolton und Boyd 2003). Sie ist Bestandteil einer Subjektivierung der Arbeit im Zuge des Wandels hin zur Dienstleistungsökonomie und der Verbreitung neuer Methoden des betrieblichen Managements: Die direkte Kontrolle von Arbeitsprozessen – typisch für tayloristische Industriearbeit – wurde verstärkt durch indirekte Steuerung bzw. ein management by objectives abgelöst, welches die Zielerreichung der Selbststeuerung den Arbeitskräften überlässt und damit „verantwortliche Autonomie“ ebenso ermöglicht wie erzwingt (vgl. summarisch: Marrs 2018). In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass dies – zumal bei steigendem Erfolgsdruck – gerade beim mittleren Management häufig mit der Angst vor Kontrollverlust einhergeht, auch weil der veränderte Modus im Widerspruch zur stereotypen Rollen-

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definition des maskulin-rationalen Managers steht (Watson 2017, S. 318). Postindustrielle Organisationsverhältnisse stellen neue Anforderungen an das Gefühlsmanagement, die sich aus systemischen Spannungen zwischen Unternehmenszielen und -vorgaben einerseits, gebotener „Kundenorientierung“ sowie Interaktionskonflikten (mit „schwierigen“ Kund*innen oder innerbetrieblich konkurrierenden Kolleg*innen) andererseits ergeben (Sieben und Wettergren 2010; Senge und Zink 2020). Im Bereich der Daseinsvorsorge bzw. dort relevanter Humandienstleistungen zeigen sich besonders hohe und konflikthafte Anforderungen an die emotionale Verarbeitung des Rekommodifizierungstrends. Denn die „­ street-level bureaucrats“ (Lipsky 1980) sind nunmehr verschiedenen Funktionslogiken bzw. einer „hybrid accountability“ unterworfen (Hupe und van der Krogt 2013; Bode 2019). Rechenschaftspflichten beziehen sich auf (oberflächlich) sichtbare Leistungsausweise (auch als Antwort auf „Kundenwünsche“) sowie standardisierte Effizienzziele unter Bedingungen von Ressourcenknappheit und zugleich auf jene Qualitätsansprüche, die dem eigenen fachlich-professionellen Selbstverständnis und (sozialpolitisch) institutionalisierten Effektivitätserwartungen folgen. Vorliegende Studien zu Arbeitskontexten der (öffentlich regulierten) Daseinsvorsorge leuchten diese Drucksituation sowie darauf reagierende Handlungsweisen näher aus. Im Vordergrund steht das auf die o.g. Erwartungsstruktur bezogene „coping“ von frontline workers (z. B. Hupe und van der Krogt 2013), also die anforderungskonforme Bewältigung des oben skizzierten Dilemmas auch im Hinblick auf gesundheitliche Risiken wie Burnout oder Depression (Hsieh 2014). Hier gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die von Hochschild (1983) als „deep acting“ bezeichnete Anpassung eigener Gefühle an äußere Anforderungen weniger schädliche Folgen hat als das oberflächliche Zurschaustellen ­nicht-authentischer Gefühle („surface acting“) (z. B. Rayner und Lawton 2017; Miranda und Godwin 2018). Nicht selten geht es dabei auch um Angstdynamiken bzw. Prozesse, bei denen Ängste erlebt und bearbeitet werden, wodurch sich wiederum Zustände und Orientierungen in Organisationen verändern. So ermittelten Miller et al. (2006) in ihrer Studie zur kommunalen Sozialfürsorge in Großbritannien, dass Beschäftigte aufgrund der durch Managerialismus provozierten ethischen Dilemmata unter Angst- und Schuldgefühlen leiden, da sie meinen, eigenen professionellen Ansprüchen nicht (mehr) gerecht werden zu können (ebd., S. 372). Die Angestellten sehen sich gezwungen, ihre professionelle Identität und ihre Wertsysteme neu zu erfinden. Dort, wo managerielle Steuerung Handlungsspielräume schließt, wird Emotionsarbeit praktisch eingestellt („emotion work

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shut-down“, ebd., S. 374): Zur Vermeidung von Burnout verlagert sich persönliches Engagement dann in außerberufliche Aktivitäten; oder man verhält sich den Nutzer*innen gegenüber „geschäftsmäßiger“, was eine andere Form der Identitätsaufgabe reflektiert. Brooks (2003) zeigt überdies anhand von Beispielen aus dem britischen National Health Service, wie mit der Delegation organisationaler Verantwortung von oben nach unten Beschäftigten mit Interaktionsrollen ängstigende Handlungsdilemmata aufgebürdet werden. Dies geschieht v. a. bei inkompatiblen Zielvorgaben – wie z. B. flexible Arbeitszeiten für Pflegekräfte unterbesetzter Abteilungen einerseits, eine Rundum-Betreuung von Patient*innen andererseits. Es ist wohl kein Zufall, dass die auf Arbeitskontexte der Daseinsvorsorge bezogene Beratungs- und Managementliteratur unter Begriffen wie Stress- oder Angstmanagement jene Handlungskonstellationen fokussiert, für die schwer kontrollierbare Risiken und unvorhersehbare Anforderungen charakteristisch sind (Baumeler 2010; Nguyen und Velayutham 2018). Gerade „Kundenorientierung“ kann Angstdynamiken auslösen, z. B. wenn Beschwerden von Nutzer*innen vom Management unreflektiert aufgenommen und gegen das Personal in Anschlag gebracht werden. Fineman (2010) erläutert dies unter Verweis auf eine Fallstudie aus der Altenpflege, in der Einrichtungen selbst gesteckte, jedoch kaum erfüllbare Serviceziele verfehlen. In dem untersuchten Fall reichte das obere Management eigene Ängste vor organisationalem Imageverlust an die Beschäftigten weiter; Folgen waren eine Kultur des Misstrauens und Argwohns sowie eine „hierarchical cascade of anxiety“ (ebd., S. 38). „Versagensängste“ resultieren hier aus managerialistisch oktroyierten, aber unrealistischen Leistungszielen bzw. -anforderungen. Betrachtet man die Verhältnisse in der deutschen Altenhilfe, deutet vieles auf ganz ähnliche Dynamiken hin. Die Entstehung eines Sozialmarkts mit Beteiligung renditeorientierter privater Anbieter(ketten) sowie einer heimkritischen Öffentlichkeit erzeugt (auch hier) „Ökonomisierungsangst“ (Evans et al. 2014) bzw. einen permanenten Markt- und Bewertungsdruck auf die Einrichtungen. Vor dem Hintergrund komplexer, ständig revidierter Qualitätskontrollverfahren (Büscher et al. 2018) müssen Organisationen permanent Abwertungen fürchten, was wiederum auf die Angestellten ausstrahlen dürfte, zumal diese notorisch überlastet sind (für viele: Nielbock 2017). Die lange währende „Abwärtsspirale“ (Evans et al. 2014, S. 128) bei den Beschäftigungsstandards scheint zwar in manchen Aspekten (z. B. bei der Vergütung) gestoppt worden zu sein; auch haben Arbeitnehmer*innen angesichts des Mangels an Pflegepersonal mittlerweile große Freiheiten bei der Wahl ihres Arbeitgebers. Wo immer aber die Beschäftigten arbeiten, treffen sie auf eine (über)fordernde Arbeits-

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welt, auch beim Umgang mit Angehörigen. Ihr Berufsethos wird strapaziert, das Frustrationspotenzial ist erheblich. Dabei sind die Beschäftigten mit Nutzer*innen konfrontiert, welche sich ihrerseits, angesichts der u. a. durch die „Qualitätsprüfungsindustrie“ angezeigten Leistungsdefizite bzw. ­ -unterschiede innerhalb der Branche, verunsichert zeigen – so wie auch jene, die sich zukünftig in der Rolle als Pflegebedürftige sehen und sich darum sorgen, ob sie im Alter über genügend Mittel zur Finanzierung pflegerischer Hilfen verfügen werden (Bode und Lüth 2018). Auch in anderen, bislang wenig beforschten Bereichen der sozialen Daseinsvorsorge zeigt sich eine solche Gemengelage. Dies gilt etwa für den Sektor der (öffentlich regulierten) Weiterbildung, der gegenwärtig – angesichts von Sorgen um die Folgen der sog. Digitalisierung auf das Humankapital von Teilen der arbeitenden Bevölkerung – nicht nur in politischen Diskursen wachsende Bedeutung zukommt (Ebner und Ehlert 2018). Die Leistungen des Sektors werden vielfach kritisch beäugt, v. a. im Hinblick auf die Umsetzung von Aktivierungsprogrammen (für Personen mit sog. Beschäftigungshemmnissen). Gleichzeitig sind die Erwartungen der Stakeholder hoch, wenn es um Umschulung, außerbetriebliche (berufsqualifizierende) Bildungsmaßnahmen sowie die Kompetenzförderung von Erwerbslosen geht. Das gilt für Maßnahmenteilnehmer*innen ebenso wie für Kostenträger (v. a. die Bundesagentur für Arbeit). Auch hier herrschen eine starke formal-administrative Leistungskontrolle sowie ein beträchtlicher Qualitäts(bewertungs)druck (Heister und Liebscher 2015) auf der Basis meist oberflächlicher Gütekriterien (z. B. schnelle Jobeinmündungen oder die Zahl ausgegebener Zertifikate). Die Arbeits- und Organisationsverhältnisse im Weiterbildungssektor gelten allgemein als prekär (Elias 2018), auch weil sie oftmals volatilen Vergabepolitiken der Arbeitsverwaltung unterliegen (Rosendahl 2017). Die Erfahrung von Beschäftigungsunsicherheit betrifft dabei sowohl die Festangestellten als auch die – zahlenmäßig dominanten – Honorarkräfte (Koscheck 2018). Überdies beeinflusst die Marktorientierung des Feldes die betrieblichen Prozesse und damit auch das Management der mit einer zunehmend heterogeneren Teilnehmerschaft konfrontierten Träger in starkem Maße (Hofmann 2016). Angesichts hoher, oft unrealistischer Leistungsanforderungen liegt es nahe, dass sich bei den Lehrkräften (Versagens-)Ängste einstellen, zumal wenn das Management der Träger den Druck von außen an das Personal weiterreicht (z. B. durch die ständige Befristung von Beschäftigungsverhältnissen). Darüber, wie Nutzer*innen eigene Sorgen in Arbeitskontexte der Weiterbildung einbringen, gibt es nur indirekte Hinweise. Internationale Studien plausibilisieren, dass mit Aktivierungsprogrammen verknüpfte Weiterbildungsmaßnahmen ihr

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Selbstwertgefühl beeinflussen und mitunter als „dramatisch“ erfahren werden, also mit hohen emotionalen Kosten einhergehen (Tonkens et al. 2013). Allgemein scheint der Umgang mit administrativen Instanzen des (aktivierenden) Weiterbildungssystems emotional aufgeladen, was in Deutschland zuletzt auch mit Verweis auf wachsende Gewaltneigungen von Klient*innen der Arbeitsverwaltung thematisiert wurde. Über Spannungen wird auch aus anderen Bereichen der Sozialverwaltung berichtet: Barnes und Henly (2018) zeigen am Beispiel von Kindergeldempfänger*innen, wie diese das – nicht selten als kontrollierend empfundene – Personal für erlebte Schwierigkeiten beim Leistungsbezug verantwortlich machen. Insgesamt sind Erfolge im Weiterbildungsparcours hochgradig unsicher, was zumindest für Personen mit geringer „Arbeitsmarktgängigkeit“ nahe legt, dass der Umgang mit (­Um-)Schulungserfordernissen und -maßnahmen häufig angstbesetzt sein dürfte. Extreme Kontrollverluste können subjektiv z. B. dann auftreten, wenn Beruf oder Arbeitsplatz bedroht erscheinen, etwa durch Digitalisierungsprozesse. Angsterfahrungen sind also auch im Erleben von Beschäftigten und Nutzer*innen der Weiterbildungsbranche quasi vorprogrammiert.

4 Entfremdung vom Sozialstaat oder neue Solidarisierung? Betrachtet man mögliche übergeordnete Folgen der beschriebenen Angstdynamiken, so liefert die Studienlage nur wenig Hinweise darauf, wie in Arbeitskontexten erlebte Gefühle die subjektive Haltung zu politischen Institutionen beeinflussen. Implizit ist dieser Frage zuletzt unter Bezugnahme auf rechtspopulistische Tendenzen nachgegangen worden (vgl. etwa Sauer et al. 2018; Iversen und Soskice 2019), besonders mit Blick auf Gruppen, die (wenigstens dem Anschein nach) um Wohlfahrtschancen konkurrieren (z. B. Geringqualifizierte und Geflüchtete). Im Falle der von uns betrachteten Arbeitsfelder geht es zuvorderst um jene Institutionen, die die Daseinsvorsorge politisch steuern (sollen). Vieles spricht dafür, dass die angstbesetzte Erfahrung von Kontrollverlusten und dilemmatischen Arbeitsbedingungen in Institutionenskepsis mündet und so eine Entfremdung vom Sozialstaat befördert: Emotionale Irritationen im Arbeitserleben einerseits, die Konfrontation mit der Verunsicherung von Nutzer*innen andererseits beeinträchtigen potenziell den Glauben an die Funktionalität jenes institutionellen Rahmens, der die fraglichen Humandienstleistungen umspannt. Im Zuge der rekommodifizierenden Transformation des Wohlfahrtskapitalismus würden damit Arbeitskontexte der sozialen Daseinsvorsorge zur Quelle von Entfremdung.

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Anhaltspunkte für eine solche Deutung finden sich bei Mastracci und Adams (2018), die zeigen, wie managerialistische Steuerungen bei öffentlich Bediensteten nicht nur emotional irritieren (weil der eigene Anspruch an Interaktionsarbeit und deren Gefühlsbasis unerfüllt bleibt), sondern auch qua emotional contagion auf Nutzer*innen übergreifen und bei diesen Misstrauen gegenüber sozialstaatlichen Instanzen erzeugen. Arbeitspolitiken der Organisationen befeuerten diese Dynamik noch weiter, wenn sie in einem besonders hierarchischen bzw. bürokratischen Modus vollzogen würden. Ähnlich argumentiert Loyens (2015), die in ihrer Studie zur Praxis von Gewerbeaufsicht und Sicherheitsbehörden eine allgemeine „policy alienation“ diagnostiziert und dabei zwei Dimensionen unterscheidet: das Gefühl von Ohnmacht und das Erleben von Bedeutungslosigkeit. Beide Erfahrungen sind auf den höheren, politisch institutionalisierten Sinn ihrer Tätigkeit bezogen – und befördern insofern die Distanz zum Sozialstaat. Auf der betriebsübergreifenden Ebene argumentieren Groh-Samberg et al. (2018), die Vermarktlichung sozialstaatlich regulierter Dienstleistungen (in den Bereichen Bildung, Gesundheit, öffentliche Verwaltung etc.) unterfüttere nicht nur die o.g. Statuskonkurrenz, sondern beeinträchtige zugleich den demokratischen Zusammenhalt – auch durch die Verschärfung sozialer Segregationen. In dem Maße, wie sich Statusstress in Statusängste übersetzt, zeigt sich ein potenzieller Zusammenhang mit der Distanzierung von Institutionen, die die soziale Daseinsvorsorge ausgestalten. Politischer Widerstand falle, so die Beobachtung, gerade den Unterschichten schwer, weil hier harter Verdrängungswettbewerb vorherrscht (ebd., S. 350). Teile der Mittelschicht wiederum würden von „investiver Statusarbeit“ in einem „positional arms race“ (Frank 2013, S. 3, zit. n. Groh-Samberg et al. 2018, S. 351) absorbiert, wobei mitunter auch Statusresignation zu beobachten sei – was ebenfalls auf politische Demobilisierung und eine wachsende Distanz zu Institutionen des Gemeinwesens hinausläuft. Dass dies nicht zwingend so sein muss, legen Überlegungen von Voswinkel (2018) nahe, der u. a. Tendenzen einer eigensinnigen Verweigerung von Statuskämpfen (in der Mittelschicht) beobachtet. Überhaupt verweisen Untersuchungen, die den Umgang von in Feldern der Daseinsvorsorge beschäftigten Arbeitnehmer*innen mit den oben beschriebenen Verhältnissen beleuchten, auch auf ein coping wider die Angst – woraus sich unter Umständen Solidarisierungspotenziale ergeben könn(t)en, die den genuin sozialstaatlichen Auftrag auch von Arbeitskontexten der Daseinsvorsorge untermauern. Entfremdung würde dann überwunden durch eine „transformierende Aneignung“ der vorgefundenen, unbefriedigenden sozialen Welt und der sie aufspannenden Institutionen (Sörensen 2016, S. 422), auch der sozialstaatlichen.

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So entwickeln in den hier interessierenden Arbeitskontexten tätige Beschäftigte, die die rekommodifizierende Transformation des Wohlfahrtskapitalismus als Deregulierung von Erwerbsarbeit und als Neu-Regulierung der Daseinsvorsorge erleben, unter Umständen kollektive statt nur individualisierte Reaktionsweisen (Flecker et al. 2014). Diese können auch auf Nutzer*innen bezogen sein, wie einige Studien zum Gesundheitswesen andeuten (Behruzi 2018). Berufsethische Werte und „widerständige“ Identitäten werden dabei offensiv gegen die Imperative des Managerialismus in Anschlag gebracht. Ein „wertorientiertes Arbeitsbewusstsein“ (Vogel und Pfeuffer 2019, S. 86) und die Idee vom Dienst an der Öffentlichkeit verhindern die Flucht in eine instrumentelle „Jobmentalität“, bei der berufliche Praxis allein extrinsisch motiviert ist. Stattdessen setzen Beschäftigte der (rekommodifizierungsbedingten) Engführung des Dienstleistungsmandats eine professionelle Haltung entgegen, bei der Qualität und Verlässlichkeit der Dienstleistung im Zentrum stehen. Relevant werden dabei gemeinsame Interessen von Beschäftigten und Nutzer*innen an qualitativ hochwertigen, sozial inklusiven Dienstleistungen – was durchaus Grundlage einer politisch orientierten (Re-)Solidarisierung werden kann. Albrecht et al. (2015) zeigen in einer Feldstudie zur Jugendberufshilfe, dass Beschäftigte im dortigen Prekaritätsregime die Verunsicherung der Nutzer*innen auch zum Anlass eines Schulterschlusses mit Unterprivilegierten nehmen. Ähnliches berichtet Loyens (2015, S. 112): Eine der von ihr beobachteten Reaktionsweisen auf managerialistische Steuerungen ist das „bonding with victims“ bei partieller Verweigerung formaler Arbeitsvorgaben. Eine vergleichbare Handlungsorientierung ist das, was Hupe und van der Krogt (2013, S. 66) als „activism“ bezeichnen und das abzielt auf die Bildung von Koalitionen „to tackle sources of work pressures“ (eigene Herv.). Solche Handlungsweisen beziehen sich mitunter auf den institutionellen Rahmen der Daseinsvorsorge und setzen einen Kontrapunkt zu jenen, die eher auf das Aussitzen erlebter Dilemmata hinauslaufen und – als emotional habituation bzw. resignative Duldung – einen Lähmungseffekt von Angstdynamiken widerspiegeln. Insgesamt besteht, was die Folgen der rekommodifizierenden Transformation des Wohlfahrtskapitalismus und hier die Rolle ihrer emotionalen Verarbeitung betrifft, noch reichlich Forschungsbedarf. Dieser Bedarf wird durch die Erfahrungen mit der „Corona-Krise“ noch virulenter, wobei hier einerseits neue Angstdynamiken in den Blick geraten, andererseits aber bestimmte der oben diskutierten Erfahrungen dramatischer bzw. sichtbarer geworden sind – etwa im Hinblick auf die Frage, wer heute unter Krisenbedingungen institutionell geschützt wird und wer nicht. Unser Literaturüberblick spricht in jedem Fall dafür, hier die Rolle von Arbeitsorganisationen als gesellschaftliche

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­ eso-Ebene der Daseinsvorsorge stärker zu fokussieren, weil dadurch wie in M einem Brennglas sowohl Entfremdungstendenzen als auch Widerstände bzw. neue Solidaritätspotenziale augenscheinlich werden. Sichtbar wird damit, wie veränderte Erfahrungswelten das Angsterleben im Alltag sowie Prozesse der Angstbearbeitung prägen, und es lässt sich prüfen, inwiefern diese nicht nur Reflex von, sondern auch potenzielles Störfeuer gegen Rekommodifizierungsagenden im zeitgenössischen Wohlfahrtskapitalismus sind.

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Sigrid Betzelt, Dr. phil.; Professorin für Gesellschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationssoziologie am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaatlicher Wandel, v.a. in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik; soziologische Angst- und Emotionsforschung in Organisationen der Daseinsvorsorge. Ingo Bode, Dr. rer. pol.;  Professor für Sozialpolitik mit Schwerpunkt organisationale und gesellschaftliche Grundlagen am Institut für Sozialwesen im Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel; Arbeitsschwerpunkte: Sozialwissenschaftliche Analysen von Institutionen und Organisationen im Sozial- und Gesundheitswesen; politische Soziologie von Wohlfahrtssystemen im internationalen Vergleich.

