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German Pages 384 Year 2015
Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.) Gattung und Geschichte
Literalität und Liminalität | Band 14
Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.)
Gattung und Geschichte Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie
Gedruckt mit Unterstützung des »Vereins der Freunde und Förderer der Universität zu Köln« und des »Zentrums für Moderneforschung« der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Gattung und Geschichte Zur Einleitung | 7 Claudia Liebrand / Oliver Kohns
I. G ATTUNGSTHEORIE Das Material der Gattung | 19 Martin Roussel
Das Drama als Form Anschauung, Dialog, Performance | 39 Lutz Ellrich
Die Auflösung des Dramas als Form des Sozialen (Peter Szondi, Gottfried Keller) | 57 Oliver Kohns
Gezeichnete Romane, gezeichnete Schauspiele, gezeichnete Gedichte. Der Comic und die literarischen Gattungen | 79 Monika Schmitz-Emans
II. G ATTUNGSGESCHICHTLICHE A SPEK TE Der Perspektivismus der Gattung Gattungstheorie und Diskursanalyse Wielands Aristipp und Tiecks Aufruhr in den Cevennen | 105 Ralf Simon
»ein gelobtes Land« Hölderlins Nüchternheit zu Ende gelesen (mit Benjamin, Adorno, Szondi, Agamben) | 127 Bart Philipsen
Das Ende der Kunst? Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin | 151 Achim Geisenhanslüke
Sakrale Ironie Zum Verhältnis von ›Gattung‹ und ›Stimmung‹ bei Sören Kierkegaard | 175 Angelika Jacobs
Zweckdichtung, zweckentfremdet Poetologische Dimensionen in Drostes Geistlichem Jahr | 205 Thomas Wortmann
Was bisher geschah Szondis Gattungstheorie und die epische Paradoxie des langen Dramas in Richard Wagners Rheingold | 229 Stefan Börnchen
Francesco Boncianis Novellenpoetik (1574) im deutschen Kontext Das Muster der novella bei Paul Ernst und Georg Heym | 261 Rolf Füllmann
III. M EDIENTHEORETISCHE P ERSPEK TIVEN Casino Royale Genre-Fragen und James-Bond-Filme | 293 Claudia Liebrand
Fantasy und Ritterroman – ein ›Sitz im Leben‹? | 313 Heiko Christians
Kristalle Gattung und Ausdruck in medientheoretischer Sicht | 333 Hanjo Berressem
»the bitch is back!« Alien 3 und die Wiederkehr des Weiblichen in den ›Männergenres‹ des Hollywoodfilms | 359 Asokan Nirmalarajah
Autorenverzeichnis | 379
Gattung und Geschichte Zur Einleitung
Die Beobachtung, die diesen Sammelband initiierte, war weniger ein neuer Trend, dem zu folgen wäre, ein neuer turn in welche Richtung und Wendung auch immer, sondern gerade im Gegenteil die Sorge darum, dass bei allen turns der letzten Jahre auch Entscheidendes und Interessantes aus dem Blickfeld geraten sein könnte. Die Beobachtung war kurzum, dass die Gattungstheorie kaum noch als ein relevantes und lebendiges Forschungsgebiet wahrgenommen wird, obwohl sie einmal im Fokus der Literaturwissenschaft stand. Natürlich gab es immer und gibt es weiterhin wichtige Forschung zu einzelnen Gattungen: zum Roman des 20. Jahrhunderts, zum postmodernen Drama, zur Lyrik der Nachkriegszeit – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die Reflexion über die Ordnung und Systematik der Gattungen jedoch – so die Ausgangsbeobachtung – steht nicht mehr im Fokus der Forschung und wird kaum noch in Veröffentlichungen dokumentiert. Auch ein Blick in aktuelle Einführungen in die Literaturwissenschaft belegt diesen Eindruck: Die Frage nach der Ordnung der Gattungen, also der Ableitung der Gattungsbegriffe aus einer wie auch immer gestalteten Systematik, wird meist schnell abgehandelt – und dann die überlieferte Trias von Epik, Dramatik und Lyrik besprochen, als wäre dies eine unproblematisch gegebene Dreifaltigkeit. Ausgespart bleibt die traditionsreiche Spannung zwischen Gattungssystematik und Gattungsgeschichte.1 Diese Spannung scheint verloren, sobald Gattungsfragen aufgelöst werden in Gattungsgeschichten von Einzelgattungen – dabei ist es kaum eine unfruchtbare Spannung gewesen. Nicht wenige theoretische Entwürfe, die noch heute für die Literaturwissenschaft inspirierend geblieben sind, beschäftigen sich zentral mit der Frage, inwiefern und auf welche Art und Weise anhand von geschichtsphilosophisch inspirierten Entwürfen von Modernität neue Perspektiven auf die Ord1| Vgl. Dieter Lamping: »Einführung: Literaturwissenschaftliche Gattungsforschung«. In: Ders. (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. XV-XXVI, hier S. XIX.
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nung der Gattungen und demzufolge auf Gattungstheorie überhaupt entwickelt werden können. In diesem Zusammenhang wären beispielsweise Georg Lukács’ Theorie des Romans, Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und auch Peter Szondis Theorie des modernen Dramas zu nennen. Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie Modernität als eine Irritation des Gattungsgefüges begreifen – und dass sie diese Irritation für Analysen fruchtbar machen, die möglich sind, weil sie Gattungen als Problem, als Frage begreifen und nicht als immer schon sicheres Wissen. Raffael: Allegorie der Poesie
Schon Raffaels Allegorie der Poesie, die zwischen 1509 und 1511 im Auftrag des Papstes Julius II. im Vatikan als Deckenfresko gemalt wurden, wirft die Frage der Gattungen auf. Angelegt ist diese Allegorie der Poesie offenkundig als eine Allegorie der Inspiration. »Numine« verkündet das Schild des (von der Poesie aus gesehen) rechten Engels, »Afflatur« dasjenige des linken Engels. »Numine afflatur« heißt soviel wie: vom Göttlichen angehaucht, vom göttlichen Wink behaucht, vom Hauch des Göttlichen angehaucht. Dichtung also als Verkörperung des göttlichen Winkens in der Gestalt des Angehauchtseins durch das Göttliche – das ist eine Aufnahme und Verbildlichung von den Passagen aus Platons Dialog Ion, in denen der
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Dichter als ein Wesen beschrieben wird, das durch das Göttliche enthusiasmiert, begeistert wird. So verkündet Platons Sokrates: »Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.«2 Raffaels Gemälde nimmt selbst die Flügel auf und hängt sie der Poesie an – wodurch sie mit den Engeln links und rechts neben ihr verwandt erscheint. Die Allegorie der Poesie ist zugleich eine Allegorie der Inspiration, der göttlichen Begeisterung, aus der allein die Poesie entstehen kann. Aber was geschieht – und damit ist die Frage der Gattungen wieder im Spiel – was geschieht, wenn die Inspiration, die »Anhauchung durch das Göttliche«, sich in verschiedenen Formen niederschlägt? Man kann ja unschwer die fast dreihundert Jahre später entwickelte Goethe’sche Gattungstrias in Raffaels Deckenfresko aus den Jahren 1509 bis 1511 wiederentdecken. In der linken Hand hält die »Poesie« eine Lyra, ein antikes Saiteninstrument also, aus dessen Name sich unser Begriff für Lyrik entwickelt hat. Unterhalb ihres linken Ellenbogens ist eine Maske zu endecken: ein recht deutlicher Verweis auf die dramatische Literatur. In der rechten Hand schließlich hält die Poesie ein recht dickes Buch, aufgestützt auf den rechten Oberschenkel und damit beträchtliches Gewicht andeutend. Wenn man die Utensilien der Lyra auf die Lyrik und die Maske auf das Drama bezieht, erscheint es naheliegend, das Buch auf epische Literatur zu beziehen. Daneben gibt es die Möglichkeit, das Buch als Symbol für die schriftliche Niederlegung der anderen beiden Gattungen, Lyrik und Dramatik also, zu verstehen, dann hätte man es nur mit der Darstellung von zwei Gattungen zu tun. Ob man allerdings von zwei Gattungen oder von – das sei zunächst durchgespielt – drei Gattungen ausgeht, die dargestellt werden: Auf jeden Fall ist die Allegorie der Poesie zugleich eine Allegorie der Unterteilung der Poesie in Gattungen. Der Umstand, dass die Poesie nun die Maske gewissermaßen hinter sich liegen hat, macht es möglich, die Anordnung der Gegenstände temporal zu sortieren und die Allegorie der Poesie nicht nur als Allegorie der Unterteilung der Poesie, sondern zugleich auch als eine Allegorie der geschichtsphilosophischen Interpretation von Gattungsbegriffen zu interpretieren. Die geschichtsphilosophische Interpretation hängt nun von der Richtung ab, in der man die Gegenstände liest: von links nach rechts ergibt sich die Folge Epik – Lyrik – Drama, von rechts nach links gelesen aber Drama – Lyrik – Epik. Der Betrachter von Raffaels Allegorie der Poesie verstrickt sich, mit anderen Worten, leicht in die gleichen Fragen, die auch Friedrich Schlegel in seinem Literary Notebook verfolgt hat. In zwei Notizen aus dem Jahr 1799 ordnet er die Geschichte der Gattungen einmal in der ersteren Reihenfolge (Epos – Lyrik – Drama) an, ein Jahr später 2| Platon: Ion. In: Ders.: Sämtliche Werke. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck neu hrsg. von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 65–82, hier S. 72f.
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dann in der zweiten Reihenfolge (Drama – Lyrik – Epos).3 Peter Szondi kommentiert die Unentschiedenheit Schlegels in seinen Vorlesungen »Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik«, indem er darauf verweist, dass die erste Anordnung (Epos – Lyrik – Drama) einerseits »pragmatisch-literaturhistorisch der Entwicklung der griechischen Poesie« folgt, »in der die Tragödie auf das Epos folgt (und nicht umgekehrt)«, zugleich »spekulativ der Hegelschen Ästhetik«. Die zweite Reihenfolge (Drama – Epos – Lyrik) dagegen sei »antiklassizistisch« (und daher Schlegel viel angemessener), weil »eine solche Höherstellung der epischen Dichtart zugleich deren moderne Erscheinungsform, den Roman, über die Tragödie stellte«.4 Welche Richtung Raffaels Bild nun nahelegen will, ist wohl kaum zu entscheiden. Es gibt allerdings noch die – oben erwähnte – Möglichkeit, das Buch in der rechten Hand der Poesie als Darstellung der verschriftlichten Form von Lyrik und Drama zu deuten, nicht als eigene Gattung also, sondern als eine Weiterverarbeitung der durch die Lyra und die Maske symbolisierten »Dichtungsarten«. Auch dies würde eine zeitliche Dimension in das Bild einfügen, und eine zusätzliche Frage aufwerfen: Was geschieht eigentlich mit dem göttlichen Hauch, der göttlichen Inspiration, wenn sie von der unmittelbaren Darbietung mit Lyra oder Maske abgetrennt zwischen zwei Buchdeckel gepreßt werden? So gesehen ist die Allegorie der Poesie auch eine Allegorie der Abtrennung des Literarischen von der Inspiration, aus der es hervorgeht. Der traurige Blick der Poesie – nachdenklich in den offenen Himmel gerichtet, von den Engeln abgewendet – scheint zu verraten, dass der Hauch des Göttlichen, in dem Moment, in dem er spürbar ist, schon eigentlich der Vergangenheit angehört. Das Bild erzählt in dieser Perspektive vom Übergang des Poetischen zum Prosaischen – und damit auch vom Problematischwerden der Gattungen in der Moderne. Diesem Problematischwerden der Gattungen in der Moderne, der Frage des Bezugsfeldes von Gattung und Geschichte gehen die Beiträge dieses Bandes mit unterschiedlichen Perspektivierungen nach. Martin Roussel eröffnet das Kapitel Gattungstheorie mit dem Artikel Das Material der Gattung. Das »Gesetz der Gattung« fordert, wie Roussel mit Blick auf Jacques Derrida beschreibt, eine Ethik der Reinheit, die Gattung konstituiert sich durch die Reinheit des Identischen. Zugleich aber zeigt sich als »Fluchtpunkt des Gattungsbegriffs«, dass der Begriff eine »Mischform« bezeichnet: Sobald Gattungen historisch beschrieben werden, können sie ihre Einheit nur noch durch die Vermischung von Verschiedenem behaupten. Die für das Gattungskonzept konstitutive Etholo-
3| Vgl. Peter Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. In: ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Hg. v. Wolfgang Fietkau. Frankfurt/Main 1974, S. 7–183, hier S. 133. 4| Ebd., S. 134.
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gie der Zerstreuung weiß Roussel sodann für die exemplarische Lektüre einiger Texte Robert Walsers fruchtbar zu machen. In seinem Beitrag Das Drama als Form – Anschauung, Dialog, Performance funktionalisiert Lutz Ellrich Gattungsmerkmale des Dramas, »um die Krise des Theaters zu analysieren und die umlaufenden Lösungsangebote zu beurteilen«. Nicht gefährdet sei das traditionelle Konzept der Gattung durch mediale Unterscheidungen: Andere Medien, Film, Video, Computersimulation, ließen sich durchaus in die Theaterpraxis, in das theatrale Gattungskonzept integrieren. Als gattungstheoretische Abgrenzungskriterien aus den umfangreichen Debatten über Wesen und Form des Theaters nimmt Ellrich den Wahrnehmungsaspekt, die die temporale Ausrichtung, die Ko-Präsenz von Betrachtern und Akteuren sowie das mit ihr verknüpfte Problem der Wissensdifferenz zwischen Zuschauern und Bühnenfiguren und schließlich das Phänomen der Zeugenschaft in den Blick: Der Zuschauer, dessen Rolle für die Bestimmung der Eigenart des Dramas entscheidend sei, werde im Theater zur Passivität verurteilt, könne nur Zeugnis vom Geschick der Figuren ablegen – eine Konfiguration, die noch zu lösende Fragen aufwerfe in Bezug auf das Verhältnis von Involviertheit und Distanz, Mehrwissen und Voyeurismus, Ästhetik und Ethik. In seinem Artikel Die Auflösung des Dramas als Form des Sozialen (Peter Szondi, Gottfried Keller) geht Oliver Kohns von Peter Szondis These einer Auflösung der Gattung des Dramas im 19. Jahrhundert aus. Eine Lektüre von Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe kann zeigen, dass diese Auflösung bereits in der zeitgenössischen Literatur diskursiviert wird. Die Umstellung vom Drama zur Novelle – lesbar in der Umbesetzung von Shakespeares Romeo and Juliet in Kellers Erzählung – macht die Gattung zugleich als die »Form des Sozialen« erkennbar. Monika Schmitz-Emans nimmt in ihrem Beitrag Gezeichnete Romane, gezeichnete Schauspiele, gezeichnete Gedichte. Der Comic und die literarischen Gattungen den ›Comic‹ als gattungstheoretischen Musterfall in den Blick, insofern die theoretischen und historischen Diskurse über den Comic (den cartoon, die bandes dessinées, den fumetto etc.) exemplarisch die Historizität, die Mobilität und Mutabilität von Gattungsbegriffen illustrieren sowie »den Umstand, dass bei der Entscheidung für eine von mehreren Optionen national- und kulturspezifische Sehweisen mit im Spiel sind und sich zwischen den Sprachräumen teilweise erhebliche Differenzen geltend machen«. Das sich die ›neunte Kunst‹, die die der Comic gelegentlich bezeichnet werde, von anderen literarischen Formen nicht trennscharf absetzen lasse, könnten Gattungsbestimmungen immer nur vorläufig vorgenommen werden. Schmitz-Emans grenzt den Comic von den ursprünglichen ›strip cartoons‹ aus den Zeitschriften um 1900 ab, ihr Interesse gilt der Expansion des Comics vom omic strip zur graphic novel, von denen einige als Meta-Comics gelesen werden könnten, die ihre eigenen ästhetischen und inhaltlichen Möglichkeiten herausstellten und ihre Gattungspoetik reflektierten.
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Ralf Simons Beitrag Der Perspektivismus der Gattung. Gattungstheorie und Diskursanalyse. Wielands Aristipp und Tiecks Aufruhr in den Cevennen eröffnet das Kapitel Gattungsgeschichtliche Aspekte. Simon erprobt an einem beliebten Sujet diskursanalytischer Literaturwissenschaft, dem Partisanenkampf, Konvergenzmöglichkeiten von Gattungstheorie und Diskursanalyse. In den Blick genommen wird Tiecks Aufruhr in den Cevennen (der Konfigurationen von Wielands Aristipp aufgreife und remodelliere). Das Erzählmodell des Tieck’schen Textes präsentiert sich als Fortsetzung eines der Kernmodelle aufklärerischen Erzählens, rekurriert auf die Form des polyphonen aufklärerischen Romans, transformiert diese aber – damit schreibt sich der Partisanenkampf gewissermaßen in die Poetologie des Aufruhrs in den Cevennen ein. Die implizite Gattungsfolie fungiert als ästhetisches Reflexionsmedium. Es ist der »Perspektivismus der Gattung, der einen Komplexitätsvorteil in aestheticis gegenüber den Systemen und Diskursen des Textes, sowie gegenüber seinen Repertoires und Handlungsplänen behauptet«. Bart Philipsen zieht in seinem Beitrag »ein gelobtes Land«. Hölderlins Nüchternheit zu Ende gelesen eine Verbindungslinie zwischen Friedrich Hölderlins Spätwerk und seinen ›spätesten Dichtung‹. Deutungen von Walter Benjamin, Peter Szondi, Theodor W. Adorno und Giorgio Agamben aufgreifend zeigt Philipsen, dass in Hölderlins spätesten Texten die moderne ›Nüchternheit‹ zu reflektierter Enttäuschung wird. Während es der modernistischen Poesie um die Auflösung des Ichs zugunsten des ›reinen Gedichts‹ gehe, halte Hölderlin mit seinem Ideal einer ›Blödigkeit‹, die die selbstgewählte Selbstentmachtung sei, am Verlangen nach einem eigenen Leben des Ichs fest. Die von der Blödigkeit betretene Sphäre der Nüchternheit in der spätesten Dichtung – so Philipsen – »enthält oder besser: ›performiert‹ (in ›unglücklichen‹, verunglückten, linkischen Sprechakten freilich) eine Wahrheit des Profan-Geschichtlichen, die eben keinem zusteht und sich nicht objektivieren bzw. verkörpern lässt«. Einem der wirkmächtigsten Texte der Gattungstheorie, Hegels Ästhetik, widmet sich Achim Geisenhanslüke in seinem Beitrag Das Ende der Kunst? Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin. Hegels – Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik verschränkendes – prominentes Diktum vom Ende der Kunst, so Geisenhanslükes These, mache den Blick frei auf eine Poetik der Moderne, die nicht durch Kontinuitäten, sondern durch Zäsuren gekennzeichnet sei, ermögliche mithin eine Einsicht in die Partikularität moderner Kunst, die gerade für die Literatur der Moderne als konstitutiv angesehen werden müsse. In dem Maße allerdings, »in dem Hegels einseitiger Blick auf die seiner Meinung nach vorbildliche Kunst der Antike an der Eigengesetzlichkeit der Poesie in der Moderne vorbeigeht«, erscheine »Hölderlins Poetik als ein Korrektiv, das die negative These vom Ende der Kunst erst produktiv werden lässt«. Erst Hölderlins Lyrik beziehe das eigene Zerbrechen an der Partikularität in die Reflexion mit ein und vollzieht sie an der Form des Gedichtes nach.
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Damit werde die These vom Ende der Kunst ernst genommen und dennoch der Einsatzpunkt für eine Poetik der Moderne markiert. Den für die Gattungstheorie seit langem – spätestens seit Wilhelm von Humboldt – zentralen Begriff der Stimmung behandelt Angelika Jacobs in ihrem Beitrag Sakrale Ironie. Zum Verhältnis von ›Gattung‹ und ›Stimmung‹ bei Sören Kierkegaard. In ihrer Lektüre zentraler Texte Kierkegaards kann Jacobs zeigen, wie Kierkegaard die Gattungen systematisch kreuzt, Gattungserwartungen stört und damit eine ironische Gattungspoetik entwirft. Thomas Wortmann geht in seinem Beitrag Zweckdichtung, zweckentfremdet. Poetologische Dimensionen in Drostes Geistlichem Jahr von der zu konstatierenden ›Überlebheit‹ der Gattung, des Genres der Perikopenlyrik bereits zu Drostes Zeiten aus (ist die Hochzeit der Perikopenzyklen doch im Barock anzusiedeln). In den Blick genommen werden die textuellen Verschiebungen, die Transformationen, die mit der Transponierung des überkommenen Genres Perikopenlyrik in die Moderne, in das 19. Jahrhundert verbunden sind. Zu diesen Verschiebungen gehöre die ›Zweckentfremdung‹ der Zweckdichtung im Geistlichen Jahr. Eingeschrieben sei der Zweckdichtung Perikopenlyrik eine poetologische Dimension, die Frage nach der Textproduktion selbst, nach der Legitimation des Schreibens, nach der schriftstellerischen Produktion: So werde aus dem ›frommen Andachtsbuch zum Hausgebrauch‹ ein »ambitioniertes literarisches Großprojekt, ein Versuchsfeld der eigenen Kreativität, dem die Frage nach der Angemessenheit solcher Beschäftigung stets eingeschrieben ist«. Stefan Börnchens Artikel Was bisher geschah. Szondis Gattungstheorie und die epische Paradoxie des langen Dramas in Richard Wagners Rheingold diagnostiziert als dramaturgisches Problem des Musikdramas Rheingold eines, das auch in Szondis Dramentheorie zentral verhandelt werde – den Konflikt zwischen der Unmittelbarkeit der dramatischen Bühnenhandlung und der epischen Tiefe vergangener Handlungselemente. Wagner reagiere, so Börnchen, auf dieses Problem mit der Form-Innovation des musikalischen Leitmotivs und mit dem dramaturgischen Kunstgriff von Vergegenwärtigungsszenen (in denen sich die handelnden Figuren noch einmal das erzählen, was bereits passiert ist). Gesetzt werde also auf eine rekursive Struktur, die sowohl für den diegetischen Inhalt, als auch für die dramatische und musikalische Form des gesamten Rings konstitutiv sei – wobei die vollkommene epische Präsenz im dramatischen Augenblick die völlige Dissemination aller Bedeutung nach sich ziehe. Beim Rheingold lasse sich gattungstheoretisch von einer ›epischen Paradoxie des langen Dramas‹ sprechen. In seinem Beitrag Francesco Boncianis Novellenpoetik (1574) im deutschen Kontext. Das Muster der novella bei Paul Ernst und Georg Heym rekonstruiert Rolf Füllmann zunächst die in Boncianis Lezione sopra il comporre delle novelle enworfene Novellentheorie, um in einem zweiten Schritt die Adaption der novella bei Ernst und Heym in den Blick
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zu nehmen. Boncianis Bestimmung der Novelle, so Füllmanns Ergebnis, ähnele in zahlreichen Punkten der von deutschen Novellentheoretikern vorgenommenen (Decamerone als Modell der Gattung, Bildhaftigkeit der Novelle, relative Kürze und Klarheit, Nähe zum Drama etc.). In seinem Aufgreifen des Musters der novella sei es Paul Ernst darum gegangen, die nichtklassische niedere Gattung neuklassisch zu nobilitieren, einen Gegenentwurf zur modernen Literaturwelt zu schaffen. Heym dagegen rekurriere auf die novella, um sie durch die Darstellung grotesk pervertierter Emotionen zu destruieren. Damit greife Heym allerdings etwas auf, was in der Gattung bereits angelegt sei: die Destruktion einer Erzählung durch eine andere. Claudia Liebrands Beitrag Casino Royale. Genre-Fragen und JamesBond-Filme eröffnet das Kapitel Medientheoretische Perspektiven. Als Verfilmung des ersten, gleichnamigen Bond-Romans Ian Flemings von 1953 handelt es sich bei Martin Campbells Spionageabenteuer, das 2006 von der internationalen Kritik als fulminante Revitalisierung des James-BondFilms gefeiert wurde, um ein Prequel – ein populäres Phänomen in der zeitgenössischen Kinolandschaft, bei dem nicht die Handlung eines Vorgängerfilms wieder aufgegriffen wird, sondern die Vorgeschichte zum Bezugsfilm, (in diesem Fall) zu der Bezugsfilmreihe erzählt wird. Casino Royale fungiert somit als origin story einer bereits populären medialen Kultfigur, als die ›Geburtsgeschichte‹ von James Bond. Liebrand nimmt den Prequel-Status des Films zum Ausgangspunkt für eine genretheoretische Beschäftigung mit den komplexen Genreverhandlungen, die der Film (nicht nur) in Bezug zu seiner bekannten Filmserie inszeniert. Das Prequel zur Bond-series inszeniere die Genese, die Geburt des Agentenfilms aus dem male melo; das Prequel erzähle mithin eine Genre-Gründungsgeschichte. In seinem Beitrag Fantasy und Ritterroman – ein ›Sitz im Leben‹? geht Heiko Christians der Frage nach dem ›Ort‹ der Gattung im Leben, nach dem Wechselspiel von Literatur und Leben überhaupt nach. Im Fokus der angestellten Überlegungen stehen die vom Ritterroman zur Verfügung gestellten Muster, die – eingewandert in die Fantasy-Romane (etwa John Ronald Reuel Tolkiens Der Herr der Ringe von 1955) – bis heute breit rezipiert würden. Zum Problem werde das Sich-Versenken in diese fiktiven Welten, wenn Leser, Zuschauer oder Nutzer von ›Fantasy‹ die fiktiven Verhältnisse in den Alltag »einschreiben« wollten – etwa durch Amokäufe, halte der Ritter- und der Fantasy-Roman doch das »Muster« bereit, das vom Amokläufer aufgegriffen werden könne (mit Blut dafür zu zahlen, wenn man mit seinem Namen in den Kampf ziehe). Die »Welten des Amok« und die »Welten der Unterhaltung« seien also durchmischt: »Die Durchmischung ist unablässig am Werk und in ihrer Anteiligkeit, in ihrer Reihenfolge oder gar in ihrer Kausalität niemals zu durchschauen.« Hanjo Berressem fragt in seinem Beitrag Kristalle. Gattung und Ausdruck in medientheoretischer Sicht, wie weit der Begriff der Gattung über die Künste hinausreicht und wie sich der Gattungsbegriff zur
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Problematik des künstlerischen Ausdrucks verhält. Um diese Fragen zu klären, ersetzt er in einem ersten Schritt die der Gattungstheorie gängige Binnendifferenzierung von Form – Inhalt durch die Differenzierung Form – Medium, in einem zweiten Schritt exemplifiziert er diese Ersetzung an Werner Herzogs Film Fitzcarraldo. Herzogs Film entziehe sich jeder Kategorisierung, er verwiese auf nichts anderes als eine ursprüngliche affektive Multiplizität, gehöre zu den Filmen, die als ›Eigenfilme‹ zu begreifen seien. Beschrieben werden könne Fitzcarraldo, ein einzigartiger ›Kristall‹, als Virtualisierung eines realen Ereignisses (des Transportes eines Schiffes über einen Berg), die Logik, der der Film folge, sei die der Ökologie des Drehortes. Mit Deleuze spricht Berressem deshalb von einem ›kristallinen Kino‹, das in zu viele Richtungen dränge, um es zu ›genre-alisieren‹. Asokan Nirmalarajahs Beitrag »the bitch is back!« Alien3 und die Wiederkehr des Weiblichen in den ›Männergenres‹ des Hollywoodfilms thematisiert schließlich auf eine produktive Art und Weise die Verbindung von genre und gender. Die Protagonistin Lt. Ellen Ripley als weibliche Hauptfigur im männlich codierten Genre des Horrorfilms macht konstitutive Genre-Regeln sichtbar und zeigt ihre Verunsicherung. Nirmalarajah gelingt es zu beweisen, dass sowohl Genre als auch Gender in Alien3 als »dynamische Bedeutungskontexte« interpretiert werden müssen. Die Herausgeber danken sowohl dem Verein der Freunde und Förderer der Universität zu Köln wie auch dem Zentrum für Moderneforschung der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln für den gewährten Druckkostenzuschuss. Köln / Luxemburg im März 2012 Claudia Liebrand und Oliver Kohns
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I. Gattungstheorie
Das Material der Gattung Martin Roussel
Über den eigentlichen Inhalt weiß ich hier nichts zu sagen, als daß […] das Buch […] mit Absicht nichts verschweigt, was in den notwendigen Kreis seines Stoffes gehört. Stoff und Form aber will ich hiermit bescheidenst dem ungewissen Stern jedes ersten Versuches anheimstellen. Berlin 1853 Der Verfasser (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
I. Was bedeutet es, ›Material‹ als »ästhetische Kategorie«1 zu begreifen? Erstens sich auf die Nichtform oder die Abgründe und Ursprünglichkeit des Gestalteten einzulassen, und zweitens eine Art Emergenz, Impliziertheit der Form und ihres unvermittelten Auftauchens aus der Leere des Diskurses im Material zu beschreiben.2 Was aber kann ›Material‹ im 1| Also »Material nicht nur als technische Gegebenheit hinzunehmen, sondern als ästhetische Kategorie zu bewerten« (Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2002, S. 12). 2| In der historisch-systematischen Grundproblematik folge ich der spekulativen Analyse in Hegels Ästhetik, nämlich »daß die Kunst, indem ihre Gebilde jetzt in die sinnliche Realität herauszutreten die Bestimmung erhalten, dadurch nun auch für die Sinne sei, […], d.i. [die Sinne] sich auf das Materielle, das Außereinander und in sich Vielfache beziehen«. Problematisch er scheint mir aus Gründen der Insistenz des Konkreten Hegels dialektische Über legung, dass die »echte Einteilung [der Künste] aber […] nur aus der Natur des Kunstwerks, welche in der Totalität der Gattungen die Totalität der in ihrem ei-
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Ästhetischen meinen, wenn die Synthesisleistung im Akt der Wahrnehmung mit ursprünglich ist? Ich bin hiermit bei meinem Thema angekommen: dem Material und der Frage, ob es eine Bestimmung der ›rohen Ungestaltetheit‹ zur Form und damit zu gattungsmäßigen Regeln, Verbindungen und Normierungen gibt, also eine Art ›Prädestination‹, und noch konkreter, auf den Fall der Literatur bezogen: Gibt es ein Schreiben aus sich heraus »in die Bestimmtheit«?3 Ob es ein Material der Gattung gibt, muss als fraglich gelten, denn das Wort wie der Begriff ›Gattung‹ meint das Zusammengefügte, das aus per se Unterschiedenem unter Formaspekten neu Verbundene, keine Erfassung dessen, insofern es ist (und nicht vielmehr nichts), sondern insofern es anders zu begreifen ist.4 Es gibt also kein Material der Gattung, es sei denn, man spräche – wie Hegel es vom Licht als Medium, das sichtbar macht, sagt – metaphorisch von einem »immaterielle[n] Material«.5 Eine Gattung bezeichnet, wie oder dass, was von ›Natur‹ aus getrennt ist, doch zusammenfindet. Zwischen den beiden Möglichkeiten, dass dieser ›Begattungsvorgang‹ eine Genealogie der Natur zu denken erlaubt, indem er dem, was von Natur aus für sich ist, eine Fortpflanzung ermöglicht, also die Natur sich im Gattungsdenken selbst transzendiert, und (dies die andere Möglichkeit) Gattungsbegriffe lediglich heuristische Kategorien sind, die der Gegenständlichkeit, auf die sie bezogen sind, rein äußerlich bleiben. Zwischen essentialistischen Gattungsbegriffen und deren Ausleerung bis hin zu regulativen Leitkategorien oder bloßen Handlungsschemata, um Materialmengen in medialen Vermittlungsprozessen handhabbar zu machen, hat die Gattungstheorie der letzten 200 Jahre
genen Begriff liegenden Seiten und Momente expliziert, hergenommen werden« könne (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos [1842] redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bas senge. Bd. 2. Frank furt/Main [1965], S. 14). 3| Hiermit wiederum bin ich sehr konkret bei meinem kommendem Thema, der Literatur Robert Walsers, der in seinem Prosastück Bleistiftskizze (1926/27) eine Art ›Abschreibesystem‹ beschreibt, bei dem das Schreiben »in die Bestimmtheit« den ›Prädestinationen‹ der ›Vorschrift‹ (in dem Fall Walsers ›mikrographische‹ Winzigstschrift, die in der Tat mehr Material als Form der Schrift zu sein scheint) folgt: »Falls ich nun noch von mir selbst etwas vorbringen darf, so berichte ich, wie mir einfiel, meine Prosa jeweilen zuerst mit Bleistift aufs Papier zu tragen, bevor ich sie mit der Feder so sauber wie möglich in die Bestimmtheit hineinschrieb« (Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelbänden. Hg. v. Jochen Greven. Zürich, Frank furt/Main 1986, Bd. 19, S. 119–122, hier S. 121). 4| »Gattung f. (< 15. Jh.). Spmhd. gatunge, mdnl. gadinge, Abstraktum zu gat ten ›zusammenfügen‹, also ›Zusammengefügtes, Zusammengehöriges‹« (Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 23., erw. Aufl. Berlin/New York 1999, S. 301). 5| Hegel: Ästhetik, Bd. 2, S. 315.
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das Begriffsspektrum entfaltet.6 Diese Verschiebungen in der Theoriebildung hat Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas überzeugend auf die Historisierung des Form-Begriffs seit Hegel zurückgeführt: Von Aristoteles bis Schiller war der Stoff ein Vehikel zur Form;7 erst die Forderung nach Entsprechung führt demnach zur gattungsbegrifflichen Auseinanderentwicklung und zu ihrer »Vertreibung aus der Ästhetik« sowie andererseits ihrer Übersetzung bzw. Verankerung »in verschiedenen Seinsweisen des Menschen.«8 Virulent wird somit in der Kategorie des Geschichtlichen eine Widerständigkeit bzw. Eigendynamik des Materials. An diese gleichsam ›matrikale‹ Analyse schließe ich an: zum Einen systematisch, wie es in meinem Titel aufscheint, zum anderen historisch, was die Wahl meiner Anwendungsbeispiele betrifft. Diagnostiziert man in historischer Linie, dass die ontologische Relevanz von Gattungszuschreibungen abnimmt, dann liegt es nah, mit
6| Vgl. zu den Hauptlinien Wilhelm Voßkamp: Gattungen. In: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 253–269. – Vom »Problem der Präskriptivität oder Deskriptivität der Gattungen« spricht Klaus W. Hempfer in seinem Artikel »Gat tungen« (in: Klaus Weimar [Hg.]: Reallexikon der deutschen Literatur wis senschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 651–654, hier S. 653). Exemplarisch ließe sich das Feld zwischen Goethes »nur drey ächte[n] Natur formen der Poesie« (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche [Frankfurter Ausgabe]. Bd. 3,1: West-östlicher Divan. Hg. v. Hendrik Birus. Frankfurt/Main 1994, S. 206) und einem Nominalismus Benedetto Croces bis hin zu Hempfers eigenem, wenig mit Literaturgeschichten vermittelbarem Versuch rational-logischer Begriffsbestimmung (vgl. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973), umreißen. Anthropologische Paradigmen wie bei Emil Staiger nehmen hieran gemessen eine mittlere Position ein, wenngleich um den Preis, im Werk humanistisches Stimmungsgut oder ent sprechende Grundphänomene zu hypostasieren, die in ihrer Wirkung auf den Menschen das Werk in seiner Eindrücklichkeit und in seinem Ausdruck konstituieren (vgl. schon Goethes Bemerkung: »Diese drey Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken«; wie oben). Voßkamp bemerkt hierzu kritisch: »Im Unterschied zu gattungstriadischen Modellen im 20. Jahrhundert (vgl. Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik) bleibt in der idealistischen Kunsttheorie […] das Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der Gattungen präsent« (Voßkamp: Gattungen, S. 255). Voßkamps am Beispiel des Bildungsromans argumentierte These, dass das Spannungsgefüge der Gattung ein sozialhistorisch belegbares »Analogon« (S. 265) habe, nähert den Gattungsbegriff dem Genrebegriff an, insofern die literarische Typenbildung selbst nicht in Spannung zum Historischen per se gesehen wird, sondern als historisches Implikat auftritt. 7| Für das ›Material‹ im ästhetischen Diskurs bedeutet das: »An seiner ›Ver nichtung‹ (Schiller), ›Aufhebung‹ (Hegel) oder ›Immaterialisierung‹ (Lyotard) durch die Form mißt sich bis heute das, was allgemein als Kunst gilt« (Wagner: Das Material der Kunst, S. 11). 8| Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. In: Ders.: Schriften I. Frank furt/Main 1978, S. 9–148, hier S. 12 (mit Bezug auf Benedetto Croce und Emil Staiger).
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einem Begriff Harold Blooms, die ›Kenosis‹,9 Entleerung, des Begriffsinventars traditioneller Gattungstheorie an einen Verlust der Verbindlichkeit normativer Poetiken gebunden zu sehen.10 Etwas komplexer sieht die Argumentation bei einer anthropologischen Fundierung des Gattungsparadigmas aus, wie man sie schon in der Goethezeit ansetzen kann, wie sie aber auf jeden Fall Emil Staiger versucht hat. Hier hängen Definitheit und Konstanz von Gattungsbegriffen am Zuschnitt des ›Menschseins‹ und oszillieren gleichsam zwischen ›Grundbefindlichkeiten‹ im Sinne von: ›zu allen Zeiten gleich‹ und subjektiv-situativer Willkür respektive Heuristik. Das Ziel meiner Überlegungen ist nun ein doppeltes: einerseits eine Bündelung der Probleme des Gattungsbegriffes, andererseits eine Entfaltung des jedem operativ angewendeten Gattungsbegriffes inhärenten Spannungsgefüges aus kategorialem oder allgemeinem Gattungsfeld, dessen Überschreitung des Konkreten seinem Begriff nach gemeint ist, und einem Anwendungsbeispiel, dessen idiomatische Züge im Sinne eines exemplarischen Zugriffs in die Logik des Gattungsbegriffes eingebracht werden sollen. Meine flüchtigen Überlegungen intendieren also eine Erörterung der Verschränkung von Kategorie und Idiom, von Gattung und Werk, von Form und Sinn, von Allgemeinem und Besonderem. Ausgehend von den oben skizzierten Problemstellungen genügt für die Rahmensetzungen keine Teil-Ganzes- oder zirkuläre Kontext9| Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens. Aus dem Englischen von Isabella Mayr. Frankfurt/Main 1997. Vgl. besonders S. 129f., wo von einer ›Zer stückelung‹ der ans Normative gebundenen »Totalität« in »diskontinuierliche Fragmente« die Rede ist. 10| Entsprechend ist seit den 1970er Jahren ein abnehmendes Interesse an ›Gattungstheorie‹ zu konstatieren (man vgl. die entsprechenden Literatur ver zeichnisse im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft von 1997). Partiell an diese Stelle tritt eine Theoretisierung einzelner Gat tungen – ein Diskussionsstand, dem etwa das Fischer Lexikon Literatur Rechnung trägt, indem es Gattungsfragen dem ungleich ›formaleren‹ Formbegriff zuordnet und das eigentliche Gattungsfeld in Einzelartikeln bearbeitet (hg. v. Ulfert Ricklefs. 3 Bde. Frankfurt/Main 2002). Vgl. den Ar tikel »Form/ Struktur/Gattung« von Gottfried Willems, S. 680–703, sowie die zahlreichen Lemmata unter »Gattungen« in der Artikelübersicht, wo genau dieser systematische Artikel nicht aufgelistet ist. Wichtig ist Willems’ Hinweis, dass Gattungsnormen für ›Literatur‹ kaum mehr eine Rolle spielen, während »die Einhaltung bestimmter Regeln bei Genres« »der Unterhaltungsliteratur« von großer Bedeutung ist; S. 702). – Während Wolfgang Kayser in seinem Sprachlichen Kunstwerk zwar auch die klassische Gat tungstrias zugrundelegt, diese aber in einem Set aus Reflexionstermini zwischen ›Stil‹, ›Haltung‹, ›Gefüge‹, ›Form‹ und ›Struktur‹ zu dynamisieren versucht (Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948]. 15. Aufl. Bern/München 1971), zeigen neuere Einführungen zumeist wenig Interesse an gat tungs systematischer Reflexion, sondern orientieren sich grosso modo an Merkmalsmatrizen jeweils einer der drei als in der Regel in didaktischer Hinsicht vorausgesetzten Gattungen Lyrik, Epik und Dramatik (vgl. etwa Jochen Vogts bündige: Einladung zur Literaturwissenschaft. 5. Aufl. Paderborn 2002).
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Hermeneutik. Denn ich gehe – in heuristischer Zuspitzung – aus von der Unvereinbarkeit von essentialistischem Gattungsverständnis, das als normatives Postulat eine Einheit von Form und Inhalt, von Gattung und Werk im Einzelfall behauptet, und einer Gattungsheuristik, die der Gattungsterminologie zwar einen Erkenntnisgewinn zuspricht, ohne jedoch ein substanzielles Korrelat anzunehmen. Meine Frage ist, ganz konkret, eine wiederum doppelte: 1. Gibt es ein Gesetz der Gattung, das ihre Überschreitung vom Gesetz zur Anschauung, vom Formalen zur Anwendung reguliert? Und 2. Gibt es Material, das von sich her, gewissermaßen wie eine Gebärmutter, Matrize oder wie eine Stanze als Vorlage für die Form der Gattung dienen kann? Zwischen diesen zwei Fragen verorte ich das, was ich mehr aporetisch als paradox ›das Material der Gattung‹ nenne. In der Konkretisierung dieser beiden Fragehinsichten will ich im Folgenden zunächst mein eigenes Erkenntnisinteresse, gewissermaßen die Genealogie meiner eigenen Gedanken transparent machen. Mit der Frage nach dem »Gesetz der Gattung« zitiere ich einen Aufsatz von Jacques Derrida, dessen wiederholte Lektüre es mir im Folgenden gestatten soll, einige Schlussfolgerungen zu ziehen, von denen ich meine, dass sie von Derrida nahegelegt, ohne ausdrücklich gezogen zu werden. Während ich derart an einen theoretischen Diskurs anschließe, gibt es parallel hierzu ein ganz konkretes und gemäß seiner metaphorischen Diktion wie gestischen Artikuliertheit singuläres Beispiel, aus dessen Lektüre ich einen Formbegriff von Material entnehme oder, um es anders zu sagen: die Formalisierung des Materials. Und um diese Wendung, »die Formalisierung des Materials«, argumentativ zu verwenden, ließe sich hinzusetzen: zum Zweck einer literarischen Schöpfung, die ihre Schöpfungskräfte materialiter benennt und deren eigene Formungskräfte die Figur einer Einlassung aufs Material beschreiben, eines Entzugs von Form, eines Verzichts auf Formgeste, gewissermaßen – um bereits seiner formalen Ambitioniertheit nach in diesen Diskurs einzusteigen und seine formalisierte Metaphorik in ihrer Gewandung aufzugreifen – ein höfliches Ausweichen, dessen Umständlichkeit bereits die eigentlich literarische Haltung ausmacht: eine Literatur der Höflichkeit und des Umstandes.11 Ich beziehe mich auf die Literatur des Schweizers Robert Walser, jenes lange und noch zu Lebzeiten nahezu entschwundenen Autors, über den Robert Musil schrieb, dass Franz Kafka lediglich wie »ein Spezialfall des Typus Walser« erscheine.12
11| Vgl. zu diesem Entzug der Form als genuine Haltung des Schreibens (mit Schwerpunkt auf dem Spätwerk Walsers) Martin Roussel: Matrikel. Zur Haltung des Schreibens in Robert Walsers Mikrographie. Frankfurt/Main/Basel 2009, hier besonders Kap. 1: Revue der Matrikel. 12| Robert Musil: Franz Kafka. In: Ders.: Gesammelte Werke II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 1468f., hier S. 1468.
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Doch seien diese Art von Genealogien und Biographien hier beiseitegelassen. Aus Robert Walsers recht umfänglichem Werk interessiert mich eine ›Gattung‹, die Walser selbst verschiedentlich und durchaus unterschiedlich bezeichnet hat, am Bekanntesten, wohl weil am Eingängigsten, ist ein recht unspezifisches Wort: ›Prosastücke‹. Jetzt könnte man alles Mögliche, was ein Stück Text ist und dazu noch Merkmale von ›Erzählung‹ aufweist, ein ›Prosastück‹ nennen, doch verwendet Walser selbst es so, als handle es sich um einen Formbegriff oder eine programmatische Festlegung. Das Programm dieser Festlegung liefert dieser selbsternannte »Prosastücklischreiber« (Sie hören den Schweizer im Idiom durch die Literatur hindurch sprechen) allenfalls en passant, niemals aber in dem was man seiner Gattung nach ›Theorie‹ nennen könnte.13 Unter diesen Prosastücken Walsers greife ich eines heraus, dessen bemerkenswerten Titel ich zunächst nicht weiter kommentieren will; es heißt: Drei Geschichten, nach Buchdeckeln erzählt, die im Schaufenster einer Vorstadt-Buchhandlung zu sehen waren und wurde im November 1925 in der Literarischen Welt publiziert. (Die sorgsame Auswahl oder Erfindung dieser drei Geschichten lässt darauf schließen, dass Walser pointiert sein Verständnis der ›literarischen Welt‹ zeigen wollte: Es geht um die Peitsche einer Polin, das amerikanische Unterrichtssystem und um eine Prinzessin und ihren Stallknecht.)
II. In diese Kreuzung aus Theorie und Literatur sowie Form und Material steige ich also über die Theorie ein. Zwischen Norm und Deskription, zwischen Imperativ und Modalität liegt das historische Feld der Gattungstheorie in den letzten 200 Jahren. Doch eingedenk der Implikationen dessen, was die Mischung von Norm und Deskription selbst angeht, lässt sich hierin ein systematisches Problem, eine konstitutive Aporie des Gattungsbegriffs ausmachen. Ich zitiere eine Passage aus Jacques Derridas Aufsatz »Das Gesetz der Gattung«, das eben diese Spannung auf eine fundamentalere zurückbeugt, die zugleich und parallel zur Unterscheidung von Norm und Deskription implizit die von Wissen und Handeln, von Episteme und Ethologie einschleust, also die Frage stellt: Gattungen anwenden?
13| Vgl. zu einer Poetik von Walsers Prosastücken am Beispiel des Prosastücks (1928/29) in seinen verschiedenen Materialstufen und seinen rhetorischen Strategien der Formgebung aus den Diktionen des Materials heraus Wolfram Groddeck: »Weiß das Blatt, wie schön es ist?« Prosastück, Schriftbild und Poesie bei Robert Walser. In: Text: kritische Beiträge 3 [1997]: Entzifferung, S. 25–43. – Eine kleine Buchveröf fentlichung Walsers aus dem Jahr 1916 im Verlag Rascher trägt den Titel Prosastücke.
D AS M ATERIAL DER G ATTUNG Aber das ganze Rätsel der Gattung liegt vielleicht in nächster Nähe jener Teilung zwischen den beiden Gattungen der Gattung [also der Gattung als Norm und der Gattung als neutrales Verfahren], die weder trennbar noch untrennbar sind, die ein ungewöhnliches Paar der einen ohne die andere bilden, wobei jede regelmäßig in der Figur der anderen herbeizitiert wird, und gleichzeitig und ununterscheidbar ›ich‹ und ›wir‹ sagt (ich, die Gattung, wir, die Gattungen), ohne daß man dabei stehenbleiben könnte zu denken, daß das ›ich‹ eine Art (espèce) der Gattung ›wir‹ ist.14
In der Frage nach den beiden Gattungen der Gattung, nach Norm und Deskription mischt sich die Frage nach dem Ort des Sprechens, nach seinen Distinktionen, Intentionen und Implikationen. »Denn«, so fährt Derrida fort, wer wird uns davon überzeugen, daß wir, wir beide zum Beispiel, eine Gattung bilden oder ihr angehören? Sobald eine Gattung sich ankündigt, muß man deshalb eine Norm respektieren, man darf eine bestimmte Grenzlinie nicht überschreiten […]. Wenn eine Gattung ist, was sie ist, oder wenn sie das sein soll (doit etre [sic!]), was sie in ihrem telos zu sein bestimmt ist, […] dann darf man nicht (ne doit pas) die Gattungen vermischen, man ist es sich schuldig (se doit de ne pas), nicht die Gattungen zu vermischen.15
Um im Beispiel von ›ich‹ und ›wir‹ zu bleiben (das, wohlgemerkt, hier kein Beispiel unter anderen ist, sondern ein Beispiel par exemple): Als ›ich‹ ›wir‹ zu sagen, bedeutete schon, die Gattungen zu vermischen, die Norm zu missachten, denn indem ›ich‹ in den Plural drängt, geht es aus sich heraus, macht sich gleichsam an der Gattung ›ich‹ ›schuldig‹. Wenn es also eine Gattung des ›ich‹ gäbe, so dass ›ich‹ nicht nur für mich spräche, sondern für uns, dann würde die Norm der Gattung in der Neutralität ihres Verfahrens diese Norm verletzen. Sobald also, durch welchen Zufall oder durch welche Absicht auch immer, sich eine Überschreitung zur Gattung hin ergibt, wird Identität preisgegeben, und, umgekehrt, erscheint die Identität des Einzelnen als durch ihre Übertretung vermittelt: »[S]o resultiert daraus«, schreibt Derrida, »zwangsläufig eine Bestätigung der wesentlichen Reinheit ihrer Identität, da man dann ja von ›Vermischung‹ spricht.«16 Nichts anderes wäre die Gattung als eine ›Vermischung‹, die eine ›Reinheit‹ avant le genre affirmiert. Es gibt keine Norm ohne Einzelfall, der diese Norm verkörperte, und keinen Einzelfall ohne die Norm, die ihn als exemplarisch bestätigte, keine Präskription ohne das, was sich in dieser Skription als vorhergehend setzt, keine Deskription, die ihre Neutralität nicht erst behauptet hätte, keine Vorschrift ohne Einschreibung des nicht Vorgeschriebenen. ›Reinheit‹ als Forderung oder Implikat des 14| Jacques Derrida: Das Gesetz der Gattung. In: Ders.: Gestade. Aus dem Französischen von Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt. Wien 1994, S. 245–283, 294f., hier S. 249. 15| Ebd. 16| Ebd.
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Gesetzes der Gattung steht im Zentrum der Sache der Gattung: im Sinne entweder eines Vorbildes (das präskriptiv wirkt und deshalb selbst nur deskriptiv zu erfahren ist) oder im Sinne reiner Normativität ohne Anwendungsfall. Das Gesetz, um nicht bei sich stehenzubleiben (also kein Gesetz mehr zu sein, sondern nur ein Fall: der Fall seiner selbst), zitiert also die Reinheit eines Falles, eines Beispiels und Falles, um ihn auf die Allgemeinheit der Gesetzförmigkeit hin übertreten zu können; während der Einzelfall, um erfahrbar zu sein, sich vermischt, um sich in der Mischung zu scheiden. »Das Gesetz und das Gegen-Gesetz zitieren sich gegenseitig herbei«,17 und in dieser Rückkopplung von Zitation und ReZitation ereignet sich die Sache der Gattung. Ich breche an dieser Stelle meine Lektüre von Derridas »Gesetz der Gattung« ab, dessen idiomatische Wendungen und allgemeine Grenzen noch so manche andere Einlassung auf Literatur erlaubten. Stattdessen erlaube ich mir noch einmal eine doppelte Frage: 1. Was ist im Grunde, am Grund seiner Existenz, die Sache der Gattung, wenn ihre Verunreinigung, die Vermischung ihre ›Sache‹ ist? Was, um es anders zu wenden und die idiomatische Sprache Derridas in der Frage eines Gesetzes herbeizuzitieren, was tritt als Korrelat zum Begriff der Gattung in seine Abgründigkeit, in seinen Grund: Qu’est ce que se passe au fond du genre? – 2. Was ist dasjenige, was, sobald man von ›Gattung‹ spricht, als ›Reinheit‹ unvermischt ›übrig‹ bleibt: Qu’est ce que se passe au bord de l’ensemble? Worauf ich mit diesen beiden Fragen, nach dem, was passiert, was vorbeigeht (se passe),18 abziele, ist ein Fluchtpunkt des Gattungsbegriffes, der gewissermaßen ein exemplarischer Begriff ist, weil er den Begriff als Mischform begreifen lässt. Sein Korrelat ist historisch betrachtet die Geschichte, ethologisch die Kontingenz und theoretisch das Material. Wie ›Gattung‹ im Unterschied zu ›Genre‹ keine historische Kategorie meint, betrifft die Geschichte einer Gattung ihre Übertretung in sich selbst; sie kontaminiert sich in Abweichungen, die das Gesetz durch Zitation bestätigen, indem sie es verfehlen: Gattungen in ihrer Geschichte öffnen sich der Kontingenz – mehr noch: Sie eröffnen einen Raum des Historischen, der von Kontingenz als Gegen-Gesetz gezeichnet ist. Was aber anderes wäre das begrifflich unerreichte Substrat dieses Gegen-Gesetzes wenn nicht das Ungeformte per se? Am Grund einer Gattungstheorie tritt das Material als Fluchtpunkt all dessen in Erscheinung, was sich dem Gesetz entzieht oder auf das sich das Gesetz beziehen kann. Ich will diese mit Notwendigkeit viel zu allgemeinen Überlegungen noch auf eine weitere ihr implizite Grundhaltung hin transparent machen, bevor ich mich dem Material der Gattung (wörtlich gemeint) widme, indem ich geradewegs den umgekehrten Weg wähle, nicht die Gattung 17| Ebd., S. 251. 18| Und wäre angesichts der anthropologisch-genealogischen Relevanz des Gattungsparadigmas nicht eher zu fragen (als einzige und erste Frage der Gattung): Qu’estce qui se passe?
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auf das Material hin zu durchleuchten, sondern das Material als Gattung zu analysieren. Meine Randüberlegung betrifft zugegebenermaßen wiederum selbst sehr komplexe und weitreichende Konzepte und Begrifflichkeiten der abendländischen Diskussionen über Kunst, über Literatur und Ästhetik: ›Nachahmung‹, ›Bildung‹, ›Erhabenheit‹ und ›Schönheit‹. Deshalb will ich auch gar nicht erst versuchen, diese Begriffe zu definieren, sondern in der Anbindung des Gattungsparadigmas an diese zentralen Leitbegriffe eine historische Perspektivierung der Kontingenz des Materials der Gattung noch einmal schlüssig konturieren. Ich beziehe mich hierzu auf das Ende eines Textes von Karl Philipp Moritz von 1788: »Über die bildende Nachahmung des Schönen«. Dort ist als Vision eines kommenden Zeitalters, das mit dem Augenblick der Selbsterkenntnis zusammenfiele,19 angekündigt: Die Erscheinung ist mit der Wirklichkeit, die Gattung mit dem Individuum eins geworden. – Tod und Zerstörung selbst verlieren sich in den Begriff der ewig bildenden Nachahmung des über die Bildung selbst erhabenen Schönen, dem nicht anders als, durch immer während sich verjüngendes Daseyn, nachgeahmt werden kann.20
Der Gang der Bildung der Gattung in der Geschichte läuft demnach über einen Prozess der Zerstörung und letztlich über den Tod auf einen Begriff des »erhabenen Schönen« hinaus, das im Prozess dieser Bildung nur nachgeahmt werden kann, so dass die Unabschließbarkeit der bildenden Nachahmung die Vollendung meint: Wo das Irdische über sich hinaus wirklich wird, indem es sich erneuert, verjüngt, findet es zur Figur einer Nachahmung des Ewigen, Erhabenen und Schönen selbst. »Sobald nämlich«, schreibt Moritz, in der vollendeten Schönheit die Gattung sich selbst erblickt, kann sie das, worin sie eigentlich erst sich selbst besitzt, nicht anders, als für das größte Kleinod halten, welches in so fern es nicht als Erscheinung, sondern als wirklich betrachtet wird, alles Einzelne aufwiegt.21
In der Betrachtung der Schönheit seiner selbst überschreitet die Gattung, indem sie sich als schön erblickt, sich selbst und zerstört sich in der Anerkennung des Schönen und Unterscheidung des darin noch nicht Vollkommenen. »Auf diese Weise schreibt die Schönheit der Zerstöhrung selbst ihr edles Maaß vor«, weshalb ›Zerstörung‹ eigentlich einen Begriff von »Fortschritt« zur Entfaltung bringt: »So giebt das Schöne, in welches 19| »Das Auge blickt dann, sich selber spiegelnd, aus der Fülle des Daseyns auf« (Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Wilhelm Voßkamp [Hg.]: Theorie der Klassik. Stuttgart 2009, S. 121–157, hier S. 156). 20| Ebd., S. 157. 21| Ebd., S. 155.
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die Zerstöhrung selbst sich wieder auflößt, uns gleichsam ein Vorgefühl von jener grossen Harmonie, in welche Bildung und Zerstöhrung eins Hand in Hand, hinüber gehn.«22 Wir entdecken in den Begrifflichkeiten und Argumentationsfiguren, die Moritz gattungstheoretisch expliziert, leicht das Spannungsgefüge, das Derrida strukturell benannt hat: zwischen Norm oder Maß und Wirklichkeit, zwischen Einzelnem und Gattung, zwischen Destruktion und Konstruktion, zwischen Regression und Progression. Die Unterschiede zwischen beiden Formen der Theoretisierung sind dabei leicht aufzuweisen. Während Derrida im Ausgang von der Aporie, die im Anwendungshorizont des Gattungsbegriffes – seines Eintritts in die Geschichte – auftritt, die Anomalien, Abweichungen und Kontingenzen interessieren, deren Notwendigkeit jede Gattungskonzeption heimsucht, impliziert Moritz in seinen mimetisch und bildungsorientierten Überlegungen ein triadisches Geschichtsmodell, das aus gleichsam paradiesischer ursprünglicher Einheit des Einzelnen dessen Zerstörung, ›Auseinander-Hüllung‹ sagt Moritz, folgert, deren »furchtbare[ ] Folge uns vor Augen« liege, indem »die reinste Imagination« als das ›Maß aller Dichtkunst‹ sich gegen die Wirklichkeit wendet,23 um sodann, im dritten Schritt, in der Distanz von Auge und Wirklichkeit den Sporn zu ewiger Erneuerung als finden, wo die Gattung ihre Form ohne Stillstand findet, indem das Individuum sich in ewiger Jugend verkörpert.24 Derridas dekonstruktiver, wenngleich nicht bloß destruktiver, und Moritz’ idealistischer, wenngleich nicht bloß normativer, Ansatz koinzidieren dabei im Zuschnitt der ›Dichtkunst‹ oder ›Literatur‹. Denn sieht man von den geschichtsphilosophischen Überlegungen, die Moritz anstellt, einmal ab, dann fallen eine Reihe von idealistischen Anleihen, die dem Wirklichen den Anstrich des Idealen verleihen, weg. Gedeckt mag eine solche Engführung dadurch sein, dass Moritz selbst den Idealismus in seiner 22| Ebd., S. 155f. 23| Ebd., S. 154f. »In diesem Punkte treffen also Zerstöhrung und Bildung in eins zusammen. – Denn das höchste Schöne der bildenden Künste, faßt dieselbe Summe der Zerstöhrung, ineinander gehüllt, auf einmal in sich, welche die erhabenste Dichtkunst, nach dem Maaß des Schönen, auseinander gehüllt, in furchtbarer Folge uns vor Augen legt« (S. 154). 24| In den »Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste« (1798) sind diese erratischen Überlegungen in ein sanftes Konzept der Beobachtung übergegangen. Auch hier geht Moritz von einer doppelten Schönheit »in uns« und »außer uns an den Gegenständen« aus, um sodann über den Verbindungspunkt zu schreiben: »Dieser Punkt ist allemal in dem Kunstwerke selbst zu suchen«. Er schließt mit der paradoxen Figur einer Ineinsblendung von Deskription und Präskription: »Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand: ruhige Betrachtung der Natur und Kunst, als eines einzigen Ganzen« (Karl Philipp Moritz: Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste. In: Voßkamp: Theorie der Klassik, S. 157–159).
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visionären Kraft mit einem antihumanistischen Impuls unterlegt, der sich wohl nicht zufällig in eine griechisch-mythologische Szenerie einlagert, also ein Ursprungsmuster von Kultur, vom Menschen als Kulturwesen, betrifft, als wolle Moritz die ewige Jugend an einen Gott binden, der nicht der christliche, menschgewordene ist, und also ein Gott gegen den Menschen überhaupt ist. Ich zitiere eine Passage, die dem Griechentum bereits eine Gegenrechnung aufmacht, in der man im Tonfall bereits Friedrich Nietzsches Tragödienschrift anklingen hören kann: Und ist es nicht die durch die reinste Imagination zum Gott verkörperte Jugend und Schönheit selbst, welche mit sanftem Geschoß die Menschen tödtet; oder mit Köcher und Bogen zürnend einher tritt, düster und furchtbar, wie Schrecken der Nächte – den silbernen Bogen spannt – und die verderbenden Pfeile in das Lager der Griechen sendet? –25
III. Für Karl Philipp Moritz erweist sich die Schönheit als normierendes und in dieser Normativität zerstörendes Maß des Fortschreitens einer Gattung bis zu vollständigen Verwirklichung, die als ewige Jugend beschworen wird. Die drei folgenden Geschichten Robert Walsers, vorgeblich »nach Buchdeckeln erzählt«, kann man als Kommentar hierzu lesen, als ein Kommentar zur Gattungsfrage der Literatur und wie sich die Literatur als Gattung oder im Gattungsbezug vollenden könne, ohne in der Wirklichkeit ihrer Vollendung bloße ›Geistigkeit‹, leeres ästhetisches Programm geworden zu sein. Die erste Geschichte trägt den Titel Unter der Peitsche der Polin,26 und sie handelt von einer Dame mit Peitsche in der Hand, die von im Prosastück als »Kulturträger« Bezeichneten für »etwas Romantisches« gehalten wird, weshalb diese »stattlichsten Angehörigen der Herrenwelt« die Dame wohl auch in einem »Gäßchen« besuchen, dessen genaue Lage der Verfasser sich scheut zu nennen, sondern nur in offensichtlicher Camouflage-Technik umständlichst metaphorisch einkleidet: »Eine wie ein Chinesenauge funkelnde Laterne durchstach etwaigen Nebel und lockte mit ihrem fahlen Strahl geistig Hochstehende an«; später ist von »einem Röschen im lachenden und impertinenten Mund« die Rede – daran dass diese Rede in ihren metaphorisch nur leicht verdeckten Zügen also von moralisch Zwielichtigem handelt, kann kein Zweifel sein, zumal am Ende gegen diese »gewiß nicht alltägliche Frau Schritte zu tun für zweckmäßig erachtet wurde«, was der Verfasser mit »Beifall« aufnimmt, während er »bei etwas Reizvollem, beim Frühstück«, sitzt. Die Geschichte beginnt wie folgt: 25| Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, S. 155. 26| Walser: Sämtliche Werke in Einzelbänden, Bd. 17, S. 340f. (Zitate im Einzelnen nicht mehr nachgewiesen).
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M ARTIN R OUSSEL Einst gab es in einer Stadt, wo die Landbevölkerung, wie man mir versicherte, in Scharen auf den Kirchentreppenstufen in die Knie fiele, eine anscheinend weiter gar nicht auffallend schöne Frau, die aber die Eigenschaft besaß, daß sie gut mit einer Peitsche umzugehen wußte.
Auf die bereits angedeutete Doppelmoral, die in der Landbevölkerung, die, um in der Kirche gar auf die Knie zu fallen, in die Stadt kommt, wo sie de facto bei einer zwischen Romantik und Peitsche oszillierenden Frau landet, will ich hier nicht weiter eingehen. Interessant ist, wie das Thema ›Schönheit‹, das dieser Frau in auffallender Weise nicht zugesprochen wird, am Ende des Prosastücks im Reiz des Frühstücks anklingt, das offensichtlich einem Besuch bei dieser Frau oder dem Wunsch eines solchen Besuches vorzuziehen sei. Noch einmal verbunden wird beides, die Schönheit und das Frühstück, im Mittelteil, wo die Frage, wie diese Frau zu beurteilen sei, gewissermaßen zu einer ›ästhetischen‹, zumindest literaturkritischen wird: »Man weiß«, schreibt der Verfasser wohl wissend, dass eben dieses Wissen in einer Doppelmoral verankert ist, was das Kolportagehafte für einen Reiz auf Menschen ausübt, die den Inhalt von guten Schriften, sogenannter vorzüglicher Literatur, zu sich zu nehmen pflegen, woran sie sich gleichsam ein bißchen sattgelesen oder -gegessen haben.
An Literatur kann man sich also wie an einem Frühstück sattessen, weshalb diejenige Literatur, so wäre zu schließen, die wie ein wirklich reizvolles Frühstück nicht nur ›sogenannt vorzüglich‹ ist, sondern über tatsächliche ›Reize‹ verfügt, nicht nur nach der Peitsche schaut, sondern nach der Schönheit. Der »Beifall« des Verfassers wäre also äußerst doppelzüngig, weil er ironisch die »Kulturträger« entlarvt, zugleich aber eine Art ästhetische Sublimationsstrategie enthüllt: Wer weiß, wie diese Geschichte geendet hätte, wenn die Dame ›auffallend schön‹ gewesen wäre? Die zweite Geschichte trägt den Titel Amerikanisches Unterrichtssystem27 und beginnt mit der Feststellung: »Wie dieser Schuljunge glücklich war.« Wie aus dem Folgenden, wenn schon nicht aus dem Titel, hervorgeht, spielt die Szenerie in einer amerikanischen Unterrichtsstunde, das Glücksversprechen des ersten Satzes kehrt sozusagen im Glücksversprechen ›Amerika‹ wieder. Zentrale Figur neben dem Knaben ist die Lehrerin, die nicht nur wunderbare Augen besitzt: »Das Lustigste, Lachhafteste, Schönste war das Stöckchen, das sie drohend in der Hand hielt.« Das ›Amerikanische Unterrichtssystem‹ scheint also, wenn man nur Peitsche und Stöckchen vertauscht, auf eine Variante der ›peitschenden Polin‹ hinauszulaufen. Auch hier wird Literatur zu einer Art Gradmesser des sozialen Interagierens. Der Knabe soll etwas aufsagen (wahrscheinlich ein Gedicht), »konnte es wahrscheinlich sehr gut«, bemerkt der Erzähler, und fährt fort: »doch er tat instinktiv, als sei er stockdumm, störrisch.« 27| Ebd., S. 341f.
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Diese Szene des Misslingens wandelt sich im Zeichen der Absicht, das Gedicht nicht aufzusagen, obwohl es »wahrscheinlich« leicht möglich gewesen wäre. Denn so macht der Knabe eine Lebenserfahrung, die ihn, vor aller Vollendung, als ›glücklich‹ auszeichnet: »Dieser Junge«, lautet der Schlusssatz, »nahm den Eindruck mit ins Leben, daß es vorteilhaft sein kann, sich vor irgend etwas zu fürchten.« Im Angesicht des Schönen umspielt dieser glückliche Knabe die Bedrohung durch den Stock der Lehrerin und wendet so im Zeichen seiner gespielten Dummheit die Szene des Misslingens in einen heimlichen Erfolg. Wiederum eine Variation desselben Themas – Schönheit und Bedrohung als Szenen des literarischen Gelingens – ist auch die letzte der drei Geschichten: »Die Prinzessin und der Stallknecht«.28 Noch offensichtlicher als in den beiden anderen Geschichten stellt sich hier die Literatur als das heimliche Thema ein, nämlich bereits im ersten Satz: »In einem Walde, der unabsehbar schien, der sich über mannigfaltige Hügel erstreckte, ritt zu ihrem Vergnügen, von einem Reitknecht begleitet, die holdeste Prinzessin, die je von einem Schriftsteller fabriziert wurde.« Dass dieser Schriftsteller mit dieser »holdeste[n] Prinzessin« genau das »fabriziert«, was jedes Märchen mit Prinzessin bereits bietet, markiert diese Fabrikation als bewussten Gestus der Überbietung, der deshalb schon auf dem Feld der Literatur zu verorten ist und nicht dem des ›Wirklichen‹. Stellt man nun noch eine Art Verfasser-Verdoppelung in Rechnung, so tritt dieses Spiel der Markierung des Literarischen noch deutlicher hervor. Denn wer ist dieser »Schriftsteller«: der Verfasser des Buches, dessen Buchdeckel in der Vorstadt-Buchhandlung ausliegt, oder der Verfasser dieser drei Geschichten über Buchdeckel, die also die Geschichten eines anderen zu paraphrasieren vorgeben? Im Übrigen findet sich auch hier das Schönheitsmotiv, das der Erzähler (der noch einmal von seinen beiden Verfassern zu unterscheiden wäre) sich nicht versagen kann »auszuplaudern«, nämlich, »da der Reitknecht seit einiger Zeit seine schöne Herrin mit wahrscheinlich wesentlich zu glücklichem Gesichtsausdruck anschaute.« In dem »wahrscheinlich« spricht wohl Verfasser Nr. 2, der den Buchdeckel wohl gelesen hat, nicht aber die ganze Geschichte, und nun Vermutungen anstellt. Das ›zu glücklich‹ lässt auf ein Gefahren- oder Zerstörungspotential des Schönen schließen, das durch die soziale Hierarchie erzählerisch umgesetzt ist. Wir kennen diese Spannung aus den beiden anderen Geschichten. Hier aber gibt es ein Happyend, »indem sie träumerisch vor sich hin in die Bäume blickte und dazu […] die unausgesprochene Erlaubnis [gab], sie zu küssen.« Er aber erhielt von ihr das Gebot, ihr seinen »Respekt« nicht zu versagen, was bedeutet: »Kein Gestammel, wenn ich bitten darf.« Ohne selbst sprechen zu dürfen, findet der Stall- oder Reitknecht also sein Glück durch Respekt vor dieser holdesten aller Prinzessinnen, die nicht nur aufgrund ihrer zweifelhaften Herkunft eine Allegorie der Literatur 28| Ebd., S. 342–344.