Gesellschaft der Angst? Kommunikationskultur der Angst. Über die mikropolitische Nutzung der Angstrhetorik Judith Eckert 1 Einleitung In den vergangenen Jahrzehnten und verstärkt in den letzten Jahren wurde es populär, gesellschaftliche Entwicklungen unter dem Schlagwort Angst zu interpretieren: 1986 hat Ulrich Beck (S. 66) in der Risikogesellschaft vermerkt, dass „Ich habe Angst!“ zur typischen Aussage der Zeit und Angst zum Lebensgefühl werde. Ähnliches hat 2014 Heinz Bude in seiner Gesellschaft der Angst behauptet. 2019 hat Frank Biess in der Republik der Angst die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entlang der kollektiven Ängste seit 1945 erzählt. Wie diese Beispiele illustrieren, hat die Emotion Angst eine diagnostische Zentralstellung erlangt. Wenig überraschend ist vor diesem Hintergrund, dass Angst auch als Erklärung für andere gesellschaftliche Phänomene genutzt wird. Gegenwärtig trifft dies für das Aufkommen und die Persistenz rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien in Ländern des globalen Nordens zu; so wird z. B. die AfD als „Angstbewegung“ (Biess 2019, S. 413) bezeichnet. Das alles klingt in einer „Kultur der Angst“ (Furedi 2018), die Angst zu einer wichtigen Deutungsfolie erhoben hat, so plausibel, dass ein grundlegendes Problem von Angstdiagnosen und -erklärungen aus dem Blick rückt: Oft stellt Angst eine bloße spekulative Ableitung aus makroanalytischen Überlegungen dar und wird empirisch kaum untermauert. Zu dieser empirischen Problematik kommt eine konzeptionelle hinzu: Der Angstbegriff selbst bleibt oft J. Eckert (*)  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_9

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ungeklärt und fungiert stattdessen als „catchword“, das von seinen „affektiven Assoziationen“ lebt (Ahrens 2018, S. 52). Der zweite Schritt wird damit vor dem ersten gegangen; Angst wird in ihrer Existenz und Beschaffenheit vorausgesetzt, aber nicht näher definiert und untersucht. Daran scheint sich etwas zu ändern. Jüngst wurden in einigen konzeptuellen und empirisch-quantitativen Arbeiten wichtige erste Schritte gegangen, um die genannten Probleme zu bearbeiten (Dehne 2017; Schmitz et al. 2018; Lübke und Delhey 2019). Allerdings lassen quantitative Studien die Frage offen, was es bedeutet, wenn Interviewpartner*innen angeben, Angst zu haben. Eine scheinbare Kriminalitätsfurcht kann sich bspw. als „Projektionsfläche“ für diffuse soziale Ängste (Hirtenlehner 2009), als politische Meinungskundgabe (Furstenberg 1971) oder als methodisches Artefakt entpuppen (Ditton et al. 1999). Dies weist darauf hin, dass die Bedeutung von Antworten kaum angemessen erschlossen werden kann, wenn der lebensweltliche Kontext und der Gesprächskontext nicht verfügbar sind. In diesem Beitrag will ich zur Klärung dieser grundlegenden Bedeutungsfrage beitragen. Basis dafür ist eine eigene Studie (Eckert 2019), in der ich mich u. a. aufgrund dieses Interesses an Bedeutungen für eine qualitativ-rekonstruktive Zugangsweise entschieden habe (Abschn. 2). Meine Analysen zeigen, dass hinter Angst- bzw. Unsicherheitsäußerungen nicht immer Angst als Emotion steht, sondern dass diese auch in strategischem, rhetorischem Sinne genutzt werden können. Diese mikropolitische Nutzung der Angstrhetorik steht im Vordergrund dieses Beitrags (Abschn. 3). Die Differenzierung zwischen Angst als Emotion und Angstrhetorik ist auch für das Verständnis des gegenwärtigen Rechtspopulismus zentral (Abschn. 4). Doch ist diese strategische Nutzung der Angstrhetorik nicht auf den Rechtspopulismus beschränkt. Vielmehr leben wir generell in einer Kommunikationskultur der Angst (Abschn. 5). Ausblickend skizziere ich einige Konsequenzen meiner Überlegungen für den Umgang mit Rechtspopulismus (Abschn. 6).1

1Der

in Philosophie und Psychologie begründeten Unterscheidung von bestimmter, objektbezogener Furcht und unbestimmter, objektloser Angst schließe ich mich nicht an, u. a. da die Frage, wer darüber befinden sollte, was ein ausreichend objekthaftes Objekt ist, nicht ohne Weiteres beantwortet werden kann. Aus sozialkonstruktivistischer Sicht ist schließlich auch das Wissen von Expert*innen konstruiert und nicht objektiv. Angst und Furcht verwende ich daher synonym. Letzteres gilt auch für die Begriffe Emotion und Gefühl.

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2 Methodik: Erzählanalyse von Sprachhandlungen und praxeologische (Emotions-)Analyse Meine Studie basiert auf 39 Leitfadeninterviews, die 2011 im Rahmen des Projekts Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten geführt wurden, das Teil der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Sicherheitsforschung war. Die zentrale Frage des Projekts war, welche Unsicherheiten lebensweltlich eine Rolle spielen (ausführlicher zur Studie Blinkert et al. 2015; Eckert 2019). In der inhaltsanalytischen Auswertung aller 405 Interviews der Studie fassten wir sämtliche Interviewäußerungen als Ausdruck von Angst bzw. „(Un-) Sicherheitsbefindlichkeiten“ auf (vgl. Blinkert et al. 2015). In meiner weiteren Beschäftigung mit den Daten und mit der Literatur kamen allerdings Zweifel an der Angemessenheit dieser Vorgehensweise auf. Ein Grund dafür war, dass dem Unsicherheits-Framing von uns Forschenden teils ein allgemeineres Problem-Framing der Interviewpartner*innen gegenüberstand. Entsprechend ­ dokumentiert sich in ihren Äußerungen ein breiteres Spektrum an Unwohlgefühlen, das Angst umfassen kann, aber nicht muss. Darüber hinaus ist aus der sprechakttheoretisch informierten Erzählforschung bekannt, dass Sprecher*innen explizite Emotionskommunikation bzw. „Gefühlsdarstellungen strategisch nutzen“ können (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 40). Sprechen ist demzufolge nicht als transparenter Bericht über Emotionen und Handlungen zu verstehen, sondern stellt selbst eine (Sprach-)Handlung dar. Das verweist darauf, dass die von den Interviewten benannte, die von ihnen gefühlte und die von den Forschenden „gemessene“ Emotion nicht im Einklang stehen müssen. Entsprechend verkürzend wäre es, in der Analyse jede Angstäußerung als Ausdruck der Emotion Angst zu sehen – was jedoch teilweise aus pragmatischen Gründen und/oder theoretisch begründet geschieht. So wird bspw. argumentiert, dass erst die Artikulation eines Gefühls die Erfahrung vervollständigt und somit die Gefühlsartikulation ein gutes Proxy für die gefühlte Emotion ist (z. B. Biess 2019, S. 29 ff.). Demgegenüber ist u. a. einzuwenden, dass Gefühlsartikulationen rein strategisch verwendet werden und gefühlte Emotionen unthematisiert bleiben können, etwa weil sie schambesetzt oder für die Akteur*innen nicht in Worte zu fassen sind. Um die Relevanz von Angst zu rekonstruieren und nicht vorauszusetzen, habe ich mit dem integrativen Basisverfahren (Kruse 2015) ein Auswertungsverfahren gewählt, das sowohl Sprachhandlungen als auch nicht notwendigerweise explizierte Emotionen rekonstruieren kann. Ersteres leistet es durch eine Bezug-

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nahme auf solche erzählanalytischen Ansätze, die Erzählen hinsichtlich seiner performativen Aspekte untersuchen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Letzteres ermöglicht es durch seine methodologische Verortung in Karl Mannheims Wissenssoziologie, die sich besonders für das atheoretische, oft implizite Wissen interessiert – vergleichbar Bourdieus Fokus auf das praktische Wissen. Daraus habe ich in Anlehnung an Scheer (2016) eine praxeologische Emotionsanalyse entwickelt, die Emotionen als Teil dieses impliziten, praktischen Wissens fasst und davon ausgeht, dass Emotionen wirksam sein können, ohne verbal expliziert zu werden. Auf diese Weise konnte ich verschiedene Bedeutungen und Funktionen von Angst- und (Un-)Sicherheitskommunikation herausarbeiten: Zum einen kann diese in referenzieller Weise auf die Emotion Angst verweisen, die i. d. R. als negativ und dysfunktional empfunden wird (Eckert 2019, Kap. 6.3). Zum anderen kann Angst- und (Un-)Sicherheitskommunikation als Sprachhandlung mikropolitisch für die Akteur*innen positive Funktionen haben; Angst als Emotion muss dabei nicht zugrunde liegen, vielmehr können andere Emotionen eine bedeutende Rolle spielen.

3 Empirie: mikropolitische Nutzung der Angstrhetorik Im Folgenden fokussiere ich auf die mikropolitische Verwendung von Angstund (Un-)Sicherheitskommunikation, die ich als Angstrhetorik fasse. Ob darauf bewusst oder vorbewusst, rational kalkulierend oder aus dem Bauch heraus rekurriert wird, ist einer praxeologischen Perspektive folgend sekundär: Indem die Akteur*innen auf die Sprache der Angst rekurrieren, folgen sie ihrem – i. d. R. impliziten – praktischen Sinn bzw. Gespür für das jeweilige Spiel, das bei Bourdieu stets ein ernstes Spiel um erstrebenswerte Kapitalien und Positionen ist (Lamaison und Bourdieu 1986; konkret dazu Abschn. 5).

3.1 Positionierung: die „Ängste“ der Anständigen (Selbst-)Positionierungen im Sinne einer situativen Identitätsdarstellung als moralisches Selbst stellen eine erste mikropolitische Funktion dar (­Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Allgemein gesprochen nehmen die Interviewpartner*innen hierbei diejenigen „Ängste“ für sich in Anspruch, die aus ihrer Sicht ein anständiges Gesellschaftsmitglied zu haben hat. Präsentiert werden also die

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„Ängste“ der Anständigen. Auf diese Funktion wurde ich aufgrund von Zitaten wie diesem aufmerksam: CM: […] und eh na klar mach ich mir auch Gedanken um Natur oder um Zerstörung der Natur oder um solche Sachen, um Kriege, da würd ich nicht sagen dass ich da jetzt keine Angst davor hätte, das ist ja auch ne Sache wo man Angst davor haben muss in gewisser Weise, aber das ist jetzt nicht so präsent für mich.

Was passiert hier? Die Interviewpartnerin Conny Müller führt gemäß der Interviewaufgabe, persönlich relevante Unsicherheitsthemen zu nennen, Naturzerstörungen und Kriege als zwei (weitere) Themen ein, verdeutlicht aber gleichzeitig, dass diese Problematiken „nicht so präsent“ für sie sind, was kongruent zu ihren sonstigen Interviewäußerungen und meiner Fallrekonstruktion ist. Dennoch ist diese Äußerung nicht sinnlos, im Gegenteil: Indem Conny Müller Themen anspricht, „wo man Angst davor haben muss“, macht sie deutlich, dass sie über als allgemein relevant erachtete Bedrohungen informiert ist und im angezeigten Maß Sorge bekundet. „Muss“ als Zwangs-Agency hat damit den Charakter einer Gefühlsregel (Hochschild 1979), die ich hier als Gefühlsausdrucksregel verstehe. Entsprechend werden Bedrohungen eingeführt, die „man“ als respektables Gesellschaftsmitglied selbstverständlich fürchten „muss“ – unabhängig davon, ob man sich tatsächlich davor fürchtet. Interviewübergreifend umfasst das präsentierte moralische Selbst verschiedene Facetten; v. a. geht es darum, dass man sich normkonform verhält und über Erwerbs- oder auch Erziehungsarbeit zum Gemeinwesen beiträgt, statt es zu belasten. Solche Positionierungen erfolgen teils explizit, oft aber implizit oder über Abgrenzungen von als deviant und gefährlich konstruierten ‚Anderen‘, womit das Selbstlobtabu umgangen werden kann. Claudia Biehl bspw. spricht als zentrales Unsicherheitsthema „Jugendliche in größeren Gruppen“ an, die sie im öffentlichen Raum antreffen könnte, und führt dazu weiter aus: „Also die vergreifen sich auch an fremdem Eigentum, randalieren in Straßenbahnen, das finde ich ganz schön schlimm. Also da fühle ich mich überhaupt nicht sicher.“ Die Jugendlichen werden dabei als Grenzüberschreitende konstruiert, wohingegen sich Claudia Biehl über ihre Abgrenzung von den Jugendlichen implizit als diejenige positioniert, die sich an geltende Regeln hält. Aus dieser im möglichen Opfersein unterlegenen und moralisch überlegenen Position muss sie die Regelmissachtung anderer fürchten und kann sie zugleich kritisieren. Denn normkonformes Verhalten, so macht sie deutlich, ist Resultat einer individuellen Entscheidung zur Rechtschaffenheit, Regelmissachtung ist damit nicht zu entschulden: „Ich hab ja auch das gemacht, was die Gesellschaft von mir verlangt hat. Und habe dann irgendwo mein Leben auf die

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Reihe gekriegt.“ Damit meint sie, dass sie selbst unter widrigen Umständen wie finanziellen Engpässen ein Studium absolviert hat und berufstätig geworden ist, statt wie die kritisierten Jugendlichen auf die schiefe Bahn zu geraten. Von diesem Beispiel abstrahierend lässt sich sagen, dass die Bekundung von Kriminalitätsfurcht dazu dienen kann, sich von Unanständigem wie Normbrüchen und Unanständigen wie Normbrüchigen abzugrenzen und anzuzeigen, dass man sich als rechtschaffene*r Bürger*in an Regeln und Gesetze hält. Darüber hinaus können auch artikulierte Sorgen um das Gemeinwesen genutzt werden, um sich als anständiges Gesellschaftsmitglied zu präsentieren. Nicole Schütze etwa deklariert die von ihr wahrgenommene Nicht-Produktivität ‚Anderer‘ als Sicherheitsbedrohung für den (Wirtschafts-)Standort Deutschland. Konkret geht es ihr zum einen um Bekannte, die sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 angesichts finanziell schlechter Rahmenbedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld entschieden hätten: „Ich kenn auch viele in meinem Freundes-, Bekanntenkreis, die dann gesagt haben ‚tja; Wirtschaftskrise; kann ich nix machen, bleib ich zuhause.‘ Und das ist ne starke Bedrohung für Deutschland. Wenn alle so denken, wo kommen wir denn da hin?“ Zum anderen kritisiert sie unter Bezugnahme auf Thilo Sarrazins Thesen ‚Türk*innen‘ bzw. ‚Muslim*innen‘ für ihre angebliche Integrationsverweigerung und ­ Nicht-Produktivität. Dadurch belasteten und gefährdeten sie das Gemeinwesen. Dem stellt sie ihr eigenes Verhalten, auch in Zeiten der Krise einer Tätigkeit nachgegangen zu sein, gegenüber: „ich hab was gemacht“ (ausführlicher dazu Abschn. 4.1). Solche Positionierungen sagen weniger darüber aus, wie man ist und wovor man Angst hat, sondern geben zunächst vor allem darüber Auskunft, wie man in einem bestimmten Kontext identifiziert und wahrgenommen werden will. Mit Goffman (1967) gedacht geht es um die rhetorische Darstellung der Einhaltung von Identitätsnormen, hier in der Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit. Im Kontext der Interviews war es sicherlich von Bedeutung, sich gegenüber den als respektabel geltenden Forschenden bzw. Interviewenden als ebenso respektabel zu präsentieren. Die Interviewten hatten möglicherweise auch im Blick, dass die Studie vom BMBF als staatlicher Einrichtung gefördert wurde, und stellten sich entsprechend als zivilisierte Bürger*innen dar.

3.2 Argument: die Forderungen der „Anständigen“ Wer die Sprecher*innenposition als anständiges Gesellschaftsmitglied und respektable*r Bürger*in für sich reklamiert hat, kann die Sprache der ­ (Un-) Sicherheit und Angst noch für eine zweite mikropolitische Funktion verwenden:

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als Argument, das die eigenen politischen Forderungen untermauert und ihnen zu Gehör verhilft. Dabei kann die Anrufung von objektiver Sicherheit und subjektiven Sicherheitsgefühlen bzw. Angst im Bereich des Schlagworts verbleiben; sie scheint Argument genug zu sein und bedarf keiner weiteren Legitimation. In meinem Material bezieht sich der Großteil solcher Forderungen auf Maßnahmen, die als konservativ bezeichnet werden können. Die angstmachenden und bedrohlichen ‚Anderen‘ sollen im Namen subjektiver oder objektiver Sicherheit stärker zur Verantwortung gezogen, gestraft und ausgeschlossen werden. Claudia Biehl bspw. fordert zur Erhöhung ihrer subjektiven Sicherheit, „dass man da besser verurteilt, auch mehr die Jugendlichen“ und „denen vielleicht auch nicht immer alles aufs Butterbrot serviert“. Diese Forderung umfasst mehr Sicherheitskräfte, eine funktionierende Polizei, die nicht wegschaut, sowie eine Justiz, die „definitiv die Täter mehr verurteilen“ und die Eltern dieser Jugendlichen mehr zur Verantwortung ziehen sollte. Andere Interviewpartner*innen fordern zur Eindämmung von Devianz auch die Ausweitung von Überwachungsmaßnahmen. Nicole Schütze, die die von ihr weitgehend synonym konstruierten Kategorien der ‚Ausländer*innen‘, ‚Türk*innen‘ bzw. ‚Muslim*innen‘ als objektive Sicherheitsbedrohung für den ­(Wirtschafts-)Standort Deutschland labelt, fragt: „Warum muss ich die in meinem Land haben; was bringen die mir; helfen die mir? Fördern die meine Produktivität? Am Ende des Tages kosten sie mich noch Geld.“ Entsprechend plädiert sie dafür, die bedrohlichen, nicht-produktiven und nicht-deutschen ‚Anderen‘ aus dem deutschen Nationalkollektiv auszuschließen. Man müsse in der Zuwanderungspolitik nämlich „solche von solchen filtern, also ich muss DIE natürlich ins Land lassen, die mir Produktivität geben und die mir helfen“. In den Interviews lassen sich aber auch, wenngleich in geringerem Umfang, konträre politische Forderungen ausmachen, die den genannten konservativen Forderungen liberale Gegenpositionen gegenüberstellen. So wird z. B. die Videoüberwachung in öffentlichen Räumen und im öffentlichen Personennahverkehr kritisiert. Für eine solche Kritik stünden verschiedene Argumente bzw. Formulierungen zur Verfügung; bspw. ließe sich auf andere Werte wie Freiheit oder informationelle Selbstbestimmung rekurrieren. Bemerkenswert ist, dass sich einige Interviewte dennoch für die Sprache der Angst und ­ (Un-)Sicherheit entscheiden. So fordern sie einen Rückbau von Videoüberwachung, da diese objektivierend gefasst ein „riesiges Sicherheitsrisiko“ darstelle oder subjektivierend ausgedrückt „beängstigend“ sei. Anhand dieser unterschiedlichen epistemischen Modalisierungen nehmen die Sprechenden eine je spezifische Geltungskraft ihrer Äußerung in Anspruch: Durch Objektivierungen konstruieren sie das infrage Stehende als objektiven

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Fakt, der für andere kompetente Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen wahrnehmbar sein müsste, während sie im Falle von Subjektivierungen ausschließlich für sich selbst sprechen (Heritage 2012; Kruse 2015, S. 486). Der Vorteil einer subjektivierenden im Vergleich zur objektivierenden Nutzung der Sprache der Sicherheit zeigt sich im Interview mit Tim Baader. Er spricht mit rechter Gewalt, Polizeigewalt und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien bis hin zu deren ‚Machtergreifung‘ Themen an, die die sonst üblichen Forderungen nach mehr Polizei und Ausschluss von ‚Anderen‘ im Namen der Sicherheit kontrastieren. Rechte Gewalt zu thematisieren, ist ihm dabei ein wichtiges Anliegen: Als er am Ende des ersten Interviewteils die genannten Themen nach ihrer Bedeutung für die allgemeine Sicherheit anordnen soll, weist er diesem Thema die höchste Relevanz zu. Dabei überlegt er zunächst, dass rechte Gewalt statistisch betrachtet für „die Bevölkerung“ allerdings doch nicht so relevant ist wie etwa gesundheitliche Risiken, da von rechter Gewalt nur „marginale Gruppen“ betroffen sind wie linke Aktivist*innen (wie er), Jüd*innen und v. a. als nicht-deutsch gelabelte Gruppen. Mit dem Verweis darauf, dass es „um mein Empfinden“ geht, kann er dem Thema rechte Gewalt trotz statistischer Bedenken dann allerdings doch noch den ersten Rang zuweisen. Mit anderen Worten: Indem er statt des objektivierenden Rekurses auf Sicherheitsbedrohungen eine subjektivierende Fassung wählt, kann er seine Anordnung weniger angreifbar machen, da nur er selbst epistemischen Zugang zum reklamierten „Wissensterritorium“ hat und somit „epistemische Autorität“ beanspruchen kann (Heritage 2012; vgl. Abschn. 5.1 zum kulturellen Hintergrund dieser Auffassung). Dass er dabei in strategischer Weise handelt und die Sprache der Angst bzw. Unsicherheit im Interview nutzt, um rechte Gewalt zu problematisieren, bringt er am Ende seiner Ausführungen sogar in meta-kommunikativer Weise zum Ausdruck: „Vielleicht will ich ja auch damit ne Aussage machen ((lacht kurz auf)).“

4 Rechtspopulismus: ungerechtigkeitsergriffene Angstkommunikationsbewegungen? Die Erkenntnisse zu den verschiedenen Bedeutungen von Angstkommunikation sind auch für das Verständnis des gegenwärtigen Rechtspopulismus zentral. Pegida, AfD und andere Gruppierungen werden im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs gerne als „Angstbewegungen“ (z. B. Biess 2019) bezeichnet und in ihrem Aufkommen und Erstarken „angsttheoretisch“ (Hunt 1999) eingeordnet. Hunt meint damit solche Ansätze, die ein bestimmtes Phänomen mit Angst erklären, die wiederum aus gesellschaftlichen Trans-

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formationen resultiere. Auch der gegenwärtige Rechtspopulismus wird häufig als Resultat von Ängsten gesehen, die auf ‚Andere‘ projiziert würden. Als ursächlich werden vielfältige, meist diffuse Ängste oder spezifisch sozioökonomische und/oder soziokulturelle Verunsicherungen angesehen (z. B. Kohlrausch 2018; Kraemer 2018). Mit etwas anderem Fokus, aber ebenfalls angstzentriert wird argumentiert, dass rechtspopulistische Parteien im Rahmen einer „Politik mit der Angst“ (Wodak 2016) Ängste (re-)produzieren, um sie zu instrumentalisieren. In solchen Erklärungen geht man davon aus, dass Angst eine Rolle spielt, ohne sie theoretisch konzeptualisiert und methodisch-empirisch erfasst zu haben (kritisch dazu bereits Flam und Kleres 2004). Ferner werden die lebensweltlichen Akteur*innen teilweise als bloße „Reaktionsdeppen“ (Stehr 2002, § 2) konzipiert, die auf populistische Angstmacherei hereinfallen. Schaut man allerdings empirisch genauer hin und klärt dadurch den Angstbegriff, ergibt sich ein differenzierteres Verständnis und ein aktiveres Bild der Akteur*innen. Im Folgenden will ich auf zwei zentrale Aspekte hinweisen, die m. E. im gegenwärtigen Diskurs um Rechtspopulismus oft vernachlässigt werden, aber folgenreich sind für das Verständnis des und den Umgang mit Rechtspopulismus – ohne den Anspruch zu verfolgen, eine umfassende Erklärung vorzulegen.

4.1 Ungerechtigkeitsgefühle Es scheint inzwischen Konsens zu sein, dass die Attraktion des Rechtspopulismus nur adäquat verstanden werden kann, wenn Emotionen berücksichtigt werden (Salmela und von Scheve 2017). Dabei wird in einigen Studien zwar eine Reihe von Emotionen angeführt, am Ende aber auf Angst bzw. Verunsicherungen fokussiert (z. B. Hofmann 2016; Wodak 2016; Sthamer 2018). Meine Analysen legen dagegen nahe, dass Ungerechtigkeitsgefühle verschiedener Art eine wichtige und oft verkannte Rolle spielen. Dies veranschauliche ich am Beispiel der bereits zitierten Nicole Schütze, deren Äußerungen und positive Bezugnahmen auf Thilo Sarrazins Thesen zum Islam aus heutiger Sicht als rechtspopulistisch klassifiziert werden können. Nicole Schütze ist Ende 20, hat studiert und arbeitet als Angestellte in Vollzeit mit qualifizierter Tätigkeit. Sie verfügt als Alleinstehende über ein solides Einkommen. Ihre Abwertung von ‚Unproduktiven‘ steht im narrativen Kontext einer einschlägigen biografischen Frustrationserfahrung während der Wirtschafts- und Finanzkrise. Als gut ausgebildete Person, die im In- und Ausland studiert und Praktika gemacht hat, konnte sie keine ihrem Qualifikationsniveau entsprechende

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Arbeit finden, sondern arbeitete unterbezahlt und musste zu ihren Eltern zurückziehen: NSch: Das war ganz furchtbar, ich musste mit- ich weiß gar nicht wie alt ich war; vor- vor zwei drei Jahren war das, mit 26- 25- 26 bei meinen Eltern wieder einziehen, nachdem ich äh durch die Welt gereist bin, überall gearbeitet hab, musst ich bei meinen Eltern auf dem Boden einziehen. Das war natürlich furchtbar. Aber ich bin dann eben zur Zeitarbeit gegangen. Das war schlimm, ich hab für neunhundert Euro im Monat gearbeitet, was mich tierisch angekotzt hat, ich hab Stempel auf die Eingangspost gemacht mit nem Diplom, was einfach nur furchtbar war; aber ich hab was gemacht.

Während sie selbst unter widrigen Bedingungen Leistung erbrachte und ihren Teil zum Gemeinwohl beitrug, hätten sich andere aus ihren Verpflichtungen zurückgezogen und ungerechtfertigterweise von Arbeitslosengeld und anderen staatlichen Unterstützungen profitiert, die sie selbst als Steuerzahlerin mitfinanziert. Das stellt für sie wie erwähnt eine „starke Bedrohung für Deutschland“ dar. Doch nicht Angst dominiert dieses Narrativ: Während für ihre damalige berufsbiografische Situation Zukunftsängste möglicherweise relevant waren (vergangene Ängste wurden im Interview aber nicht erfragt), sind diese für die Gegenwart allenfalls von geringer Bedeutung. Nicole Schütze meint zwar: „Ich hab natürlich schon irgendwann Angst, dass ich irgendwo hin muss des JOBS wegen und nicht weil‘s mir da gefällt.“ Allerdings erscheint eine solche Angst als relativ gering ausgeprägt. Sie ist wenig akut („irgendwann“) und gilt eher als typische Angst ihrer Generation („natürlich“). Stattdessen geht es hier um Ungerechtigkeit, und die Empörung darüber sitzt so tief, dass das Thema auch circa zweieinhalb Jahre nach der Erfahrung noch virulent ist. Warum Ungerechtigkeit? Während sich Unsicherheit bzw. Angst zentral durch ihre Zukunftsbezogenheit auszeichnen (Zeitdimension), geht es bei Ungerechtigkeit um etwas anderes: um den Vergleich mit ‚Anderen‘ entlang bestimmter moralischer Standards, hier der Leistungs- und Produktivitätslogik (Sozialdimension), sowie um die Frage, wer vom Staat, von Unternehmen oder der Gesellschaft für welche Leistung welche Anerkennung erhält (Systemdimension). Die konkreten Erfahrungen sind in anderen Fällen ganz andere als bei Nicole Schütze. Immer aber geht es im narrativen Kontext der Abwertung ‚Anderer‘ um ein Ungerechtigkeitsgefühl, weil die eigenen Leistungen nicht honoriert würden und die eigenen Werte nichts (mehr) wert seien. Daraus entsteht ein Ressentiment, das sich nach ‚unten‘ richtet, gegen ‚Ausländer*innen‘, ‚Migrant*innen‘ oder ‚Arbeitslose‘, die angeblich nichts leisten, und nach ‚oben‘, gegen das Establishment, das nicht für Gerechtigkeit sorgt, sondern diese ‚Anderen‘

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sowie sich selbst „pampert“, wie eine andere Interviewpartnerin meint. Rechtspopulistische Bewegungen schüren und bedienen genau diese Empörung und Ressentiments. Dass Ungerechtigkeitsgefühle im Kontext der Abwertung ‚Anderer‘ sowie des Rechtspopulismus eine zentrale Rolle spielen, legen auch aktuelle quantitative und qualitative Studien nahe. Um drei Beispiele zu nennen: Erstens wird Julia Hofmanns (2016) statistischer Analyse österreichischer Daten zufolge das Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit v. a. beeinflusst durch das Bildungsniveau, die relative Deprivation (als Ungerechtigkeitsempfinden) sowie die Einschätzung, dass sich die allgemeine Situation am österreichischen Arbeitsmarkt sowie das Sozialsystem verschlechtern. Weniger relevant ist hingegen die persönliche sozioökonomische Verunsicherung. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn die Einschätzung der allgemeinen Situation hat mehr mit politischen Meinungen als mit persönlichen Ängsten zu tun (dazu bereits Furstenberg 1971, S. 607).2 Zweitens hat Arlie R. Hochschild (2016, Kap. 9) in ihrer Ethnografie zu Unterstützer*innen der US-amerikanischen Tea Party als deren Grundmotivik eine „deep story“ herausgearbeitet, die sich um die Benachteiligung der ‚Anständigen‘ und Bevorzugung der ‚Anderen‘ durch den Staat dreht. Die ‚Anständigen‘ fühlen sich daher betrogen, verraten und entwürdigt, kurz: ungerecht behandelt. Drittens zeigt Evelyn Sthamers (2018, S. 586) statistische Auswertung von in Deutschland erhobenen Daten, dass „die AfD-Wahlabsicht etwa dann begünstigt [wird], wenn die Menschen das Gefühl haben, im Vergleich zu anderen weniger als ihren gerechten Anteil zu erhalten“. Daraus folgt, dass für das Verständnis des Rechtspopulismus Angst nicht ausreicht, sondern andere Gefühle – allen voran Ungerechtigkeitsempfinden – stärker beachtet werden sollten. Rechtspopulistische Bewegungen als Angstbewegungen zu bezeichnen, greift daher zu kurz. Dies gilt umso mehr, als Angstäußerungen nicht pauschal auf die Emotion Angst zurückgeführt werden können, sondern in rhetorischer Absicht gebraucht werden. Es wäre daher zu überlegen, von Angstkommunikationsbewegungen zu sprechen, die in der Sprache der Angst ihre Empörung über empfundene Ungerechtigkeiten zum Ausdruck bringen (vgl. auch Bröckling 2016; Keller und Berger 2017).

2Als

eine solche politische Meinungsäußerung lässt sich auch Nicole Schützes Stellungnahme, dass die angebliche ­Nicht-Produktivität von ‚Anderen‘ eine Sicherheitsbedrohung für Deutschland darstellt, interpretieren.

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4.2 Angstkommunikation als Mittel im Konflikt Der allgemein zu beobachtenden Positionierungs- und v. a. Argumentfunktion kommen im Kontext des Rechtspopulismus zwei spezifische Bedeutungen zu. Erstens macht Angst Rassismus sagbar. ‚Andere‘ abzuwerten, widerspricht eigentlich der Gleichheitsidee der Moderne und braucht daher einen Grund (vgl. Beck 2008). Dies wird bspw. deutlich, als Nicole Schütze auf die Frage nach weiteren Unsicherheitsthemen ‚Türken‘ bzw. ‚Muslim*innen‘ nennt: NSch: ((erheitert) Darf man das ansprechen?) die Türken? I: Man darf alles ansprechen. NSch: Also das- ((neckisch) das ist gemein eigentlich; wenn man das sagt, oder?) I: Na ich weiß nicht wie du’s meinst. NSch: Hm (1) also manchmal fühl ich mich schon bedroht von andern Religionen (2) aber das ist schon ein heikles Thema. Darf man das- darf man das überhaupt sagen? I: Na wenn das so ist, dass du das denkst, ist das ja schon dein subjektives Empfinden, ja.

In dieser Passage wird ausgehandelt, inwiefern rassistische Äußerungen sagbar sind. Nicole Schütze verweist hier auf ihr subjektives Empfinden, was der Interviewer als Faktum anerkennt („Na wenn das so ist…“). Das Bedrohungsgefühl wird somit als nicht hinterfragbar konzipiert. Der Rekurs auf Angst bzw. (­Un-) Sicherheit bietet den Interviewpartner*innen demnach einen sozial plausiblen Grund, gegen das Gebot der Vorurteilsfreiheit zu verstoßen. Zweitens wird die Angst-Karte, wie erwähnt, als Argument für die eigenen politischen Forderungen verwendet. Doch in welchem konkreten Spiel wird sie gespielt? Zur Beantwortung möchte ich in aller Kürze eine andere Deutung von Rassismus und Rechtspopulismus vorschlagen, als sie in „Angsttheorien“ impliziert ist: Wandel und Krisen führen nicht an und für sich zu Abwertungen. Jedoch können sie das gesellschaftliche Positionengefüge so verändern, dass im Zuge des Wandels bspw. Akteur*innen in bestimmten Positionen im Vergleich zu anderen einen Privilegienverlust oder eine Entselbstverständlichung ihrer Privilegien erfahren. Ins Zentrum rückt damit eine konflikttheoretische Betrachtung von Rassismus (Weiß 2001) und Rechtspopulismus (Kraemer 2018). Auf dem Spiel stehen Kapitalien, Positionen und Weltsichten, die aus Sicht der sich rassistisch bzw. rechtspopulistisch Äußernden (weiter) verloren zu gehen oder abgewertet zu werden drohen bzw. die konserviert werden sollen. Ein Mittel in diesem Macht-Spiel ist die Angst-Karte, die sich als Trumpf-Karte erweist.

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5 Theorie: Bedeutungswandel von Angstkommunikation – Kommunikationskultur der Angst? Doch wie konnte Angst – die mitunter als so individuelle wie irrationale Befindlichkeit gilt – zur Trumpf-Karte werden und eine so wertvolle rhetorische Ressource darstellen? Wie ich in diesem Abschnitt theoretisch orientiert begründe, hat Angstkommunikation in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren.

5.1 Wertidee Sicherheit + Emotionalisierung =  Kommunikationskultur der Angst Bereits in den 1970er Jahren hat Franz-Xaver Kaufmann (1970) in seiner soziohistorischen Analyse zur Sicherheitssemantik Sicherheit als gesellschaftliche bzw. politische „Wertidee“ bezeichnet und festgestellt, dass sie andere Wertideen wie Gerechtigkeit oder Solidarität übertrumpft. Daraus resultiert ihm zufolge auch eine „emotionale Appellqualität“ des Wortes Sicherheit (ebd., S. 36). Er vermutete damals, dass dieser Aufstieg von Sicherheit als normativer Idee noch nicht abgeschlossen ist, was aktuelle Studien bestätigen: Sicherheit wurde gar zum „Goldstandard des Politischen“ (Daase 2011, S. 139). Das macht Sicherheit zu einem wirkmächtigen Topos und einem Argument, was insbesondere von Versicherheitlichungstheorien unterschiedlicher ‚Schulen‘ analysiert wird (C.A.S.E. Collective 2006). Sicherheitsprobleme sind deren konstruktivistischer Perspektive zufolge nicht als Faktum gegeben und daher niemals alternativlos, sondern stellen nur scheinbar neutrale Ergebnisse von (sprachlichen) Akten der Versicherheitlichung dar, die besondere politische Aufmerksamkeit erlangen und mit einem Alarmmodus belegt die politisch-demokratische Diskussion umgehen. Um politisch erfolgreich zu sein, bietet es sich demnach an, das eigene Anliegen als Sicherheitsproblem zu rahmen. Ein Beispiel dafür ist die politische Verarbeitung von 9/11 in den USA und der islamistischen Anschläge in Frankreich im Jahr 2015. Für diese Ereignisse gab es potenziell verschiedene Rahmungen, die unterschiedliche Umgangsweisen nahelegen. Indem sie als terroristische Bedrohung der nationalen und globalen Sicherheit konstruiert wurden, konnten außergewöhnliche Maßnahmen legitimiert werden: der US-amerikanische War on Terror und die französische Verhängung des Ausnahmezustands, wodurch rechtsstaatliche Prinzipien teils außer Kraft gesetzt wurden (Dück und Lucke 2019).

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Die rhetorische Wirkmächtigkeit von Sicherheit wird weiter gesteigert, wenn die Sprecher*innen darauf bezogene Gefühle für sich reklamieren, d. h. wenn von Unsicherheitsgefühlen bzw. Angst die Rede ist, wie das Beispiel Tim Baader gezeigt hat. Das hat folgenden Hintergrund: Seit dem Ende der 1960er Jahre unterliefen westliche Gesellschaften einen Prozess, der mit dem Stichwort der Emotionalisierung bezeichnet wird (Beyer 2018; unter Rekurs auf den Affektbegriff Reckwitz 2017) und die Aufwertung von Subjektivität und Emotionalität meint. Diese hat ihren Ursprung in der Therapeutisierung bzw. Psychologisierung des Denkens und der Sprache, die insbesondere durch die 1968er-Bewegung und die Studentenbewegung der 1970er Jahre popularisiert wurde (Illouz 2011; Biess 2019, Kap. 7). Bei diesem Wandel geht es weniger darum, ob praktisch mehr, intensiver oder anders gefühlt wird als zuvor, sondern vielmehr darum, dass Emotionen im Diskurs eine andere ‚Wahrheit‘ beanspruchen können und anders über Emotionen kommuniziert wird (vgl. Scheer 2016, S. 26). Kurz gefasst besteht der Wandel darin, dass nicht mehr Selbstbeherrschung und „Kontrolle von Emotionen, sondern die Orientierung des eigenen Verhaltens an den emotionalen Befindlichkeiten […] zur gesellschaftlichen Norm“ wird (Gerhards 1988, S. 237). Im Ergebnis gelten Emotionen nun als „authentische Signifikanten einer Person“ (Frevert 2009, S. 186), da sie – so die kulturelle Annahme – einen unverstellten Blick in deren ‚Inneres‘ gewähren.3 Im Schnittfeld dieses Aufstiegs von Sicherheit auf der einen Seite und Emotionen auf der anderen Seite wurde Angst von einem in den 1950er Jahren noch verschwiegenen, pathologisierten Gefühl ab den 1960er Jahren zu einem sagbaren, gar angemessenen Gefühl (Biess 2008, 2019). In den 1980er Jahren, als Becks (1986) Risikogesellschaft erschien, galt Angst gar als „höhere Form von Rationalität“ (Biess 2008, S. 70) und wurde damit „zum Ausgangspunkt politischen Handelns“ (ebd. S. 54), z. B. für die aufkommende Ökobewegung. Auch Luhmann (1988, S. 240) nahm Notiz von dieser gestiegenen Bedeutung von Angstkommunikation und attestierte ihr eine selbstimmunisierende Wirkung, „da man sich selbst bescheinigen kann, Angst zu haben, ohne daß andere dies

3Anzumerken

ist, dass im Privatleben nicht alle Milieus diese Wertschätzung von Emotionskommunikation teilen. Das traditionale Milieu bspw. widersetzt sich bislang dem von Illouz (2011) behaupteten „globalen therapeutischen“ Habitus (Eckert et al. 2019). Gleichwohl verfügen auch traditional Orientierte über ein Gespür für das Spiel, das im öffentlich-politischen Feld gespielt wird, und bedienen sich dort der Angstrhetorik.

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­ iderlegen können“, und Angst sich daher „jeder Kritik der reinen Vernunft“ entw zieht. Dies scheint auch heute noch bzw. wieder zu gelten. Wie diese sowie meine empirischen Analysen nahelegen, stellt die Angstrhetorik also keine ureigene rechtspopulistische Strategie dar. Vielmehr lässt sich im zeitgeschichtlichen Rückblick feststellen, dass grosso modo der „politische Einsatz von Angstbekenntnissen doch eher ein Mittel der Linken“ war (Biess 2019, S. 441), was sich erst mit dem Aufkommen des gegenwärtigen Rechtspopulismus geändert hat. Insofern bedienen sich heutzutage alle der Politik und Rhetorik der Angst. Deren strategische Nutzung wird aber immer nur anderen – etwa Rechtspopulist*innen – zugeschrieben bzw. vorgeworfen: „The politics of fear is always a practice conducted by ‚them‘.“ (Furedi 2018, S. 161)

5.2 Kommunikationskultur der Angst Die Genese der heutigen Bedeutung von Angstkommunikation verstehe ich folglich als Ausdruck des Aufstiegs von Sicherheit zur Wertidee und des Trends der Emotionalisierung. Ihre Persistenz speist sich aus einem kommunikativen Verstärkerkreislauf. Dieser ergibt sich daraus, dass die verschiedenen Akteur*innen – Politik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und schließlich auch die Bürger*innen – sich den Angstdiskurs produktiv zu eigen und zunutze machen und ihn dadurch verstärken (vgl. Lee 2001). Dies ist nicht gleichbedeutend damit, dass wir es mit mehr Angstgefühlen zu tun hätten; wie erwähnt, können hinter Angstäußerungen bspw. Ungerechtigkeitsgefühle stehen. Auch andere empirische Studien weisen darauf hin, dass Angst als Gefühl lebensweltlich eine geringere Rolle spielt als in Zeitdiagnosen einer Gesellschaft der Angst propagiert (z. B. Dehne 2017; Lübke und Delhey 2019). Als Gegenthese will ich daher im Anschluss an Furedis (2018) Diagnose der „Kultur der Angst“ die These einer Kommunikationskultur der Angst aufstellen. Furedi geht es meiner Lesart nach nicht um persönliche Angsterfahrungen oder die Aussage, dass Menschen in westlichen Gesellschaften heutzutage mehr Angst hätten als in früheren Zeiten (was ohnehin nicht zu bestimmen ist). Stattdessen geht es ihm um den beobachtbaren Sachverhalt, dass Gesellschaftsmitglieder heute mehr emotionale und rhetorische Ressourcen darauf verwenden, über Angst zu sprechen (ebd., S. 9). Dies deutet er als Aufstieg von Angst als gesellschaftliches Narrativ, kulturelles Skript und sprachliche Strategie, die für verschiedenste Zwecke eingesetzt wird. In einer solchen Kommunikationskultur der Angst verständigt sich die Gesellschaft in der Sprache der Angst über Themen und v. a. Probleme verschiedenster Art – ohne notwendigerweise Angst zu haben.