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ist, sondern deren eigene Worte auf eine perfide Art das Terrain der Worte mit sich besetzt: zwischen Zuneigung zum Stallknecht und dem Entzug seines Mitsprechens. Das klingt dann so: ›Wie er lächelt‹, sprach die Frau. Der Stallknecht wußte nicht, von wem sie da spreche, und weil er im Unwis senden blieb, suchte er wenigstens klug auszusehen. Die Prinzessin hatte den Boden damit gemeint, der glücklich schien, einen so durchgeistigten Körper zu tragen.
Ist der Stallknecht, als Individuum, in seinem Glück also gemeint? Was ist das für ein »Boden«, der die ›Durchgeistigtheit‹ der Prinzessin trägt? Und was hat all dies mit der Literatur zu tun? Es gibt einen kleinen Epilog, der sich an das Happyend anschließt, an dessen Ende dieses Happyend, wo sich beide küssen, noch einmal in der Figur eines gemeinsamen Aufbruchs wiederholt wird, ohne dass zugleich, vermittelt wiederum im Bild der sozialen Hierarchie, ein Zweifel an der Unvereinbarkeit von beider Glück und Schönheit bliebe. Während der Stallknecht der Prinzessin aufs Pferd hilft, bemerkt der Erzähler: »Ihn machte seine Gefaßtheit hübsch, und sie war schön wie noch nie.« Davor aber wird diese Unvereinbarkeit noch in anderer Weise explizit: Denn »es dachten noch andere an sie, denn überall, wohin sie gegangen sein mochte, hatte sie Wünsche aufkeimen lassen.« – Als Wunschgenerierungsmaschine, als Wunschphantasie, tritt die Prinzessin in die geistige Welt der Literatur, deren Erfüllung sie für diesen Stallknecht in dieser einen Geschichte geworden ist, indem er ihr auf das Pferd hilft, das sie in eine andere Geschichte bringen mag. Erzählt wird hier die Geschichte der Literatur als Verhältnis zwischen dem »Gestammel« des Stallknechts und der »ungezwungensten und doch wieder gewähltesten Tonart« der Prinzessin, zwischen singulärer Unartikuliertheit und allgemeiner Gewandtheit, von dem Boden, der das Geistige bereitet, ohne selbst geistig zu sein. Ist dann aber diese Geschichte insgesamt eine Allegorie der Literatur, die nichts anderes sagte, als was alle Literatur über Prinzessin zu sagen hat: dass sie »hold« sind? Oder ist diese Geschichte eine Geschichte über die holdeste aller Prinzessinnen, und verdankte sich dieses Allerholdeste nicht dem Respekt und der Zurückhaltung genau dieses einen ihrer Verehrer? Ist dies am Ende also eine Geschichte, die die Literatur auf einen Stallknecht zurückbeugt, nur um die Literatur so, wie sie immer schon erzählt wurde, zu erzählen, und deren Bedeutung darin liegt, dass sie »[i] n einem Walde, der unabsehbar schien«, eine »Stelle im weiten durchsichtig-undurchsichtigen, schweren, leichten, umflorten, hellen Wald« findet, die noch nicht erzählt wurde? Also als Geschichte, die die Tonart wohl trifft, das Gestammel aber beiseite lässt? Und ist all dies dann nicht die eine Geschichte, die Robert Walser uns mit dreien erzählen will, in der er selbst als Erzähler eigentlich immer sich, den Verfasser meint, der durch die Berner Vorstadt läuft und, stoffhungrig, eine Buchhandlung besucht, kurz: eine Geschichte, die heißt:
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Drei Geschichten nach Buchdeckeln erzählt, die im Schaufenster einer Vorstadt-Buchhandlung zu sehen waren? Dann wäre also all dies eine Literatur des Erzählers, der, um ›Prosastücke‹ zu schreiben, Prosa sucht, um sie wie Schubladen aus der Literatur hervorzuziehen? Dann hätten wir es mit einer Gattung Literatur zu tun, deren Formalismen sich ganz auf das Material zurückbeugen: eine Literatur nicht der Ideen, der Normen, der Gesetze, der Vorlagen, Ordnungen oder der Gefühle, sondern des Buchs, wie man es in die Hand nimmt oder eben in einer Buchhandlung kaufen kann. Und diese Gattung, wie es jede Gattung tun muss, bleibt selbst beim Material im Außen, blickt durch die Fensterscheibe auf die Buchdeckel, um zu lesen und zu erfinden, was noch nicht geschrieben steht. Und so ist es kein Zufall, dass diese Gattung und dieser Einzelfall der Literatur mit seiner Gattung des ›Nach-Buchdeckel-Erzählens‹ sich zurückbesinnt auf alles, was zwischen Buchdeckeln stehen mag, um, wie aus einer Schublade, Geschichten hervorzuzaubern, die alle das Verhältnis zwischen Einzelfall und Gattung aushandeln, die als Schublade schon das Material sind, aus dem die Literatur fabriziert ist, und die darum nichts anderes sein können als Literatur.29 Und die Literatur unterscheidet sich dann – gattungsmäßig – nurmehr danach, in welche Buchhandlung man geht, ob man vor dem Schaufenster stehenbleibt oder hineingeht, ein Buch liest oder es erfindet. Dass unter der Hand die Literatur damit sehr wohl singuläre Einzelfälle, literarische ›Werke‹, schafft, ist die geheime Hoffnung aller Erzähler Walsers, dies sei noch angemerkt, und das gilt zuallererst für die Erzähler, die vorgeben, nur zu paraphrasieren, an der Oberfläche zu bleiben, zu zitieren und zu rezitieren, abzuschreiben und allenfalls Buchdeckel zu lesen; denn diese Erzähler wissen, dass viele Buchdeckel zu lesen und nachzuerzählen selbst der Inhalt zwischen Buchdeckeln sein kann. Der Tonfall der Entrüstung, den der Erzähler in einem Prosastück ausstellt, das im Januar 1920 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, ist deshalb offensichtlich ein gespielter – die Emphase der Literatur aber eine tatsächliche, und deshalb lohnt es sich, von dieser Literatur der Literatur zu erzählen. Das Prosastück heißt »Der Buchdeckel«, bitte achten Sie besonders auf die »eigentümliche Art«, von der die Rede ist und mit der sich dieses Prosastück selbst Ausdruck und Form zuspricht: Jeder Autor hat seinen Bekanntenkreis, und so sandte ich das Buch [schreibt ein Bücherschreiber über sein vollendetes Werk] an eine Persönlichkeit, die mir schrieb, sie 29| In Bezug auf Kafkas Vor dem Gesetz stellt Jacques Derrida folgende auch hier passende wie ›passierende‹ Frage fest: »Und wenn das Gesetz [das auch das Gesetz der Gattung ist], ohne selbst von Literatur durchdrungen zu sein, seine Möglichkeitsbedingungen mit der Sache der Literatur (la chose littéraire) teilte?« (Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Aus dem Französischen von Detlef Otto und Axel Witte. 3. Aufl. Wien 2005, S. 44). ›Gattung‹ und ›Material‹ wären in Walsers Literatur in einem Akt des Aushandelns der Möglichkeiten, ›Literatur zu sein‹, verbunden.
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M ARTIN R OUSSEL danke mir, könne aber zunächst nur dem Buchdeckel ein Lob spenden. Das andere wolle sie sich gelegentlich zu Gemüte führen. Fühle mir nach, was ich empfand; ich war paff und blieb ein Weilchen völlig konfus. Die eigentümliche Art, Werke der Feder zu würdigen, machte auf mich den Eindruck eines Erlebnisses, das sich mir einprägte und ich dir deshalb hier auftische. 30
IV. Zusammenfassen ließe sich die Gattungsproblematik in der Spannung ihres systematischen Impetus’ zu den Einzelfällen einer jeden Literatur wiederum am Beispiel. Es handelt sich um einen Nachlasstext Robert Walsers, eines jener erst mühsam entzifferten Mikrogramme aus den 1920er Jahren. Aus diesem titel- wie gattungslosen Prosabild der Schrift in nuce haben Bernhard Echte und Werner Morlang erst in jahrelanger Entzifferungsarbeit eine Art ›Text‹ hergestellt. Dieser Text nun dreht sich um eine Art »Literaturtee«, wo es um »schriftstellerische[ ] Kuriositäten« geht,31 die der Ich-Erzähler mit einer zweiten Figur austauscht. Als ginge es um einen Moritz’schen Diskurs, führt der Erzähler, der, nebenbei, als allegorisiere er seinen eigenen Diskurs, »in die Mutter einer bil[d]schönen Lehrerin verliebt« ist, aus: »Schönheit, führte ich theoretisch und zugleich anscheinend praxiserprobt aus, führe in’s Unschöne«.32 Sein Gegenpart kontert: »Wollen Sie leugnen, […] daß Sie ein Kind sind?«33 Doch greift der Erzähler diesen kritisch gemeinten Einwand auf, indem er sich in eine Suchbewegung hineinstellt, die zwischen Theorie und Praxis, zwischen Individuum und Allgemeinem den Umschlag von Schönheit ins Unschöne und daraus resultierend ein Streben nach dem Ewig-Kindlichen beschreibt, als ginge es um die Gattung der Literatur, jedenfalls der Erzählung. Zunächst bemerkt er: »So suche ich Suchender zum Beispiel nie irgend etwas.«34 Auf das »zum Beispiel« ist zu achten: Der nach ›Gattung‹ Suchende, findet das »Beispiel«, das ewig neu sucht. So jedenfalls schreibt er weiter über den Ort des Ewig-Kindlichen: In gewissen Artikeln, die er lancieren zu lassen versteht, der Vermutung Aus druck zu verleihen, ich zöge täglich nur darum durch eine gewisse ar chitek t[on]isch wertvolle
30| Walser: Sämtliche Werke in Einzelbänden, Bd. 16, S. 271. 31| Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Im Auftrag des Robert Walser-Ar chivs der Carl Seelig-Stiftung/Zürich entziffert und hg. v. Bernhard Echte und Werner Morlang, Bd. 4: Mikrogramme aus den Jahren 1926–1927. Frank furt/Main 1990, S. 45. Wechsel der Schrifttype von Antiqua zur serifenlosen und umgekehrt zeigt eine hypothetische Entzifferung an. 32| Ebd. 33| Ebd., S. 46. 34| Ebd.
D AS M ATERIAL DER G ATTUNG Gasse, weil mich meine Schlechtigkeit[en] dorthin zöge[n], während es doch nackte Tatsache ist, daß ich dort verlorenen Kinder scharen zu begegnen hoffe.35
Das Ziel ist also klar, und für dieses Ziel benennt dieser Ich-Erzähler denn auch noch einen Gattungsbegriff, der seiner Präferenz in metaphorischer Hinsicht nachkommt: »Genauer gesagt sind dort für mich Novellen sozusagen lebendig, die ungeschrieben zwischen diesen Mauern im Zustand der Fix- und Fertigkeit umherschweben.«36 Die Novelle wird zum Inbegriff einer Gattung, die in der Selbstüberschreitung ihr eigenes Beispiel verfehlt, wird zum Beispiel dafür, wie die Gattung (»Novelle«) zur Metapher des literarischen Materials wird, das literarische Material (»Literaturtee«) aber das Gattungsziel beschreibt: »manchmal in der Illusion ein bißchen Knabe« zu sein. Mit der ›Novelle‹ als Gattungsbestimmung eines ewiglich Knabenhaften, einer Gattungspoetik des Neuanfangs aus dem Material, ist selbst jedoch kein Schlusspunkt gesetzt. In einem anderen Mikrogramm von Februar/März 192737 spielt Walser mit dem szenisch-literarischen Potential seines Schreibens als seines ›Materials der Gattung‹. Dessen Wirklichkeit erzeuge, so noch einmal Robert Musil, in der Rückführung auf die Spitze der Feder eine »Marionettenstimmung«, »wo die Gravität wirklicher Verhältnisse plötzlich an dem Faden einer Wortassoziation weiterzurieseln beginnt«,38 wo jedes Wort eine neue Form entdeckt und unweigerlich den ganzen Text nach sich zieht, bevor dieser im nächsten Satz in eine andere Metapher umschlägt. Walsers Text beginnt: »O, ich schreibe hier einen Prosaaufsatz, der den Charakter eines Briefes hat und der wieder einem Gedicht ähnlich sein wird«.39 Der Erzähler spricht sodann in einer Anspielung auf das heilignüchterne Wasser in Hölderlins Hälfte des Lebens (1803) von »geradezu trunkener Nüchternheit«; er sei »wie ein Vater«, der »sein verlorenes Kind such[e]«.40 In dieser fiktionalen Genealogie erscheint Walser oder sein Erzähler »wie ein Vater«, also wie Hölderlin, der seinen Erben und Nachfolger, Walser selbst, im Bild der Jugend benennt. Das Kind – eine in Walsers Werk obsessiv umkreiste Figuration – bleibt jedoch verloren, zu suchen, so dass sich die mikrographierte Schrift zwischen dem Heilignüchternen und dem Trunkennüchternen, zwischen dem Gesetz und seiner Erfüllung, dem Vater und dem Kind gleich doppelt verschiebt. Und schließlich, wie um dieses Gattungs- als Genealogiespiel zwischen Hölderlin und Walser, zwischen Gattung und Wortassoziation als 35| Ebd., S. 47. 36| Ebd. 37| Vgl. ebd., S. 56–60. 38| Robert Musil: Die »Geschichten« von Robert Walser. In: Ders.: Ge sammelte Werke II, S. 1468. 39| Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. 4, S. 56. 40| Ebd., S. 56f.
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Gattungsfrage metaphorisch zu konkretisieren, ergänzt er: »Natürlich ist das eine Art Komödie, die ich zu meiner Zerstreuung spiele.«41 Ein Schlusspunkt ist freilich auch damit nicht gesetzt, denn wie jede Gattung – ob Prosaaufsatz, Brief, Gedicht oder Komödie42 – so fällt auch diese Zerstreutheit in sich selbst ein, gemessen an der zerstörerischen Kraft der Schönheit und der Jugend wie am ungeschriebenen Gesetz, dass jedes Gesetz sein Gegengesetz herbeizitiert. Denn, so wäre in einer beinahe nietzscheanischen Wendung abschließend festzuhalten: eines »erlaube« er »keinem einzigen Literaturerzeugnis«: »zu ermüden anzufangen«, »denn wie es ein Recht auf das Kind gibt, so existiert ein Recht auf Mißbilligung unwillkommener Geisteskinder.«43
L ITER ATUR Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens. Aus dem Englischen von Isabella Mayr. Frankfurt/Main 1997. Derrida, Jacques: Préjugés. Vor dem Gesetz. Aus dem Französischen von Detlef Otto u. Axel Witte. 3. Aufl. Wien 2005. Derrida, Jacques: Das Gesetz der Gattung. In: Ders.: Gestade. Aus dem Franz. v. Monika Buchgeister u. Hans-Walter Schmidt. Wien 1994, S. 245–283. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche [Frankfurter Ausgabe]. Bd. 3,1: West-östlicher Divan. Hg. v. Hendrik Birus. Frankfurt/Main 1994. Groddeck, Wolfram: »Weiß das Blatt, wie schön es ist?« Prosastück, Schriftbild und Poesie bei Robert Walser. In: Text: kritische Beiträge 3 [1997]: Entzifferung, S. 25–43. Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos [1842] redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge. Bd. 2. Frankfurt/Main [1965]. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948]. 15. Aufl. Bern/München 1971. 41| Ebd., S. 57. 42| Die Beziehung des gestischen Moments im Schreiben zur Avision eines Gattungsbegriffs gestaltet die Prosa als transparent auf die Formierung von Gattungen aus einfachen Formierungen, die sich im Rückgang auf neue Schreibmodi ergeben. Vgl. hierzu bereits den Hinweis von Wilhelm Voßkamp auf André Jolles’ Einfache Formen als »Grundtypen sprachlichen Gestaltens« (Wilhelm Voßkamp: Gattungsgeschichte. In: Klaus Weimar [Hg.]: Reallexikon der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 655–658, hier S. 656). 43| Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. 4, S. 59.
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Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 23., erw. Aufl. Berlin/New York 1999. Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Theorie der Klassik. Stuttgart 2009, S. 121– 157. Moritz, Karl Philipp: Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Theorie der Klassik. Stuttgart 2009, S. 157–159. Musil, Robert: Die »Geschichten« von Robert Walser. In: Ders.: Gesammelte Werke II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 1467f. Musil, Robert: Franz Kafka. In: Ders.: Gesammelte Werke II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 1468f. Roussel, Martin: Matrikel. Zur Haltung des Schreibens in Robert Walsers Mikrographie. Frankfurt/Main/Basel 2009. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. In: Ders.: Schriften I. Frankfurt/Main 1978, S. 9–148. Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. 5. Aufl. Paderborn 2002. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen. In: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 253–269. Voßkamp, Wilhelm: Art. »Gattungsgeschichte«. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 655–658. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2002. Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelbänden. Hg. v. Jochen Greven. Zürich, Frankfurt/Main 1986. Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. Im Auftrag des Robert WalserArchivs der Carl Seelig-Stiftung/Zürich entziffert und hg. v. Bernhard Echte und Werner Morlang, Bd. 4: Mikrogramme aus den Jahren 1926–1927. Frankfurt/Main 1990. Willems, Gottfried: Art. »Form/Struktur/Gattung«. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur. 3 Bde. Frankfurt/Main 2002, Bd. 1, S. 680–703.
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Das Drama als Form Anschauung, Dialog, Performance Lutz Ellrich Von einer Krise des Gattungsbegriffs ist innerhalb der theatertheoretischen Diskurse wenig zu spüren. Im Gegenteil, man verwendet Gattungsdifferenzen, um die Krise des Theaters zu analysieren und die umlaufenden Lösungsangebote zu beurteilen. Auch von einer Ersetzung der Gattungskonzepte durch mediale Unterscheidungen lässt sich schwerlich sprechen; denn der Einsatz anderer Medien (wie z.B. Film, Video, Computersimulation) oder die Adaption spezifischer Darstellungsmittel, die für andere Medien charakteristisch sind, gilt gewöhnlich als Indikator für eine Theaterpraxis, die man innerhalb des Gattungskonzeptes sinnvoll einsortieren und in ihrer Bedeutung erschließen kann. So redet man etwa ganz unbefangen vom prä-dramatischen, dramatischen und postdramatischen, neuerdings sogar vom post-post-dramatischen oder postspektakulären Theater.1 Reizvoll ist der Gattungsbegriff für die Theatertheorie auch deshalb, weil man ihn ohne weiteres an geschichtsphilosophische oder evolutionssoziologische Stadienmodelle und Umbruchsszenarien anschließen kann. Bestimmte Gattungen lassen sich dann als diejenigen Darstellungsformen auszeichnen, welche 1. für das kulturelle Selbstverständnis bestimmter Epochen besonders typisch sind und 2. je unterschiedliche Instrumente bereitstellen, um die Eigenart historischer Phasen herauszuarbeiten und durchsichtig zu machen. Ferner besteht die Möglichkeit, innerhalb von Gattungen (wie Lyrik, Drama, Roman) Untergattungen (wie Tragödie, Komödie, Satire, Romanze, Melodrama, Farce, Posse etc.) zu differenzieren und markante, geschichtlich bedeutungsvolle Entwicklungen, Umschwünge, Revivals usw. festzustellen (z.B. die Verwandlung der Tragödie ins Trauerspiel, der Komödie ins Lustspiel). Zu den ambitioniertesten neueren Versuchen, die Gattungstheorie attraktiv zu halten, dürfte 1| Vgl. u.a. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/Main 1999; André Eiermann: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste. Bielefeld 2009.
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der Vorschlag zählen, die Geschichte der literarischen Gattungen als »Prozeß der emotionalen Kreativität« zu deuten und zugleich »die Leitaffekte der literarischen Gattungen […] als wandelbar zu begreifen«2 und so einer umfassenden Rekonstruktion zuzuführen. Affektpoetisch betrachtet gliedert sich das Theater dann in Untergattungen auf, die jeweils eine Emotion und ihre individuelle, soziale, historische Dynamik besonders adäquat zur Darstellung bringen. Aus den umfangreichen Debatten über Wesen und Form des Theaters sollen im Folgenden einige wenige, allerdings zentrale Aspekte herausgegriffen und zur Diskussion gestellt werden: der Wahrnehmungsaspekt (I.), die temporale Ausrichtung (II.), die Ko-Präsenz von Betrachtern und Akteuren sowie das mit ihr verknüpfte Problem der Wissensdifferenz zwischen Zuschauern und Bühnenfiguren (III.) und schließlich das ethisch relevante Phänomen der Zeugenschaft (IV.).
I. Kaum eine Definition des Theaters verzichtet auf ausschweifende Bemerkungen über die spezifische Angewiesenheit der Bühnenkunst auf Anschaulichkeit, Sichtbarkeit, Konkretheit etc. Aus gattungspoetischer Warte impliziert dieser notorische Hinweis allerdings keineswegs die Behauptung, Theaterstücke könnten ihre eigentümliche ästhetische Kraft3 nur in und durch Aufführungen erreichen. Aristoteles und Goethe gehen zum Beispiel beide davon aus, dass die bloße Lektüre von Dramentexten bereits die intendierte formtypische Wirkung (sei es Katharsis oder idealistische Zivilisierung des Menschen) entfalten kann und behaupten damit zugleich, dass reale Aufführungen durch ihre Tendenz zum Spektakel, zum beliebigen Regie-Einfall und zur schauspielerischen Selbstgefälligkeit den Gehalt einer Vorlage verzerren oder auch völlig zerstören können. Goethe ist in diesem Zusammenhang ein nützlicher Gewährsmann, der als Autor, Regisseur und Theaterintendant genügend Erfahrung besitzt, um über das Verhältnis von emphatischem Projekt und ernüchternder Bühnenpraxis lehrreiche Auskünfte zu geben. Das »Vorspiel auf dem Theater« zu Faust I liefert hinreißende Kostproben. Goethe hat (wie manch anderer Autor) den Eindruck, dass nicht jeder Stoff, Inhalt oder Plot bühnentauglich ist, d.h. sich eben auch dann für die dramatische Ausgestaltung als ungeeignet erweist, wenn eine äußerst seriöse Inszenierung geboten wird, die nicht den Maximen profitorientierter Theaterdirektoren folgt. Goethe schreibt:
2| Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005, S. 39. 3| Siehe Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt/Main 2008.
D AS D RAMA ALS F ORM Ein interessantes Faktum, denkt jeder, werde auch interessant auf den Brettern erscheinen, aber mit nichten! – Es können Dinge ganz hübsch zu lesen und hübsch zu denken sein, aber, auf die Bretter gebracht, sieht das ganz anders aus, und was uns im Buche entzückte, wird uns von der Bühne herunter vielleicht kalt lassen. 4
Diese Aussage bekundet aber kaum mehr als ein intuitives Wissen von gravierenden Gattungs- und Mediendifferenzen, eine stichhaltige Begründung liefert sie nicht. Auch wendet sich die Bemerkung nicht explizit gegen gattungsmäßige Einschränkungen, denen das pure Lesedrama aufgrund seiner spezifischen Appelle an Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft der Rezipienten unterliegen könnte. Heißt das implizit: Die Bühne gehorcht strengen Gesetzen, der Dramentext aber noch lange nicht? So könnte man tatsächlich meinen. Denn ist nicht gerade Goethe der vielleicht nur von Nietzsche übertroffene Virtuose eines alle sachlichen Grenzen überschreitenden anschaulichen Denkens, ja eines Denkens auf der Bühne der Sprache? Warum ist dies so und warum liegt hier zugleich ein historisch und gesellschaftlich situierbares Problem? Bekanntlich ist Goethe zutiefst davon überzeugt, dass sich die Natur in die Sichtbarkeit hinein entfaltet: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.«5 Für die ›Natur‹ von Staat und Gesellschaft, deren innere Mechanik trotz Machiavelli, Hobbes und Rousseau noch nicht hinreichend erkannt war, soll das Gleiche gelten: Geheimdiplomatie und ökonomische Wertschöpfung verbergen sich zwar vor den Blicken des ›gemeinen Volkes‹, aber sie entziehen sich im Prinzip nicht der wissenschaftlichen Analyse und der ästhetischen Veranschaulichung. So vermögen sinnliche Darstellungsweisen dasjenige sichtbar zu machen, was strukturell auf Sichtbarkeit hin angelegt ist und teils aus taktischen Gründen nicht ad hoc gezeigt, teils aus Mangel an Phantasie, Interesse und Aufmerksamkeit nicht wahrgenommen wird. Goethe hat daher im (insgesamt »poetisch symbolisch«6 angelegten) Faust II 7 auch gar keine grundsätzlichen Bedenken, den Fundus historischer SinnBilder auszuschöpfen und zum Beispiel das Phänomen der Inflation oder die rücksichtlose kapitalistische Welteroberung durch Szenarien zu erschließen, die aus dem Mittelalter und aus der Antike importiert wer4| Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter. 20 Bde. München 1985–1998, Bd. 19, S. 280 (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens). 5| Ebd., Bd. 17, S. 824 (Maximen und Reflexionen). Vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei [1960]. 3., erw. Aufl. Frankfurt/Main 1986, S. 42. 6| Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV Abteilung: Goethes Briefe. Bd. 49, Weimar 1912, S. 433. 7| Vgl. hierzu die im Kontext der Debatte über Symbol und Allegorie situierte Deutung bei Heinz Schlaffer: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1981.
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den: Die Assignaten des Kaisers veranschaulichen die Finanzpolitik des 19. Jahrhunderts und Philemon und Baucis dienen als Figuren, mit deren Hilfe dem Publikum – lange vor Horkheimer/Adorno – die Dialektik der Aufklärung vor Augen geführt wird. Widerlegt also das Projekt der Sichtbarmachung und Versinnbildlichung, das Goethe im Faust II so radikal in Szene setzt, nicht die vorhin zitierte Passage über die Differenz von Bühnenanschaulichkeit und interessantem Gedanken bzw. Text? Denn an der theatralischen Umsetzbarkeit dieses Stücks kann kaum Zweifel bestehen. Eine Aufführung des Faust II stellt gewiss höchste Ansprüche an alle Beteiligten, aber der Text selbst offenbart keine prinzipielle Unmöglichkeit der Transformation der niedergeschriebenen Worte in theatralische Zeichen.8 Die körperliche Vergegenwärtigung der Figuren (durch Schauspieler, die sprechen, singen, tanzen, gestikulieren) auf der Theaterbühne und die Präsentation bedeutungsvoller Dinge und Atmosphären (Requisiten, Kostüme, Musik, Bühnenbilder, Licht- und Rauminstallationen etc.) wird vom Konzept des Werkes vielleicht nicht gerade gefordert, aber eben auch nicht dekonstruiert. Solcher Glaube an die Sichtbarkeit und an die Erkenntnispotentiale der Sprachbilder bzw. die Darstellungsmittel der Bühnenszenerie schwindet in der Moderne. Man muss spätestens jetzt einsehen, dass »die Letztelemente« von Natur und Gesellschaft »sich der anschaulichen Vorstellbarkeit oder Abbildbarkeit überhaupt entziehen«.9 Und daraus folgt: »Die Kunst der Gegenwart ist unabwendbar Reflexionskunst«.10 Alles, was Kunst zeigt, mithin sinnlich präsentiert, wird so dargeboten, dass es den begrifflichen Kommentar als notwendige Ergänzung einschließt.11 Von allen Künsten hat die Malerei als erste auf diese Lage mit Entschiedenheit reagiert. Freilich ist ihr Reflexionsvorsprung wesentlich durch die Erfin8| Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. 2 Bde. Tübingen 1983. 9| Gehlen: Zeit-Bilder, S. 42. Vgl. hierzu die radikale Gegenthese: »Überall ist unbestreitbar, dass der Appell an die unmittelbare Anschauung kräftiger und einschneidender wirkt als die Schärfe des Begriffs.« Ernst Jünger: »Einleitung« in: Edmund Schulz (Hg.): Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel aus der heutigen Zeit. Breslau 1933, S. 5–9, hier: S. 5; siehe auch ders.: »Das Lichtbild als Mittel im Kampf«, in: Widerstand 3 (1931), S. 65–69, hier: S. 65. Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. 10| Gehlen: Zeit-Bilder, S. 136. Gehlen teilt also Hegels Überzeugung, dass die Anschauung und die auf ihr fußenden Darstellungsweisen die moderne Welt nicht mehr durchdringen können. Mit der paradoxen Formel »Reflexionskunst« geht er freilich über Hegel hinaus; denn für Hegel ist Reflexion im strengen Sinne eine post-ästhetische Ausdrucksform des Geistes. Auf die Hegel’sche Position komme ich später zurück. 11| Mit großem Elan hat sich George Steiner gegen diese Einsicht gesperrt und den Weltzustand, der sie zu erzwingen scheint, beklagt. Aber die Beschwörung der Real Presences (London 1989) erweist sich bei näherer Betrachtung als hilfloses Rückbesinnungsmanöver. Vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München, Wien 1990.
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dung und Ausbreitung der Fotografie bedingt, die sich zunächst als Pencil of Nature (William Henry Fox Talbot 1844–1846) zur Geltung brachte und erst knapp hundert Jahre nach ihrer Erfindung unter dem konstruktivistischen Slogan des »neuen Sehens«12 auch als eine ästhetische Praxis zu etablieren begann, die es nicht mehr nötig hatte, sich ihres Kunststatus durch piktoralistische Verfahren zu versichern. Die abstrakte Malerei zeigt die Grundbestandteile der Welt als Phänomene, die nur noch in Formen und Strukturen dargestellt werden können, welche der natürlichen Einstellung des Alltags nicht entsprechen. Und der Witz an dieser ästhetischen Kritik des naiven Realismus ist, dass man nicht nur sagen, sondern auch zeigen, also regelrecht ver-anschaulichen kann, wie es um die Anschauung steht: Die moderne Welt mit all ihren technischen Apparaten und komplexen Organisationen tritt nicht mehr unmittelbar in Erscheinung, sondern nur noch als »Fülle des abstrakten, unübersehbaren und relevanzlosen Wissens«,13 die den Einzelnen überwältigt und verstört. Doch die Lage ist nicht hoffnungslos: Wenn die Subjekte sich der avancierten Kunst als Lehrmeister bedienen, so können sie die neue Art des Wissens genießen und gelten lassen, sich mental und psychisch darauf einstellen, ohne den folgenreichen Weg der Verdrängung beschreiten zu müssen. Dass die ungegenständliche Malerei dem Betrachter eine solche Haltung antrainiert, ist offensichtlich. Ihre Angestrengtheit und Programmatik sind freilich auch Zeichen der unablässigen Versuchung, den befremdlichen Zustand durch »ein anschauliches und persönlich anzueignendes Identitätswissen«14 zu kompensieren. Soweit die Kunst im 20. Jahrhundert sich darauf einlässt, diesem Kompensationswunsch zu entsprechen, entpuppt sie sich jedoch als Unternehmung, das den komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht gewachsen ist. Wer auf die Mittel der Ästhetik setzt, hat allerdings noch weitere Optionen. Im Anschluss an Hegels Analysen in der Phänomenologie des Geistes lässt sich der Roman als die »paradigmatische Kunstform der Moderne«15 interpretieren. Denn anders als Drama und Lyrik nimmt der Roman die »Unanschaulichkeit der arbeitsteiligen Gesellschaft«16 ernst und bedient, indem er immer auch über sich selbst hinausweist, zugleich die Refle12| Vgl. Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München 2006, S. 185ff. 13| Aleida Assmann: »Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses«, in: Astrid Erll u. Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin, New York 2004, S. 45–60, hier S. 54. 14| Ebd. 15| Gustav Falke: »Nur keine Entfremdung. Christoph Menkes Erfahrungen mit Hegel«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Oktober 1996, Nr. 229, S. L 44. Zur Bestimmung der spezifischen Leistung des Romans im Rahmen einer hegelianischen Entwicklungstheorie vgl. auch Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der Epik [1920]. Neuwied, Berlin 1963. 16| Falke: Nur keine Entfremdung, S. L 44.
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xionsbedürfnisse der bildungsbürgerlichen Subjekte. In diesem Sinne bereitet die Gattung Roman, die Hegel 1806 durch Jakobis Woldemar und Diderots Rameaus Neffe repräsentiert sieht, im Medium ästhetischer Darstellung die künftige Herrschaft des wissenschaftlichen Begriffs vor. Obschon aus der Warte des Begriffs der ganze Bereich des Ästhetischen zu einem zwar legitimen, aber in der modernen Welt nur noch zweitrangigen Ausdrucksmittel des Geistes herabsinkt, genießt der Roman im Lichte der Phänomenologie des Geistes einen beträchtlichen Vorzug: Avancierte literarische Prosa hat die Erkenntnisleistungen, zu denen die Kunst überhaupt fähig ist, so gesteigert, dass der Nimbus des Anschaulichen verblasst und die Dignität des Begrifflichen, dessen Sphäre der Roman berührt, wenn auch noch nicht betritt, ersichtlich wird.17 Auf der Folie von Denkfiguren des jungen Hegel ist also nachvollziehbar, warum der Roman im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegenüber den anderen Gattungen eminente Vorteile besitzt. Das Feld künstlerisch adäquater Ausdrucksformen, die den Bedingungen der Moderne genügen, wird dem Roman aber nicht kampflos überlassen. Auch im Bereich der Theaterpraxis und –theorie erweist sich die Darstellungskrise der Epoche als ein zentrales Thema. Die bekannten Arbeiten von Appia und Craig, Stanislawski und Meyerhold, Schlemmer und Artaud vermitteln einen hinreichenden Eindruck von den konzeptionellen Bemühungen, auf das Repräsentationsproblem angemessen zu reagieren. Brechts These, »die eigentliche Realität [sei] in die Funktionale gerutscht«,18 ist vielleicht die pointierteste Formulierung des Problems. Seine Stücke und Inszenierungen sollen Modelle liefern, die die Welt so darstellen, dass ihre nicht mehr wahrnehmbaren Strukturen auf ästhetischen Umwegen in den Blick kommen und zugleich als Konstruktionen erkennbar werden, die durch gezielte menschliche Eingriffe zu verändern sind. Brecht reagiert also auf der Theaterbühne – d.h. im Medium der Anschauung – auf die erkannte Unanschaulichkeit der realen Welt. Er benutzt die Instrumente einer anderen Gattung, nämlich des modernen Romans,19 um die eigentlich historisch überholte Form des Theaterstücks durch eine Kombination von Textstrategien (Fabel, Lehrstück etc.) und Darstellungstechniken (haltungsbetonte und gestische Spielweise, Ver17| Aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1817–1829), in der die umstrittene These vom Ende der Kunst entwickelt wird, lässt sich eine solche Sonderstellung des Romans nicht mehr ohne weiteres herauslesen. Hier dominiert eine andere Verknüpfung von Gattungstheorie und Geschichtsphilosophie. Vgl dazu den Aufsatz von Achim Geisenhanslüke: »Das Ende der Kunst? Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin« (in diesem Band). 18| Bertolt Brecht: »Der Dreigroschenprozeß« (1931), in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 18. Frankfurt/Main 1967, S. 161. 19| Brecht bezieht sich dabei auf James Joyce (Ulysses), Alfred Döblin (Watzeks Kampf mit der Dampfmaschine) und Upton Sinclair (The Jungle).
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fremdungs-Effekt etc.) derart zu elaborieren, dass sogar die erkenntnisfördernden Leistungen des Romans in den Schatten gestellt werden: Soziale Strukturen, die sich im Prinzip nur noch durch hochabstrakte Begriffskonstellationen erschließen lassen, erscheinen im ›epischen Theater‹ als sinnlich erfahrbare und durch gezielte menschliche Aktionen modifizierbare Gebilde. Ob es sich hierbei um ein naives oder hochgradig reflektiertes Unterfangen handelt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Das Interesse gilt vorderhand nur den gattungstheoretischen Implikationen des Projekts, näherhin jenen Implikationen, die 1956 – in Brechts Todesjahr – ein junger Literaturwissenschaftler auf beeindruckende Weise ausgereizt hat.
II. In seiner Dissertation Theorie des modernen Dramas zeigt Peter Szondi auf, wie »die Entwicklung der modernen Dramatik vom Drama selber wegführt.«20 Brechts ›episches Theater‹ liefert das Kontrastmodell zu dem, was Szondi als Drama im eigentlichen Sinne definiert. Dieses ästhetische Gebilde ist eine Errungenschaft der Neuzeit und unterscheidet sich deutlich von seinen Vorläufern: sowohl den prä-dramatischen antiken Stücken, die auf den Ausdruck des leidenden Helden zielen, als auch von den geistlichen Spielen des Mittelalters, die die religiöse Identität der Zuschauerschaft zelebrieren. Im elisabethanischen Theater sowie in der französischen Klassik eines Racine und Corneille gelangt das Drama (von Ausnahmen abgesehen) zur ersten Blüte, um dann im 18. und frühen 19. Jahrhundert seinen Höhe- und Endpunkt zu erreichen. Im Zentrum des Dramas, das als angemessenen Aufführungsort die ›Guckkastenbühne‹ etabliert, steht die zwischenmenschliche Beziehung, welche sich im Dialog der Akteure entfaltet. Chorisches Sprechen, lange Berichte und Monologe bilden nur noch Randerscheinungen oder unterbleiben völlig. Konflikte zwischen Personen, die in eine ebenso emotionsgeladene wie argumentationsgesättigte Aussprache einmünden, beherrschen die Bühnen-Szene. Das Publikum wird in eine passive Beobachterrolle gebracht und nicht durch motivierende Ansprachen in das Geschehen einbezogen oder direkt zur engagierten Stellungnahme aufgefordert. Während des Spiels soll das Publikum in seiner Ergriffenheit wie gelähmt verweilen, separiert in die einzelnen Individuen, die sich im Theater eingefunden haben, um sich dem »dramatische[n] Erlebnis«, dem betäubenden »Eindruck einer zweiten Welt« des Fiktiven geradezu wehrlos auszusetzen. Erst nach der Aufführung darf die »totale Passivität […] in eine irrationale Aktivität umschlagen«.21 Denn das Drama bändigt die Af20| Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas [1956]. Revidierte Fassung. Frankfurt/Main 1959, S. 13. 21| Ebd., S. 16.
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fekte, die es erzeugt, nur bis zu dem Augenblick, in dem der Vorhang fällt. Es stachelt sie nicht auf, um sie – dem psycho-hygienischen Programm der Aristotelischen Katharsis-Definition folgend – durch ein ästhetisches Reinigungsmittel zu entschärfen. Das Drama gibt die Affekte, die es vorübergehend in Bann schlägt, am Ende wieder frei. Die Folgen bleiben unklar, unabsehbar. Szondi liefert hier keine erhellende Auskunft. Man kann nur darüber spekulieren, wie die »irrationale Aktivität«, die sich Bahn bricht, gleichsam ›para-dramatisch‹ zu bearbeiten ist: nämlich einzig und allein in den konflikt-affinen Aussprachen, die nun nach dem Verlassen des Theaters auf dem Boden der ›ersten‹ realen Welt stattfinden müssen. Denn hier sind auch die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass sich eine Kunstform, die sich ganz und gar dem Dialog verschreibt, hat entstehen können. Ohne diese Rahmung und Fundierung würde es dem Drama kaum gelingen, eine exklusive »zweite Welt« zu erschaffen, die die Zuschauer ephemer ruhigstellt und ihnen die nötige Zeit gibt, seelische Innenräume aufzubauen, in denen die Vorgänge auf der Bühne ein Echo finden (Rührung, Empörung, Einsicht), das sich nicht oder nur in ganz seltenen Fällen durch unmittelbare Verlautbarungen oder heftige körperliche Reaktionen kundgeben muss. Theaterskandale – welche durch Stücke wie Schillers Räuber hervorgerufen werden – sind dann die Ausnahme oder Vorboten einer neuen Epoche. Sie markieren ›Einbrüche‹ der historischen Zeit ins Spiel,22 die das Drama als logische Konsequenzen weder vorsieht, noch reflektiert. Solche Durchgriffe und Determinationen werden, sobald sie tatsächlich zur Geltung kommen, von den Autoren auf der inhaltlichen Ebene gleichsam abgefangen, in die Handlung eingewoben und dienen zur unterschwelligen Motivierung der Spielzüge.23 Für die dramatische Form bleiben sie irrelevant. Der Zufall wird durch die Vollzugslogik des Dramas systematisch eliminiert. Wo er dennoch machtvoll erscheint, »fällt er«, wie Szondi formuliert, »dem Drama von außen zu«.24 Dieser strikten Trennung von Innen und Außen, auf der das Drama als neuzeitlicher Idealtypus des Theaters beruht, korrespondiert seine völlige Konzentration auf die Gegenwart des Geschehens und die damit verbundene Suggestion einer bruchlosen Kontinuität der Ereignisketten. Eine solche Epiphanie von Präsenz kann das Drama gegen das alltägliche Bewusstsein, das dauernd mit Rückblicken und Vorgriffen beschäftigt ist, nur bewirken, wenn es »seine Zeit selbst […] stiftet«25 und das fragile Gebilde der ›Eigenzeit‹ durch die einheitliche und eindeutige topographische Situierung der dramatischen Wechselrede absichert. Nur im fiktiven 22| Vgl. die Formel bei Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Düsseldorf, Köln 1956. 23| Shakespeare klärt die Zuschauer nicht darüber auf, ob Hamlets Mutter an der Ermordung des Vaters beteiligt war oder nicht. Er tut dies – laut Carl Schmitt –, um die Referenz auf Maria Stuart, die Mutter des herrschenden Königs (Jakob I.), zu kaschieren. 24| Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 18. 25| Ebd., S. 17.
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Hier und Jetzt hat die »zwischenmenschliche Aussprache«,26 so bekundet das Drama, überhaupt eine realistische Chance, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu binden und die längst geschaffenen, aber permanent bedrohten Bedingungen der Kommunikation zu stützen und mit jenen erforderlichen Reizstoffen zu versehen, die eine produktive Weiterentwicklung dialogischer Praxis ermöglichen. Dass ein derartiges Modell und die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen es als Paradigma oder Idealtypus hat entstehen können, gegen Krisen nicht gefeit sind, ist alles andere als erstaunlich. Im 19. Jahrhundert ändert sich das »objektiv-historische Verhältnis«27 zwischen Drama und Gesellschaft ›dramatisch‹. Die Gegenwart wird zum gravierenden Problem. Und weil dies so ist, bleibt – laut Szondi – das Modell des neuzeitlichen Dramas, das die ungeheure Bedeutung der Gegenwart ins Bewusstsein zu heben versucht hat, auch in der Krise aufschlussreich. In welchem Maße die determinierenden Kräfte der Vergangenheit nun in den hermetischen Zirkel einer ästhetisch-politisch erzeugten Präsenz einbrechen, zeigen beispielhaft die Theaterstücke Ibsens, und wie sehr die Lockrufe einer besseren Zukunft die Menschen zugleich beflügeln und zu phlegmatischen Träumern machen können, führen Tschechows bittere Komödien vor. Zahlreiche Rettungs- und Lösungsversuche, mit denen problem-sensible Autoren auf die Krise des Dramas reagieren, belegen nur, dass sich das idealtypische Modell, welches Szondi skizziert hat, nicht revitalisieren lässt; sie legen aber auch die These nahe, dass die unterschiedlichen neuen Dramenformen, unter denen zunächst einmal die epische Form hervorsticht, stets als Reflex psychischer und sozialer Turbulenzen betrachtet werden können. Welches Gewicht Brechts Konzept besitzt, lässt sich daran ablesen, dass in der Kritik an seinen Grenzen und an den Denkblockaden, die es errichtet, eine ganze Palette von Theaterexperimenten Profil gewonnen hat, deren Spezifika heute unter dem Begriff »postdramatisches Theater«28 diskutiert werden. Hier zerfällt der enge Zusammenhang von Handlung und Dialog, der das dramatische Theater kennzeichnet; hier gibt es keine Fabel mehr, die die verborgene Gesellschaftsstruktur in sinnfälliger und pädagogisch verwertbarer Gestalt auf die Bühne stellt; hier verliert der Text insgesamt seine dominante Rolle und der menschliche Körper emanzipiert sich von den Sinn-Schemata, die alle seine Zustände und Befindlichkeiten als Symptome oder Zeichen für eine latente Wirkkraft entschlüsseln, welche je nach Bedarf registriert, gehegt, unterdrückt, befreit oder analytisch durchgearbeitet werden muss. 26| Ebd., S. 15. 27| Ebd., S. 21. 28| Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater. Zur frühen Konzeption eines text-aversen Theaters siehe Lutz Ellrich: »Carl Niessens Handbuch der Theater-Wissenschaft. Versuch einer ethnologischen Relektüre«, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft 55 (2009), H. 1–2, S. 175–192.
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III. Mit der Aufmerksamkeit für den Körper gerät auch wieder ein altes Thema: die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, die das Theater gegenüber allen anderen Medien auszeichnet, in den Blick. Diese Form der Gegenwart hatte das Drama – im Sinne Szondis – in Anspruch genommen, ohne sie sonderlich zu betonen. Aber welche Bewandtnis besitzt die theatrale Ko-Präsenz? Wenn man davon ausgeht, dass das Drama generell die normative Ordnung spielerisch zur Disposition stellt, so erzeugt jede konkrete Aufführung vor anwesenden Zuschauern einen besonderen Effekt: »Das gemeinsame Band der Theatersituation« drängt – wie Hans-Thies Lehmann notiert – »dem Publikum unausweichlich eine Art Komplizenschaft auf.« Der Zuschauer wird nämlich »zum Komplizen der symbolischen Entblößungen, Beleidigungen, Mordtaten auf der Bühne.« Und das bedeutet: »er wird durch seine Einfühlung in das gemeinsame symbolische Überschreiten der Normen hineingezogen.«29 Allein schon die Theatersituation, eben die »Kopräsenz von Akteuren und Besuchern«, führt dazu, dass sich die Zuschauer »als potentiell Involvierte erfahren«.30 Diese merkwürdige Erfahrung, in ein Geschehen involviert zu sein, das man nur aus der sicheren Distanz eines Betrachters wahrnimmt, lässt sich jedoch nicht allein mit der Ko-Präsenz von Spielern und Zuschauern erklären. Es bedarf eines weiteren wirkmächtigen Faktors. Dabei handelt es sich aber nicht um die Produktion von Affekten, die das Band zwischen Akteuren und Betrachtern knüpfen, sondern um die Herstellung eines spezifischen Wissens, nämlich eines Mit- und Mehrwissens, das den Bund stiftet. Im Anschluss an Erving Goffman hat Dietrich Schwanitz auf diesen Punkt hingewiesen und zugleich versucht, ein konstitutives Element des Dramas überhaupt herauszuarbeiten: Gewöhnliche Kommunikationen zwischen Menschen ergeben noch keine dramatische 29| Hans-Thies Lehmann: »(Sich)Darstellen. Sechs Hinweise auf das Obszöne«, in: Krassimira Kruschkova (Hg.): OB?SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Wien, Köln, Weimar 2005, S. 33–48, hier: S. 35f. Vgl. auch Hans-Thies Lehmann: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2002, S. 97f. 30| Lehmann: Das politische Schreiben, S 47; Vgl. Lehmanns These: »Das Theater hat seinen Ursprung im Ritus und bewahrte stets etwas vom rituellen Akt. Den Gang ins Theater umgibt als gesellschaftliches Ereignis, als das er, im Vergleich mit dem Kinobesuch, noch immer empfunden wird, der Abglanz einer rituellen Aura.« (ebd. S. 97) Siehe hierzu auch Walter Benjamins Befund: »Der einzigartige Wert des ›echten‹ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte. Diese mag so vermittelt sein wie sie will, sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar.« (Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [1936], in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main 1981, S. 7–44, hier: S. 16).
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Situation31 im strengen Sinne. »Es muß etwas hinzukommen, was ihre Rede besonders dramatisch, doppelbödig macht.«32 Und dies geschieht durch die Präsentation einer »Hinterbühneninformation«, die mit dem impliziten oder expliziten Wissen, das die »Darstellung« fundiert, nicht übereinstimmt.33 Wenn die Zuschauer etwas Entscheidendes erfahren, was nicht allen Akteuren auf der Bühne bekannt ist (z.B. Bedrohungen wahrnehmen), verlieren sie ihre Neutralität und werden zu Beteiligten, die in der einen oder anderen Weise Partei ergreifen.34 Und damit sind sie unversehens Teil der Intrige: Die Hineinnahme des realen Theaterpublikums in die Verschwörung wird zur Folge haben, daß dieses den Verschwörern gegenüber mit Sympathie für den Vertrauensbeweis reagiert ohne Rücksicht darauf, wie schurkenhaft die Verschwörer tatsächlich zu sein scheinen. Das ist der Grund für die bisher unzureichend erklärte Tatsache, daß das Publikum mit Sympathie auf Schurken reagiert.35
Das Publikum paktiert also (verführt durch sein Mehr-Wissen) mit bestimmten – zumeist moralisch fragwürdigen – Bühnenfiguren. Suggestiv wirkt nicht primär das quasi-rituelle Gesamtarrangement, sondern
31| Die Erzeugung einer dramatischen Situation kann auch in einem schwächeren Sinne verstanden werden. Dann ist damit nur gemeint, dass etwas auf die Bühne gebracht wird und allein dadurch schon aus dem alltäglichen Geschehen herausgehoben ist: »This sense of ›dramatize‹ highlights the fact that art is putting something into a frame, a particular context or stage that sets the work apart from the ordinary stream of life and thus marks it as art.« (Richard Shusterman: Surface & Depth. Dialectics of Criticism and Culture. Ithaca, London 2002, S. 233). 32| Friedrich Dürrenmatt: Theaterschriften und Reden. Zürich 1966, S. 111f.; vgl. Dietrich Schwanitz: Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit. Meisenheim am Glan 1977, S. 33. 33| Schwanitz: Die Wirklichkeit der Inszenierung, S. 32. Der Umstand, dass diese Konstellation auch in vielen Alltagssituationen gegeben ist, hat Erving Goffman, dessen Modell Schwanitz hier verwendet, dazu veranlasst, mit der Analogie von Theaterspiel und Interaktion zu operieren. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969. 34| In diesem Zusammenhang lässt sich die typische Reaktion von kleinen Kindern anführen, die (z.B. im Kasperletheater) durch Rufe und Geschrei Bühnenfiguren auf eine drohende Gefahr hinweisen wollen. 35| Schwanitz: Die Wirklichkeit der Inszenierung, S. 34. Dem versucht auch Lehmann in seiner Analyse Rechnung zu tragen. Im Anschluss an die oben zitierte – in den Publikationen von 2002 und 2005 identische – Stelle heißt es: »Man denke daran, wie Shakespeares RICHARD III. das Publikum, das seine Verbrechen fasziniert verfolgt, immer wieder wie verständnissinnige Mitverschwörer ins Vertrauen zieht.« (Lehmann: Das politische Schreiben, S. 98)
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die faszinierende ethische Suspension,36 die das Band zwischen den Zuschauern und bestimmten Figuren knüpft. Wenn diese Überlegungen triftig sind, so arbeitet das Theater – insofern es sich mit der Herstellung dramatischer Situationen befasst – gegen ein zentrales Motiv der abendländischen Kulturproduktion an: Der Zuschauer ist nämlich definiert durch die Kunst sich herauszuhalten. Deshalb genießt er die Anstrengungen der dramatisch-szenischen Akteure, ihn hereinzuziehen, als vergebliche. Gerade wenn ihm am meisten zugemutet wird, befreit er sich durch den rettenden Gedanken: Es ist nur Theater.37
Folgt man dieser These von Hans Blumenberg, so erweist sich das Theater nicht als Medium der Komplizenschaft, sondern als Institution, die bei der Produktion eines Zuschauers, der sich heraushalten kann, bemerkenswert erfolgreich ist, weil es unter Bedingungen physischer Nähe die Kunst zur Distanznahme, zum Unbeteiligtsein einübt und aus allen Anwesenden eben auch Abwesende macht. Die Suche nach den charakteristischen Merkmalen des Theaters führt offenbar zu zwei gegensätzlichen Bestimmungen. Weitere Überlegungen sind nötig. Als hilfreich erweist sich ein Text, in dem Lehmann die instruktive Unterscheidung zwischen dem klassischen dramatischen und dem postdramatischen Theater benutzt:38 Das »dramatische Prinzip« habe dafür gesorgt, dass das Bühnenspiel von der Realität gesondert blieb. Denn unter seiner ästhetischen Herrschaft beziehe der Zuschauer das dramatische Geschehen nicht »zuerst auf (s)eine Welt«, sondern auf »den fiktiven Kosmos des Dramas«. Erst im postdramatischen Theater werde »die Wahrnehmung auf den realen und mentalen Raum des Theaterereignisses selbst« gelenkt. Es trete jetzt mithin »diejenige Sphäre in den Vordergrund, die die ästhetische Figuration des Spiels unausweichlich mit der äußerästhetischen Wirklichkeit teilt: das Reale, die Praxis, die Situation des Theaters.« Und das Fazit der Analyse lautet: Dringt das Reale der ›Umwelt‹ des Spiels in dieses ein – durch Adressierung des Zuschauers, Rückwendung seiner Aufmerksamkeit auf die eigene Situation, das eigene Befinden, die eigene Beziehung zum Spiel –, so wird der Zuschauer nolens volens Teil des Theatervorgangs, Zeuge.39 36| Mit Gehlen könnte man von der entlastenden Funktion sprechen, die mit der ästhetisch produzierten ›Auszeit‹ der Moral einhergeht. 37| Hans Blumenberg: Ein mögliches Selbstverständnis. Stuttgart 1997, S. 93. 38| Hans-Thies Lehmann: »Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters). Überlegungen zum postdramatischen Theater«, in: Christoph Menke u. Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst – Fortschritt – Gesellschaft. Berlin 2006, S. 169–177, hier: S. 174. 39| Ebd., S. 174f.
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IV. Mit dem Hinweis auf die ›Zeugenschaft‹ des Zuschauers im postdramatischen Theater stößt Lehmann ins Zentrum der aktuellen Diskussion um den diagnostischen Wert und den sozialen Leitbildcharakter des Theaters vor. Zugleich erreicht er den Punkt, an dem sich entscheidet, welche Bedeutung dem alten, aber niemals veralteten Begriff der ›Katharsis‹ heute noch zukommt. In einem brillanten Aufsatz, der erst aus dem Nachlass publiziert wurde, hat Blumenberg die Funktion der antiken Katharsis neu interpretiert und dem modernen Begehren nach kathartischer Entlastung gegenübergestellt. Aristoteles’ Programm einer theatralischen Reinigung zielt – wie Blumenberg betont – nicht auf eine unmittelbare Beteiligung des Zuschauers am hier und jetzt ablaufenden Bühnengeschehen, sondern auf seine »nachträgliche Selbstimmunisierung«.40 Es geht also um die ästhetisch ermöglichte Einsicht, dass man die »mythischen Schrecknisse«, die den Stoff der Tragödie bilden, definitiv hinter sich gelassen und überwunden hat. Die Polis hat den Weg vom Chaos zur Ordnung beschritten und die Bürger registrieren dies im Theater mit tiefer Erleichterung. Katharsis ist »ein Aufatmen«,41 das im Theater kollektiv vollzogen wird und in der »mehr oder weniger frenetischen Äußerung von Beifall oder Mißfallen«42 seinen Ausdruck findet. In der Moderne freilich ist – nach Blumenberg – solch ein »Fertigwerden« mit einer grausigen Vorgeschichte nicht mehr möglich. Durch Bühnenspektakel, die dem Betrachter immer die »schlichte Freiheit« geben, zu verweilen oder wegzugehen, lässt sich »keine Katharsis am Ende« bewerkstelligen. Die Existenz des Theaters gab einst den Bürgern der Polis die Gewissheit, dass sie den entscheidenden zivilisatorischen Schritt der Distanzierung getan haben und sich deshalb im Theater einer künstlichen Wiederbelebung jener längst bewältigten Mächte ohne Gefahr aussetzen können. In der Moderne gibt das Theater den schaulustigen Besuchern etwas anderes zu verstehen: Es führt ihnen vor Augen, dass sie noch gar keine Zuschauer im eigentlichen Sinne sind, dass sie sich mithin auf die kulturell erworbene Indifferenz, die sie gegenüber den urtümlichen Drohungen auf Abstand bringt, nicht verlassen können. Katharsis wird damit zur ungeheuerlichen Aufgabe, zum Dauerproblem, dessen Lösung nicht absehbar ist. Und alle, die sich der Aufgabe annehmen, sind – ohne sonderlich große Aussicht auf Erfolg – zur harten, stetigen Arbeit am ›Zuschauer-Werden‹ verurteilt. Das Theater als Institution zeigt uns demnach die Spannung auf, die in der Moderne 40| Ethel Matala de Mazza: »Trauerarbeit im Welttheater. Kulturtechniken der Selbstbehauptung bei Hans Blumenberg«, in: Gerhard Neumann, Caroline Pross u. Gerald Wildgruber (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Freiburg 2000, S. 283–306, hier S. 285. 41| Blumenberg: Ein mögliches Selbstverständnis, S. 96. 42| Ebd., S. 93.
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zwischen zwei Modi des Weltbezugs besteht: 1. dem ebenso unausweichlichen wie unerträglichen Zustand des Betroffenseins und 2. dem Verlangen, die überlebensnotwendige Fähigkeit zur Distanznahme auszubilden und je nach konkretem Bedarf (kontrolliert) einzusetzen. ›Zeugenschaft‹ ist dafür die angemessene Metapher; denn sie markiert das Problem in seiner ganzen Schärfe und weist darauf hin, dass die Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken, die mit dem Medium Theater gewöhnlich verbunden sind, keineswegs per se zu einem besseren Verständnis der ›conditio humana‹ unter Bedingungen der Gegenwart führen. Stanley Cavell hat mit Nachdruck auf diese zweideutige ›Natur‹ des Theaters hingewiesen. Anders als Blumenberg sieht er im theatralen Ringen um eine Zuschauerrolle, die das distanzierte, ggf. sogar genießerische Betrachten leidender Bühnenfiguren ermöglicht, den gefährlichen Zug der dramatischen Kunst. Als Ursache für die heiklen Effekte des szenischen Spiels macht Cavell die unhintergehbare Trennung zwischen der dargestellten Handlung bzw. den agierenden Personen auf der einen Seite und den Zuschauern auf der anderen Seite (der Bühnenrampe) aus.43 Das Gift des Voyeurismus und der Hang zum ästhetischen Vergnügen an einer ludischen Virtuosität, die sich selbst genügt, sind keine zufälligen, äußerlichen Zugaben; sie entstammen vielmehr dieser strukturellen Gegebenheit. Und nur große Stücke (zum Beispiel Shakespeares King Lear oder Becketts Endgame)44 sowie strenge Inszenierungen können die theatrale Grundkonstellation von ihrem ›Makel‹ reinigen und so die gebotene Katharsis einleiten. Gerade in den spezifischen Merkmalen, die Schwanitz als wesentliche Elemente der »dramatischen Situation« herausgearbeitet hat, liegt für Cavell eines der zentralen Probleme. Die sogenannte »Hinterbühneninformation«, über die das Publikum verfügt, und das damit gegebene Mehrwissen des Zuschauers führen fast automatisch zu voyeuristischen Einstellungen und Formen einer falschen Komplizenschaft. Allein theatrale Arrangements, die dafür sorgen, dass das Publikum nicht mehr weiß als die Spielfiguren, lassen zwischen den Akteuren und ihren Betrachtern eine vollkommen präsentische Beziehung entstehen, in der ästhetische Gesichtspunkte durch ethische ergänzt und ggf. sogar überlagert werden. Das potenzielle Vergnügen am Intrigenplan und seiner szenischen Ausführung findet dann keine Ansatzpunkte. Beide, Darsteller und Zuschauer, müssen also – trotz der scharfen Rollen- und Funktionsdifferenz, die die Bühnenrampe (als räumliche Grenze) schafft – in das Zeitfeld der Gegenwart eintreten, damit echte Empathie entsteht. Erst dann ist die Voraussetzung gegeben, dass der Zuschauer sich in einen wahrhaften Zeugen des Geschehens verwandeln kann. Im Unterschied 43| Spielformen, die diese Trennung aufzuheben suchen (wie zum Beispiel das Lehrstück, in dem streng genommen alle Zuschauer auch Darsteller sein müssen, oder die Performance-Kunst), geben sich – aus der Warte Cavells – Illusionen hin. 44| Beiden Texten widmete Stanley Cavell (Must we mean what we say? A Book of Essays, Cambridge 1976) ausführliche Studien.
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zu Blumenberg macht Cavell die ursprüngliche Katharsis, die das Theater ermöglicht, nicht von einer Perspektive abhängig, welche dem Betrachter (zumindest in der Antike) die Gunst gewährt, das Drama gleichsam im Lichte der Nachträglichkeit zu erleben. Moderne Katharsis wird daher bei Cavell auch nicht (im Sinne Blumenbergs) zum ebenso unaufgebbaren wie unerfüllbaren Projekt, sondern zur Reinigung von aller banalen Schaulust und jener sündigen Mitwisserschaft, die der Identifikation mit dem Intriganten vorausgeht. Ein Zuschauer, der diese Katharsis-Erfahrung macht, wird sich zugleich der schmerzlichen Tatsache bewusst, dass er in das Drama unter keinen Umständen eingreifen und die Lage der Bühnenfiguren nicht beeinflussen kann. Er begreift vielmehr, dass er im Theater grundsätzlich zur Passivität verurteilt ist. Alles was ihm zu tun bleibt, besteht – nach Cavell – darin, Zeugnis vom Geschick der gespielten Figuren abzulegen und das Leiden an der eigenen Passivität zu bekunden. Dass die Passion der Passivität aber nicht das letzte Wort über den Versuch ist, die Welt theatralisch zu erschließen, zeigen Performances, die den Zuschauer nicht zur moralisch gehaltvollen Resignation vor dem Faktum einer unabdingbaren Differenz führen wollen, sondern die Differenz selbst zur Disposition stellen. Der Zuschauer soll nicht allein die Erfahrung machen, dass er doch in das Bühnengeschehen eingreifen kann, er soll auch den Eindruck gewinnen, dass dies ggf. auch moralisch geboten ist. Marina Abramović’ Performance Lips of Thomas, in deren Verlauf die Künstlerin sich selbst in eine gesundheitsgefährdende Lage bringt, liefert ein gutes Beispiel für den ambitionierten Versuch, sensationsgierige oder abgebrühte Betrachter ästhetischer Prozesse in existenziell betroffene Zeugen zu verwandeln, die zum (inszenierten und dennoch echten) Leiden einer Person jetzt und hier Stellung nehmen müssen. Jeder Zuschauer sieht sich nämlich mit der Frage konfrontiert, ob er die Tortur durch energische Hilfeleistungen beenden oder (als zahlender Kunstkonsument) in der distanzierten Haltung ästhetischer Reflexion verharren soll.45 Mit diesem Hinweis auf die Ambivalenz der Performance möchte ich schließen. Immerhin ist deutlich geworden, dass sich das gattungstheoretische Abgrenzungskriterium »Gegenwart« nicht mehr (wie etwa noch bei Szondi) allein von der im Drama vorgeführten Handlung her fassen lässt, sondern nur mit Bezug auf das Aufführungsereignis. Die Rolle des Zuschauers wird dann für die Bestimmung der Eigenart des Dramas entscheidend. An diesem Punkt aber führt die Analyse zu schwierigen Interpretationsproblemen, die das Verhältnis von Involviertheit und Distanz, Mehrwissen und Voyeurismus, Ästhetik und Ethik betreffen und derzeit noch ungelöst sind.
45| Siehe Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main 2004, S. 9ff.
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Die Auflösung des Dramas als Form des Sozialen (Peter Szondi, Gottfried Keller) Oliver Kohns
I. Wenn man Artikel über »Gattungen« in neueren Einführungen in die Literaturwissenschaft zur Hand nimmt, könnte man den Eindruck erhalten, die Thematik habe zwar die Dignität, aber zugleich auch die Aktualität und die Relevanz einer durch und durch scholastischen Auseinandersetzung. Man erfährt hier über widerstreitende Positionen von »Nominalisten« und »Realisten«1 und assoziiert wohl leicht eine Diskussion, die der bekannten Frage nach der möglichen Anzahl der Engel auf einer Nadelspitze ähnelt. Die Entgegensetzung von »nominalistischen« und »realistischen« Gattungstheorien, pointiert formuliert also verschiedenen Positionen bezüglich der Frage »Gibt es Gattungen?«, erscheint augenblicklich als überholt, sobald man sich vergegenwärtigt, dass der Begriff der Gattung eine intertextuelle Relation bezeichnet. Nicht ohne Grund nennt Genette Gattungen als eine Kategorie von »Transtextualität«:2 Ein einziger, singulärer, einzigartiger Text würde kaum einer Gattung zugerechnet werden können. (Man braucht die Singularität jedes Kunstwerks entsprechend nur mit ausreichender Emphase zu betonen, um, wie Croce, zur Ablehnung der Kategorie »Gattung« überhaupt zu gelangen.) Wenn es aber so ist, dass »Gattungen« als intertextuelle Relationen beschrieben werden können, dann wird deutlich, dass die Existenz einer Gattung nie »im Text«, sondern nur »zwischen Texten«, d.h. letztlich im Leser, bestehen muss. Die »konstruktivistische Synthese« der Gattungs1| Vgl. Klaus W. Hempfer: »Gattung«, in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 651–655, hier S. 652; Klaus Müller-Dyes: »Gattungsfragen«, in: Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 323–348, hier S. 323. 2| Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. von Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/Main 1993, S. 9.
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theorie, im Gefolge von Klaus W. Hempfer in vielen Texten zum Thema beschrieben – Gattungen als Konstruktion zu denken und zugleich als Wahrnehmung mehr oder weniger objektiver »Gemeinsamkeiten zwischen Texten«3 –, drückt diesen Umstand lediglich um einiges komplexer aus. Sobald man konzediert, dass der Ort der Gattung im Leser ist, stellt sich lediglich die – nunmehr hermeneutisch gewendete – Frage der Art der Konstruktion von Gattungen. Die Frage lautet demnach nicht mehr: Gibt es Gattungen? Oder wo sind sie?, sondern: Anhand welcher Kriterien kann eine als Gattungsbeziehung interpretierbare Beziehung zwischen Texten für eine Lektüre fruchtbar gemacht werden? Der Artikel über »Gattungen« aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft spricht hier recht vage lediglich davon, »generische[] Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Allgemeinheit […] aufgrund historisch immer schon vorgängiger Textgruppenbildung [zu] (re-) konstruieren«4 – nicht aber davon, wie und aufgrund welcher Gemeinsamkeiten diese Konstruktion (oder Rekonstruktion?) vorzugehen habe. Die vage Formulierung lässt eine Fülle verschiedener Möglichkeiten offen, Gattungen zu konstruieren. Rein formalistische Ansätze – man kann literarische Texte aufgrund einer gemeinsamen Akt- oder Zeilenzahl (Einakter, Sonett), einer Thematik (Abenteuer-, Liebes-, Sozialroman), vielleicht auch […] aufgrund eines gemeinsamen Schauplatzes ([…] »the literature of Sussex«) zu einer Gattung erklären5 –
künden weder von tiefer Erkenntnis der Werke noch versprechen sie, dem Verstehen literarischer Texte – und nur darum kann es letztendlich gehen – in irgendeiner Weise zu helfen. Vielversprechender erscheint dagegen Wilhelm Voßkamps »strukturund funktionsgeschichtlicher« Ansatz zur Konstruktion von Gattungen. Voßkamp führt seinen Ansatz – in einem vielzitierten Text – am Beispiel des Bildungsromans vor, und er definiert diese Gattung wie folgt: Es handelt sich um die narrative Darstellung der Ausbildung eines individuellen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der Realität, wobei die einzelnen Akzentuierungen und ›Lösungsmöglichkeiten‹ schon entscheidende Hinweise auf das Eingespanntsein dieser Romanformen zwischen literarischer Eigengesetzlichkeit und geschichtlicher Sozialabhängigkeit liefern. 6
3| Hempfer: Gattung, S. 653. 4| Ebd., S. 654. 5| P[eter] W[enzel]: »Gattungstheorie und Gattungspoetik«, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 1998, S. 175–178, hier S. 177. 6| Wilhelm Voßkamp: »Gattungen«, in: Helmut Brackert u. Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 253–269, hier S. 259f.
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Unmöglich können in diesem Zusammenhang alle Implikationen und Probleme dieser Bestimmung diskutiert werden, ich deute zwei Punkte nur an: Einerseits setzt die Definition ein Verständnis des Wortes »narrativ« ebenso voraus wie das des Wortes »Roman« – es handelt sich also um die Bestimmung einer Untergattung, was systematisch unbefriedigend ist, weil es nichts über die Möglichkeit der Bestimmung von Hauptgattungen aussagt; andererseits umgeht die Konzentration auf den »Bildungsroman« die in Voßkamps Text ausführlich diskutierte Frage von normativer versus nicht-normativer Bestimmung einer Gattung bzw. der möglicherweise [?] heuristisch notwendigen Ausrichtung an einem »Archetypus« der Gattung,7 indem in Goethes Wilhelm Meister ein solcher Archetyp zumindest für die Untergattung »Bildungsroman« – aber eben wohl nur für diese – nahezu im literarhistorischen Konsens vorausgesetzt werden kann. Wichtiger erscheinen allerdings zwei andere Punkte: Erstens: Voßkamp gelingt es mit seiner Bestimmung des Bildungsromans präzise, eine Anbindung von Gattungsgeschichte an Sozialgeschichte beschreibbar zu machen. Dies geschieht über die Anbindung der narrativen Struktur des Bildungsromans an intellektuelle und soziale Interessen des deutschen Bürgertums: Die Gattung wird so lesbar als »eine spezifische literarische Utopie der inneren Selbstverwirklichung und individuellen Perfektibilisierung des Subjekts«.8 Zweitens: Es wird deutlich, dass die Verbindung von Gattungs- und Sozialgeschichte hier durch eine wesentlich inhaltliche Gattungsbestimmung ermöglicht wird: »Bildung« und »Perfektibilisierung des Subjekts« werden vorrangig als Themen des Bildungsromans eingeführt, auch wenn letzteres einen Einfluss auf die narrative Struktur der Romane haben mag. Diese knappen Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Gattungsdiskussion müssen genügen um zu verdeutlichen, warum ein Interesse an alternativen Modellen der Beschreibung von Gattungen bestehen kann. Ich möchte im Folgenden mit Peter Szondis ein alternatives Modell diskutieren, das in den 1950er Jahren entwickelt wurde – insbesondere, wenn auch nur ansatzweise in theoretisch anschlussfähigem Vokabular, in Szondis Theorie des modernen Dramas aus dem Jahr 1956. In einem weiteren Schritt möchte ich Szondis Theorie des Dramas kurz mit Hegels Systematik der Gattungen vergleichen und damit die Möglichkeit der Systematisierbarkeit von Gattungen überhaupt ansprechen.
II. Auf den ersten Blick erscheint Szondis Theorie des modernen Dramas – zumal aus heutiger Perspektive betrachtet – als außerordentlich mutig, wenn nicht gewagt. Mutig jedenfalls erscheint es, eine Monographie über 7| Ebd., S. 257. 8| Ebd., S. 261.
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das Drama mit einem Einleitungskapitel zu beginnen, welches die »Historien Shakespeares« ebenso wie die »griechischen Tragödien« einfach aus dem Untersuchungsfeld ausschließt, »da ihr Wesen erst auf einem anderen Horizont erkannt werden könnte.«9 Auch die gattungstheoretische Methode Szondis – aufgrund derer dieser Ausschluss erfolgen kann – erscheint als mutig. Szondi legt, ohne dies auf welche Art auch immer herzuleiten, fest, dass das entscheidende Merkmal der Gattung Drama – das Merkmal also, welches die Gattung von anderen Gattungen unterscheidet – der Dialog ist. Die Festlegung auf den Dialog wirkt zunächst etwas willkürlich; zumindest weicht sie von der traditionellen Perspektive ab, die je nach Perspektive Konzepte wie Mimesis, Repräsentation oder Handlung als zentrale Bestimmung des Dramatischen sehen würde.10 Szondis Verfahrensweise ist in der Forschungsliteratur dann auch gelegentlich als normativ kritisiert worden – was in diesem Zusammenhang nur bedeuten kann: willkürlich setzend.11 Allerdings begründet Szondi seine Festlegung auf den Dialog als entscheidendes Kriterium des Dramas auch nur einzig durch einen kurzen geistesgeschichtlich orientierten Abschnitt – weniger als eine Seite umfassend –, der im Anschluss an Hegel die Haltung der Renaissance zur Wirklichkeit darstellt. Die Beziehung zur Welt ist für den RenaissanceMenschen, schreibt Szondi, wesentlich eine soziale Beziehung zum Mitmenschen: Die Renaissance kannte kein jenseits des Sozialen, und auch der einzelne Mensch erscheint hier »gleichsam nur als Mitmensch«.12 Mit der Betonung der Zwischenmenschlichkeit ist schon der Übergang von der geistesgeschichtlichen Darstellung zur gattungstheoretischen Analyse geebnet: »Das sprachliche Medium dieser zwischenmenschlichen Welt aber war der Dialog.«13 Indem Szondi den Weltbezug des Menschen in der Renaissance als ausschließlich soziale Relation bestimmt, kann er den dramatischen Dialog als Totalität des Lebens definieren. »Das Drama«, schreibt Szondi, »ist absolut. Um reiner Bezug, das heißt: dramatisch sein zu können, muß es von allem ihm Äußerlichen abgelöst sein. Es kennt nichts außer sich.«14 In der Radikalität dieser Formulierungen kann das Drama für Szondi folglich nicht mehr als Repräsentation einer vorgängigen oder sonstwie 9| Peter Szondi: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/Main 1978, S. 14f. 10| Vgl. Dietrich Schwanitz, Helga Schwalm u. Alexander Weiszflog: »Drama, Bauformen und Theorie«, in: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt/Main: Fischer, Bd. 1, S. 397–420, hier S. 399. 11| Vgl. Stefan Scherer: »Philologische Modernisierung in der Restauration. Literaturwissenschaft in den 1950er Jahren: Peter Szondi«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 292–316, hier S. 304. 12| Szondi: Schriften I, S. 16. 13| Ebd. 14| Ebd., S. 17.
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außerhalb der dramatischen Welt liegenden »Wirklichkeit« verstanden werden: Die Bühne ist für das Drama die gesamte Wirklichkeit, und die dramatische Handlung, letztlich allein der dramatische Dialog, ist eine eigene Wirklichkeit. Aus dieser Argumentation heraus gelingt es Szondi sogar, die Lehre der dramatischen Einheiten ästhetisch zu legitimieren, denn nur die Beachtung der Einheit der Zeit wie des Raums ermöglicht, Szondi zufolge, die Absolutheit des Dramas.15 Das Ziel von Szondis gattungstheoretischem Entwurf ist freilich keine Ästhetik des Dramas – und schon gar nicht eine Legitimation der Ästhetiken des 17. Jahrhunderts –, sondern »eine historische Ästhetik«,16 also ein geschichtsphilosophischer Zugriff auf die Gattungsfrage. Diesen Zugriff bietet das Kapitel über »Die Krise des Dramas« durch die Verbindung von Dramenästhetik und Theorie der Moderne. Während das (klassische) Drama wesentlich durch die Präsentierung eines »gegenwärtigen zwischenmenschlichen Geschehens«17 definiert sei, bestimmt Szondi den Umbruch der Moderne in der Negation jeder dieser drei Kategorien. Das tätige Leben in der Gegenwart weicht […] dem träumerischen in der Erinnerung und der Utopie. Das Geschehen wird beiläufig und der Dialog, die zwischenmenschliche Ausspracheform, zum Gefäß monologischer Reflexionen.18
Szondi kommt zu diesem Ergebnis einerseits über den etwas vagen Zugriff auf soziologische Vorgaben (»ökonomisch-politische Zustände«, »entfremdete Zuständlichkeit«19), andererseits aber – und vor allem – durch die analytische Lektüre seines Textkorpus’, der Dramen Tschechows, Ibsens, Strindbergs, Maeterlincks und Hauptmanns. Das »soziale Drama« Hauptmanns, argumentiert Szondi, entwickle eine gewissermaßen soziologische Perspektive auf seine Akteure, die genau darum keine handelnden Akteure mehr sein könnten. In soziologischer Perspektive ist die Gegenwart der dramatischen Handlung verloren (denn die Gegenwart »gleicht […] dem, was immer schon war und auch künftighin sein wird«20), eine Handlung, die ein dramatisches Geschehen begründen könnte, ist mit einem Personal, das sozialer Determination unterworfen ist, nicht darstellbar; weshalb zugleich das Zwischenmenschliche nicht mehr der soziale Raum sein kann: an seine Stelle tritt »entfremdete Objektivität«.21 Modernität ist in Szondis Perspektive also zentral die Negation aller drei Kategorien (Gegenwärtigkeit – Zwischenmenschlichkeit – Geschehen), die in der Re-
15| Vgl. ebd., S. 19. 16| Ebd., S. 13. 17| Ebd., S. 69. 18| Ebd. 19| Ebd., S. 59. 20| Ebd., S. 61. 21| Ebd.
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naissance das Drama zur idealen Repräsentation der Welt als Schauplatz zwischenmenschlicher Beziehungen gemacht haben. Szondi löst mit dieser Konzeption der Gattungsgeschichte des Dramas den zu Beginn seiner Theorie des modernen Dramas formulierten Anspruch ein, die Historizität von Gattungen anders zu denken als in traditionellen Opposition von überzeitlicher Form und zeitlich situiertem Stoff. »Die vorgegebene Form«, so skizziert Szondi diese »traditionelle Auffassung«, ist »historisch indifferent, geschichtlich ursprünglich nur der Stoff, und das entstandene Drama erscheint, dem gemeinsamen Schema jeder vorhistorischen Theorie entsprechend, als historische Verwirklichung einer zeitlosen Form.«22 Szondi schließt dagegen an die »Identischsetzung von Form und Inhalt«23 an, die er in Hegels Wissenschaft der Logik vollzogen sieht. Szondis Version dieser Identischsetzung von Form und Inhalt ist die Festlegung des Dialogs als das entscheidende Merkmal des Dramas. Damit ist nicht allein gesagt, dass die Form hier die einzige Möglichkeit bietet, in der ein Inhalt überhaupt als solcher erscheinen kann. Mit dem Begriff der »Form-Inhalt-Dialektik« zielt Szondi vielmehr auf die Möglichkeit einer »Form-Semantik«, d.h. auf ein Nebeneinander von »inhaltlicher Aussage« und »formaler«.24 »Damit«, ergänzt Szondi, »ist jedoch schon die Möglichkeit gesetzt, daß die inhaltliche Aussage zur formalen in Widerspruch gerät.«25 Das Identischsetzen von Form und Inhalt schließt den Widerspruch zwischen Inhalt und Form nicht aus, sondern soll ihn zuallererst ermöglichen, indem die Form ebenfalls als Inhalt – und das heißt als semantische Kategorie, als Objekt einer hermeneutischen Operation – bestimmt wird. Szondis Beschreibung dieser jederzeit möglichen inneren Widersprüchlichkeit des literarischen Textes erinnert an de Mans Postulat, der literarische Text praktiziere nicht und möglicherweise nie dasjenige, was er predigt 26 – und tatsächlich wird de Mans Idee einer notwendigen inneren Inkohärenz inspiriert sein durch Szondis Gattungstheorie. Die theoretischen Dispositionen Szondis und de Mans sind auf den ersten Blick weiter entfernt als auf den zweiten: Szondi entwickelt seine Idee innerer Widersprüchlichkeit von der Gattungstheorie her, de Man aus dem Feld der Rhetorik. Allerdings sind Gattungen für Szondi offenbar mehr als nur Ordnungsregister des Literaturwissenschaftlers, so wie Rhetorik für de Man mehr ist als ein Handwerkskasten von Tropen und Figuren: In beiden Fällen geht es um elementare Formen des Sagbaren.
22| Ebd., S. 11f. 23| Ebd., S. 12. 24| Ebd., S. 13. 25| Ebd. 26| Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übers. von Werner Hamacher und Peter Krumme. Frankfurt/Main 1988, S. 45.
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Von hier aus können zwei Problemfelder definiert werden, die Szondis Theorie des modernen Dramas auch 50 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung als einen neuen – d.h. noch nicht wirklich rezipierten – Beitrag zur Gattungsdiskussion erscheinen lassen. Beide Problemfelder betreffen unmittelbar die Art und Weise, wie Gattungen analysiert werden. Erstens: Szondi beschreibt Gattungen nicht, wie es der common sense noch der aktuellen Lexikonartikel will, lediglich anhand der Feststellung von »Gemeinsamkeiten« zwischen Texten. Zwar geht auch die Theorie des modernen Dramas elementar von der Frage nach formalen oder inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen zeitlich auseinanderliegenden Texten aus: Die Feststellung von Gemeinsamkeiten zwischen dem Drama Racines und dem Gerhart Hauptmanns ist hier aber offensichtlich nur der erste Schritt, das eigentliche Erkenntnisziel sind die Differenzen zwischen beiden Werken – und die historische Dynamik, die diese Differenzen hervorbringt. Zweitens: Sowohl »Gemeinsamkeiten« als auch Differenzen werden weder rein formalistisch (d.h. nach rein äußerlichen Kriterien) noch inhaltlich definiert. Der Dialog ist für die Verbindung zwischen dem »klassischen« und dem »modernen« Drama vielmehr eine systematische Schnittstelle, insofern er für die Texte die Form des Sagbaren – die Form der Kommunikation mit anderen Worten – darstellt. Der Dialog ist eine »Form des Sagbaren«, insofern er mehr ist als nur die Art und Weise, in der ein gegebener Stoff eine Form annimmt oder in der eine Form durch Inhalt gefüllt wird: Er sagt etwas aus über die Art und Weise, in der das Drama jegliche Art von Kommunikation und Soziabilität vorstellbar macht. Szondi liest das Drama mit anderen Worten nicht einfach nur als eine literarische Textsorte, sondern als eine Inszenierung (und gleichzeitige Reflexion) von Kommunikation und Gesellschaftlichkeit überhaupt. Die Form ist Form des Sozialen überhaupt, nicht allein Form für einen Stoff. In diesem Sinn kann ein Satz aus Lukács’ Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas verstanden werden, den Szondi zu Beginn seiner Vorlesungen über Das lyrische Drama des Fin de siècle zitiert: »Das wirklich Soziale aber in der Literatur ist: die Form.«27 Streng besehen gilt diese Aussage innerhalb von Szondis theoretischem Modell allerdings nur für das »klassische« Drama. Was Szondi als den »Übergang vom reinen Dramenstil zum widersprüchlichen«28 bezeichnet – eben den Eintritt in die »Krise des Dramas« –, ist notwendigerweise nicht nur eine »stilistische« Änderung, sondern zugleich der unwiderrufliche Verlust der Einheit von »Form« und sozialer Ordnung. Das »klassische« Drama ist Szondi zufolge vor allem durch sein Potential der Gegenwärtigkeit charakterisiert: Die Zeit des Dramas ist »auch
27| Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 4. Hg. v. Henriette Beese. Frankfurt/Main 1975, S. 26. 28| Szondi: Schriften I, S. 74.
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je die Gegenwart«,29 schreibt Szondi, und nur dieser Umstand sichere zugleich die räumliche Gegenwärtigkeit der Szenerie. Das Drama muss eine »zeitliche Zerrissenheit der Szenen«30 verhindern, um die Illusion einer abgeschlossenen eigenen Welt zu eröffnen: Alles außerhalb der dramatischen Handlung Liegende »muß […] aus dem Bewußtsein des Zuschauers ausgeschieden werden«,31 denn es würde die Totalität des Dramas negieren. Aus dieser Gegenwärtigkeit des Handelns auf der Bühne resultiert die Gegenwärtigkeit des Zuschauers dem Handeln gegenüber: »Seine totale Passivität hat«, schreibt Szondi, »in eine irrationale Aktivität umzuschlagen«,32 aus »vollkommener Trennung« zwischen Drama und Zuschauer wird letztlich »vollkommene Identität«:33 Der Zuschauer ist während der Aufführung in strikter Passivität versunken, erreicht aber durch diese eine kathartische Aufwühlung und erlebt sich selbst als Teilnehmer der dramatischen Welt – ein Übergang, der möglich ist aufgrund der Annahme, dass die Realität des Menschen in der Renaissance ebenso wie das Drama dieser Epoche durch das Prinzip der Zwischenmenschlichkeit, die Absolutheit des Sozialen und also des Dialogs, gekennzeichnet ist. Die Katharsis wird hier zum Zeichen einer selbstreflexiven Erkenntnis: Der Dialog, die Form des Sozialen, wird hier (und nur hier) als solche sichtbar und darstellbar. Die Gegenwärtigkeit des Dramas ermöglicht – modern formuliert – eine Selbstreflexion des Sozialen, Kommunikation über Kommunikation. Diese Gegenwärtigkeit des Dramas, welche die Identität zwischen dramatischer Handlung und der Welt des Zuschauers begründet, geht in der »Krise des Dramas« systematisch verloren. Die Einzelanalysen in Szondis Theorie des modernen Dramas zielen immer wieder auf die Feststellung von Inkommunikabilität: In Tschechows Drei Schwestern erkennt Szondi eine »Expressivität des Aneinander-vorbei-Redens«, die »im schmerzhaftparodistischen Kontrast zum wahren Dialog«34 gründe; in Strindbergs Dramen verliere »der Monolog den Ausnahmecharakter, den er im Drama notwendig besitzt«;35 in den Texten Maurice Maeterlincks schließlich »verselbständigt sich« die Sprache, ihre »Aufteilung in einzelne ›Repliken‹ entspricht keinem Gespräch wie beim echten Drama, spiegelt einzig das Nervös-Schillernde der Ungewißheit.«36 Das Drama besitzt in der »Krise des Dramas« notwendigerweise weiterhin die Form des Dialogs, dieser ist aber kein »wahrer« Dialog mehr. »Widersprüchlich« ist die Form des Dramas in seiner »Krise« demnach, insofern dieses die äußerliche Form 29| Ebd., S. 19. 30| Ebd. 31| Ebd. 32| Ebd., S. 17. 33| Ebd. 34| Ebd., S. 38. 35| Ebd., S. 44. 36| Ebd., S. 57.
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des Dramatischen inhaltlich negiert: Zugleich ist die Form des Dramas in seiner Krise aber nicht mehr die »Form des Sozialen«, sondern allenfalls die Form der Auflösung des Sozialen und der Auflösung jeder Form überhaupt. Die Form des Dramas in seiner »Krise« ist ferner »widersprüchlich«, insofern das Drama über die Unmöglichkeit des »Gesprächs« weiterhin sprechen muss: Es kann die Auflösung des Sozialen nicht mehr, wie das »klassische« Dramas die Bedingungen seiner Konstituierung, mimetisch abbilden und löst daher die Einheit des Sozialen und der literarischen Form auf. Damit löst sich zugleich die »Gegenwärtigkeit« zwischen Drama und Zuschauern auf, diese verlieren die Möglichkeit, über das Drama zur kathartischen Selbstreflexion ihrer sozialen Situation zu gelangen. Szondis Verbindung von Geschichtsphilosophie und Gattungstheorie mündet demnach – einmal mehr – in eine Erzählung vom Ende klar abgrenzbarer Formen. Einmal mehr, denn bereits Schlegels Gedanken über die Möglichkeit der Verknüpfung von Gattungstheorie und Geschichtsphilosophie – die Szondi zufolge von Hegels Ästhetik nur aus- und fortgeschrieben werden37 – münden, wie Szondi in seinen Vorlesungen zur Gattungspoetik ausführt, in die Einsicht einer »Überwindung der Gattungspoetik vermittels der […] Entgrenzung der Dichtarten«.38 Man wird ferner eine Verbindung zu Hegels Ästhetik sehen können, in der zwar nicht ausdrücklich von einer »Überwindung« oder »Entgrenzung« der Gattungen gesprochen wird, wohl aber – bekanntlich – vom »Ende der Kunst« und damit von einer Überformung alles »Poetischen« durch ein »Prosaisches« in der Moderne (Lukács’ Theorie des Romans buchstabiert diese Überformung gewissermaßen am Beispiel des Übergangs vom Epos zum Roman aus). Inwiefern Szondis Theorie des modernen Dramas auch dort an Hegels Ästhetik anknüpft, wo dies nicht ausdrücklich markiert ist, wird deutlich in Szondis Vorlesungen über Hegel. Von Interesse ist hier naheliegenderweise der Abschnitt über die Art und Weise, in der Hegel Gattungen konzipiert. Tatsächlich erschließt sich erst im Rückgriff auf Hegels Ästhetik der systematische Hintergrund von Szondis Gattungskonzeption. Hegels Ästhetik spricht den Grund für die Systematik seiner Gattungseinteilung offen aus: Es geht, so Hegel, um den Gesichtspunkt, »daß die Kunst, indem ihre Gebilde jetzt in die sinnliche Realität herauszutreten die Bestimmung erhalten, dadurch nun auch für Sinne sei, so daß also die Bestimmtheit dieser Sinne und der ihnen entsprechenden Materialität, in welcher sich das Kunstwerk objektiviert, die Einteilungsgründe für die einzelnen
37| Vgl. Peter Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. In: ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Fietkau. Frankfurt/Main 1974, S. 7–183, hier S. 140. 38| Ebd., S. 138.
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Künste abgeben müsse.«39 Die Grundfrage von Hegels Ästhetik ist, mit anderen Worten, auf welche verschiedene Art und Weise ein Material zum Träger für künstlerischen Sinn werden kann: mit anderen Worten, auf welche spezifische Art eine Kunst jeweils Sinnlichkeit in Sinn verwandelt. Die Einteilung der verschiedenen Künste folgt entsprechend ihrer verschiedenen Materialität, und die geschichtsphilosophische Anordnung der Künste geschieht dergestalt, dass sie in abnehmender Materialität auftreten: Auf die noch sehr materialgebundene Plastik folgt die Malerei, die Musik und schließlich die »Dichtung« als eine Kunst, deren »eigentliches Material« einzig die »Phantasie selbst bleibt«,40 die kaum noch materiell zu bezeichnende Vorstellungskraft des Autors und Lesers also. In seiner Vorlesung über Hegels Ästhetik verweigert Szondi Hegel genau an diesem Punkt die Gefolgschaft. »Das System der einzelnen Künste«, schreibt Szondi, sei von Bedeutung, weil wir gerade dann, wenn wir entgegen Hegel als das Material der Dichtung nicht die Phantasie, sondern die Sprache ansehen wollen, auf jenen Prozeß zurückgreifen können, der im Material stattfindet und der die einzelnen Künste hervorbringt. 41
Damit zieht Szondi in seiner Vorlesung über Hegels Ästhetik eine – wenige Seiten später ausdrückliche42 – Parallele zwischen diesem Standardwerk moderner Ästhetik und seiner eigenen Theorie des modernen Dramas. Und tatsächlich folgt Szondis Gattungstheorie der Vorgabe Hegels, insofern er das Drama – analog zur Hegelschen Gattungssystematik – als eine spezifische Form der Darstellung und Darstellbarkeit definiert. Allerdings folgt nicht allein die Systematik der Gattungsordnung bei Szondi der Vorgabe Hegels: Auch die geschichtsphilosophische Konstellation der Theorie des modernen Dramas steht in der Nachfolge von Hegels Ästhetik. Der Übergang von der »reinen« zur »widersprüchlichen« Dramenform entspricht Hegels Annahme des »prosaischen« Weltzustands der Moderne, in dem Literatur nicht mehr substantielles Abbild der Gesellschaft sein kann – einfach aus dem Grund, weil das handelnde Individuum (welches allein der literarische Texte darstellen kann) in der Moderne nicht ein wirklich handelndes Individuum sein kann. »So kann denn«, schreibt Hegel, 39| Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Ders.: Werke. Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. 20 Bde. Frank furt/Main 1986, Bd. 14, S. 254. 40| Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Ders.: Werke. Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. 20 Bde. Frank furt/Main 1986, Bd. 15, S. 233. 41| Peter Szondi: »Hegels Lehre von der Dichtung«, in: Ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2. Hg. v. Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt/Main 1974, S. 267–511, S. 478f. 42| Vgl. ebd., S. 497f.
D IE A UFLÖSUNG DES D RAMAS ALS F ORM DES S OZIALEN überhaupt in unserem gegenwärtigen Weltzustande das Subjekt allerdings nach dieser oder jener Seite hin aus sich selber handeln, aber jeder Einzelne gehört doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an und erscheint nicht als die selbständige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschränktes Glied derselben. 43
Die Moderne ist – bereits für Hegel – aus systematischen Gründen keine Epoche des dramatischen Handelns mehr.44 Die Zusammenstellung von Gattungstheorie und Geschichtsphilosophie ist für Szondi demnach alles andere als trivial: Aus geschichtsphilosophischer Perspektive wird das Gattungssystem in der Moderne problematisch und grundsätzlich fragwürdig. Präziser: Aus gattungstheoretischer Perspektive lässt sich »Moderne« als diejenige Epoche bestimmen, in der Gattungen nicht mehr als problemlos »gegeben« und systematisierbar erscheinen können. In diesem Sinn berührt auch Szondi, ebenso wie Schlegel in einem Satz Szondis, »die Frage der Gattungen und des Systems doch kaum je unter Absehung von der Frage nach deren Historizität – einer Frage, welche die Gattungen und das System, wie man weiß, selber in Frage stellt.«45 Die Frage nach »den Bedingungen der Möglichkeit poetischer Gattungsbegriffe«46 muss, so kann man von Schlegel (und Szondi) lernen, gestellt werden, obwohl oder weil sie die Konstruktion von Gattungen grundsätzlich in Frage stellen kann. Der Imperativ, die Konstruktion von Gattungen grundsätzlich in Frage zu stellen, klingt zugegeben, als rate ausgerechnet Szondi schlussendlich doch von weiterer Beschäftigung mit Gattungstheorie ab. Tatsächlich allerdings ist das Infragestellen nicht ein Ergebnis einer Untersuchung, sondern vielmehr erst deren Möglichkeit: Literaturgeschichte, so könnte man mit Szondi sagen, ist die Destruktion von Gattungstheorie. Erst die Beschäftigung mit der Frage der Gattung macht deren Analyse – und das heißt wörtlich: Zertrennung, Zergliederung, Zersetzung – im literarischen Text lesbar.
III. Nach »Beispielen« für diese Dekonstruktion der Gattungstheorie in der Literaturgeschichte zu fragen, würde Szondis Insistenz auf der Singularität des literarischen Textes widersprechen. Szondi verweist darauf, »daß jedem Kunstwerk ein monarchischer Zug eigen ist, daß es – nach einer Bemerkung Valérys – allein durch sein Dasein alle anderen Kunstwerke 43| Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Ders.: Werke. Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. 20 Bde. Frank furt/Main 1986, Bd. 13, S. 254f. 44| Vgl. Szondi: Hegels Lehre von der Dichtung, S. 414. 45| Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, S. 127. 46| Ebd., S. 115.
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zunichte machen möchte.«47 Wenn aber jedem Kunstwerk ein »monarchischer Zug« eigen ist, dann gibt es keine besseren oder schlechteren »Beispiele« für eine allgemeine Struktur. Jeder literarische Text erzählt dann vielmehr von der Auflösung der Form und des Gattungssystems in der Moderne. Gottfried Kellers Erzählung Romeo und Julia auf dem Dorfe trägt die Ablösung von der Form des Dramas bereits im Titel. Die Novelle ist dergestalt nicht nur eine Erzählung über eine unmögliche Liebe zwischen zwei jungen Menschen, sondern zugleich auch eine Erzählung über die Auflösung der dramatischen Form. Die Beziehung zur Form des Dramas geschieht dabei offenkundig zunächst über die intertextuelle Referenz auf Shakespeares Prätext. Die vergleichende Lektüre beider Texte enthüllt jedoch rasch, dass die Parallelen eigentlich nur die Oberfläche des plots betreffen und die Differenzen sich als analytisch brauchbarer erweisen als die Gemeinsamkeiten. Die Verbindungen zwischen der Handlung des Dramas und der Novelle beschränken sich auf einige (freilich zentrale) Elemente der äußeren Handlung, die rasch aufgelistet sind: Das Motiv der verfeindeten Familien in Verbindung mit den sich trotzdem liebenden Kindern, die Übernahme persönlicher Schuld durch Romeo (er tötet Tybalt, den Vetter Julias) bzw. durch Sali (er schlägt Marti, den Vater Vrenchens, wahnsinnig); ferner der gemeinsame Tod der beiden Liebenden zum Schluss der Handlung. Aber bereits der Zusatz »auf dem Dorfe« markiert eine Verschiebung des Personentableaus: Während Shakespeares Drama – wie es die Tradition der Tragödie vorsieht – im Milieu der Veroneser Aristokratie spielt, entstammen Kellers Hauptfiguren aus verarmten Bauernfamilien und sind zu einer prekären Lebensweise gezwungen. Auch die Umstände des Tods der beiden Hauptfiguren sind bei Keller signifikant anders als bei Shakespeare: Während Shakespeares Liebende gewissermaßen durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ums Leben kommen, erscheinen Sali und Vrenchen ab einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte bei Keller hoffnungs- wie rettungslos, sie lehnen das Angebot des schwarzen Geigers auf Hilfe ab und gehen geradezu zielstrebig in einen kalten und nassen Tod. Pointiert formuliert: Shakespeares Protagonisten wollen leben und sterben durch tragische Irrtümer, Kellers Liebende beschließen an einem bestimmten Punkt der Erzählung zu sterben. Diese Parallelen auf der Ebene des plots bleiben jedoch oberflächlich. Ein tieferes Verständnis der Auflösung der Form in Kellers Erzählung eröffnet sich, wenn man die Dimension des »Tragischen« als eine Vermittlungsinstanz zwischen der Ebene des plots und derjenigen der Form hinzuzieht. Die Unterscheidung zwischen der Tragödie als einer dramatischen Form und dem Tragischen als einem philosophischen Konzept, das gewissermaßen den Kern der Tragödie bestimmen soll, ist ein Produkt der idealistischen Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts. Schel47| Szondi: Schriften I, S. 275.
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ling definiert das Tragische wesentlich als eine Widersprüchlichkeit, die darin besteht, dass die Hauptfigur der Tragödie ein Verbrechen begeht, obwohl sie doch nur das Richtige tun will.48 So schreibt Schelling: »Ein Sterblicher – vom Verhängnis zum Verbrecher bestimmt, selbst gegen das Verhängnis kämpfend, und doch fürchterlich bestraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schicksals war!«49 Man kann unschwer die Grundkonstellation von Sophokles’ Tragödie Ödipus in diesem Satz wiedererkennen: Der Widerspruch, von dem Schelling spricht, lässt sich beschreiben als der Gegensatz zwischen Ödipus’ Suche nach Wahrheit und Aufklärung (der »Kampf gegen das Schicksal«) und dem Umstand, dass er selbst das aufzuklärende Verbrechen begangen hat (das »Werk des Schicksals«). Für Schelling ist dieser Widerspruch zu ertragen, weil er ein notwendiger Widerspruch sei: Er versteht ihn als den »Streit« zwischen der »menschlichen Freiheit« und der »Macht der objektiven Welt, in welchem der Sterbliche […] notwendig unterliegen […] mußte.«50 Das »Tragische« beschreibt damit, um eine beliebte Wendung zu gebrauchen, wesentlich eine »schuldlose Schuld«: Der Hauptprotagonist der Tragödie gerät durch die Einflüsse übermächtiger Mächte (»Verhängnis«, »Schicksal«) in eine Situation, die ihn keine andere Möglichkeit lässt als die, Schuld auf sich zu laden. In seiner Ästhetik beschreibt Hegel eine Variation des Tragischen, die er als moderne Tragödie bezeichnet. Im Unterschied zur antiken Tragödie, in der notwendige Widersprüche vorgeführt werden, entspringen die Konflikte die moderne Tragödie – Hegel nennt übrigens Shakespeares Romeo und Julia als ein Beispiel – der »Subjektivität« der handelnden Individuen, der »Besonderheit ihres Charakters«51 und also einer wesentlichen Zufälligkeit. Die »romantische Liebe«, die der zentrale Motor des Tragischen in Romeo und Julia darstellt, hat – wie Hegel ebenfalls in seiner Ästhetik notiert – ihren »einzigen Grund in der subjektiven Partikularität, in dem Zufall der Willkür.«52 Der tragische Konflikt in Romeo und Julia entspringt damit keiner objektiven, notwendigen Widersprüchlichkeit mehr, sondern allein einer wesentlichen Zufälligkeit.
IV. Wenn bereits Shakespeares Romeo und Julia gegenüber der antiken Form der Tragödie eine Kontingenz und »Willkür« des »tragischen« Geschehens vorführen, dann steigert Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe diese Kontingenz nochmals radikal, indem die für den »tragischen« Konflikt 48| Vgl. ebd., S. 157. 49| Zit. nach ebd., S. 157. 50| Zit. nach ebd. 51| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 558. 52| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 188.
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zentrale Familienfehde hier nicht gegeben erscheint, sondern ebenfalls – in all der Zufälligkeit und Willkür, die das Gesetz des Begehrens bestimmt – erzählt wird. In Shakespeares Romeo und Julia sind die beiden Familien immer schon verfeindet. Von »ancient grudge« ist im Prolog des Dramas die Rede: Two households, both alike in dignity, In fair Verona, where we lay our scene, From ancient grudge break to new mutinity, Where civil blood makes civil hands unclean.53
Kellers Erzählung hingegen setzt die Streitigkeiten zwischen den Familien der beiden Bauern – Marti und Manz – nicht voraus, sondern entwickelt die Entfremdung und den Streit ausführlich. Der Streit hat hier keine Notwendigkeit, und das Schicksal Salis und Vrenchens noch weniger. Vielmehr spielt die Herkunft der beiden jungen Leute aus dem bäuerlichen Milieu eine wichtige Rolle – und vor allem die ökonomischen Umstände, unter denen sie leben und sterben müssen. »Tragisch« erscheint in Romeo und Julia auf dem Dorfe der Umstand, dass die aus den ökonomischen Verhältnissen erwachsene und diese nochmals dramatisch verschärfende Schuld – der Ungerechtigkeit der beiden Bauern gegenüber dem »schwarzen Geiger« – von einer Generation auf die nächste weitergegeben wird, indem Sali und Vrenchen für die Schuld ihrer Väter büßen müssen. Das Handeln bestimmt in Kellers Erzählung nicht ein Gesetz des Zufalls, sondern – weitaus schlimmer – das Gesetz des Begehrens. Erst aus dieser Perspektive wird der Streit zwischen den beiden Bauern, dessen Entwicklung am Anfangs des Texts dargestellt wird, nachvollziehbar. Die Lektüre des Textes zeigt, dass es nicht wirklich die Frage nach dem Besitz des dritten Felds ist, das in der Mitte zwischen dem Feld Martis und Manz’ liegt. Der eigentliche Grund für den Streit ist nicht der Besitz, sondern die Anerkennung des anderen: die Ehre. Der Anfang des Textes führt vor Augen, wie die beiden Bauern Marti und Manz parallel zueinander leben, in friedlicher Harmonie und Übereinstimmung. Die beiden haben nicht nur annähernd gleichlautende Namen, sondern sie ähneln sich auch äußerlich vollkommen: »man hätte sie auf den ersten Blick nur daran unterscheiden können, daß der eine den Zipfel seiner weißen Kappe nach vorn trug, der andere aber hinten im Nacken hängen hatte.«54 Der Acker ist zunächst das Feld der gegenseitigen Bestätigung für die beiden Bauern. Einträchtig werfen die beiden Bauern die beim Pflügen aufgelesenen Steine auf das vermeintlich herrenlose 53| William Shakespeare: »Romeo and Juliet«, in: Ders.: Complete Edition. English and German. Hg. v. L.L. Schücking. Augsburg 1996, Bd. 2, S. 182–269, hier S. 183. 54| Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Vollständige Ausgabe der Novellensammlung. Frankfurt/Main 1987, S. 72.
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Land in der Mitte, und einträchtig verschweigen die beiden ihr Wissen, dass es eigentlich doch einen rechtmäßigen Erben des Lands in der Mitte zwischen ihren Feldern gibt: den »schwarzen Geiger«. Als das bisherige Gewohnheitsrecht, das schon eigentlich ein gewohnheitsmäßiges Unrecht war, durch einen Verkauf des Ackers abgelöst wird, und Manz das Land erwirbt, ist die Eintracht zwischen beiden Bauern jedoch beendet. Allerdings stimmen sie noch in ihrem Gefühl des Gekränktseins überein: Beide aber trafen zusammen in der Überzeugung, daß der andere, den andern so frech und plump übervorteilend, ihn notwendig für einen verächtlichen Dummkopf halten müsse, da man dergleichen etwa einem armen haltlosen Teufel, nicht aber einem aufrechten, klugen und wehrhaften Manne gegenüber sich erlauben könne, und jeder sah sich in seiner wunderlichen Ehre gekränkt.55
Der eigentliche Grund für den Konflikt ist nicht eine Auseinandersetzung um materiellen Besitz: Es geht in Wirklichkeit um die »wunderliche Ehre« der beiden Männer. Das Gefühl, vom anderen hintergangen worden zu sein, stößt beide in ihrer Wahrnehmung aus dem Kreis der »Ehrenwerten« hinaus und lässt sie die fehlende Anerkennung streitend einklagen: wodurch sie nur weiter entzogen wird. Die zweite Form des Begehrens in Romeo und Julia auf dem Dorfe ist das Begehren nach Anerkennung durch materiellen Besitz. Dieses Begehren nimmt überhand, sobald die Frage der Ehre keine Rolle mehr spielen kann, indem der Streit jede Möglichkeit der wechselseitigen Anerkennung vernichtet hat. Begehren ist immer das Begehren nach etwas Abwesendem: Das Begehren nach Besitz wächst also genau in dem Moment, in dem der tatsächliche Besitz geringer wird. Das Denken an den Reichtum ersetzt den wirklichen Reichtum: Auch das Begehren von Besitz zielt hier, in diesem Text, nicht wirklich auf materiellen Besitz, sondern wiederum auf das Begehren des Begehrens: Auf eine Form von Anerkennung durch den Besitz also. Insofern es im Gegenteil ja gerade durch das Abnehmen von wirklichem Besitz – von rasender Verarmung geradezu – hervorgebracht wird, führt das Begehren nach Anerkennung durch Besitz schnell zur Vortäuschung und Simulation von Besitz. So beschreibt es Kellers Text: Ihre [Manz’ und Martis] Weiber verhielten sich verschieden bei dieser Verarmung und Verschlechterung des ganzen Wesens. Die Frau des Marti, welche von guter Art war, hielt den Verfall nicht aus, härmte sich ab und starb […]. Die Frau des Manz hingegen bequemte sich der veränderten Lebensweise an, und um sich als eine schlechte Genossin zu entfalten, hatte sie nichts zu tun als einigen weiblichen Fehlern, die ihr von jeher angehaftet, den Zügel schießen zu lassen und dieselben zu Lastern auszubilden. Ihre Naschhaftigkeit wurde zu wilder Begehrlichkeit, ihre Zungenfertigkeit zu einem grundfalschen und verlogenen Schmeichel- und Verleumdungswesen, mit welchem sie jeden 55| Ebd., S. 84.
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O LIVER K OHNS Augenblick das Gegenteil von dem sagte, was sie dachte, alles hintereinander hetzte und ihrem eigenen Manne ein X für ein U vormachte«.56
Die Unterscheidung zwischen der Begierde nach Anerkennung durch »Ehre« und demjenigen nach Anerkennung durch »Besitz« verläuft parallel zur Geschlechtergrenze: Die Begierde nach Anerkennung durch Besitz ist, so erfahren wir hier, ein »weibliches Laster«, ein »wildes Begehren«; die Frau des Manz – welcher der Erzähler noch nicht einmal einen eigenen Namen zugesteht – wird als eine »schlechte Genossin« bezeichnet. Deutlicher als irgendwo sonst im Text Kellers wird hier, dass – und wie – sich dieses »wilde Begehren« auf das Begehren des anderen richtet:57 Das »wilde Begehren« der Frau des Manz zielt darauf, begehrenswert zu erscheinen, ein anerkanntes, wenn nicht gar bewundertes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Indem es sich nicht mehr auf das homogene Gegenüber, sondern auf die Gesellschaft insgesamt richtet, markiert der Übergang vom Vorrang des männlichen Begehrens zum weiblichen einen Ausbruch aus der latent homoerotisch konnotierten Zweisamkeit der beiden Männer zur anonymen dörflichen Gesellschaft – und zugleich der Einbruch der Täuschung, der Lüge und der Rhetorik in allen Varianten (»ein X für ein U vormachen«). Kellers Novelle erzählt diesen Übergang als eine Verfallsgeschichte. Die Schuld und das Unrecht, das die beiden Bauern verschuldet haben, wird durch das »wilde Begehren« der Frau zunächst auch zu einer ökonomischen Verschuldung – und sodann zu einer Wendung in völlige Falschheit, ein Zerfall des Hauses geschieht. »Haus« ist hier doppeldeutig zu verstehen: einmal ganz im Sinne als Bezeichnung des konkreten Hauses, in dem die Familie des Bauern wohnt (dessen materieller Zerfall wird später beschrieben); aber auch im Sinne des griechischen Worts »oikos«, also als Bezeichnung der »Hausgemeinschaft«, der Familie und alles, was zu ihr gehört, auch ihrer Werte im moralischen und ökonomischen Sinn. Das narrative Schema dieser Verfallsgeschichte entspricht präzise dem Übergang vom Natur- zum Kulturzustand in der Version von Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité. Der Übergang in die Kultur markiert für Rousseau einen Wechsel der Ausrichtung des Begehrens: Es zielt nicht mehr auf »natürliche«, d.h. zum physischen Überleben des Individuums oder der Gattung notwendige Objekte, sondern auf soziale Anerkennung. »Verdienst« wird zur Voraussetzung für Anerkennung. Weil Verdienst jederzeit auch vorgetäuscht werden kann, führt die neue Ausrichtung des Begehrens augenblicklich zur Inauguration von Zeichen, Sprache, Täuschung: »Man mußte zu seinem eigenen Besten sich anders stellen, als man war. Sein und Scheinen wurden zwei 56| Ebd., S. 86. 57| Diese Formulierung schließt an Kojèves einflussreiche Hegelinterpretation an, vgl. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/Main 1975, S. 22f.
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ganz verschiedene Dinge, und aus diesem Unterschiede entsprang die täuschende Hoheitsmiene, die betrügerische List und ihr Gefolge, alle übrigen Laster.«58 Schuldlose Schuld: Die beiden Kinder der unglücklichen Familien erben weniger als nichts – denn sie erben von ihren Vätern gewaltige Schulden und gewaltige Schuld. Unmöglich wird das gemeinsame Glück endgültig in dem Moment, in dem Sali Vrenchens Vater schlägt und dadurch persönliche Schuld auf sich lädt. Die Beziehung von Sali und Vrenchen erscheint zunächst – wie in Shakespeares Drama – als ein utopisches Gegenmodell zum Zwist der Familien, aber die Schuld lässt eine Verwirklichung der Beziehung unmöglich erscheinen. Die Szenerie der Wiederbegegnung zwischen Sali und Vrenchen nach Jahren der Trennung verweist systematisch auf Topoi und Konzepte der Wahrheit und Ehrlichkeit. Mitten im Handgemenge der beiden Eltern treffen die Kinder zusammen: Aber auch Vrenchen sprang, alles wegwerfend, mit einem langen Aufschrei herzu und umklammerte ihren Vater, um ihn zu schützen […]. Tränen strömten aus ihren Augen, und sie sah flehend den Sali an, der im Begriff war, ihren Vater ebenfalls zu fassen und vollends zu überwältigen. Unwilkürlich legte er aber seine Hand an seinen eigenen Vater und suchte denselben mit festem Arm von dem Gegner loszubringen und zu beruhigen […]. Darüber waren die jungen Leute […] in dichte Berührung gekommen, und in diesem Augenblicke erhellte ein Wolkenriß, der den grellen Abendschein durchließ, das nahe Gesicht des Mädchens, und Sali sah in dies im so wohlbekannte und doch so viel anders und schöner gewordene Gesicht.59
Diese Anagnorisis-Szene verkörpert in Kellers Text ein Versprechen von ehrlicher und wahrer Beziehung. Hervorzuheben sind die »Tränen« Vrenchens, das »unwillkürliche« Handeln Salis, der pathetische »Wolkenriß«, der einen göttlichen – schicksalhaften – Willen zu offenbaren scheint, wenn man daran glauben mag zumindest. Die Begegnung zwischen Sali und Vrenchen eröffnet das Versprechen auf ein Ende des falschen Begehrens der Eltern, das den Ruin der Familien bedeutete, und auf die Möglichkeit eines »wahren«, echten Anerkennens. Es gibt in der Erzählung zwar eine Utopie der Flucht aus der Schuld: die Wanderung der beiden Liebenden durch die Schweizer Landschaft. Die Reise der beiden jungen Menschen ist eine Flucht in ein glückliches Zusammenleben, zugleich aber jedoch eine systematische Flucht aus der Wirklichkeit, die von Anfang an unter dem Vorzeichen einer notwendigen Rückkehr in die wirkliche Wirklichkeit und damit in die Einsicht in die Unmöglichkeit steht, der Schuld zu entkommen. Vrenchen und 58| Jean-Jacques Rousseau: »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, in: Ders.: Schriften. Hg. v. Henning Ritter. 2 Bde. Frankfurt/Main 1988, Bd. 1, S. 165–302, hier S. 242. 59| Keller: Die Leute von Seldwyla, S. 98.
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Sali inszenieren ihren Ausflug als eine Flucht aus jeder Wirklichkeit: Vrenchen phantasiert, Sali habe »hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen«60 (dabei war es der Vater Salis, der eben unter anderem durch das Spielen mit Lotterie sein letztes Geld verlor). In der Herberge, wo die beiden unterwegs essen, gelten sie als ein »»wohlgefälliges ehrsames Pärchen«61 – und also genau als das, was sie gerne wären oder gewesen wären und nicht sein können. Die Flucht der beiden Liebenden ist ohne Aussicht auf Glück – allein deshalb schon, weil es eine Flucht ist, die auf Lügen basiert (Lotteriegewinn, Hochzeit) und damit das die Beziehung der beiden begründende Versprechen auf Wahrhaftigkeit negiert. Die Flucht ist eine Simulation des Glücks: Die beiden jungen Liebenden gründen keine Familie, bauen kein Haus, sondern kaufen sich lediglich ein Lebkuchenhäuschen – und damit weniger als die Simulation oder Fiktion eines Hauses, eher ein Zeichen für die Brüchigkeit noch des kleinsten Glücks. Der abschließende Selbstmord der beiden ist nichts als das Ende der Flucht in die Fiktion, die Rückkehr in die kalte (und nasse) Wirklichkeit. Auch die Liebe der beiden jungen Menschen bietet keinen Ausweg aus der Sphäre der Täuschung, des Betrugs, der Fiktion, der Lüge: Ist der Spalt zwischen »Schein« und »Sein« erst einmal in der Welt, lässt er sich nicht mehr schließen. Die Einführung dieses Spalts erzählt in Kellers Geschichte nicht nur etwas über die Differenz zwischen Natur- und Kulturzustand (in der Terminologie Rousseaus), sondern auch über die Gattungsdifferenz zwischen Drama und Novelle. Eine wichtige Referenz auf die Gattung der Tragödie in Kellers Text sind die – im Modus ihrer Kontingenz – zitierten Formeln der Schicksalhaftigkeit. Hierzu ist vor allem die rätselhafte Episode mit der Puppe zu nennen, die in einer Art Orakel – einem klassischen Tragödienmotiv – mündet. Die Kinder Sali und Vrenchen spielen mit einer Puppe, nehmen sie grausam auseinander, Sali nimmt »eine große blaue Fliege«62 und sperrt sie in dem ausgehöhlten Kopf der Puppe ein. Die Puppe wird dadurch zu einem Orakel kommenden Unheils: Die Kinder hielten den Kopf an die Ohren und setzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da er noch mit der roten Mohnblume bedeckt war, so glich der Tönende jetzt einem weissagenden Haupte und die Kinder lauschten in tiefer Stille seinen Kunden und Märchen, indessen sie sich umschlungen hielten. 63
Die »Kunde« des Orakels wird selbstredend niemals richtig verstanden: Das Brummen der Fliege deutet nicht auf »Märchen«, sondern auf sich selbst: Der »Schicksalsspruch« des Puppenkopfs besteht »buchstäblich in 60| Ebd., S. 124. 61| Ebd., S. 131. 62| Ebd., S. 77. 63| Ebd.
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ihm selbst […], nämlich im Verweis auf seine Wiederholung im ›brummenden‹ Schädel des wahnsinnig geschlagenen Marti.«64 Die beiden Kinder, die sich »umschlungen« halten beim Lauschen auf die Prophezeiungen des brummenden Puppenkopfs, erhalten damit tatsächlich einen Hinweis auf die Unmöglichkeit ihres Zusammenlebens im späteren Leben. Wie Winfried Menninghaus hervorhebt, steht Kellers Anknüpfung an das antike Konzept des Schicksal unter dem Vorzeichen der »Entmythologisierung«.65 Keller, schreibt Menninghaus, »verwirft die Idee des entsühnenden Opfers, schließt aber zumindest partiell an die antike Schuldvorstellung an.«66 In diesem Sinn eignet sich die Erzählung auch das Konzept der Schicksalhaftigkeit nur partiell an: indem Motive schicksalhafter Verknüpfung – wie das Orakel – zitiert werden. »Schicksal« ist damit hier wesentlich Zitat, Allusion: Es ist notwendigerweise eine interpretative Entscheidung, ob man in den kontingenten Verwicklungen in Kellers Erzählung das Walten schicksalhafter Kräfte erkennen will oder nicht. Die antike Schuldvorstellung wird dabei - insbesondere in der Idee einer Vererbung der Schuld von einer Generation auf die nächste – ebenfalls als Teil der »Schicksalhaftigkeit« zitiert, aber doch wesentlich als kontingent dargestellt: Ohne den Zufall der Liebe keine tragische Wendung. »So ist denn die Novelle prosaischer als der Roman«,67 notiert Walter Benjamin in seinem Wahlverwandtschaften-Essay, der eine Anknüpfung Goethes an »mythische« Vorstellungen unter den Bedingungen der Moderne herauszuarbeiten sucht. Wie Goethes Die Wahlverwandtschaften erzählt auch Kellers Erzählung von einem »Zusammenbruch des Symbolischen« und der »Auflösung eines verbindlichen Allgemeinen«,68 welches sich bei Keller präzise in der ersatzlosen Abdankung der väterlichen Autorität zeigt. Diese Auflösung des Symbolischen bringt eine tragische Schuld hervor, die von keiner Ökonomie des Sinns im »Tragischen« mehr aufgefangen wird. Diese Auflösung des Symbolischen zeigt sich in der Zitation von »Schicksalhaftigkeit«, die eine fundamentale Kontingenz und blinde Zufälligkeit des Geschehens nicht überdecken und rechtfertigen kann. Diese Entwicklung steht mit einer spezifisch modernen Tendenz zur »Rationalisierung« und »Entzauberung« in Verbindung, nicht nur insofern die Auflösung der paternalistischen Autorität bei Keller präzise mit den ökonomischen Bedingungen und Zwängen der armen Landbevölkerung verbunden wird. Walter Benjamins Aussage, die Novelle sei unter 64| Winfried Menninghaus: Artistische Schrift. Studien zur Kompositionskunst Gottfried Kellers. Frankfurt/Main 1982, S. 93. 65| Ebd., S. 121. 66| Ebd. 67| Walter Benjamin: »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/Main 1977, S. 63–135, S. 105. 68| David E. Wellbery: »Die Wahlverwandtschaften (1809)«, in: Paul Michael Lützeler u. James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Stuttgart 1985, S. 291–318, hier S. 292.
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den Prosagattungen besonders prosaisch, wird von Kellers Text insofern bestätigt: Die Auflösung des Schicksals und des Tragischen von Shakespeare zu Keller bedingt daher die Gattungsdifferenz. Man kann diese Gattungsdifferenz zwischen Drama und Novelle aber auch im Sinne Szondis als eine Artikulation der »Form des Sozialen« deuten. Die Differenz zwischen Drama und Novelle zeigt sich in Shakespeares und Kellers Texten auch in der unterschiedlichen Konzeption der sozialen Kraft von Sprache – und mithin auch von Literatur. O brother Montague, give me thy hand: This is my daughter’s jointure, for no more Can I demand,69
heißt es zum Schluß von Romeo and Juliet: Das tragische Geschehen bewirkt immerhin noch eine kathartische Versöhnung (»a glooming peace«70) zwischen den verfeindeten Familien. Nichts dergleichen in Kellers Erzählung: Es wäre auch niemand mehr da, um eine solche Versöhnung auszusprechen. Stattdessen endet Romeo und Julia auf dem Dorfe mit einer kurzen Zeitungsmeldung, die das Geschehen kurzerhand und offensichtlich entstellend als ein »Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften«71 deutet. Aus dieser Perspektive erzählt Kellers Novelle nicht allein vom Unterschied zwischen Drama und Erzählung, sondern auch von dem Verfall der symbolischen Ordnung, die die gattungshistorische Differenz ermöglicht hat.
69| Shakespeare: Romeo and Juliet, S. 269. 70| Ebd. 71| Keller: Die Leute von Seldwyla, S. 150.
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Wellbery, David E.: »Die Wahlverwandtschaften (1809)«, in: Paul Michael Lützeler u. James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Stuttgart 1985, S. 291–318. W[enzel], P[eter]: »Gattungstheorie und Gattungspoetik«, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 1998, S. 175–178.
Gezeichnete Romane, gezeichnete Schauspiele, gezeichnete Gedichte Der Comic und die literarischen Gattungen Monika Schmitz-Emans
1. D ER ›C OMIC ‹ ALS GAT TUNGSTHEORE TISCHES P ROBLEM Der Comic, für den sich seit längerem die Charakteristik als ›neunte Kunst‹ eingebürgert hat, steht auf verschiedenen Ebenen in Beziehung zur Literatur und ihrer Geschichte. Wenn im Folgenden von ›Comics‹ die Rede ist, so im Bewusstsein der Unzulänglichkeit dieses einseitigen, den Blick auf seinen Gegenstand perspektivisch stark verengenden Begriffs. Dieser selbst bietet ein gutes Beispiel dafür, dass Gattungsbegriffe im Bereich der Künste historisch und kontingent sind, sich aber durch Gewohnheit in ästhetischen und kulturreflexiven Diskursen etablieren – und dann die Wahrnehmungsweise dessen, was sie bezeichnen sollen, prägen – manchmal, wie im Fall des Comics, auf verzerrende Weise. Denn die Comics, die ihren Namen von den lustigen unterhaltenden ›strip cartoons‹ in Zeitungen und Zeitschriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erhalten haben, sind keineswegs grundsätzlich ›komisch‹, und von den Bildgeschichten, die einst zur Prägung des Begriffs ›comic strip‹ oder ›comic‹ führten, unterscheiden sich viele der Bildgeschichten, die man in den ›Comic‹Abteilungen von Buchhandlungen findet, ganz erheblich. Zur Bezeichnung des Gemeinten tauglicher als der Terminus ›Comic‹ ist das französische Pendant ›bandes dessinées‹, das den Akzent auf Medialität und Sequenzialität legt; ›gezeichnete Streifen‹ klingt neutraler; Ähnliches gilt für das englisch-amerikanische ›strip cartoons‹, die das Gemeinte als sequenzielles Gebilde charakterisiert, welches seinen Ort auf dem Papier hat. Das italienische Wort ›fumetti‹ betont ebenfalls eine darstellungsspezifische Besonderheit, nämlich die Sprechblase, als gattungstypisches Merkmal dessen, was gemeint ist. Nun spricht in der Tat vieles dafür, die Einbürgerung der Sprechblase als Kriterium für den Beginn der Geschichte des Comics zu betrach-
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ten. Allerdings kommt auch diese Akzentuierung der Sprechblase einer perspektivischen Verengung gleich, und zudem gehören zu den hier zu erörternden ästhetischen Phänomenen auch Werke, die ohne Sprechblase auskommen. Ganz zu schweigen davon, dass sich die Theoretiker des Comics nicht darüber geeinigt haben, ob man die Geschichte des Comics (und damit diesen selbst) von der Geschichte anderer (früherer) Bilderzählungen ohne ›Blasen‹ eher abgrenzen oder nicht doch vielmehr die bestehenden Übergänge, Kontinuitäten und Analogien betonen sollte. Während eine Gruppe von Theoretikern es darauf anlegt, den Comic differenzierend als spezifische Gattung von anderen Spielformen der Bildgeschichte zu unterscheiden – sei es aus medien- und kulturhistorischer Perspektive, sei es unter Akzentuierung spezifischer graphischer Mittel (wie der Sprechblase) oder sei es mit Bezug auf spezifische Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums (durch Komisches und durch Abenteuerliches) –, ist einer anderen Gruppe mehr an der Betonung der Ähnlichkeit von Comic-Erzählungen mit älteren Formen der Bilderzählung gelegen.1 Darum erinnert man an Wilhelm Busch, Rodolphe Toepffer und William Hogarth, aber auch an mittelalterliche Buchmalereien, an Tapisserien, Kreuzwegstationen, sequenzielle Bildreliefs, antike Keramiken – und schließlich, auf dem immer weiteren Weg zurück in der Kulturgeschichte – an prähistorische Höhlenmalereien. Die theoretischen und historischen Diskurse über den ›Comic‹ illustrieren nicht nur exemplarisch die Historizität von Gattungsbegriffen, sondern auch den Umstand, dass bei der Entscheidung für eine von mehreren Optionen national- und kulturspezifische Sehweisen mit im Spiel sind und sich zwischen den Sprachräumen teilweise erhebliche Differenzen geltend machen.2 Theoretiker, die auf eine gattungsdifferentielle 1| Vgl. dazu Lambert Wiesing: »Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild«, in: Alexandra Kleihues (Hg.): Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentation des Alltäglichen im 20. Jahrhundert. München 2008, S. 25–46. – Andreas Platthaus möchte von Comics erst dann sprechen, wenn »die Verbindung von Bild und Text« als »das bestimmende Element des Comics« vorliegt, und hält es zudem für sinnvoll, die Geschichte des Comics erst dann beginnen zu lassen, als Zeichner von Text-Bild-Geschichten für sich selbst beanspruchen, eine neue Gattung, ein von den bisherigen unterschiedenes Genre zu schaffen. Und dies geschieht, wie er betont, als die ersten ›Funny Papers‹ oder ›Comic Papers‹ kreiert und als Zeitungsbeilagen publiziert wurden (vgl. Andreas Platthaus: Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga. München 2008, S. 17–19). 2| Man braucht in diesem Zusammenhang nur daran zu erinnern, wie unterschiedlich die Semantiken von deutsch: ›Poesie‹ und französisch: ›poésie‹, italienisch ›poesia‹ bzw. englisch: ›poetry‹ sich darstellen. Während im Deutschen die Erinnerung an das griechische ›poiesis‹ sowie die nicht-gattungsspezifische Bedeutung des Adjektivs ›poetisch‹ dafür sorgen, dass auch von ›Poesie‹ in der Regel nicht exklusiv mit Bezug auf eine spezifische Schreibweise die Rede ist, sind die entsprechenden Termini in den anderen Sprachen stark mit Lyrischem konnotiert. Das transnationale Wortfeld um Poesie/poésie/poesia/poetry illustriert zudem eine Abhängigkeit des entsprechenden
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Betrachtung des Comics abzielen und die Eigenheiten dieser in den Massenmedien entstandenen Form der Bilderzählung akzentuieren, unterstreichen damit implizit oder explizit die gattungskonstitutive Bedeutung massenmedialer Distributionsformen, betrachten (zumindest tendenziell) den Comic also aus massenmedien-soziologischer, publizistisch-historischer oder auch medienpolitischer Perspektive. Die Gegenpartei, die im Comic eine Fortsetzung älterer Spielformen sequenzieller Bilderzählungen sieht, argumentiert demgegenüber eher mit ästhetischen Strukturen bzw. Strukturanalogien.3 Mit dem theoretischen Diskurs über den Gattungsbegriff ›Comic‹ und die möglichen Kriterien der Zugehörigkeit einer Bildgeschichte zu einer solchen Gattung sind nicht zuletzt Fragen der ästhetischen Wertung verbunden. Der Begriff ›Comic‹ ist konnotiert mit massenmedialer Unterhaltungskultur, auch heute noch. Und dabei verstehen sich viele Zeichner und Szenaristen, wie erwähnt, als Vertreter einer neuen Kunst; die Verortung ihrer Arbeiten in einem kunsthistorischen Kontext, zu dem auch Hogarth, Masereel und Picasso gehören, kann ihrem Selbstverständnis nur entgegenkommen. Aber neben den Zeichnern und Szenaristen, die auch und gerade durch ihre Stilmittel an die Tradition anknüpfen – diverse Beispiele aus dem Bereich der neueren Comic-Bücher lassen u.a. auf Affinitäten der Graphiker zur impressionistischen, expressionistischen oder surrealistischen Malerei schließen –, akzentuieren andere ComicKünstler graphisch und auf textueller Ebene ihre Zugehörigkeit zur Subkultur. Dass auch Subkulturelles nicht trivial sein muss, entspricht dabei einem Understatement, auf das Zeichner wie Art Spiegelman und Robert Crumb setzen, die sich zwar ostentativ einer ›subkulturellen‹ Bildersprache bedienen, dabei aber kompositorisch sehr raffinierte sowie thematisch anspruchsvolle Bildgeschichten erzählen. Die Diskussion darüber, wie man eine spezifische, aber historisch und strukturell-medial doch auch wieder nicht trennscharf von anderen abgrenzbare Spielform der Bildgeschichte am besten nennt, darf, zusammenfassend gesagt, als ein Musterfall einer Diskussion über Gattungen und Gattungszugehörigkeitskriterien betrachtet werden – ein Musterfall, bei dem alle möglichen Aspekte im Spiel sind: Fragen der Produktion, Distribution und Rezeption, medienästhetische, mediensoziologische, mediengeschichtliche Aspekte, strukturelle und inhaltliche Parameter, Fragen ästhetischer Wertung und Ansätze differenzierenden oder analogisierenden Gattungsvergleichs. Gerade im Fall der noch jungen ›neunten Kunst‹ (oder aber der Genese einer neuen Spielform einer alten Kunst Diskurses von spezifischen Erkenntnis- bzw. Deutungsinteressen. Entsprechendes gilt für den Diskurs über den Comic. 3| Allerdings ist hier auch wieder keine klare Linie zwischen gattungsdifferenzierenden und ästhetisch-argumentierenden Ansätzen zu ziehen. Denn wenn man die Sprechblase zum gattungsdifferenzierenden Merkmal deklariert, so betont man damit ja die Bedeutung einer spezifischen ästhetischen Form.
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der Bilderzählung) hat es die Diskussion über diese ›Gattung‹ mit einem offenen und sich ständig modifizierenden Phänomenbereich zu tun. Denn die Sprachen des Comics unterliegen einer dynamischen Entwicklung; gerade hier ist ein ausgeprägter Wille zur stilistischen Differenzierung zu beobachten (und das ist eine selbstbewusste Gegenreaktion auf die Abwertung des Comics als schematische, ästhetisch unambitionierte Unterhaltungslektüre). Gerade im Bereich der Comic-Produktion vollziehen sich ferner transkulturelle Hybridisierungsprozesse, in deren Folge es u.a. schwierig wird, ›Subgattungen‹ wie den westlichen Comic und den östlichen Manga noch klar gegeneinander abzugrenzen. Zudem wird von Comic-Zeichnern gelegentlich auf eine Weise mit neuen Formen der Bilderzählung und des Einsatzes ihrer Darstellungsmittel experimentiert, die an Strategien der experimentellen Literatur erinnert – an die zum Teil auch explizit Anschluss gesucht wird. So hat der Zeichner Matt Madden in Anknüpfung an Raymond Queneaus Exercices de style ein Stil-ÜbungsBuch des Comics geschaffen, in dem 99 Ways to Tell a Story vorgestellt werden.4 Eine wichtige Expansion des Experimentierfelds resultiert für ComicKünstler vor allem aus der Entstehung des Comic-Buchs. (Und daraus ergibt sich u.a. die Frage, ob der kurze ›strip cartoon‹ und das ›comic book‹ überhaupt eine Gattung bilden bzw. als eine einzige Gattung gelten sollen.) Eine Folge der Expansion des Comics, der als kurzer Streifen begann, vom umfangreicheren, aber durch seine Materialität als Verbrauchsartikel markierten Heft ins Buch (das zur Archivierung einlädt), ist die Genese (oder ›Erfindung‹) einer neuen Gattung, die sich in Anlehnung an einen literarischen Gattungsbegriff ›graphic novel‹ nennt. – Das künstlerisch als Raum interpretierbare Buch eröffnet dort, wo es als ein solcher Raum genutzt wird, die Möglichkeit einer Erkundung vielfältiger Strategien bildsequenzieller Darstellung. Art Spiegelman (der mit Maus einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat, dass die Comic-Erzählung als künstlerische Form breite Anerkennung erfuhr), setzt mit seinen kürzlich neu aufgelegten Breakdowns nicht zuletzt auf die Möglichkeiten des konkreten Mediums Buch. (Und von hier ausgehend könnte man als Theoretiker literarischer Gattungen unter anderem fragen, wie brauchbar die ›klassische Trias‹ von Gattungsbegriffen, bei welcher die mediale Darbietungsform völlig aus dem Blick bleibt, angesichts vieler Beispiele moderner Literatur noch sein kann.) Das Bedürfnis nach ästhetisch-reflexiver Bestimmung der eigenen Gattungsspezifik ist im Bereich des Comics sehr ausgeprägt; vor allem in vielen Paratexten zeigt sich eine Tendenz zur Selbstexplikation. Bemerkenswert sind auch die Erfolge von Meta-Comics, also von Comics, in denen zeichnerisch und schriftlich erläutert wird, was Comics sind, welche Darstellungsmittel und -strategien für sie charakteristisch sind, wie sie entstehen und wie sie gelesen werden wollen, welche Inhalte sie besitzen 4| Matt Madden: 99 Ways to Tell a Story. Excercises in Style. New York 2005.
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etc. Will Eisner, Pionier der ›Subgattung‹ graphic novel, hat auch im Feld der Comic-Theorie Pionierarbeit geleistet, indem er in seinen Büchern Comics & Sequential Art 5 und Graphic Storytelling & Visual Narrative6 die eigene Kunst in Text und Bildsequenzen erläutert. Anknüpfend an Eisner, hat Scott McCloud mehrere Bände von Meta-Comics geschaffen.7 Dem Inhalt nach haben diese Meta-Comics den Charakter von Gattungspoetiken, die Präsentation nutzt erzählerische, diskursive und performative Darstellungsformen. Neben solch umfangreichen Poetiken des Comics stehen knappere Formen, etwa Faltblätter, in denen der Leser (und potentielle Käufer) an das Genre der ›graphic novel‹ herangeführt werden soll; hinzu kommen gattungspoetologische Reflexionen, die in Comics integriert sind. Eine wiederum andere Spielform des Meta-Comics bilden in Comic-Form verfasste Sach- oder Studienbücher.8 Diese Sachbücher – über Wissenschaften, Theorien und Wissensdiskurse, über diskursive wie über konkrete Praktiken, über Sprachen und Kulturen haben, insofern sie die Form von Bilderzählungen annehmen, als narrativ gestaltete Bücher stets auch eine ›literarische‹ Dimension. Es wird erzählt, wie Theorien konstruiert sind, wie sich Wissen strukturiert, wie ein Philosoph oder Naturwissenschaftler gedacht hat. Die Konsequenz ist eine gewollte Entdifferenzierung zwischen Kunst- und Lehrbuch, welche (über obsolet werdende Gattungsnormierungen hinausgehend) sogar konventionelle Differenzierungen zwischen ästhetischen und zweckbezogenen Artefakten unterläuft. Genannt seien nur zwei Beispiele: 1.) Jeff Collins und Bill Maylin: Introducing Derrida.9 Wie alle Bände der Introducing-Reihe ist auch der Derrida-Band als Sachbuch konzipiert (das an Derridas Denken heranführen will), dabei aber graphisch aufwendig gestaltet: als eine Art Collage-Sequenz mit einem dominanten Anteil an
5| Will Eisner: Comics & Sequential Art. Tamarac/Fl 1985, erweitert 1990; dt.: Mit Bildern erzählen. Comics und sequentielle Kunst. Wimmelbach 1995. 6| Will Eisner: Graphic Storytelling & Visual Narrative. The Definitive Guide to Composing a Visual Narrative. Tamarac/Fl 1996; dt.: Grafisches Erzählen. Wimmelbach 1998. 7| Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art. Northampton/Ma 1993; dt.: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg 1994; Reinventing Comics. How Imagination and Technology Are Revolutionizing an Art Form. New York u.a. 2000; dt.: Comics neu erfinden. Wie Vorstellungskraft und Technologie eine Kunstform revolutionieren. Hamburg 2001; Making Comics. Storytelling Secrets of Comics, Manga and Graphic Novels. New York u.a. 2006; dt.: Comics machen. Alles über Comics, Manga und Graphic Novels. Hamburg 2007. 8| Eine Sonderform des Comic-Sachbuchs (oder auch des Meta-Comics) stellen Comichefte oder -bücher dar, die dem Leser zeigen, wie man Comics zeichnet. Das Mangazeichnen kann man aus Mangas lernen. (Auch Japanisch kann man aus Mangas lernen.). 9| Jeff Collins u. Bill Maylin: Introducing Derrida. Hg. v. Richard Appignanesi. New 1997, Reprint: 1998.