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6 Ausblick Diese Differenzierung zwischen Angst als Emotion und als Rhetorik ist auch für den Umgang mit dem gegenwärtigen Rechtspopulismus zentral, da sie eine Herausforderung adressiert, die die Ethnologin Alexandra Schwell (2015, S. 108) wie folgt auf den Punkt bringt: „How can anthropologists take fears seriously while at the same time avoiding the pitfalls of excusing or justifying racist prejudices?“. Nehmen wir wie im Zitat impliziert Angst als emotionalen Fakt, dann duldet das in unserer gegenwärtigen Sicherheits- und Emotionskultur keinen Widerspruch, erfordert Mitgefühl mit den Verunsicherten, ihre Inschutznahme und die Beseitigung des Angstobjekts. Bleibt man diesem Common Sense der Unbestreitbarkeit von Sicherheit und Emotionskommunikation verhaftet, so kann wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch nur diskutiert werden, welche Ängste als legitim, rational oder zumindest halbwegs vernünftig gelten können und wessen Ängste gehört und ernst genommen werden sollten (z. B. Biskamp 2017). Indem solche Urteile gefällt werden, werden jedoch bestimmte Weltsichten legitimiert und andere delegitimiert. Die Urteilenden werden auf diese Weise mitunter wider Willen zu (Re-)„ProduzentInnen von Gefühlsregeln“ (Flam und Kleres 2008), denen zufolge man Ängste – hier: vor den ‚Anderen‘ – ernst nehmen und verstehen müsse. Die Ängste der ‚Anderen‘ rücken dabei typischerweise aus dem Blick (vgl. auch Biskamp 2017). In dem von Schwell geschilderten Dilemma wird also deutlich, dass mit dem Common Sense des gesellschaftlichen Sicherheits- und Emotionsdiskurses gerade nicht gebrochen wurde. Damit tappt man in die angstrhetorische Selbstimmunisierungsfalle. Bricht man damit und schaut genau hin, ermöglicht das andere Anschlussoperationen. Es gilt dann, Angstbenennungen nicht in ihrem Face Value, sondern Thematisierungen ernst zu nehmen und darauf hin zu befragen, welche Emotionalität sich darin dokumentiert und wofür die Sprache der Angst und Unsicherheit verwendet wird. Stellt man fest, dass es sich um Ungerechtigkeitsgefühle und Angstrhetoriken handelt, eröffnen sich andere Optionen. Wenn sich jemand ungerecht behandelt fühlt, wird i. d. R. versucht, die Gesamtsituation aufzuklären: welche Parteien involviert sind und wer was zum Konflikt beigetragen hat. Darüber wird eine Verhandlung von Gerechtigkeitsvorstellungen möglich – und eine politische Diskussion.

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‚Gefühle des Abgehängtseins‘ – ein Angstdiskurs Larissa Deppisch

1 Einleitung Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte die Alternative für Deutschland (AfD) ein Ergebnis von 12,6 % und zog damit in den Bundestag ein. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 konnte sie damit 7,9 Prozentpunkte hinzugewinnen (Der Bundeswahlleiter 2017). Es stellt sich die Frage, wie solch ein starker Anstieg zustande kommen konnte. Was hat so viele Menschen im Jahr 2017 motiviert, eine rechtspopulistisch-marktliberale Partei zu wählen? Verschiedene Erklärungen stellen den Erfolg der AfD in Zusammenhang mit dem Phänomen des ‚Abgehängtseins‘ – welches insbesondere in ländlichen Regionen vorzufinden sei (Schäfer 2017; Lembke und Pezzei 2017). So etwa ein Ortsvorsteher aus Brandenburg: „‚Ich hatte schon damit gerechnet, dass viele diese Partei wählen, aber so viele? Das war ganz klar eine Frustwahl. […] Das hat viel mit dem ländlichen Umfeld zu tun‘, glaubt der 59-Jährige, […] Viele fühlten sich abgehängt“ (Neiser 2017).

Der vorliegende Artikel wurde auf Basis des Thünen Working Paper 119 (Deppisch 2019a) erarbeitet. Für diesen Artikel wurden aus der großen Anzahl an Quellen die einschlägigsten Quellen, das heißt jene, welche die getroffene Aussage am besten illustrieren, ausgewählt. Weitere Quellen können im Working Paper nachgelesen werden.

L. Deppisch (*)  Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_10

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(Bestimmte) ländliche Regionen bzw. die dort lebenden Menschen sind oder fühlen sich ‚abgehängt‘ (Baatz 2017; Budde 2017a; Ehrenstein 2017a; Kassel 2017). Und „[w]o sich Menschen auf dem Land abgehängt fühlen, hat der Populismus freie Bahn“ (Ehrenstein 2016). Vor diesem Hintergrund werde ich mich in diesem Artikel jenem Phänomen des ‚Abgehängtseins‘ annehmen und herausarbeiten, wie es diskursiv besetzt und in welche Zusammenhänge es gebettet wird. Um zu verstehen, ob und inwiefern sich Menschen in ländlichen Regionen ‚abgehängt‘ fühlen und in Folge dessen rechtspopulistische Parteien wählen, ist es zunächst notwendig zu definieren, was unter ‚abgehängt‘ selbst verstanden wird. Nun ist das ‚Abgehängtsein‘ keine wissenschaftliche Kategorie, welche dementsprechend auf keine klare, im wissenschaftlichen Diskurs ausgehandelte Definition verweist. Im Gegenteil, Wissenschaftler*innen grenzen sich im Rahmen ihrer Profession sogar von dem Begriff ab, wie etwa der Soziologe Holger Lengfeld in der Süddeutschen Zeitung (Schneeberger 2017). Und auch Antonia Milbert vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung steht dem Begriff kritisch gegenüber: „Abgehängt finde ich schon mal einen unglücklichen Begriff.“ (Demmer 2017) Es wird darüber hinaus deutlich, dass das Verständnis des ‚Abgehängtseins‘ unterschiedlich sein kann. Während Lengfeld von einer rigiden Entkopplung von wirtschaftlicher Entwicklung durch Fremdeinwirkung spricht (Schneeberger 2017), relativiert Milbert den Begriff, indem sie das ‚Abgehängtsein‘ lediglich als unterdurchschnittliche Entwicklung – unklar ob wirtschaftlicher oder anderer Art – beschreibt (Demmer 2017). Aufgrund dieser basalen, hier beispielhaft angeführten Differenzen im Verständnis des ‚Abgehängtseins‘ ist es sinnvoll, die sich ankündigenden verschiedenen Bedeutungsebenen und Zusammenhänge auf eine systematische Art und Weise aus dem populär-medialen Diskurs heraus zu erschließen. Der Begriff wird dort intensiv und divers im Zusammenhang mit dem aufkommenden Rechtspopulismus und ländlichen Räumen genutzt, was eine inhaltlich breit aufgestellte Datengrundlage verspricht. Das zentrale Ergebnis stellen drei Narrative des ‚Abgehängtseins‘ dar, welche jeweils mit spezifischen Ängsten einhergehen: das infrastrukturelle ‚Abgehängtsein‘ mit der Angst vor Versorgungsstrukturschwäche, das wirtschaftliche ‚Abgehängtsein‘ mit der Angst vor dem Abstieg und das kulturelle ‚Abgehängtsein‘ mit der Angst vor dem Fremden. Alle drei Narrative schildern den Eindruck, dass die Politik jene Ängste nicht angemessen beachtet oder bearbeitet. Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien sei die Folge. Diese werde schließlich durch den Zuspruch zum Rechtspopulismus zum Ausdruck gebracht.

‚Gefühle des Abgehängtseins‘ – ein Angstdiskurs

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2 Methodisches Vorgehen 2.1 Orientierung an der Grounded Theory und Foucaults Diskursverständnis Aufgrund der geschilderten Ausgangssituation und Zielsetzung bietet sich das Vorgehen der Grounded Theory1 an. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Theorie aus den Daten heraus generiert, anstatt vorausgestellte Annahmen empirisch zu überprüfen (Glaser und Strauss 1967, S. viii). Theorie ist dementsprechend keine zu Beginn des Forschungsprozesses bereits abgeschlossene Angelegenheit, sondern wird als Prozess verstanden (ebd., S. 9). Ein Vorgehen nach der Grounded Theory ermöglicht so, einen explorativen Zugang zum zunächst ausschließlich diskursiven Phänomen des ‚Abgehängtseins‘. Anstelle eines gleich zu Beginn des Forschungsprozesses verengten und, aufgrund mangelnder wissenschaftlicher definitorischer Vorarbeiten, subjektiven Verständnisses des ‚Abgehängtseins‘ wird so eine methodische Offenheit für dessen inhaltliche Diversität ermöglicht. Das Vorgehen der Grounded Theory verspricht somit, ein Ausblenden bestimmter potenziell relevanter Sinnzusammenhänge durch subjektive Setzungen zu Beginn des Forschungsprozesses zu vermeiden. Des Weiteren ist die Grounded Theory in dieser Ausgangslage von Vorteil, da sie erlaubt, direkt auf Basis empirischer Daten den theoretischen Grundstein einer Untersuchung aufzubauen, was sich aufgrund der aktuellen Vielfältigkeit und Ausführlichkeit der Deutungen des ‚Abgehängtseins‘ im populär-medialen im Gegensatz zum wissenschaftlichen Diskurs anbietet. Schließlich ist auch von methodologischer Relevanz, welcher Status den Aussagen zukommt, die mithilfe der Grounded Theory aus dem populär-medialen Diskurs herausgearbeitet werden. Hierfür ist es zunächst notwendig zu definieren, was unter einem Diskurs – dem Untersuchungsgegenstand dieser Analyse – verstanden wird. Michel Foucault versteht unter einem Diskurs „eine historisch spezifische Gesamtheit aller effektiven Aussagen. Damit ist ein Konglomerat von Aussagen gemeint, welches in einem bestimmten Zeitraum als wahr anerkannt

1Insbesondere

folgende Stellen zu konkreten Analysewerkzeugen und zur Forschungsprozesskonzeption der Grounded Theory gaben mir Orientierung: Für die Beschreibungen des Analyseprozesses nach der Grounded Theory siehe Glaser und Strauss (1967, S. 43 ff.); zur Codierung ebd., S. 30, 106, 108, 110 f. sowie Miles et al. (2014, S. 71 f.) und zu Theoriegrundlagen schaffenden Niederschriften (‚Memos‘) siehe Glaser und Strauss (1967, S. 107, 113).

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wird“ (Deppisch 2019b, S. 220; siehe auch Foucault 2013, S. 500 f.). Die Aussageanalyse bezieht sich stets auf das, was an die Oberfläche des Diskurses vorgedrungen – also tatsächlich ausgesprochen oder niedergeschrieben – ist (Foucault 2013, S. 590 f.). Die Aussagen eines Diskurses stehen stets in einem bestimmten inhaltlichen Bezugsrahmen. Sowohl der Informationsgehalt als auch die Verwendungsmöglichkeiten eines Begriffes können sich dementsprechend ändern (ebd., S. 585 f.). Für meine Analyse bedeutet das, dass nicht jeder Artikel, welcher das Wort ‚Abgehängtsein‘ oder ‚abgehängt‘ enthält, auch zum Diskurs des ‚Abgehängtseins‘ gehört. Neben dem Begriff des ‚Abgehängtseins‘ ist auch der Bezug zu Rechtspopulismus oder/und ländlichen Räumen essenziell. Wenn nun beispielsweise in einem Artikel einer Wirtschaftszeitung von einem Unternehmen die Rede ist, welches ein anderes ‚abgehängt‘ habe, dies aber weder in Bezug zu ländlichen Räumen noch zur AfD-Wahl gestellt wird, ist diese Aussage kein Teil des hier interessierenden Diskurses und der Artikel wird dementsprechend nicht in den Materialkorpus aufgenommen.

2.2 Suchstrategie und Materialkorpus Um möglichst viele, inhaltlich auf die Forschungsfrage bezogene ­populär-mediale Beiträge zu finden, habe ich mich für zwei Wege der Datenerhebung entschlossen. Zum einen habe ich über die Suchmaschine Google Beiträge (primär Zeitungs-, Zeitschriften- und Magazinartikel) per Stichwortpaare gesucht. Diese lauteten „AfD abgehängt“ (Suchdatum: 03.04.2018) und „abgehängt ländlich“ (Suchdatum: 18.04.2018). Ich habe mich für diese Stichworte entschieden, da sie das Kernthema des ‚Abgehängtseins‘ im für diese Untersuchung interessierenden Kontext des AfD-Wahlerfolgs 2017 und ländlicher Räume aufgreifen. Es wurden jeweils die ersten 100 Google-Ergebnis-Einträge sowie Verweise auf andere Artikel derselben Zeitung, falls thematisch passend, gesichtet. Dokumentiert wurden sowohl Zeitungsartikel im Onlineformat als auch Fernseh- und Rundfunkbeiträge. Diese sind zwischen dem 01.08.2014 und 13.04.2018 erschienen, häufen sich jedoch im Jahr 2017. Zum anderen habe ich Printmedien gesichtet. Da hier kein direkter Fokus auf Artikel eines bestimmten Themas über eine automatische Suche möglich ist, war es – auch aus forschungspraktischen Gründen – notwendig, den Zeitraum sowie die Auswahl der Zeitungen vor der Sichtung einzugrenzen. Ich wählte den Zeitraum um die Bundestagswahl 2017 (vom 01.07.2017 bis zum 31.12.2017), da hier die Debatte um ‚Gefühle des Abgehängtseins‘ und Rechtspopulismus (in

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ländlichen Räumen) besonders intensiv geführt wurde und berücksichtigte überregionale Tages-, Sonntags- und Wochenzeitungen. Ausgewählt wurden die im 3. und 4. Quartal 2017 jeweils fünf auflagestärksten überregionalen Tages- sowie Sonntags- und Wochenzeitungen (DWDL 2017a, b, 2018a, b). Über die Frankfurter Deutsche Nationalbibliothek wurden 1045 Zeitungsausgaben gesichtet. Deutlich wird, dass nicht alle Zeitungen gleich intensiv das ‚Abgehängtsein‘ thematisieren. So stechen vor allem die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung bei den Tageszeitungen und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bei den Wochenzeitungen heraus, während die Junge Freiheit und die Bild keine Artikel zum Diskurs des ‚Abgehängtseins‘ in dem von mir untersuchten Zeitraum beitragen. Unter den Onlinequellen ist es der Deutschlandfunk, welcher am meisten über ‚abgehängte‘ Regionen berichtet. Der Diskurs des ‚Abgehängtseins‘ ist also ein Diskurs, der primär von bildungsbürgerlichen Medien geführt wird – sei es mit konservativem Vorzeichen durch die Frankfurter Allgemeine (Sonntags-)Zeitung oder durch die sozial-liberale Berichterstattung der Süddeutschen. Rechtskonservative Medien wie die Junge Freiheit oder inhaltlich plakativ-simpel gehaltene Medien wie die Bild haben weniger am Diskurs teil. Neben Medien wie Die Welt, die ebenfalls aus bürgerlich-konservativem Blickwinkel berichtet, waren etwa durch Die Zeit auch (links-)liberale Perspektiven oder, beispielsweise über das Handelsblatt, wirtschaftsfokussierte Inhalte vertreten. Der beschriebenen Suchstrategie folgend ergab sich ein Materialkorpus aus 92 Onlineartikeln und 155 Printartikeln deutschsprachiger Medien. Der Einbezug von Onlinemedien erwies sich insofern als fruchtbar, als dass so das bereits breite inhaltliche Spektrum erweitert werden konnte – von bekannten Magazinformaten wie dem Spiegel oder dem Focus über öffentlich-rechtliche Einrichtungen wie der ARD bis hin zu kleinen Lokalblättern wie dem Delmenhorster Kurier. Diese mediale Breite diente methodisch dazu, eine möglichst ebensolche inhaltliche Breite zu erschließen.

3 Ergebnisse 3.1 Narrativ 1: infrastrukturelles ‚Abgehängtsein‘ & die Angst vor Versorgungsstrukturschwächen Aus dem Materialkorpus können drei Formen des ‚Abgehängtseins‘ herausgearbeitet werden, welche jeweils in spezifische Narrative des Diskurses um das ‚Abgehängtsein‘ gebettet sind. Diese liefern unterschiedliche Erklärungsansätze

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Abb. 1   Im Diskurs benannte infrastrukturelle Zusammenhänge des ‚Abgehängtseins‘ ländlicher Regionen. © Larissa Deppisch

für den Wahlerfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017. Das erste Narrativ ist das des infrastrukturellen ‚Abgehängtseins‘ (Abb. 1). Am Anfang dieses Narrativs steht eine – auch als neoliberal (Julke 2017; Lasch 2017) bezeichnete – Infrastrukturpolitik, welche dafür verantwortlich gemacht wird, dass der Aufbau oder Erhalt von Infrastrukturen durch Unternehmen nur dann vorgenommen wird, wenn dieser profitabel genug ist. So beispielsweise im Falle der Lebensmittel- und der Gesundheitsversorgung (Baatz 2017; Budde 2017b; Mendelin 2017; Richter 2017a). Aber auch im Bereich der Mobilität und des Internetzugangs findet sich diese Problematik wieder (Schmoll 2014; Rosenfelder 2017). „Hätten sich die Bürger Eislebens nicht engagiert, wäre die Kreisregion Mansfelder Land im wahrsten Sinne abgekoppelt worden: Es hätte dort keinen klassischen Bahnhof mehr gegeben. Zu unlukrativ für die Deutsche Bahn, zu mies die Finanzlage der Stadt. Kein Einzelfall in Sachsen-Anhalt.“ (Richter 2017b)

Staatliche Institutionen wie Polizei und Bürgerämter sind in ländlichen Regionen ebenfalls spärlich verteilt – nicht zuletzt aufgrund der Gemeindegebietsreform

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(Arab 2017; Gräfenhan 2017; Hasselmann 2017; Herres 2017). Entsprechend „[leidet] die Sichtbarkeit des Rechtsstaats“ (Odendahl und Freier 2017), und direkte Kommunikationsmöglichkeiten der ländlichen Bevölkerung mit dem Staat über die akut empfundene Not werden beeinträchtigt (Ehrenstein 2017b; Hasselmann 2017; Herres 2017). Kurzum: „Jugend weg, Sparkasse dicht, Bus gestrichen – in vielen ländlichen Regionen fühlen sich die Menschen ‚abgehängt‘“ (Kassel 2017). Und das obwohl „das Grundgesetz die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland vor[schreibt]“ (Rinke 2017; siehe auch enn 2017; Herres 2017; Nies 2017; Neuerer 2018). Neben den verschiedenen Versorgungsstrukturschwächen belasten zudem Abwanderungsbewegungen (bestimmte) ländliche Regionen (Ehrenstein 2016; Kassel 2017; Lasch 2017; Florin 2018). Vor allem junge Menschen ziehe es in die Städte (Ehrenstein 2017a; Herres 2017; Kassel 2017), vorrangig zu Bildungszwecken (Herres 2017; Mendelin 2017). Mit starkem Einwohner*innenverlust entsteht der Eindruck von Überalterung und Leblosigkeit des ländlichen Ortes (Julke 2017; Neiser 2017; Rausch 2017; Rafael 2018). Dementsprechend sind der zwischenmenschliche Austausch und die soziale Teilhabe im Dorfalltag eingeschränkt. Die Prozesse des Infrastrukturverfalls und der Abwanderung stehen dabei in einem sich wechselseitig bedingenden Verhältnis. Mit schwindender Bevölkerung verfällt die meist bereits gefährdete Infrastruktur (Demmer 2017). „Eine andere Bahnlinie sollte schon eingestellt werden […]. Denn wenn der Region die Menschen abhandenkommen, fehlt es irgendwann an Fahrgästen.“ (Heidelk 2017) Gleichzeitig zielen Wanderungsbewegungen auf Orte mit attraktiven Infrastrukturangeboten, die demnach durch die steigende Nachfrage umso mehr gestärkt werden (Budde 2017a; Gassmann und Andre 2017). Auch das lokale Arbeitsplatzangebot beeinflusst Abwanderungsbewegungen (Gräfenhan 2017; Hasselmann 2017; Lasch 2017; Matzig 2017). „[D]ie Landflucht hat dort ja schon vor einer ganzen Weile eingesetzt, nicht? Nach unmittelbarem Grunde nach der Wiedervereinigung als es diese nahezu flächendeckende Deindustrialisierung gab und Arbeitsplätze im Zehntausender- und Hunderttausenderbereich verloren gingen.“ (Herres 2017)

Die Wirtschaftskraft eines Ortes ist dementsprechend für dessen gesamte Performance entscheidend. Ein Angebot an Arbeitsplätzen schafft Perspektiven, zieht Arbeitskräfte an, Menschen ziehen zu und schaffen gleichzeitig eine stabile Basis der Nachfrage für lokale Infrastrukturen, die deren Erhalt stützt.

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­ ementsprechend wird ein Mangel an Wirtschaftskraft auch als entscheidender D Faktor für die ländliche Entwicklung beschrieben: „Ohne neue Arbeitsplätze geht es weiter bergab auf dem Land“ (Claus und Feller 2017). Gleichzeitig wirken sich schwache, allerdings für das Geschäft relevante Infrastrukturen auf bestehende, in ländlichen Räumen ansässige Unternehmen nachteilig aus (Schmoll 2014; Budde 2017c; Müller 2017; Neuerer 2017a). Das hier diskursiv gezeichnete Bild verweist über eine lediglich schlicht negative Zukunftsaussicht hinaus. Durch und durch morbide wird mit den demografischen Prozessen – neben Abwanderung auch ein negativer natürlicher Saldo2 – ein langsamer, schmerzhafter Tod assoziiert: So ist vom „Dorfsterben“ (Matzig 2017; siehe auch Loos und Schmitt 2017), vom „Ausbluten“ (Herres 2017) oder auch vom „Niedergang“ (Richter 2017a) der Kleinstädte und Dörfer die Rede. Dieser zeigt sich zudem als einbahnstraßenartiger Negativprozess, der auch als „schwer aufzuhaltender Kreislauf“ (Richter 2017c) oder „Abwärtsspirale“ (Richter 2017a; siehe auch Herres 2017) beschrieben wird. Vereinzelt wird bereits eine „Abwrackprämie für aussterbende Dörfer“ (Ehrenstein 2017b) gefordert, die strukturschwachen Dörfern einen Anreiz zur staatlich unterstützten Umsiedelung geben soll. Diese primär negative Ausdeutung der strukturellen Entwicklungen unterstreicht geschilderte Ängste in der Bevölkerung hinsichtlich der aktuellen oder zukünftigen Versorgungssituation, bedeuten sie doch starke Einschnitte in Grundbedürfnisse wie Mobilität, Kommunikation oder Gesundheit (Heidelk 2017; Rinke 2017). „Die Jungen ziehen in die Städte. Die Alten bleiben allein zurück und sorgen sich: Wie komme ich zum nächsten Arzt? Wer pflegt mich? Wer steht mir bei, wenn ich mich hilflos fühle? Daraus entsteht ein Gefühl der Unsicherheit.“ (Ehrenstein 2017a) „Ich habe über 80-jährige Frauen im Weimarer Land auf klapprigen Fahrrädern im Nebel mitten auf der Landstraße fahren sehen, um zur Kaufhalle zu kommen, weil vor Ort nichts mehr zu haben ist – und der öffentliche Personennahverkehr abgebaut wurde. Und ja, das hat mich das Fürchten gelehrt.“ (Gräfenhan 2017)

Diesen Ängsten kommt eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Verbindung infrastruktureller Mangelsituationen und des Rechtspopulismuszuspruchs zu, welche

2Ein negativer natürlicher Saldo bedeutet hier, dass mehr Sterbefälle als Geburten vorliegen.

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in Abschn. 3.4 erläutert wird, werden AfD-Wähler*innen doch vor allem in ländlichen Räumen verortet (Greß 2017; Lill 2017; Rafael 2018), die sich durch Versorgungsstrukturschwäche kennzeichnen (Funck 2017; Kahls 2017; Neiser 2017; Rausch 2017).

3.2 Narrativ 2: wirtschaftliches ‚Abgehängtsein‘ & die Angst vor dem Abstieg Neben dem Narrativ des infrastrukturellen ‚Abgehängtseins‘ gibt es ein weiteres, das ebenfalls über ‚Gefühle des Abgehängtseins‘ zur rechtspopulistischen Wahlentscheidung führt: das Narrativ des wirtschaftlichen ‚Abgehängtseins‘ (Abb. 2). Hier gerät vor dem Hintergrund einer neoliberalen Politik (Gräser 2017; Julke 2017) der Arbeitsplatz durch die Prozesse der Globalisierung in Gefahr (Herres 2017; Schulz 2017). Dies äußert sich konkret beispielsweise in einer Rationalisierung der Arbeitsprozesse mittels Technologie oder einer ausgeweiteten Konkurrenzsituation. „Insbesondere niedrig entlohnte Arbeitsplätze sind gefährdet“ (Greß 2017). Auch mangelnde Infrastrukturen (wie Internetverbindung), die dem erwarteten Digitalisierungsstandard des Marktes nicht entsprechen, schränken die Konkurrenzfähigkeit betroffener Unternehmer*innen

Abb. 2    Im Diskurs benannte wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge des ‚Abgehängtseins‘. © Larissa Deppisch

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ein. „Und für solche Menschen erscheint dann die Globalisierung natürlich als Bedrohung.“ (Gräser 2017) Zur geschilderten Ausweitung der Konkurrenzsituation kommt der Eindruck hinzu, dass Migrationsbewegungen (insbesondere die ‚Flüchtlingswelle‘) die Bedrohung des Wohlstands, des „Wenigen, was wir haben“ (Brattig 2017), verschärfen (o. V. o. D. a). Sozialneid macht sich breit (Lill 2017; Loos und Schmitt 2017; Saleh 2017; Schneeberger 2017), wie in der folgenden rassistisch geprägten Aussage besonders deutlich wird: „Währenddessen haben sich in der Kneipe in Brannenburg die zwei Stammgäste in Rage geredet. […] ‚Die Neger kriegen doch alles in den Arsch gesteckt‘“ (o. V.o. D. a). Deutsche hingegen müssen – so hier der Eindruck – für wenig Geld hart arbeiten oder um jede Sozialleistung kämpfen (Brandau 2017; Brattig 2017; Schäfer 2017). Das, was Geflüchtete erhalten, solle vielmehr den einheimischen, bedürftigen Deutschen zur Verfügung stehen (Becker 2017). Hinsichtlich des AfD-Zuspruchs spielt hier vor allem die emotionale Reaktion der Bevölkerung – kurz: Abstiegsangst – und das Verhältnis der sich wirtschaftlich ‚abgehängt‘ Fühlenden zum Staat eine große Rolle. So wird etwa berichtet, dass viele in einer ökonomisch vergleichsweise schlechteren Lage die AfD gewählt oder den Weg zur Wahlurne erst gar nicht beschritten haben (Jannasch 2017; Kamann 2017). Im Gegensatz zur oben umrissenen realen und akuten Gefahr des Arbeitsplatzverlustes in der unteren Schicht, ist es für die Mittelschicht primär die Angst vor dem Verlust, die zur rechtspopulistischen Wahlentscheidung führt (ala und Reuters 2016; Rafael 2018). Darüber hinaus geben die Absicherung im Alter wie auch die zukünftige finanzielle Situation der Kinder Anlass zur Sorge (Agence France-Presse 2017; Jungbauer 2017; Specht 2017; Rafael 2018). Unverständnis und Unzufriedenheit über die private finanzielle Lage stehen hier an der Tagesordnung (Cremer 2017; Funck 2017; Rausch 2017; Rieveler 2017). Deutlich wird, dass Armut oder die Angst vor Armut im Narrativ um wirtschaftlich ‚Abgehängte‘ die zentralen Themenkomplexe darstellen. Im Diskurs findet sich zur These der wirtschaftlich ‚abgehängten‘ AfD-Wählenden aber auch eine gegenteilige Aussage: Die Mehrheit der ­AfD-Wählenden ist tatsächlich „gar nicht abgehängt, wie oft fälschlich behauptet werde, sondern verdient[...] sogar leicht überdurchschnittlich“ (Rieveler 2017), oder ist zumindest „überwiegend nicht in einer finanziell prekären Situation“ (Agence France-Presse 2017; siehe auch Danhong 2017; Gräser 2017; Jungbauer 2017; Schneeberger 2017). Nicht Arbeitslose, sondern vor allem Selbstständige und Angestellte wählen die AfD (Rieveler 2017; etwas relativierender siehe auch Neuerer 2017b). Darüber hinaus wird angemerkt, dass es „[b]ei einer derart

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niedrigen Arbeitslosenrate […] eigentlich keinen Grund für übersteigerte Ängste [gibt]“ (Jungbauer 2017; siehe auch Loos und Schmitt 2017; Przybilla 2017; Rafael 2018). Unabhängig von der tatsächlichen wirtschaftlichen, individuellen und strukturellen Situation wird von aufkommenden Ängsten, arm zu sein oder sozial abzusteigen, berichtet: „Am stärksten sind die Abstiegsängste ausgeprägt bei Menschen mit geringem Einkommen“ (Rafael 2018). Die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und schließlich auch dem Zustand der Arbeitslosigkeit ist groß, und die sogenannten finanziell ‚Abgehängten‘ sind dementsprechend ‚sozial verunsichert‘ (Agence France-Presse 2017; Rafael 2018). Ob begründet oder nicht – fest steht: Die Angst davor, ‚finanziell abgehängt‘ zu sein, macht sich breit und gleichzeitig als zentraler Faktor der Wahlentscheidung für die AfD bemerkbar (ala und Reuters 2016; Lill 2017; Schulte von Drach 2017; o. V. o. D. a). In diesem Zusammenhang sind die subjektive Wahrnehmung der eigenen sozialen Lage wie auch der Vergleich der eigenen Position mit der des sozialen Umfelds von besonderer Relevanz. So „ordnen sich ­[AfD-Wählende] unabhängig von ihrem tatsächlichen Einkommen in der Gesellschaft niedrig ein und erlebten im Vergleich zu den Eltern einen sozialen Abstieg“ (Agence France-Presse 2017). Die AfD-Wählerschaft nimmt die mit der Globalisierung verbundenen wirtschaftlichen Transformationen also insgesamt vor allem als Angst erzeugende Bedrohung wahr (ala und Reuters 2016; Gräser 2017; o. V.o. D. a).

3.3 Narrativ 3: kulturelles ‚Abgehängtsein‘ & die Angst vor dem Fremden Als eine weitere Erklärung für den Erfolg der AfD wird – durchaus auch als Gegenerzählung zur These der finanziellen oder materiellen Bedrohung der persönlichen Lebenschancen – das Narrativ des kulturellen ‚Abgehängtseins‘ angeführt (Abb. 2). „AfD-Wähler sind nicht wirtschaftlich, sondern kulturell abgehängt“ (Schneeberger 2017). Mit der Globalisierung erhalten auch kosmopolitische Werte und Weltbilder wie Multikulturalität, die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Lebensweisen oder auch das Infragestellen traditioneller Geschlechterverhältnisse verstärkt Einkehr in die Gesellschaft. Diese werden von AfD-Wählenden abgelehnt, welche sich im Hinblick auf diesen gesamtgesellschaftlichen Trend kulturell entfremdet fühlen (Herres 2017; Rieveler 2017; Zamperoni 2017; Roth 2018). Sie erfahren also eine Abwertung der eigenen

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kulturellen Identität,3 welche sich durch die provinziell verorteten Merkmale des Traditionsbewusstseins und der Liebe zur Heimat (Roth 2018) sowie der Forderung nach einem „Nationalstaat als Schutz vor äußerer Bedrohung, mehr kulturelle[r] Homogenität, mehr traditionelle[n] Lebensformen – und keinen Islam, der dazugehört“ (Schneeberger 2017), wie auch durch den Wunsch nach einem „rein deutsche[n] Deutschland“ (Danhong 2017) kennzeichnet. In diesem Sinne werden sie als von der kulturellen Entwicklung zurückgelassen respektive ‚abgehängt‘ beschrieben. Migrationsbewegungen fordern darüber hinaus die aktive Akzeptanz sowie die praktische Umsetzung dieser Weltbilder ein und bedrohen damit die als homogen konstruierte deutsche Kultur in ihrem unveränderten Fortbestand (Greß 2017). Neben dieser Angst vor dem abstrakten Fremden (einer anderen Kultur) verbreitet sich auch Angst vor dem konkreten Fremden (Personen), die durch die Figuren der Terrorist*innen und Kriminellen in jenem Narrativ auftauchen (Greß 2017; Loos und Schmitt 2017; Saleh 2017; o. V. o. D. b). Die Erzählung vom kulturellen ‚Abgehängtsein‘ tritt allerdings nicht nur als Gegenerzählung zum Narrativ des wirtschaftlichen ‚Abgehängtseins‘ auf, sondern wird auch unabhängig von der Kontrastierung mit dem zweiten Narrativ beschrieben. In diesem Fall wird es als kulturelle Einstellung an sich und als Reaktion auf eine gefühlte Machtlosigkeit gedeutet: „Das heißt, wir haben Traditionalisten, […] die sich zurücksehnen nach einer vermeintlich heilen Welt, weil da alles vermeintlich geordnet gewesen ist“ (Schulz 2017). „Und das einzige, was dieses Gefühl der Machtlosigkeit beseitigen kann, ist die Rückbesinnung auf Altbewährtes – auf etwas, das einem wieder Halt gibt in Zeiten, in denen nichts mehr sicher scheint. Auf Tradition, Kultur, Sprache, nationale Grenzen. Feste soziale Bindungen, ein eng geknüpftes Familiennetz, die Mutter als Hausfrau, der Vater als Ernährer. Wer sich von außen bedroht fühlt, schottet sich nach außen hin ab – daran ist nichts Irrationales.“ (Greß 2017, Herv. i. O.)

Entsprechend des beschriebenen Verhältnisses der kulturell ‚Abgehängten‘ zum Fremden führt die Asylpolitik der Regierung unter jenen zu Unzufriedenheit (Danhong 2017; Funck 2017; Gräser 2017; Loos und Schmitt 2017). Die unregistrierte Einreise von Geflüchteten wird als Bedrohung wahrgenommen:

3Das

diskursive Spektrum der Bewertung der Einstellung der AfD-Wählenden reicht hier von konservativ (und autoritär) bis hin zu klassisch rechts(extrem), siehe Rieveler (2017); Schäfer (2017); Schulz (2017); Brandt et al. (2018); Roth (2018).

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„Wie viele Terroristen sind so heimlich illegal zu uns gelangt und warten jetzt als Schläfer im Untergrund in aller Ruhe ab, bevor sie auch bei uns zuschlagen werden.“ (o. V. o. D. b). Zur Rolle des direkten Kontaktes zu Personen mit Migrationshintergrund wird zum einen die These aufgeworfen, dass gerade die Abwesenheit jener mit hohem AfD-Zuspruch verknüpft ist (Funck 2017; Loos und Schmitt 2017; Metzner 2017; Wehner 2017). Entscheidend ist hier die Angst vor dem Unbekannten, welche durch den Mangel an persönlichen Kontakten nicht abgebaut werden kann: „Vor dem Fremden fürchtet man sich ja besonders heftig, solange es fremd ist“ (Roßbach 2017a). In diesem Zusammenhang wird regionalspezifisch unterschieden. So ist, bedingt durch die Anwerbung südeuropäischer Arbeiter*innen in den 1950er Jahren, von einem Erfahrungsvorsprung Westdeutschlands hinsichtlich des Umgangs mit Migrant*innen die Rede. Ostdeutschland hingegen hat „diese Erfahrung erst nach der Wende gemacht und auch in deutlich geringerem Maße“ (Zamperoni 2017). Dementsprechend hatte die westdeutsche Bevölkerung gegenüber der ostdeutschen einen gewissen historischen Vorsprung, Vorurteile und Ängste gegenüber Fremden abzubauen. Zum anderen hat die Zustimmung bestimmter Regionen zur AfD mit der direkten räumlichen Nähe zu Personen mit Migrationshintergrund allgemein (Becker 2017) sowie Geflüchteten im Konkreten, sei es über Migrationsrouten oder Aufnahmelager, zu tun. Dieser Zusammenhang wird darauf zurückgeführt, dass die Existenz vieler Geflüchteter vor Ort den Kontrollverlust des Staates (im Sinne der Aufnahme zahlreicher Geflüchteter ohne Registrierung) vor Augen führt. Des Weiteren wird die akute Situation der gefühlten Bedrohung, welche sich aus Angst einflößenden Ressentiments gegenüber Geflüchteten (etwa vermeintlich übergriffigen Fremden oder Terrorist*innen) ergibt, durch die räumliche Nähe zu Geflüchteten verschärft und konkretisiert (Danhong 2017; Lill 2017; Loos und Schmitt 2017; o. V. o. D. a).

3.4 Von der Angst vor dem ‚Abgehängtsein‘ zum Rechtspopulismuszuspruch Die infrastrukturellen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge der Narrative münden jeweils in eine ähnliche Erzählung zum Verhältnis der ‚Abgehängten‘ zur Politik (Abb. 1 und 2). In den drei Narrativen wird jeweils die Frage der Verantwortlichkeit für die beschriebenen Verhältnisse gestellt. Stets werden Landes- und Bundespolitik adressiert (Budde 2017a; Richter 2017c),

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die sich nicht oder nicht genug um die Belange (bestimmter, strukturschwacher) ländlicher Regionen kümmern (Schmoll 2014; Claus und Feller 2017; Kniebler 2017; Rinke 2017). Der Staat bzw. die etablierten Parteien interessieren sich nicht für die Sorgen, Nöte und Ängste der Bevölkerung, ignorieren sie stattdessen oder nehmen sie gar nicht erst wahr (Funck 2017; Loos und Schmitt 2017; Rieveler 2017; Schmollack 2017). „Von den etablierten Parteien, die man jahrzehntelang guten Gewissens wählen konnte, fühlt man sich im Stich gelassen.“ (Greß 2017) „Viele fühlen sich von der Politik, den Verantwortlichen, schlicht vergessen.“ (Richter 2017d; siehe auch Richter 2017c; Roßbach 2017b) Die Betroffenen fühlen sich unbeachtet, aufgegeben und ‚abgehängt‘ (Herres 2017; Richter 2017c). Insbesondere in ländlichen Regionen wird dieser Eindruck durch den geringen Wahlkampf verstärkt: „‚Früher, da haben sich die Kandidaten vor so einer Wahl mal hier blicken lassen‘ Bürgermeister Bernd Trobisch erzählt weiter, ‚die haben Veranstaltungen gemacht, sogar mal ein Fass Bier ausgegeben. Jetzt zur Wahl wurde niemand hier gesehen, kein Interesse, wahrscheinlich sind wir mit 1000 Wählern einfach zu unwichtig für die Politiker.‘“ (Rausch 2017, Herv. i. O.)