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Comic-Bestandteilen. Die graphische Form versteht sich als visuelles Pendant zu den vorzustellenden Themen und Denkstrukturen. 2.) Martin tom Dieck und Jens Balzer: Salut, Deleuze! und Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus.10 Die beiden Bände spielen mit Themen, die sich mit dem Namen Deleuze verbinden, erzählen Episoden, wollen zugleich aber ebenfalls als Heranführungen an das Denken Deleuzes gelesen werden; sie bilden also Hybride aus Kunst- und Sachbuch. Zur Betonung der ästhetischen und philosophischen Ambitionen, die sich damit verbinden, ist dem zweiten Band eine Sammlung kurzer Texte von ComicForschern, Philosophen, Literatur- und Kulturwissenschaftlern beigelegt: Interpretationen und Kommentare zu ›Salut, Deleuze!‹ und ›New Adventures of Incredible Orpheus (The Return of Deleuze)‹.
2. D ER C OMIC UND DIE LITER ARISCHEN G AT TUNGEN Was aber erbringt die Beschäftigung mit dem Problem einer Gattungsbestimmung des Comics für die Problematik der literarischen Gattungsdiskurse? Um dieser Frage nachzugehen, bedarf es zunächst einer Erinnerung an die komplexen Kontakte, welche Comics zur Welt der literarischen Texte unterhalten. 1. Erstens steht der Comic in vielfältigen intertextuellen Abhängigkeitsbeziehungen zu literarischen Texten. Viele Comics stützen sich auf literarische Vorlagen, in denen ursprünglich literarische Figuren agieren (das gilt schon für den Pionier des Abenteuercomics, die Geschichten über Tarzan) oder literarische Geschichtenmuster wiederholt werden. Es gibt Comics, die erkennbar als Nacherzählungen literarischer Plots konzipiert und gestaltet sind. Daneben stehen Comics, die literarisch gestaltete Geschichten (plots) fortsetzen, ausspinnen, modifizieren oder aber kürzen und komprimieren. 1.2 Comicelemente und Comicfiguren tauchen in literarischen Texten auf: in Erzählungen, in Gedichten, ja selbst in dramatischen Darstellungen. Beispiele für Erzähltexte, in welche Partien mit Comics einmontiert sind, finden sich in neoavantgardistischen Werken, aber auch in rezenter Unterhaltungsliteratur (z.B. in Thomas von Steinaeckers Roman Geister). Im Bereich der Lyrik wird mit Comics experimentiert, sei es, dass Gedichte als Comics angelegt werden, sei es, dass Comicelemente in Gedichte integriert werden. Und auch das Theater experimentiert mit solchen Integrationen und Adaptionen von Comicelementen.11 10| Martin tom Dieck u. Jens Balzer: Salut, Deleuze! Zürich 2000 (zuerst Brüssel 1998); dies.: Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus. Die Rückkehr von Deleuze. Zürich 2001. 11| Vgl. dazu: Comic Meets Theatre. Erschienen anlässlich des internationalen Festivals Comic Meets Theatre. Kunst und Rebellion, Halle 2006. Hg. v. Annegret Hahn u. Berit Schuck. Halle 2006. Die Textbeiträge des Dokumentations-Bandes belegen, dass
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1.3 Komplementär dazu integrieren die Szenaristen und Zeichner von Comics in ihre Arbeiten vielfach Elemente literarischer Texte. Comicfiguren und werkimmanente Erzählerinstanzen zitieren durch ihre Äußerungen oder Handlungen die Äußerungen und Ereignisse literarischer Texte. Besonders evident ist dies bei literarischen Adaptionen von literarischen Vorlagen. Aber auch neuerfundene Comic-Geschichten können einmontierte literarische Versatzstücke enthalten. 1.4 Schließlich lässt sich die Beziehung Literatur/Comic auch so auffassen, dass der Comic sich als eine neue Spielform der Literatur präsentiert. Ob es angesichts der vielfältigen und divergenten Erscheinungsformen des Comics möglich ist, ihn selbst als eine einzige literarische Gattung aufzufassen, oder ob es im Fall einer Reklamierung des Comics für das Feld des Literarischen nicht angemessener ist, von verschiedenen Gattungen der ›Comic-Literatur‹ auszugehen, wäre zu erörtern. Der Comic übernimmt unter anderem Funktionen literarischer Texte: die der autobiographischen Erzählung (und Meta-Erzählung): vgl. Art Spiegelman, die der biographischen Erzählung (vgl. die Reihen Introducing und en bandes dessinées sowie das Biographie-Porträt zu Johnny Cash), die der historiographischen Fiktion (vgl. z.B. Les enfants sauvés. Huit histoires de survie)12 – und der Comic wagt sich auch aufs Feld der Erzählexperimente (z.B. durch ein Erzählen ›ohne Worte‹). Ein wiederum anderer Fall liegt vor, wenn ein Comic-Band als Fortsetzung oder Ergänzung einer Sequenz von Romanen publiziert wird, wie im Fall einer Graphic novel zu Stephen Kings The Dark Tower.13 2. Comics können sich bezogen auf die konventionellen Unterscheidungen verschiedener literarischer Gattungen eher konservativ oder die ›Begegnung‹ des Comics mit dem Theater ein Anlass ist, über das zu reflektieren, was für den Comic konstitutiv oder typisch ist. 12| Les enfants sauvés. Huit histoires de survie. Vorbemerkung von Simone Veil, Vorwort von Tomi Ungerer. Delcourt 2008 – Das Buch enthält die (von verschiedenen Künstlern) gezeichneten Geschichten von jüdischen Kindern aus verschiedenen Ländern Europas, die dem Holocaust mit knapper Not entkamen. Alle diese Geschichten beruhen laut Auskunft des Paratextes auf historischen Fällen. Neben den Bildergeschichten über die Kindheitserlebnisse der Protagonisten enthält der Band dokumentarisches Material zur den historischen Hintergründen, Photos, Sacherläuterungen und Hinweise zur weiteren Lebensgeschichte der Figuren. 13| Dt.: Stephen King u.a.: Der dunkle Turm. Übers. von Wulf Bergner. München 2008. – Im Klappentext der deutschen Ausgabe der Graphic novel ist auf mystifikatorische Weise davon die Rede, dass sich Kings Figuren verselbständigt haben und das Buch dieses Eigenleben dokumentiert: »Dreißig Jahre lang hat Stephen King an der siebenbändigen Roman-Saga um den ›Dunklen Turm‹ gearbeitet […]. Nach der Vollendung verkündete er, nun alles geschrieben zu haben, was es für ihn zu erzählen gibt. Aber die Figuren aus der von ihm geschaffenen phantastisch-apokalyptischen Mittwelt geben keine Ruhe. Die Geschichte […] wird weitererzählt.« Nach Angaben des Klappentextes ist das Comic-Buch aus der Kooperation des Autors King mit Comiczeichnern hervorgegangen.
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eher subversiv verhalten; in beiden Fällen eröffnen sie allein durch ihre reflexive Beziehung zu diesen Gattungen neue Perspektiven auf diese. Sowohl anlässlich der Erweiterung des etablierten Gattungsgefüges um eine weitere (sich als ›literarisch‹ verstehende) Gattung als auch anlässlich der Verbindung von Werken verschiedener (literarischer) Gattungen mit Elementen einer anderen (als außerliterarisch interpretierten) Kunst kommt Bewegung ins Gefüge der Gattungen. Neue Ausdifferenzierungen bewirken neue Wechselbezüge, neuartige wechselseitige Bespiegelungen. Insofern bietet gerade der Weg des Comics zum Rang einer ›neunten Kunst‹ Anlass, über angenommene Gattungsmerkmale und -differenzen neu nachzudenken. Abb. 1: Mazzucchelli: City of Glass, S. 129
Dass der Comic, sofern er auf Literatur und ihre Gattungen Bezug nimmt, eher entgrenzend als differenzierend agiert, könnte man daraus folgern, dass in seinem Medium Erzählungen und Gedichte vielfach dramatisiert bzw. inszeniert werden, wenn die Umsetzung von Ereignissen oder anderen Darstellungsformen in dialogische Szenen auch keineswegs zwingend für eine Übertragung in den Comic ist. Es kann geschehen, dass Comicadaptionen literarischer Erzählungen mit deren Textvorlagen in einer Weise verfahren, die diese visuell an lyrische Texte heranrückt. Wenn in der berühmten Adaption, die David Mazzucchelli und Paul Karasik zu Paul Austers Roman City of Glass geliefert haben, die verbalen Anteile der Bildgeschichte (in Abstimmung auf Motive und Thematik des Textes) teilweise wie fragmentiert erscheinen – wie herausgerissene Seiten aus einem Heft oder andere partikuläre Informationsträger –, so nimmt sich ihre Darbietung eher wie die eines Gedichtes als wie die eines narrativen Textes aus. 3. Teilweise reflektieren und thematisieren Comics die literarischen Gattungen auch explizit. Von solchen Beispielen soll im folgenden die Rede sein. Die dabei leitende These ist, dass Gattungen nicht nur theore-
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tische Konstrukte sind, sondern sich als different aufgefasste Gattungen und Künste gegenseitig konstituieren: durch Abgrenzung wie auch durch die Behauptung von Analogien, durch explizite Beschreibungen wie durch implizite Parallelisierungen. Abgrenzungen wie Analogisierungen vollziehen sich in einem prinzipiell unabschließbaren Prozess. Alle Ergebnisse von Gattungsbestimmungen können allenfalls Zwischenergebnisse sein, denn das Bild der einzelnen Gattung entsteht – metaphorisch gesagt – im Raum der Spiegel, den die anderen Gattungen für diese Gattung bilden. Und diese Spiegel sind ebenso beweglich wie das, was sich in ihnen bespiegelt.
3. B EISPIELE FÜR DIE B ESPIEGELUNG LITER ARISCHER G AT TUNGEN IM C OMIC 3.1 Erzählen Der Comic und die Geschichten Will Eisner interpretiert den Comic als Bild-Erzählung, den Comiczeichner also primär als Erzähler. Er leitet die Erzählkunst des Comiczeichners als eine Praxis des Erzählens mit Bildern von einer bereits in prähistorischen Zeiten gebräuchlichen kulturellen Praxis ab. Und er stellt die Kontinuität dieses Erzählens mit Bildern durch die Zeitalter dar, in denen die Leitmedien allerdings wechseln: Auf die Epoche des Erzählens mittels mündlicher Vorträge und ergänzenden Wandritzungen folgt eine Epoche des Erzählens durch dramatische Inszenierungen, dann eine Zeit der Handschrift, gefolgt von einer Ära der Printmedien. Das Leitmedium des gedruckten Buchs wiederum wird abgelöst durch die – weiterhin als erzählend dargestellten – technischen Medien des Rundfunks und des Films, und in diese Ära der modernen Massenmedien gehört auch der Comic als narrative Form. Seinen Prototypus findet auch der zeitgenössische Comicerzähler für Will Eisner in jenem prähistorischen Erzähler, der unter Einsatz verbaler, graphischer, gestischer und mimischer Mittel darum bemüht ist, den anderen seine Erlebnisse mitzuteilen und dabei so spannende Geschichten zu schaffen, dass die Aufmerksamkeit seines Publikums ihm sicher ist. Scott McCloud erläutert das Darstellungsverfahren des Comics ebenfalls wiederholt als ein narratives Verfahren. Allerdings widmet er dem Themenkomplex visuelle Darstellung dabei mehr Aufmerksamkeit. – Comicautoren der Gegenwart betonen den erzählenden Charakter ihrer Darstellung auf verschiedene Weisen. Eine wichtige Strategie ist die Rahmung der ›eigentlichen‹ Bilderzählung durch einen (zum Werk selbst gehörigen) Kommentar, welcher auf den erzählerischen Prozess als solchen aufmerksam macht. In Art Spiegelmans Maus wird der Bericht des Vaters über seine Erfahrungen im Zeichen des Holocaust durch Szenen
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Abb. 2: Will Eisner: Medienbild
gerahmt, in denen der Sohn den Vater zum Erzählen animiert. In diesen Szenen entfaltet sich eine implizite Poetik des Erzählens, akzentuiert als eine Poetik der versuchten (wenn auch scheiternden) Bewältigung von Erfahrungen durchs Erzählen, eine Poetik der versuchten (wenn auch scheiternden) Katharsis, eine Poetik der belastenden Erinnerung, der Selbstrechtfertigung und des Gedenkens im Erzählen und durch das Erzählen. Eine Poetik des Erzählens ist in Maus nicht zuletzt insofern impliziert, als hier Tiergestalten die Rollen der historischen Protagonisten übernehmen: Diese absichtsvoll zitathafte Anknüpfung an die narrative Form der Tierfabel ist eine Form der Auseinandersetzung mit der Tatsache, wie sich das unerhört Schreckliche überhaupt erzählen lassen könnte, und die implizite Antwort lautet: durch eine Verfremdung, die vordergründig spielerisch und harmlos wirken könnte, tatsächlich aber – wie die Tierfabel – auf Pointierung setzt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird als Tiergeschichte noch am ehesten darstellbar, weil sie eine Welt der Bestien ist; Mäuse und Katzen sind Allegorien des Gefressenwerdens und des Fressens. Zugleich sorgt die Form der Tierfabel dafür, dass man die
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Darstellung (eine Katz- und Maus-Welt) nicht mit dem Dargestellten (dem Holocaust) verwechselt und sich der Disproportion zwischen Thema und erzählerischer Vermittlung stets bewusst bleibt. (So leistet Spiegelman seinen spezifischen, an tradierte Gattungsdiskurse aber anknüpfenden Beitrag zur Poetik der Tierfabel.) Abb. 3: Will Eisner: Höhlenmensch
Spiegelman ist es auch, der den Comic in einer wiederum hochreflektierten Weise als Form des autobiographischen Schreibens nutzt. In Breakdowns erzählt er sein Leben als einen Prozess, bei dem sich Erlebtes, Imaginiertes und (Selbst-)Gezeichnetes durchdringen. Berührt werden Fragen, welche für die Gattung der autobiographischen Erzählung zentrale Bedeutung besitzen: Die Frage nach der Authentizität von Erfahrung, nach der Unterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, aber auch die nach Verantwortung und Schuld – und schließlich die nach der Möglichkeit, sich selbst zu verstehen und mitzuteilen. Wie autoreflexive Erzähler fiktionaler literarischer Texte, welche die Form der fingierten Autobiographie wählen, um die Fremdbestimmung und Intransparenz des Ichs für sich selbst darzustellen, wenn auch nicht zu überwinden, so erzählt Spiegelman von einem Ich, dass sich in unabsehbar viele Facetten bricht und auf verschiedenen Ebenen erfahrener, geträumter, imaginierter und dargestellter Realität unablässig nach sich selbst sucht. Andere Comicbücher präsentieren sich als Pendants historiographischer Erzählungen, insbesondere als Spielformen der ›Historiofiktion‹. Zu den vom Comic entdeckten Erzählweisen gehören insbesondere narrative ›Reportagen‹ aus aktuellen Kriegs- und Krisengebieten sowie die Geschichten erfundener Gestalten
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als fiktionaler Repräsentanten historischer Schicksale. Die Paratexte von Comic-Büchern sind für die Rekonstruktion der diese begründenden Erzählpoetik vielfach aufschlussreich, etwa wenn sie eine Brücke zwischen biographischen Erfahrungen und erzählter Geschichte konstruieren. Mit all dem geht es, wie nochmals betont sei, immer auch um eine allgemeine Poetik des Erzählens und seiner Funktionen, seiner Spielformen und deren spezifischer Leistungen.
3.2 Inszenieren Der Comic und das Drama Wenn Scott McCloud ein gezeichnetes Double seiner selbst als Variétékünstler in einer Zaubershow auftreten lässt – oder auch als Conferencier, als Vortragskünstler, als Reiseleiter –, so bietet er seinen Lesern eine Performance. Zudem beschreibt er die Arbeit des Comiczeichners immer wieder in einer Weise, die Vergleiche mit Inszenierung und Regieführung auf dem Theater nahelegt. Als analog begreift Tezuka Osamu, der Pionier des japanischen Manga, den Comic und das Theater. Seine Manga-Serie Nanairo Inko besteht aus einer langen Sequenz von Episoden um einen talentierten Schauspieler, der allerdings sein Geld damit verdient, dass er die von seinem Spiel faszinierten Theaterzuschauer bestiehlt. Seine Geschichten handeln von ganz verschiedenen Beziehungen zur Sphäre des Theaters, sei es, dass er an Inszenierungen teilnimmt und dabei Haupt- oder Nebenrollen übernimmt, sei es, dass er sich oder anderen bestimmte Situationen oder Erfahrungen durch den Vergleich mit dramatischen Texten erläutert. Die einzelnen Episoden der Serie nehmen jeweils auf ein Werk der dramatischen Weltliteratur Bezug. Das Repertoire des Schauspielers und seines Zeichners reicht von der griechischen Antike, vertreten etwa durch Euripides, bis zur klassischen Moderne (vertreten etwa durch Brecht, Tennessee Williams, Giraudoux etc.), vom westlichen Kanon (in dem etwa Shakespeare die erwartungsgemäß dominante Rolle spielt) bis zur östlichen Theaterkultur (durch Anspielungen auf Werke und Formensprache des KabukiTheaters). So entfalten sich vor den Augen des Manga-Lesers rund 2000 Jahre Theaterkultur auf verschiedenen Kontinenten. Suggeriert wird dabei – teilweise auch mit expliziten Worten –, dass die Schauspiele der Weltliteratur Modellhandlungen bieten, mittels derer sich allen zeitlichen Abständen zum Trotz auch das Leben der Zeitgenossen noch interpretieren, kommentieren und begreifen lässt. Von epochenübergreifender Aktualität sind bestimmte dramatische Typen und ihre Konstellationen, Ereignis- und Verhaltensmuster, Probleme, ihre Lösungen und Komplikationen. Die Kunst des Mangas interpretiert sich implizit als eine Kunst der Inszenierung jener dramatisch gestalteter Typen, Situationen und Plots auf dem Papier. Der Protagonist, der andere bestiehlt und auch als Schauspieler von fremdem Eigentum lebt, insofern er ganz in den gespielten Rollen aufgeht, ohne einen spezifisch eigenen Charakter zu zeigen, ist
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Abb. 4: McCloud als Zauberer
ein Double des Zeichners, der durch seine Literaturadaptionen von fremden ›Stoffen‹ lebt und darin aufgeht, diese zeichnend zu reinszenieren. Dadurch dass er die dramatischen Fabeln als Modellgeschichten wiederholt, gewinnt der Manga etwas von deren Erklärungswert, hat Anteil an deren zeitenüberdauernder poetischer Wahrheit. Zugleich reflektiert er diese Partizipation aber mit der Selbstironie dessen, der wiederholt, was andere geschrieben haben. Das Theater erscheint im Spiegel der NanairoInko-Reihe als eine transnationale, transkulturelle und transepochale Institution, die bei allen Unterschieden im Einzelnen doch durch konstante Grundeigenschaften geprägt ist; es ist – der Dramen- und Schauspielästhetik des Tezuka-Mangas zufolge – ernst und zugleich unterhaltend, Kult und frivoles Spiel, verfremdend und zur Identifikation einladend, es ist wahr und zugleich eine Vorspiegelung – ein Faszinosum mit vielen Gesichtern, das eine Tendenz besitzt, den Zuschauer in sein Spiel hineinzuziehen oder aber die gespielten Figuren ins Leben hinaustreten zu lassen. Der Schauspieler als Held des Mangas wechselt mit großer Gewandtheit und Schnelligkeit von einem Spielkontext, einer Wirklichkeitsebene zur anderen – und nicht zufällig hat Tezuka eine ausgeprägte Vorliebe für metatheatralische, illusionsreflexive Stücke wie Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore. Wenn die Serie im Zeichen der These steht, das Schauspiel sei Modell und Interpretationshilfe epochen- und kulturenübergreifender menschlicher Erfahrungen, so reklamiert die Kunst der Bildgeschichte für sich einen eigenen Anteil an solcher Kunst: Auch sie ist ›Re-Insze-
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nierung‹ der Modellstücke – vollzogen von einem Verkleidungskünstler und Dieb. Abb. 5: Tezukas Ara, S. 172
Um das Theater geht es auch in Neil Gaimans Adaption von Shakespeares Midsummer Night’s Dream im Rahmen der Sandman-Serie.14 Erzählt wird die Geschichte einer Inszenierung: Shakespeare und die Mitglieder seiner (noch nicht sesshaften) Wanderbühne begeben sich an einen einsamen Ort im Wald, wo sie im Auftrag eines Unbekannten ein Stück aufführen sollen. Es sind Oberon und Titania selbst, die hinter dem Auftrag stecken und sich zusammen mit den Mitgliedern der Elfen- und Naturgeisterwelt zur Aufführung einfinden. Shakespeare, der für diesen Anlass ein neues Stück geschrieben hat, führt ihnen mit diesem ihre eigene Geschichte vor. Die (dem Dichter nicht bekannten, in seiner Imagination aber präsenten) Urbilder haben Anlass, sich mit ihren gespielten Doubles zu vergleichen, und teilweise verdrängen sie diese, um temporär selbst im Stück mitzuwirken. Mit dem Drama geht es, wie die Figuren der Geschichte, aber auch die Leser des Comics erklärt bekommen, darum, die Sphäre des Mythischen als des kollektiven Imaginären darzustellen und so überlieferbar zu machen. Die Kunst des Dramatikers und die der Schauspieler sichert dieser anderen Dimension der Wirklichkeit ihren Fortbestand. – Gaimans Comic erzählt nicht nur von der Inszenierung des ShakespeareStücks A Midsummer Night’s Dream, er stellt diese Spielhandlung auch – als Geschichte in der Geschichte – dar, freilich in ihren Unterbrechungen und Störungen durch das ungewöhnliche Publikum. Die Bildgeschichte ist also wiederum die ›Re-Inszenierung‹ eines Stücks. Gaiman liefert eine fingierte Erklärung des fingierten Kontrakts zwischen Shakespeare und
14| Neil Gaiman: Ein Sommernachtstraum. Illustriert von Charles Vess. In: ders.: Sandman: Traumland. Übers. von Gerlinde Althoff. Nettetal-Kaldenkirchen 2007, unpag.
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Abb. 6: Gaiman: Sandman
seinem Auftraggeber, in dem es indirekt um die Bedeutung des Theaters selbst – als Institution – geht: Es ist ein Archiv nicht nur der Kultur, sondern auch der Imaginationen; es steht im Dienst der Erinnerung und der Überlieferung dessen, was der Sphäre der Phantasien und Träume angehört. Indem der Comic ein dessen Ansprüchen entsprechendes Stück reinszeniert, beansprucht er für sich einen Anteil an dessen Funktion. Er
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interpretiert sich implizit als Fortsetzung des theatralen Spiels mit anderen medialen Mitteln – und in dieser Eigenschaft als Beitrag zur Überlieferung eines Wissens über die Existenz des Imaginären, eines Wissens, das auf die Mittel der Kunst angewiesen ist. Es kommt nicht so sehr darauf an, wie originell oder tiefsinnig die Poetiken des Dramas und des dramatischen Spiels sind, die in solchen Comicgeschichten über Akteure, Stücke und Rollenspiele vermittelt werden. Entscheidend ist, dass sich die Bildgeschichte hier als Beitrag zu einer solchen Poetik versteht – und sich in der von ihr modellierten dramatischen Kunst selbst bespiegelt. Einen Beitrag zur Poetik des Dramas bietet der Comic schließlich auch dann, wenn er seine Leser davon überzeugen möchte, dass der Comic bzw. Manga eine den dramatischen Stoffen in besonderem Maße angemessene Inszenierungsform ist. Im Vorwort zu den Bänden einer MangaEdition mit Shakespeare-Texten wird die Affinität der Shakespeare’schen Stücke zur zeichnerischen (und zur filmischen) Inszenierungsform besonders betont. Explizite und implizite Thesen zur einen wie zur anderen Kunstform finden sich dabei eng verschränkt. Der Autor des Vorworts, Adam Sexton, akzentuiert vor allem die Verwandlungsfähigkeit der Shakespeare’schen Stoffe, deren Adaptierbarkeit an verschiedene Medien und Kunstformen, ihre Transponierbarkeit in verschiedenste kulturelle und historische Kontexte.15 Zunächst betont Sexton die vielfältige Gestaltbarkeit der Shakespeare’schen Dramen,16 um daran die These von der besonderen Eignung des Mangas für die Adaption dieser Stücke zu knüpfen (»The graphic novels known as manga […] are a natural medium for Shakespeare’s work«)17 – mit der Begründung, der Mangazeichner müsse schließlich bei seiner Umsetzung der oft phantastischen Ereignisse in den Stücken Shakespeares nicht wie ein Theaterregisseur die Gesetze der physikalischen Welt respektieren.18 Sextons Argument ist zwar etwas 15| Shakespeare’s Macbeth: The Manga Edition. Hoboken (NJ) 2008, darin: Adam Sexton: »Suiting the Action to the Word: Shakespeare and Manga«, S. 1–4. (Der Titel nimmt Bezug auf ein Motto aus Hamlet: »Suit the action to the word, the word to the action … – Hamlet (Act III, Scene 2)«, ebd. S. 1). 16| Shakespeares Stücke, so Sexton, seien zeitlos (»timeless«), schon wegen ihrer unerschöpflichen Umsetzbarkeit (»infinite adaptability«). Sie seien in viele Sprachen übersetzt, in vielen Ländern inszeniert worden; die Kreativität von Theaterleuten habe u.a. einen »Julius Cäsar« im faschistischen Milieu und einen »Voodoo Macbeth« hervorgebracht. Shakespeares Charaktere seien von Vertretern verschiedener Altersklassen und beiderlei Geschlecht gespielt worden; Hamlet werde gelegentlich von Frauen gespielt; das Liebespaar Romeo und Julia gelegentlich von 40–50-jährigen Akteuren (vgl. ebd., S. 1). 17| Ebd., S. 2. 18| »Like his tragedies, comedies, histories, and romances, which are thrillingly dynamic if properly staged, manga are of course visual. In fact, a manga is potentially more visual than a stage production of one of the plays of Shakespeare. Unbound by the phy-
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naiv, aber interessant: Comics stellen dar, was in anderen Kunstformen notwendig unsichtbar bleibt.19 (Ob das unbedingt eine Stärke ist, wäre freilich zu diskutieren, doch darum geht es Sexton in seiner Würdigung des Mangas nicht.) Die Suggestion, Shakespeares Stücke seien im Manga besser untergebracht als auf der Bühne, bekräftigt auch das folgende Argument: Shakespeares Texte seien so anspruchsvoll, dass man sie beim Lesen besser verstehe als beim Hören, so dass die Lektüre die den Werken gemäßere Rezeptionsform sei.20 Auch dies ist ein merkwürdiges Argument, wenn man bedenkt, dass Shakespeares Stücke ja (anders als manch andere) keineswegs als Lesedramen verfasst wurden, aber nicht auf die Stichhaltigkeit der Argumente kommt es hier an, sondern auf deren Tenor: Mangas vermitteln laut Sexton als Gegenstände der Lektüre komplexere Informationen, als sie beim Zuhören aufnehmbar sind. (Der Shakespearetext wurde allerdings für die Mangas gekürzt, wenn auch ohne Veränderung des verbleibenden Wortlauts.) Mangabücher sind, Sexton zufolge, letztlich Theater auf dem Papier, das dem Zeitmanagement des Lesers gehorcht: »Overall, turning the pages of a manga version of one of Shakespeare’s plays is something like reading the text of that play while attending a performance, but at one’s own pace.«21
3.3 Sänger-Poeten und Schreiber-Poeten Der Comic und die Lyrik Obwohl die Adaption erzählerischer und dramatischer Werke durch Bildgeschichten näher zu liegen scheint als die lyrischer Texte, existiesical realities of the theatre, the graphic novel can depict any situation, no matter how fantastical or violent, that its creators are able to pencil, ink, and shade.« (Ebd., S. 2). 19| »Take Romeo and Juliet’s famous Queen Mab speech. Even the most creative stage director cannot faithfully present the minuscule fairy described by Mercutio. Manga artists can. The same is true of the drowning of Ophelia in Hamlet. It is precisely because these vignettes are unstageable that Shakespeare has his characters describe Queen Mab and the death of Ophelia in such great detail – they must help us imagine them. In its unlimited ability to dramatize, the graphic novel more closely resembles a contemporary film with a colossal special-effects budget than anything produced onstage in the Elizabethan era or since.« (Ebd., S. 2f.). 20| »At the same time, manga are potentially no less verbal than Shakespeare’s spectacularly wordy plays, with this crucial difference: in a production of none of the plays onstage or onscreen, we can hear the words but can’t see them. Though Shakespeare is never easy, reading helps. And that is precisely what manga adaptations of the plays allow. Perusing a Shakespeare manga, the reader can linger over speeches, rereading them in part or altogether. Especially in the long and intricate soliloquies typical of Shakespearian tragedy, this allows for an appreciation of the playwright’s craft that is difficult if not impossible as those soliloquies move past us during a performance.« (Ebd., S. 3). 21| Ebd., S. 3.
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ren auch Comic-Versionen von Gedichten – sogar eine ganze Reihe mit bande-dessinée-Versionen zu den lyrischen Œuvres wichtiger französischer Dichter. (Die Reihe … en bandes dessinées enthält zudem auch Bände zu erzählerischen Werken.) Die einzelnen Bände folgen einem einheitlichen Modell: Zunächst wird der komplette Gedichttext präsentiert. Ein kurzer Kommentar stellt eine – oft suggestive – Verbindung zwischen dem Gedicht und einer Phase im Leben des Dichters her; dahinter steckt, kaum kaschiert, ein biographistisches Verständnis lyrischer Rede, dessen Tragfähigkeit hier nicht erörtert sei. Darauf folgt, wiederum unterlegt vom kompletten Gedicht, eine Bildgeschichte, welche den Gedichttext mit einer Handlung unterlegt. Autoren der damit verbundenen kreativen Interpretation sind, manchmal in Personalunion, jeweils ein Zeichner und ein Szenarist; kein Gedicht wird vom selben Zeichnerteam visualisiert. So eröffnet sich ein breites Spektrum an Stilen, Bildsprachen und Darstellungsformen. Die jeweiligen graphisch-narrativen Interpretationen sind durch die vorgängige ›biographische‹ Interpretation nicht determiniert. Vielmehr transponieren sie den umzusetzenden lyrischen Text in eigene Bilderwelten, die hinsichtlich ihrer Motivik und Stilistik nicht nur stark variieren, sondern auch mit dem historisch-persönlichen Hintergrund der Texte, an welchen der biographische Kommentar erinnert hat, nichts zu tun haben. Und so verweist das Konzept der Bände auf unterschiedliche Formen der Interpretation von Lyrik, die ihrerseits wiederum unterschiedlichen Konzepten des Lyrischen entsprechen: Dem ersten, traditionelleren (und aus avancierter theoretischer Perspektive obsoleten) Konzept zufolge ist das Gedicht Selbstaussprache eines Subjekts, das seine persönlichen Befindlichkeiten, Emotionen und Wunsch- und Alpträume auf der Basis von Erlebnissen und Traumatisierungen lyrisch artikuliert. Der zweiten zufolge ist der lyrische Text eine Art Bild-Erzeugungsmaschine, ein Artefakt, das als Folge der undeterminierten Semantik seiner Elemente ein Spiel der Imaginationen auslöst, welches jenseits der Alternative von Angemessenheit und Unangemessenheit abläuft. Als Stimulans der Imagination löst das Gedicht in jedem Leser und Interpreten die Öffnung eines eigenen, neuen Vorstellungsraumes aus. In dessen Konstitution fließen verschiedenste Vorgaben ein: lauter Assoziationen, welche die Wörter des Textes auslösen, die aber keiner Kontrolle durch Maßstäbe der Richtigkeit unterliegen, sondern von der Struktur des Imaginationsvermögens selbst abhängen. Konstitutiv für diese Assoziationen ist ihre Bildlichkeit. – Wiederum geht es nicht darum, welches Konzept lyrischer Rede angemessener oder überzeugender ist – das biographistisch-subjektivistische Modell oder das Verständnis des Gedichts als Erzeugungsmaschine von Konnotationen und Bild-Assoziationen. Entscheidend ist vielmehr auch hier, dass die Art, wie die Bildgeschichte mit der lyrischen Vorgabe umgeht, implizit eine Konzeption der lyrischen Rede umreißt. Eine andere – ebenfalls aber im Sinne einer impliziten Gattungspoetik deutbare – Form der Bezugnahme des Comics auf die Lyrik liegt dort
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vor, wo sich lyrisches Gedicht und Comic von vornherein verbinden, ersteres also nicht – wie in der bandes-dessinées-Reihe nachträglich mit Bildern unterlegt wird, um damit den Part des Textanteils einer Bildgeschichte zu übernehmen, sondern zusammen mit den Bildern als verbaler Bestandteil eines Comics entsteht. Auf diesem Feld hat Dino Buzzati mit seinem Poema a fumetti experimentiert: Sein Comic-Buch erzählt im zitathaften Rekurs auf die Bildsprache der Popkultur der 1960er und 70er Jahre die Geschichte eines Helden, der Orfi heißt und ein neuer, zeitgenössischer Orpheus ist. Der Text ist ein lyrisches Gedicht, ein langes ›poema‹, in welches die Äußerungen des neuen Orpheus als Gedichte im Gedicht integriert sind. (Insofern ist das Poema a fumetti ein Meta-Gedicht.) Orfi folgt seiner verstorbenen Geliebten in eine modernistisch gestaltete Unterwelt, bemüht sich vergeblich um ihre Rückholung und kehrt schließlich allein zurück. Verlust und Todeserfahrung, Suche und Wiederfinden, neuerliche Trennung und Verzweiflung stellen sich dar als epochenübergreifende, mit der Figur des Orpheus immer wieder aufs neue verknüpfte Motive poetischer Artikulation. Schon in seiner Eigenschaft als Orpheus-Comic, als Geschichte eines lyrischen Sängers, ist das Poema a fumetti ein poetologischer Comic – ein Werk, das Kunst, ihre Bedingungen und ihre Wirkungen reflektiert, die Macht lyrischer Klage, die Magie lyrischer Evokation – und die Vergeblichkeit des Wortes, wo keine Hoffnung mehr ist. Buzzati gibt seinem Werk den Namen einer neuen Gattung: ›poema fumetti‹: Schon darin kommt das Bewusstsein zum Ausdruck, mit den Mitteln des Comics in das Gattungsgefüge der Poesie einzugreifen. Diese Comic-Geschichte eines Sängers mag Anlass dazu sein, auf eine Spielart des Comics hinzuweisen, welche zu den Adaptionen lyrischer Texte gehört und zugleich eine Brücke zwischen Dichtung und Musik schlägt: Gemeint sind zeichnerisch-erzählende Adaptionen von Songtexten. Songs, Chansons und Balladen wichtiger Repräsentanten des zeitgenössischen Kunstliedes sind in bandes dessinées auf analoge Weise adaptiert worden wie lyrische Gedichte; Größen des Chansons, der Pop-, Folk- und Rockmusik wie Jacques Brel und Edith Piaf, Charles Aznavour und Johnny Hallyday, Bob Dylan und Johnny Cash haben entsprechende Bände gewidmet bekommen. Dabei werden die jeweiligen Texte der Lieder in der Regel komplett reproduziert. Nicht repräsentierbar hingegen ist ihre akustische Dimension. An ihre Stelle tritt die Unterlegung mit Bildern und Bildgeschichten. Aus der Perspektive der Zeichner ist das Lied (der Song, das Chanson) demnach dem lyrischen Gedicht analog: eine Produktionsmaschine für Imaginationen, ein Stimulus der Bildgeschichtenproduktion. Zugespitzt gesagt: Nicht als musikalische Gattung geht es in die entsprechenden Comicbücher ein, sondern als literarische. Auch und gerade wer Chansons analog zu lyrischen Texten präsentiert und interpretiert, unterläuft Gattungsgrenzen. Das – wie ein Poem wirkende – Vorwort zum Band über Jacques Brel thematisiert die Beziehung zwischen der Kunst des Chansonniers und
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dem Genre der BD.22 Deren wechselseitiges Sich-Übersetzen wird als Beitrag zu einem Porträt des Künstlers Brel verstanden. Jacques Brel et la Bande Dessinée, c’est la chanson qui côtoie le neuvième art, ce sont des images fortes qui épousent des mots simples, comme pour nous inviter au plus enivrant des voyages. Un voyage empreint de tendresse, sur une mélodie vagabonde et colorée. Jacques Brel et la Bande Dessinée, c’est aussi l’alchimie du verbe et des pinceaux, le mariage insidieux du pastel et de l’eau-forte, un subtil mélange de nuances, de contrastes parfois, entre la noblesse du vers et la trivialité apparente du sentiment qu’il exprime. C’est enfin une saisissante rencontre, mélancolique et passionnée, entre les maux et les desseins, entre les mots et les dessins. […] Et si cette traduction imagée de la prosodie brelienne invite à entonner le refrain, c’est parce qu’elle s’applique à mettre en valeur le mot, sans en détruire la substance. La Bande Dessinée ne fait ici que chanter, elle chante Brel […] et ses multiples facettes.23
Suggestiv und programmatisch wirkt das bei der Reflexion über Chanson und BD fallende Stichwort ›séduction‹, Verführung (»La Bande Dessinée se laisse séduire aussi«):24 Die stimulierende Wirkung, die eine Kunst (hier die des Chansons) auf eine andere (hier die BD) ausübt, wird mit diesem metaphorisch eingesetzten Begriff durchaus treffend charakterisiert, da sie das Zusammenspiel von zwei Partnern suggeriert und den Aspekt des Spielerisch-Lustvollen betont. Eine weitere erzählende Kunstform wird im Spiegel ihrer Thematisierungen durch den Comic (und seine Paratexte) ebenfalls in eine Analogiebeziehung zur Literatur (zum literarischen Erzählen) gesetzt: der Film. Die Bildsprache von Literaturadaptionen sucht vielfach die Nähe zu Bildern, Strukturierungsformen und Erzählweisen des Films; vielfach bespiegelt sich die zeichnerische Visualisierung selbst als eine Art ›Verfilmung‹ auf dem Papier.
22| Vgl. Brel en bande dessinée. Issy-les-Moulineaux 1997. 23| Ebd., unpag. [S. 7]. 24| Ebd., unapg. [S. 8].
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3.4 Wortloses Erzählen und Reflexion über Sprachverluste Ein Experiment mit einer wortlosen Bildgeschichte, wie es Shaun Tan in seinem Comicbuch The Arrival anstellt, mag auf seine Weise dazu beitragen, Gattungsgrenzen infrage zu stellen: Tans Buch erzählt die Geschichte eines Auswanderers, der in ein fremdes Land übersiedelt, dort eine völlig fremde Welt erlebt, aber auch mit anderen Auswanderern zusammentrifft, der sich Wohnung und Arbeit sucht und schließlich so weit zurechtfindet, dass er Frau und Kind in die neue Welt nachholen kann. Die Erzählung kommt völlig ohne Worte aus. Sie besteht allein aus Bildern, die stilistisch und durch ihre bräunliche Färbung wie Aufnahmen eines alten Photo-Albums wirken. Ein origineller Einfall Tans besteht darin, die neue Welt als phantastische Welt, analog zu Science-Fiction-Universen, zu zeichnen, auch wenn die Analogien zu den USA im frühen 20. Jahrhundert evident sind: So muss sie jedem Leser des Buchs fremd vorkommen, auch dem US-amerikanischen. Obwohl sich keine Textanteile im Buch finden, geht es doch – bedingt durch die Geschichte selbst – ständig um Kommunikation und ihre Medien; The Arrival ist u.a. eine Geschichte über die Unlesbarkeit einer fremden Kultur und über Versuche, sich durch Entziffern von Zeichen in der Neuen Welt zurechtzufinden. Sinnbilder der (versuchten, scheiternden oder gelingenden) Kommunikation und der Orientierung durch Kommunikationsmedien sind Zeichnungen, Wörterbücher, Briefe, Stadtpläne, gefaltete Papiervögel, Plakate, Briefe und Bücher. Sie spielen teilweise handlungstragende Rollen.
4. E INE KURZE B IL ANZ Nochmals: Alle Künste bespiegeln einander wechselseitig – und konstruieren einander dadurch wechselseitig. Durch die Hinzufügung eines einzigen neuen Spiegels verschieben sich alle Spiegelbilder, sie vermehren sich, das Spiegellabyrinth wird komplexer. In der Auseinandersetzung eines Werks der einen Kunst mit Werken der anderen kann es zur Entfaltung und Erprobung neuer Dimensionen und Spielformen künstlerischer Darstellung kommen. Was für die Gattung des Kunstliedes (als Auseinandersetzung der Musik mit der Lyrik), für die literarische Ekphrasis (als literarische Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst), für die Literaturverfilmung sowie für die literarische Erprobung filmischer Darstellungstechniken gilt, gilt auch für das vielschichtige Verhältnis von literarischen Texten und Comic-Erzählungen. Einige wenige bilanzierende Thesen zur Beziehung zwischen Comic und literarischen Gattungen: 1. Comics reflektieren – aus einem im engeren oder weiteren Sinn selbstreflexiven Interesse heraus – mittels verschiedener Strategien und unter verschiedenen Akzentuierungen über Literatur. In diesem Zusammenhang spielen gattungspoetologische Aspekte eine wichtige Rolle. Zu
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den leitenden Fragen, die der Comic reflektiert, gehört die nach seiner eigenen Beziehung zu den literarischen Gattungen. Welcher steht er nahe? Was verbindet ihn mit Erzählung, Drama oder Gedicht? Der ›Anschluss‹ an Erzählung, Schauspiel und Gedicht dient – bei entsprechend variierenden Akzentsetzungen – der Selbstreflexion, der ›Selbsterfindung‹, der Selbstdarstellung des Comics. Und damit wird er in den Dienst der Artikulation und Bekräftigung seines Selbstbewusstseins als eine (und sei es denn ›junge‹) Kunst genommen. 2. Neben den genannten drei Gattungen sind es zwei weitere Kunstformen, an die der Comic anschließt und die damit in die Nähe der literarischen Gattungen rücken: erstens der Film und zweitens der Song. Der Comic suggeriert also die Notwendigkeit einer Expansion des Spektrums literarischer Gattungen über die ›klassische Trias‹ hinaus – und verweist damit indirekt auf die Historizität von Gattungskonzepten. 3. Anlässlich des Comics lässt sich dabei nachvollziehen, welch vielfältige Parameter in der Geschichte von Gattungskonzepten eine Rolle spielen, welchen Anteil Strategien der Autoreflexion an dieser Geschichte haben. (Damit ist indirekt auch klar, dass Gattungskonzepte nicht nur analytische Hilfsmittel, sozusagen begriffliche Werkzeuge für Historiker und Theoretiker sind; sie bzw. ihre Verwendungsformen sind eingebunden in die ästhetischen Darstellungsprozesse selbst und damit in die Geschichte der künstlerischen Hervorbringungen als solche.)25 4. Exemplarisch deutlich wird ferner – und dies vor allem mit Blick auf die vielschichtigen Beziehungen des Comics zur Literatur – wie wichtig im Kontext solcher Autoreflexion der Vergleich, die Differenzierung, aber vor allem die Analogisierung ist: Die Profilierung von ästhetischen ›Gattungen‹ erfolgt in Abhebung von bereits ›bekannten‹ Gattungen, vor allem aber durch Anschlüsse, bei denen auf Übergänge und Vergleichbarkeiten gesetzt wird. 5. Beobachten lässt sich die Mobilität und Mutabilität von Gattungsbegriffen, ihre Verflechtung mit Nachbarbegriffen und ihre Anpassung an komplexe diskursive Interessen vielleicht besonders gut anlässlich einer noch ›jungen‹, nicht kanonisierten und um Selbstmodellierung bemühten Kunstform wie dem Comic. 6. Manches spricht dafür, den Comic als literarische Gattung zu behandeln.
25| Fairnesshalber muss über Ansätze, denen zufolge Gattungsbegriffe primär ein analytisches Instrumentarium sind (vgl. den Einwand im ›call for papers‹), gesagt werden, dass sie eben die Sicht des Literaturtheoretikers repräsentieren. Für diesen ist der Umgang mit Gattungsbegrif fen – um deren Kontingenz er weiß – gleichwohl berechtigt, wenn er sie als analytisches Instrumentarium mit heuristischen Funktionen betrachtet. Das schließt nicht aus, sie auch aus geschichtlicher Perspektive zu betrachten. Aber für die Praxis des Literaturwissenschaftlers reicht zunächst die Verständigung über heuristische Funktionen, um diese Begriffe als Hilfsmittel für die Praxis zu legitimieren.
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II. Gattungsgeschichtliche Aspekte
Der Perspektivismus der Gattung Gattungstheorie und Diskursanalyse Wielands Aristipp und Tiecks Aufruhr in den Cevennen Ralf Simon
I. Die neuere Geschichte der Gattung lässt sich einem einfachen Narrativ unterstellen. Das feste Modell der poetischen Gattungen, das Regeln, Stillagen, Thematiken, Kommunikationsmodelle und Traditionsbezüge in ein reguliertes System einstellte, wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend verflüssigt. Die Gattungen verloren ihre unmittelbare generative Kraft und wurden zu Bestimmungsmomenten im ästhetischen Prozess. Peter Szondi beschrieb die Adjektivierung der Gattungsbegriffe1 als eine Triebkraft in diesem Prozess. Wenn Schiller keine Idyllen schreibt, aber das Idyllische als Empfindungsweise dem poetischen Diskurs eingliedert, dann wird die vormalige Gattung zu einem anthropologischen Fundamental in einer gleichzeitig funktional flexibilisierten Anthropologie.2 1| Vgl. den Begriff »Adjektivierung der Gattungsbegriffe« in: Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik. Frankfurt/Main 1974, S. 146. Der Gedanke wird in Szondis Ausführungen in mehreren Anläufen formuliert, so spricht er von der Umfunktionierung der Dichtarten in Adjektive und Töne (S. 138) oder von adjektivischen Begriffen, die von den Dichtarten abgezogen worden seien (S. 123). Insgesamt verfolgt Szondis Argumentation ein doppeltes Ziel: Einerseits entwickelt er eine Poetik des romantischen Romans (S. 150), andererseits rekonstruiert er Hölderlins Lehre von den Tönen (S. 152ff.). 2| »Anthropologie« ist hier im historischen Sinne verstanden: Im 18. Jahrhundert hat der Terminus das Problem einer Vermittlung des Descart’schen Zweisubstanzendualismus benannt. Der Roman hat in seiner gattungsgeschichtlichen Evolution diese Debatte übernommen; er diente als ihr Reflexionsmedium. Dass sich in der Gattungsdefinition des Romans die definierenden Einheiten auflösten und verflüssigten, dass sie zu Tönen und Empfindungsweisen wurden, ist ein direkter Reflex der philosophischen Ver mittlungsprobleme. Vgl. zusammenfassend zur Anthropologiedebatte des 18. Jahrhun-
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Entsprechend wird von Klopstock über Herder bis zu Hölderlin ein erneut Systembildungen unterstellter Wechsel der Töne3 als Verfahrensweise des poetischen Geistes deklariert. Es ist wohl der Roman, der das Medium dieser Verflüssigung der Begriffe und ihrer gleichzeitigen Anthropologisierung abgibt. Stärker noch: Der Roman avanciert im 18. Jahrhundert zu dem Ort, an dem die Evolution der Gattungspoetik sowohl ablesbar ist als auch reflektiert wird. Friedrich Schlegel und Novalis deuten ihn konsequent als Reflexionsmedium der poetischen Artikulation und machen ihn zum Ort ihrer Theorie der Undarstellbarkeit des Absoluten.4 Der Roman kann dies sein, weil er als offene Form die Verbindung der zu Empfindungsweisen geronnenen Gattungsbegriffe geworden ist. Er artikuliert das Idyllische, Satirische, Epische, Lyrische und Dramatische, wird also zu einem vielstimmigen poetischen Gesamtkörper aller dieser Habitus, stellt sie aber nicht als fixe Positionen dar, sondern analog dem Schweben der Einbildungskraft5 in Fichtes philosophischer und Novalis’ poetischer Wissenschaftslehre als Reflexionsvorgang. Der Roman wird zu einem rekursiven System, zu einer Form, die ihre Offenheit durch Anwendung der Elemente auf sich selbst6 wiederum schließt und so eine innere Unendlichkeit erzeugt. Dieser Begriff der Gattung, der der Sache nach ab 1750, zuerst im Tönewechsel von Klopstocks Messias und in Herders theoretischen Schriften durchgeführt wurde, hat sich bis weit ins 19. Jahrhundert gehalten. Erst die fortgeschrittenere Moderne sprengte auch diese Form durch einen gattungstheoretischen Ikonoklasmus, der die Einheit des Werkbegriffs selbst in Frage stellte. Im 20. Jahrhundert hat die Situation des ästhetischen Nominalismus7 die Gattungen zwar nicht zerstören können, aber sie wurden in eine permanente Reflexion gezwungen, in der derts Wolfgang Riedel: »Anthropologie und Literatur in der deut schen Spätaufklärung«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft (1994), S. 93–157. 3| Vgl. zu Herders Theorie der Töne die Bemerkungen in Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S. 198–220. Klopstock entwickelt in seiner Metrik eine Theorie der Töne, vgl. Friedrich Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Hg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt/Main 1989, S. 126–152. Hölderlins Theorie der Töne ist in der Hölderlinforschung ein vieldiskutierter und kontroverser Gegenstand; eine Dokumentation würde die Fußnote sprengen. 4| Vgl. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frank furt/Main 1987. 5| Vgl. zum Begriff des Schwebens: ebd., S. 132ff. 6| Aus dieser Perspektive entdeckt sich Klaus W. Hempfers (Gattungstheorie. München 1973) Vorschlag, die poetischen Gattungen aus der Logik eines Komponentenmodells zu denken, als Nachfolgemodell der Frühromantik. 7| Den von Croce stammenden Begriff des ästhetischen Nominalismus nimmt Theodor W. Adorno auf, vgl. Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt/Main 1981, S. 456 u.ö. (s. Nachweise im Sachregister).
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sie sich aus dem Bezug ihrer grundsätzlichen Infragestellung heraus zu exponieren hatten. Blickt man auf die gegenwärtige Literatur, so wird man das durchaus intakte Funktionieren der großen Gattungsbegriffe wie Roman, Drama oder Lyrik beobachten können, gleichzeitig aber eine interne Fragmentarisierung zu konstatieren haben. Die Schreibweisen haben sich von den Gattungsbegriffen und den ihnen verbundenen semantischen Solidaritäten gelöst, so dass eine textinterne Reflexion von Gattungsbestimmungen kein generell konstituierendes Element mehr ist. Analog ist in der Literaturwissenschaft zu beobachten, dass jene Ebene mittlerer Allgemeinheit zwischen langue und parole, welche die der Gattung ist,8 durch ein anderes Modell – das des Diskurses – abgelöst wurde. Versteht man die literarischen Gattungen als Filter zwischen langue und parole, dann steuern sie die Regularitäten der sprachlichen Performanz auf einer Ebene, die zwar derjenigen der Diskurse vergleichbar ist, diesen aber in der Struktur der Formierung widerspricht. Kittlers Aufschreibesysteme9 streiten ebenso wie Links Kollektivsymboliken10 oder Foucaults Diskurse11 um den Ort, der in der Rede über die poetischen Texte einst von den Gattungsbegriffen in Anspruch genommen wurde. Mit dem Blick auf die gegenwärtige Literaturwissenschaft kann man vielleicht sagen, dass die Diskurstheorie dabei ist, die Gattungstheorie beerben zu wollen. Die durch Foucault geprägte Diskursanalyse hat eine diskursive Macht erlangt, die es wert wäre, selbst einer ideologiekritischen Analyse unterzogen zu werden. Diskurse werden durch Macht zusammengehalten, ihre Dispositive verbinden Heterogenes allein durch die Inklusionsmechanik der Institutionen und ihrer semantischen Zurüstungen.12 Diskurse agie8| Vgl. die Idee einer mittleren Allgemeinheit als einer jeweils temporär geltenden Norm bei Eugenio Coseriu: Sprachkompetenz. Tübingen 1988, S. 266ff. 9| Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. 4. Aufl. München 2003. 10| Vgl. A. Drews, U. Gerhard u. J. Link: »Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1985), 1. Sonderheft Forschungsreferate, S. 256–375, und F. Becker, U. Gerhard u. J. Link: »Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter For schungsbericht mit Auswahlbibliographie (II)«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 22 (1997), S. 70–154. 11| Vgl. zusammenfassend die komplexe Begriffsbildung des Diskursbegriffes bei Foucault in: Clemens Kammler, Rolf Parr u. Ulrich Johannes Schneider (Hg.): FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2008. 12| Es gäbe viele Stellen bei Foucault, die zur Stützung dieser These anzuführen wären. Hier soll auf seinen Aufsatz Das Leben der infamen Menschen (Berlin 2001) hingewiesen werden. Foucault bestimmt die Diskur sivierung der Infamie aus einem Ensemble von Disparatheiten (S. 38ff.), die durch das Machtdispositiv der administrativen Registrierung zusammengebunden werden. Entsprechend wird der Literatur auch keine äs-
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ren insofern auf einer der Gattung vergleichbaren Ebene der mittleren Abstraktion. Aber sie sind, ästhetisch betrachtet, das genaue Gegenteil von Gattungen. Fügen diese ihre Bestimmungen in den Immanenzzusammenhang des Ästhetischen ein, um durch interne Reflexion rekursiv gesteigerte Komplexität zu formieren, so funktionieren Diskurse geradezu dadurch, dass sie sich nicht durch formale Integration auszeichnen. Ihre Macht besteht in einer Unsichtbarkeit, die den Übergang zwischen ihren Elementen gerade nicht durch Thematik oder Form und nicht durch den Rhythmus der Sache selbst bindet. Somit kann behauptet werden, dass nichts ungeeigneter ist, um Kunstwerke zu analysieren, als Diskursanalyse im Sinne Foucaults. Vielleicht ist sie gerade deshalb so erfolgreich. Sie erlaubt, Dinge zu erkennen, für die die ästhetische Reflexion blind sein muss und sie vollzieht diese Erkenntnis unästhetisch. Wollte man sich an Adornos Ästhetische Theorie zurückerinnern, dann läge der Einwand gegen Diskursanalyse auf der Hand. Sie als Analyseinstrument in aestheticis zu benutzen, unterschlägt die gesellschaftskritische Formationskraft, die die Kunstwerke infolge ihrer eigenen inneren Durchbildung erlangen. Indem sich die Werke kraft innerer Reflexion jenseits des Identitätszwanges konstituieren, formieren sie ein Modell der monadologischen Integration, welches weder begrifflich subsumierend, noch machtidentifizierend verfährt, sondern vielmehr die Momente zueinander frei lässt, um der Form eine innere Dynamik zuzusprechen. In diesem Prozess einer anderen Synthesis ist die Ebene der Gattung ein in den Kunstwerken konstituierendes Moment, und sie ist es offenkundig auf einer Ebene, auf der sie hinsichtlich des Abstraktionsniveaus mit dem Diskursbegriff konkurriert. Wie ist das Verhältnis von Gattungs- und Diskursbegriff zu denken? Schließt eine ästhetische Analyse, die die Vermitteltheit der kunstimmanenten Bestimmungen zu ihrem Apriori erhebt und den gesellschaftlichen Transfer erst denkt, wenn die innere Formation erkannt ist, eine diskursanalytische Reflexion aus? Auf der Ebene der theoretischen Konzeptbildung scheint eine solche Opposition zu bestehen. Es ist schwer denkbar, die Gattung als innerästhetisches Reflexionsmedium mit der die ästhetische Formation durchbrechenden Machtanalyse der Diskurstheorie vereinbaren zu wollen. thetische Autonomie oder gar ein emanzipatorischer Einspruch zugestanden. Vielmehr gehört sie »zu diesem großen Zwangssystem, durch welches das Abendland den Alltag verpflichtet hat, in Diskurs zu gehen« (S. 47). Moderne Literatur bestimmt sich nach Foucault daraus, zunehmend das alltägliche Leben der infamen Leute darzustellen (S. 46). Es wird klar, dass dies eine inhaltliche Sicht auf die Literatur ist, die die Dimension der ästhetischen Reflexion unterschlägt. – Die Frage nach dem gesellschaftlichen und näherhin diskursstrategischen Ort der Literatur unterliegt in Foucaults Denkentwicklung einigen Wandlungen. Sie werden konzis dargestellt bei Mar tin Stingelin: »Nachwort. Foucault-Lektüren. Die Literatur im Denkraum der drei Dimensionen Wissen, Macht und Selbstverhältnis«, in: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frank furt/Main 2003, S. 371–400.
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Im Folgenden soll dennoch der Versuch unternommen werden, eine solche Konvergenz zu denken, zunächst nicht auf Theorieebene, sondern exegetisch. Als ein Musterbeispiel der Diskursanalyse kann die Aufarbeitung der Thematik des Partisanenkampfes in der Kleist’schen Dichtung gelten. Die Genres durchquerend wurde Kleist als Dichter des Partisanenkampfes entdeckt und lesbar gemacht.13 Andere Zuschreibungen als die herkömmlichen gattungsdefinierenden von Drama, Novelle und Journalbeitrag haben im Werk Kleists einen Diskurs identifiziert, dessen Macht die ganze Struktur der ästhetischen Ideologie (Paul de Man) verkehrt hat. Nach dieser im weitesten Sinne diskursanalytischen Wende kann also nun die alte Frage in neuer Form gestellt werden: Gibt es einen gattungstheoretischen Zugang zum Komplex des Partisanenkampfes? Kann man über eine genuin formgeschichtlich angelegte Exegese eine Komplexität aufbauen, die jenseits einer abstrakten Opposition von innerästhetischer Reflexion und diskursanalytischer Machtdispositive zu argumentieren in der Lage ist? Methodologisch sei nochmals betont, dass es im Folgenden nicht darum zu tun ist, eine abstrakte Opposition zwischen Diskurs und Gattung aufzubauen. Im Gegenteil, der Befund, dass sich Diskurs und Gattung auf derselben Abstraktionsebene in einer Konkurrenz befinden, soll der Anlass dafür sein, die Konvergenzmöglichkeiten zu bedenken. Da beide Einheiten theoretisch kaum vermittelbar zu sein scheinen, mag eine exegetische Debatte zunächst den Weg weisen. Es geht also um eine Öffnung des Blicks, und ihr ist geschuldet, dass zunächst derjenige Text benannt wird, der stärker und radikaler als Kleists Dichtung eine Poetik des Partisanenkampfes durchdacht hat: Ludwig Tiecks 1820–1826 geschriebenes Romanfragment Der Aufruhr in den Cevennen. Sein Thema, der Partisanenkampf, soll zugleich als Poetik formuliert werden, indem sich diese als Weiterschreibung von Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800–1802) zeigt. Dass der Umschlag eines Opus maximum der humanistischen Aufklärung in die Partisanenliteratur über die Formbestimmung des Romans reflektiert werden kann, ist dem Perspektivismus der Gattung geschuldet. Das Argument wird lauten, dass es dieser Perspektivismus ist, der die Reformulierung der diskontinuierlichen Formation des Diskurses unter formästhetischen Prämissen ermöglicht.
13| Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg i.Br. 1987.
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II. Wielands Spätwerk zieht formästhetisch eine souveräne Summe der Romanpoetik des 18. Jahrhunderts. Aristipp und einige seiner Zeitgenossen14 nimmt mit dem Briefroman15 nicht nur eine für das gerade abgelaufene Jahrhundert spezifische Formbestimmung auf. Er verhandelt zudem die zwei wesentlichen Themen des bürgerlichen Romans – Liebe und Berufsfindung aus dem Kontext einer Bildungsbestrebung heraus – in gebrochener und damit auch gattungspoetisch reflektierter Weise. Die Liebe wird durch den ironischen Kaltsinn16 der Lais und durch die stoische Maxime der Gleichgültigkeit17 seitens des Aristipp aus dem Handlungsapparat des Romans verbannt und zum Gegenstand der brieflichen Reflexion gemacht. Zugleich erübrigt sich die Berufsfindung des Helden infolge seiner saturierten wirtschaftlichen Verhältnisse, so dass er von vornherein Bildung als Müßiggang18 versteht. So wird der Roman untypisch. Er ist nicht an der Privatheit der Gefühle, sondern an der Urbanität der Gesprächskultur interessiert; er reflektiert Liebe, statt sie zu zeigen; er raubt seinem Protagonisten den vitalen Impuls, sich seinen Ort in der Welt erobern zu müssen. Und er verhandelt als Reflexionsgegenstand die Begriffe des politischen Verhaltens, also thematisch dasjenige, was nach Blanckenburgs Romanpoetik als Handlungsraum Gegenstand des Epos gewesen ist.19 So wird also die Differenz von Epos und Roman schon durch die gegenüber dem bürgerlichen Roman veränderte Thematik eingespielt, aber wiederum auf bürgerliche Weise, da die politischen Verhältnisse Gegenstand der Reflexion sind und nicht die Handlungsform eines heroischen Agenten der Polis oder der Nation. Da trotz der Handlungsgegenwart des sokratischen Athens das intellektuelle Ambiente eher das einer spätantiken Urbanität ist, entsteht ein Multiperspektivismus. Der den Mittelmeerraum bereisende Aristipp betreibt gewissermaßen eine Ethno14| Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. München 1988. 15| Zur Frage des Briefromans und zur Poetik von Wielands letztem Roman vgl.: Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/ Main 1991. 16| Aristipp über Lais (24. Brief): »Ich weiß wohl, du wirst die stolze Ruhe, womit ich dich in der Welt herumschwärmen sehe, mit dem verhaßten Namen Kaltsinn belegen; aber ich hülle mich in meine Unschuld« (Wieland, Aristipp S. 147). 17| Aristipp: »Nicht als ob ich mich einer Gleichgültigkeit rühmen wolle, die mir im Grunde wenig Ehre machen würde; genug, Lais selbst scheint zu mer ken, daß sie an einen jungen Mann geraten ist, den Hermes mit dem berühmten Kräutchen Moly, das alle Bezauberung unkräftig macht, bewaffnet hat, und ich denke wir wollen noch sehr gute Freunde werden« (Wieland: Aristipp 94f.). 18| Vgl. zur Theorie des Müßigganges den 13. Brief (An Kleonidas), Wieland: Aristipp, S. 88ff. 19| Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig 1774.
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logie des hellenistischen Inlandes.20 Sein stoizistisch abgekühlter Blick erkennt in der Leidenschaft das Verderben und sammelt entsprechend einer flachen Theorie der Lebensweisheit die Typologie der durch Leidenschaft induzierten Verfehlungen ein. Da es stets die Übertreibung als solche ist, welche die humane Urbanität stört, wird ein emphatischer Begriff der Wahrheit preisgegeben. Es resultiert eine Toleranz, die jede Position gelten lässt, sofern sie sich nur in sich selbst bescheidet und der nachbarlichen Position denselben Raum lässt, den sie sich selbst zuspricht. Die Form des Briefromans reflektiert diese Pluralität der Stimmen, der verschiedenen Meinungen, der durch die Reisen erworbenen verschiedenen Standpunkte und Sitten, während zugleich die reine Form des Romans, Versammlung dieser Briefe zu sein, das Kontinuum des Gesprächs als besonnenes Medium des Ausgleichs darstellt.21 Wielands später Roman nutzt den beschriebenen Perspektivismus als Aufklärung. Formell durch die Briefform, gattungsgeschichtlich durch die Reflexion der Thematiken des Epos und des Romans und textsemantisch durch das Flachbleiben der weltanschaulichen Fragen gewinnt der Aristipp eine kaleidoskopartige Form, in der die Positionen in eine Äquidistanz zueinander geraten, in der sie sich quasi ästhetisch konstellieren. Als wäre Schillers Idee eines ästhetischen Staates real geworden, stehen die Reden und Weltanschauungen einander in einem freien Spiel gegenüber, zuhanden der Gesprächskultur des Romans, die hier als eine Form der Einbildungskraft fungiert, welche ihre Vermögen und Begriffe in den Zustand der gegenseitig nicht subsumierbaren Beobachtung überführt. Dass dieses Modell tatsächlich auch eines ist, das den politischen Idealen des Protagonisten entspricht, so dass die Form des perspektivisch gewordenen Romans der Form einer gesellschaftlichen Idealvorstellung korrespondiert, wird aus einem von Aristipp berichteten Gespräch mit einem Tyrannen deutlich: Ich wollte weiter nichts damit sagen, als daß unumschränkte Gewalt immer mit Gefahr des Mißbrauchs verbunden ist, sie mag nun in den Händen eines Einzigen, oder eines 20| Als Entidealisierung der Antikenbegeisterung seiner Zeitgenossen deutet Jan Cölln Wielands Roman (Philologie und Roman. Zu Wielands er zählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im »Aristipp«. Göttingen 1996). Die Asynchronien zwischen Hellas, römischer Urbanität, bürgerlichem Roman und Empfindsamkeitskritik zeigen diese skeptische Grundtendenz deutlich. 21| Genauer: Der Brief ist besonnener als die Rede, er ist im Vergleich zu ihr kein heißes Medium. Wieland reflektiert dies, als Aristipp für einen Moment in die Gefahr gerät, sich doch in Lais zu verlieben. Glücklicherweise sorgt allein die Zeit des Brieftransports und sodann die souveräne Ironie der schriftlichen Antwort für diejenige heilsame Abkühlung, welche dann statt unwillkommener, »heißer« Intimität (»Fieber«: Wieland: Aristipp, S. 185, Zeile 10) die kalte Kultur der gediegenen Sätze rettet. Durch diese Über tragung libidinöser Energien in eine Schrift, welche sich gegen die Kultur der Empfindsamkeit nicht aufheizt, wird Aristipp zum Schwärmer des Gesprächs (Wieland: Aristipp, S. 120f.).
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Es wird in diesem Zitat deutlich, dass Wieland die Frage der Regierungsform letztendlich auf Anthropologie reduziert. Wenn jede Regierungsform durch Missbrauch korrumpierbar ist, dann liegen die Wurzeln des politischen Unheils in den »Gebrechen der Menschheit« und sind durch Herrschaftsformen, welcher Art auch immer, nie zu heilen. Es ist unschwer zu sehen, dass diese Form des aufklärerischen Stoizismus den Keim ihrer eigenen negativen Dialektik schon in sich trägt. Eine humane Form des Zusammenlebens ist für Aristipp nur zwischen gleichermaßen gebildeten als auch durch Stoizismus bescheiden gewordenen, letztlich wahrheitsabstinenten Individuen möglich. Gelingt eine jede Regierungsform, sobald jeder gleichermaßen auf Leidenschaft, Wahrheit und Durchsetzung Verzicht tut, dann scheitert sie eben genau aus denselben Gründen, nämlich dann, wenn sich einer Wahrheit oder einer Leidenschaft nicht mehr ausweichen lässt. Die Dialektik des Anarchismus, dass in dem Moment, in dem jeder für sich frei ist und der gesellschaftliche Zusammenhang keine eigene Kategorie mehr ist, sich notwendig der Stärkere durchsetzt, liegt hier schon zugrunde. Die Selbstbescheidung, in die sich Aristipp einübt, war in der Geschichte des Agathon noch mit der Notwendigkeit einer jugendlichen Verfehlung und also der konkreten Erfahrung der Leidenschaft verbunden. Wielands berühmtester Roman hat sich damit in ein Paradox gestellt. Die Selbstbescheidung, die resultieren sollte, brauchte die Erfahrung einer Überschreitung, um die humane Relevanz des Verzichts einsehen zu können. Im Aristipp versucht Wieland, seinen Helden ohne eine Leidenschaftserfahrung und ohne Negativität zum Weisen werden zu lassen. Das Plädoyer des Aristipp, politischen Organisationsfragen keinerlei Substantialität zugestehen zu wollen, führt aber geradewegs zu der absoluten Notwendigkeit politischer Organisation. Nur ein einziger Mensch, der eine unhintergehbare Erfahrung von Leidenschaft oder auch von Negativität zu machen hat, kann unter diesen Bedingungen eine Gemeinschaft sprengen, die ihre Soziabilität auf die Notwendigkeit einer anthropologisch temperierten Mittellage gründet. Aus dieser Reflexion heraus wird klar, dass in Wielands Aristipp ein anderer Text latent und eine dunkle Möglichkeit vorhanden ist. Kann die Gemeinschaft der Kaltsinnigen und Gleichgültigen, der urbanen Ironiker 22| Wieland: Aristipp, S. 194f.
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mit Traumatisierungen umgehen? Kann sie mit der Möglichkeit rechnen, dass der gute Wille selbst in seinem Kern erschüttert wird und zu einem schlechten Willen verdreht wird?