Die Verantwortung der Einzelnen hingegen rückt deutlich in den Hintergrund, bleibt allerdings auch nicht unausgesprochen. So wird erwähnt, dass es auch in der Hand der lokalen Bevölkerung und deren Kaufverhalten liegt, ob sich die kleinen Geschäfte im Ort halten können. Das heißt, dass diese „nicht nur das einkauft, was sie im Zweifel dann auf dem Weg zur Arbeit, nachhause im Großsupermarkt dann vergessen hat einzukaufen“ (Florin 2018). Insbesondere im zweiten und dritten Narrativ wird darüber hinaus der Eindruck geschildert, dass der Staat demgegenüber die Notsituation der ‚Fremden‘ wahrnimmt, sich um diese im Gegensatz zur einheimischen Bevölkerung kümmert: „Nicht wenige hier hatten das Gefühl, für die Flüchtlinge wird viel getan und für uns nichts“ (Lill 2017). Aus jenem Gefühl, politisch vergessen zu sein, da die narrativspezifischen Mangelsituationen und Ängste nicht wahrgenommen werden, speist sich schließlich Enttäuschung. So ist es im Falle des infrastrukturellen ‚Abgehängtseins‘ die politisch nicht effektiv bearbeitete Angst vor einer Versorgungsstrukturschwäche, welche zur Enttäuschung der ländlichen Bevölkerung von der Politik führt (Schmoll 2014; Kniebler 2017; Richter 2017a). Das Narrativ des wirtschaftlichen ‚Abgehängtseins‘ erzählt dagegen von der Enttäuschung aufgrund der Empfindung, dass die Politik nicht für soziale

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Gerechtigkeit sorgt (Funck 2017). Auch die Rentenpolitik wird kritisiert, von der die wirtschaftlich ‚Abgehängten‘ keine Existenzsicherung im Alter mehr erwarten (Julke 2017; Lill 2017). Zurück bleibt die Angst vor Altersarmut wie auch vor dem Abstieg der eigenen Kinder. „Wer sich in NRW-Großstädten arm und abgehängt fühlt, wählt die Partei der Frustrierten – sogar als Mensch mit Migrationshintergrund. Die AfD fängt nicht jene, die ihre Heimat lieben. Sie ist stark, wo das alte sozialdemokratische Versprechen ‚Eure Kinder werden es einmal besser haben‘ nicht mehr eingelöst wird.“ (Hermsen 2017)

Im Falle Ostdeutschlands kommt an dieser Stelle der reale biografische Bruch, den viele Ostdeutsche mit der Wende erlebten, hinzu. Viele verloren von heute auf morgen ihre Anstellung, ihre Existenz und fanden gegebenenfalls nie wieder in ihren einstigen Beruf zurück (Brattig 2017; Kahls 2017; Richter 2017c; Schäfer 2017). Die Hoffnungen auf ein neues, gutes Leben im vereinigten Deutschland wurden enttäuscht (Schmollack 2017). Stattdessen erwarteten sie die mit der Konkurrenz des freien Marktes einhergehenden sozialen Unsicherheiten sowie im Vergleich zum Westen niedrigere Renten und Löhne. Daran anschließend fühlen sich viele in ihrer Lebensleistung nicht anerkannt (Fratzscher 2017; Funck 2017; Kahls 2017; Rausch 2017; Richter 2017d; Schmollack 2017). „Gründe, warum die Menschen in der Region Bitterfeld-Wolfen wohl große Sympathien für die Rechtspopulisten von der AfD hegen“ (Richter 2017e). Das Narrativ der kulturell ‚Abgehängten‘ berichtet schließlich, dass sich die Wut der ‚abgehängten‘ AfD-Wählenden „aus der kulturellen Enttäuschung [speist]“ (Schneeberger 2017) – Enttäuschung bezüglich der politischen Begrüßung kosmopolitischer Werte wie auch des bevorzugten Kümmerns um furchteinflößende ‚Fremde‘. Auch die in diesem Zusammenhang immer wiederkehrende Schilderung des Kontrollverlusts des Staates (mit Aufnahme der Geflüchteten) ist eine angstkonnotierte Erzählung. Wird der Staat doch immer wieder als gesellschaftliche Struktur angerufen, die Stabilität und Sicherheit verspricht, welche durch den wahrgenommenen Kontrollverlust infrage gestellt werden. An die Enttäuschung schließt sich das Gefühl an, selbst nichts gegen jene Prozesse ausrichten zu können, wie etwa gegen den Verfall bestimmter ländlicher Regionen: „‚Es ist traurig, aber diese Entwicklung hält keiner auf‘.“ (Claus und Feller 2017). Die ‚abgehängte‘ Person fühlt sich der Gesamtsituation ausgeliefert und machtlos – geradezu politisch ohnmächtig (Agence France-Presse 2017; Gersemann 2017; Rieveler 2017).

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„Sympathisanten bzw. Wähler von populistischen Parteien […] sehen sich schlichtweg in ihrer eigenen Identität, ihrer eigenen Lebensführung gefährdet – durch etwas, das sie selbst nicht sehen und schon gar nicht kontrollieren können. Es bleibt ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Machtlosigkeit.“ (Greß 2017)

Befeuert durch die narrativspezifischen Enttäuschungen und Ängste verlieren die ‚Abgehängten‘ das Vertrauen in die Politik (Julke 2017; Loos und Schmitt 2017; Bellinghausen 2018; o. V. o. D. a). „Das Gefühl, selbst abgehängt zu sein, erodierte das Vertrauen in die etablierten Parteien“ (Rafael 2018). Sie entwickeln ein Misstrauen (Danhong 2017; Schulz 2017) und sind teilweise „mit dem Zustand der demokratischen Repräsentation und Willensbildung“ (Agence France-Presse 2017), also dem demokratischen System selbst, unzufrieden (Hähnig et al. 2017; Zamperoni 2017). Unzufriedenheit kippt schließlich in Protest, welcher sich in der Wahl rechtspopulistischer Parteien offenbart (Kahls 2017; Rausch 2017; Schäfer 2017; Schmollack 2017). „[A]us dem Gefühl des Abgehängtseins [wird] ein Misstrauensvotum für die Politik“ (Julke 2017). „Dorfbewohner“ (Ehrenstein 2016) bzw. „[d]iejenigen, die zurückbleiben, fühlten sich zunehmend abgehängt, vom Staat allein gelassen – und wendeten sich in ihrer Resignation oft rechtspopulistischen Parteien zu“ (Lasch 2017; siehe auch Ehrenstein 2017a; Riedel und Specht 2017; Rinke 2017). Durchaus auch ohne (gänzlich) von den Inhalten der AfD überzeugt zu sein: „Rechts – nein, das sei man nicht, sagen die Leute in Bitterfeld. Und schütteln energisch den Kopf. Man fühle sich vergessen.“ (Richter 2017e; siehe auch Julke 2017; Lill 2017; Neiser 2017; Schäfer 2017) Auch wenn im Diskurs die Interpretation der AfD-Wahl als Protestwahl hervorsticht, gibt es auch die These, dass es sich hierbei gerade nicht um Protest, sondern um ein bewusstes und eindeutiges Bekenntnis zum inhaltlichen Programm der AfD handelt (Geipel 2017).

4 Fazit Um die Bundestagswahl 2017 wurden im populär-medialen Diskurs Gefühle des ‚Abgehängtseins‘ in Verbindung mit dem aufkommenden AfD-Zuspruch gestellt und insbesondere in ländlichen Räumen verortet. Vor diesem Hintergrund habe ich mich in diesem Artikel der Frage gewidmet, was unter dem ‚Abgehängtsein‘ zu verstehen und in welche gesellschaftlichen Zusammenhänge es gebettet ist. Orientiert an dem Vorgehen der Grounded Theory habe ich dabei drei verschiedene Narrative des ‚Abgehängtseins‘ herausgearbeitet: 1) das Narrativ des infrastrukturellen, 2) das des wirtschaftlichen und 3) das des kulturellen ‚Abgehängtseins‘.

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1) Infrastrukturelles ‚Abgehängtsein‘ äußert sich darin, dass der lokalen Bevölkerung eines Ortes oder einer Region bestimmte Versorgungsstrukturen nicht (mehr) zur Verfügung stehen. Auch der Abbau staatlicher Anlaufstellen trägt zum infrastrukturellen ‚Abgehängtsein‘ bei. 2) Wirtschaftliches ‚Abgehängtsein‘ beschreibt Personen (aus der Mittelschicht), die in ihrem sozialen Status durch Arbeitsplatzverlust abgestiegen sind oder als Geringverdienende nicht am sozialen Aufstieg teilhaben. 3) Kulturelles ‚Abgehängtsein‘ verweist auf eine Diskrepanz zwischen Wertvorstellungen. Kulturell ‚Abgehängte‘ halten an konservativen oder (extremen) rechten Werten fest und stören sich gleichzeitig am Einzug kosmopolitisch-moderner Einstellungen. Die verschiedenen Erzählungen des ‚Abgehängtseins‘ beschreiben ähnliche Gefühlslagen der ‚Abgehängten‘, bei denen Angst eine große Rolle spielt und entsprechend des jeweiligen Narrativs in einer anderen Gestalt auftritt. So haben infrastrukturell ‚Abgehängte‘ Angst davor, zukünftig nicht mehr an Versorgungsstrukturen teilhaben zu können. Wirtschaftlich ‚Abgehängte‘ plagen dagegen Abstiegsängste und kulturell ‚Abgehängte‘ fürchten sich vor dem Fremden. Angeklagt wird stets die Politik bestimmter etablierter Parteien, da diese sich nicht um jene Ängste kümmern würden. ‚Abgehängte‘ fühlen sich von der Politik nicht beachtet, anerkannt oder ernst genommen, sondern vielmehr vergessen, vernachlässigt oder im Stich gelassen. Viele sind von der Politik enttäuscht. Dies führt, so heißt es, einerseits zu Frust und Unzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation und der Politik, andererseits zu Hoffnungs-, Perspektiv- und dem Gefühl der Machtlosigkeit. Neben den als problematisch bewerteten individuellen Lebenssituationen ziehen auch aus der politischen Einschätzung sich ergebende ‚Gefühle des Abgehängtseins‘ politische Konsequenzen nach sich. So heißt es, dass ‚Abgehängte‘ das Vertrauen in die Politik oder gar in das demokratische System verloren haben und in Folge dessen eine rechtspopulistische Wahlentscheidung treffen – gegebenenfalls aus Protest oder aber aus inhaltlicher Überzeugung. Die soziologische Forschung beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt mit der Rolle von Angst hinsichtlich des Rechtspopulismuszuspruchs. Die bislang überwiegend aus der quantitativ-empirischen Forschung stammenden Ergebnisse unterstreichen die dargelegten Narrative. Analog zur im zweiten Narrativ identifizierten Abstiegsangst wurde nachgewiesen, dass diese unter AfD-Wähler*innen im Vergleich zu jenen anderer Parteien stärker ausgeprägt ist (Kohlrausch 2018, S. 6) und AfD-Wähler*innen sich subjektiv depriviert fühlen (Lux 2018, S. 261, 265). Darüber hinaus seien Personen mit AfD-Wahlabsicht pessimistisch und würden eine Verschlechterung der eigenen wie auch der allgemeinen wirtschaftlichen Lage erwarten. Gleichzeitig wiesen sie kein unteres, sondern mittlere

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bis überdurchschnittliche Einkommensniveaus auf (Bergmann et  al. 2017, S. 62 f.). Dies deute auf eine Diskrepanz „der objektiven sozialen Lage und den subjektiven Ängsten“ (Kohlrausch 2018, S. 6) hin. Entsprechend des Narrativs des kulturellen ‚Abgehängtseins‘ wird auch in der soziologischen Forschung der Rechtspopulismuszuspruch auf Migrationsbewegungen und die „Angst vor einer Veränderung gesellschaftlicher Werte“ (Köppl-Turyna und Grunewald 2017) zurückgeführt. Ähnlich der im zweiten Narrativ diskursiv auftretenden Angst vor dem Fremden zeigen quantitative Ergebnisse, dass die AfD-Partei-Identifikation in einem starken direkten Zusammenhang mit der Ablehnung der Geflüchtetzuwanderung steht, welche als kulturelle Bedrohung gilt (Lengfeld und Dilger 2018). Kurz: „AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich“ (Schröder 2018). Vermutet wird, dass die Attraktivität der AfD für Personen, die jene Ängste hegen, auf die rhetorische Strategie der Partei selbst zurückzuführen sei, welche jene Ängste offensiv anspricht, bestätigt und schürt: „Sie [die AfD] bettet Fakten in blumige Angstszenarien ein. AfD-Politiker sprechen von der >Fremdheit im eigenen LandAngsträumen für blonde Frauenblutigen Juli<  2016 mit seinen Anschlägen. Die Leute werden verleitet, sich in ihre Angst hineinzusteigern, sich in der Weltuntergangsstimmung zu suhlen.“ (Amann 2017, S. 38)

Zum potenziellen Zusammenhang der Versorgungsstruktursituation bzw. der Angst vor Versorgungsstrukturschwächen und des AfD-Zuspruchs gibt es bislang noch keine Studien. Es wäre daher sinnvoll, die aus diesem Diskurs herausgearbeiteten Aspekte empirisch zu untersuchen und im Weiteren der Frage nachzugehen, inwieweit die Bevölkerung ländlicher Räume tatsächlich Gefühle des ‚Abgehängtseins‘ hegt und in welchem Verhältnis diese zum Rechtspopulismuszuspruch stehen. Die im Rahmen dieser Diskursanalyse herausgearbeiteten drei Narrative des ‚Abgehängtseins‘ und damit verbundenen Ängste können als Bezugspunkte eines Vergleichs mit weiteren empirischen Ergebnissen dienen.

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Larissa Deppisch, M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Thünen-Institut für Ländliche Räume Braunschweig; Arbeitsschwerpunkte: Landsoziologie; Rechtspopulismusforschung; qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung.

Die quantitative Analyse textueller Daten Das Beispiel des Angstdiskurses in US-amerikanischen TV-Präsidentschaftsdebatten 1960–2016 Andreas Schmitz und Jakob Horneber 1 Einleitung Weite Teile der Öffentlichkeit und der Wissenschaften scheinen sich einig zu sein: Wir leben in einer „Gesellschaft der Angst“ (Bude 2014). Eine verbreitete Deutung ist, dass das Ausmaß der Angst im Vergleich zu früheren Epochen der Menschheitsgeschichte zugenommen habe. Warum aber sollten Individuen heute mehr Ängste aufweisen als Menschen vergangener Tage? War ein verletztes Mammut weniger geeignet, Ängste zu stiften als heute der Rechtspopulismus? Kann man wirklich davon ausgehen, dass die Angstskala im menschlichen Denkapparat eine nach oben offene ist? Können sich Menschen nicht an ein beachtliches Spektrum von Bedrohungen und Angstobjekten gewöhnen und diese in ihren Alltag integrieren? Tatsächlich weisen verschiedene Autor*innen darauf hin, dass nicht primär die subjektiv empfundene Angst neues Ausmaß und neue Qualität angenommen habe, sondern vielmehr die Rede von der Angst. Dies beinhaltet zweierlei: zum einen die für einige Gesellschaften empirisch

A. Schmitz (*) · J. Horneber  Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Horneber E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Martin und T. Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_11

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A. Schmitz und J. Horneber

bestätigte Annahme einer umfänglicheren Kommunikation über (und im Medium der) Angst (Bude 2014; Eckert 2019). Zum anderen, und damit eng verbunden, besteht die Annahme einer sich verselbstständigenden Angstkommunikation (Furedi 2006; Baumann 2006). Dies bedeutet, dass Angstkommunikation erneute Angstkommunikation hervorrufen kann. Kurz gesagt: „Gesellschaft der Angst“, „Kultur der Angst“, „Politik der Angst“ etc. adressieren in erster Linie Angst als diskursives Phänomen. Dies steht nun aber gerade nicht im Widerspruch zur subjektiven Dimension der Angst. Denn ganz im Gegenteil weisen Diskurstheorien – je nach Radikalität – darauf hin, dass Diskurse den Akteuren vorgängig sind, deren mögliche Sicht- und Sprechweisen präformieren und dabei Wissensformen, Affekte und Emotionen miterzeugen (vgl. Witte 2019). Diese Einsicht der klassischen wie modernen Soziologie ist auch von unmittelbarer methodologischer Konsequenz: Zwar ist es aufschlussreich, subjektive Wahrnehmungen und Deutungen der Angst zu untersuchen (sei es im Rahmen standardisierter Befragungen oder qualitativer Interviews), auch ist es durchaus zielführend, dass die psychologischen und therapeutischen Disziplinen die heute zu beobachtenden Ängste in den Blick nehmen. Der zentrale Beitrag einer modernen Sozialwissenschaft ist aber darüber hinaus darin zu sehen, Ängste als diskursives Phänomen zu untersuchen und entsprechende Werkzeuge zu mobilisieren bzw. zu entwickeln. Während Ängste nicht selten pathologisiert und dem Analyse- und Verantwortungsbereich des Subjekts zugeschrieben werden, betrachten diskursanalytische Perspektiven auch deren strukturelle Zusammenhänge, Bedingungen und Folgen. In diesem Beitrag möchten wir die Möglichkeiten der Arbeit mit textuellen Daten am Beispiel der Angstkommunikation skizzieren. Wir diskutieren dafür die Möglichkeiten und Probleme der quantitativen Arbeit mit textuellen Daten im Zusammenhang mit der Verwendung von Angstsynonymen im Rahmen von US-Präsidentschaftsdebatten. Die Analyse textueller Daten findet sich bereits bei Zipf (1935) und Yule (1944), die quantitative Tradition der Diskursanalyse in den Schriften Benzécris (1963/64, 1979) und Pêcheuxs (1995) (vgl. auch ­Guérin-Pace 1998). Sie erfährt seit einiger Zeit einen erneuten Aufschwung angesichts der Debatte um die Möglichkeiten von Big Data (DiMaggio et al. 2013; Riebling 2018; Trübner und Mühlichen 2018; Jacobs und Tschötschel 2019). Der Vorzug der Quantifizierung, also einer Praxis, die sich vom positivistischen „Messen“ in vielerlei Hinsicht unterscheidet, liegt insbesondere darin, dass die Sinn- und Kommunikationszusammenhänge, die einen Diskurs auszeichnen, in ihren strukturellen Zusammenhängen zum Gegenstand der Konstruktion werden.

Die quantitative Analyse textueller Daten

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2 Logik, Struktur und Management von Diskursdaten 2.1 Diskursanalyse und Datenformen Diskurstheoretische Zugänge analysieren den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen bzw. institutionellen Strukturen und (sprachlichen, schriftlichen etc.) Performanzen (Aussagen, Sätzen, Texten etc.), Praktiken und Strukturen. Diskurs bezeichnet dann eine jeweilige Menge von Performanzen. Zum Diskurs wird diese Menge allerdings erst, wenn und insofern sie einen empirischen Sinn- oder Kommunikationszusammenhang bildet, die jeweiligen Elemente also im bestimmbaren Maße über wechselseitige Bezugnahmen ihre Bedeutung erhalten. Von besonderer methodologischer Relevanz ist dabei der Umstand, dass Diskurse relationale Strukturen darstellen. Diese sind zwar als potenziell offen und vielfach refigurierbar zu begreifen, sie stellen aber nichtsdestoweniger systematische, relativ stabile (und autonome) Wechselbeziehungen dar (vgl. Diaz-Bone 2006 zu einer Kritik an einer poststrukturalistischen Reduktion des Diskursbegriffes). Diese Einsicht ist von unmittelbarer Relevanz für den hier zu verhandelnden Topos der Angst. Je nach paradigmatischer Ausrichtung, Forschungsinteresse, politisch-ideologischem Hintergrund und medialer Marktgängigkeit legen Wissenschaftler*innen andere Angstdefinitionen an. Damit geht einher, dass Ängste auch in unterschiedlicher Weise untersucht werden. Entsprechende Annäherungen umfassen die Erhebung und Auswertung von Interviews oder Befragungen, aber auch die Arbeit mit anonymisierten Informationen aus psychotherapeutischen bzw. klinischen Zusammenhängen. Bei aller Unterschiedlichkeit wird hier methodologisch (und nicht selten ätiologisch) in der Regel der Fokus auf das Subjekt gelegt. Ein weit gefasster Diskursbegriff, der Praktiken, Artefakte (etwa künstlerische Abbildungen) und das gesprochene oder verschriftliche Wort betrachtet, transzendiert einen solchen methodologischen Individualismus zugunsten eines methodologischen Relationalismus. Im Kontext der Angst wäre hierbei etwa zu denken an eine Auswertung von qualitativ gewonnenem Interviewmaterial, von Patientenstatements oder gar Patientenakten. Verbreiteter ist die Analyse von Nachrichten etwa aus Zeitungen (Altheide und Michalowski 1999), Fernsehnachrichten (Young 2003) und heute insbesondere Online-Blogs (Zou 2018), Twitter (Towers et al. 2015), aber auch Kommentarspalten digitaler Nachrichtenseiten und in diversen Online-Chats.