III. Gattungsgeschichte eröffnet die Möglichkeit, auf der Ebene der Sachgehalte ein Gesprächskontinuum zu entwickeln, welches jenseits realer Einflüsse belastbare Geltungsansprüche erheben kann. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Tieck Wielands Roman studiert habe oder dass er, selbst wenn er ihn gelesen hat, bei ihm Epoche machte oder dass er gar eine Matrize für den Aufruhr in den Cevennen gewesen sein könnte. Formtheoretisch und gattungsgeschichtlich lautet meine These, dass Tieck Wielands Roman noch einmal schreibt, aber vom archimedischen Punkt seiner vollkommenen Verkehrung her. Tieck benutzt denselben Perspektivismus – ein genuin aufklärerisches Formmoment –, um die Notwendigkeit zu begründen, dass jeder gute Wille in seinem Kern ein schlechter werden muss, wenn die gesellschaftliche Form des Bürgerkrieges total wird. Es sind dieselben Verfahrensweisen, die Wielands aufklärerischen Optimismus kennzeichnen und die ihn in seine Negation überführen, um den Partisanenkampf als den dunklen Text in der Utopie einer leidenschaftsbefreiten Urbanität lesbar zu machen. Es lohnt sich, die ersten zehn Seiten von Tiecks Romans in ihren argumentativen Grundzügen zu vergegenwärtigen.23 Handlungsort sind die südfranzösischen Cevennen und ihr Vorland; der Roman berichtet über die Religionskämpfe der französischen Staatsmacht gegen die Hugenotten infolge der Aufhebung des Toleranzediktes von Nantes. Beauvais, der Hausherr eines zwischen Stadt und Gebirge gelegenen Landgutes, befragt seinen Diener über den erwachsenen Sohn Edmund, während die kleine Tochter dazwischen spricht und von den Religionskämpfen berichtet: Eustach, der Kohlenbrenner, sei zu den Rebellen übergelaufen. Damit ist auf der ersten Seite des Textes sofort klar, dass die Frage des Krieges im Inneren der Familie erörtert wird, sie ist schon bei dem Kleinkind angekommen. Als Edmund eintrifft,24 gerät er in einen erregten religionsphilosophischen Disput mit dem Vater. Schon der erste Wortwechsel führt direkt in das Thema. Beauvais hat es abgelehnt, eine Stelle in der Staatsverwaltung anzunehmen, weil ihn dies zur Partei innerhalb der allgemeinen Spionage gemacht hätte. Seine Formulierung, dass sich dies einem Bürger nicht zieme, stellt das staatliche Interesse in Opposition zum Begriff der bürgerlichen Verhaltensweisen.25 23| Zitate nach: Ludwig Tieck: Der Aufruhr in den Cevennen. In: ders.: Romane, Werke in vier Bänden. Hg. v. Marianne Thalmann. München 1966, Bd. 4. 24| Ebd., S. 10ff. 25| Ebd., S. 11.
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Kaum dass der Text zwei Seiten vorangekommen ist, wird ein mit Wieland begründbarer Konnex von Republikanismus, bürgerlichem Roman und aufklärerischem Perspektivismus unterlaufen. Bürgerliche Kommunikation führt hier nicht in die liberale Urbanität. Edmund entgegnet auf die Rede des Vaters, dass die Souveränität des Staates über allem stehen muss; nur wenn man diese Souveränität aufrechterhält, kann man überhaupt in den politischen Zustand des Bürgers geraten.26 Dieses Argument basiert auf der negativen Anthropologie der Staats-Vertrags-Lehre; es hat seinen Kern im Nachweis, dass nur die Souveränität des Staates den allgemeinen Bürgerkrieg verhindern kann.27 Damit stehen sich schon im ersten Wortwechsel aporetisch die beiden Positionen gegenüber. In der einen Position verhindern die staatlichen Verhältnisse den Begriff der bürgerlichen Gesittetheit, in der anderen Position ist der Staat die Conditio sine qua non für den Begriff des Bürgerlichen. Evidenterweise befindet sich diese Auseinandersetzung in einer zirkulären Formation. Die Grundstruktur der Auseinandersetzung wiederholt sich beim nächsten Gesprächsgegenstand, dem Verhältnis von Religion und Gefühl.28 Edmund legt ein intensives Bekenntnis für die Geltung der alten Religion ab (gemeint ist der Katholizismus), während der Vater nur solche Menschen überhaupt für religionsfähig hält, welche die Schwärmerei sowohl auf Seiten der Katholiken wie auf Seiten der Reformierten hinter sich gelassen haben. Edmund versucht sodann, die Geltung des Katholizismus über das Argument der ununterbrochenen und lebendigen Überlieferung29 zu formulieren, eine Überlieferung, die durch die Rebellen in der Gefahr steht, unterbrochen zu werden. Der Vater Beauvais bringt gegen dieses Argument der Sache nach Lessing in Anschlag: Das Christentum habe eine vielseitige Gestaltung, man dürfe diese Gestalten nicht zur Orthodoxie verfestigen; nur dieses Argument führe überhaupt zu der Möglichkeit, die Geschichte der institutionalisierten Religion erzählbar zu machen.30 26| Ebd. 27| Vgl. dazu bei Wieland das oben gegebene längere Zitat. 28| Tieck: Aufruhr, S. 12f. 29| Ebd., S. 14. 30| Ebd., S. 16–18. Lessing diskutiert das Verhältnis von Über lieferungsgeschichte und Glauben in vielen Texten, am prägnantesten aber vielleicht in Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt (1778). Dort wirft er insbesondere die Frage auf, ob die Überlieferung den Glauben begründet oder der Glaube die Überlieferung. Wäre die Überlieferung für den Glauben konstitutionsnotwendig – wie Lessing es als Position seinem Kontrahenten Goeze zuschreibt – dann wäre mit einer Unterbrechung der Überlieferung zugleich der Glaube gefährdet. Implizit kann Lessing seinem Gegner unter stellen, dass er de facto nicht an Gott glaubt, wenn er sich derart vom Vor handensein der Quellengeschichte abhängig macht. Vgl. Gotthold Ephraim Les sing: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. Bd. 1–8. München 1970–1979, Bd. 8, S. 144f. – Edmunds Position zu Beginn von Tiecks Roman hat Ähnlichkeiten mit Lessings Goeze.
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Insgesamt ist dieses Gespräch für den ganzen Text idealtypisch. Es zeigt, dass der kriegerische Konflikt mitten durch die Familie geht. Es zitiert formell und ebenso inhaltlich durch die implizite Bezugnahme auf Lessing die große Gesprächs- und Argumentationskultur der Aufklärung, aber gegenaufklärerisch im Zustand der kommunikativen Aporetik. Damit wird zugleich die Form dieser Erzählung definiert. Es ist die Form von Wielands Aristipp und es ist die Form des polyphonen aufklärerischen Romans, die hier aber von der Polyphonie in die reine Widersprüchlichkeit geführt wird. Insofern sind diese ersten Seiten des Romans als poetologischer Prolog zu lesen. Die Handlung beginnt mit dem Eintreten der Gäste31 und der Erweiterung des Gesprächszirkels. Erneut entsteht eine Szene der Aufklärung, eine Gemeinschaft der ein Thema Erörternden. Würde man hier nur die Oberfläche des Textes lesen, so könnte man im gastfreien Hause des Beauvais die Versammlung Wieland’scher Briefkorrespondenten entdecken. Aber die Szene dieser Toleranz des Gesprächs ist mehrfach gefährdet. Die nur mühsam verhinderte Stürmung des Hauses durch die Aufständischen findet im Innern des Hauses durch den sich später bestätigt findenden Verdacht das Pendant, es befänden sich unter den Gästen getarnte Aufrührer. So entsteht modellbildend für den Text der doppelte Verdacht, dass der Feind nicht nur außen, sondern auch innen sei. Der Partisanenkrieg systematisiert diese Struktur der Spaltung der Dichotomien. Die Unterscheidung von Freund und Feind spaltet sich unendlich, so dass jeder Freund immer auch Feind sein kann. Später bekommen es die Religionskämpfer mit dem Problem zu tun, dass in ihrem Namen mordende Freischärler umherziehen,32 gegen die die Aufständischen Polizeifunktion übernehmen müssen, um gegenüber der Staatsmacht die Anfangsunterscheidung zwischen legitimer Revolte und purem Mord aufrecht zu erhalten. Genau dies wird aber von der Staatsseite nicht mehr wahrgenommen,33 so dass dort auf den Terror mit Gegenterror geantwortet wird, was wiederum den Aufständischen Legitimation verleiht. So dreht sich eine Spirale, in der die permanente Spaltung der Unterscheidungen vollzogen wird: Die legalistische Legitimität des Staates findet sich intern genauso korrumpiert wie die naturrechtliche Legitimität der Partisanen. Tiecks Text berichtet die Aufspaltung der Dichotomien mit derselben Ruhe, mit der Wielands Aristipp seine temperierten Typologien der Leidenschaften anlegt. Wesentliche Teile des Tieck’schen Romans bestehen aus Lebensgeschichten, in denen berichtet wird, warum ein Akteur aus seiner bürgerlichen Existenz heraus in eine des Partisanen hineingeris31| Tieck: Aufruhr, S. 20. 32| Ebd., S. 94ff. 33| Vgl. das Motiv der systematischen Kriminalisierung des Kriegsgegners in der Logik des Partisanenkrieges: Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. 5. Aufl. Berlin 2002, S. 35.
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sen wurde. So erzählt die Geschichte von Abraham Mazel die Genese des Bürgerkrieges:34 Nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes gab es eine große Auswanderungsbewegung, die der Staat unter Verbot stellte, um den Verlust von Reichtum und Arbeitskraft zu beenden. Das Durchsetzen des Verbotes bei gleichzeitigem Religionsverbot hat die soziale Lage verschärft. Mazel gerät in religiöse Kreise, sieht Personen, die die Wundergabe haben und bekommt Kontakt zu den prophetischen Kindern.35 Schon werden die Protestanten gefangen gesetzt; Mazel befreit mit einer Meute misshandelte Gefangene; bei dieser Befreiungsaktion bringt der für die Folter verantwortliche Abt sich selbst um.36 Dieser Selbstmord des fanatischen Katholiken wird durch die verfälschende Propaganda als Mord, begangen durch Mazel, dargestellt. Dies war der Anfang des Bürgerkriegs. Erzähltypologisch sind diese Geschichten analog etwa zur Geschichte der Lais in Wielands Aristipp angelegt: Als Ergebnis von Charakterdisposition und prägenden Umständen wird eine Person exponiert und ihr Gewordensein diskursiv gerechtfertigt. Nur hier, bei Tieck, sind die Akteure durch die Umstände zu Mördern geworden. Am deutlichsten werden die Verkehrungen bei den Kindern. In Wielands Aristipp kommen Kinder nicht vor, die Subjekte treten erst in den Roman ein, wenn sie zu mündigen Agenten des kultivierten Gespräches, also gewissermaßen gattungskonform geworden sind. In Tiecks Partisanentext sind die Kinder die Beweise für die Erweckung. Sie reden im Zustande der Prophezeiung dialektfreie Hochsprache und gelten als reine Medien des göttlichen Willens. Zugleich verkörpern sie aber in der Konsequenz der Aufspaltung der Dichotomien den Gipfel der Grausamkeit. Eine Szene berichtet von der bevorstehenden Folter eines zwölfjährigen Kindes.37 Kaum dass der Leser sich über diese Ungeheuerlichkeit empört, lässt der Text das Kind ein dreistes Lächeln zeigen, in dem sich der brutale Kindersoldat offenbart.38 So geht der Terror des Partisanenkampfes an die Wurzel sowohl der Sprache (reines Französisch in der ekstatischen Prophezeiung) als auch der Individuation (Kindheit). Irritierend, aber letztendlich konsequent ist auch hier wiederum die Spaltung der Unterscheidungen. Indem nämlich die Sprache purifiziert wird und im Wunder ihre Reinheit erfährt, werden die Kinder zugleich zu Soldaten. Das eine (die Reinheit) ist das andere (das Morden) und diese Identifizierung findet am Ursprung (in den Kindern) statt – so tief hat sich die Unterscheidung von Freund und Feind zugleich in beide die Unterscheidung konstituierenden Relata hineinge-
34| Tieck: Aufruhr, S. 102ff. 35| Ebd., S. 105. 36| Ebd., S. 106. 37| Ebd., S. 70. 38| Ebd., S. 71.
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arbeitet.39 Die Form des aufklärerischen Perspektivismus wird zur reinen Form der Inhumanität. Gemessen an der unendlichen Varianz der Leiderfahrung und Traumatisierung gewinnt in diesem Text jeder Mörder seine Rechtfertigung und jede Position ihre Legitimität aus der Illegitimität dessen, wogegen sie sich formiert. »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt«40 wird Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen schreiben. Gelesen aus dem Kontext des Perspektivismus des aufklärerischen Romans ist dies auch eine genaue Beschreibung der ästhetischen Form von Tiecks Aufruhr in den Cevennen. Denn es ist die Auffaltung in die Perspektiven und deren dann folgende narrativ durchgeführte Identifizierung, die im Romantext die Partisanenstrategie als Formkalkül wiederholt. In der im Schlussteil berichteten Lebensgeschichte Watelets wird erzählt, dass wesentliche Handlungsträger des Romans eine gemeinsame Vorgeschichte haben. So konkurrierten Beauvais und Lacoste nicht nur um dieselbe Frau,41 der unterlegene Lacoste wurde vielmehr in einer religiös motivierten Geste der Intoleranz aus dem gemeinsamen Freundeskreis verstoßen.42 Es zeigt sich, dass die spätere Gegenüberstellung des gewalttätigen Lacoste und des milden Beauvais auf eine Ursprungsszene zurückgeht, in der Beauvais seinerseits in eine Schuld gegen Lacoste verstrickt ist. Die narrativ aufgefaltete Genese einer zunächst evidenten semantischen Opposition unterläuft eben diese durch eine dazu querstehende Opposition. Im Ergebnis sieht der Leser plötzlich den bislang positiv gewerteten Beauvais als in den Schuldzusammenhang verstrickt und den Täter Lacoste entsprechend als Opfer. Der Roman erzeugt derartige Perspektivenwechsel systematisch. Am Ende bleibt in dem Blutbad, das der Roman bereitet, keine Person übrig, die nicht verstrickt und schuldig wäre. Tiecks Perspektivismus inszeniert den Partisanenkampf poetologisch mit den formästhetischen Mitteln der Aufklärung. Denn es ist genau derjenige Perspektivismus, der in Wielands Aristipp die ironisch verflüssigten Weltanschauungen der urbanen Gesprächskultur übergibt, welcher in Tiecks Aufruhr zur Verstrickung der Schuldzusammenhänge in Gewaltverhältnisse führt. Möchte man die These, dass der Partisanenkampf die formästhetischen Gegebenheiten des aufklärerischen Romans beerbt, auf dem Feld der militärischen Strategien selbst durchführen, so ist zunächst an die vier Kriterien, die Carl Schmitt dem Partisanen zuschreibt, zu erinnern: »Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität des politischen Engage39| Carl Schmitt verhandelt die Unterscheidung von Freund und Feind als Wur zel des Politischen. Die Außerkraftsetzung dieser Unterscheidung im politischen Raum durch Radikalisierung führt zum »Krieg der absoluten Feindschaft«, der »keine Hegung kennt« (Schmitt: Partisan, S. 56). 40| Ebd., S. 87. 41| Tieck: Aufruhr, S. 179ff. 42| Ebd., S. 182f.
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ments und tellurischer Charakter.«43 Seguier, einer der großen wilden Männer, hat die Strategie des Partisanenkampfes entwickelt,44 nach der die Aufständischen die von Schluchten durchzogene Landschaft der Cevennen ausnutzen, aus der Deckung des Waldes und von oben herab angreifen, während sie dabei Psalmen singen.45 Die regulären Truppen sind den herab geworfenen Steinen, den ungeordneten Angriffen und der elementaren, durch Natur und Wetterumstände – Angriffe erfolgen nachts und bei Regen –, sowie den durch die religiöse Inbrunst des Gesanges verstärkten Attacken schutzlos, in panischem Schrecken ausgeliefert. Die mit einer Partisanenstrategie Kämpfenden nutzen also die Landschaft als Medium und Verbündeten des Krieges: »das Gebirge steht den Rebellen bei«.46 Insofern handelt es sich um einen an konkrete Erde gebundenen Krieg (tellurischer Charakter) – einen »kleinen Krieg«47 –, der aber durch seine Intensität des Engagements »selbst Weiber und Kinder nicht verschont«48 und deshalb eine »schlechte Art, den Krieg zu führen«49 ist, eine irreguläre Art. Da es sich hier nicht allein um einen Bürgerkrieg, sondern zusätzlich um einen religiösen Konflikt handelt, wird die Gewalt mit der religiösen Ekstase verbunden; es fällt der Begriff des »heiligen Krieges«.50 In erstaunlicher Präzision benennt Tiecks Text die Konvergenz zu den Kategorien von Schmitts Partisanentheorie. Der Partisanenkampf schreibt sich in die Poetologie des Romans ein. Denn der Text, der an der Oberfläche eine relativ geordnete Narration der Kriegsereignisse aus den verschiedenen Perspektiven der Parteien darbietet, unterwandert diese Ordnung gerade durch den Perspektivismus. Man könnte sagen, dass das Erzählen selbst irregulär und gesteigert mobil wird. Denn systematisch werden die Charaktere unterwandert. Jeder Mörder war, wie sich herausstellt, Opfer; jedes Opfer ist darauf angelegt, Mörder zu werden; jede Gewalttat ist Reaktion und Aktion zugleich. Die vielen Ortswechsel und vor allem die Glücksumschwünge in den Kampfszenen erzeugen eine Mobilität, die freilich zugleich in einen seltsamen Stillstand mündet, weil am Ende jeder Ort immer wieder derselbe ist. Sei es in der Ebene oder in der Stadt (Nîmes), sei es in den Schluchten oder in den karstigen Hochebenen des Gebirges, immer wird dieselbe Struktur erörtert, in der Kampf und Gewalt Reaktion und Aktion zugleich sind. Der Roman erzählt im hochmobilen Ereignisraum des Kämpfens ein Stillstehen seiner Semantik, als wäre er an die Erde seines Territoriums, die in diesem kleinen Krieg schon ununterschieden das Blut aller Parteien 43| Schmitt: Partisan, S. 28 u.ö. 44| Tieck: Aufruhr, S. 107. 45| Vgl. die folgenden Textstellen zur Kriegsführung: ebd., S. 37, 66, 67f., 69 u. 107. 46| Ebd., S. 58. 47| Ebd. 48| Ebd. 49| Ebd. 50| Ebd., S. 92.
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trägt, ausweglos gefesselt. Arbeitet bei Wieland der Perspektivismus die humanisierende Relativierung der Weltanschauungen heraus, so führt er bei Tieck in die Aporie der sich gegenseitig delegitimierenden Legitimationen. Es sind gerade die in den Roman eingestreuten Lebensgeschichten der Hauptakteure, die formtheoretisch Wielands Briefpoetik ähneln, welche de facto eine Art von Partisanenliteratur hervorbringen. Indem der Schäfer und spätere Bäcker zum Partisanenführer wird,51 gerade gebrandschatzte Flüchtlinge52 in ein kollektives Rachedelirium verfallen,53 Edmund vom Katholiken zum Erleuchteten wechselt, Kinder Propheten und Soldaten zugleich werden, ein Abt in seinen Kerkern foltern lässt54 und ein einfacher Bergbauer Chirurg ist,55 wird die gesellschaftliche Enzyklopädie der Unterscheidungen systematisch unterlaufen, die Akteure versammeln in sich die gegensätzlichsten Eigenschaften. Nichts anderes berichtet Wielands Erzählmodell, betrachtet man es rein formell, nämlich gattungsgeschichtlich, als den Perspektivismus des Romans. Tiecks Text aber meint es Ernst mit der Erfüllung und zugleich Liquidierung von Wielands Aufklärung, indem er die Gattung in eine ihrer Extreme führt. Neben den Optionen einer temperierten Urbanität (Wieland), einer ironischen (Frühromantik) oder einer humoristischen und karnevalesken Vielstimmigkeit (Jean Paul) wird bei Tieck die Radikalisierung des Perspektivismus der Gattung in die semantischen Aporien des Partisanenkrieges geführt. Man kann vielleicht sagen, dass Tiecks Roman damit zu jenen Texten des 19. Jahrhunderts gehört, die nur noch an ihrer Oberfläche eine realistische Narration kennen, aber in ihrer Tiefenstruktur jene Auflösung der semantischen Stabilität betreiben, die in der Moderne zur Avantgarde führt, sobald die Bedingungen gegeben sind, Tiefenstrukturen als solche formulieren zu können.56
IV. Der Erkenntniswert einer gattungsgeschichtlich orientierten Argumentation lässt sich sehr genau angeben. Man hätte Tiecks Aufruhr in den Cevennen auch ohne weiteren Aufwand sofort vor der Argumentationsfolie von Carl Schmitts Theorie des Partisanen lesen können. Die eigentliche Pointe der gattungsgeschichtlichen Bezugnahme besteht aber darin, das Erzählmodell von Tiecks Roman als direkte Fortsetzung eines der Kern51| Cavalier, vgl. ebd., S. 115. 52| Ebd., S. 98. 53| Ebd., S. 99. 54| Ebd., S. 106. 55| Ebd., S. 143ff. 56| Zu dem Modell, dass die Avantgarde als Befreiung der Tiefenstrukturen von den realistischen Konventionen des 19. Jahrhunderts zu deuten ist, vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt/Main 1978.
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modelle des aufklärerischen Erzählens entdeckt zu haben. Bei Wieland wie bei Tieck werden Lebensgeschichten erzählt, indem bei beiden Autoren eine typologische Recherche von Lebensoptionen formiert wird. Beide Romane inszenieren sich als multiperspektivisches Gespräch, einerseits im Briefroman, andererseits bei Tieck in den immer wieder eingeschalteten Gesprächssituationen, die den größten Teil des Textes einnehmen. Die Verhandlung des Politischen ist Zentrum beider Texte, und beide Texte führen dies in Aporien. Wieland bietet kein politisches Modell, vielmehr unterbietet er es durch eine stoizistische Temperierung der anthropologischen Disposition. Tieck überbietet das Politische, indem er den Bürgerkrieg totalitär werden und die Ordnungsmächte scheitern lässt. In diesem Sinne ist der Aufruhr in den Cevennen, gelesen vor der Folie Wielands, eine Exaltation des Anthropologischen im selben Formapriori. Indem aber beide Texte formell dasselbe Erzählmodell benutzen, zeigt sich, dass ihre absolute Gegensätzlichkeit zugleich ihre absolute Konvergenz beschreibt. Wielands Roman muss das schlechthin Inkompatible, das Irreversible, den Tod und die Traumatisierung ausklammern, um im ironischen Kaltsinn die Option für jene Kultiviertheit zu gewinnen, hinter deren Oberfläche ein anderer, dunkler Text verborgen bleiben kann. Tiecks Roman erzählt genau diesen dunklen Text, die Absolutsetzung des Perspektivismus zur radikalen Aufspaltung der Unterschiede in die Inhumanität, in der die eine Traumatisierung ihr Recht im heiligen Krieg findet, während die andere genau gegenteilig den Begriff der Toleranz zu leben versucht. Es ist diese Bezugnahme der gegensätzlichsten Schlussfolgerungen aus einem formell identischen Gattungsmodell heraus, welche hier Erkenntnis erzeugt. Gattungstheoretisch informierte Formgeschichte ist in diesem Sinne einerseits als sedimentierte Gesellschaftsgeschichte lesbar – in diesem Fall: als ein Kapitel in der Dialektik der Aufklärung –, andererseits aber zugleich als deren Reflexion. Denn der ästhetische Zusammenhang ist mehr als nur der Ausdruck gesellschaftlicher Modelle des Zusammenhangs, er ist deren Reflexion und der formierte Einspruch gegen den Zustand der Welt. Gattungen als Modelle des Handelns, narrative Strukturen als Handlungsablauftypen, Genregesetze als durchgebildetes Set von Regeln und Verfahrensweisen haben in ihrer Loslösung von der Normpoetik immer auch das Potential, die Idee einer anderen Ordnung zu formulieren. Der Perspektivismus der Gattung, der ab dem 18. Jahrhundert zu einem begleitenden Moment der ästhetischen Reflexion moderner Kunst wird, gewinnt die Möglichkeit, in der Immanenz der Gattung zugleich den Widerspruch zu ihren impliziten Regularitäten einzulegen. Ist der in den Texten implizite Perspektivismus der Gattung das Medium der ästhetischen Reflexion, dann ergibt sich, wie angedeutet, eine aufschlussreiche Umkehrung. Tiecks Roman würde einer diskursanalytischen Exegese als Text zu gelten haben, der von den Regularitäten des Partisanenkampfes gesteuert wird. Für eine gattungs- und formtheoretisch informierte Lektüre ist er aber ein Text, der die systemi-
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schen Zusammenhänge des Partisanenkampfes reflektiert. Diese Differenz zwischen Gesteuertwerden durch Diskurse und reflektierender Bezugnahme auf Diskurse ist der wesentliche Unterschied. Ohne das Reflexionsmedium der Gattung würde in diesem Fall die Literaturwissenschaft ihr Potential der ästhetischen Reflexion preisgeben und auf Diskursanalyse regredieren. Strukturell gesehen, ist die ästhetische Reflexion klüger als die Systeme, die in den Texten die speziellen Semantiken, Verlaufsschemata und Szenographien zu verantworten haben.57 Tiecks Aufruhr in den Cevennen ist nicht nur ein Partisanentext, welcher das Ensemble strategischer Verfahren durchführt, welches Carl Schmitt zum Gegenstand seiner Theorie des Partisanen machte. Indem Tieck strukturell die Diskursform des Aufklärungsromans aufnimmt und dessen Perspektivismus als Medium der ästhetischen Reflexion ausnutzt, wird der Partisanenkampf als eine Schlussfolgerung aus jener Äquidistanz der Gründe lesbar, die für Wieland in Toleranz und Humanität, bei Tieck aber in die tödliche Ununterscheidbarkeit der Positionen mündet.
V. Dass Tiecks Partisanenpoetik eine verkehrte Konsequenz aus der ironischen Nivellierung ist, welche die Wieland’sche Aufklärung exemplarisch betreibt, wird an den beiden Stellen des Textes evident, an denen Tieck die religionskritischen Argumente Lessings zum Gegenstand der Debatte macht. Hier bricht der Inhalt der Aufklärung durch die perspektivisch verquer zitierte Form des Diskurses durch. Das Ethos der Aufklärung zeigt sich als solches und damit zeigt sich zugleich, dass Tiecks Partisanenpoetik in der Tat die radikale Verlängerung der Aufklärung ist. Im zweiten Teil des Fragment gebliebenen Romans trifft Edmund nach all seinen religiösen Verwirrungen auf den alten katholischen Pries57| Dass die Texte durch ihre ästhetische Reflexion »klüger« wären, als die ihnen prozedierenden Diskurse es sind, ist nur nebenher ein ästhetisches Ur teil. Wichtiger ist, den epistemologischen Gehalt dieses Klügerseins zu ver stehen. Weil die Einheiten des Ästhetischen keiner subsumptiven Logik folgen – im Gegensatz zum Machtapriori des Diskurses, welcher subsumieren muss –, bleiben sie in ihrer gegenseitigen Bestimmung zueinander frei. Erklärt man zum Beispiel eine Materialwahl aus formellen Verfahren, dann verhindert nichts, in anderer Hinsicht genau umgekehrt die Verfahren auf die Materialien zu beziehen. Die immanente ästhetische Bestimmung bleibt, weil sie sich nicht subsumptiv stillstellt, eine permanente und unabschließbare Bestimmungsarbeit, welche aus ihrer rekursiven Selbst anwendung heraus zu jeder Position eine weitere Beobachtung generieren kann. Diese ästhetische Freiheit sichert in jedem Moment die Möglichkeit, gegenüber einer Festlegung auf Diskursebene die ästhetische Reflexion in Anschlag zu bringen. Die Unhintergehbarkeit des ästhetischen Bestimmungs spiels impliziert eine epistemologische Komplexität, die die Qualifikation des Klügerseins rechtfertigt.
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ter Watelet, den Freund seines Vaters, und führt mit ihm, stellvertretend die den Roman eröffnende Auseinandersetzung über Religionsstreit fortsetzend, ein Gespräch über das religiöse Wunder, also über das, was bei den Aufständischen den Kern ihrer Legitimation bildet und was Lessing zum Gegenstand seiner Auseinandersetzung mit der lutheranischen Orthodoxie gemacht hat. Watelet entwickelt das Theorem, dass gegenüber allen hervorstechenden Wundern die Alltäglichkeit das größere Wunder sei. Das Argument ist von erstaunlicher Radikalität – eben derjenigen Radikalität, die ihm bei Lessing schon anhaftete.58 Watelet deutet das singuläre und ereignishafte Wunder als Durchbruch des sündigen Menschen in seinen vorsündigen Zustand. Damit erklärt er die Prophezeiungen und die Wundergaben der Partisanen. Tieck treibt keine billige Aufklärung, indem er Wunder als Sinnestäuschungen entlarvt oder leugnet; der Text geht davon aus, dass es Wunder gibt. Die eigentliche Kritik setzt mit dem impliziten Bezug auf Lessing viel radikaler daran an, dass das zugestandene Vorhandensein von Wundern die Frage ihrer Benutzung aufwirft. Selbst nämlich, wenn die Erleuchteten in den vorsündigen Zustand durchbrächen, würden sie, so Watelet, diese Wunder und Gaben doch wiederum menschlich, d.h. sündig benutzen und also aus Wundern irdische und korrumpierte Werkzeuge machen.59 Die Erleuchteten sollten aber in einen Zustand jenseits der Leidenschaft kommen.60 Hier endlich baut der Text eine Gegenposition zu der irritierenden Tatsache auf, dass er bislang und auch weiterhin die Wundergaben nicht bezweifelt. Das Argument ist: Selbst wenn Wundergaben zugestanden sind, soll man sie nicht weltlich benutzen. Dieses Argument beeindruckt den religiösen Zweifler viel mehr, als wenn man die Wundergaben schlicht ableugnete. Das eigentliche Wunder ist also, wenn sich der Mensch neu umgestaltet,61 also sein Herz erneuert, aber dies nicht anderen aufzwingt. Watelet deutet entsprechend die katholischen Riten liberal, d.h. als schöne Bilderwelt.62 Lessings Argument, das Tieck hier aufnimmt, hat zudem im Bedürfnis, Wunder haben zu wollen, einen doppelten Unglauben aufgespürt. Wer des Wunders bedürftig ist, muss implizit glauben, dass die Welt in 58| Tieck: Aufruhr, S. 164. 59| Lessing benutzt hier die Unterscheidung von Wunder versus Nachrichten von Wundern. Sein Argument, vorgetragen u.a. in der Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), trennt das eigentliche Wunder von der Problematik seiner Bezeugung und Weitergabe. Letzteres kann immer nur den Status einer Geschichtswahrheit erlangen und unterliegt deshalb allen Zweifelsgründen des Überlieferungsgeschehens. In Tiecks Roman nimmt Watelet die analoge Unterscheidung in Anspruch, wenn er das Wunderereignis vom sozialen Gebrauch des Wunders trennt. Vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 11f. 60| Tieck: Aufruhr, S. 165. 61| Ebd., S. 166. 62| Ebd., S. 167.
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ihrer Normalität kein Wunder sei. Somit würde der Wundergläubige nicht daran glauben, dass Gottes tägliches Geschäft, die Welt, so wie sie ist, zu erhalten, seinerseits bewundernswert wäre. Schlimmer noch, wenn das Wunder ganz offenkundig in die normale Weltordnung eingreift, unterstellt man Gott implizit, dass die Welt unvollkommen ist und er jeweils kurzfristige Korrekturen vorzunehmen habe. In diesem Sinne gibt das Wunder darüber Auskunft, dass Gott es nicht vermocht hat, eine Welt zu erschaffen, die ohne Reparaturnotwendigkeit zu funktionieren in der Lage wäre. Der Wundergläubige depotenziert letztendlich die Allmacht Gottes zu der Funktion eines unvollkommenen Demiurgen, während der Gläubige kein Wunder nötig hat und vielmehr das alltägliche Wunder, dass die Welt Bestand hat, als Beweis des Glaubens wertet.63 Der Begriff des Wunders führt also in eine mehrfache Aporie. Indem Tieck die im Text duplizierte Instanz des weisen Vaters aufbietet,64 um dem jugendlichen Fanatiker eine Lessing’sche Aufklärung zuteil werden zu lassen, wird der eigentliche ontologische Kern der radikalen Religiosität und damit des Heiligen Krieges zumindest argumentativ zerstört. Tieck anthropologisiert das Wunder. Der Text gesteht die Möglichkeit zu, dass Menschen ihren sündigen Zustand transzendieren können, aber er verneint die Möglichkeit, dass dieses Ereignis sozial stabilisiert werden 63| Wirkmächtig trägt Lessing dieses Argument in der zweiten Szene des ers ten Aktes von Nathan der Weise vor. Dort kuriert Nathan den Wunderglauben Rechas, der sie aus dem Feuer rettende Tempelherr wäre ein Engel. Vgl. Lessing: Werke, Bd. 2, S. 212–219 (insbes. V. 217ff.: »Der Wunder höchstes ist/ Daß uns die wahren, echten Wunder so/ Alltäglich werden können, werden sollen.«). In Eine Duplik (1778) trägt Lessing das Argument im Rahmen der polemischen Abhandlung vor: Wunder seien für die Gründungsphase des Christentums das pädagogisch richtige Mittel gewesen, aber für eine fortgeschrittene Religion muss der Bestand der Welt anders begründet sein, vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 40f.; vgl. auch: Die Er ziehung des Menschengeschlechts, Lessing, Werke, Bd. 8, S. 489–510. 64| Tiecks Roman kennt eine systematische Struktur der aktantiellen Duplizierung. Es gibt die Gruppe der großen, bärtigen, trotz fortgeschrittenen Alters nahezu unbesiegbar starken Krieger (Lacoste, Seguier), die Gruppe der weisen und milden Vatergestalten (Beauvais, Watelet), die Gruppe der jungen bartlosen Männer, die einen heiligen Kampf nahezu im Zustand eines reinen Seelenfriedens führen (Cavalier, Roland, Catinat), die Kinder und schließlich Figuren, die zwischen den Kriegsparteien wechseln (Edmund). Der Romantext verbindet diese Aktantengruppen, indem er durch die Vor geschichten die bärtigen Schreckensmänner mit den milden Vätern so in einen Zusammenhang bringt, dass mitunter die Milden diejenigen sind, die die Verzweiflung der Mordenden verursacht haben. Derart unterwandert der Text seine aktantielle Gruppierung durch die Narration der Vorgeschichten. Es wird deutlich, dass letztlich immer dieselbe Geschichte er zählt wird, in der sich eine Position durch eine Gewalterfahrung in die Positionen von Milde versus Mord aufspaltet, diese Spaltung vervielfacht ins System der Spaltungen zurück gibt und dadurch ein Universum des Krieges er zeugt, in dem selbst die Milde nur das abstrakte Andere des Mordes ist.
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könnte. – Somit ist es an dieser einen Position im Text doch eine genuin aufklärerische Gesprächskultur, die kurz die Möglichkeit aufscheinen lässt, einen Ausweg aus den geschlossenen Kreisläufen der Gewalt anzudeuten. Es ist, als würde an dieser Stelle Tiecks Roman nicht nur formal, sondern auch inhaltlich die Aufklärung Lessings und Wielands affirmieren. Und deshalb, infolge des Auftretens der Aufklärung selbst, kann man mit Recht behaupten, dass Tiecks Roman die Kontrafaktur der Aufklärung ist. Dieser Durchbruch des aufklärerischen Positivbildes durch den negativ gewordenen Perspektivismus der Gattung ist aber wiederum eine Funktion der Formgeschichte. Bei Tieck folgt auf den diskursiven Ruhepunkt eines Gesprächs, das den argumentativen Ausweg aus dem Religionskrieg andeutet, das grausamste Gemetzel des Romans. Und die Schlussszene zeigt, wie der alte Watelet, erschöpft auf der Flucht, seine Jugendliebe wiederfindet und in der Glückseligkeit des Wiedersehens mit ihr zusammen stirbt. So scheidet der Diskursträger der Aufklärung aus dem Roman aus, der mit diesem Tod endet. Der Roman schließt also mit einer instruktiven Sequenz: Zuerst das Durchbrechen der Aufklärung durch das negativ gewordene Formgesetz der vormals toleranten Äquidistanz der Gründe, sodann das Gemetzel als in concreto vollzogene Widerlegung der Aufklärung und schließlich das Sterben des Diskursträgers, dessen Erschöpfung die Wiederbegegnung mit der Jugendliebe nicht mehr erträgt. Liest man diese Sequenz als poetologische Reflexion, wird man sie als das Wissen des Textes davon, dass seine Partisanenpoetik die Konsequenz der Aufklärung ist, zu entziffern haben. In diesem Sinne ist die implizite Gattungsfolie das ästhetische Reflexionsmedium, durch das der Roman nicht nur als von einer Partisanenstrategie gesteuert erscheint, sondern als dessen souveräne Reflexion auftritt. Diese Reflexion ist aus den Formmomenten und ihrer inneren Konstellation heraus zu entziffern; sie steht nicht als Philosophem im Text. Aber es ist der Perspektivismus der Gattung, der einen Komplexitätsvorteil in aestheticis gegenüber den Systemen und Diskursen des Textes, sowie gegenüber seinen Repertoires und Handlungsplänen behauptet.
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»ein gelobtes Land« Hölderlins Nüchternheit zu Ende gelesen (mit Benjamin, Adorno, Szondi, Agamben) Bart Philipsen
I. Benjamins im Winter 1914/15 entstandener Hölderlin-Aufsatz Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. »Dichtermut« – »Blödigkeit«1 gehört trotz seines sowohl stilistisch als auch argumentativ komplexen und manchmal dunklen Stils zu den frühesten Hölderlin-Lektüren, deren grundlegende Einblicke in die Tendenzen von Hölderlins Spätwerk bis heute wegweisend geblieben sind. Darüber hinaus gilt er auch als frühe Probe eines von Benjamin selber am Anfang des Aufsatzes auf den Begriff »ästhetischer Kommentar«2 gebrachten Lektüreverfahrens, das sich in den späteren Texten zur Literatur weiter durchsetzen würde; in den für Benjamins innovative Lektürepraxis (und Schreibweise) exemplarischen Arbeiten zur frühromantischen Kunstkritik, zu Goethes Wahlverwandtschaften, zum barocken Trauerspiel und zur Aufgabe des Übersetzers ist die diskrete oder explizite Präsenz Hölderlins nicht zu leugnen. Ohne Benjamins akribische Analyse voreilig auf deren Schluss reduzieren zu wollen, sei den folgenden Überlegungen doch das Fazit des frühen Aufsatzes vorangestellt: Absichtlich war im Laufe der Untersuchung das Wort »Nüchternheit« ver mieden worden, das so oft zur Charakteristik nahe gelegen hätte. Denn erst jetzt sollen Hölderlins Worte von dem »heilig nüchternen« genannt sein, deren Ver ständnis nun bestimmt ist. Man hat bemerkt, daß diese Worte die Tendenz seiner späten Schöpfungen enthalten. Sie entspringen der inneren Sicherheit, mit der diese im eignen geistigen Leben stehen, in 1| Walter Benjamin: »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. ›Dichtermut‹ – ›Blödigkeit‹«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Ger shom Scholem. Bd. II, 1. Frankfurt/Main 1977, S. 105–126. 2| Ebd., S. 105.
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B ART P HILIPSEN dem nun die Nüchternheit erlaubt, geboten, ist, weil es in sich heilig ist, jenseits aller Erhebung im Erhabnen steht. Ist dieses Leben noch das des Griechentums? So wenig ist es das, wie das Leben eines reinen Kunstwerks überhaupt das eines Volkes sein kann, so wenig wie es das eines Individuums ist und keines als sein eignes, das wir im Gedichteten finden.3
Das Schlüsselwort ›Nüchternheit‹, das Benjamin bis zum Ende aufgespart oder sogar »vermieden« hatte, erscheint bekanntlich noch einmal – und ebenfalls gegen Ende – in der einige Jahre später vorgelegten Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Das durchaus ethisch-performative Pathos (»sollen«, »erlaubt«, »geboten«), mit dem Benjamin im frühen Aufsatz der Nüchternheit als Tendenz des Spätwerks gerecht zu werden versucht, scheint in der Dissertation allerdings einer – den Erfordernissen des akademisch-wissenschaftlichen Diskurses angemesseneren – analytisch-kognitiven Sprache gewichen zu sein. Nachdem Benjamin schon am Anfang der Dissertation behauptet, dass Hölderlin »ohne Fühlung mit den Frühromantikern in einigen ihrer Ideen zusammenhänge […] das letzte und unvergleichlich tiefste Wort sprach«,4 rückt er ihn am Ende endgültig in die »Mitte« des frühromantischen Diskurses. Er sei der »Geist«, dessen »Satz von der Nüchternheit der Kunst« zum exzentrischen Herzen der romantischen Kunstphilosophie avanciert: Dieser Satz ist der im wesentlichen durchaus neue und noch unabsehbar fort wirkende Grundgedanke der romantischen Kunstphilosophie […]. Wie er mit dem methodischen Verfahren jener Philosophie, der Reflexion, zusammenhängt, liegt auf der Hand. Das Prosaische, in dem die Reflexion als Prinzip der Kunst sich zuhöchst ausprägt, ist ja im Sprachgebrauch geradezu eine metaphorische Bezeichnung des Nüchternen.5
Avanciert Hölderlins Spätwerk einerseits zum außerordentlichen Paradigma jener von Benjamin in der frühromantischen Ästhetik aufgedeckten These, dass die Prosa »die Idee der Poesie genannt werden«6 darf, so beeilt Benjamin sich andererseits klar zu stellen, dass zwischen Schlegels und Novalis’ Gedanken auf der einen und Hölderlins Werk auf der anderen Seite keine lückenlose Kontinuität bestehe: Was nur ein »äußerster vorgeschobener Standpunkt ihres Denkens war, da war Hölderlins Bereich«, ein Bereich der für Schlegel und Novalis »ein gelobtes Land blieb.«7 So schreibt Benjamin, nicht im Haupttext freilich, sondern in einer ausführlichen Anmerkung, anschließend an ein längeres Zitat aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus, in denen Hölderlin »die mèchanè 3| Ebd., S. 125f. 4| Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Hg. v. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1973, S. 22. 5| Ebd., S. 97. 6| Ebd., S. 94f. 7| Ebd., S. 99 (Anm. 280).
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der Alten« zum Vorbild für die zeitgenössische »Poesie« erhebt. Gemeint ist der »gesetzliche Kalkül und sonstige […] Verfahrensart, wodurch das Schöne hervorgebracht wird«, das Handwerkmäßige, das auch von Novalis und Schlegel (laut Benjamin) auf jenen »unzerstörbar« bleibenden »Kern des Werkes« verweist, der in der »unantastbar nüchternen prosaischen Gestalt [beruht]«.8 Erst in dem zehn Jahre später entstandenen Wahlverwandtschaften-Essay wird Benjamin jenen Aspekt, der nach ihm die Differenz zwischen dem frühromantischen Programm und Hölderlin (der immerhin dessen blinden Punkt treffen soll) markiert, mit dem aus den Anmerkungen zu Sophokles entlehnten Begriff der Zäsur verknüpfen.9 Rainer Nägele hat mit Recht auf den Unterschied zwischen mèchanè und dem bekannteren aristotelischen Begriff der technè als terminus technicus für Kunst hingewiesen: da Aristoteles technè in nächste Nähe zu Wissen und Wissenschaft (epistèmè) rückt, und technè somit eine gewisse Überlegenheit und Herrschaft des Subjekts über die Welt impliziert (d.h. auch zu der Subjektformation in der abendländischen Tradition beiträgt), scheint der Begriff mèchanè (der übrigens aus dem Bereich des Theaters kommt) eher das umgekehrte zu bedeuten: eine mechanisch gewordene Praxis, der das Subjekt selber ›unterliegt‹ und von der es eher bestimmt wird als dass es sie kontrolliert; allenfalls erscheint, so Nägele, die mèchanè in Hölderlins Auffassung als geübter Umgang mit diesem heteronomen Moment, als eigentümliche Schwebe zwischen aktivem und passivem Tun, die Nägele nicht von ungefähr in der letzten Strophe von Blödigkeit in der ambivalenten Semantik des Geschicks bzw. des Schicklichen inszeniert sieht:10 Gut sind und geschickt einem zu etwas wir, Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen Einen bringen. Doch selber Bringen schikliche Hände wir (V. 21–24)
Die von Nägele aufgedeckte Konstellation der Begriffe technè, mèchanè und Geschick in Hölderlins Poetik entspricht in jeder Hinsicht der Umdeutung, der in Benjamins Lektüre das Wort Blödigkeit unterzogen wird. Blödigkeit wird als das ethos oder die »eigentliche Haltung des Dichters« bzw. der poetischen Sprechinstanz bezeichnet, die sich ›aktiv‹ der Selbstsetzung zu entziehen und sich in die Beziehungsstruktur des Gedichtes
8| Zitiert nach ebd., S. 98f. 9| Immerhin verwendet Benjamin den Begriff schon in dem frühen Hölderlin-Aufsatz, und zwar in Bezug auf die letzte Strophe von Blödigkeit. Siehe weiter unten. 10| Rainer Nägele: »Mèchanè. Einmaliges in der mechanischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft. Basel, Weil am Rhein, Wien 2005, S. 133–148, hier S. 136–138.
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zurück zu ziehen habe, damit dieses »im eigenen geistigen Leben stehen [könne], in dem nun die Nüchternheit erlaubt, geboten, ist«: Blödigkeit ist nun die eigentliche Haltung des Dichters geworden. In die Mitte des Lebens versetzt, bleibt ihm nichts, als das reglose Dasein, die völlige Pas sivität, die das Wesen des Mutigen ist; als sich ganz hinzugeben der Beziehung. Sie geht von ihm aus und auf ihn zurück.
Die »Haltung« des dichtenden Subjekts wird als das Ergebnis eines ›Versetzt-Werdens‹ präsentiert, das einerseits dazu führt, dass ihm »nichts bleibt als […] völlige Passivität«; aber dieses »nichts« wird zugleich mit einer gewissen aktiven Bereitschaft gleichgesetzt, »sich ganz hinzugeben der Beziehung«, die in Benjamins Kommentar das wesentliche Objekt der Analyse ist – »Das Prinzip des Gedichteten überhaupt ist die Alleinherrschaft der Beziehung«11 – und die angeblich von dieser aktiven/passiven Position des Dichters abhängig ist: »Sie geht von ihm aus und auf ihn zurück«. Die ›Ver-setzung‹ scheint eben diese ambivalente und sehr prekäre Inszenierung zwischen Setzung und Gesetzt-Sein zu benennen, die sich in der gleichfalls ambivalenten Semantik des Gedichtes selber, wie etwa in der schon erwähnten Semantik des Geschicks, aber auch im abgründigen Spiel zwischen Gehen, Lage und »gelegen« und der komplizierten Poetik und Rhetorik der Verräumlichung, auf die Benjamins akribische Lektüre ausführlich eingeht, artikuliert. In der vergleichenden Lektüre der zwei Fassungen Dichtermut und Blödigkeit geht es Benjamin gerade um die Umdeutung der »Mut« als einer solchen Dekonstruktion der Selbstsetzung, die zur Blödigkeit ›versetzt‹ wird. In der ersten Fassung wird sie noch als »Eigenschaft« einer mit der von der George-Schule vertretenen verwandten Dichter-und Dichtungskonzeption dargestellt,12 die auf einer Heroisierung und Mythisierung von Dichtung und Dichter basiert und auf Grund der Vermischung von Kunst und Religion der ersteren ein göttliches Mandat oder Aufgabe zuschreibt. Die Ambivalenz einer solchen die griechischen Götter nachahmenden Selbstgestaltung und/oder Selbstsetzung (»Sich selbst Gestalt 11| Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 124. 12| Für eine Zusammenfassung dieser Problematik im Kontext des Hölderlin-Aufsatzes siehe Patrick Primavesi: »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin«, in: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2006, S. 465–471. Dort auch der Hinweis auf die u.a. von Gershom Scholem kommentierte Beziehung zwischen dem Hölderlin-Aufsatz und der traumatischen Erinnerung an Benjamins Freund Friedrich Heinle, der beim Ausbruch des ersten Weltkriegs Selbstmord verübte um sich der Einberufung zum Militär zu entziehen – ein ›Erlebnis‹, dessen Benjamin, seiner Kritik der hermeneutischen Methode Diltheys und seinem Verständnis von Hölderlins eigener Durcharbeitung persönlicher Traumata getreu, nur in der Kryptik der gleichen Anfangsbuchstaben (F.H.) gedachte. Aber aufgrund dieser kryptischen Anspielung liest sich der ganze Aufsatz als eine Hommage an den Freund.
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geben, das heißtȱϻΆΕΖ«),13 die den Dichter entweder zum Priester oder (und) zum mythisch-heroischen Opfer hochstilisiert, setzt Benjamin die Mut als Qualität einer »Beziehung von Mensch zu Welt und von Welt zu Mensch« »im dichterischen Kosmos« entgegen. Die im ästhetischen Kommentar aufgedeckte Komplementarität von ›Blödigkeit‹ und Nüchternheit profiliert beide als die zwei Seiten des gleichen poetischen Sprech- oder Schreibaktes, der sich jedweder Instrumentalisierung (und Legitimierung) von Dichtung »aus einer ihr fremden, wie auch immer gearteten und bezeichneten Instanz«14 und demzufolge auch der von Deutungen aus dem George-Kreis geförderten und am Vorabend des ersten Weltkrieges alles anderen als unschuldigen Verklärung des Opfertodes entgegensetzt.15 Der radikalen Absage an eine Interpretationstradition, die laut Benjamin vorschnell von dem ästhetischen Werk auf den Autor, seine Erlebnisse und deren Repräsentativität für die geistesgeschichtliche ›Bestimmung‹ des – deutschen – Volkes zu schließen geneigt war, entspricht auf der anderen kontrastierenden Seite aber keinesfalls die Befürwortung einer unproblematischen Werkimmanenz. Die Aufgabe, die dem Dichter als ›Führer‹ zugedichtet wird, stellt Benjamin eine »dichterische Aufgabe« entgegen, die zunächst als Aufgabe des Gedichts, d.h. als eine dem Gedicht zu Grunde liegende »Voraussetzung« oder »letzter Grund« bezeichnet wird, dann aber auch als eine »Sphäre« die »Erzeugnis und Gegenstand der Untersuchung zugleich« heißt, d.h. im Akt des Lesens mit-konstituiert wird.16 Was Benjamin sofort »das Gedichtete« nennt, wird als »Grenzbegriff« definiert,17 da es sich sowohl von dem Gedicht 13| Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 121. Zur impliziten Kritik der Fichte’schen Selbstsetzung und Tathandlung, die in Hölderlins Werk eine zentrale Rolle spielt, siehe u.a. Beatrice Hanssen: »›Dichtermut‹ and ›Blödigkeit‹: Two Poems by Hölderlin Interpreted by Walter Benjamin«, in: MLN 112 (1997), S. 786–816, hier S. 805. 14| Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frank furt/Main 2008, S. 125. 15| Die Absage an eine heilsgeschichtliche (und zugleich politische) Ver einnahmung von Hölderlins Werk verschärft sich noch in Benjamins Besprechung von Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik: »Das Bild des Mannes, das darin entrollt wird, ist Bruchstück einer neuen vita sanctorum und von keiner Geschichte mehr assimilierbar. Seinem ohnehin fast unerträglich blendenden Umriß fehlt die Beschattung, die gerade hier die Theorie gewährt hätte. Darauf aber ist es nicht abgesehen. Ein Mahnmal deutscher Zukunft sollte aufgerichtet werden. Über Nacht werden Geisterhände ein großes ›zu spät‹ draufmalen. Hölderlin war nicht vom Schlage derer, die auferstehen, und das Land, dessen Sehern ihre Visionen über Leichen erscheinen, ist nicht das seine.« Walter Benjamin: »Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerell, ›Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‹«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III (1977), S. 252–259, hier S. 259. 16| Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 105. 17| Ebd., S. 105ff.
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(der Funktionseinheit des vorliegenden Textes) selber sowie von der Funktionseinheit des Lebens, das es vermittelt, unterscheidet: es sei ein Grenzbegriff, weil es weniger etwas für sich als vielmehr einen Übergang zwischen den Funktionseinheiten des Lebens und des Gedichts bezeichnet. Das Gedichtete entspricht somit keiner grundlegenden Identität (und schon gar nicht der des Autors), sondern ist Prinzip eines Übergangs oder einer Transformation, die immerhin auf den Begriff »das Gedichtete« gebracht wird, als wäre es doch eher Produkt als Prozess. Es ist aber beides, und Benjamin zögert nicht, in jenem Gedichteten die »Sphäre« zu sehen, die nicht nur »für jede Dichtung eine besondere Gestalt hat«, d.h. singulär ist, sondern auch der locus ist, in dem jener »eigentümliche Bezirk erschlossen werden [soll], der die Wahrheit der Dichtung enthält«. »Diese ›Wahrheit‹« – und Benjamin setzt sie selber zwischen Anführungszeichen, als wollte er dadurch schon den nicht-kognitiven Charakter dieser Wahrheit hervorheben – »[…] soll verstanden sein als Gegenständlichkeit ihres [der Dichter] Schaffens«.18 Die Materialität des Schreibens und der Schrift artikuliert somit die performative Wahrheit der Dichtung, indem in ihr nicht nur Schreiben und Leben, sondern auch die technè des Subjekts und die mèchanè der Schrift, Autonomes und Heteronomes sich reziprok bestimmen und begrenzen im Hinblick auf die »Erfüllung der jeweiligen künstlerischen Aufgabe«. Und: »Diese Idee der Aufgabe ist für den Schöpfer immer das Leben«.19 Wenn es heißt, dass »das Leben als letzte Einheit dem Gedichteten zum Grunde liegt« und »das Leben allgemein das Gedichtete der Gedichte ist«,20 so wird damit die vorher beschriebene Beziehungsstruktur nicht verneint, sondern es wird gerade deren komplizierter Bestimmungscharakter oder Bestimmbarkeit betont: »Es liegt nicht die individuelle Lebensstimmung des Künstlers zum Grunde, sondern ein durch die Kunst bestimmter Lebenszusammenhang«.21 Leben ist nicht als unmittelbare Referenz greifbar im Gedicht, sondern wird erst durch die ästhetische Bestimmung zu jenem Zusammenhang und jener Funktionseinheit, die »Leben« genannt werden darf; genau wie das Gedichtete, mit dem Benjamin es gewissermaßen identifiziert, erscheint das Leben nicht als etwas an und für sich, es wird als Aufgabe gefasst, genauer: als Idee der Aufgabe, deren Lösung das Gedicht zu sein versucht (»Idee der Lösung«),22 wobei die Gegenständlichkeit des Schaffens als »die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe«23 noch einmal den performativen, die Erfüllung (als Idee des unvollendeten Erfüllens) aufschiebenden Charakter betont. Auf diesen
18| Ebd., S. 105. 19| Ebd., S. 107. 20| Ebd. 21| Ebd. 22| Ebd. 23| Ebd., S. 105.
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kommt es Benjamin an, nicht auf das Ergebnis des Gedichts.24 Dieses ist, so Benjamin, als Funktionszusammenhang von einer »höchsten Bestimmtheit«, während das Gedichtete (und somit auch das Leben) sich von dem Gedicht lediglich »durch seine größere Bestimmbarkeit [unterscheidet]: nicht durch einen quantitativen Mangel an Bestimmungen, sondern durch das potentielle Dasein derjenigen, die im Gedicht aktuell vorhanden sind und andrer.«25 Zwischen der vom Gedichteten verwalteten »Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten«26 und der »immer strengeren Bestimmtheit des Gedichts«27 findet somit ein unvermeidliches »Absehen von gewissen Bestimmungen«28 statt, das der Kommentar, indem er sich auf das Gedichtete richtet und dieses als »Auflockerung« der vom Gedicht realisierten, aktualisierten Bestimmungen definiert wird, auch wieder rückgängig machen (›auflockern‹) sollte, bis dieser notwendigerweise an seine Grenze stößt: denn zwischen Aktualisierung und Potenz, Lösung und Aufgabe gibt es eine Inkommensurabilität, die nicht überwunden werden kann. Nicht nur das potentielle Dasein jener Bestimmungen, die im Gedicht aktuell vorhanden sind, wäre aufzudecken, sondern auch »anderer«. Die Aufgabe – das Leben – liegt dem Gedicht auf eine uneinholbare Weise als unbestimmte Alterität voraus.29 Was also ins Zentrum von Benjamins Lektüre gerückt wird, ist eine Sphäre von Beziehungen und Verbindungen, die sich sowohl einem bestimmten Ursprung außerhalb oder innerhalb des dichterischen Kosmos als einem bestimmten Telos (der Lösung des Gedichts) entzieht. »Das letzte Gesetz dieser Welt ist eben die Verbundenheit; als Einheit der Funk24| »Nicht danach kann die Bewertung sich richten, wie der Dichter seine Aufgabe gelöst habe, vielmehr bestimmt der Ernst und die Größe der Aufgabe selbst die Bewertung«. Ebd. 25| Ebd., S. 106, Hervorh. d. Verf. 26| Ebd. 27| Ebd. 28| Ebd. 29| Siehe zu dieser Problematik des »Absehens« die aufschlussreichen Seiten in Samuel Weber: Benjamin’s –abilities. Cambridge/Mass., London 2008, S. 14–19: »We see here how the ability to be determined – the ›greater determinability‹ of the poetized – depends directly on the ability to indetermine: to avert one’s view from what cannot be taken in. Looking at and looking away are not mutually exclusive, but rather inseparable. This suggests how and why determinability, and Benjamin’s -abilities more generally, go hand in hand with the negotiation of inability, and why looking up – der Augenaufschlag as he writes in the Trauerspielbuch – always also means looking away. Perhaps it is this convergence of looking at, looking-away and looking-up that explains why the primary of Benjamin’s –abilities is readability. And also why the now of knowability – das Jetzt der Erkennbarkeit – is also the moment in which readability parts company with determinate meaning and knowledge, not by dissolving its relation to it, but by acknowledging the irreducible immediacy – the Un-mittel-barkeit – of its medium of language to be the greatest –ability of all.« Ebd., S. 18f.
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tion von Verbindendem und Verbundenem«,30 von Bestimmendem und Bestimmtem,31 so dass letzten Endes alle Gestalten im Gedicht »so selbstherrlich sie erscheinen, schließlich zurückfallen in die Gesetztheit des Gesanges«.32 Die komparatistische Analyse der beiden Gedichtfassungen, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden soll, belegt diese Struktur mit inhaltlich-thematischen Tendenzen des Überarbeitungsprozesses, in dem Benjamin vor allem die hierarchielose Abhängigkeit der Gestalten und Elemente hervorhebt: »So daß hier, um die Mitte des Gedichts, Menschen, Himmlische und Fürsten, gleichsam abstürzend aus ihren alten Ordnungen, zu einander gereiht sind«.33 Dem rhetorisch-poetologischen Konzept der ›Reihung‹ (das später von Adorno und Szondi mit den Begriffen der Parataxe und der Episierung verknüpft werden soll) entsprechen das (im Gedicht selbst verwendete) Bild des Teppichs – der Textur oder des Gewebes – und der orientalischen Ornamentik – »das ist das orientalische, mystische, die Grenzen überwindende Prinzip, das in diesem Gedicht so offenbar immer wieder das griechische, gestaltende Prinzip aufhebt«.34 Dieses letztere hebt sich auf »in der raumzeitlichen Ordnung, in der sie [die Gestalt] als gestaltlos, allgestalt, Vorgang und Dasein, zeitliche Plastik und räumliches Geschehen aufgehoben ist.«35 Der Begriff der Aufhebung ist irreführend, weil es sich zugleich um ein »zurückfallen« und »abstürzen« handelt, wie Benjamin vorher behauptet hat, ein Zurückfallen in die »Gesetztheit des Gesangs«. Der merkwürdige Ausdruck ›Gesetztheit‹ verweist angeblich auf eine Ur-Setzung, die jeder Setzung, jeder Abhängigkeitsbeziehung vorangeht.36 In diesem zurückweichenden Grund, dessen Mitte »einem anderen gebührt«,37 wird jeder Versuch zur Selbstgestaltung, von der auch immer Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse sowie identifikatorische Vereinnahmungen des Lebens gezeitigt werden, zur falschen Nachträglichkeit und verfehlten Aktualisierung verurteilt. Das Leben, in dem das Gedicht steht, gebührt eben einem (jeweils) ›anderen‹, das »reine Kunstwerk« wirkt dessen Identifikation (und Reduktion bzw. Instrumentalisierung) als Leben eines Volkes oder eines Individuums entgegen. Als paradoxaler Platzhalter dieser Mitte wird nun immerhin der Dichter angedeutet, nicht aber weil ihm diese Mitte als einem überlegenen prophetischen Subjekt ›gebührte‹; es handelt sich um den dorthin ›Ver30| Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 122. 31| Ebd., S. 114. 32| Ebd., S. 113. 33| Ebd., S. 112. 34| Ebd., S. 124. 35| Ebd. 36| Eine andere Bedeutung, die mitschwingt, ist kaum zufällig die der nüchternen, besonnenen, d.h. ›gesetzten‹ Haltung. Siehe Hanssen: ›Dichtermut‹ and ›Blödigkeit‹, S. 803. 37| Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 122.
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setzte‹, der sich dem Beziehungs- und Bestimmungskomplex hingeben soll – ihm bleibt nichts als eben das, heißt es – und durch dessen Mut, verstanden als Passivität, die Zirkulation der Bestimmungen und Beziehungen, durch die sich das Leben ein »eigenes«, als erhabenes auch dem Zugriff des Erkennens versagtes, bewähren kann, nicht aufgehoben bzw. nicht mit dem Bereich des geschichtlich-politischen Handels kurzgeschlossen wird. Er »bedeutet die unberührbare Mitte aller Beziehung«, er »lebt« sie sogar.38 Aber zugleich weckt das Pathos, mit dem Benjamin gegen Ende des Aufsatzes die Nicht-Unterschiedenheit von Dichter und Gesang im Kosmos des Gesangs verkündet, einiges Misstrauen. Gerade jene letzte Strophe aus Blödigkeit (s.o.), die Benjamin zum Inbegriff der erstrebten unendlichen Verbundenheit wird,39 erscheint Nägele in den schon erwähnten Erörterungen zur mèchanè aber als »ausgesprochen linkisch, fast unschicklich in der syntaktischen Fügung«;40 er nennt die Zeilen »linkisch« nach dem griechischen amèchanos; linkisch nannte Hölderlin aber auch, in einer der vielen ›ungeschickten‹ Wendungen der Sophokles-Anmerkungen, die Form, die uns Modernen, schicksaallosen, »gerade tauglich [ist], weil das Unendliche, wie der Geist der Staaten und der Welt, ohnehin nicht anders, als aus linkischem Gesichtspunct kann gefaßt werden.«41 Die linkische Schlussstrophe von Blödigkeit zeigt vielleicht, dass auch die Blödigkeit des Dichters sich noch ›vor dem Gesetz‹ des Gedichteten aufhält, dass er sich in der Hingabe, die letzten Endes eine Hingabe an die »tote dichterische Welt« sei,42 noch zurückhält, dass er nicht ganz absieht vom Absehen. Die Passivität, der er sich hingeben soll, um so die Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten zu »bedeuten« und zu »leben« (und schon in dieser Alternative wird die problematische Vereinigung von Leben und einer ästhetischen Form, durch die sie ›bedeutet‹ würde, lesbar), stellt sich als ein Un-vermögen heraus, das er nicht vermag, vielleicht auch nicht vermögen darf. Seine Haltung ist die einer ausgesetzten, im Versetzt-werden zurückhaltenden Hingabe: ihm – dem Dichter – »bleibt nichts als sich ganz hinzugeben der Beziehung«. Dieses nichts ist ein sprachlich-textueller, linkischer Widerstand, der ihn vor der Radikalität einer Nüchternheit, die nichts als die Gewalt reiner Be38| Ebd., S. 125 u. 124. 39| »So ist der Dichter nicht mehr als Gestalt gesehen, sondern allein noch als Prinzip der Gestalt, Begrenzendes, auch seinen eigenen Körper noch Tragendes. Er bringt seine Hände – und die Himmlischen. Die eindringliche Zäsur dieser Stelle ergibt den Abstand, den der Dichter vor aller Gestalt und der Welt haben soll, als ihre Einheit.« Ebd., S. 125. 40| Nägele: Mèchanè, S. 139. 41| Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. »Frankfurter Ausgabe«. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. D.E. Sattler. 20 Bde. Basel, Frankfurt/Main 1976–2008, Bd. 16, S. 421 (»Anmerkungen zur Antigonä«). 42| »Die Umwandlung der Zweiheit von Tod und Dichter in die Einheit einer toten dichterischen Welt, ›mit Gefahr gesättigt‹, ist die Beziehung, in der das Gedichtete der beiden Gedichte steht.« Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 124.
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stimmbarkeit ist, bewahrt; und der dadurch auch die Nüchternheit des eigenen Lebens ›sichert‹. Diese Blödigkeit, die immer noch aussteht, bildet die von Benjamin selber am Ende seines Aufsatzes geschlagene Brücke zu Hölderlins spätester Dichtung, auf die im weiteren Teil dieses Beitrags eingegangen wird, nicht aber bevor ein kurzer Umweg über Szondis und Adornos Hölderlin-Interpretationen gemacht wird: Aber gäbe es ein Wort, das Verhältnis jenes inneren Lebens, aus dem das letzte Gedicht [Blödigkeit] entsprang, zum Mythos zu erfassen, so wäre es jenes Hölderlinsche – einer noch späteren Zeit als dies Gedicht angehörig – »Die Sagen, die der Erde sich entfernen, / [Vom Geiste, der gewesen ist und wiederkehret, ] / Sie kehren zu der Menschheit sich, [und vieles lernen / Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.]«43
II. Sowohl Adorno als Szondi setzen die von Benjamin inaugurierte Kritik einer die ästhetische Verfassung des Werkes – die eigentlich »dichterische Aufgabe«44 – ausblendenden heilsgeschichtlichen oder (was in diesem Fall auf das gleiche hinausläuft) nationalistisch-mythisierenden Deutung in ihren Hölderlin-Lektüren fort, fügen ihr aber auch eine in Benjamins frühem Aufsatz noch wenig reflektierte, in die Ästhetische »versenkte« und sie dynamisierende (und auch »sprengende«) andere geschichtsphilosophische Dimension hinzu. »Spricht Hölderlin von den Bedingungen und Möglichkeiten seines Schaffens, so lassen ihn die Interpreten von seinem Auftrag reden.«45 Szondis lapidare Zurückweisung zeitgenössischer Deutungen, etwa von Adolf Beck, Beda Allemann oder Friedrich Beißner (um nur diese zu nennen), in denen er die ›Methode‹ der George-Schule fortleben sah, ist das Fazit einer ausführlichen und überzeugenden Auseinandersetzung mit den genannten Hölderlin-Forschern über die Bedeutung und genauer noch: über den diskursiven Status des Böhlendorff-Briefes.46 Szondis grundlegende Textlektüre deckt nicht nur die komplizierte Logik und Rhetorik von Hölderlins knapper und dichter Analyse des chiastischen und paradoxen Verhältnisses zwischen griechischer und moderner Ästhetik auf, sondern zeigt vor allem, dass es sich – und er bedient sich absichtlich einer Formulierung von Benjamin – um einen »Brief aus der Werkstatt« handelt, der insgesamt im Zeichen des Geschicks – technè –
43| Ebd., S. 126. Wir vervollständigen die von Benjamin nur fragmentarisch zitier ten Zeilen. Es handelt sich um das Gedicht »Der Herbst« aus der Reihe der letzten Gedichte. 44| Ebd., S. 105. 45| Peter Szondi: »Hölderlin-Studien«, in: Ders.: Schriften I. Frankfurt/Main 1978, S. 263–412, hier S. 352. 46| Es handelt sich um den Brief an Casimir Böhlendorff vom 4. Dezember 1801. Siehe Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 492f.
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steht.47 Nicht um die Bestimmung des Deutschen geht es, sondern um die Arbeit an einer Schreibweise, die sich als genuin moderne mit der antiken, Griechischen auseinandersetzt, sich in sie bzw. in ihren inneren Antagonismus von pathetischer ›eigener‹ Natur und nüchterner (ihrer Natur) ›fremder Ausdrucksweise versenkt und sich von ihr distanziert, da es »bei uns umgekehrt [ist]« wie Hölderlin schreibt: Nüchternheit scheint uns angeboren zu sein, Pathos die fremde Ausdrucksform, mit der wir uns in dieser Nüchternheit bewähren, freilich nicht um sie zu verleugnen, sondern gerade um ihr gerecht zu werden, d.h. unserer eigenen Zeit ästhetisch gerecht zu werden. »[D]as eigene muß so gut gelernt sein, wie das Fremde. […] [D]er freie Gebrauch des Eigenen [ist] das schwerste«.48 Im gleichen Sinne ist Adornos Abrechnung mit Heideggers »Erläuterungen« am Anfang des Parataxis-Aufsatzes zu verstehen: »Er verherrlicht den Dichter, überästhetisch, als Stifter, ohne das Agens der Form konkret zu reflektieren«.49 Demgegenüber werden in Adornos ParataxisAufsatz sowie in Szondis Hölderlin-Studien auf komplementäre Weise rhetorisch-poetologische, textorientierte Lesestrategien entfaltet, mittels deren die sich radikalisierende und sich verallgemeinernde Tendenz zur Reihung oder ›Episierung‹50 bis in die semantische und syntaktische Mikrostrukturen verfolgen und gerade dort, in dieser textuellen Tiefe, die (selbst-)kritische Absage an das idealistische selbstreflexive Subjekt sowie an dessen Geschichtsverleugnung – oder man müsste vielleicht genauer noch sagen: an dessen Geschichtlichkeit verleugnende Geschichtskonzeption – nachvollziehen lassen; denn »die Problematik des Subjekts ist 47| Szondi: Hölderlin-Studien, S. 366. 48| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 492. 49| Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«, in: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/Main 1981, S. 447–491, hier S. 452. 50| In Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie hat Szondi akribisch nachgezeichnet, wie Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne, in der ein sehr dynamisches gattungstheoretisches System entworfen wird, von innen her gesprengt wird und die sowohl poetologisch als gattungshistorisch begründete Logik, die das epische Gedicht zum tragischen, das tragische zum – modernen – lyrischen und dieses wieder (aber auf Grund eines qualitativen Sprungs) zum epischen, episierten Gedicht entwickeln lässt, von einer verallgemeinerten Tendenz zur Episierung ersetzt wird, die Benjamins These über die Tendenz zur Nüchternheit weiter textuell begründet. Szondi selber begründet seine Interpretation damit, dass er in Hölderlins späteren Über legungen zu den im Böhlendorffbrief entwickelten Modell über die antagonistische Logik der Kunst und der »umgekehrten« Tendenz der modernen Kunst eine »Korrektur« der Böhlendorff-Thesen sieht, d.h. eine Radikalisierung der These über den notwendigen (aber schweren) Lernprozess des Eigenen. Die Griechen wären laut Hölderlin (und Szondi belegt diese Behauptung mit Zitaten) an ihrer allzu großen Nüchternheit (als Verleugnung des Eigenen) zu Grunde gegangen. Die moderne hesperische Kunst solle somit im ästhetischen Pathos das Eigene – die Nüchternheit – nicht aus dem Auge verlieren. Szondi: HölderlinStudien, S. 404f.
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[…] für Szondi gleichzeitig eine Problematik der Geschichtlichkeit von Texten und sprechenden Subjekten«,51 Geschichtlichkeit somit eine Dimension, die sich nicht von dem erst durch die diskursiven Schreib- und Leseprozesse zu Tage tretenden unbestimmten Beziehungskomplex trennen lässt, auf Grund dessen Benjamin die Verhältnisse von Dichtung und Leben neu zu bestimmen versuchte. Was in Szondis anderem exemplarischen Aufsatz »Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils«52 als Selbstverzicht des sich selbst als »falsche[r] Priester« apostrophierenden Dichters und als Verbannung des Persönlichen oder – genauer – des unmittelbaren Erlebnisses aus dem hymnischen Raum53 bezeichnet und zur Vorbedingung jenes anderen Sprechens der späten Gesänge erklärt wird, das »unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit«,54 erscheint in Adornos Lektüre als die (auf Benjamin im Wortlaut zurückgreifende) »metaphysisch reine Passivität« eines sich selbst entmachtenden Subjekts, das sich im parataktischen Widerstand gegen die dialektische Synthesis konstituiert bzw. aufrecht erhält, um negativer locus einer von der begrifflichen Logik vereinnahmten bzw. ermächtigten, nun aber wieder freigesetzten und »empfangenen Natur« und »reiner Gegenwart« zu werden.55 Adornos Kommentar verfolgt – mit Benjamin zu sprechen – in Hölderlins später Schreibweise den Versuch, das Gedichtete als Aufgabe des Lebens wieder frei zu schreiben, indem es deren idealistische Auflösung wieder auflockert, rückgängig macht. Die schon in Benjamins Aufsatz sich abzeichnende, dort aber auch innehaltende Tendenz zu einer rettenden Konjunktion von Dichter und Gesang oder – was nicht ganz dasselbe ist, aber eine vergleichbare Strategie bezeichnet – von Blödigkeit und Nüchternheit wird in Adornos Interpretation kontinuiert, auch wenn sie selbstverständlich im Modus des Negativen verharrt. Aber was auf diese Weise der Heidegger’schen Affirmation entgegengesetzt wird – der Affirmation des Seins in und als Sprache – dürfte auf die gleiche ›Rettung‹ hinauslaufen: The incapacity of the subject, the Hölderlinian Blödigkeit subjected to the violence of social synthesis, capacitates nevertheless. »In contrast [to Heidegger]«, Adorno postulates, »Hölderlin delineates for the first time what culture would be: received nature.« 56 51| Rainer Nägele: »Uneßbarer Schrift gleich«. Text, Geschichte und Subjek tivität in Hölderlins Dichtung. Stuttgart 1985, S. 12. 52| Szondi: Hölderlin-Studien, S. 289–314. 53| »Es ist dieses Moment persönlichen Leids, das aus dem hymnischen Raum, der den Dichter nur als Dienenden kennt, verbannt ist.« Ebd., S. 313. 54| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 504 (Brief an Friedrich Wilmans, 08. Dez. 1803). 55| Adorno: Parataxis, S. 483. 56| Anselm Haverkamp: »Art awaits its explanation. Recent Interest in Ador no«, in: Phrasis. Studies in Language and Literature (2008), H. 1, S. 9–29, hier S. 19.
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Wenn aber Adorno behauptet, Hölderlins »intentionslose[r] Sprache […] inauguriert jenen Prozeß, der in die sinnleeren Protokollsätze Becketts mündet«,57 so scheint er dadurch jene spätesten Gedichte zugleich zu implizieren und zu überspringen, in denen – anders als in Becketts Werk (aber der Blödigkeit Beckett’scher Helden nicht unähnlich) – die Differenz von Blödigkeit und Nüchternheit als Endspiel weitergespielt wird.
III. In einigen von Hölderlins spätesten Gedichten – ›Texte‹ wäre eine vorsichtigere, neutrale Gattungsbezeichnung – erreicht die Konjugation moderner Nüchternheit, in der Form angeblich prosaferner, obsoleter Versifikation, einen Grad der reflektierten Enttäuschung, der seit je die Leser irritiert hat. Die Gewalt parataktischer Prosa scheint zurückgedrängt, hat sich aber auf einer anderen qualitativen Ebene verlagert. Wenn Jochen Söring meint, daß Hölderlins späteste Gedichte mit einer Verfrühung, mit der nur Novalis noch gleichzeitig ist, zumindest im Prinzip einen Prozeß einleiten, der sich – wie Mallarmé in seinen Divagiations fordert – auf »das reine Werk« zubewegt, das – paradoxerweise – »das sprechende Hinwegtreten des Dichters [impliziert)«,58
so basiert diese Lektüre auf einem Konzept modernistischer Poesie, das sich schon bei Benjamin – gegen die Deutung der George-Schule – ankündigte. Die von diesem Begriff modernistischer Poesie vertretene Idee des reinen Gedichts, in dessen Gefüge das Ich sich zurückziehe oder auflöse (um nach dem vielstrapazierten Satz von Rimbaud ein ›anderes‹ zu werden), setzt die späteste Dichtung eine Haltung entgegen, die ausdrücklicher auf der Differenz von Blödigkeit und Nüchternheit verharrt. Ob es sich um eine außerordentliche Aufwertung und sogar Überforderung dieser Texte handelt? Allerdings geht es um das Berücksichtigen eines nicht abgebrochenen schreibenden Verlangens nach der Form eines »eigenen Lebens«, nach dem Ideal einer Blödigkeit als selbstgewählter Selbstentmachtung des Subjekts – und das in Texten, die in einer Phase von Hölderlins Leben entstanden sind, die wie auch immer als außerordentlich bezeichnet werden soll. Auf dieser spätesten Tendenz ist zu insistieren, gegen die Geste einer bestimmten Hölderlin-Kritik, die gerne souverän den Strich zwischen Spätwerk und spätester Dichtung zieht und die von Bedeutungsexzess geradezu überquellenden Rhizome des Homburger Foliohefts verständlicherweise der unheimlichen Äußerlichkeit 57| Adorno: Parataxis, S. 478f. 58| Jürgen Söring: »Die Apriorität des Individuellen über das Ganze. Von der Schwierigkeit, ein Prinzip der Lyrik zu finden«, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 24 (1980), S. 205–246, hier S. 242.
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der Turmdichtung mit ihrem manchmal skurrilen Sprachgestus vorzieht. »Aber« – noch einmal Hölderlins Brief an Böhlendorff zitierend – »das Eigene muss so gut gelernt seyn wie das Fremde.«59 Ein erster Versuch: Wenn ich auf die Wiese komme, Wenn ich auf dem Felde jezt, Bin ich noch der Zahme, Fromme Wie von Dornen unverlezt. Mein Gewand in Winden wehet, Wie der Geist mir lustig fragt, Worinn Inneres bestehet, Bis Auflösung diesem tagt.60
Das mit dem Titel Das fröhliche Leben überschriebene Gedicht, das mutmaßlich in der Zeit um 1810 entstanden ist, liest sich fast wie das Programm einer spätesten ›Wende‹. Das den himmlischen Elementen ausgesetzte, ehemalige hymnische Dichter-Ich der gleichfalls paradigmatischen (und paradigmatisch gescheiterten) Feiertagshymne61 hat einem anderen, bescheideneren Ich Platz gemacht, das immerhin den eigenen Auftritt dreimal betont, als hätte es gerade eine unsägliche, nächtliche Katastrophe überstanden und müsste es sich deshalb der eigenen Existenz – der Tatsache, dass es »noch der Zahme, Fromme« sei – ausdrücklich versichern. Die abgeklärte Nüchternheit dieser neuen Dichtung ist dem katastrophalen empedokleisch-tantalisch-ikarischen Enthusiasmus, der traumatisierenden, nicht selten tödlichen Sehnsucht nach dem Himmel, weit entfernt. »Dedalus’ Geist und des Walds ist deiner« (An Zim59| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 492. 60| Ebd., Bd. 9, S. 77, V. 1–8. 61| »Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, / Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk’ ins Lied gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen. / Denn sind nur reinen Herzens, / Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände // Dann tödtet nicht, der reine versengt es nicht.« (Ebd., Bd. 8, S. 558). Szondis schon erwähnter Auf satz »Der andere Pfeil« gilt als exemplarische, textgenetisch begründete Interpretation dieses frühen Gesangs, dessen Scheitern (er bricht nach der achten Strophe ab) sorgfältig rekonstruiert und kommentiert wird. Die Hymne scheitert an dem Versuch, den Standort des lyrischen Subjekts und den Prozess des hymnischen Dichtens selber ins thematische Zentrum des Gedichtes zu rücken. Dort eröffnet sich die Kluft zwischen den Bestimmungen des Dichters bzw. des Gedichtes (oder »Gesangs«) im Gedicht selber – besonders der Analogie zwischen der Geburt des Gedichtes als einer Frucht von Himmel, Erde und Geschichte und dem Mythos der dionysischen Geburt – und der Selbstpositionierung des eigenen Sprechens, das sich mit diesen Bestimmungen identifizieren will, dafür aber auf das eigene Selbst zu ver zichten habe, um selbstloser Preis eines im zeitlichen Wandel sich ar tikulierenden Heiligen zu werden. Siehe auch Nägele: Uneßbarer Schrift gleich, S. 182ff.
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mern) – das gilt nicht nur dem Gastgeber Zimmer, sondern auch dem Dichter selber. Die »antititanische Umwendung zur Bescheidenheit« (Sattler),62 welche die neue Tendenz dieser Dichtung zu sein scheint, hat einen Preis, ein »unabschätzbares Maß an Verzicht«63 liegt der scheinbaren Naivität der späten Aussichten zugrunde. Die Gefahr der hymnischen Position im Offenen »unter Gottes Gewittern« ist einer anderen Bloßstellung (exposure) gewichen: verlassen steht das Ich auf der windigen Wiese, wo alles flattert und verweht, nicht zuletzt das noch im feierlich-priesterlichen »Gewande« gehüllte Innere, das als Rätsel aufgegeben ist und von einer Geist-Travestie (»wie der Geist mir lustig fragt«) visitiert wird, bis »diesem« – dem pneumatischen Geist, dem Inneren selbst? – die »Auflösung« tagt. Was ›jetzt aber tagt‹, entspricht wohl nicht dem »Heilige[n]«, das der Dichter der Feiertagshymne in Worte zu fassen erhoffte. »Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, / Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.«64 Der Einfall der Inspiration verfängt sich hier in der rhetorisch-tropologischen Ambivalenz einer Auflösung, die göttliche Inspiration und menschliche Subjektivität zugleich zu treffen scheint. Er wird zur klapprigen ›linkischen‹ Metapher eines endlichen Wissens, das sich dem Begriff freilich versagt, allerdings kein Wissen eines Selbst ist: ›einem Anderen gebührt die Mitte dieser Welt‹. Deren Unberührbarkeit wird auch hier noch von der Persona des Dichters ›bedeutet‹, er oder seine Maske – das priesterliche Gewand – ›über-lebt‹ sie (statt sie zu ›leben‹). Spätestens hier scheint Hölderlin die schon im gescheiterten Gesang Wie wenn am Feiertage eingesetzte profanierende Tendenz, der den Dichter nach der Selbstdenunziation als »falscher Priester« zu folgen hätte, auf ihr Ziel hinzusteuern. Nicht nur ist der Dichter »weltlich« geworden, wie es in einem Entwurf des Gesangs Der Einzige lautet,65 sondern auch »die Frucht des Gewitters«, Bacchus’ Geburt, mit der in Wie wenn am Feiertage noch »der Gesang« gleichgesetzt wurde, ist in einem kaum einzuschätzenden Maße »alltäglicher«, »gemeiner«, ja zum leeren Gemeinplatz des Einfalls geworden.66 Die übrigen Strophen, die folgenden Etappen des Spaziergangs, stellen kaum etwas anderes dar als den wiederholten Aufschub einer Pointe, 62| D.E. Sattler im Vorwort zu Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Kritische Textausgabe (KTA). Hg. v. D.E. Sattler. Bd. 2–6, 9–15. Darmstadt 1979–1988, Bd. 9, S. 7. 63| »Nur ein zuäußerst genötigter Mensch konnte das Bild dieses wohnlichen, wenig gefährlichen Daseins entwerfen, teuer genug war die Einfalt erkauft. Der Preis eines Lebens reichte kaum für sie hin. Nicht träge Genügsamkeit, sondern ein unabschätzbares Maß an Verzicht ist der Untergrund dieser Idyllik.« Eugen Gottlob Winkler: »Der späte Hölderlin«, in: Ders.: Aus den Schriften eines Frühvollendeten. Ausgewählt und eingeleitet von Walter Jens. Frankfurt/Main 1960, S. 134–152. 64| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 557. 65| Ebd., S. 651. 66| Ebd., S. 541: »Gemeiner muß alltäglicher muß / die Frucht erst werden, dann wird / sie den Sterblichen eigen.« (»Die Sprache – «)
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die unter Vorbehalt als ›witzig‹ bezeichnet werden könnte – bis Auflösung diesem tagt. In jedem der ›Stationen‹ weht der Wind ziellos umher und geht die von den quasi-emblematischen Settings erweckte Erwartung leer aus. Es geschieht nichts. Dieser Aufschub artikuliert die Gnadenfrist, welche die auf den ewigen Schlaf anspielenden, sanften Bilder »süßer Ruh« (Der Spaziergang)67 dem Tod abgekauft haben. Hinterfragen lässt sich die Heiterkeit nicht: Denn die Ruh an stillen Tagen Dünkt entschieden treflich mir, Dieses mußt du gar nicht fragen, Wenn ich soll ant wor ten dir. (Das fröhliche Leben)68
Die abgründige Ironie, mit der das Wissen um die »Auflösung« listig überspielt und die tiefste Enttäuschung verschwiegen wird, wird ergänzt von einer »Betrachtung«, die »des Thurmes Glokenschlag« folgt – einem bewährten memento mori; die Definition dieser Betrachtung thematisiert das verborgene poetologische Gesetz des Gedichts: Und Betrachtung giebt dem Herzen Frieden, wie das Bild auch ist, Und Beruhigung den Schmer zen, Welche reimt Verstand und List. (V. 29–32)
Die fast programmatisch wirkenden Zeilen artikulieren eine kritische Abweisung des Genialitätsprädikats, so wie es bei Kant und Schiller definiert wird: »schaamhaft« sei das Naive, »aber nicht decent, verständig, aber nicht listig«, so Schiller69 da nur die Kunst listig sein dürfe, wie Kant vor ihm beteuert hatte.70 Die beruhigende und »Frieden« vermittelnde Betrachtung – »wie das Bild auch ist« – wurzelt in einer Poetik der gewollten und wissentlichen Verschweigung, die auch sonst die ambivalente Naivität der spätesten Gedichte begründet. Eine diese Ambivalenz berücksichtigende Lektüre wird in den Texten nichts weniger als eine Umschrift des früheren dichterischen Programms sowie des darin enthaltenen (tragischen) Selbstverständnisses entdecken: eine enttäuschte Kontrafaktur, die jedoch ihrer Enttäuschung eine letzte poetologische Umsetzung – einen qualitativen Tonwechsel – abzugewinnen und die Verluste, meistens en sourdine, in den scheinbar friedlichen und einfältigen Landschaftsbildern 67| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 76. 68| Ebd., S. 77. 69| Friedrich Schiller: »Über naive und sentimentalische Dichtung«, in: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Hg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese. Bd. 20. Weimar 1962, S. 413–503, hier S. 424f. 70| Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hamburg 1974, S. 217 (A. 53).
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›durchzuarbeiten‹ vermag. Reflektiert in dem blöden Blick des Ichs, das nicht deuten will, erscheint eine Welt die, dem Zwang der Transfiguration oder der bedeutungsvollen Vermittlung entzogen, auch auf eine wirklich profane, endliche verweisen könnte, wäre diese hier aufgrund des selben blöden Blicks nicht ebenso verstellt. Was hier mitten unter die Dornen gefallen sein dürfte, die biblische Drohung außerhalb des fruchtbaren heilsgeschichtlichen Feldes zu fallen, führt doch ein eigenes Leben, »wie von Dornen unverletzt«, ein rhetorisch verschrobenes, linkisches Bekenntnis, dass die Wunden hier wohl nicht ohne Narben heilen, die hier rhetorisch zutage geforderte, als rhetorische Evidenz geschaffene und durchschaute Welt nicht diese von Hegels begriffener Geschichte ist. Diese Lektüre geht mit der Hypothese einher, dass das Schicksal der Hölderlin’schen Gattungspoetik sich hier vielleicht noch getreuer erfüllt als es Szondi und Adorno ahnen konnten; so wie das epische Gedicht sich vollende im tragischen, so vollende sich das tragische im lyrischen und das lyrische Gedicht tendiere in den späten Gesängen und Gesangsentwürfen zum epischen, das sich – nach Szondis scharfer Analyse in Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie – durch einen qualitativen Sprung verallgemeinere. Aber die Schreib- und Lese-Akte, die Hölderlins späteste Texte wie etwa Das fröhliche Leben konstituieren, öffnen einen szenischen Raum, in dem der qualitative Sprung zwischen einer zu Ende konjugierten Lyrik und einer noch ausstehenden Prosa von einer Sprechinstanz suspendiert und inszeniert wird, und zwar von einer Instanz die als späteste Verkörperung der Blödigkeit erscheint; sie erprobt eine Passivität, die sich möglicherweise – mit Agamben – als Beziehung – Vermögen? – zum eigenen Unvermögen begreifen lässt71 und den Weg in die radikale Nüchternheit noch einmal als Komödie durchspielt, spaltet und aufschiebt. Es handelt sich um einen profanierenden Gestus, der sich der Parodie bedient, da der Akt der Profanierung unvermeidlich einen Rest des Sakralen bewahrt, wenn sie nicht in die Falle der Säkularisierung geraten will. Das Gemeiner- bzw. Alltäglicher-Werden der göttlichen Frucht, die den Sterblichen eigen werden soll, sowie die Verweltlichung der Dichter-Propheten bleiben zweifellos der Logik der kenosis verhaftet; aber die Repression, welche die säkularisierende Übertragung darstellt, indem sie die Transzendenz Gottes zum Paradigma weltlicher Souveränität umschreibt, wird durch die profanierende Parodie immerhin neutralisiert. Sie arbeitet, wie Das Fröhliche Leben, auf eine Emanzipation der Welt hin, sowie es auch das Ich von dem Zwang der Setzung – der aktiven Subjektkonstitution, der Selbstschöpfung und der aus ihr folgenden Setzung der Welt – zu befreien versucht. Die Lektüre mancher spätester Gedichte verführt also zu der These, dass man Benjamin aufs Wort nehmen und Blödigkeit als eine immer noch aus- und bevorstehende, sich zurückhaltende und aufsparende 71| Giorgio Agamben: »On Potentiality«, in: Ders.: Potentialities. Collected Essays in Philosophy. Stanford 1999, S. 177–184, hier S. 182.
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Hingabe an die unendliche Beziehung verstehen soll. Das alles hat außer rhetorisch-poetologischen Konsequenzen auch noch einmal theologisch-politische Implikationen, die letzten Endes mit der Frage nach der Beziehung zwischen Literatur und (historischer) Erfahrung, literarisch vermittelter Erfahrung von Geschichtlichkeit, präziser noch: Erfahrung von profaner Modernität zu tun haben. Die Frage, ob dieses Spiel aporetisch ist oder aber in seinem Formalismus die Form eines anderen Lebens präfiguriert, lässt sich so leicht nicht entscheiden. Ein letzter Versuch. III Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget So ist als wenn ein Tag sich Tagen unterscheidet Dass ausgezeichnet sich der Mensch zum Reste neiget Von der Natur getrennt und unbeneidet. Als wie allein ist er im anderen weiten Leben Wo rings der Frühling grünt der Sommer freundlich weilet Bis dass das Jahr im Herbst hinunter eilet Und immerdar die Wolken uns umschweben. Den 28ten Juli 1842
Mit Unterthänigkeit Scardanelli72
Dieses Gedicht aus der Reihe der letzten Gedichte, der sogenannten Turm- oder Scardanelli-Gedichte, thematisiert und artikuliert auch in seiner geschickt-ungeschickten linguistisch-phonetischen Struktur die doppelte, vielleicht mehrfache Bewegung des Endes, der radikalen Nüchternheit, die wir bis hier in Hölderlins Spätwerk verfolgt haben: wenigstens die Bewegung einer Veräußerlichung und Verausgabung in Raum und Zeit, die das Ende des nunmehr ausgelebten Lebens auf den ersten Blick quasi mimetisch mit dem natürlichen Zyklus des erscheinenden und sich neigenden Tages gleichsetzt – »als wie ein Tag sich Tagen unterscheidet« – um in der letzten Zeile der ersten Strophe dieses allegorische Analogon radikal durchzustreichen. Von der Natur getrennt und unbeneidet ist dieses sich auslebende Leben des Menschen, der sich freilich, in dem Augenblick des Sich-Überlebens, der das Gedicht noch gewährt, »bevor immerdar die Wolken uns umschweben«, ausgezeichnet zum sich zeigenden Rest neigt. Man könnte an den Toten denken, der auf eine unheimliche Weise mit sich selbst, seinem Rest zusammenfällt, ausgezeichnet sogar, weil zu einem bloßen, steifen Zeichen geworden. Dass er nun »als wie allein im anderen weiten Leben« sei, wiederholt jedoch die Selbstdarstellung des lebenden Toten, die sich schon sehr früh in Hölderlins Werk abzeichnet und als Grundfigur der spätesten Dich72| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 183 (Hervorh. d. Verf.).
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tung betrachtet werden darf. Er, der Mensch, überlebt sich selbst noch in einem Sprachspiel (aus sich lebt, ausgezeichnet, sein Rest sich zeiget, zum Reste neiget), das weder lyrisch noch prosaisch ist, sondern jenseits (oder diesseits?) solcher Gattungsbezeichnungen und deren tendenzieller textgenetischer Logik (Szondi) und mittels der durchaus linkischen (a-)mèchanè der Signifikanten einen Raum zwischen gramma und sèmè eröffnet, in dem die Frage was es mit der Gattung »Mensch« final auf sich hat, gestellt und suspendiert wird. Der Sprach-Rest verweigert sich sowohl einem transzendenten als einem immanenten Sinn und insistiert in seiner eigenen unmittelbaren Materialität. So wie in der berühmten Zeile aus einer der Fassungen von Mnemosyne »ein Zeichen sind wird deutungslos, schmerzlos, und haben fast die Sprache in der Fremde verloren«, das »fast« den Rest oder die Spalte einer sprachlichen Selbstreflexion markiert, die das schon Verlorene noch zurückhalten scheint, so lässt auch hier das ›ausgezeichnete‹ Neigen noch eine Differenz zum sich ›zeigenden‹ Rest vermuten, die eine Haltung innerhalb der radikalen Nüchternheit und eine Beziehung zum Rest ermöglicht, ein Dasein das nunmehr – so das Schlüsselwort des Gedichtes – »unbeneidet« ist. Ist es nur die Indifferenz der Natur, innerhalb deren zyklischen Prozesses – der Aufeinanderfolge der Tagen und Jahreszeiten, der »eiskalten Geschichte des Tags« – der Mensch einen einsamen Ort hat oder (wie in Blödigkeit) »ein einsam Wild« ist, bis auch ihn (»uns«) der Winter ereilt; oder lichtet hier noch etwas anders auf, das den Unbeneideten zwar sich selbst überlässt und dem eigenen sterblichen Rest preisgibt, in dieser Preisgabe aber auch von dem Pathos einer zu erkämpfenden »Unsterblichkeit im Neide dieses Lebens« befreit – eine Formulierung aus dem apokryphen Fragment In lieblicher Bläue,73 in dem der göttliche Neid aus der altgriechischen Theologie sich mit dem des alttestamentarischen eifersüchtigen Gottes verquickt. In Idee der Prosa74 und noch einmal in einer zum Teil fast wörtlichen Wiederholung in Die kommende Gemeinschaft75 kommentiert Agamben unter dem Titel »Idee des Politischen« die angeblich vom frühchristlichen Theologen Origines entwickelte theologische Idee einer Strafe Gottes, die jeden vorstellbaren Grad des Zorns transzendiere, da sie in einer radikalen Abwendung bestünde, genauer: er ziehe seine Eifersucht von uns ab; in einem zweiten Schritt wird sie aber als Strafe relativiert und auf die Situation ungetaufter Kinder im Limbus bezogen, um schließlich zu einer paradoxen Erlösung von der eschatologischen Logik umgedeutet zu werden, zum irdischen Glück des So-seins der Dinge. Zurückgelassen von Gott, den sie selber zu vergessen scheinen, sind die Bewohner dieses Daseinsbereichs angekommen im Alltag nach dem letzten Urteil. Nach 73| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 1011f., hier S. 1012. 74| Giorgio Agamben: Idea of Prose. Albany 1995, S. 77f. 75| Giorgio Agamben: The Coming Community. Minneapolis, London 2005, S. 4–6 (»From Limbo«), S. 38f. (»Irreparable«).
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Agamben wären sie zu ihrer nicht-mehr-änderbaren irreparablen Kontingenz, ihrer endlichen Diesseitigkeit fähig, sie neigen sich – so möchte man anschließend behaupten – ausgezeichnet zu ihrem Rest in einem zeitlichen Rhythmus ohne eschaton: als wie ein Tag sich Tagen unterscheidet. So stehen sie vielleicht in einer radikalen Diesseitigkeit, die erhaben jenseits aller Erhebung ist: auf dem Boden eines (nicht des) anderen, ins hiesige gewendeten gelobten Landes, diesseits von Ekstase und Enttäuschung. Damit wäre Benjamins Kritik einer immanent-teleologischen Beziehung zwischen Geschichte, Theologie und Politik und somit auch die Idee des Politischen als Idee einer Politik des wirklich Profanen angesprochen. Auf Hölderlins Spätwerk übertragen, würde das heißen, dass hier Ausblick auf eine Beziehungsform gegeben wird, in der »der freie Gebrauch des Eigenen« möglich sein könnte. Das Subjekt dieser Politik wäre das Subjekt der Blödigkeit, deren Passivität aber nicht zu verstehen als jenes sanfte Hinweg-Treten oder Versinken des Subjektiven ins Objektive einer unpersönlichen, aber »kollektivistisch-interdependente[n]«,76 friedlichen posthistoire oder einer befreienden Auflösung des Subjekt- und Objektbezugs. Die Folie singulärer Traumata ist noch immer da, nur von ihr hebt sich das in sich heilige vergängliche Leben in der Sprache ab; erst so, in einer perpetuierten Absage an jede Art von Instrumentalisierung, dürfte es hier, in der spätesten Dichtung, eine spätmoderne Form gefunden haben, durch die es sich nach den traumatischen Aus- und Eingrenzungen durch die kirchlichen, sozial-politischen, literarischen, akademischen, klinischen und sämtlichen gesellschaftlichen Institutionen zu bewähren versucht und – so der Schreinermeister Zimmer über seinen Gast – »sich nix am Zeuge flicken lässt«. Von diesem Hölderlin, der sich selbst klein machte, dachte Robert Walser groß. Spätestens hier sollte die Suche nach dem geringfügigen Rest von Literarität, von Literalität als Limit der Literatur und der Sprache überhaupt, in der Hölderlins radikale Nüchternheit ihren profanen Fluchtpunkt endgültig anvisiert, abgebrochen bzw. unterbrochen werden. Nüchternheit ist »erlaubt, geboten«, wo das Unvermögen sich noch gerade reflektiert oder bezeichnet, in oft ›linkischen‹ Wortspielen freilich, über die die sensibleren Leser parataktischer Späthymnik die Nase rümpfen mögen. Das Urteil drängt sich auf, dass jenes erhabene Konzept der Gesänge, auch der späten, in dem Blödigkeit und Nüchternheit eine bis heute gültige literarische Form für die moderne Erfahrung von communio als inoperative Gemeinschaft (Agamben) oder communauté désœuvrée (Nancy) gefunden haben mögen, in der sogenannten spätesten Dichtung in eine leere, sich selbst entleerende Selbstparodie umschlägt, oder – in den allerletzten Gedichten – zu mechanisch-seriellem Machwerk pervertiert wird, das die von Benjamin zitierte These Novalis’, der wahre Autor sei auch
76| Winfried Kudszus: »Versuch einer Heilung. Hölderlins späte Lyrik«, in: Inge Riedel (Hg.): Hölderlin ohne Mythos. Göttingen 1973, S. 18–33, hier S. 27.
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»Fabrikant«77 ungewollt beim Wort nimmt. Dennoch lässt auch hier der Wechsel van mèchanè und amèchanè nicht nach und profiliert sich eine, wenn auch geringfügige Subjektivität, die als schreibende Instanz insistiert und um die letztendlich ›fatale‹ Wahrheit des Eigenen weiß, auch wenn sich dieses Wissen in kein bleibendes Erkennen überführen lässt. Das eigene, geistige Leben, das trotz oder dank seiner diesseitigen Banalität in sich heilig genannt wird (d.h. wirklich profan), überlebt nur in diesem Schreibakt und in dem ihm entsprechenden Lese-Akt. Es überlebt als das Gedichtete – Aufgabe, innere Form – des Gedichts und (wie Benjamin am Anfang seines Aufsatzes betont) als immer noch ausstehendes »Erzeugnis und Gegenstand des Kommentars«. Was den Frühromantikern »ein gelobtes Land« bleiben müsste und in Hölderlins Werk als deren »letztes Wort« ausgesprochen oder gerade nicht aus- sondern höchstens angesprochen wäre (denn es »gebührt« ihm nicht), dürfte erst recht in Hölderlins spätester Dichtung einer sich in die Fläche des Gemeinplatzes quasi-idyllischer Normalität erstreckenden, allenfalls in schalen Wortwitzen reflektierten Erfahrung moderner Existenz als einer zutiefst endlichen, vergänglichen entsprechen. Ihre Unverfügbarkeit für heilsgeschichtliche oder sonstige instrumentalisierende Transfigurationen macht sie noch nicht verfügbar als »reine Gegenwart« (wie Adorno schon wusste), denn »der freie Gebrauch des Eigenen ist das Schwerste«, die ästhetische Aufgabe, dem eigenen Unvermögen gerecht zu werden, »to be capable of own’s own impotentiality«,78 eine nicht-abschließbare. Die niemals ins Kognitive überführbare Performanz der Schrift bürgt für einen sprachlichen Widerstand gegen die Idee eines kenotischen Überwinterns des Vermögens zur paradoxen heilsgeschichtlichen oder geschichtsphilosophischen Selbstrettung (»Wo aber Gefahr ist / wächst das Rettende auch«). Wenn hier überhaupt etwas ›hiberniert‹, so allenfalls ein nicht zu vernichtender prosaischer Kern rhetorischer (a-)mèchanè, der das Vermögen zum Unvermögen, Blödigkeit, zugleich endlos simuliert und für immer vertagt oder auf »hold« setzt: »bis Auflösung diesem tagt«. In der Re-Iteration der vertagten Lösung (›das Profane sei mein Wort‹) ereignet sich aber profane Geschichte, die Prosa des Alltags. Die Situation von dem, der hier noch spricht »als wie allein im anderen weiten Leben«, wäre vergleichbar mit jener, die in Kafkas Tagebucheintrag vom 28. Januar 1922 im Bild der »umgekehrten Wüstenwanderung« festgehalten wird. Er, der »vierzig Jahre aus Kanaan hinausgewandert« sei, behauptet zwar »Bürger in dieser anderen Welt« zu sein – und diese ist für Kafka keine andere als die des rücksichtslosen Schreibens –, sei aber hier so wenig wie dort angekommen, ausharrend zwischen »Verbannung dort« und »Abweisung hier«.79 In diesem Zwischen steht die »Dignität ei77| Benjamin: Die Idee der Kunstkritik, S. 99. 78| Agamben: On Potentiality, S. 183. Siehe auch S. 204 für den Verweis auf Hölderlin. 79| Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Frankfurt/Main 1973, S. 352f.
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ner Erfahrung die vergänglich war« aus80 – eine Erkenntnis, die Hölderlin in einem späten Fragment als »menschlich«81 bezeichnete und die Benjamin als Ziel einer »kommenden Philosophie« anvisierte, »denn« – so Kafkas Fazit – »ein drittes Land gibt es nicht für die Menschen«. Sollte es eine von der Kunst vermittelte ›promesse du bonheur‹ geben, so handelt es sich doch um eine Hoffnung, die, noch einmal mit Kafka zu sprechen (wenn auch apokryph), unendlich viel vorhanden sei, nur nicht für uns. Im selten beachteten Schlusszitat von Benjamins Hölderlin-Aufsatz – aus einem der letzten Gedichte Hölderlins: »Der Herbst« – wird diese in Aussicht gestellte und ausgesetzte Erfahrung des vergänglichen Daseins zugleich ausgesprochen und (da Benjamin das Fazit der letzten Zeile ausspart) verschwiegen: »Und vieles lernen / Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.« Dieses profane Wissen (des Profanen, der sich verzehrenden Zeit, des Eigenen), dem vielleicht nur die Literatur gerecht wird, aber dann auch erst recht in ihrer linkischen und liminalen Materialität, mag Hölderlins Nüchternheit in ihrer spätesten Form den Frühromantikern voraus gehabt haben. Umso zurückhaltender sollte man deshalb gegen Versuche sein, Hölderlins nüchternen Endspielen eine messianische Logik zuzuschreiben und dem Dichter der spätesten Gedichte aka Scardanelli zu diesem Zweck noch einmal den von ihm und seinen Texten längst dekonstruierten Status des Wahr-Sagers zuzuschreiben. Wenn in Hölderlins Spätwerk bis zuletzt theologoumena (re-)zitiert und inszeniert werden, so nur in dem Lernprozess der a-theologischen Nüchternheit, der schweren Schule des Eigenen, von der Adorno mit Recht behauptete, sie mündete in »die sinnleeren Protokollsätze Becketts«. Die von der Blödigkeit betretene Sphäre der Nüchternheit in der spätesten Dichtung enthält oder besser: ›performiert‹ (in ›unglücklichen‹, verunglückten, linkischen Sprechakten freilich) eine Wahrheit des Profan-Geschichtlichen, die eben keinem zusteht und sich nicht objektivieren bzw. verkörpern lässt, schon gar nicht von dem kleinen, hässlichen im Schachautomaten versteckten Zwerg, mit dem Benjamin in Vom Begriff der Geschichte die Theologie im Dienste der Puppe, »die man ›historischen Materialismus‹ nennt«, vergleicht. Zu spät: In Der Schachautomat. Roman um den brillantesten Betrug des 18. Jahrhunderts, einem Erfolgsroman von Robert Löhr über den Schach spielenden Automaten, den Hofrat Wolfgang von Kempelen (1734–1804) 1770 am Habsburgischen Hof präsentierte, heißt der Zwerg eben so: »Tibor Scardanelli, aus Provesano«.82
80| Walter Benjamin: »Über das Programm einer kommenden Philosophie«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II,1 (1977), S. 157–171, hier S. 158. 81| Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 349 (aus dem Entwurf »Das Nächste Beste«). 82| Robert Löhr: Der Schachautomat. Roman um den brillantesten Betrug des 18. Jahrhunderts. München, Zürich 2005, S. 10.
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Das Ende der Kunst? Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin Achim Geisenhanslüke
1. H EGEL , H ÖLDERLIN UND DAS E NDE DER K UNST »Das Ende der Kunst ist ein Gerücht.«1 Mit dieser prägnanten Formel begegnet Eva Geulen Hegels Diktum vom Ende der Kunst. Geulen wertet die narrativen und rhetorischen Implikationen der sprachlichen Form des Gerüchts zugleich als Zeichen, dass dem Ende der Kunst nach dem Durchgang durch Hegel, Nietzsche, Benjamin, Adorno und Heidegger, so die prominenten Ansprechpartner ihrer Untersuchung, selbst ein Ende beschieden sei. Am Ende ihrer eigenen Erzählung angelangt, wendet sie sich Hölderlin zu, um einen anderen Blick auf die Tradition zu gewinnen, als Hegels Rede vom Ende der Kunst es erlaubte. Die vorliegende Arbeit will einen ähnlichen Bogen spannen. Auch ihr Ausgangspunkt ist die Spannung, die zwischen Hegels Ästhetik und Hölderlins Poetik der Moderne besteht. Im Unterschied zu dem Beitrag Eva Geulens geht es allerdings darum, Hegels These vom Ende der Kunst positive Züge abzugewinnen. Den kritischen Gestus Geulens, der in dem Schlusssatz ihrer Untersuchung »Was bleibt, ist weitermachen«2 zum Ausdruck kommt, will die Studie um die Skizze einer Poetik erweitern, deren Leitfaden gerade nicht das Weitermachen ist, sondern die poetische Zäsur, die das Alte vom Neuen scheidet und damit die Grundlagen der Moderne legt. Die leitende Prämisse der folgenden Überlegungen besteht daher auch in der These, dass Hegel mit dem Ende der Kunst eine Einsicht formuliert hat, die für die literarische Moderne konstitutiv ist. Mit der vordergründigen Wiedereinsetzung Hegels verbindet sich allerdings ein kritischer Einwand, der sich wiederum von Hölderlin her formulieren lässt. Wie die Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik deutlich macht, lässt die Verschränkung von Gattungspoetik und Geschichts1| Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt/ Main 2002, S. 9. 2| Ebd., S. 188.
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philosophie, in der schon Peter Szondi die eigentümliche Leistung der Hegel’schen Ästhetik erkannt hat, den Ort der modernen Literatur auf eigentümliche Weise unbestimmt. In dem Maße, in dem Hegels einseitiger Blick auf die seiner Meinung nach vorbildliche Kunst der Antike an der Eigengesetzlichkeit der Poesie in der Moderne vorbeigeht, erscheint Hölderlins Poetik als ein Korrektiv, das die negative These vom Ende der Kunst erst produktiv werden lässt. Das Ziel der folgenden Ausführungen liegt dementsprechend darin, ausgehend von der gattungspoetischen und geschichtsphilosophischen Bestimmung von Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin einen Begriff der Poetik zur Geltung zu bringen, der die These vom Ende der Kunst ernst nimmt und es dennoch erlaubt, eine Poetik der Moderne zu entwickeln. Damit ist zugleich das methodische Vorgehen der Arbeit gekennzeichnet. In einem ersten Schritt geht es darum, Hegels These vom Ende der Kunst in einem kritischen Durchgang durch seine Ästhetik noch einmal eine bestimmte Plausibilität abzugewinnen. Die Diskussion der Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik, die Hegels Ästhetik auszeichnet, führt in einem zweiten Schritt zu einer kritischen Rekonstruktion seiner umstrittenen Lektüre der Sophokleischen Antigone, die zugleich zu Hölderlins Poetik als einer Alternative zu Hegels Ästhetik überleitet, in deren Zentrum die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Recht steht.
2. H EGELS Ä STHETIK Kaum eine Ästhetik scheint heute so abgewirtschaftet zu haben wie die Hegel’sche. Der Versuch, die Geschichte von Kunst und Literatur im Ganzen zu rekonstruieren und in ein in sich geschlossenes System zu bringen, muss im Rückblick als ein durch und durch vermessenes Unterfangen erscheinen, das sich eher dem Größenwahn seines Urhebers denn einer inneren Plausibilität und Logik verdankt. So widerspruchsvoll es daher auch zunächst erscheinen mag, die Frage nach der Bedeutung der Kunst in der Moderne im Anschluss an Hegels Ästhetik zu stellen, so unstrittig ist doch die Einsicht, dass das Recht der Kunst in der Moderne sich nur gegen Hegel behaupten kann. »Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel«,3 so schon Helmut Kuhns programmatischer Titel, vollzieht sich in ausdrücklicher Abwendung vom Genius der Kunst. In der Ästhetik stellt Hegel einleitend fest, es
3| Vgl. Helmut Kuhn: »Die Vollendung der klassischen Ästhetik durch Hegel«, in: Ders.: Schriften zur Ästhetik. München 1966, S. 15–144.
T RAGÖDIE UND L YRIK BEI H EGEL UND H ÖLDERLIN erscheint der Geist [in] unserer heutigen Welt, oder näher unserer Religion und unserer Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu sein.4
Der Eintritt in die Moderne wird der Kunst verwehrt, da das Absolute seinen Platz nicht in der ästhetischen Anschauung, sondern in Religion und Philosophie gefunden hat. Das Reich der Kunst verweist Hegel eindeutig in die Zeit der Vergangenheit. »Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber. […] Deshalb ist unsere Gegenwart ihrem allgemeinen Zustande nach der Kunst nicht günstig.«5 Innerhalb der von Hegel etablierten modernen Philosophie der Vernunft treten nicht nur Religion und Philosophie an die Stelle der Kunst. Auch die Möglichkeit einer Ästhetik als einem wissenschaftlichen System des Schönen leitet Hegel ganz aus dem Vergangenheitscharakter der Kunst ab. In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. […] Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst lädt uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.6
Die Erkenntnis der Kunst ersetzt die Kunst. »Hegel selbst hat dieses Negative, den Vergangenheitscharakter der Kunst, ausdrücklich als Bedingung seiner Wissenschaft angesprochen«,7 fasst schon Kuhn das antagonistische Verhältnis von Kunst und Wissenschaft der Kunst bei Hegel zusammen. Hegels Theorie der Moderne lässt mit der Ästhetik als der »Philosophie der Kunst«8 die Prosa der Wissenschaft an die Stelle der Poesie treten. Die These von der Vollendung der Kunst in der antiken Klassik begründet einen Begriff der Moderne, der Kunst und Poesie keine nennenswerte Bedeutung mehr zukommen lässt. Jeder Versuch, die Funktion der Poesie in der Moderne zu bestimmen, kann sich daher nur in Abgrenzung von den klassizistischen Voraussetzungen der Hegel’schen Ästhetik begründen lassen. Das Besondere der dialektischen Philosophie Hegels im allgemeinen wie seiner Ästhetik im besonderen liegt allerdings darin begründet, dass 4| Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Ders.: Werke. Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. 20 Bde. Frank furt/Main 1986, Bd. 13, S. 24. 5| Ebd., S. 24f. 6| Ebd., S. 25f. 7| Kuhn: Die Vollendung der klassischen Ästhetik durch Hegel, S. 100. 8| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, S. 13.
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sich ein Einwand gegen das von ihm etablierte System aus diesem selbst herleiten lässt. Darauf hat schon Rainer Wiehl hingewiesen: Hegels Ästhetik stellt ein Paradoxon dar für jeden Versuch, sie für Fragen der modernen Kunst in der einen oder der anderen Weise zu gebrauchen. Einer seits scheint kaum irgendeine Theorie weniger geeignet als sie, die Phänomene der modernen Kunst begreifbar zu machen. Auf ihrer Grundlage scheint vielmehr das Wesentliche der modernen Kunst zum Wegwerfen bestimmt zu werden, nämlich all das, in dem keine Heilung des Zerbrochenen, keine Ver söhnung des Widerstreitenden erscheint. 9
Auf der anderen Seite gilt jedoch: »Aber das verführerische Paradoxon der Hegelschen Ästhetik besteht nun gerade darin, daß sie als eine ausgezeichnete Anti-Theorie in Beziehung auf die moderne Kunst sich aufdrängt.«10 Die unmittelbare Konsequenz aus Wiehls kritischer Einsicht in das Paradox der Hegel’schen Ästhetik hat Dieter Henrich formuliert: »In der Ästhetik bedarf seine These vom geschichtlichen Ende der Kunst einer neuen Interpretation, welche sie aktualisiert.«11 Es kann also nicht darum gehen, Hegels Ästhetik durch den Hinweis auf die falschen Grundlagen seiner These vom Ende der Kunst einfach zu verabschieden, sondern vielmehr darum, ihr gerade da eine Einsicht abzugewinnen, wo sie am meisten zu versagen scheint. Die Kritik an Hegels Wissenschaft der Kunst und dem scheinbar skandalösen Diktum vom Ende der Kunst muss sich dementsprechend aus der Ästhetik selbst entwickeln lassen. Ein aussichtsreicher Ausgangspunkt für eine poetologische Bestimmung der Moderne, die die philosophische These vom geschichtlichen Ende der Kunst ernst nimmt und doch zugleich in ihrem Recht einschränkt, bildet die Verknüpfung von geschichtsphilosophischen und gattungspoetischen Momenten, die im Zentrum von Hegels Ästhetik steht.
3. D IE V ERSCHR ÄNKUNG VON G ESCHICHTSPHILOSOPHIE UND G AT TUNGSPOE TIK BEI H EGEL Die geschichtsphilosophische Bestimmung der Kunst steht im Mittelpunkt des zweiten Teils der Ästhetik, in dem Hegel den geschichtlichen Verlauf der Kunst anhand der Unterscheidung von symbolischer, klassischer und romantischer Kunstform aufzeigt. Die zeitliche Folge der
9| Rainer Wiehl: »Über den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegelschen Ästhetik«, in: Hegel-Studien 6 (1971), S. 135–170, hier S. 136. 10| Ebd. 11| Dieter Henrich: »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)«, in: Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964. München 1966 (Poetik und Hermeneutik. 2), S. 11–32 u. S. 524–531, hier S. 525.
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Kunstepochen stellt er als ein Suchen, Finden und Überschreiten des Schönen dar. In dieser Weise sucht die symbolische Kunst jene vollendete Einheit der inneren Bedeutung und äußeren Gestalt, welche die klassische in der Darstellung der substantiellen Individualität für die sinnliche Anschauung findet und die romantische in ihrer hervorragenden Geistigkeit überschreitet.12
Im Mittelpunkt der Ästhetik steht die Idee der Vollendung des Schönen in der klassischen Kunst der Griechen. »Das feste Rückgrat des zugleich historischen und systematischen Prinzips der Gliederung ist der Satz von der ästhetischen Vollkommenheit der Griechen«,13 betont Kuhn. Die geschichtliche Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Schönen findet ihre Vollendung im Klassischen, das Hegel zufolge durch keine andere Form der Kunst mehr übertroffen werden kann. »Dadurch ward die klassische Kunst die begriffsmäßige Darstellung des Ideals, die Vollendung des Reichs der Schönheit. Schöneres kann nicht sein und werden.«14 Im dritten und abschließenden Teil der Ästhetik ergänzt Hegel seine geschichtsphilosophische Bestimmung des Schönen durch die Darstellung des Systems der einzelnen Künste als »eine Totalität notwendiger Unterschiede der Kunst – die besonderen Künste«.15 Die geschichtliche Entwicklung des Schönen und das System der einzelnen Künste setzt Hegel zugleich in Beziehung zueinander, indem er der symbolischen Kunst die Architektur, der klassischen die Skulptur und der romantischen Kunst Malerei und Musik zuweist. Wenn daher die Architektur ihrem Grundcharakter nach durchweg symbolischer Art bleibt, so machen dennoch die Kunstformen des eigentlich Symbolischen, Klassischen und Romantischen in ihr das näher Bestimmende aus und sind hier von größerer Wichtigkeit als in den übrigen Künsten. Denn in der Skulptur greift das Klassische, in Musik und Malerei das Romantische so tief durch das ganze Prinzip dieser Künste hindurch, daß für die Ausbildung des Typus der anderen Kunstformen nur ein mehr oder weniger enger Spielraum übrigbleibt. 16
Vor dem Hintergrund der Verknüpfung von gattungspoetischen und geschichtsphilosophischen Bestimmungen nimmt die Poesie, wie schon Hans-Georg Gadamer betont, in der Ästhetik »eine ausgezeichnete
12| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, S. 392. 13| Kuhn: Die Vollendung der klassischen Ästhetik durch Hegel, S. 116. 14| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, Bd. 14, S. 127f. 15| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, S. 103. 16| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, Bd. 14, S. 271.
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Stellung«17 ein. Sie gilt nicht nur für die »absolute, wahrhafte Kunst des Geistes«,18 die »mit dem Begriff des Kunstschönen und Kunstwerks überhaupt«19 zusammenfällt. An die Stelle der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Künste in eine symbolische, klassische und romantische Form tritt mit der Poesie die gattungstheoretische Unterscheidung in epische, lyrische und dramatische Dichtung. In der Poesie endlich, obschon sie am vollständigsten die ganze Stufenfolge der Kunstformen zu Kunstwerken auszuprägen vermag, werden wir die Einteilung dennoch nicht nach dem Unterschiede der symbolischen, klassischen und romantischen Poesie zu machen haben, sondern nach der für die Poesie als besonderer Kunst spezifischen Gliederung in epische, lyrische und dramatische Dicht kunst.20
Eine besondere Stelle nimmt die Poesie in Hegels System der Künste zunächst dadurch ein, dass sie die geschichtsphilosophische Unterscheidung des Symbolischen, Klassischen und Romantischen durch die gattungspoetische Unterscheidung des Epischen, Lyrischen und Dramatischen abzulösen scheint. Hegels Gattungspoetik steht aber zugleich in engem Zusammenhang mit seiner Geschichtsphilosophie. Am Beispiel der griechischen Kunst verfolgt Hegel die Geschichte der Poesie anhand der gattungspoetischen Differenz von Epos, Lyrik und Tragödie. Peter Szondi zufolge »erscheint der historische Prozeß, die Abfolge der drei Kunstformen, ins Innere der Dichtung gewendet; die Poesie als die Totalität der Kunst wiederholt gleichsam die Entwicklung der Künste.«21 Das Ineinandergreifen von historischem Prozess und gattungspoetischen Bestimmungen beschränkt sich in Hegels Ästhetik allerdings auf die Kunst der Antike. Im Blick auf die griechische Poesie, deren Geschichte sich ihm im Rückblick als Wechsel der Gattungen vom Epos zur Lyrik und von der Lyrik zur Tragödie entfaltet, fallen Hegel die Geschichte der Kunst und die Ausdifferenzierung der einzelnen Gattungen zusammen. Der Vollendung der Kunst im Klassischen entspricht die Vollendung der Poesie in der Tragödie als derjenigen Dichtkunst, »welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt«.22 Die dramatische Poesie stellt Hegel daher als die Vollendung der Kunst überhaupt dar. »Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach
17| Hans-Georg Gadamer: »Die Stellung der Poesie im System der Hegelschen Ästhetik«, in: Annemarie Gethmann-Siefert u. Otto Pöggeler (Hg.): Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Bonn 1986 (Hegel-Studien Beiheft 27), S. 213–223, hier S. 214. 18| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, Bd. 14, S. 261. 19| Ebd., S. 238. 20| Ebd., S. 271. 21| Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. Frank furt/Main 1974, S. 492. 22| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Bd. 15, S. 474.
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sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Kunst und der Poesie überhaupt angesehen werden.«23 Die These von der Vollendung der Dichtkunst in der Tragödie sieht Hegel in der Antigone als dem »allererhabensten, in jeder Hinsicht vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten«24 bestätigt. Von allem Herrlichen der alten und modernen Welt – ich kenne so ziemlich alles, und man soll es und kann es kennen – erscheint mir nach dieser Seite die Antigone als das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk.25
Die Auszeichnung der sophokleischen Antigone verknüpft den geschichtsphilosophischen Vorrang des Klassischen mit dem gattungspoetischen Vorrang des Tragischen. Die Vollendung der Poesie bezieht sich geschichtlich auf die Zeit der griechischen Klassik, gattungstheoretisch auf die Tragödie als die höchste Form, die der Kunst möglich ist. Hegels These vom Ende der Kunst steht demnach in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Behauptung, die sophokleische Antigone markiere einen Höhepunkt in der Geschichte der Poesie, der durch nichts mehr zu übertreffen sei. Im immerwährenden Streit um Antike und Moderne stellt sich Hegel ganz auf die Seite der Antike. Gerade die Bevorzugung der griechischen Tragödie am Beispiel der Antigone aber lässt kritische Rückfragen an Hegels Ästhetik zu. Der Ansatzpunkt für eine Kritik Hegels, die sich seinem System gegenüber nicht nur äußerlich verhält, liegt in der These begründet, dass sich die Verknüpfung von Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik im Widerspruch zu den klassizistischen Voraussetzungen seiner Ästhetik dem eigenen Erklärungsanspruch nach auch auf die Kunst der Moderne erweitern lassen müsste. Zwar bezieht sich die Idee von der Vollendung der Poesie in der Tragödie allein auf die geschichtliche Folge von Epos, Lyrik und Tragödie in der Kunst der Antike. Offen und von Hegel in der Ästhetik nirgends systematisch berücksichtigt, bleibt aber die Frage, ob nicht auch eine gattungspoetische Bestimmung der Moderne denkbar wäre, die im Unterschied zur Antike nicht von dem Vorrang des Dramas auszugehen hätte. In diesem Zusammenhang deutet Hegel selbst einen Vorrang des Lyrischen in der Moderne an, der dem des Tragischen in der Antike an die Seite zu stellen wäre: Fassen wir daher dies Verhältnis des Inhalts und der Form im Romantischen, wo es sich in seiner Eigentümlichkeit erhält, zu einem Worte zusammen, so können wir sagen, der Grundton des Romantischen, weil eben die immer ver größerte Allgemeinheit und rastlos arbeitende Tiefe des Gemüts das Prinzip ausmacht, sei musikalisch und, mit bestimmtem Inhalte der Vorstellung, lyrisch. Das Lyrische ist für die romantische 23| Ebd. 24| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, Bd. 14, S. 60. 25| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Bd. 15, S. 550.
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A CHIM G EISENHANSLÜKE Kunst gleichsam der elementarische Grundzug, ein Ton, den auch Epopöe und Drama anschlagen und der selbst die Werke der bildenden Kunst als ein allgemeiner Duft des Gemüts umhaucht, da hier Geist und Gemüt durch jedes ihrer Gebilde zum Geist und Gemüte sprechen wollen.26
Mit diesen Bemerkungen deutet Hegel an, dass der geschichtlichen Ablösung des Klassischen durch das Romantische in der Moderne eine gattungspoetische Ablösung des Tragischen durch das Lyrische korrespondiert. Zwar lässt Hegels philosophische Begrifflichkeit offen, inwiefern die überzeitliche Idee des Tragischen und die historische Gattungsform der griechischen Tragödie und entsprechend auch das Lyrische und die Lyrik eigentlich zusammenhängen. Hegels Theorie der Dichtung scheint über die klassizistischen Voraussetzungen seiner Ästhetik aber immerhin die Möglichkeit anzudeuten, eine poetologische Bestimmung der Moderne zu geben, die bei dem Zusammenhang zwischen dem Romantischen und dem Lyrischen ansetzt. Dem Vorrang der antiken Tragödie, der die Geschichte und das System der Künste in der Ästhetik leitet, wäre als Ausgangspunkt für eine Poetik der Moderne, die ihren Anspruch im Widerspruch zu Hegels These vom geschichtlichen Ende der Kunst vorbringt, ein Vorrang des Lyrischen beizuordnen.27 Die These scheint um so mehr Evidenz für sich zu gewinnen, als sie sich an der emblematischen Figur Hölderlins bestätigen kann, und so ist es sicherlich auch kein Zufall, dass Eva Geulen am Ende ihrer Abhandlung über das Ende der Kunst als Gerücht gerade zu Hölderlin zurückkehrt. Zugleich ist an dieser Stelle jedoch Vorsicht geboten. Schon Hegels Privilegierung der griechischen Tragödie am Paradigma der Antigone lässt ja berechtigten Einspruch zu, und so scheint auch die aus Hegels Ästhetik gewonnene Gegenüberstellung von antiker Tragödie und moderner Lyrik zunächst mehr Fragen aufzuwerfen als Antworten zu geben. Can the factual distinction between prose, poetry and the drama relevantly be ex tended to modernity, a notion that is not inherently bound to any particular genre? Can we find out something about the nature of modernity by relating it to lyric poetry that we can not find out in dealing with novels or plays?28
Diese kritischen Fragen stellte schon Paul de Man der Konstanzer Arbeitsgruppe »Poetik und Hermeneutik«, deren zweites Treffen sich dem Thema »Lyrik als Paradigma der Moderne« widmete. Das von de Man angesprochene Problem betrifft die Reichweite der ästhetischen Be26| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, Bd. 14, S. 141. 27| Zur Lyrik als Paradigma der Moderne vgl. den von Wolfgang Iser herausgegebenen Band von »Poetik und Hermeneutik 2« (siehe Anm. 10) sowie die kritische Replik von Paul de Man: »Lyric and Modernity«, in: Ders.: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Second Edition. Minnesota 1983, S. 166–186. 28| De Man: Lyric and Modernity, S. 167.
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stimmungen Hegels. Denn die paradigmatische Bedeutung der Lyrik für die Moderne kann wohl als systeminterner Einwand gegen die Einseitigkeit von Hegels klassizistischer Ästhetik genutzt werden, jedoch kaum als positiver Ausgangspunkt für eine Poetik der Moderne gelten, die ernsthaft den Anspruch erhöbe, sich aus der Lyrik zu begründen, ohne auch Drama und Prosa zu berücksichtigen, zumal Hegel im Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Geistes in einer viel zitierten Formel in der Ästhetik selbst von der »Prosa der Moderne« spricht. So schematisch bereits Hegels Bestimmung der antiken Poesie in der Unterscheidung von Epos, Lyrik und Tragödie ist, so sehr scheint die Bestimmung der Moderne unter dem Zeichen des Endes der Kunst nach einer differenzierteren Betrachtung zu verlangen, als Hegel selbst sie zu geben in der Lage ist. Um der These vom Ende der Kunst und der Bedeutung der Lyrik als Paradigma der Moderne eine gewisse Plausibilität abzugewinnen, scheint es daher sinnvoll zu sein, sich zunächst noch einmal Hegels Interpretation der Antigone zu versichern, um seine Privilegierung der Tragödie in einem zweiten Schritt mit Hölderlins Poetik der Moderne zu vergleichen.
4. H EGELS I NTERPRE TATION DER A NTIGONE In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion erklärt Hegel die sophokleische Antigone zum »absoluten Exempel der Tragödie«.29 Die hervorragende Stellung der Antigone leitet sich aus der in der Ästhetik verhandelten Auszeichnung der Tragödie als der höchsten und geistigsten Form der Poesie ab. Hegels Theorie der Tragödie hat sich allerdings nicht immer an der Antigone ausgerichtet. Das frühe Modell des Tragischen im Jenaer Naturrechtsaufsatz ist nicht die Antigone, sondern die Orestie des Aischylos: Das Bild dieses Trauerspiels, näher für das Sittliche bestimmt, ist der Ausgang jenes Prozesses der Eumeniden als der Mächte des Rechts, das in der Differenz ist, und Apollos, des Gottes des indifferenten Lichtes, über Orest vor der sitt lichen Organisation, dem Volke Athens, – welches menschlicherweise als Areopagos Athens in die Urne beider Mächte gleiche Stimmen legt, das Nebeneinanderbestehen beider anerkennt, allein so den Streit nicht schlichtet und keine Beziehung und Verhältnis derselben bestimmt, aber göttlicherweise als die Athene Athens den durch den Gott selbst in die Differenz Verwickelten diesem ganz wiedergibt und mit der Scheidung der Mächte, die an dem Verbrecher beide teilhatten, auch die Versöhnung so vornimmt, daß die Eumeniden von diesem Volke als göttliche Mächte geehrt würden und ihren Sitz jetzt in der Stadt hät ten, so daß ihre wilde Natur des Anschauens der ihrem unten in der Stadt errichtetenAltare gegenüber auf der Burg hoch thronenden Athene genösse und hiedurch beruhigt wäre.30 29| Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Werke, Bd. 17, S. 133. 30| Hegel: »Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften«, Werke, Bd. 2, S. 434–530, hier S. 495f.
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In den Mittelpunkt seiner Poetik stellt Hegel im Naturrechtsaufsatz wie in den späteren Schriften den Zusammenhang von Tragödie und Sittlichkeit. Das Tragische, das Hegel in der Phänomenologie anhand des Inhalts griechischer Tragödien der Sache nach bestimmt und das er in den Ästhetik-Vorlesungen zudem ausdrücklich mit diesem Terminus bezeichnet, entsteht seiner Theorie gemäß aus dem Status der Sittlichkeit eines bestimmten Welt zustandes,31
betont Klaus Düsing. Die Orestie versteht Hegel als »Aufführung der Tragödie im Sittlichen«,32 insofern sie den Widerstreit zweier Rechtsformen, »der Eumeniden als der Mächte des Rechts, das in der Differenz ist, und Apollos, des Gottes des indifferenten Lichtes«, darstellt. Der Zusammenhang von Tragödie und Sittlichkeit in Hegels früher Rechtsphilosophie verbindet das Tragische mit der Dialektik. In der Orestie erkennt Hegel nicht nur das Paradigma des Tragischen, er erfasst in ihr zugleich das Vorbild für den eigenen Begriff der Dialektik. »Indem der tragische Vorgang bei Hegel als die Selbstentzweiung und Selbstversöhnung der sittlichen Natur interpretiert wird, tritt seine dialektische Struktur zum ersten Mal unmittelbar zutage.«33 Der Grund für die Begründung der Dialektik durch die Tragödie liegt in der sittlichen Bedeutung des Tragischen als Prozess, der mit einer – wenn auch fragwürdigen – Versöhnung endet. Die der Dialektik eigene Prozessualität gewinnt Hegel aus der Orestie als dem »Bild dieses Trauerspiels«, das die Selbstentzweiung der Sittlichkeit in zwei feindliche Mächte und deren anschließende Versöhnung exemplarisch vorführt. Wie Szondis Versuch über das Tragische gezeigt hat, »fallen bei Hegel Tragik und Dialektik zusammen.«34 Kann sich die Theorie der Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz an der Orestie orientieren, insofern die aischyleische Trilogie sowohl die Prozessualität als auch den Versöhnungsanspruch der Dialektik verkörpert, so ändern sich mit der Auszeichnung der Antigone in der Ästhetik und den Vorlesungen über die Philosophie der Religion die Voraussetzungen, die es Hegels Begriff der Dialektik in den frühen Schriften erlaubten, sich an der Tragödie auszurichten. Die Antigone verweist weder auf einen der Orestie vergleichbaren prozessualen Verlauf des Tragischen, der die Tragödie als 31| Klaus Düsing: »Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel«, in: Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus: Hölderlins letzte Homburger Jahre 1804–1806. Bonn 1986, S. 55–81, hier S. 72. 32| Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten, Werke, Bd. 2, S. 495. 33| Peter Szondi: Versuch über das Tragische, in: Ders.: Schriften I. Frank furt/Main 1978, S. 149–260, hier S. 167. Den inneren Zusammenhang von Tragödie und Dialektik bei Hegel hat auch Michael Schulte hervorgehoben. »Hegels Konzept der Tragödie im Sinne der Versöhnung eines Konfliktes, d.h. als Aufhebung einer Differenz, entspricht der Methode seiner Dialek tik.« Michael Schulte: Die »Tragödie im Sittlichen«. Zur Dramentheorie Hegels. München 1992, S. 241. 34| Szondi: Versuch über das Tragische, S. 167.
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Vorbild der Dialektik erscheinen lässt, noch ist sie das Beispiel für einen versöhnlichen Ausgang des dargestellten Konfliktes. Gerade die Prozessualität und Versöhnung, die Hegel aus dem Tragischen am Beispiel der Orestie gewinnen und für den eigenen Begriff der Dialektik fruchtbar machen konnte, vermag er aus der Antigone selbst nicht mehr abzuleiten. Die ausgezeichnete Stellung, die Hegel der Antigone zuspricht, ist daher zugleich als ein Zeichen dafür zu werten, dass sich sein Begriff der Dialektik in der Phänomenologie des Geistes und den späteren Schriften von dem des Tragischen emanzipiert hat. Szondi schließt »auf eine verborgene Wende in Hegels Auffassung vom Tragischen«, die mit »dem Wandel, den die Bedeutung der Dialektik für Hegel erfährt«,35 insgesamt zusammenhängt. Die veränderten Voraussetzungen des Verhältnisses von Tragödie und Dialektik lassen sich anhand der Interpretation der Antigone in der Phänomenologie des Geistes nachzeichnen. Im Naturrechtsaufsatz bestimmt Hegel die Orestie als »Tragödie im Sittlichen«. Die Phänomenologie des Geistes, die die am weitesten ausgeführte Interpretation der Antigone vorlegt, bezieht die sophokleische Tragödie in ähnlicher Weise auf das Problem der Sittlichkeit. Im Mittelpunkt von Hegels Interpretation des Tragischen steht nicht so sehr die Frage nach einer Poetik der Tragödie, sondern die nach der Bedeutung der Kunst für die Sittlichkeit. »Das Tragische faßt er anders als Hölderlin primär ethisch auf«,36 stellt Klaus Düsing fest. Die Frage nach der Bedeutung der Kunst in der Moderne verweist daher allgemein auf das den Bereich der Ästhetik übergreifende Problem des Zusammenhangs von Kunst und Sittlichkeit in Hegels System der Philosophie. Die Stellung der Antigone in der Phänomenologie des Geistes entspricht dem von Hegel postulierten Zusammenhang von Kunst und Sittlichkeit. Die Diskussion der Tragödie setzt im Kontext der im Geistkapitel der Phänomenologie entwickelten Theorie der Sittlichkeit ein. Wie Hegels Unterscheidung von antiker und moderner Sittlichkeit betont, ist der sittliche Geist der Antike, bevor sich die moderne Sittlichkeit im Prinzip der Subjektvität verwirklicht, durch den Untergang des Selbstbewusstseins in der Einheit der sittlichen Substanz geprägt. In der Tat aber ist die sittliche Substanz durch diese Bewegung zum wirklichen Selbstbewußtsein geworden oder dieses Selbst zum Anundfürsich-seienden; aber darin ist eben die Sittlichkeit zugrunde gegangen.37
In Hegels Augen zeigt die antike Tragödie exemplarisch den dialektischen Prozess einer Verwirklichung der Sittlichkeit, die den Untergang des Selbstbewusstseins als Rückgang in die ungeschiedene Form der sittlichen Substantialität bedeutet. Die komplexe Dialektik von Verwirklichung 35| Ebd., S. 172f. 36| Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, S. 81f. 37| Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 328.