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Eine weitere Möglichkeit stellen offizielle Verlautbarungen und Kommunikationsakte dar, wie insbesondere jene des politischen Feldes (Dean 2005). Mit der gestiegenen Alltagsrelevanz der Sphäre des Digitalen hat auch die Untersuchung digital geführter bzw. vorgehaltener Diskurse zugenommen. Solche Daten liegen mitunter in Online-Quellen vor und müssen zunächst in einen strukturierten Datensatz überführt werden. Insofern online verfügbare Daten in einer so großen Menge vorliegen, dass eine manuelle Erhebung nicht möglich ist, muss auf maschinelle, automatisierte Formen der Datenerhebung zurückgegriffen werden. Hierbei ist es möglich, auf unterschiedliche textuelle Formate (txt, pdf etc.) mittels eines Wrappers bzw. eines API (Application Programming Interface) zurückzugreifen. Beide können die online vorgehaltenen Daten in ein maschinenlesbares Format überführen. Hierfür kann auf Programmiersprachen wie Python (vgl. Trilling 2018 für eine Einführung) zurückgegriffen werden, die bereits vorgefertigte, spezialisierte Pakete für diese Aufgaben bereitstellen (z. B. „BeautifulSoup“, „Selenium“, „Mechanize“, „HTMLlib5“, „pysql“ und „JSON“). Ein Wrapper lässt sich für eine vorgegebene Website einrichten. Auf dieser identifiziert er die Linkstruktur der Seiten und sucht iterativ innerhalb dieser Struktur nach den zuvor spezifizierten Datenformaten und lädt diese automatisiert herunter. Die Auswahl kann dabei anhand von Schlüsselwörtern und generellen Informationen (z. B. Datum, Verfasser usw.) erfolgen. Diese Texte müssen dann in einem weiteren Schritt von dem zusätzlichen, übriggebliebenen Code bereinigt werden. So müssen etwa die HTML-Tags entfernt und zur eindeutigen Identifikation notwendige Informationen in den Datensatz integriert werden. Je nach Präferenz können die Daten dann in einer Statistiksoftware ausgewertet werden.1

2.2 Das Beispiel der US-Präsidentschaftsdebatten 1960–2016 Die Arbeit mit unstrukturierten Daten, die aus digitalen Quellen entnommen werden können, sei im Folgenden anhand des Beispiels der US-Präsidenschaftsdebatten exemplifiziert. Benoit und Hansen (2004) zeigen, ­ dass diese Debatten von erheblicher Bedeutung für den politischen Diskurs der USA sind und Kandidat*innenbewertungen wie inhaltliche Präferenzen der

1In R stehen zur Verarbeitung von Textdaten verschiedene ­ Text-Mining-Pakete zur Verfügung, die im Wesentlichen dieselben Standardfunktionen aufweisen. Weit verbreitete Pakete sind z. B. „tm“, „tidytext“, „quanteda“, „text2vec“ oder „SnowballC“.

Die quantitative Analyse textueller Daten

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DOLE: […] Stop scaring the seniors, Mr. President. You’ve already spent $45 million scaring seniors and tearing me apart. I think it’s time to have a truce. LEHRER: Mr. President. CLINTON: Well, let me say, first of all, I’d be happy to have a commission deal with this and I appreciate what Senator Dole did on the ’83 Social Security commission. [...] Abb. 1   Auszug aus den Rohdaten aus der ersten Präsidentschaftsdebatte von 1996. © Andreas Schmitz/Jakob Horneber

Wähler*innen durch deren Verlauf entscheidend geprägt werden können. Dabei kommen sogenannte „fear appeals“ (Benoit und Wells 1996) zum Tragen: Die Präsidentschaftskandidat*innen thematisieren oder reagieren auf Ängste und können so zu deren Verstärkung oder Verringerung beitragen. Erstmals 1960 und regelmäßig seit 1976 fanden zwei bis vier Debatten der Präsidentschaftskandidat*innen sowie meist eine Debatte der jeweiligen Vizekandidaten statt. Die Transkriptionen der Fernsehübertragungen sind unter anderem auf der Webseite https://www.debates.org/debate-history frei zugänglich. Abb. 1 zeigt einen Auszug. Ausgehend von dieser Seite greifen wir auf die einzelnen Debatten nach Jahr und Datum zu, wobei das Jahr sowie die Debattennummer als Platzhalter dynamisch oder aus einer vorher erstellten Liste der relevanten Jahre eingefügt wird. Wie schon früh diskutiert, eignen sich textuelle Daten in ihrer Rohform nicht für eine quantitative Analyse (Pêcheux 1969; Genet 1977). Zur Analyse werden die Textdaten zunächst eingelesen und „tokenisiert“ – also in deren Einzelbestandteile, üblicherweise Worte, zerlegt. Aus diesem Grund müssen sie bereinigt und in Form gebracht werden. Die Aufbereitung beinhaltet zudem das Entfernen der für die Analyse unbrauchbaren Sonderzeichen und Zahlen. Ebenso werden meist besonders häufig auftretende und inhaltlich aussagelose Worte – etwa Artikel und Präpositionen – gelöscht.2

2Alle

gängigen Text-Mining-Pakete bieten zumindest für weit verbreitete Sprachen eine entsprechende Liste typischer „Stopwords“. Alternativ lassen sich Stopword-Kandidaten auch durch eine statistische Analyse ermitteln oder manuell ergänzen (Vijayarani et al. 2015). Im vorliegenden Fall wurden etwa zusätzlich Eigennamen, persönliche Anreden oder Amtsbezeichnungen entfernt.

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A. Schmitz und J. Horneber

Um Wortverwandtschaften zu identifizieren, wird der Textkorpus in der Regel vollständig in Kleinbuchstaben transformiert. Worte werden zudem häufig auf ihren Wortstamm zurückgeführt („stemming“), sodass etwa miteinander verwandte Substantive und Adjektive dieselbe Grundform erhalten oder Verben in eine dem Infinitiv ähnliche Kurzform überführt werden. Hierbei kommen unter anderem Verfahren zum Einsatz, die auf einer sprachunabhängigen Untersuchung häufiger Buchstabenkombinationen oder einer sprachspezifischen Suffixanalyse beruhen (Vijayarani et al. 2015). In unserem Beispiel ergibt sich eine Schwierigkeit aus dem Zielbegriff der Angst selbst. Da wir diskursanalytisch vorgehen, möchten wir uns nicht auf eine enge Definition beschränken (etwa nur „fear“). Vielmehr soll der Analyse ein weites semantisches Begriffsfeld zugrunde liegen, weshalb wir zunächst die möglichen Synonyme der Angst in der englischen Sprache definiert haben – etwa „fear“, „worry“, „anxiety“, „panic“, „Angst“ oder „scare“ –, die jeweils als „fear“-Begriffe gekennzeichnet werden. Eine zusätzliche Bereinigung der Daten kann mithilfe der Funktion „term frequency-inverse document frequency“ (tf-idf) durchgeführt werden (Welbers et al. 2017). Diese beruht auf der Annahme, dass sehr selten oder häufig auftretende Worte keinen analytischen Mehrwert darstellen, da sie beispielsweise nur in einem einzigen oder in jedem Statement enthalten sind und somit keine Rückschlüsse auf eine generelle Textstruktur erlauben. Durch die Festlegung – empirisch ermittelter – Schwellenwerte werden entsprechende Worte aus dem Datensatz entfernt. Aus einem ähnlichen Grund finden nachfolgend sehr kurze Wortbeiträge mit weniger als vier Worten keine Berücksichtigung. Eingang in die Analyse finden zudem ausschließlich die Aussagen von ­ (Vize-)Präsidentschaftskandidat*innen, welche im Datensatz jeweils durch ihre Parteizugehörigkeit repräsentiert werden.3 Es zeigt sich, dass die Entscheidungen der Datenbereinigung und Datenaufbereitung (wie auch schon in der Arbeit mit Befragungsdaten) mit inhaltlichen und theoretischen Auffassungen eng verbunden sind.4 Die so aufbereiteten Textdaten werden in einen Datensatz mit einem gewünschten Format und einer gewünschten Datenstruktur organisiert, sodass sie durch entsprechende Verfahren analysiert werden können. Häufig reicht dafür ein sogenanntes Flat-File aus, d. h. eine zweidimensionale Matrix von Merkmalsträgern (Statements) und den in den Statements kommunizierten Inhalten (hier: die Begriffe 3Aussagen

der Moderator*innen wurden nicht berücksichtigt. „rein“ explorative, induktive Analyse von (textuellen) Daten stellt bereits insofern einen Grenzfall empirischen Arbeitens dar, auch wenn sie gegenwärtig im Feld der Sozialwissenschaften noch überwiegt.

4Eine

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77

Abb. 2   Zum Rohdatenausschnitt gehörende eingelesene Daten im tidy-text-Format. © Andreas Schmitz/Jakob Horneber

oder Tokens). Abb. 2 zeigt eine Darstellung im tidy-text-Format. Die Besonderheit dieses Formats besteht darin, dass jedes Token eine eigene Zeile erhält, während die verschiedenen Variablen in den Spalten der Matrix stehen. Eine Alternative stellt die „Document-Term-Matrix“ dar, in deren Zeilen jeweils die kompletten Statements anhand der in den Spalten abgetragenen Worthäufigkeiten organisiert werden.

3 Techniken der quantitativen Diskursanalyse 3.1 Deskriptive Untersuchung Die deskriptive Analyse textueller Daten ist von fundamentaler Bedeutung. Sie ermöglicht es – wie schon bei der Arbeit mit Surveydaten – ein erstes Gefühl für den Gegenstand und die strukturellen und inhaltlichen Eigentümlichkeiten der Daten zu gewinnen. Dies beinhaltet auch die Identifikation etwaiger Datenprobleme, die im Prozess des Datenmanagements bereinigt werden müssen.

212

A. Schmitz und J. Horneber

Tab. 1   Häufigste Begriffe im Datensatz Wort

Absolute Häufigkeit

Relative Häufigkeit

1

Peopl

2858

1,80

2

America

2406

1,51

Wort

Absolute Relative Häufigkeit Häufigkeit

14

Care

703

0,44

15

Support

678

0,43

3

Republican

2207

1,39

16

Secur

651

0,41

4

Democrat

1854

1,17

17

Monei

634

0,40

5

Tax

1759

1,11

18

Health

609

0,38

6

Countri

1566

0,99

19

Question 608

0,38 0,38

7

Time

1222

0,77

20

War

600

8

Job

1078

0,68







9

Talk

958

0,60

236

Concern 129

0,08

10

World

884

0,56

570

Risk

0,04

57

11

Cut

877

0,55

720

Fear

44

0,03

12

Unit

870

0,55

1059

Afraid

27

0,02

13

Nation

825

0,52

1088

Scare

26

0,02

Wie schon in der Arbeit mit Surveydaten hat die deskriptive, aber auch die spätere statistische Analyse insofern rekursive Auswirkungen auf das Datenmanagement. Die deskriptive Arbeit umfasst in erster Linie die Untersuchung genereller Eigenschaften des vorliegenden Korpus sowie der Worthäufigkeiten, die zudem in Relation zur Gesamtwortzahl und zu Statements betrachtet werden können. Nach Anwendung der verschiedenen Verfahren zur Datenbereinigung enthält der verwendete Datensatz ungefähr 157.000 Worte (darunter ca. 8300 verschiedene), die sich auf 2830 Statements und insgesamt 43 Debatten verteilen. Ein erster Blick auf die Gesamtwortzahlen (Tab. 1) zeigt, dass in den Präsidentschaftsdebatten die Begriffe „people“ und „america“ besonders häufig auftreten. Auch wird – der Logik der Situation entsprechend – häufig auf die eigene oder gegnerische Partei referiert.5 Weiter finden sich unter den meist-

5Namentlich

genannte Politiker*innen wurden durch Umcodierungen ebenfalls ihren Parteien zugeordnet und insofern unter diesen Begriffen subsumiert.

Die quantitative Analyse textueller Daten

213

genannten Worten Begriffe, die auf bestimmte Politikinhalte verweisen: so etwa „tax“, „job“, „care“, „health“ oder „war“. Angstbegriffe fallen nicht unter die häufigsten Nennungen, spielen aber, wie etwa die Häufigkeiten der Begriffe „concern“6, „risk“ und „fear“ zeigen, durchaus eine Rolle. In 304 der 2830 Statements sind insgesamt 423 direkte Angstreferenzen enthalten. Darüber hinaus ist aber zu bedenken, dass eine systematische Nicht-Nennung von Begriffen (hier: der Angst) ebenfalls einen zentralen Aspekt der Funktions- und Wirkweise von Diskursen darstellt.

3.2 Wortkombinationen Wichtige erste Hinweise zum diskursiven Gebrauch bestimmter Begriffe lassen sich dem gemeinsamen Auftreten mit anderen Begriffen entnehmen. Dazu lassen sich beispielsweise die Häufigkeiten von bestimmten Zwei- oder Mehrwortkombinationen („bigrams“ bzw. „n-grams“) ermitteln. Nicht zuletzt erlaubt dies die Identifikation der gerade in der englischen Sprache verbreiteten zusammengesetzten Begriffe – etwa „health care“ oder „social security“. Neben den unmittelbar nebeneinander auftretenden Kombinationen können auch die in zahlreichen Statements gemeinsam verwendeten Wortpaare aufschlussreich sein. Jenseits eines Überblicks über das thematische Spektrum lassen sich aus der Analyse aller einen Angstbegriff enthaltenden Aussagen so erste Hinweise auf bestimmte Diskursfelder gewinnen. So wird etwa eine Angstreferenz auf den amerikanischen Staat und seine Bevölkerung häufig auch mit einer der beiden Parteien in Verbindung gebracht, wie es Abb. 3 zeigt. Dies deutet darauf hin, dass die politischen Kontrahenten sich als Teil politischer Strategien und kommunikativer Taktiken gegenseitig als Quellen oder Adressaten politischer Angstobjekte apostrophieren. Offenbar werden Angstbezüge häufig dazu genutzt, die Beziehung zwischen der Wählerschaft („peopl“) bzw. Land („america“, „countri“) und dem jeweiligen politischen Mitbewerber zu charakterisieren. Hierbei wiederum spielen die potenziell gefährdete oder herzustellende Einheit („unit“) und die zeitliche Dringlichkeit („time“) des politischen Handelns eine systematische Rolle.

6Die

Konnotation von concern als etwas „betreffend“ (so in „concerning“) wurde zuvor auf Grundlage einer Inspektion aller infrage kommenden Statements ausgeschlossen, sodass concern hier tatsächlich im Sinne von „Sorge“ verwendet wird.

214

A. Schmitz und J. Horneber

Abb. 3   Netzwerk der mit fear verbundenen Begriffe. © Andreas Schmitz/Jakob Horneber

3.3 Diskursive Prozesse Das Diskurskonzept ist genuin dynamisch angelegt. Im Kontext einer quantitativen Diskursanalyse interessiert dann etwa, wie Begriffe im Zeitverlauf unterschiedlich häufig (und etwa zunehmend oder abnehmend) Verwendung finden, mit welchen Begriffen sie jeweils (nicht mehr) verbunden werden und letztlich deren diskursive Re-Definition. Eine Betrachtung der Häufigkeit der Angststatements nach Partei im Zeitverlauf anhand von Abb. 4 ermöglicht Rückschlüsse auf eine veränderte Bedeutung direkter Angstreferenzen. Den relativ angstbetont geführten Debatten Ende der 1980er und während der 1990er Jahre, in denen zum Teil mehr als 20 Prozent der Aussagen einer Partei Angstbegriffe enthielten, folgten geringere Angstanteile in den 2000er Jahren. Fasst man statt der Anzahl der Statements die Begriffshäufigkeiten ins Auge, fällt diese Diskrepanz noch deutlicher aus: Hier erreichten die Debatten in den 1990ern einen absoluten Höhepunkt der Angstanteile. Hingegen wurden in den Jahren zuvor und anschließend nicht annähernd gleiche Werte erreicht.

Die quantitative Analyse textueller Daten

215

Abb. 4   Angsthäufigkeiten im Zeitverlauf (Verlaufsdiagramm). © Andreas Schmitz/Jakob Horneber

Dieser Verlauf ist insofern überraschend, als die Angstreferenzen in der durch ökonomische Prosperität und den außenpolitischen Aufstieg der USA zur Hegemonialmacht geprägten Zeit ab Mitte der 1980er bis Ende der 1990er Jahre verbreiteter waren als in der durch terroristische Bedrohungen und militärische Operationen im Nahen und Mittleren Osten bestimmten politischen Debatte nach 2001. Auch die 2008 einsetzende Wirtschafts- und Finanzkrise trug offenkundig nicht zu einer Steigerung, sondern eher zu einem Rückgang der expliziten Angstbezüge bei. Dies deutet auf die zugrundeliegende Logik des politischen Streits hin: eine strategische Nicht-Nennung der Angst mag opportun erscheinen, da die rhetorische Verbindung spezifischer Themen mit Ängsten ein ungünstiges Licht auf Gestaltungskraft und Kandidatur werfen könnte. Dass es allerdings auch sinnvoll sein kann, nicht nur den Verlauf des Gesamtdiskurses, sondern das Kommunikationsverhalten der beiden Parteien ins Auge zu fassen, lässt sich anhand der unterschiedlichen Angstreferenzen illustrieren. Während der Prozess der Angstkommunikation weitgehend parallel verläuft,

216

A. Schmitz und J. Horneber

fallen einige Disparitäten ins Auge: So weisen in den Jahren 1980, 1988, 1992 und 2016 nicht nur die Tendenzen beider Parteien in unterschiedliche Richtungen, auch klafft der prozentuale Gebrauch von Angstbegriffen deutlich auseinander. So warnte etwa Amtsinhaber Jimmy Carter im Jahr 1980 eindringlich vor den durch den republikanischen Kandidaten Ronald Reagan avisierten Steuersenkungen und möglichen Folgen für das Gesundheits- und Sozialsystem. Die demokratische Kandidatin Hillary Clinton im Jahr 2016 thematisierte hingegen vor allem die möglichen, aus einer Präsidentschaft des durch die Republikaner nominierten Donald Trump resultierenden sozialen Verwerfungen und produzierte so – entgegen einer weitverbreiteten Deutung – wesentlich mehr explizite Angstreferenzen als ihr republikanischer Kontrahent.7 Dieser Zusammenhang unterstreicht die Notwendigkeit, neben der quantitativen Zunahme auch die (manifeste) Abnahme von Angstkommunikation im Auge zu behalten.

3.4 Sentiments als diskursive Affekt-Verhältnisse Eine weitere Möglichkeit, Angst in ihrer Verhältnishaftigkeit zu untersuchen, stellt die Sentimentanalyse dar. Sie beruht auf der Auswertung der mit den verwendeten Begriffen assoziierten Emotionen. Hierfür wird auf Grundlage eines entsprechenden Lexikons jedem in dieser Hinsicht interpretierbaren Wort eine Emotion bzw. eine positive oder negative Konnotation zugewiesen. In der freien Statistiksoftware R stehen beispielsweise die Wörterbücher „AFINN“, „bing“ und „nrc“ zur Verfügung, die jeweils eigene Analysemöglichkeiten anbieten: bing ordnet jedem Begriff einen positiven oder negativen Wert zu, während AFINN auf eine Skala von −5 bis + 5 zurückgreift. Das Lexikon nrc basiert hingegen auf 14 verschiedenen „Sentiments“, die neben „positive“ und „negative“ auch explizite Assoziationen wie „anger“, „joy“ oder eben „fear“ vorschlägt (Silge und Robinson 2017). Im vorliegenden Datensatz umfasst das fear-Sentiment vor allem die auf eine militärische Bedrohung abstellenden Begriffe „war“, „terror“, „fight“ und „attack“ und weist damit über die unmittelbaren Angstbegriffe hinaus. Die nrc-basierten Sentiments erlauben insofern eine Analyse von Affektverhältnissen. Abb. 5 zeigt auf, dass solche Angstverweise im Zeitverlauf eine bei Demokraten und Republikanern relativ parallele Entwicklung nehmen. Aufschluss-

7Bemerkenswert

mag erscheinen, dass die Wahlen in allen vier Fällen, in denen die Angststatements in Tendenz und Häufigkeit so weit auseinanderklafften, durch den mit weniger Angstaussagen operierenden Kandidaten gewonnen wurden.

Die quantitative Analyse textueller Daten

217

Abb. 5   Angst-Sentiments im Zeitverlauf (Verlaufsdiagramm). © Andreas Schmitz/Jakob Horneber

reich sind indes vor allem die Diskrepanzen zwischen der Analyse der Angsthäufigkeiten (Abb. 4) und der Angst-Sentiments (Abb. 5). Während die direkten Angstnennungen ab dem Jahr 2000 zurückgehen, steigt die indirekte Angstkommunikation zu Beginn der 2000er Jahre sprunghaft an und fällt auch danach nicht unter das Niveau der 1990er Jahre. Während also in den 1990er Jahren Angstbezüge verhältnismäßig häufig offen – also in direkter Referenz auf Angst – ausgesprochen wurden, zeigen sich diese in den Folgejahren eher implizit – etwa durch Begriffe wie „war“ oder „terror“.