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und Untergang der Sittlichkeit im Selbstbewusstsein stellt Hegel auch in den Mittelpunkt seiner Interpretation der Antigone. Entscheidend für den Zusammenhang von Sittlichkeit und Kunst in der Phänomenologie des Geistes ist Rainer Wiehl zufolge der Begriff der »Handlung«,38 insofern diese eine Trennung von sittlicher Substanz und Bewusstsein vollzieht, die in der Tragödie anschaulich dargestellt wird. Den Gegensatz von Substanz und Bewusstsein in der griechischen Form der Sittlichkeit differenziert Hegel weiter aus, indem er die durch die Handlung bewirkte Trennung sowohl auf die Seite der Substanz als auch auf die des Bewusstseins bezieht. Während die Substanz als »allgemeines Wesen und Zweck« sich in einer Form der Selbstentzweiung als »der vereinzelten Wirklichkeit«39 gegenübertritt, teilt sich das Bewusstsein »in ein menschliches und [ein] göttliches Gesetz«,40 wobei die Unterscheidung des menschlichen und des göttlichen Gesetzes von Anfang an auf den Konflikt zwischen Kreon und Antigone ausgerichtet ist. Hegels Theorie der Entzweiung des sittlichen Geistes in zwei sich feindlich gegenüberstehende Mächte zufolge verkörpert Antigone das göttliche Gesetz der »Familie«,41 Kreon hingegen das menschliche Gesetz der »Staatsmacht«.42 Die Tragödie zeigt Hegel zufolge die Selbstentzweiung des Sittlichen im Konflikt zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Gesetz auf, indem sie das Familiengesetz der Antigone, das Bestattungsgebot des Bruders, mit dem Staatsgesetz Kreons, dem Bestattungsverbot für Polyneikes, in Kollision geraten lässt. Im Mittelpunkt von Hegels Interpretation der Antigone in der Phänomenologie des Geistes steht die These von der Gleichberechtigung der von Kreon und Antigone verkörperten sittlichen Mächte, die sich darin zeigt, dass »beide Seiten denselben Untergang erfahren«.43 Die umstrittene These, in Kreon und Antigone stünden sich zwei gleichberechtigte sittliche Mächte gegenüber,44 versucht Hegel zu stützen, indem er zeigt, dass Antigones und Kreons Untergang wechselseitig aufeinander bezogen sind. Im Vergleich zum Ödipus schätzt er die Antigone höher ein, da diese durch die bewusste Einsicht in ihr Tun die substantielle Einheit von Wissen und Wirklichkeit ausdrückt und, wie Hegel meint, implizit die eigene Bestrafung durch die ihr gegenüberstehende Macht des Staates fordert. 38| Ebd., S. 327. 39| Ebd. 40| Ebd., S. 328. 41| Ebd., S. 330. 42| Ebd. 43| Ebd., S. 349. 44| Vgl. kritisch zu Hegel Martha Nussbaum: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 1986, S. 67ff. »Berühmt und ein Stein des Anstoßes ist, daß Hegel diese These mit der Sophokleischen Antigone verbindet, von einer Schuld Antigones und ent sprechend von einer Berechtigung der Position Kreons spricht«, betont auch Schulte: Die »Tragödie im Sittlichen«, S. 11.
T RAGÖDIE UND L YRIK BEI H EGEL UND H ÖLDERLIN Aber das sittliche Bewußtsein ist vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenübertritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht. Die vollbrachte Tat verkehrt seine Ansicht; die Vollbringung spricht es selbst aus, daß, was sittlich ist, wirklich sein müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks ist der Zweck des Handelns. Das Handeln spricht gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz aus, es spricht aus, daß die Wirklichkeit dem Wesen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist. Das sittliche Bewußtsein muß sein Entgegengesetztes um dieser Wirklichkeit willen und um seines Tuns willen als die seinige, es muß seine Schuld anerkennen; weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt.45
Im Zentrum von Hegels Deutung der Tragödie steht »das Skandalon«,46 so Michael Schulte, dass Antigone durch den bewussten Verstoß gegen das von Kreon erlassene Verbot der Bestattung ihre Schuld anerkenne und somit ihre Bestrafung selbst fordere. Hegels dialektischer Bestimmung des Verhältnisses von menschlichem und göttlichem Gesetz zufolge zeigt sich die Schuld Antigones darin, dass sie Kreons Gesetz vom Standpunkt des wissenden Bewusstseins zwar ablehnt, sein Verbot und damit das Gesetz, das sich durch das Verbot konstituiert, jedoch gleichzeitig verwirklicht. Die Tragödie des Sophokles zeugt damit in ausgezeichneter Weise von dem Auseinandertreten von Substanz und Bewusstsein, in dem die Phänomenologie des Geistes das Wesen der griechischen Welt der Sittlichkeit erkennt. Antigones Tat bedeutet für Hegel nicht nur die Verwirklichung des göttlichen Gesetzes durch die Bestattung des Bruders, sondern ebenso die Bestätigung des menschlichen Rechts Kreons, gegen das sie wissentlich verstoßen hat. Die Tragödie der Antigone beruht darauf, dass sich an ihr durch ihre eigene Tat das Gesetz verwirklicht, dessen Gültigkeit sie gleichzeitig bestreitet. Dass die sittlichen Mächte der Familie und des Staates, die sich in der Tragödie unversöhnlich gegenüberstehen, gleichberechtigt sind, folgert Hegel aus der Tatsache, dass sich in gleicher Weise wie an Antigone das Recht Kreons an Kreon das Gesetz Antigones vollzieht. Sie hat aber dabei die Gewißheit, daß diejenige Individualität, deren Pathos diese entgegengesetzte Macht ist, nicht mehr Übel erleidet, als sie zugefügt. Die Bewegung der sittlichen Mächte gegeneinander und der sie in Leben und Handlung setzenden Individualitäten hat nur darin ihr wahres Ende erreicht, daß beide Seiten denselben Untergang erfahren. Denn keine der beiden Mächte hat etwas vor der andern voraus, um wesentlicheres Moment der Substanz zu sein. 47
45| Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 348. 46| Schulte: Die »Tragödie im Sittlichen«, S. 368. 47| Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 349.
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Bestätigt Antigones wissentlicher Verstoß gegen das Bestattungsverbot zugleich das Gesetz des Staates, das nach der Tat strafend über sie richtet, so erfährt Kreon umgekehrt im Tod seiner Familie, im Selbstmord Hämons und Eurydikes, die Verwirklichung des von ihm bestrittenen göttlichen Gesetzes. Die Einseitigkeit, in der einheitlichen Struktur der sittlichen Substanz gründende Zusammengehörigkeit von göttlichem und menschlichem Gesetz, zeigt sich daran, dass Antigone und Kreon am jeweils anderen ihrer selbst scheitern. In dem wechselseitigen Verweisungszusammenhang der Schuld Kreons und Antigones bestätigt die Rückführung der unterschiedenen Gesetze auf ihr jeweils anderes zugleich die ursprüngliche Einheit der Substantialität, aus der sie hervorgegangen sind. In Hegels Augen verkörpert die Antigone die Vollendung der Tragödie und zugleich die Vollendung der griechischen Form der Sittlichkeit, insofern sie in der Darstellung der Gleichberechtigung der sittlichen Mächte im wechselseitigen Untergang der handelnden Individuen die Substantialität der Sittlichkeit ausdrückt, die erst durch das moderne Prinzip der Subjektivität, das zwischen Bewusstsein und Handlung zu unterscheiden weiß, überwunden wird. Aus dem Gegensatz von antiker und moderner Sittlichkeit ergibt sich zugleich eine unterschiedliche Bestimmung der Funktion der Kunst in Antike und Moderne. Die Überwindung der antiken Form der Sittlichkeit im modernen Prinzip der Subjektivität, die Hegels Theorie beabsichtigt und die ihn zugleich dazu zwingt, über die Tragödie hinauszugehen, knüpft an das Beispiel der Antigone an. Denn in dem Maße, in dem Antigone, wie Hegel meint, ihre Schuld anerkennt, verwirklicht sie das Recht das Staates, an das Hegel seine eigene Theorie der modernen Sittlichkeit anschließt. Im Schritt von der Familie zur bürgerlichen Gesellschaft bis zum Staat in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist »der Staat überhaupt vielmehr das Erste, innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet«.48 Während die Phänomenologie des Geistes die Macht der Familie und die des Staates in einen unversöhnlichen Widerstreit stellt, lässt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts das Gesetz der Familie in dem des Staates sukzessiv aufgehen. Die Rechtsphilosophie orientiert sich an dem Prinzip des Staates als einer Verwirklichung der Sittlichkeit, die der dem griechischen Geist eigentümlichen Trennung von Wissen und Handeln überlegen sei. »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt.«49 Die Familie, die »als die unmittelbare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe, zu ihrer Bestimmung«50 hat, sieht Hegel durch den Staat als
48| Hegel: Grundlinien zur Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7, S. 398. 49| Ebd. 50| Ebd., S. 307.
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»die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat«,51 überwunden. Hegels Intention, die in der Tragödie dargestellte substantielle Sittlichkeit durch das im Staat verwirklichte Prinzip der freien Subjektivität zu überwinden, lässt sich vor diesem Hintergrund auf die Theorie der Tragödie in der Phänomenologie des Geistes zurück beziehen. Nicht nur orientiert sich das Prinzip der modernen Sittlichkeit im Staat einseitig am menschlichen Gesetz Kreons in der Antigone. Wie zu vermuten ist, geht die Einseitigkeit von Hegels Bestimmung der modernen Sittlichkeit auf das Problem der Versöhnung der entzweiten Formen des Sittlichen zurück, die von der Antigone im Gegensatz zur Orestie nicht zu denken ist. Der wechselseitige Untergang von Kreon und Antigone lässt im Unterschied zu der ebenfalls bereits prekären Vermittlung zwischen Apoll und den Eumeniden in der Orestie schlechterdings gar keine Versöhnung zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Gesetz zu. Indem Hegels Theorie der Moderne aber einseitig an das menschliche Gesetz anknüpft, ohne den Gegensatz der sittlichen Mächte auf versöhnliche Weise auflösen zu können, bleibt der von ihm festgestellte Konflikt zwischen zwei sich widerstreitenden Mächten auch für die Moderne erhalten. Er offenbart sich an der doppelten Bestimmung, die die moderne Subjektivität im Auseinandertreten von Ästhetik und Rechtsphilosophie erfährt. »Ist nun aber die innere Subjektivität der eigentliche Quell der Lyrik«,52 wie Hegel in der Ästhetik bemerkt, so steht der subjektiv-lyrischen Innerlichkeit die objektive Verwirklichung der Subjektivität im Staat gegenüber. Die eigentümliche Position der Moderne im Vergleich zur Antike zeigt sich nicht an zwei unterschiedenen und gleichberechtigten Formen der Sittlichkeit, sondern an dem unaufgelösten Verhältnis von ästhetisch und rechtlich bestimmter Subjektivität in Hegels Theorie der Moderne. Im Auseinandertreten von Ästhetik und Rechtsphilosophie, das gerade die These vom Ende der Kunst markiert, lässt Hegel zwei miteinander rivalisierende Formen der Subjektivität aus dem Streit zwischen Kreon und Antigone hervortreten, ein ästhetisch bestimmtes Subjekt, das sich auf die Autonomie der Kunst beruft und den Konflikt mit dem Recht nicht scheut, und ein sittlich bestimmtes Subjekt, das sich auf das unbedingte Recht des Staates beruft. Im Unterschied zur Übereinstimmung von Tragödie und Sittlichkeit in der Antike tritt in der Moderne die Partikularität der Kunst, die sich Hegels eigenen Bestimmungen zufolge vor allem in der Lyrik zeigt, in Widerstreit zu dem Rechtssystem der Philosophie, das sich in der Wirklichkeit des Staates zu vollenden sucht. Hegels Anspruch, im Staat, der »das an und für sich Vernünftige«53 verkörpert, die absolute Grundlage für die Verwirklichung der freien Subjektivität in der Moderne zu finden, widerspricht die Kunst, indem sie einen Anspruch auf Autonomie einklagt, 51| Ebd., S. 399. 52| Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Bd. 15, S. 249. 53| Hegel: Grundlinien zur Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7, S. 399.
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der dem absoluten Recht des Staates zuwiderläuft. Hegels Affirmation des Wirklichen im Staat, der ihm »das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit«54 ist, wird von der Souveränität der modernen Kunst, die ihr Reich jenseits der Gesetze der Sittlichkeit zu errichten sucht, tendenziell unterlaufen.55 Gerade vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich aus Hölderlins Poetik, die sich in ganz ähnlicher Weise wie Hegels Ästhetik mit der antiken Tragödie und dem Paradigma der Antigone auseinandersetzt, nicht eine alternative Bestimmung der Moderne gewinnen lässt, die auf veränderten gattungspoetischen Voraussetzungen beruht und den gleichen Prozess aus einer anderen Perspektive beleuchtet, um der Kunst ihr Recht wieder zu geben.
5. H ÖLDERLINS P OE TIK Die paradigmatische Bedeutung der Lyrik in der Moderne, die Hegel in der Ästhetik andeutet, scheint sich in ausgezeichneter Weise bei Hölderlin zu bestätigen, und das um so mehr, als der Dichter Hölderlin selbst wie schon Hegel ausdrücklich auf den geschichtsphilosophischen Wechsel von Tragödie und Lyrik eingeht. Wie Hegels Theorie der Sittlichkeit ergibt sich Hölderlins Poetik zu wesentlichen Teilen aus der Beschäftigung mit der griechischen Tragödie. Hölderlins Auseinandersetzung mit Sophokles entspringt allerdings einer anderen Fragestellung als Hegels Deutung der Antigone in der Phänomenologie des Geistes.56 Während Hegel eine philosophische Theorie der Tragödie im Zusammenhang mit dem Problem der Sittlichkeit zu entwickeln sucht, fragt Hölderlin nach deren »poëtischer Logik«,57 um aus dem »gesetzliche[n] Kalkul«58 der attischen Tragödie zugleich die Regeln moderner Poesie abzuleiten. Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Ver fassungen abgerechnet, zur ΐΛ΅Α der Alten erhebt.«59
Hölderlins Versuch, ausgehend von den Anmerkungen zum Ödipus und der Antigone auch der modernen Poesie eine feste Regel zu geben und 54| Ebd., S. 403. 55| Vgl. Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt/Main 1991, S. 9f. 56| Zur vieldiskutierten Frage nach Hegel und Hölderlin vgl. Dieter Henrich: »Hegel und Hölderlin«, in: Ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt/Main 1971, S. 9–40. 57| Friedrich Hölderlin: »Anmerkungen zur Antigonä«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. 20 Bde. Hg. v. Dieter E. Sattler. Basel, Frankfurt/Main 1975– 2008, Bd. 16, S. 411. 58| Hölderlin: »Anmerkungen zum Oedipus«, Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 249. 59| Ebd.
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sie so »zur ΐΛ΅Αȱder Alten« zu erheben, weist über Sophokles hinaus auf seine Unterscheidung von antiker und moderner, von griechischer und hesperischer Dichtung. Die Auseinandersetzung mit dem Tragischen ist zugleich der Grund für einen geschichtsphilosophischen Entwurf, der aus dem Geist der Antike heraus die Gesetze der modernen Dichtung zu bestimmen sucht. Wie Peter Szondi gezeigt hat, lässt sich Hölderlins Poetik in ausgezeichneter Weise mit Hegels Theorie der Kunst vergleichen, da er wie dieser die geschichtsphilosophische Betrachtung der Kunst mit Fragen der Gattungspoetik verbindet. Im Anschluss an die Interpretation Szondis, die »Hölderlins Gattungspoetik als Geschichtsphilosophie«60 begreift, lässt sich daher auch die aus Hegels Ästhetik kritisch gewonnene These von der paradigmatischen Bedeutung der Lyrik für die Moderne in ihrer positiven Ausformung diskutieren. Im Mittelpunkt von Hölderlins geschichtsphilosophischer Poetik steht die Unterscheidung von griechischer und hesperischer Dichtung, die ihrerseits auf die im Grund zum Empedokles verhandelte Differenz zwischen dem Aorgischen und dem Organischen, zwischen Natur und Kunst, verweist.61 Das Wesen der griechischen und der hesperischen Poesie leitet Hölderlin aus dem je unterschiedlichen Verhältnis der unbegrenzten Natur zu der in der anschaulichen Darstellung nach endlicher Begrenzung suchenden Kunst ab. Hölderlins dialektischer Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Kunst zufolge verwirklicht sich der griechische Geist, dem die aorgische Natur ursprünglich ist, in seinem Gegensatz, im organischen Kunstwerk, während das Hesperische in umgekehrter Weise von der künstlerischen Darstellungsgabe ausgeht, um sich im aorgischen Naturgang zu vollenden. Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angebohren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen.62
Hölderlins Dialektik von Fremdem und Eigenem zufolge verwirklicht sich der griechische Geist, dessen Ursprung im heiligen Pathos, im Feuer des Himmels liegt, in der dem hesperischen Geist ursprünglichen Darstellungsgabe, in der Nüchternheit der Erde, das Hesperische jedoch umgekehrt im griechischen Pathos. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deswegen werden diese eher in schöner 60| Szondi: Poetik und Geschichtsphilosphie I, S. 379. 61| Hölderlin: »Grund zum Empedokles«, Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 844ff. 62| Hölderlin: An Casimir Ulrich Böhlendorff, 4. Dezember 1801, Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 492.
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A CHIM G EISENHANSLÜKE Leidenschaft, die du dir auch erhalten hast, als in jener homerischen GeistesGegenwart und Darstellungsgabe zu übertreffen sein.63
Das chiastische Verhältnis von griechischer und moderner Dichtung bei Hölderlin hat Klaus Düsing zusammengefasst. Die Griechen gehen aus von aorgischer, ungebundener Unendlichkeit, die ihnen natürlich ist, und schaffen in der Kunst Selbstgestaltung und Selbst begrenzung, so daß sie sich darin als etwas Bestimmtes erfassen können. Die Hesperier, so wird man Hölderlins schwierige Hinweise wohl ausdeuten müs sen, gehen aus von künstlich gewordener, unlebendiger Begrenztheit und ver festigter Gesetzlichkeit als ihrem Ursprünglichen; sie streben im Vertrauen auf die Natur oder den ›Naturgang‹ aus der erstarrten Begrenztheit heraus ins aorgische Unendliche.64
In den Anmerkungen zur Antigonä nimmt Hölderlin die dialektische Bestimmung des Verhältnisses von aorgischer Natur und organischem Kunstwerk wieder auf und bezieht sie in geschichtsphilosophischer Hinsicht auf den Wechsel von der griechischen zur hesperischen Dichtkunst. Für uns, da wir unter dem eigentlicheren Zeus stehen, der nicht nur zwischen dieser Erde und der wilden Welt der Todten inne hält, sondern den ewig menschenfeindlichen Naturgang, auf seinem Wege in die andere Welt, entschiedener zur Erde zwinget, und da diß die wesentlichen und vaterländischen Vor stellungen groß ändert, und unsere Dichtkunst vaterländisch seyn muß, so daß ihre Stoffe nach unserer Weltansicht gewählt sind, und ihre Vorstellungen vaterländisch, verändern sich die griechischen Vorstellungen in sofern, als ihre Haupt tendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu können, da das Schicksallose, das ΈΙΗΐΓΕΓΑ, unsere Schwäche ist.65
Die Gegensätzlichkeit von antiker und moderner Poesie bezieht Hölderlin auf die spekulative Idee einer abendländischen Wendung, in der sich das Verhältnis von aorgischer Natur und organischer Kunst umkehrt. War für das Griechische die ungebundene Natur der Ursprung, der in der Kunst durch »die Haupttendenz, sich fassen zu können«, ausgeglichen wurde, so vollzieht sich in den »Tragödien der Zeitenwende«,66 so Düsing, ein geschichtsphilosophischer Umschlag, der den Gang vom Aorgischen ins Organische in der griechischen Poesie durch die entgegengesetzte Bewegung vom Organischen ins Aorgische in der hesperischen Dichtung ersetzt. In ähnlicher Weise wie in Hegels Theorie der Tragödie kommt der Antigone in Bezug auf die Idee einer abendländischen Wende, in der sich 63| Ebd. 64| Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hegel und Hölderlin, S. 66. 65| Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä, Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 418. 66| Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hegel und Hölderlin, S. 61.
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das Verhältnis von Natur und Kunst umkehrt, daher eine ausgezeichnete Stelle zu. So betont schon Lawrence Ryan, es sei nicht recht erkannt worden, daß für Hölderlin die Antigone einen nicht minder exemplarischen Charakter trägt, allerdings in einem anderen Sinne: nicht als vorbildlich gelungene Ausprägung des tragischen Gleichgewichts, sondern als Umbruch in der Geschichte der Tragödie und somit der Literatur überhaupt: als Umschlagspunkt in der Entwicklung vom Griechischen zum Hesperischen. 67
Der Antigone kommt für Hölderlin eine besondere Bedeutung zu, da sie zeigt, »wie es vom griechischen zum hesperischen gehet«68 und so den geschichtsphilosophischen Umschlag von der griechischen zur hesperischen Dichtung in der Umkehrung des Verhältnisses von aorgischer Natur und organischer Kunst vollzieht. Einen geschichtlichen Umschlag bedeutet die Tragödie des Sophokles, die, wie Ryan hervorhebt, darin über den Ödipus hinausgeht,69 in der Vollendung des Tragischen als Verwirklichung des Gottes im Menschen. Die ausgezeichnete Stellung der Antigone resultiert aus der spekulativreligiösen Einsicht Hölderlins, in der Tragödie fasse sich der unendliche Geist des Gottes im endlichen Geist des Menschen. Wie Meta Corssen dargelegt hat, beruht Hölderlins Verständnis des Tragischen auf der Idee einer Begegnung von Gott und Mensch. »Der Wesensgrund der Tragödie ist für Hölderlin, wie er im Schlußteil der beiden Kommentare erklärt, die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen.«70 Während Hegel die Tragödie als den Widerstreit zweier sittlicher Mächte begreift und den Konflikt zwischen Antigone und Kreon in den Mittelpunkt seiner Interpretation stellt, gewinnt Hölderlin seinen Begriff des Tragischen aus der Gegenüberstellung von Mensch und Gott, aus dem Verhältnis von Antigone zu dem Gott, von dem sie in Hölderlins bewusst verfremdender Übersetzung als »mein Zeus«71 berichtet. Die tragische Darstellung beruhet, wie in den Anmerkungen zum Ödipus angedeutet ist, darauf, daß der unmittelbare Gott, ganz Eines mit dem Menschen (denn der Gott eines 67| Lawrence Ryan: »Hölderlins Antigone«, in: Christoph Jamme u. Otto Pög geler (Hg.): Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre 1804–1806. Bonn 1986, S. 103–121, hier S. 103. 68| Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä, Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 414. 69| »In wesentlicher Beziehung weist nun die Antigonae nach Hölderlins Auslegung über das im Oedipus gestaltete Antik-Tragische hinaus.« Ryan: Hölderlins Antigone, S. 108. 70| Meta Corssen: »Die Tragödie als Begegnung zwischen Gott und Mensch. Hölderlins Sophoklesdeutung«, in: Hölderlin-Jahrbuch 3 (1948/49), S. 139–187, hier S. 141. 71| Auf die philologisch kaum haltbare Übersetzung Hölderlins hat früh bereits Wolfgang Binder hingewiesen. Vgl. Wolfgang Binder: »Hölderlin und Sophokles«, in: Hölderlin-Jahrbuch 16 (1969/70), S. 19–37, hier S. 36.
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A CHIM G EISENHANSLÜKE Apostels ist mittelbarer, ist höchster Verstand in höchstem Geiste), daß die unendliche Begeisterung unendlich, das heißt in Gegensätzen, im Bewußtseyn, welches das Bewußtseyn aufhebt, heilig sich scheidend, sich faßt und der Gott, in der Gestalt des Todes, gegenwärtig ist.72
Im Mittelpunkt von Hölderlins Deutung der Tragödie steht das Problem der Vereinigung von Mensch und Gott. Am Beispiel der Antigone beschreibt er, »wie in der Tragödie der Gott unmittelbar wirklich wird.«73 Zeigt sich in der Tragödie einerseits die unmittelbare Wirklichkeit des Gottes, so nimmt die »unendliche Begeisterung« durch die Gegenwart des Gottes, der »ganz Eines mit dem Menschen« ist, für den Menschen die »Gestalt des Todes« an. Die Verwirklichung des Gottes im Menschen bedeutet jedoch nicht nur die Vollendung des Tragischen. Sie markiert zugleich jenen geschichtlichen Wendepunkt, der den Weg vom Griechischen zum Hesperischen bestimmt. Denn indem die Antigone exemplarisch vorführt, wie sich das Göttliche im Menschen verwirklicht, vollendet sie in einer nicht mehr zu überbietenden Weise den Gang von der aorgischen Natur in die organische Kunst in der griechischen Poesie. Wie Hölderlins späte Hymnen zeigen, stellt die hesperische Kunst in umgekehrter Weise die vom Menschen ausgehende Erinnerung an das Göttliche in den Mittelpunkt der Dichtung. An die Stelle der tragischen Begegnung von Gott und Mensch tritt in Hölderlins Lyrik eine Theorie der Erinnerung, die ihren Ausgang von der Erkenntnis nimmt, dass die in der antiken Tragödie dargestellte Präsenz des Göttlichen in der modernen Poesie nicht mehr herzustellen ist, ohne dass dies allerdings von vorneherein als ein Mangel zu begreifen sei, wie es bei Hegel der Fall ist. Aus der spekulativen Einsicht in die unwiederbringlich verlorene Gegenwart der griechischen Götter entwickelt Hölderlin vielmehr einen neuen Begriff der Poetik, in dessen Mittelpunkt nicht mehr die Tragödie, sondern die Lyrik zu stehen scheint. Hölderlins gattungspoetische Überlegungen zum »Wechsel der Töne«74 geben in diesem Zusammenhang zugleich ein differenzierteres Bild, als es Hegels Verschränkung von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie in der Ästhetik leisten konnte. Auf den ersten Blick lässt sich der geschichtsphilosophische Wandel von der antiken zur modernen hesperischen Dichtung zugleich als gattungspoetischer Umschlag deuten, der von der Tragödie zur Lyrik führt. Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne stellt nun aber die unterschiedlichen Gattungen zugleich in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zueinander, demzufolge sich das Tragische im Lyrischen, das Lyrische im Epischen und das Epische im Tragischen vollendet.
72| Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä, Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 417. 73| Corssen: Die Tragödie als Begegnung zwischen Mensch und Gott, S. 147. 74| Vgl. Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960.
T RAGÖDIE UND L YRIK BEI H EGEL UND H ÖLDERLIN Der tragische Dichter tut wohl, den lyrischen, der lyrische den epischen, der epische den tragischen zu studieren. Denn im tragischen liegt die Vollendung des epischen, im lyrischen die Vollendung des tragischen, im epischen die Vollendung des lyrischen.75
Indem Hölderlin das Tragische als Vollendung des Epischen, das Lyrische als Vollendung des Tragischen und das Epische als Vollendung des Lyrischen darstellt, trägt er die Möglichkeit einer geschichtsphilosophischen Bestimmung der Kunst in die Gattungspoetik ein, die sich zugleich in seiner eigenen Werkgeschichte zu bestätigen scheint. Im Zeichen der Verknüpfung von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie bei Hölderlin entspricht dem Schritt von der Antike zur Moderne die Ablösung der griechischen Tragödie durch die hesperische Lyrik. So bezeichnet Hölderlin die Antigone im Vergleich zum tragischen Stil des Ödipus auch als im »Stil lyrisch«,76 da sich in ihr bereits der hesperische Geist der Moderne zeigt, der sein eigenes Werk bestimmt. Wie Peter Szondi herausgestellt hat, konstituiert sich Hölderlins späte Lyrik geradezu aus der Einsicht in das Scheitern der Tragödie in der Moderne. In der dichterischen Praxis entspricht dieser Lösung einerseits der Verzicht auf die Vollendung des klassizistischen Dramas Der Tod des Empedokles, das sowohl qua Drama wie auch ob seines Klassiszimus als der geschichtsphilosophischen Legitimität bar begriffen worden sein muß, andererseits die Schaf fung eines hymnischen Stils, in welchem die Konzeption der lyrischen Dichtart wie des hesperischen Stils Wirklichkeit wird.77
Im Unterschied zu Hegels Ästhetik, die der Aufeinanderfolge von Epos, Lyrik und Tragödie in der griechischen Dichtung an den Leitfiguren Homer, Pindar und Sophokles nachgebildet ist, deutet sich Szondi zufolge bei Hölderlin im Schritt vom Empedokles zu den späten Hymnen die bereits diskutierte Ablösung der Tragödie durch die Lyrik an. »Die Erkenntnis der Homburger Zeit bedeutet, daß – wenn man einen Vers des Empedokles abwandeln darf – es die Zeit des Epos nicht mehr ist, sondern die Zeit der Lyrik«,78 fasst Szondi die geschichtsphilosophischen und gattungspoetischen Implikation von Hölderlins Lehre der Dichtungsarten zusammen. In ähnlicher Weise betont Lacoue-Labarthe, es sei »tout autant indispensable de reconnaître que le lyrisme […] est, aux yeux de Hölderlin, le genre
75| Hölderlin: »Das untergehende Vaterland…«, Sämtliche Werke, Bd. 14, S. 172. 76| Hölderlin: »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig…«, Sämtliche Werke, Bd. 14, S. 186. 77| Peter Szondi: »Hölderlin-Studien«, in: Ders.: Schriften I. Frankfurt/Main 1978, S. 261–418, hier S. 372f. 78| Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Fietkau. Frankfurt/Main 1974, S. 182.
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moderne par excellence«.79 Vor dem Hintergrund der einleitenden Ausführungen zu Hegel scheint Hölderlin insofern eine andere Position zu verkörpern, als er zum einen den in Hegels Ästhetik nur angedeuteten Zusammenhang von Moderne und Lyrik im Rahmen einer Poetik als Theorie und Praxis der Dichtung umsetzt, zum anderen den Antagonismus von Kunst und Recht, der sich aus Hegels These vom Ende der Kunst ableiten lässt, aus der Perspektive der Kunst gestaltet. Wo Hegel sich mit dem Ende der Kunst ganz auf die Seite des modernen Rechts stellt, da orientiert sich Hölderlins Poetik der Moderne ganz an der Kunst, um von ihr zugleich politische Forderungen zu erheben. Vor diesem Hintergrund stellen sich aber zugleich kritische Fragen, die Hegels These vom Ende der Kunst wie das Verhältnis von Ästhetik und Recht und von Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin gleichermaßen betreffen.
6. N OCH EINMAL : H EGEL UND H ÖLDERLIN Den Ausgangspunkt der hier entfalteten Überlegungen bildete Hegels These vom Ende der Kunst, die weder als bloßes Gerücht noch als Verbot moderner Kunst verstanden werden sollte, sondern als die zunächst durchaus berechtigte Einsicht in die Partikularität moderner Kunst. Das eigentliche Problem, das sich in Hegels Ästhetik zeigt, ist demzufolge nicht das Ende der Kunst, sondern das damit verbundene Auseinandertreten von Kunst und Recht in der Moderne. Der doppelte Herrschaftsanspruch, den Hegel als Ästhetiker und Rechtsphilosoph über die Kunst behauptet, zeigt sich besonders deutlich in seiner Interpretation der Antigone als der Vollendung der Dichtung in der antiken Form der Tragödie und dem symbolischen Untergang des griechischen Rechtssystems. Indem Hegel aus der griechischen Tragödie zugleich die Geburt des modernen Rechts herleiten will, lässt er eine ästhetische Bestimmung der Moderne offen, die ihren Ausgangspunkt nicht vom Recht, sondern von der Kunst selbst nimmt. Hölderlin scheint dagegen genau der Denker zu sein, der die Lücke des Ästhetischen in Hegels System konsequent ausnutzt, um eine Poetik zu entwickeln, die zugleich die Grundlage einer eigenen Politik der Moderne wäre. Das Problem, das sich mit Hölderlins Lyrik öffnet, liegt aus Hegels Sicht wiederum in der unhintergehbaren Partikularität der modernen Kunst begründet: Eine Form der Dichtung, die wie Hölderlins späte Hymnen als Einspruch gegen falsche Versöhnungsleistungen und als poetische wie politische Unterbrechung des Bestehenden zu verstehen ist, liefert sich in ihrem Anspruch auf Souveränität selbst der Partikularität aus, die sie bestreiten möchte. Was Hegels Ästhetik jedoch nicht mit bedenkt, ist die Möglichkeit, dass die Dichtung das eigene Zerbrechen 79| Philippe Lacoue-Labarthe: »La césure du speculatif«, in: Friedrich Hölderlin: L’Antigone de Sophocle. Hg. v. Philippe Lacoue-Labarthe. Paris 1978, S. 183–223, hier S. 190.
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an der Partikularität in die Reflexion mit einbezieht und in der Form des Gedichtes selbst nachvollzieht. Hölderlins Poetik markiert insofern den Einsatzpunkt moderner Dichtung, als sie sich aus jener Spannung von Kunst und Recht herleitet, die Hegel aufgelöst zu haben glaubte, ohne jedoch die spezifisch modernen Bedingungen dichterischen Sprechens zu berücksichtigen. In Hölderlins eigener Darstellung erscheint die Lyrik zwar in der Tat als ein Paradigma der Moderne, welches die Tragödie ablöst. Die Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik, die Hegel und Hölderlin verbindet, kann jedoch nicht einfach unhinterfragt als Ausgangspunkt einer Poetik der Moderne gelten, die heute noch Anspruch auf Gültigkeit verkörpert. Zwar kann sie dazu beitragen, Hölderlins spezifische Position innerhalb der Moderne zu verorten. Die kritische Analyse muss sich aber zugleich von den idealistischen Vorgaben der Ästhetik lösen, um das Diktum vom Ende der Kunst als Einsicht in die Partikularität moderner Dichtung ernst nehmen zu können. Die Aufgabe der Poetik liegt daher weniger darin, die Lyrik gattungspoetisch als Paradigma der Moderne zur Geltung zu bringen, als vielmehr darin, ausgehend von der Spannung zwischen Partikularität und Souveränität der Dichtung in der Moderne die Verschränkung von Ästhetik und Recht zur Darstellung zu bringen, die schon Hölderlins Dichtung auszeichnet und so zu einem Neubeginn werden lässt, dessen Name Moderne lautet.
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Sakrale Ironie Zum Verhältnis von ›Gattung‹ und ›Stimmung‹ bei Sören Kierkegaard Angelika Jacobs
1. D ER S TIMMUNGSFAK TOR IN DER G AT TUNGSTHEORIE In den Debatten, die im 20. Jahrhundert um die Modernität des Werkes von Sören Kierkegaard (1813–1855) geführt werden, spielt die Frage nach der Gattungszugehörigkeit seiner Texte eine zentrale Rolle. Die komplementäre Frage nach der Rolle der Stimmungen wird jedoch vernachlässigt, obwohl diese um 1800 ins Zentrum der Episteme rücken: Stimmungen werden als wesentlich für das Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen erachtet (Kant), für das Ideal der Freiheit (Schiller), den Trieb zur Selbsttätigkeit (Fichte) und das subjektive Selbstverhältnis, das bei Hegel im Lyrischen zum Ausdruck kommt und neben die beiden Großgattungen Epos und Drama tritt.1 1799 führt Wilhelm von Humboldt das Stimmungskonzept als Basis einer allgemeinen literarischen Gattungstheorie ein, die von der Einbildungskraft als Zentrum des Produktionsprozesses ausgeht: Der Eintheilungsgrund aller wesentlich verschiedenen Dichtungsarten ist allein die Natur der dichterischen Einbildungskraft und des allgemeinen Zustandes der Seele, den sie in jeder einzelnen bearbeitet. Die Untersuchung dieser beiden Stücke, für sich und in ihrer Verbindung, giebt den Charakter der einzelnen Dichtungsart, die subjective Stim-
1| Grundlegend zum Stimmungskonzept um 1800: Caroline Welsh: Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800. Freiburg i.Br. 2003; David Wellbery: »Stimmung«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bdn. Stuttgart, Weimar 2000–2005, Bd. 5, S. 703–733; Thomas Pfau: Romantic Moods. Paranoia, Trauma, and Melancholy, 1790–1840. Baltimore: The Johns Hopkins UP 2005; Angelika Jacobs: Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal. Hamburg 2011.
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Bei Heinse, Herder und Hölderlin dient die Metaphorik von Ton und Stimmung, die zunehmend mit der Vorstellung eines in sich geschlossenen, selbsttätigen Organismus verbunden wird, der disziplinen- und gattungsübergreifenden Beschreibung energetischer Übertragungszustände und existenzieller Dynamiken. In dieser Funktion kann der Faktor ›Stimmung‹ die systematische Ordnung der Gattungen, welche die Regulierungsfunktion der alten Poetiken übernommen haben, erheblich ins Gleiten bringen. Die romantischen Poetologien betonen daher nicht nur die vorreflexive, ungerichtete Qualität der Stimmungen, sondern auch ihre Unbegrifflichkeit und Medialität: Als Phänomen des ›Grundes‹ bedingen sie das Denken, dessen logisch-theoretischem Zugriff sie sich entziehen.3 Diese Unverfügbarkeit stellt die Voraussetzung für das Oppositionsverhältnis von Gattung und Stimmung im Werk des Kopenhagener Theologen Sören Kierkegaard dar, der den Stimmungsfaktor in Frontstellung gegen das System bringt.
2. S TÖRFÄLLE DES S YSTEMDENKENS D AS B ÖSE UND DAS N ICHTS Kierkegaards Werke mischen disziplinenspezifische Gattungen nicht nur im Sinne eines offenen Austypologisierens, sie kreuzen sie dezidiert, um die epistemologische Ordnung zu stören. Diese Intention begründet den Unterschied zwischen der direkten Mitteilungsform der erbaulichen Schriften und der ›indirekten Mitteilung‹ der ›ästhetischen Schriftstellerei‹. Die dicht aufeinander folgenden ›ästhetischen‹ Werke der 1840er Jahre operieren fast durchgehend mit wechselnden Pseudonymen4 und jonglieren mit literarischen, philosophischen und theologischen Darstellungskonventionen, als ginge es darum, im dänischen Biedermeier einen epistemologischen ›Sturm und Drang‹ zu entfesseln. Ihre Darstellungsmodi privilegieren das Nichtdiskursivierbare und Performative, um das hegelianische Systemdenken zu attackieren, das vor allem Johan Ludvig Heiberg nach Kopenhagen 2| Wilhelm von Humboldt: Aesthetische Versuche über Goethe’s ›Hermann und Dorothea‹. 3. Aufl. Braunschweig 1861, S. 112; vgl. Angelika Jacobs: »›Durch Trennung zur Harmonie‹. Performative Funktionen des Stimmungskonzepts bei Kant und Wilhelm von Humboldt«, in: Hans-Georg von Arburg / Sergej Rickenbacher (Hg.): Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften. Würzburg 2012 (im Druck). 3| Pfau: Romantic Moods, S. 32. 4| Die Werke, die Kierkegaard der ›ästhetischen Schriftstellerei‹ zurechnet, entstehen in dichter Folge zwischen 1843 und 1846. Sie bilden den Kern des pseudonymen Werks, das auch erbauliche Reden (Predigten) umfasst.
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importiert, in der Absicht, die Gesprächskultur der Hauptstadt zu urbanisieren.5 Der junge Kierkegaard zählt zu Heibergs Bewunderern. Er versucht zunächst, im Kreis um den Philosophen und Theaterdichter zu reüssieren, erntet jedoch angesichts des sophistisch gespreizten, übertrieben dialektischen Stils seiner ersten Beiträge reichlich Spott und Unverständnis.6 Auch bei den Prüfern, die 1841 die Magisterdissertation Über den Begriff der Ironie begutachten, erregt die exzentrische Schreibart des Kandidaten Bedenken. Dass Kierkegaards ästhetische Durchbruchstexte dem Kopenhagener Hegelianismus ab 1843 zunehmend die Gefolgschaft verweigern, verdankt sich der Orientierung an dem Schriftsteller und Philosophen Frederik Christian Sibbern, dem Aristoteliker Friedrich Adolf Trendelenburg, vor allem aber an seinem akademischen Lehrer Poul Martin Möller (1795–1838), dem er 1844 seine wissenschaftlichste Schrift über den Angst-Begriff widmet.7 Der Theologe und Lyriker kritisiert den Hegelianismus als spekulatives Denken ohne Gefühl und kombiniert stattdessen den experimentellen Gestus psychologischer Beobachtung mit freieren ästhetischen, meist prosalyrischen Darstellungsformen. Möllers Hauptwerke von 1837 wenden sich explizit gegen das erfahrungsarme, geschlossene Weltbild der Systemphilosophie, das psychologische und theologische Zusammenhänge nicht adäquat erfasst. Die Persönlichkeitsphilosophie in der Abhandlung über Affektationen formuliert eine antisystematische »Hermeneutik des Verdachts«,8 welche die soziale Verformung und Entkernung der Person durch unbewusste Maskierungen und narzisstisch motivierte Anpassungsprozesse beschreibt. Auch die theologische Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele betont, dass die Singularität religiöser Erfahrung nicht unter allgemeine Begriffe zu bringen und logisch zu beweisen sei. Kierkegaard nimmt beide Impulse auf. Seine Kritik der Romantik ist als ethische Persönlichkeitskritik konzipiert 5| Heibergs Hegel-Vorlesungen präsentieren eine radikale Lesart der Phänomenologie des Geistes, in der nicht nur vom Ende der Kunst, sondern auch vom Tod der Religion die Rede ist. Zum Kopenhagener Hegelianismus s. Jon B. Stewart: Kierkegaard’s Relation to Hegel reconsidered. Cambridge: Cambridge UP (Modern European Philosophy) 2003 sowie ders.: A History of Hegelianism in Golden Age Denmark. 3 Bde. Kopenhagen 2007. 6| Henrik Hertz präsentiert etliche Parodien auf die manierierte Diktion des jungen Kierkegaard, der sich nur schwer von den Auswüchsen des dialektischen Epochenstils emanzipiert. Vgl. Joakim Garff: Sören Kierkegaard. Biografie. München 2004, S. 191–194. 7| Zur Orientierung an Möller s. Hermann Deuser: Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers. Darmstadt 1985, S. 6–14; zur Bedeutung von Sibberns organischem Denken s. ders.: »Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre (Ästhetik, Ethik, Religion)«, in: Paulus Engelhardt (Hg.): Glück und geglücktes Leben. Philosophische und theologische Unter suchungen zur Bestimmung des Lebensziels. Mainz 1985,: Matthias-Grünewald (Walberberger Studien, Philosophische Reihe. Bd. 7) S. 165–183; hier S. 168f. 8| Garff: Sören Kierkegaard, S. 122–130, hier S. 127f.
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und verfolgt Möllers Analyse des biedermeierlichen self-fashioning mit einer reichhaltigen Palette literarästhetischer Mittel aus dem romantischen Fundus weiter: Ausgefeilte Herausgeberfiktionen, Figuren selbstreferenzieller Verdoppelung und vor allem das ironische Grundverfahren zeugen vom Bestreben, die verborgenen inneren Antriebe der Persönlichkeit darzustellen und korrigierend auf sie einzuwirken. Kierkegaards Titel verweisen häufig auf das psychologische Experiment und kombinieren die empirische Beobachtung affektiver Zustände mit transdisziplinären Gattungsbestimmungen, um sich außerhalb des Systemdenkens zu verorten. Dieses hat sich (seit Kants Metaphysik) das theologisch-kosmologische Ordnungsideal der ›schönen Vollständigkeit‹ angeeignet und von der real existierenden Welt auf ein Kategoriensystem übertragen, dem alle Begriffe vollständig subsumierbar sein müssen. Anstelle der Vielfalt des Wirklichen avanciert die lückenlose Vollständigkeit des Möglichen zum Vollkommenheitskriterium: Sollen die Gattungen endlicher Dinge systematisch begreifbar sein, darf es keine Leerstelle geben, die den Übergang vom Einzelnen zum Ganzen und damit die Subsumierbarkeit unter die Ordnungen des Denkens gefährden würde. So bleibt die vollständige und regelmäßige Kategorientafel der Vernunft einer göttlichen Weisheit überlegen, die Ungereimtheiten, Planlosigkeit und das Böse zulässt. Dementsprechend wird der Akt des harmonischen Zusammenstimmens der erkennenden Vermögen zur Voraussetzung des kritischen Erkenntnisprozesses. Als Konsequenz der kantischen »Rücknahme aller weltbezogenen Intentionalität in die produktive Betätigung der eigenen Vorstellungskraft« bestimmt Hegels Ästhetik das geistige Bewusstsein als Medium, durch welches das Göttliche hindurchgeht, während die geistlose Welt »keine dem Göttlichen angemessene Erscheinung« darstellt: Die Schönheit einer perfekten Ordnung entsteht nurmehr durch geistige Teilhabe und spricht dem Denken die absolute Vermittlungsposition zu.9 Demgegenüber setzt schon Schleiermachers Rede Über das Wesen der Religion (1799) eine eigenständige »Gattung religiöser Gefühle« ins Recht: Die Systemsucht stößt freilich das Fremde [der Religion] ab, sei es noch so denkbar und wahr, weil es die wohlgeschloßnen Reihen des Eigenen verderben, und den schönen Zusammenhang stören könnte, indem es seinen Platz forderte.10
9| Die Ausführungen zur Umbesetzung des Gottesattributs der totalen Schönheit folgen Wolfgang Hübener: »›Malum auget decorem in universo‹. Die kosmologische Integration des Bösen in der Hochscholastik«, in: Albert Zimmermann (Hg.): Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte. Berlin, New York 1977, 1977 (Miscellanea mediaevalia 11) S. 1–26; hier S. 3–8 (Zitate S. 7). 10| Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hg. v. Günter Meckenstock. Berlin, New York 2001, S. 85.
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Das willensphilosophische Gegenprogramm, das »Hegels Logik schon vor ihrem Erscheinen erschüttert«11 und für Kierkegaards Generation wegweisend wird, entwirft Schellings Abhandlung über den Ursprung der menschlichen Freiheit (1809). Schelling will die von Kant hinterlassene Aporie des Bösen12 einer Lösung zuführen, indem er sie in das göttliche Sein integriert. Er ersetzt die angestammten Gottesattribute der Einheit und Ruhe durch Vielgestaltigkeit, Bewegung und disharmonische Gestimmtheit und lässt seine Schöpfungsgeschichte im Anschluss an Jakob Böhme von Gottes ›Sehnsucht‹ nach Selbstanschauung ausgehen. Die Entzweiungsstruktur liegt damit in Gott selbst und begründet seine Wandelbarkeit und Vielgestaltigkeit sowie die differenzielle Bewegung des Werdens in der Schöpfung. Sie ist das Agens des Grundes, der jeder existierenden Ordnung vorausliegt und dafür sorgt, dass in jedem Verstehen ein nie aufgehender Rest bleibt, der neues Werden provoziert. Diese transzendente Vorgeschichte ist dem menschlichen Denken unzugänglich und daher nur narrativ darstellbar. Wie in der Genesis liegt die Bedeutung des Menschen in seiner Fähigkeit, frei zwischen Gut und Böse zu wählen: Als Kreuzungspunkt zwischen göttlicher und natürlicher Ordnung, Geist und Willen ist er Schauplatz des Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen, dessen Überwindung die menschliche Selbstverklärung und die göttliche Selbstanschauung gleichermaßen befördert. Die menschliche Freiheit, Gottes Willen zu durchkreuzen, gründet in der Unabhängigkeit der Natur von Gott. Freiheit meint daher nicht Beliebigkeit, sondern ein Handeln gemäß den Gesetzen der menschlichen Gattung, das die Getrenntheit von Gott und die Option des Bösen impliziert: Als »umgekehrter Gott« kann der Mensch seinen Eigenwillen gegen den göttlichen Universalwillen ausspielen.13 Er agiert als Hauptdarsteller auf der Bühne eines kosmischen Dramas, das simultan auf den Ebenen Zeit und 11| Martin Heidegger: Schelling: ›Vom Wesen der menschlichen Freiheit‹ (1809). Freiburger Vorlesung im Sommersemester 1936. Hg. v. Hildegard Feick. 2., durchges. Aufl. Hg. v. Ingrid Schüssler. Frankfurt/Main.: Klostermann 1988 (GA II,26) / Bd. 42)ain 1995, S. 117. 12| Kierkegaards Kritik an Kants Theorie des Radikal-Bösen betrifft das Fehlen einer ontologischen Kategorie für das Nichtverstehen, die er im Paradox als dem Verhältnis von »existierendem, erkennendem Geist und der ewigen Wahrheit« postuliert: Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke (Anhang). Die Tagebücher. 5 Bde. Ausgewählt, neugeord. und übers. von Hayo Gerdes. Düsseldorf, Köln: Diederichs 1962–1974, (Bd. 1: 1962; Bd. 2: 1963, Bd. 3: 1968: Bd. 4: 1970; Bd. 5: 1974) Bd. 2, S. 79f. 13| Letzteres tut er, wenn er sich aus übersteigerter Selbst sucht das Attribut des Schöpferischen zumisst und sich den trügerischen Imaginationen seines begrenz ten Verstandes verschreibt: Sucht, Verführbarkeit und Selbstvergot tung sind schon bei Schelling die Prozesse, in denen das Subjekt seine Abhängigkeit vom göttlichen Ganzen leugnet und sie in der Angst als Wiederkehr des Verdrängten erfährt. Als Korrek tiv wird das bedingungslose Zutrauen zu Gott genannt, das sich als Ernst und Strenge der Gesinnung äußert.
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Ewigkeit spielt. Schelling denkt den Menschen vom verborgenen Grund des Existierens her und rückt ihn aus dem Zentrum der Selbstübereinstimmung (dem stimmungslosen Bezug zur Ewigkeit) in einen Zustand dezentrierender Angst, die als unhintergehbare, nicht diskursivierbare Gestimmtheit gedacht ist.14 In der Angst manifestieren sich der disharmonische Bezug zur eigenen Endlichkeit und die transzendentale Vergangenheit der Schöpfung. Dieses ontotheologische Narrativ, in dem der ›dunkle Grund‹ der humanen Persönlichkeit15 einem in sich entzweiten, vielgestaltig werdenden Gott zur Selbstanschauung verhilft, stellt die Weichen für die Anthropologisierungen der 1840er Jahre, wo Kierkegaards Analytik von Angst und Verzweiflung neben den Religionskritiken von Feuerbach und Engels steht.16 Im Wesen des Christentums (1841) heißt es: Ich bin – ist Sache des Herzens, ich denke – Sache des Kopfes. Cogito ergo sum? Nein, sentio ergo sum. Fühlen ist nur mein Sein. Denken ist mein Nichtsein, Denken ist die Position der Gattung, die Vernunft das Nichts der Persönlichkeit. Denken ist ein geistiger Selbstbegattungsakt, der populäre Beweis ist die Sprache.17
Kierkegaard teilt Feuerbachs systemkritische These vom Ausschluss der Persönlichkeit aus dem Denken. Wo Feuerbach jedoch den Gottesbezug in den immanenten Bezug zum Du und zur Glückseligkeit der menschlichen Gattung hineinnimmt,18 setzt er auf das transzendente Verhältnis des Einzelnen zu Gott. Anders als Schelling, der Freiheit noch im Kontext der Selbstvermittlung der Vernunft denkt, gibt er den idealistischen Vorrang des Denkens gegenüber dem Sein auf. Dem johanneischen Ansatz Kierkegaards zufolge erfordert die Realisierung des ewigen Geistes im Einzelnen eine Doppelbewegung entobjektivierender, weltentsagender 14| Friedrich Wilhelm Josef Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Frankfurt/Main 1975, S. 74, 78. Der impliziten Gefahr einer Selbst zerstörung der Vernunft begegnet Schelling mit dem Verweis auf ihren Einheitscharakter, den die ›positive Philosophie‹ der Mythologie und Offenbarung ausbuchstabiert. Zu Kierkegaards Schelling-Rezeption s. Jochem Hennigfeld u. Jon Stewart (Hg.): Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit. Berlin, New York 2003; zu Kierkegaards stark verzerrender Hegel-Lektüre s. Lore Hühn: »Sprung im Übergang. Kierkegaards Kritik an Hegel im Ausgang von der Spätphilosophie Schellings«, ebd., S. 133–183. 15| Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der Freiheit, S. 104: »Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde, der also allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.« 16| Die anthropologische Umschrift der Gottesprädikate samt den Bezügen zu Schelling und Böhme findet sich ebd.: Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. 5 Bde in 21 Teilbdn. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer. Berlin: Akademie 1967–2004, Bd. 5. 17| Ebd., S. 475. 18| Ebd., S. 469.
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Verinnerlichung und reobjektivierender Rückwendung auf die Welt im konkreten Handeln. Daher sind auch seine Schriften ›doppelt reflektiert‹: Sie zielen auf den theoretischen Nachweis und zugleich auf die subjektiv-praktische Aneignung des Glaubensproblems und verschärfen damit den kantisch-fichteschen Primat der praktischen Vernunft.19 Dies hat einschneidende Konsequenzen für das Verfahren der ›indirekten Mitteilung‹, das von der Frage ausgeht, mit welchen Mitteln ein religiöses Selbstverhältnis unter den Bedingungen der epochalen Transzendenzvergessenheit herzustellen sei.
3. »H INEINTÄUSCHEN IN DAS W AHRE « D ER I RONIE - UND Z EICHENCHAR AK TER › INDIREK TER M IT TEILUNG ‹ In seinen Bilanzen Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1851) und Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (postum 1859) benennt Kierkegaard das Verhältnis von Religion und Reflexion als Movens seiner Autorschaft, die den Leser »ohne Vollmacht« dogmatischer oder prophetischer Art auf ein Selbstverhältnis im christlichen Glauben hin orientieren will. Die Aufmerksamkeit auf religiöse Fragen muss allerdings erst geschaffen werden: Indes unter dem alles umfassenden Gesichtspunkt der gesamten Wirksamkeit als Schriftsteller, ist die ästhetische Schriftstellerei eine Täuschung: dies eine tiefere Bedeutung der ›Pseudonymität‹. Aber eine Täuschung, das ist ja ein häßlich Ding. Darauf würde ich antworten: man lasse sich von dem Wort ›Täuschung‹ nicht täuschen. Man kann einen Menschen täuschen über das Wahre, und man kann, um an den alten Sokrates zu erinnern, einen Menschen Hineintäuschen in das Wahre. Ja, eigentlich vermag man einzig und allein auf diese Weise einen Menschen, der in einer Einbildung befangen ist, in das Wahre hineinzubringen, dadurch nämlich, daß man ihn täuscht. […] Es ist nämlich ein großer Unterschied zwischen diesen beiden Verhältnissen: Einer, der unwissend ist und dem ein Wissen beigebracht werden soll, so dass er also dem leeren Gefäß gleicht, das gefüllt, oder dem Blatt Papier, das beschrieben werden soll – und einer, der in einer Einbildung befangen ist, welche vorerst fortgenommen werden soll; so ist denn auch ein Unterschied zwischen dem Beschreiben eines Stücks weißen Papiers – und dem Ätzmittel brauchenden Hervorrufen einer Schrift, die unter einer anderen Schrift sich versteckt. Angenommen nun, einer sei in einer Einbildung befangen, […] 19 | Sören Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Hg. v. Hermann Diem und Walter Rest. München 2005: Deutscher Taschenbuch Verlag (künftig im Text als B und UN zitiert), S. 96 u. ö.; Edith Düsing: »Krisen der Selbstgewißheit in Kierkegaards Konzeption der Existenz-Stadien«, in: Klaus Held u. Jochem Hennigfeld (Hg.): Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke. Würzburg : Königshausen & Neumann1993, S. 213–240, hier S. 215, 233; vgl. Deuser: Kierkegaard, S. 40–43.
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A NGELIKA J ACOBS wenn ich da nicht damit beginne, daß ich täusche, so beginne ich also mit unmit telbarer Mitteilung. Aber unmittelbare Mitteilung setzt voraus, daß beim Empfänger alles in Ordnung ist fürs Empfangenkönnen; aber hier ist das eben nicht der Fall, hier ist ja eine Einbildung im Wege. Das will sagen, hier muß vorerst ein Ätzmittel gebraucht werden; aber dies Ätzende ist das Negative, jedoch in Beziehung auf Mitteilen ist das Negative haargenau das Täuschen. ›Täuschen‹ – was will das denn sagen? Es will sagen, dass man nicht unmittelbar mit dem beginnt das man mitteilen will, sondern damit beginnt die Einbildung des andern für bare Münze zu nehmen.20
Kierkegaard definiert die sokratische Maieutik (das ethisch-rhetorische »Hineintäuschen in das Wahre«) und das »Ätzmittel« der Negativität, das die pathogenen Strukturen der Psyche wie ein Pharmakon zutage fördert, als Grundkomponenten indirekter Mitteilung. Den epistemologischen Bezugsrahmen dieser Kur erarbeitet schon die Magisterdissertation über die Ironie, die im Rekurs auf den historischen Sokrates eine Kritik der romantischen Autonomieästhetik formuliert. Friedrich Schlegel, Tieck und Solger werden im Anschluss an Hegels Romantikkritik als falsche Metaphysiker entlarvt, die das Dasein als poetisches Spiel mit unendlichen Möglichkeiten auffassen. Dieses unverbindliche ›Spiel mit dem Nichts‹ kann nicht befreiend wirken, weil es den religiösen Fragen von Sterblichkeit und Schuld aus dem Weg geht und damit den Kontakt zur Wirklichkeit suspendiert. Die einzig verbleibenden Kohärenzmerkmale der romantischen Persönlichkeit sind Langeweile und flüchtige Stimmungswechsel, was vor allem die Kritik an der Liebeskonzeption in Schlegels Lucinde demonstriert. Dagegen macht die sokratische Ironie erstmals auf den fehlenden Existenzbezug und die Bedeutung der Person für das Philosophieren aufmerksam. In ihrer Unbeständigkeit und Polyperspektivik wirkt sie zwar ebenso vernichtend wie die romantische, ist aber im Unterschied zu ihr auf das Erkennen im personalen Dialog und den ethischen Zugang zum Handeln ausgerichtet. Anstatt den Menschen wie der Mythos als abhängig vom göttlichen Gesetz zu betrachten, eröffnet sie den Zugang zu einem subjektiven Wahrheitsbegriff und zum Existenz- und Handlungsbezug des Denkens. Die Ironie suspendiert die logischen Schemata der Philosophie, indem sie zeigt, dass diese vom Tod und vom Ursprung des Seins nichts wissen kann.21 Als reine Negation, die jede Position durch Strukturen der Unentscheidbarkeit ins Ungewisse führt, bringt sie den Einzelnen vor die ungewissen, richtungslosen Stimmungen seines Existierens und verursacht semiotischen Schwindel. In 20| Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke, 42 Abt. Hg. v. Emanuel Hirsch u. Hayo Gerdes. Köln, Düsseldorf seit 1950, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn seit 1979, Bd. 33, S. 48f.; vgl. ebd., S. 6. 21| Ebd., Bd. 31 (Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, künftig im Text als BI zitiert), S. 46, 49 u. ö. Kierkegaard spricht vom Zugang zur »unbestimmbaren Bestimmung des reinen Seins« (ebd., S. 46) und weist der Ironie die Schlussfigur des ›aut – aut‹ zu, die der Titel Entweder – Oder aufnimmt.
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Kierkegaards systemkritischer Perspektive wird die sokratische Ironie zur epistemologischen Position: Sie schafft die Leerstelle, welche die Vollständigkeit des Systemdenkens und die Möglichkeit dialektischer Mediation durchkreuzt und jede Logik der Identität und Präsenz stört. Indem sie eine freie, aber autosubversive Innerlichkeit produziert, die zu keinem Schluss und keiner stabilen Personalität kommt, macht sie die rhetorische Verfasstheit von Denken und Identität bewusst. So gelangt die auf ihre existenziellen Stimmungen zurückgeworfene Subjektivität zu einem Bewusstsein ihrer Grenzen und Abhängigkeiten, das dem tremendum et fascinosum religiöser Demut nahe steht.22 Da die sokratische Ironie den Einzelnen für Kierkegaard in ein quasi-religiöses Selbstverhältnis stellt, avanciert sie zum performativen Grundmodus seiner indirekten Mitteilung, die (wie schon bei Johann Georg Hamann)23 Bedeutung und Wirkung der Sprache gegeneinander ausspielt, um den Einzelnen vor den ›Ernst‹ des Existierens und Handelns zu bringen. Die Leitdifferenz der Dissertation – Ironie, Sein und Stimmung versus Philosophie, Denken und Begrifflichkeit – rekurriert auf Grundlagen der romantischen Ironie, die Kierkegaard stillschweigend um ihre transzendentale Dimension verkürzt. Schon Friedrich Schlegel charakterisiert die sokratische Ironie als theatrale Anti-Philosophie, welche die exzentrische Perspektive auf das Spiel des Daseins vermittelt: Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren möchte: denn überall wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker hielten die Urbanität für eine Tugend. Freilich gibts auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabne Urbanität der sokratischen Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine alte Tragödie in hohem Styl. Die Poesie 22| Der Ironieschrift zufolge schafft Sokrates weder ein positives Weltverhältnis und eine philosophische Position noch entwickelt er eine kohärente Persönlichkeit, so dass Platon sein Ideal eigens konstruieren muss (ebd., Bd. 31, S. 228). In Christus ist dagegen die Fülle des Gottesverhältnisses präsent und kann unmittelbar geschaut werden, ohne dass sie eigens erschaffen werden müsste. Sokrates erscheint daher in der Ironieschrift nur als schemenhafte Präfiguration Christi. Drei Jahre später, in den Brosamen, wird das frühe Postulat der unmittelbar transparenten Präsenz Christi jedoch in sein genaues Gegenteil verkehrt: Die Göttlichkeit Christi äußert sich im Paradox des ›Gottes in der Zeit‹, der inkognito bleiben muss. Die Paradox-Christologie der Nachschrift bleibt unvollendet und wird vom Konzept der ›heiligen Geschichte‹ (Einübung ins Christentum, 1850) überschrieben. Diese Positionswechsel und die Bezüge zu Lessing erörtert Hermann Fischer: Die Christologie des Paradoxes. Zur Herkunft und Bedeutung des Christusver ständnisses Sören Kierkegaards. Göttingen 1970, bes. S. 22ff., 56ff. 23| Vgl. Deuser: Kierkegaard, S. 55. Hamann ist vor Schleiermacher und Hegel derjenige Verfechter sokratischen Philosophierens, der den sokratischen Ansatz auch stilistisch umsetzt.
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A NGELIKA J ACOBS allein kann sich auch von dieser Seite bis zur Höhe der Philosophie erheben, und ist nicht auf ironische Stellen begründet, wie die Rhetorik. Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Bouffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italienischen Buffo.24
Schlegel bezeichnet den ironischen Grundgestus des Heraustretens aus der Ordnung, der das Programm der progressiven Transzendentalpoesie begründet, auch als permanente Parabase. Damit unterstreicht er dessen performativen Charakter: Die antike Parabase unterbricht die Illusion der Komödie dadurch, dass sich der Chor mit der kritischen Kommentierung und Deutung des Geschehens direkt an das Publikum wendet, um beim Zuschauer einen aktiven Reflexionsprozess in Gang zu setzen. Vergleichbare Strukturen weist der platonisch-sokratische Dialog auf, den Kierkegaard wegen seiner »mimischen« Veranschaulichung philosophischer Probleme hochschätzt.25 Für die Frühromantiker erfüllt das Unterbrechungsprinzip die poetologische Funktion, den Prozess des Generierens von Gattungen voranzutreiben: Die getrennten Genera der Poesie und des Denkens sollen sich selbst reflexiv überschreiten und im Rekurs auf den poetischen Grund der Sprache auf die utopische Wiedervereinigung mit allen anderen Gattungen zu bewegen, indem sie ein Genus im anderen sprechen lassen (die Poesie in der Prosa, das Leben in der Philosophie etc.).26 Als epistemologische Figur ermöglicht die Parabase dem entzweiten Subjekt die Herrschaft über die Parameter der Repräsentation um den 24| Friedrich Schlegel: 42. Lyceum-Fragment, zit. bei Ernst Behler: Ironie und literarische Moderne. München, Paderborn u. a. 1997, S. 46; zu Kierkegaards misreading der romantischen Ironie im Anschluss an Hegel ebd., S. 157–181. 25| Einige pseudonyme Werke führen das Mimische im Titel. Zur Parallelität von platonischem Schrift-Dialog und dramatischem Chor s. Heinz Hiebler: »Tuning in. Zur Medienästhetik der Stimmungen« [Vortragsskript 2010, 12 S.], S. 4f.: »Indem er seiner Philosophie den literarischen Anschein der Dialogizität, des Zwiegesprächs, verleiht, entwirft Platon mit den Mitteln der Schrift ein auf die Optimierung der Rede zielendes Dispositiv multiperspektivischer Beredsamkeit und Unmittelbarkeit. Als Denker und Ästhet entwickelt er eine performative Schreibweise, in der abstrakte philosophische Probleme auf dem Weg der Kontextualisierung, Theatralisierung und Personalisierung stimmungsvoll und emotional abgehandelt werden können. Der vorherrschende philosophische Ton der Stimmung wird bei Platon durch die skeptische Grundhaltung von Sokrates vorgegeben; im antiken Theater übernimmt der Chor diese gesellschaftstragende Rolle, indem er die teils krankhaften Grundstimmungen der Protagonisten (wie z. B. Elektra oder Ödipus) kommentierend relativiert und korrigiert.« 26| Werner Hamacher: »Der Satz der Gattung. Friedrich Schlegels poetologische Umsetzung von Fichtes unbedingtem Grundsatz«, in: Modern Language Notes 95 (1980), S. 1155–1180, hier S. 1158, 1174, 1178f. Die Parabase ist für die Meta-Gattung des
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Preis der Distanzierung und Fragmentierung, indem sie den literarischen Text durch illusionsbrechende, sprachkritische Figuren der Selbstreferenz prägt. Für die nötige Anschaulichkeit und Kohärenz sorgt dagegen das Integrationsschema der Prosopopöie, das seinerseits darauf verweist, dass der Prozess der Text-, Gattungs- oder Personbildung durch die figurativen Mittel der Rhetorik erreicht wird und Konstruktcharakter hat.27 Parabase und Prosopopöie stellen die de- und remaskierenden Bewegungen eines Sprechens dar, das ironisch über sich hinaus auf seine unverfügbaren Voraussetzungen und Ziele verweist und in diesem Sinne »ΉΔΈΉΒΖȱ[epideixis] der Unendlichkeit, d[er] Universalität, vom Sinn des Weltalls«28 ist. Feuerbach und Kierkegaard betonen im Bezug auf die Bibel je eine Seite des Janusgesichts romantischer Rhetorizität. Feuerbachs Religionskritik geht davon aus, dass die abstrakten Ziele der menschlichen Gattung im Glauben an Gott personifiziert werden. Dementsprechend steht die Leseund Verstehensfigur der Prosopopöie im Vordergrund. Sie erklärt, dass und wie das Undarstellbare der Gattung sich in der Bibel als Offenbarung einer ›göttlichen Stimme‹ veranschaulicht und löst damit das Problem widersprüchlicher und inkohärenter Überlieferungen anthropologisch.29 Kierkegaard setzt dagegen auf die Parabase und wertet den inhomogenen Charakter der Bibelüberlieferungen zur transzendenten Semiotik um: Ein neuer Beweis für die Göttlichkeit der Bibel. Bisher ist man damit folgendermaßen verfahren: Man hat gesagt: die heilige Schrift ist eine göttliche Offenbarung, inspiriert u. s. w. deshalb muß da eine vollständige Harmonie zwischen allen Nachrichten sein, bis hin zur kleinsten Unbedeutendheit, es muß das vollkommenste Griechisch sein u. s. w. Gott weiß doch genau, was es ist zu glauben, was das sagen will, den Glauben zu fordern, daß es heißt, die unmittelbare Mitteilung zu negieren und eine Doppelung zu setzen. Schau, das bestätigt sich. Genau deshalb, weil Gott will, daß die heilige Schrift ein Gegenstand für den Glauben werden soll, und zum Ärgernis für jede andere Betrachtung, genau deshalb ist dort mit Fleiß für diese Unübereinstimmungen gesorgt (die sich in der Ewigkeit leicht auflösen können in Übereinstimmungen), deshalb ist es ein schlechtes Griechisch u. s. w. […].30 Romans konstitutiv, der sich als absolutes Buch im Zusammenspiel von Reflexion und Einbildungskraft über das Gegebene erheben und auf die Utopie zu bewegen soll. 27| Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist, Kafka. München 2000. 28| Auch Solger definiert die Ironie als »Stimmung, worin die Widersprüche sich vernichten und doch eben dadurch das Wesentliche für uns erhalten«; beide Zitate in Hans Feger: Poetische Vernunft. Moral und Ästhetik im deutschen Idealismus. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 511. 29| Feuerbach: Werke, Bd. 5, S. 469f. u. ö. 30| Papirer X 3 A 328 (1850), zit. bei Mariele Nientied: »Hineintäuschen in das Wahre«. Kierkegaard und Wittgenstein. Berlin, New York: de Gruyter (Kierkegaard Studies, Monograph Series. Bd. 7) 2003, S. 355.