3.5 Diskursklassen als Diskursstränge Aus diskurstheoretischer Sicht werden (verschriftliche) Äußerungen und Praktiken als Ausdruck von Diskursen begriffen, sie sind diesen gleichsam nachgängig (Pêcheux 1995). Aussagensysteme bringen die Dinge, von denen die Rede ist, die konkreten oder „manifesten“ Sprechakte und Praktiken, aus dieser

218

A. Schmitz und J. Horneber

radikal relationalen Sicht insofern erst hervor (Witte et al. 2018). Dies vorausgesetzt, ergibt sich eine methodologische Verwandtschaft zur Logik latenter Variablen (Rabe-Hesketh und Skrondal 2004), wie sie etwa latenten Klassen- und Skalierungsmodellen zugrunde liegen. Entsprechend dem Grundverständnis eines die manifesten Performanzen der Sprache formenden latenten Diskurses werden hierbei hinter den empirisch beobachtbaren, manifesten Realisierungen stehende – und diese hervorbringende – theoretische Konstrukte angenommen. Konkret kann dies die Modellierung von Diskurssträngen meinen, also thematisch relativ kohärenten Strukturen, die sich als latente Diskursklassen auffassen lassen und deren manifeste Realisierungen dann die empirischen Statements darstellen. Dies entspricht der klassischen Arbeit der empirischen Sozialforschung mit Umfragedaten, die sich schon früh mit der Identifikation latenter Faktoren oder Klassen basierend auf manifesten Variablen befasst hat. Während sich bei der Sentimentanalyse die Zuordnungen auf Grundlage a priori erstellter Kataloge ergeben, modellieren Verfahren der statistischen Identifikation und Optimierung die latenten Faktoren kontextabhängig und entsprechen somit eher dem Prinzip diskursiver Performativität. Populäre Beispiele solcher Verfahren stellen „Wordscores“ (Laver et al. 2003), „Wordfish“ (Slapin und Proksch 2008) und „Topic models“ (Blei et al. 2003) dar.8 Alle drei beruhen auf dem ­bag-of-words-Konzept, demzufolge Texte als bestimmte Selektionen von Worten verstanden werden. Wir nutzen das durch den als „Gibbs sampling“ (Phan et  al. 2008) bezeichneten Algorithmus realisierte topic modelling. Hierbei handelt es sich um ein probabilistisches Verfahren der Typisierung, das in erster Linie auf dem gemeinsamen Auftreten (oder Nichtauftreten) von Begriffen basiert. Auf dieser Grundlage werden sogenannte „Topics“ ermittelt, die aus Begriffen bestehen, die mit großer Wahrscheinlichkeit in ähnlichen Statements vorkommen. Die Zusammensetzung eines Topics erlaubt so Rückschlüsse auf die diskursiven Kontexte und mithin auf den faktischen Gebrauch und die praktische Definition bestimmter Begriffe – etwa verschiedener Ängste. Wir berücksichtigen in einer ersten Analyse Angstsynonyme im Sinne eines weiten semantischen Begriffsfelds. Im Hinblick auf die Definition des Angstbegriffes scheint uns eine offene Begriffsarbeit zweckmäßig zu sein, die es dem

8Entsprechende

Skalierungs- und Klassifizierungsverfahren werden auch unter dem Begriff des „unsupervised machine learning“ (Welbers et al. 2017) erfasst, wobei aber lediglich die Optimierung angesprochen wird.

Die quantitative Analyse textueller Daten

219

Abb. 6   Drei Typen von Angst (Topics). © Andreas Schmitz/Jakob Horneber

Diskurs überlässt, die genauen Bedeutungen, konnotativen Unterschiede und Abgrenzungen zu definieren. Abb. 6 zeigt, dass sich drei empirische Klassen von Angstbegriffen ergeben, die das semantische Begriffsfeld der Angst und ihrer Synonyme und verwandten Begriffe strukturieren. In Klasse 1 finden sich Begriffe, die wir als Sorge (concern im Sinne von Sorgen, Besorgnis oder sich sorgen) zusammenfassen, in Klasse 2 finden sich Begriffe, die wir unter Angst (fear) subsumieren, und Klasse 3 ist besonders stark mit dem Begriff des Risikos (risk) assoziiert. Man mag bei dieser empirischen Typologie – neben den frühen Unterscheidungen von Kierkegaard und Freud – durchaus an Webers (1984) Unterscheidung der verschiedenen Handlungstypen denken: ein eher zweckrationales Risiko (also eine unterstellte Zweck-Mittel-Relation), eine eher wertrationale Sorge (also die Zuschreibung eines „ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden“ „unbedingten Eigenwertes“ basierend auf „Geboten“)

220

A. Schmitz und J. Horneber

und schließlich die affektuelle, besonders gefühlsbasierte Angst.9 Die von Habermas (1981) vorgeschlagenen Handlungstypen die an Webers Konzeption anschließen, motivieren kommunikative Geltungsansprüche, die sich vor dem Hintergrund der Typologie ebenfalls fruchtbar machen lassen. So lassen sich die Sprechakte der Angst mit Habermas auf eine objektive Wahrheit und die theoretische Vernunft (risk), auf die normative Richtigkeit praktischer Vernunft (concern) sowie eine subjektive, der ästhetischen Vernunft entspringende Wahrhaftigkeit (fear) stützen. Eine von Habermas inspirierte Perspektive ist in erster Linie aufschlussreich für die Analyse von Angst als Kommunikationsmedium. Sie öffnet den Blick für die Möglichkeit, Angst als Form diskursiver Legitimation zu nutzen – wobei sich je nach zu legitimierendem Inhalt spezifische Formen der Angstkommunikation anbieten. Der Anspruch wahrhaftiger Kommunikation lässt sich etwa durch den Verweis auf persönliche Betroffenheit erzeugen: „[…] I know millions of you still have anxieties. You work harder and harder to make ends meet and put food on the table. You worry about the quality and the safety of your children and the quality of education. But even more importantly, you worry about the future and will they have the same opportunities that you and I have had.“ (Bob Dole, 1996)

Schließlich kann man Luhmanns (1993) Unterscheidung von Risiko (als Konsequenz einer Entscheidung) und Gefahr (als außerhalb der Entscheidung verursachte Bedrohung) denken, wobei die hier identifizierte, dreiteilige Unterscheidung einen analytischen Mehrwert insofern bietet, als zusätzlich die Haltung gegenüber der Gefahr unterschieden werden kann. Nicht erst mit der Analyse von (etwa aus Online-Quellen entnommenen) textuellen Daten ist nun eine wiederkehrende Frage bei der Konstruktion diskursiver Klassen diejenige nach der Anzahl der Klassen. Wie schon bei der modellbasierten Klassifikation von Befragungsdaten kann hier auf informationskriterienbasierte Tests zurückgegriffen werden, wobei dann die Lösung mit der statistisch besten Passung gewählt wird (etwa basierend auf sogenannten

9Naheliegend

wäre dann die Frage, ob es Sinn ergeben könnte, auch eine traditionale Angst zu konzipieren (und diese durch Erweiterung des semantischen Begriffsfeldes in unsere Analyse einzubeziehen). Dabei ließe sich eine traditionale Angst etwa auf der Ebene von Subjekten (Ängstlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal), auf der Ebene von Situationen (Atmosphäre der Unsicherheit), auf der Ebene von Gesellschaften (institutionalisierte Verunsicherung oder securitization) sowie auf der Ebene von Kulturen (vorherrschende Ressentiments) denken.

Die quantitative Analyse textueller Daten

221

Informationskriterien). In diesem Falle wurden vier verschiedene im R-Paket „ldatuning“ implementierte Simulationen durchgeführt, die sämtlich auf eine eindeutig dreidimensionale Lösung verweisen. Nichtsdestoweniger tauchen hier die altbekannten Probleme finiter Mischmodelle im Kontext von Befragungs- und Prozessdaten auf: Die Instabilität der Klassen, so insbesondere bei einer kleinen Änderung der zugrundeliegenden Daten, mitunter allerdings auch bereits bei einer erneuten Berechnung der gleichen Datenlage. Zur Verbesserung der Stabilität werden bei der Analyse finiter Mischmodelle wie auch den in ihrer Logik verwandten topic-modelling-Verfahren üblicherweise mehrfach unterschiedliche Startwerte festgelegt. Dennoch bleibt eine gewisse Volatilität vor allem für die Zuordnung von nur vereinzelt auftretenden Begriffen bestehen. Hier bietet es sich an, die Parameter der Identifikation zu modifizieren, insbesondere die Anzahl der Iterationen zur Identifikation eines statistischen Optimums. Der Befund einer Dreigliedrigkeit der Angst lässt sich nun deskriptiv weiter kontextualisieren. Eine Zuordnung nach Jahren macht eine zum Teil sehr unterschiedlich akzentuierte Angstkommunikation sichtbar, wie Tab. 2 es zeigt. Tab. 2   Nutzung der Angsttypen bei Demokraten und Republikanern im Verhältnis (absolute Werte in Klammern) Risk Democrats

Concern

Fear

Republicans Democrats Republicans Democrats Republicans

1960

0,0 (0)

100,0 (1)

60,0 (6)

40,0 (4)

75,0 (3)

25,0 (1)

1976

0,0 (0)

100,0 (1)

28,6 (8)

71,4 (20)

50,0 (4)

50,0 (4)

1980

– (0)

– (0)

100 (6)

0 (0)

0 (0)

100 (2)

1984

75,0 (6)

25,0 (2)

83,3 (5)

16,7 (1)

28,6 (2)

71,4 (5)

1988

57,1 (4)

42,9 (3)

88,2 (15)

11,8 (2)

66,7 (4)

33,3 (2)

1992

0,0 (0)

100,0 (1)

0,0 (0)

100,0 (9)

41,7 (10)

58,3 (14)

1996

70,8 (17)

29,2 (7)

40,0 (4)

60,0 (6)

10,8 (4)

89,2 (33)

2000

50,0 (7)

50,0 (7)

11,1 (1)

88,9 (8)

33,3 (7)

66,7 (14)

2004

50,0 (7)

50,0 (7)

26,7 (4)

73,3 (11)

21,1 (4)

78,9 (15)

2008

66,7 (4)

33,3 (2)

20,0 (1)

80,0 (4)

17,6 (3)

82,4 (14)

2012

100,0 (6)

0,0 (0)

35,7 (5)

64,3 (9)

20,0 (2)

80,0 (8)

2016

50,0 (3)

50,0 (3)

81,8 (9)

18,2 (2)

85,7 (18)

14,3 (3)

Gesamt

61,4 (54)

38,6 (34)

45,7 (64)

54,3 (76)

34,7 (61)

65,3 (115)

222

A. Schmitz und J. Horneber

Die drei Angsttypen finden nahezu ausnahmslos in allen Jahren Anwendung, allerdings in unterschiedlichem und sich im Zeitverlauf wandelndem Verhältnis. So ist beispielsweise die affektuelle Komponente der Angst (fear) vor allem seit 1992 präsent. Die absoluten Häufigkeiten verweisen auf eine in den letzten drei Jahrzehnten stärker emotionale, auf subjektive Erfahrungen zielende Angstkommunikation, während die empathisch vorgetragene, sich auf eine normative Geltung stützende Sorge (concern) vor allem in den Jahren zwischen 1992 und 2000 einen im Verhältnis zu früheren Jahren (1960, 1976, 1980 sowie 1988) geringeren Stellenwert einnimmt. Der Vergleich der beiden Parteien zeigt zudem, dass affektive Angst-Appelle in der Vergangenheit vor allem von den republikanischen Kandidaten genutzt wurden. Dieses Verhältnis kehrt sich allerdings im Jahr 2016 um, sodass sich für die weitverbreitete Annahme, gerade Donald Trump würde Angst kommunizieren und letztlich erzeugen, keine Anhaltspunkte finden lassen. Die möglichen angstinduzierenden Effekte der politischen Praxis und Rhetorik eines Donald Trump drücken sich zumindest in diesem Kontext nicht über direkte, manifeste Angstreferenzen aus. Ob das öffentlich gezeichnete Bild eines angstschürenden Trump undifferenziert war oder ob es sich bei diesem Befund womöglich um eine gezielte Vermeidung von Angstbegriffen durch Trump bzw. dessen Beraterstab handelt, müsste in einer eigenen Untersuchung behandelt werden.

3.6 Diskursfelder Eine weitere methodologische Herangehensweise der Objektivierung von Diskursen ist es, diese als Felder zu betrachten (Bourdieu 1991; ­Schmidt-Wellenburg 2012; Maeße 2013; Horneber 2016; Witte und Schmitz i. V.). Diskurse als Strukturen relationaler Sinnbezüge bezeichnen dann latente Strukturprinzipien, welche die empirisch beobachtbaren Elemente hervorbringen. Relationalität bedeutet hier die Identifikation von Nähen und Distanzen in einem zu konstruierenden Raum, also im vorliegenden Fall von Bereichen relativer Nähe (des wahrscheinlichen Auftretens und Nicht-Auftretens) bestimmter Begriffe. Die formale Konstruktion von diskursiven Feldern und Räumen ermöglichen die Verfahren der geometrischen Datenanalyse, die Nähen und Distanzen in einem n-dimensionalen Raum abbilden, dessen Achsen dann inhaltlich interpretiert werden. Eine geometrische Analyse der Angst erfolgte in der Literatur anhand von Befragungsdaten (vgl. bereits Benzécri 1969; Schmitz et al. 2018). Die gleichen Verfahren wurden traditionell für textuelle Daten genutzt (Benzécri 1963/1964, 1979).

Die quantitative Analyse textueller Daten

223

Abb. 7   Korrespondenzanalyse mit Angsttypen und Politikfelder. © Andreas Schmitz/ Jakob Horneber

Abb. 7 zeigt die Konstruktion eines diskursiven Feldes basierend auf den zuvor klassifizierten Ängsten und einer zweiten, mithilfe eines Topic models konstruierten Variable, nämlich den thematisch gegliederten Politikinhalten: Die Themenblöcke sind das US-amerikanische Volk („People“), Bildung und Familie („Education“); Energieversorgung („Energy“), die Nation in der Welt („USA“); Krieg und Militär („Military“); Sicherheit und Justiz („Justice“); der Politische Wettbewerb („Competition“), die Ökonomie („Economy“) sowie der Wohlfahrtsstaat („Social“). Das Ergebnis zeigt eine zweidimensionale Struktur, die wir wie folgt interpretieren: Die X-Achse unterscheidet Diskursklassifikationen zwischen den eher zweck-(risk) bzw. wertrational (concern) konnotierten Formen (rechts) und der eher als affektuell konnotierten fear (links). Die Y-Achse unterscheidet zwischen concern (unten) und risk (oben) und kann mit Habermas als Gegensatz zwischen dem kommunikativen Geltungsanspruch normativer Richtigkeit und theoretischer Vernunft interpretiert werden. Die drei Angsttypen sind dabei mit den in den politischen Debatten präsenten Themenblöcken assoziiert: concern mit Bildung und Familie sowie Krieg und Militär, risk mit Sicherheit und Justiz sowie mit der Ökonomie und fear mit Aspekten des Wohlfahrtsstaats sowie dem politischen Wettbewerb. Entsprechend deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass spezifische politische Bereiche, wie der des Militärs, in den an die Ö ­ ffentlichkeit

224

A. Schmitz und J. Horneber

gerichteten Debatten systematisch seltener mit Angst im engeren Sinne verbunden werden und stärker als wertrationale Sorge gerahmt werden.10 Fear im engeren Sinne ist demgegenüber assoziiert mit sozialpolitischen Themen. Dies erklärt sich v. a. dadurch, dass die entsprechenden Ängste bestimmter Bevölkerungsgruppen (wie etwa Eltern, Senioren, Arbeitslose) aufgegriffen werden. Fear tritt außerdem im Themenkomplex „politischer Wettbewerb“ auf, wobei es v. a. darum geht, den*die Mitbewerber*in und dessen Politik(-folgen) mit Ängsten in Verbindung zu bringen. Offenkundig ist Angst im engeren Wortsinn durchaus ein zentrales Moment innerhalb des öffentlich ausgetragenen politischen Wettbewerbs.

4 Ausblick Auch weiterhin wird es die Position geben, dass (gewisse) Ängste „unerklärlich“ oder eben selbst-verständlich seien und deren „Wesen“ über bestimmte Techniken nicht erfasst werden könne. Wir votieren hingegen erstens für eine offene Arbeit mit dem Angstbegriff, die sich nicht auf spezifische (etwa: politisch opportune) Phänomene beschränkt und dabei andere (insbesondere: eigene) Ängste oder Sorgen ausschließt. Die Vorzüge des hier angelegten relationalen Verständnisses der Angst bestehen insbesondere darin, dass man sich nicht auf medial opportune Teilphänomene der Angst beschränken muss und so letztlich an den ungleichen (Il)Legitimitätsverhältnissen verschiedener Ängste mitwirkt (Schmitz und Gengnagel 2018; Schmitz 2019). Wir votieren im Sinne einer auch methodologisch allgemeinen Soziologie der Angst zweitens für eine systematische, aber flexible methodologische Annäherung an den Angstkomplex. Eine im Kontext der Diskursanalyse allgemein, aber im Kontext der Angst insbesondere kaum verbreitete Herangehensweise ist die quantitative Arbeit auf Grundlage eines methodologischen Relationalismus. Gerade bei einem Thema wie dem der Angst, die häufig als Ausdruck eines pathologischen Ausnahmezustands verstanden und deren systematische Komponente mithin leicht unterschätzt wird, kann eine solche, objektivierende Annäherung eine wertvolle Perspektive darstellen. In diesem Beitrag haben wir uns mit den Möglichkeiten der quantitativen Analyse textueller Daten befasst. Textuelle Daten werden heute zunehmend für weite Kreise zugänglich und auch für (wissenschaftliche) Milieus, die sich zuvor nicht

10Man

denke an das geflügelte Wort „unsere Jungs“ im Irak.

Die quantitative Analyse textueller Daten

225

für Daten zu begeistern vermochten. Das Problem ist aber, dass die Euphorie gegenüber Big Data schnell vergessen lässt, dass abstrakte Problemstellungen sich in gleicher Weise schon für jedweden Datentyp stellten. Die explorative Nutzung, die sich mit wenig (explizitem) Vorwissen und (expliziten) Vorannahmen einem empirischen Gegenstand nähert, zeichnet heute noch die Masse der Analysen im Kontext von Big Data aus. Man muss sich aber keineswegs auf die automatisierte Identifikation bislang unbekannter Muster beschränken und explorativ identifizierte Begriffsklassen- und Felder als einzige Möglichkeit der quantitativen Textanalyse begreifen.11 Wie für die Mehrzahl statistischer Verfahren üblich, kann auch die quantitative Diskursanalyse in deduktiver Weise, d. h. etwa hypothesentestend erfolgen. So können Erwartungen zur Anzahl diskursiver Klassen sowie auch zu deren Beziehungsstärke- und Richtung mit manifesten Indikatoren (Begriffen) modelliert werden. Beispielsweise kann formal getestet werden, ob in einem Teildiskurs, die in dieser Arbeit vorgestellten Angsttypen (Angst, Sorge, Risiko) ebenfalls auftauchen und ob dabei die gleichen manifesten Begriffe eine Rolle spielen (eine Standardoperation etwa in der Arbeit mit Strukturgleichungsmodellen). Je nach wissenschaftstheoretischer Position können die Verfahren auch in abduktiver Weise genutzt werden, also als Wechselspiel vorläufiger statistischer Ergebnisse und kreativer (und dabei hermeneutischer beziehungsweise rekonstruktiver) Interpretationsleistungen. Eine Rückbesinnung auf das Bestandswissen der (nicht-positivistisch orientierten) empirischen Sozialforschung mag sich also durchaus lohnen. Man denke etwa an Probleme der Instabilität von Klassenlösungen in empirischen Typologien beliebiger Datenarten, deren Lösungen der empirischen Sozialwissenschaft bereits vorliegen. Auch liegen konzeptionelle Lösungen für bislang noch nicht entdeckte Probleme bereit. So werden wohl bald Modellierungen genesteter Daten mit Mehrebenenansätzen und die zeitliche Dynamik von Typologien – Standardkonzepte der empirischen Sozialforschung – im Kontext textueller, digitaler Daten „neu“ entdeckt werden. Auch eine beinahe in Vergessenheit geratene Tradition der quantitativen Textanalyse, nämlich grammatische Konstruktionen sowie Wortreihungen zu untersuchen (Pêcheux 1995), wird zukünftig wohl wieder stärker berücksichtigt werden. Viele dieser klassischen Problemstellungen und Lösungsansätze drohen aber in (mitunter strategische)

11Es

wird spannend zu beobachten, wie es die über lange Jahre hegemoniale Form der quantitativen Sozialwissenschaft, die sich jüngst unter dem Label „Analytische Soziologie“ reorganisiert hat, schafft, ihre wohlbegründete Kritik an einer Variablensoziologie angesichts der so attraktiven Möglichkeiten von Big Data aufrechtzuerhalten.

226

A. Schmitz und J. Horneber

Vergessenheit zu geraten, wenn man sich ausschließlich auf den vermeintlichen Innovationsgehalt (digitaler) textueller Daten konzentriert. Bedient sich die moderne Sozialwissenschaft der verschiedenen klassischen wie neuen Techniken, so besteht die Chance, sich noch einem derart heiklen Thema wie dem der Angst objektivierend zu nähern, dadurch verbreitete Gewissheiten zu hinterfragen und dabei die eigenen ideologischen Dispositionen – und Ängste – zu kontrollieren.

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Andreas Schmitz, Vert.-Prof., PD Dr.; vertritt die Professur für Methoden der empirischen Sozialforschung an der RWTH Aachen; Arbeitsschwerpunkte: Relationale Sozialtheorie; Relationale Methodologie. Jakob Horneber, Dipl.-Math., M.A.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn; Arbeitsschwerpunkte: Politische Soziologie, insbesondere Analyse gesellschaftlich-politischer Konflikte; (Politische) Repräsentationsforschung und relationale statistische Methoden.