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Anstelle einer historisch-hermeneutischen Erklärung der vorhandenen Brüche und Inkohärenzen wird der disharmonische Zustand der Bibel zum Ausweis für ihren Offenbarungsstatus erhoben. Er wird zur wirkungsästhetischen List Gottes erklärt, die den Rezipienten über die Parabase des ›Ärgernisses‹ zu aktiver Aneignung zwingt. Damit legitimiert sich die Negativität der indirekten Mitteilung aus der vollmächtigen Mitteilung der Bibel, genauer: aus der spezifischen Wirklichkeitsdarstellung des Alten Testaments, die der frühe und mittlere Kierkegaard bevorzugt. Die alttestamentlichen Erzählungen tendieren zu lückenhafter Motivation und hoher Komplexität, da sie ihre Deutung nicht unmittelbar, sondern aus der Distanz der heilsgeschichtlichen Entwicklung erfahren; sie erregen mehr Spannung und Affekt als der Mythos, bleiben oft dunkel und bilden keine klar getrennten, in sich geschlossenen Gattungen aus.31 Bei Kierkegaard stellen sie den wirkungsästhetischen Ausgangspunkt eines fragmentarischen christlichen Pathoskonzepts dar, das er in Berufung auf Lessing und Schelling gegen die historischen Paradigmen des sich selbst vervollkommnenden Weltgeistes und der Leben-Jesu-Forschung ins Recht setzt. Dabei rekurriert er auf den Gedanken der prozessualen Selbstexplikation Gottes in der Geschichte des Alten Bundes aus Schellings Freiheitsschrift, den dieser 1841 in den Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung weiter entwickelt. Kierkegaard, der den Beginn der Vorlesungen verfolgt, affirmiert den Grundgedanken, dass Gottes Offenbarung sich in temporaler Differenzialität, im Modus des Sich-Vervielfältigens und Sich-selbst-Ungleichseins ereigne. In der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den »Philosophischen Brosamen« (1846) unterscheidet er in Anlehnung an Schellings religionsgeschichtliche Phänomenologie eine heidnisch-immanente Religiosität A von der christlich-transzendenten Relgiosität B. Darüber hinaus spricht Johannes Climacus (das Pseudonym der Brosamen (1844) und der Nachschrift) der Geschichte die Möglichkeit ab, den Glauben durch faktische Beweise abzusichern, und beruft sich dabei auf Lessings Problematisierung des Verhältnisses von Glauben und Geschichte. Die fragmentarische Christologie der Nachschrift ersetzt das systematische Denken in Ursprüngen und Folgewirkungen durch das Performativ der existenziellen Bewegung.32 Sie beschreibt den Übergang vom Zufällig-Historischen ins 31| Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 7. Aufl. Bern, München: Francke (Sammlung Dalp. Bd. 90) 1982, S. 5–27 (»Die Narbe des Odysseus«). Der Vergleich des homerischen und des alttestamentlichen Stils ist vor allem für den Mythos modifiziert worden. Die kulturgeschichtliche Eigenart der alttestamentlichen Bücher besteht nach Auerbach im Bezug zu einem in Gänze nicht repräsentierbaren weltgeschichtlichen Prozess, dessen transzendente Orientierung für die Hintergründigkeit und geschichtliche Komplexität der Texte verantwortlich ist und die Entstehung eigenständiger Gattungen verhindert (ebd., S. 23). 32| Das Performativ der Existenzbewegung entwickelt Die Wiederholung (1843); dazu s. Elisabeth Strowick: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud. Stuttgart, Weimar 1999.
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Ewige ohne Zuhilfenahme logischer und kausaler Kategorien als qualitativen Sprung ohne Ursprung, der letztlich eine Veränderung der existenziellen Stimmung meint. Schon im Begriff Angst (1844) wird der Sündenfall als Übergang von der Unschuld des ›träumenden Geistes‹ in das angstbesetzte, reflektierende Bewusstsein der Sünde dargestellt. Mit dem Opfer Christi ist die Möglichkeit des Übergangs zurück in die Liebe und Gnade Gottes gegeben. So wie die Bibel nicht als harmonische Offenbarung, sondern im maieutischen Modus indirekter Mitteilung spricht, erscheint Christus in der Argumentation der Nachschrift nicht präsentisch, sondern inkognito.33 Sein göttliches Wesen muss aus den disparaten Bruchstücken seiner Existenz in subjektiver Aneignung erschlossen und im inneren Entschluss zum ›Sprung in den Glauben‹, ohne die Sicherheit des historischen Beweises, affirmiert werden. Diesen Ansatz buchstabiert die erbauliche Einübung ins Christentum (1850) semiotisch aus. Kierkegaard unterscheidet hier die unmittelbar präsente Komponente des Zeichens von der ihm zugeschriebenen Bedeutung (»Reflexionsbestimmung«). Der maieutische Effekt, »den Empfänger selbsttätig werden zu lassen«,34 entsteht durch die schier undenkbare Diskrepanz von unmittelbarer und zugeschriebener Bedeutung: Christus ist zugleich »nichts« (Mensch) und »das Unbedingte« (Gott).35 Da erst das Paradox des existierenden ›Gottes in der Zeit‹ den Einzelnen in einen Prozess reflexiver Selbstoffenbarung bringt, darf seine Botschaft keine verständliche Mitteilung sein: Und das vermag nur das Zeichen des Widerspruches: es zieht die Aufmerksamkeit auf sich, und dann hält es einen Widerspruch vor Augen. Da ist etwas, das macht, daß man es nicht lassen kann, hinzusehn – und sieh, indem man sieht, sieht man wie in einen Spiegel, man gelangt dazu, sich selber zu sehn, oder auch: er, der des Widerspruches Zeichen ist, sieht einem unmittelbar ins Herz, indes man hineinstarrt in den Widerspruch. Ein Widerspruch, einem Menschen unmittelbar gegenübergestellt – und wenn man ihn dann dazu kriegt, darauf hinzusehen: das ist ein Spiegel; indem der Sehende urteilt, muß es offenbar werden, was in ihm wohnt. Es ist ein Rätsel; aber indem er es zu raten sucht, wird es offenbar, was in ihm wohnt, dadurch, worauf er rät. Der Widerspruch 33| Während Der Begriff Ironie die unmittelbare Transparenz der Göttlichkeit Christi gegen die Apersonalität des Sokrates ausspielt, ist Sokrates in der Nachschrift ebenso Anlass, sich der Wahrheit zu erinnern, wie Jesus, dessen Opfer die Menschen an ihre Schuld und Abhängigkeit erinnert und als Gabe göttlicher Liebe die Bedingungen für ihr ›Umgeschaffenwerden‹ herstellt. Anamnesis und christliche Erinnerung müssen folglich immer wieder gegeneinander abgegrenzt werden. 34| Kierkegaard: Werke, Bd. 26 (Einübung im Christentum, künftig im Text als EC zitiert), S. 119 (zweite Einübung, § 1: Der Gott-Mensch ist ein Zeichen); vgl. ebd.: »Zeichen sein heißt, außer dem, was man unmittelbar ist, zugleich etwas anderes sein, das in Widerstreit zu dem steht, was man unmittelbar ist. So mit dem Gott-Menschen. Unmittelbar ist er ein einzelner Mensch, ganz wie andere Menschen, ein geringer, unansehnlicher Mensch; aber nun der Widerspruch, daß er Gott ist.« 35| Ebd., S. 62 (Einübung ins Christentum Nr. 1).
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A NGELIKA J ACOBS stellt ihn vor die Wahl, und indem er wählt, und zugleich in dem, was er wählt, wird er selbst offenbar. (EC, 121)
Kierkegaard ist hier bemüht, die Worte und Wunder Jesu aus dem Status allgemeinverständlicher Unmittelbarkeit herauszudefinieren. Sie sollen die Funktion des Anlasses erfüllen, der Aufmerksamkeit erregt und die Auseinandersetzung mit dem Rätsel der Offenbarung initiiert. Weder der Nachweis spektakulärer Wunder, der Christus zu einer historischen Größe unter vielen machen würde, noch der Beweis seiner realhistorischen Existenz oder einer kohärenten Lehre können als Gewissheiten im Bezug auf den Glauben dienen. Das Christentum ist kein Gegenstand historischen Wissens oder philosophischer Spekulation, sondern ungewisse Existenzmitteilung im Modus der Stimmungen nach dem oralen Schema von Anruf und Antwort.36 Daher bewirkt die Aneignung dieser Botschaft, die der freien Entscheidung des Einzelnen obliegt, eine Verwandlung der Person.37 Hier wird das Bemühen Kierkegaards programmatisch, durch »Einklammerung von Wissen und Faktizität eine ursprüngliche Fragesituation zu gewinnen«:38 Kierkegaard öffnet sich dem Phänomen, daß das Denken Stimmungen ausgesetzt ist, aus denen heraus es seine Bestimmungen trifft, Stimmungen, über die es selbst nicht verfügt. […] Die Dialektik, wie Kierkegaard sie versteht, läßt dem Denken nichts als die Tatsache, daß es denkt, seine bloße Existenz. / In ihr hat, anders als in Descartes’ ›Ich denke, ich bin‹, das Denken jeden eindeutigen Begriff von sich selbst verloren. Es kann darum nichts mehr aus sich selbst begründen, es kann nur noch beobachten. Kierkegaard stellt das Philosophieren, was erst im 20. Jahrhundert voll zum Zug kommt, vom Begründen auf das Beobachten um.39
Im Folgenden soll textnah gezeigt werden, wie Kierkegaard das ironischrhetorische Performativ der Stimmung nutzt, um die Gattungen des diskursiven Denkens zu subvertieren. 36| Ulrich Lincoln: »Rede und Resonanz. Zur Bedeutung einer lebensweltlichen Rhetorik des Christlichen bei Sören Kierkegaard«, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 48 (2007), S. 424–444, hier S. 439–444. 37| Die Ungleichheit zwischen Mensch und Gott ist so groß, dass Gottes Liebe zu ihm als unglücklich bezeichnet wird; sie kann nur durch das Sohnesopfer überwunden werden, das den Lernenden in seiner Andersartigkeit belässt und dem Menschen die Freiheit einräumt, sich für die Nachfolge Christi zu entscheiden. 38| Fischer: Christologie des Paradoxes, S. 84. Die erste Einübung spricht von der ›Gleichzeitigkeit‹ zu Christus. Die Eskamotierung des Geschichtlichen als Beweisgrund für den Glauben wendet sich gegen Hegels historische Spekulationen, ohne dass dies eine generelle Leugnung historischer Kontingenz implizieren würde. 39| Werner Stegmaier (Hg.): Hauptwerke der Philosophie von Kant bis Nietzsche. Stuttgart: Reclam (Interpretationen. Reclams Universalbibliothek 8743) 1997, S. 325– 366; Zitat S. 328f.
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4. H EGELIANISCHE K ONTR AFAK TUREN ›S TIMMUNG ‹ UND ›V ORWORT‹ ALS A NTI -G AT TUNGEN Das Verfahren der indirekten Mitteilung, das auf dem Gestus der Unterbrechung durch ironische Verkehrung basiert, ist schon für den frühen Großerfolg Entweder – Oder (1843) strukturgebend. Hier stehen sich die ästhetische und die ethische Existenzhaltung gegenüber, die durch eine verschachtelte Herausgeberfiktion in einen unabgeschlossenen Dialog miteinander gebracht werden. Der anonyme Ästhetiker (A) verkörpert die romantische Flucht in die poetische Entgrenzung. Er wendet ewige Kategorien auf endliche Phänomene an und lebt in einem Grundgefühl tiefster Melancholie und nihilistischer Langeweile. Seine Aufzeichnungen bestehen aus losen Papieren voll pathetischer Rhetorik, aber ohne personale Struktur, wie sein Alter Ego, der Ethiker (B) tadelt, der den leidenschaftslosen Typ des spießbürgerlichen Ehemanns verkörpert. Der Kontrast zwischen A und B kulminiert im konträren Umgang mit Stimmungen, in denen sich das Verhältnis zur Zeitlichkeit des eigenen Existierens offenbart. Gerichtsrat Wilhelm (B) tadelt die Stimmungssucht des Ästhetikers als exzentrisches Leben im Augenblick, das die Persönlichkeit aushöhlt und die Ausbildung einer kohärenten Lebensanschauung verhindert.40 Ihm zufolge ist der Ästhetiker Stimmung, während der Ethiker sie hat, indem er sich bewusst zu ihr verhält. A versinkt in Langeweile, während B sich immer neu für die Bindungen entscheidet, in denen er lebt. Auf diesem Akt bewusster Wahl beruht die Ausgeglichenheit und Kontinuität seines Selbst,41 die jedoch zur routinehaften Erstarrung tendiert. Sein genauer Antityp ist der Autor des Verführertagebuchs, das sich unter As Papieren findet. Obwohl A sich von dieser perfiden Geschichte distanziert, wird er vom Herausgeber wegen der identischen »Stimmung« der Aufzeichnungen zum designierten Verfasser erklärt. ›Ton‹ und ›Stimmung‹ sind die stilistischen Identifikationsmerkmale der losen Papiere 40| Die ethische Lebensanschauung stellt das zentrale Kriterium der Literaturkritik Kierkegaards dar, wie die scharf polarisierenden Rezensionen zu Hans Christian Andersen und Thomasine Gyllembourg zeigen. 41| Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. München 1998, S. 791f.: »Wer ästhetisch lebt, sucht nämlich so weit wie möglich ganz und gar in Stimmung aufzugehen, er sucht sich ganz und gar in ihr zu verbergen, dass nichts in ihm bleibe, was nicht mit in sie eingebogen werden könnte […]. Je mehr also die Persönlichkeit in der Stimmung hindämmert, um so mehr ist das Individuum im Moment, und dies ist wiederum der adäquateste Ausdruck für die ästhetische Existenz: sie ist im Moment. Daher die ungeheuren Oszillationen, denen der, welcher ästhetisch lebt, ausgesetzt ist. Wer ethisch lebt, kennt die Stimmung auch, aber sie ist ihm nicht das Höchste; weil er sich selbst unendlich gewählt hat […]. Wer ethisch lebt, der hat, um an einen früheren Ausdruck zu erinnern, Gedächtnis für sein Leben; […] Wer ethisch lebt, der vernichtet nicht etwa die Stimmung, er sieht sie einen Augenblick an, dieser Augenblick aber rettet ihn davor, im Moment zu leben, dieser Augenblick gibt ihm die Herrschaft über die Lust […].«
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As, die mit Gattungen wie Aphorismus, Abhandlung, Vortrag, Brief und Tagebuch oder dem antiken Schattenriss ebenso frei jonglieren wie mit den unterschiedlichsten Sujets, während Bs Briefe und Abhandlungen durchgehend protreptischen Charakter haben und eine homogene Kritik der ästhetischen Existenz aufbauen. Der Leser der Papiere As muss daher dem Vorbild des detektivischen Herausgebers folgen und den verborgenen Zusammenhang der Aufzeichnungen selbst erspüren. Die Spur der Stimmung zu verfolgen, setzt Phantasie und rhetorisches Talent voraus, denn der Verfasser des Verführertagebuchs agiert im Unterschied zu seinem Ahnherrn Don Juan42 geistig-reflektiert. Sein Tagebuch stellt die Chronik eines Verführungsexperiments dar, dessen Gelingen letztlich die rhetorische Reproduzierbarkeit des romantischen ›Mythos Liebe‹ beweist. Die dazu erforderlichen Stimmungsproduktionen werden wie Bühnenanweisungen notiert und lassen jede Beziehung gespenstisch leer und semiotisch manipulierbar erscheinen. Johannes’ Täuschungskunst ist ironischer Double bind in Aktion und fesselt seine Opfer stärker als jeder Sex-Appeal. Nicht von ungefähr erinnern seine Formulierungen an rhetorische Anweisungen zur Pathoserregung. So wie der Epilog am Schluss einer Rede den Gang der Argumentation affektreich resümiert, verdichtet das gesamte Tagebuch die Themen der vorangehenden, wesentlich abstrakteren Aufzeichnungen szenisch und enthüllt damit auf der nichtdiskursiven Ebene der Stimmung die rhetorische Komposition der vermeintlich losen Blätter. Der freie Gebrauch rhetorischer Muster43 kennzeichnet auch den Aufbau von Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio (1843), einer Abhandlung über das Sohnesopfer in Gen 22. Hier werden die Funktionen von Vorwort und Redeschluss verkehrt; die Aufgabe der Pathoserregung wird vom Ende der Rede auf den Beginn verlagert, wo42| Don Juan erscheint als Allegorie des metaphysischen ›Mythos Musik‹. Wie sein Medium wirkt er unmittelbar und mitreißend auf seine Umgebung, lebt planlos im Augenblick und verkörpert Sinnlichkeit und Phantasie in ethischer Indifferenz. Vgl. Angelika Jacobs: »Ein Spieler vor dem Herrn. Peithos Künste in Kierkegaards ›Entweder – Oder‹«, in: Amelina Correa Ramón u.a. (Hg.): Estudios literarios en homenaje al Profesor Federico Bermúdez-Cañete. Granada 2008, S. 211–230. 43| Lincoln verweist im Bezug auf Kierkegaards konstanten Gebrauch rhetorischer Muster auf die gemeinsamen Wurzeln von Rhetorik und Religion (Lincoln: Rede und Resonanz, S. 428): »Über zeugung ist der sprachliche Akt, in dem der Hörer seine Welt als Heimat wieder findet; Religion dagegen ist die ultimative Fremdheitserfahrung inmitten des Vertrauten. […] Rhetorik will Glauben für das Wahrscheinliche schaffen, Christentum dagegen setzt gerade auf das Unwahrscheinliche […]. Diese klare Grenzziehung verdeckt jedoch zugleich auch die gemeinsame Wurzel beider Phänomene: Denn beiden geht es um das, was stricte dictu nicht gewusst, sondern eben allein geglaubt werden kann. Der christliche Glauben findet in der (Aristotelischen) Rhetorik und ihrem Verständnis der pistis [Glaube, Ver trauen, Überzeugung] einen nahen Verwandten. Es geht um den Sinn für die Möglichkeiten, den Über schuss der vorfindlichen Welt.«
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bei das traditionelle Vorwort aufgeteilt wird: Die polemische Komponente dient der Positionierung des Herausgebers in den aktuellen Debatten und wird weiterhin als Vorwort bezeichnet. Danach folgt der szenische Teil mit der subjektiven Exposition des Themas, die in der unmittelbar anschließenden Lobrede auf Abraham ironisch objektiviert und im Hauptteil unter dem akademischen Titel Problemata abgehandelt wird.44 Der szenische Teil trägt den Titel Stimmung und bezeichnet hier erstmals ein eigenständiges Genre christlicher Redekunst, das Kierkegaard noch 1850 in der zweiten Einübung im Christentum verwendet.45 Im indirekten wie im erbaulichen Kontext handelt es sich um eine kleine Form in eröffnender Position, die ein biblisches Leitmotiv prosalyrisch und in mehrfacher Wiederholung präsentiert. Die Einleitungsfunktion der Stimmung wird im Kontext indirekter Mitteilung weiter erläutert: 1844 veröffentlicht Kierkegaard unter dem Pseudonym Nikolaus Notabene eine Sammlung von Vorworten,46 denen aber keine Abhandlungen folgen. Abgekoppelt von der angestammten Prätextfunktion erscheint auch das Vorwort als neues (Anti-)Genre, das sich über den Unbestimmtheitscharakter der Stimmung definiert. Die polemische Begründung dafür lautet, dass Hegels allumfassendes System keinerlei Reste und Fragen offen lasse und das Vorwort, das seit jeher das Inkommensurable eines Buches präsentiere, nun frei sei, sich keiner Sache mehr zu widmen: Das Vorwort als solches, das emanzipierte Vorwort, darf also keine Sache abzuhandeln haben, es muß von Nichts handeln, und insofern es von etwas zu handeln scheint, muß dies doch Schein und eine vorgetäuschte Bewegung sein. (V, 175)47
Das Nichtige und Inkommensurable findet hier gewissermaßen seinen Zufluchtsort und avanciert zur eigenwertigen Position, indem es die Lizenzen der mündlichen Gedankenverfertigung nutzt: Das freie Vorwort entsteht aus »Ahnung«, Inspiration und unbewusstem Begehren in einer lustvollen »Stimmung des Schaffens« und Plauderns. Folglich ist sein Charakter, wie Notabene demonstriert, »lyrisch« im Sinne des »Innerlichen«: »Ein Vorwort ist Stimmung.« (V, 175). Gemäß dem Gattungsstandard der hegelschen Ästhetik entspricht diese frei spielende Selbstreferenzialität der lyrischen Form; bei Hegel wird die subjektive Stimmung des 44| Dass die Variationen des Isaak-Opfers ursprünglich als Vorworte konzipiert sind, belegt Tim Hagemann: Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik. Berlin, Wien: PHILO (Monographien zur Philosophischen Forschung 282) 2001, S. 88. 45| Kierkegaard: Werke, Bd. 4 (Furcht und Zittern, künftig im Text als FZ zitiert), S. 7–12; ebd., Bd. 26 (Einübung im Christentum), S. 71–75. 46| Ebd., Bd. 11/12 (Vorworte, künftig im Text als V zitiert), S. 173–239, hier S. 173–177. 47| Auch der Verweis auf das Nichts polemisiert gegen Hegels Logik, die vorwortlos mit der Sache selbst beginnt.
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Lyrischen jedoch nach dem Muster Schillerscher Gedankenlyrik in einem Prozess geistiger Reflexion sprachlich objektiviert, um das Selbstbewusstsein zu fördern. Hier dagegen bewegt sich das Vorwort wie der tanzende Narr (V, 176) außerhalb der diskursiven Ordnung. Climacus bezeichnet es daher als Gegengewicht zur wissenschaftlich dozierenden Form der Angst-Schrift und ordnet es der indirekten Mitteilung zu. Auch das Tagebuch des Quidam in den Stadien (1845)48 definiert sich von der Nichtigkeit des Vorworts her. Der Verfasser, dessen Aufzeichnungen um das Grundthema der nicht realisierten Ehe kreisen, ist schon durch seinen Namen als konturloses Nichts eingeführt. Quidam tritt als Gegenpart des geistigen Verführers Johannes auf, der im Erotischen den Ersatz für das Religiöse sieht, während er in der Religion das Substitut für die Liebe sucht. In beiden Fällen wird die Liebe nicht gelebt und verstetigt. Der religiöse Tagebuchschreiber ergeht sich in beziehungslosen Spekulationen über sein Missgeschick in Liebesdingen. Ihm zufolge spielen sich in diesem Stillstand jedoch entscheidende innere Veränderungen ab, wie der abschließende Verweis auf den berühmten Tagebucheintrag Ludwigs XVI. (»rien«) beim Ausbruch der Französischen Revolution beglaubigen soll (St, 422). Quidam stellt den Antityp zu Hegels Konzept der historischen Größe dar: »Jedoch mein Leiden ist langweilig. Es ist wahr, ich bin noch immer bei der Exposition dieses Nichts, und die Szene ist unverändert dieselbe.« (St, 368). Die zwischen Morgen- und Mitternachtsstücken wechselnden Einträge folgen dem seriellen Strukturprinzip der prosalyrischen ›Stimmung‹. Sie halten die entscheidenden Begebenheiten der Liebesgeschichte durch formelhafte Wiederholung in Erinnerung, so dass die linear fortlaufende Zeit und die zirkuläre Zeit der Erinnerung zunehmend auseinanderdriften. Durch konstante Verweise auf die unterschiedlichen Narrativierungen des Verlobungsszenarios in Entweder – Oder und der Wiederholung entsteht zudem eine intertextuelle Polyphonie, die echoartige Züge annehmen und die narrative Progression in lyrische Zuständlichkeit auflösen kann. ›Stimmung‹ und ›Vorwort‹ leiten sich von der klassisch-rhetorischen Funktionsstelle des Proömions her. Ihm verdanken sie nicht nur die Einleitungsfunktion, sondern auch die Option des Lyrischen,49 mit der sie den objektiv-systematisierenden Gestus gelehrter Abhandlungen und Exegesen unterlaufen und aus den gewohnten Gattungen des Denkens und Darstellens heraustreten.50 Im erbaulichen Kontext fördert die ly48| Kierkegaard: Werke, Bd. 15,2 (Stadien auf des Lebens Weg, künftig im Text als St zitiert). 49| Im Altgriechischen geht das Proömion bei kultischen Anlässen einem größeren Gesang voraus, von dem es inhaltlich abgekoppelt sein kann. Diese rituelle Funktion aktualisiert etwa Goethes Proömion (1817/1827), das in alttestamentlicher Diktion die Demut der Naturforschung vor dem Göttlichen einfordert. 50| Siehe auch die Ausführungen zur Funktion der Einleitung im Kontext handlungsferner philosophischer Lehre (Kierkegaard: Brosamen und Nachschrift, S. 552–556). Vgl.
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risch-orale Komponente die Aufhebung von Reflexion durch suggestive Wiederholung.51 Im indirekten Kontext kennzeichnet sie eine ästhetische Innerlichkeit, die nicht zur Entscheidung und zum Handeln vorstößt, in ihrer Verelendung aber die Routinen der Selbsttäuschung durchbrechen und zum paradoxen Zeichen für die Präsenz des Ewigen werden kann. Die lyrisch-ästhetische und die religiös-paradoxe Spielart greifen in Furcht und Zittern ineinander und motivieren einen komplexen Prozess affektivreflexiver Aneignung.
5. D IE S TIMMUNG IN F URCHT UND Z IT TERN EIN L EK TÜREMODELL Die Stimmung präsentiert die Geschichte der Opferung Isaaks (Gen 22,1– 19) in vierfacher Wiederholung, was zunächst dem Kollektivsingular des Titels widerspricht. Ihre zentrale Position wird durch den Untertitel der Abhandlung, Dialektische Lyrik, und den Bezug zum Genus praedicandi angezeigt. Wie in der Predigt wird der auszulegende Text vorab rezitiert. Allerdings wird nur der erste Satz mit dem rätselhaften Befehl gegeben, in dem Gott von Abraham das Sohnesopfer fordert. Alles Weitere wird ausgelassen, um den Imaginationen eines »einfachen Mannes« Raum zu geben. Die vier Stimmungen stellen seine Versuche dar, sich Abraham in der grausamen Situation des Opferungsbefehls zu vergegenwärtigen, um ihn als Exemplum fidei affektiv zu verstehen. Der einfache Mann beschwört den Ritt Abrahams und Isaaks zum Berg Morija, die Opferungsszene und die Rückkehr vor seinem inneren Auge herauf, seine Begeisterung wurde immer mächtiger, und doch vermochte er es immer weniger, die Geschichte zu verstehen. Zuletzt vergaß er alles andre über ihr; seine Seele hatte einen einzigen Wunsch: Abraham zu sehen, ein einziges Verlangen: Zeuge gewesen zu sein bei jener Begebenheit (FZ, 7).
Tilman Beyrich mit Verweis auf G. Heath King: Existenz, Denken, Stil. Perspektiven einer Grundbeziehung. Dargestellt am Werk Sören Kierkegaards. Berlin, New York 1986; Sylviane Agacinski: Aparté. Conceptions and Deaths of Sören Kierkegaard [1977]. Translated and with an introduction by Kevin Newmark. Tallahassee 1988: »Vielleicht kann man sogar sagen, daß Kierkegaard ›Abhandlungen‹ im strengen Sinne niemals geschrieben hat, dass es sich auch dort, wo jene Bücher die ›Sache‹ zu behandeln scheinen, nur um eine vorgetäuschte Bewegung handelt. Kierkegaards Schriftstellerei hat fast überall den Charakter weit ausgreifender ›Vorworte‹ zu niemals geschriebenen ›Büchern‹, d.h. Stimmungen zu erzeugen [sic!] für die allererst angemessene Behandlung bestimmter Probleme« (Tilman Beyrich: Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard. Berlin, New York 2001, S. 28). 51| Vgl. Günther K. Lehmann: Ästhetik der Utopie. Arthur Schopenhauer – Sören Kierkegaard – Georg Simmel – Max Weber – Ernst Bloch. Stuttgart 1995,: Neske S. 96–100.
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Das Unterfangen misslingt. Zurück bleiben vier Szenen. Die erste schildert den Beginn des Opfers und Abrahams Täuschungsmanöver, das Isaaks Gottvertrauen auf Kosten des Vertrauens in Abraham erhalten soll; die Rettung selbst bleibt ausgeblendet. Die zweite stellt den rettenden Moment, in dem der Widder erscheint, ins Zentrum, der jedoch nicht verhindert, dass Abraham traumatisiert zurückbleibt. Die dritte Szene lässt das Opfer aus, um Abrahams Traumatisierung nach dem Ereignis zu zeigen: Entsetzt über sein eigenes Fehlverhalten, tritt er den Gang nach Morija wieder und wieder an, ohne zu verstehen. Die vierte Szene stellt den stummen Glaubensverlust Isaaks dar, der die Verzweiflung seines Vaters im Moment der Opferung bemerkt. Alle vier Szenarien behalten den distanziert-lakonischen Stil des Bibeltextes bei, der zur Komplettierung des Ungesagten auffordert, schwenken am Schluss aber scheinbar unmotiviert zum Thema der Entwöhnung des Kindes von der Mutterbrust um.52 Die Analogie zwischen der Reise nach Morija und den Digressionen über die Entwöhnung liegt im Übergang zu einer höheren Entwicklungsstufe durch das Opfer des Vertrauten und Geliebten, das durch Täuschung initiiert wird – hier von der Bindung an Isaak und die Gesetze des Ethischen zur absoluten Bindung an Gott, dort von der Abhängigkeit zur Eigenständigkeit des Kindes. Die kommentarlose Abfolge der parallel aufgebauten Teile zeigt, dass die Stimmung wie ein musikalisches Thema mit Variationen strukturiert ist. Aus der Begeisterung des einfachen Mannes erwächst kein Mehrwert an Verstehen durch Einfühlung, sondern eine Serie gleichrangiger Möglichkeiten, welche die Ursprungssituation umkreisen, ohne eine geschlossene Illusion der Präsenz zu schaffen. Die fragmentierten und verstörenden Eindrücke seiner Stimmungen erfüllen die Funktion einer Parabase: Sie verhindern den Sinnbildungsprozess und verweisen auf die Deutungs- und Aneignungsbedürftigkeit der literalen Überlieferung. Gerade darin liegt jedoch ihr Wirkungspotenzial. Die Stimmung verweist nicht nur auf die Abwesenheit der Urszene, sondern ist auch performativ auf sie bezogen: Die einzelnen Variationen generieren das Negativ einer virtuellen Einheit und motivieren die aktive Aneignung der schriftlichen Überlieferung über deren Leerstellen und Motivationslücken. Gemäß der sokratischen Methode indirekter Mitteilung bringen sie den Rezipienten auf der Bühne der Sprache in einen bewussten Dialog mit sich selbst. Aus dem unreflektierten Begehren nach einer lebendigen Sinnfigur entwickelt sich ein vielstimmiger Deutungsspielraum, in dem das Grausame, Widersprüchliche und Rätselhafte des Opferungsbefehls maximale
52| Die Digressionen zitieren die vorherige Rettung von Hagars Sohn Ismael in Gen 21,8; Gen 22 wird aus typologischen Gründen meist isoliert betrachtet, stellt jedoch den Höhepunkt einer Reihe von Prüfungen dar (für instruktive Hinweise zur alttestamentlichen Theologie danke ich Dr. Barbara Jacobs). Kierkegaard schließt hier Abrahams Grenzerfahrung mit der Erfahrung des Alltags über die Struktur der Prüfung zusammen.
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Wirkung entfalten und den Zustand des Wahnsinns streifen soll.53 Jede der Stimmungen verdeutlicht auf ihre Weise die Unmöglichkeit, mit dem Entsetzlichen umzugehen. Die Geschichte wird in lutherischer Tradition nicht von ihrem guten Ende, sondern von ihrem dramatischen Effekt auf die Betroffenen her erzählt.54 Sie führt die Unausweichlichkeit vor, mit welcher der Konflikt zwischen Ethik und Religiosität, familiärer Bindung und bedingungslosem Gehorsam gegenüber Gott zur Zerstörung von menschlicher Kommunikation, Bindung und Identität führt. Die Forderung des Sohnesopfers (das letztlich vom Tieropfer abgelöst wird) lässt die Beteiligten verstummen, einander missverstehen und fremd werden; sie zerstört Vertrauen, provoziert verzweifelte Täuschungsmanöver aufseiten Abrahams und hinterlässt Traumata bei allen Beteiligten. Ähnlich wie Hiob im Dialog mit Gott kommt der einfache Mann im Dialog mit der Genesis zum Schluss, dass er nicht imstande sei, Abrahams Größe zu verstehen. Gerade mit der Anerkennung dieser Grenze begibt er sich jedoch in ein angemessenes Verhältnis zur Fremdheit der Glaubenserfahrung Abrahams, die als absolute Ausnahme gekennzeichnet ist.55 53| Die Reise nach Morija fungiert als kontinuierliches Reflexionsschema Kierkegaardschen Denkens; dies zeigen weitere Entwürfe der Szene noch in den Tagebüchern der 1850er Jahre (Papirer X 5, A 132). Dazu s. ausführlich Beyrich: Ist Glauben wiederholbar?, S. 172–178, der die Lesarten Derridas und Lévinas’ erörtert. 54| Die Bezüge zur lutherischen Auslegungstradition, die vielfältige dramatische Umsetzungen generiert, zeigt Johann A. Steiger: »Zu Gott gegen Gott. Oder: Die Kunst, gegen Gott zu glauben. Isaaks Opferung (Gen 22) bei Luther, im Luthertum der Barockzeit, in der Epoche der Aufklärung und im 19. Jahrhundert«, in: Ders. u. Ulrich Heinen (Hg.): Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfes sionen und Medien der frühen Neuzeit. Berlin, New York: de Gruyter (Arbeiten zur Kirchengeschichte. Bd. 101) 2006, S. 185–237, hier S. 153f., 188–203. Schon Luther betont, dass das Sohnesopfer dem 5. Gebot und dem Versprechen widerspricht, aus Isaak die Stämme der Menschheit hervorgehen zu lassen, so dass nicht nur Abrahams Glaubensstärke, sondern auch Gottes Wahrhaftigkeit auf die Probe gestellt wird; seine Auslegung propagiert den Widerstand gegen den Deus absconditus im Festhalten an der Verheißung des Deus revelatus. 55| Vgl. Derridas Überlegungen zu Kierkegaards Wende gegen das Begriffliche im Zeichen des Geheimnisses und des Paradox, deren Differenzen zu Kierkegaard Deuser erörtert: Hermann Deuser: »›Und hier hast du übrigens einen Widder‹. Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik«, in: Bernhard Greiner u. a. (Hg.): Opfere deinen Sohn! Das Isaak-Opfer in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2007, S. 1–17: Bei Kierkegaard steht die Ausnahmeexistenz Abrahams für die singuläre Berührung der immanenten und transzendenten Sphäre, deren Radikalität, Geheimnishaftigkeit und Erfahrungsnähe unwiederholbar sind. Der Erfahrungszusammenhang zwischen Identität und Differenz wird logisch-kosmologisch bestimmt, dogmatisch gefasst und narrativ mitgeteilt. Kierkegaard will die Grenzen zwischen Ethik und Religion in einer »Ontologie der besonderen Möglichkeiten« (ebd., S. 16) bestimmen und die Wiederentdeckung religiöser Erfahrung in einem komplexen Modell „reflexiver Remythologisierung“ (ebd., S. 17) indirekter Mitteilung fördern, das Spielraum
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Erst nach diesem Fazit wird, völlig unvermittelt, das sinnstiftende Deutungsmuster der Prüfung aktualisiert. Die Lobrede auf Abraham geht davon aus, dass Abraham im Streit mit Gott Glaubensgewissheit gewonnen hat: »Wir wissen alle – es war nur eine Prüfung« (FZ, 20), heißt es ironisch-lapidar; eine Prüfung, ohne die Abraham weder die Größe seines Glaubens noch die Größe Gottes erfahren hätte, sondern nur, »wie furchtbar es ist, hinaufzuziehen auf den Berg Morija.« (FZ, 21) Die Synthese aus szenischer Stimmung und reflexiv deutender Lobrede bleibt dem Hauptteil überlassen, der den Verlust an Selbstgewissheit als Voraussetzung für die Entwicklung einer religiösen Identität erörtert. Das Aufgeben ethischer Kodices und sozialer Sicherheiten wird in den Problemata zum Aufweis für die Unbegreiflichkeit eines Gottes, dessen Wahrheit mit allgemeinen Kategorien des Denkens und Empfindens nicht zu erfassen ist. Abraham wird durch die Prüfung zur singulären Ausnahmeexistenz, welche die allgemeinen Parameter personaler und sozialer Identität sprengt. So wie sich die Authentizität der sokratischen Ironie im Tod erweist, wird er von Gott durch die Forderung, das Liebste, was er hat, zu opfern, geprüft und in die Wahrheit des Glaubens hineingetäuscht. In dieser Lesart geht es weniger um den gehorsamen Vollzug des Sohnesopfers als um das Selbstopfer Abrahams, seine Bereitschaft, die in Isaak verkörperten Wünsche und Hoffnungen aufzugeben. Daher bezeichnet die Lobrede Abrahams Kampf mit Gott auch als Urzeugnis göttlichen Wahnsinns.56 Dieser Wahnsinn erfüllt sich aber nicht im paganen Muster präsentischer Unmittelbarkeit, indem die Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz poetisch oder ekstatisch, durch Inspiration des Sängers, Dichters oder Priesters hergestellt wird. Er ist vielmehr zukunftsbezogen, da er den Anlass zur entscheidenden Bewegung auf den Glauben hin gibt, welche die Person und ihr Verhältnis zur Welt verändert. Als Exemplum fidei wirkt Abraham in die Weite der Geschichte und fordert vom Einzelnen eine biographisch und historisch reflektierende Aneignung im Handeln. Die Stimmung ist zwar lyrische Anrufung, grenzt sich aber dadurch von den Mustern eines rauschhaften Enthusiasmus oder des Musenanrufs ab, dass sie sich nicht als Fiktion unmittelbarer Oralität und Ritualität definiert, sondern als reflektierte Orazu individueller Aneignung lässt. Nur unter der Bedingung, dass die Besonderheit der Ausnahme erhalten bleibt, indem er die personale Unvertretbarkeit seines absolutinneren Gottesverhältnisses realisiert, kann jeder Abraham sein. Dagegen führt Derrida den Gottesbegriff über eine generalisierte Andersheit ein: In der absoluten Alterität des »tout autre est tout autre« entfallen die Kontingenz der Ausnahmesituation und die Besonderheit des religiösen Verhältnisses gegenüber der Ethik. Das Konzept der Gabe reißt die Grenzen zwischen Ethik und Philosophie ein. Es zielt allgemein auf die Lesbarkeit des Glaubensgeheimnisses und das Paradox, dass das Absolute der Pflicht und Verantwortung voraussetzt, Pflicht, Verantwortung und menschliches Gesetz in jeder Form aufzukündigen. 56| Papirer X 4, A 458, zit. ebd., S. 14.
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lität innerhalb einer literalen, historisch differenzierten Memoria: Unvergesslich bleibt, dass du [Abraham] hundert Jahre brauchtest, um einen Sohn des Alters zu bekommen, wider Erwarten, daß du das Messer ziehen mußtest, ehe du Isaak behieltest, […] daß du in hundert und dreißig Jahren nicht weiter gekommen bist als zum Glauben (FZ, 22),
heißt es am Ende der Lobrede. In diesem Sinne ist der einfache Mann der Adressat des pseudonymen Programms, das aus der Ferne der Doppel-Reflexion […] die Urschrift der individuellen, humanen Existenz-Verhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte solo noch einmal wieder [lesen will], womöglich auf eine innerlichere Weise.57
Die Stimmung verdeutlicht, dass der gläubige Mensch nicht wie der Philosoph am Denken selbst, wie der Dichter an den Phantasiewelten des Möglichen oder der Dogmatiker an moralisch-gelehrter Exegese interessiert ist. Der einfache Mann findet trotz seiner Begeisterung zu keinem Bild, das ihm Abrahams Ausnahmesituation erschließen würde. Er stößt vielmehr, ausgehend vom ekstatischen Anlass seiner Begeisterung, über die Vielstimmigkeit seiner Stimmung auf das Geheimnis des Glaubens. Erst über diese Unterbrechung gelangt er zum erhabenen »Schauer des Gedankens« (FZ, 7), von dem aus die reflexive Aneignung der Urszene in der genannten Doppelbewegung erfolgen kann. Die »dialektische Lyrik« von Furcht und Zittern wendet das hegelsche Strukturmuster lyrischer Innerlichkeit auf die philosophische Prosa an, indem sie die Objektivierung der Stimmung in einem Prozess der Reflexion und Versprachlichung vollzieht, dessen Erfolg aber durch Nichtverstehen unterläuft. Anstelle einer Klärung der affektiven Grundsituation des einfachen Mannes und der Konstruktion einer intakten personalen Identität zeigt sich die kontingente Existenzbewegung des Glaubens, die der Rezipient als Fremdheitserfahrung, im Heraustreten aus der eigenen Begeisterung, wiederholen und reflexiv nachvollziehen muss. Um den Einzelnen vor das Bewusstsein seiner transzendenten Abhängigkeit zu bringen, setzt Kierkegaard klar auf kontrafaktische Wirkung. Die Stimmung in Furcht und Zittern demonstriert nicht die Dominanz des Irrationalen, wie die Privilegierung des Glaubensgehorsams auf Kosten des Ethischen nahe legt, sondern die unhintergehbare Interdependenz von leibseelischer Stimmung und Reflexion.58 Diese kann nur mittels der Ausnahmeexistenz Abrahams 57| Kierkegaard: Brosamen und Nachschrift, S. 839–844; hier S. 843f. 58| Zu den aristotelischen Strategien des ›ethischen Realismus’‹ Kierkegaards, der die Leidenschaften weder kantianisch von der Vernunft trennt, um diese systemfähig zu halten, noch dem hegelianischen Panlogismus unterordnet, s. Norman Lillegard: »Passion and Reason. Aristotelian Strategies in Kierkegaard’s Ethics«, in: The Journal of Religious Ethics 30 (2002), H. 2, S. 251–273.
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in den Blick kommen, welche die Regeln des Ethischen sprengt und die Doppelbewegung des Glaubens in den stummen Wahnsinn der Glaubensprüfung und zurück in die ethisch-soziale Ordnung vollzieht. In der Reflexionsorientierung existenzieller Stimmungen und der Stimmungsabhängigkeit der Reflexion gewinnt ein Verfahren »reflexiver Remythologisierung« (Deuser)59 und Entritualisierung (Lincoln)60 der Glaubenspraxis Konturen, das auf die Integration von Leidenschaften und Vernunft in einem offenen Erfahrungsprozess individueller Selbst-Bildung zielt. Dieser Prozess wird einem Lektüremodell überantwortet, das religiöse Innerlichkeit indirekt, durch ironische Verunsicherung erzeugen will und die Aneignung des Glaubens als »Unmittelbarkeit nach der Reflexion«61 begreift. ›Stimmung‹ und ›Vorwort‹ fungieren als »Ätzmittel« sowohl gegen die Selbstüberschätzung des Denkens als auch gegen die Überbetonung von Gefühl und Einbildungskraft im Habitus romantischen Poetisierens. Paul Ricœur spricht von einer neuen Gattung der Kritik, welche die Kategorien der praktischen Vernunft aus ihrem epistemologischen Formalismus befreit und in existenziell-ethische überführt.62 Kierkegaards Lösungsstrategie für das Grundproblem der Aneignung, das alle extensiven Schriftformen des kulturellen Gedächtnisses teilen, besteht in der Negation ästhetischer Unmittelbarkeit und logischer Autonomie durch sakrale Ironie. Diese verweist den Einzelnen auf seine transzendente Abhängigkeit und ist dogmatisch als Sünde und christologisch als paradoxes Zeichen bestimmt. Georg Lukács hat die diese Position besonders klar erkannt und genutzt. Bekanntlich geht die Theorie des Romans (1916) von der ironischen Grundstimmung ›transzendentaler Obdachlosigkeit‹ aus. Nach Lukács kann der moderne Roman die bürgerlichen Selbstentfremdungsprozesse nur in der ›negativen Totalität‹ seiner Form spiegeln. Seine konkrete Typologie greift zum einen die von Kierkegaard analysierten defizitären 59| Deuser: Und hier hast du übrigens einen Widder, S. 16f., zit. bei Deuser 1985a, S. 179 Formal stehen Kierkegaards Texturen zwischen der geschlossenen Form der Herderschen Paramythien und der progressiven ›Neuen Mythologie‹ der Romantiker. 60| Ulrich Lincoln: »›Das Nichts, das alles zur Erscheinung kommen lässt‹. Sören Kierkegaards Begriff des Anlasses und seine hermeneutische Relevanz für die Theologie«, in: In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 51 (2009), H. 2, S. 145–166. Lincoln zeigt die erbauliche Parallele anhand Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten (1845), die sich als Suspendierung des äußerlichen Rituals zugunsten der aktiven, tendenziell bilderlose Aneignung durch den einzelnen Leser verstehen. Der Entritualisierung durch die »innerliche Stimmung echter Aneignung« (ebd., S. 154f.) entspricht der dezidiert orale Gestus der Schriften Kierkegaards bis in die Interpunktion hinein; vgl. Kierkegaard: Tagebücher, Bd. 2, S. 85–88. 61| Kierkegaard: Tagebücher, Bd. 2, S. 230; vgl. Deuser: Und hier hast du übrigens einen Widder, S. 16. 62| Paul Ricœur: Lectures 2. La contrée des philosophes. Paris 1992, S. 15–28 (»Philosopher après Kierkegaard«), 29–45 (»Kierkegaard et le mal«); hier S. 44f.
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Grundstimmungen des Existierens auf; zum anderen versteht sie sich methodisch als »Kierkegaardisieren der Hegelschen Geschichtsdialektik«.63 Kierkegaard stoße zur konkreten Wirklichkeit des Singulären und Lebendigen vor, indem er statt der hegelschen Übergänge die Unterbrechung setze und die idealistische Kluft zwischen lebendiger Vieldeutigkeit und abstrakter Eindeutigkeit in einem subjektivierten Wahrheitsbegriff überwinde: Doch der tiefste Sinn von Kierkegaards Philosophie ist der: unter den unaufhörlich schwankenden Übergängen des Lebens fixe Punkte zu setzen und absolute Qualitätsunterschiede im verschmelzenden Chaos der Nuancen. Und die als verschieden befundenen Dinge so eindeutig und so tief unterschieden hinzustellen, daß, was sie einmal getrennt hat, durch keine Übergangsmöglichkeit je wieder verwischt werden kann. So bedeutet die Ehrlichkeit Kierkegaards folgende Paradoxie: was nicht bereits zu einer neuen Einheit, die alle einstmaligen Unterschiede endgültig aufhebt, verwachsen ist, das bleibt für ewig voneinander getrennt. Man muß von den unterschiedenen Dingen eines wählen, man darf nicht ›Mittelwege‹ finden, nicht ›höhere Einheiten‹, die die ›nur scheinbaren‹ Gegensätze auflösen könnten. So gibt es nirgends ein System, denn ein System kann man nicht leben […].64
Lukács’ Romantheorie stützt sich bewusst auf das ›Kierkegaard-Prinzip‹ der Unterbrechung, um Hegels Prinzip der dialektischen Höherentwicklung zugunsten einer kontingenten Gattungsgeschichte im weiten Kontext der Säkularisierung zu suspendieren.65 Damit hätte der dänische Religionsphilosoph, der dem Primat des Denkens in allgemeingültigen Kategorien mittels des Paradoxen und Singulären eine konsequente Absage erteilt hat, just dem Roman zu einem historischen Profil verholfen, von dem er sein eigenes Schreiben zeitlebens abzugrenzen wusste. Dass die Modernität dieser Gattung auf unvordenkliche Weise mit dem brüchig gewordenen Bezug zum Transzendenten zusammenhängt und in der existenziellen Stimmung der Ironie gründet, ist aus historischer Distanz die These, die er - auf seine Weise - mit Lukács wie mit den Romantikern teilt.
63| Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Ver such über die Formen der großen Epik. 11. Aufl. Darmstadt, Neuwied 1986, S. 12f. 64| Georg Lukács: »Das Zerschellen der Form am Leben: Sören Kierkegaard und Regine Olsen«, in: Ders.: Die Seele und die Formen [1911]. Neuwied, Berlin 1971, S. 49. 65| Lukács: Die Theorie des Romans, S. 29. Dort wird eine »Geschichtsphilosophie über die Ver wandlung im Aufbau der transzendentalen Orte« als notwendiger Bezugsrahmen für die Gattungstheorie postuliert, ohne dass die Gründe dieses Wandels und seine Entwicklungsrichtung bestimmt würden.
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Andor Weiniger: Fünf Köpfe (1940er Jahre)66
66| Mischtechnik. Abb. in: Kunstsammlungen Weimar/Michael Siebenbrodt (Hg.): Andor Weininger. Von Weimar nach New York [Ausstellungskatalog]. Weimar 2000, S. 92.
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Zweckdichtung, zweckentfremdet Poetologische Dimensionen in Drostes Geistlichem Jahr Thomas Wortmann
I. Die Rezeptionsschranken, die das Geistliche Jahr1 für heutige Leserinnen und Leser aufbaut, sind kaum zu überschätzen. Galt das Genre Perikopenlyrik schon zu Drostes Lebzeiten als altmodisch, so gilt dies zu Beginn des 21. Jahrhunderts wohl noch viel mehr. Peter von Matt hat diesen Befund für seine Lektüre eines anderen, scheinbar überkommenen DrosteTextes, der Ballade Die Schwestern, prägnant zusammengefasst: Es gibt in der Literatur Sätze und Verse, die springen mich an und unterwerfen mich, bevor ich nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, was sie wohl bedeuten mögen. Und es gibt Sätze und Verse, die tun mit mir ebenso schnell das Gegenteil. Ich habe Alltagswörter dafür: ›verstaubt‹, ›abgegriffen‹, ›vorgestrig‹ … Sie meinen, die Sache zu charakterisieren, bezeichnen aber weit mehr den spezifischen ästhetischen Abwehrreflex gegenüber dem ›Altmodischen‹. Dies führt in der Regel unmittelbar zu einem lautlosen Entschluß: Das will ich nicht lesen! – und also zum Weiterblättern und Weglegen des ganzen Buches. Wissenschaftlich irritierend und spannend an dem Vorgang ist, daß dieser Reaktions zusammenhang von der Form ausgelöst wird, von der sinnlich-
1| Annette von Droste-Hülshoff: Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage, in: dies.: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hg. v. Winfried Woesler. 14 Bde (in 28 Teilbänden). Tübingen 1978–2000, Bd. IV,1. Alle Zitate aus der Historischkritischen Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle ›HKA‹ nachgewiesen. Für die engagierte Diskussion des Manuskriptes danke ich dem Kolloquium Medienkultur wissenschaft des Instituts für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Besonderen Dank schulde ich Claudia Liebrand für ihre konstruktive Kritik und ihre vielen hilfreiche Hinweise.
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T HOMAS W ORTMANN körperhaften Wirklichkeit des Textes, auf die ich gleichfalls körperhaft reagiere, erotisch durchaus, aber negativ, mit einem Schub von Unlust. 2
»Für die heutigen Leser« – so konstatiert von Matt – lägen Texte, die wie die Schwestern zwischen Ballade und Versepos oszillieren, »wie hinter einer Mauer verschlossen«.3 Dieser, dem Genre des Textes verpflichtete Befund ließe sich ohne weiteres auf das Geistliche Jahr, Drostes Sammlung geistlicher Lieder auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres, übertragen, denn sogar in der Forschung gilt der Text als sperrig. Der Gedichtzyklus – meist mit dem Label ›frommes Andachtsbuch‹4 versehen – wirkt in säkularen Zeiten beinahe wie ein Fremdkörper, »die frömmelnde Grundhaltung ist […] fremd.«5 Das war früher anders: In der Droste-Philologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war das Geistliche Jahr einer der prominentesten Texte Droste-Hülshoffs, ein Text, mit dem sich die Forschung intensiv und durchaus kontrovers auseinandersetzte. In den Blick genommen wurde dabei – und dieser Fokus scheint die Diskussion bis heute zu bestimmen6 – die Frage danach, wie ›die‹ Droste es wohl mit dem Glauben 2| Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. 4. Aufl. München 2004, S. 177. Das »Weglegen des Buches« ist auch die Reaktion der Mutter Drostes, zumindest berichtet Annette von Droste-Hülshoff davon in einem Brief an Anna von Haxthausen: »Ich habe diesen Winter ein ganzes Buch geistlicher Lieder geschrieben […]. Der Zustand meines ganzen Gemüthes, mein zerrissenes schuldbeladenes Bewußtsein liegt offen darin dargelegt, doch ohne ihre Gründe – und ich wollte geradezu versuchen, wie viel ein mütterliches Herz verzeihen kann, oder vielmehr, mir meine Strafe holen; ich hatte es mit einer Vorrede versehen, die auf all’ dieses vorbereitete. Mama las dieselbe sehr aufmerksam und bewegt durch, legte dann das Buch in ihren Schrank, ohne es weiter anzurühren, wo ich es acht Tage liegen ließ, und dann wieder fortnahm – sie hat auch nie wieder danach gefragt, und so ist es wieder mein geheimes Eigenthum.« Annette von Droste-Hülshoff: Brief an Anna von Haxthausen in Bökendorf (in etwa März 1812), in: HKA VIII,1, S. 53–54, hier S. 53. 3| Von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter, S. 178. 4| So auch noch – als prominentes Beispiel – das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, in dem das Geistliche Jahr dem »Bereich der häuslichen Andacht« zugeordnet wird: Irmgard Scheitler: »Geistliches Lied«, in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 681–683, hier S. 683. 5| Winfried Woesler: »Modernität in der geistlichen Dichtung der Droste«, in: Monika Salmen u. Winfried Woesler (Hg.): »Zu früh, zu früh geboren…«. Die Modernität der Annette von Droste-Hülshoff. Düsseldorf 2008, S. 36–44, hier S. 37. 6| Heinrich Detering fasst pointiert zusammen: »[D]ie weithin rezeptionsbestimmende Annahme, es handle sich beim Geistlichen Jahr überhaupt um katholische Bekenntnisdichtung, [verdankt] sich womöglich eher dem Wissen um die Entstehungsumstände des Textes und Schreibabsichten der Autorin […] als seiner Lektüre.« Heinrich Detering: »Versteinter Äther, Aschenmeer. Metaphysische Landschaften in der Lyrik der Annette
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halte. Das Hadern mit der eigenen Schuld- und Sündhaftigkeit, die Auseinandersetzung mit dem Glauben und die damit verbundenen Glaubenszweifel, die das sprechende Ich des Geistlichen Jahres mehr oder minder offen zu formulieren scheint; das waren Punkte, an denen sich die Interpretinnen und Interpreten abarbeiteten.7 Die Konzentration auf die Glaubensfrage ist durchaus nachvollziehbar, handelt es sich doch um einen geistlichen, einen religiösen Liederzyklus, der das Kirchenjahr und die an den jeweiligen Tagen zu lesenden Perikopen als Leitfaden für die eigene Ausgestaltung nimmt. Aber auch ein zweiter, eher impliziter Grund lässt sich ausmachen: Das Geistliche Jahr war neben der Judenbuche einer der Texte, der bei der Kanonisierung Drostes, die, das hat Winfried Woesler ausführlich belegt, hauptsächlich über die beiden Wege ›Heimat-‹ und ›katholische Dichterin‹ erfolgte,8 eine besonders wichtige Rolle spielte und entsprechende Aufmerksamkeit in Literaturkritik und -forschung erfuhr. 1851 – auf Drostes ausdrücklichen Wunsch hin postum – noch vor jeder Werkausgabe von Christoph Bernhard Schlüter als Einzelpublikation veröffentlicht,9 ermöglichte es diese ›Bekenntnisdichtung‹ (so eine von Droste-Hülshoff«, in: Droste-Jahrbuch 7 (2007/08), S. 41–68, hier S. 62. Vgl. im Gegensatz dazu: Marius Reiser: »›Das Herz war willig, nur das Fleisch war schwach‹. Die geistliche Not der Annette von Droste-Hülshoff«, in: Erbe und Auftrag. Benediktinische Monatsschrift 80 (2004), S. 363–384; ders.: »Die Himmelfahrt der morschen Trümmer. Schuld und Heilung im ›Geistlichen Jahr‹ der Droste«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 269–285; Walter Jaeschke: »Das ›Geistliche Jahr‹ – ein Zeugnis der Frömmigkeitsgeschichte des Vormärz«, in: Ortrun Niethammer (Hg.): Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Bielefeld 2002, S. 69–85. 7| Um nur einige Beispiele zu nennen: Edgar Eilers: Probleme religiöser Existenz im »Geistlichen Jahr«. Die Droste und Sören Kierkegaard. Werl 1953; August Heinrich Kober: Geschichte der religiösen Dichtung in Deutschland. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Seele. Essen 1919; Klemens Möllenbrock: Die religiöse Lyrik der Droste und die Theologie der Zeit. Versuch einer theologischen Gesamtinterpretation und theologiegeschichtlichen Einordnung des »Geistlichen Jahres«. Berlin 1935; ders.: »Die religiöse Existenz Annettens von Droste im theologischen Gesamtbild der Zeit«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 14 (1936), S. 413–441; Ansgar Stöckle: Zur Psychologie des Glaubenszweifels. Mergentheim 1930; August Weidemann: Die religiöse Lyrik des deutschen Katholizismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung Annettens von Droste. Leipzig 1911; Joseph Werle: Der Gotteskampf der Droste. Ein Beitrag zum Verständnis der religiösen Seele. Mainz 1921; Arthur Bankwitz: Die religiöse Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff. Berlin 1899. 8| Winfried Woesler (Hg.): Modellfall der Rezeptionsforschung. Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Dokumentation, Analysen, Bibliographie. Bern, Frankfurt/Main 1980. 9| Vgl. dazu Bernd Kortländer: »Droste-Editionen«, in: Rüdiger Nutt-Kofoth u. Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S. 55–76.
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der gängigen Zuschreibungen) konservativ-katholischen Kreisen, DrosteHülshoff im Kulturkampf als ihre Galionsfigur auf den Schild zu heben. Im Gegensatz zu den vorherrschenden Interpretationen konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf einen anderen Aspekt und versuchen, die ›Mauer erotischer Unlust‹, die von Matt beschreibt, zu umgehen, indem die Perspektive auf das Geistliche Jahr ein wenig verschoben wird. In den Blick genommen werden sollen nicht mehr die religiösen Aspekte, die Frage nach Glauben und Glaubenszweifel, sondern die poetologischen Dimensionen des Textes, jene Gedichte, beziehungsweise Gedichtpassagen also, die explizit oder implizit die eigene Verfasstheit thematisieren und sich mit der Frage nach der Legitimation von Literatur und Poesie auseinandersetzen, mithin die Produktion von (geistlicher) Lyrik im Gedicht selbst reflektieren. Fokussiert werden sollen dabei die Verwerfungen des Textes, die der gängigen Etikettierung als Zweckdichtung10 und religiösem Andachtsbuch entgegenstehen.
II. Für die oft konstatierte ›Theoriefeindlichkeit‹ des Biedermeier11 scheint Droste-Hülshoff ein gutes Beispiel zu sein. Ästhetische Abhandlungen oder theoretische Schriften zur Literatur sucht man in ihrem Œuvre vergeblich, sie gilt als Autorin, die »weder zeitgenössische Poetiken noch sonstige literaturtheoretische Fragen« im Auge hatte, sondern nur die »praktische Realisation ihres Vorhabens«.12 Vor diesem Hintergrund greift die Forschung meist auf die Briefe Drostes zurück, in denen 10| Vgl. Günter Häntzschel: »Am stärksten aber kommt die Absicht der Droste zum Ausdruck, sich nicht allein von ästhetischen Gesichtspunkten leiten zu lassen, sondern mit ihrer Dichtung einen moralischen und didaktischen Zweck zu verfolgen, gegen die liberalen Bewegungen ihrer Umgebung restaurativ zu wirken, was sich äußerlich bereits daran zeigt, daß sie das Geistliche Jahr aus ihrer Jugendzeit im reiferen, verantwortungsvollen Alter überhaupt wieder aufnimmt.« Günter Häntzschel: Tradition und Originalität. Allegorische Darstellung im Werk Annette von Droste-Hülshoffs. Stuttgart 1968, S. 45 (Hervorh. d. Verf.). 11| »[Ü]ber Dichtung wird im Zeitalter des Biedermeier überhaupt nicht viel gesagt, jedenfalls nicht in theoretischer Form. Es gibt im Biedermeier keine poetischen Programme, wie es sie zur Lessing-Zeit, zur Zeit Schillers, später dann zur Zeit des Naturalismus gegeben hat. Es existieren keine Kampfschriften und keine Zeitschriften, die ›die Richtung‹ bestimmt hätten.« Helmut Koopmann: »Nicht fröhnen mag ich kurzem Ruhme. Zum Selbstverständnis der Droste in ihren Dichtergedichten«, in: Droste-Jahrbuch 4 (1997–1998), S. 11–34, hier S. 24. 12| Bodo Plachta u. Winfried Woesler: »Kommentar«, in: Bodo Plachta u. Winfried Woesler (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 2: Prosa, Versepen, dramatische Versuche, Übersetzungen. Frankfurt/Main 1994, S. 773–1000, hier S. 867.
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die Autorin Aussagen über ihre Werke trifft, diese in Bezug zu prominenten anderen Texten (beispielsweise denen Walter Scotts) setzt und die Erwartungen von Familie und Freunden, sowie den eigenen dichterischen Anspruch verhandelt. Auch die ›Dichtergedichte‹ wie etwa Mein Beruf oder Der zu früh geborene Dichter sind auf die in sie eingeschriebene Verhandlung der eigenen Position als Dichterin und dem damit verbundenen Poesieverständnis untersucht worden.13 Erst in letzter Zeit aber rückt die implizite Poetik der Droste’schen Texte mehr in den Blick. So hat Astrid Lange-Kirchheim die poetologische Dimension des Versepos Des Arztes Vermächtnis herausgearbeitet, Claudia Liebrand die Verhandlungen des ›prekären‹ Status der schreibenden Frau im Romanfragment Ledwina untersucht.14 Das Geistliche Jahr ist in den Beiträgen, die sich mit den poetologischen Gedichten auseinandersetzen, jedoch meist nur am Rande erwähnt worden, spekulieren ließe sich, dass die Kategorisierung als Zweckdichtung einer Auseinandersetzung mit dem poetologischen Potential des Zyklus und seiner Texte im Wege gestanden hat. Aber was genau wäre denn als poetologisches Potential zu bezeichnen? In einer der jüngsten Publikationen zum Thema bezeichnet Olaf Hildebrand die ›poetologische Lyrik‹ als »eine Sonderform dichterischer Selbstreflexion«.15 Hildebrand zählt dazu alle Gedichte, die sich »mit dem Dichter (seiner Aufgabe und Funktion), dem Dichten (dem schöpferi-
13| Vgl. als prominente Beispiele Koopmann: Zum Selbstverständnis der Droste; Matthias Meyer: »Die ›Dichtergedichte‹ der Annette von Droste-Hülshoff. Probleme einer Identitätsbildung«, in: Danielle Buschinger (Hg.): Europäische Literaturen im Mittelalter. Greifswald 1994, S. 297–319, und jüngst Claudia Liebrand, die den »Facetten ästhetischer Selbstsetzung« in den poetologischen Gedichten Drostes ein umfangreiches Kapitel widmet: Claudia Liebrand: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte. Freiburg i.Br. 2008, S. 19–90. 14| Astrid Lange-Kirchheim: »Der Arzt und die Dichterin. Zu einer Verserzählung der Droste (mit einem Blick auf Kafka)«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 244–261; Liebrand: Kreative Refakturen, S. 91–122. 15| Olaf Hildebrand: »Einleitung«, in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1–15, hier S. 1. Als weitere Texte zum Thema poetologische Lyrik seien genannt: Walter Hinck: Magie und Tagtraum. Das Selbstbild des Dichters in der deutschen Lyrik. Frankfurt/Main, Leipzig 1994; ders.: Das Gedicht als Spiegel der Dichter. Zur Geschichte des deutschen poetologischen Gedichts. Opladen 1985; Rolf Selbmann: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt 1994; Gunter E. Grimm: »Einleitung. Zwischen Beruf und Berufung – Aspekte und Aporien des modernen Dichterbildes«, in: Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1992, S. 7–15.
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schen Prozeß und seinen Wegen) und mit dem Werk der Dichtung (seiner Form und seinen sprachlichen Mitteln) befassen.«16 Weiter heißt es: Das poetologische Gedicht kann, sofern es seine Form selbst schon als poetologische Substanz präsentiert, experimentell verwirklichen, was es als Aufgabe der Dichtung definiert. Dieser Spiegelungseffekt verleiht ihm eine hohe Überzeugungskraft und erklärt, warum es ein bevorzugtes Medium dichterischer Selbstreflexion und – jenseits gängiger Klassifikationen – als lyrisches Phänomen sui generis zu interpretieren ist.17
Im Folgenden erklärt Hildebrand die poetologische Lyrik zu einer »performative[n] Gattung«,18 die das selbst postulierte Dichtungsverständ16| Alfred Weber: »Kann die Harfe durch den Propeller schießen? Poetologische Lyrik in Amerika«, in: Alfred Weber u. Dietmar Haack (Hg.): Amerikanische Literatur im 20. Jahrhundert. Göttingen 1971, S. 175–191, hier S. 181, zitiert nach Hildebrand: Einleitung, S. 3. 17| Ebd., S. 1. 18| Ebd., S. 5. Die Begriffe »Genre« und »Gattung« erhalten bei Hildebrand keine genauere Definition und scheinen als Wechselbegriffe konzipiert, auf deren Zusammenhang nicht näher eingegangen wird. (So heißt es zur poetologischen Lyrik unter anderem, die »Erforschung der Gattung« [ebd., S. 2] sei noch nicht weit fortgeschritten und später, sie sei noch nicht »als lyrisches Genre lemmatisiert« [ebd., S. 2, Anm. 2; Hervorh. d. Verf.], während ›Dichtergedichte‹ als »Subgenre« [ebd., S. 10, Anm. 25] kategorisiert werden.) Dabei lassen sich beide Termini mit durchaus dichotomen Bedeutungen assoziieren (vgl. Dieter Lamping: »Genre«, in: Klaus Weimar [Hg.]: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 704f.). Eine differenzierte terminologische Fundierung erhält der Begriff des »Genres« erst zu Beginn der 1980er Jahre durch Harald Fricke. In seiner Monographie Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur versucht Fricke, die Grundlage der Gattungstheorie zu modernisieren, indem er dem ›Regelmodell‹ zur Zuordnung von Texten zu einer bestimmten Gattung ein ›Abweichungsmodell‹ gegenüberstellt (vgl. Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981, S. 113). Im Folgenden soll der Begriff »Genre« unter anderem im Anschluss an Frickes Ausführungen genutzt werden, denn dabei handelt es sich zum einen um den Terminus, der auch in anderen europäischen Philologien, wie etwa der Anglistik oder Romanistik, aber auch in benachbarten Bereichen wie etwa den Filmwissenschaften verwendet wird und somit eine (wenn auch eingeschränkte) Vergleichbarkeit der Disziplinen ermöglicht. Zum anderen aber ist damit auch ein ›andere‹ Herangehensweise an die ›Gattungsfrage‹ verbunden: Das Genre – so wie es hier verstanden wird – ist eine weder normativ noch transhistorisch zu konzipierende Analysekategorie, die ihr Potenzial nur in der Arbeit ›am (Einzel)Text‹ entfalten kann, beispielsweise indem die komplexen Verhandlungen von tradierten Genrekonventionen, die den Texten jeweils eingeschrieben sind, in den Blick genommen werden. (Der Filmwissenschaftler Steve Neale hat das pointiert zusammengefasst: »[T]he repertoire of genereic conventions […] is always in play rather than simply being re-played.« Steve Neale: Genre und Hollywood, London, New York 2000, S. 219.) Für diese Form der literatur wissenschaftlichen Arbeit scheint mir der
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nis bestätigen, aber auch unterlaufen könnte. Darauf wird zurückzukommen sein. Vom ›Genre‹ der poetologischen Lyrik, das sich durch die Möglichkeit, »einen poetologischen Gedanken in konzentrierter und prägnanter Form darzubieten«19 auszeichnet und »sich ebenso eindeutig vom Natur- und Liebesgedicht wie von dem religiösen und politischen Gedicht abhebt«,20 spricht auch Walter Hinck in seiner einschlägigen Studie Das Gedicht als Spiegel der Dichter. In der darauf folgenden Analyse verschiedener poetologischer Gedichte von der Antike bis zur Gegenwartsliteratur zeigt Hinck aber entgegen seines eigenen Postulats, dass von einem ›eindeutigen Abheben‹ weniger die Rede sein kann, denn fast immer verschmilzt die poetologische Lyrik mit anderen Genres, in Goethes Wink beispielsweise mit dem Liebesgedicht, in Drostes Geistlichem Jahr – wie zu zeigen sein wird – mit religiöser Dichtung. Lyrische Texte, die der Selbstreflexion dienen, gibt es schon in der Antike und im Mittelalter, auffällig aber ist – da sind sich alle Darstellungen zum Thema einig – »trotz wechselnder Phasen der Zu- oder Abnahme, der wachsende Anteil poetologischer Gedichte in der Lyrik der Neuzeit.«21 Die Säkularisierung und die Emanzipation aus der Abhängigkeit höfischer Repräsentationskunst bedeutete für die Literatur einen hohen Legitimationsdruck und erforderte eine Neudefinition der Aufgabe der Dichtkunst. Kann die poetologische Lyrik des Barock noch als ›Dichtungslehre in Versen‹ bezeichnet werden, so erforderte die Abkehr von einer normativen Regelpoetik eine individuelle Positionsbestimmung und damit verbunden eine Verschiebung der peotologischen Reflexionen in das Gedicht selbst.22 In der Zeit nach der Weimarer Klassik kommt für die Autorinnen und Autoren in der Frage nach der eigenen Positionierung der Aspekt der Epigonalität hinzu, »sowohl in existentieller als auch in künstlerischer Hinsicht.«23 In diesen Kontext nun ist auch Drostes Geistliches Jahr zu setzen. Zu fragen ist, was der Rekurs auf ein Genre, dessen Hochzeit im Barock anzusetzen ist und das schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als überkommen galt, was also eine Transponierung dieses vormodernen Genres in die Moderne für Konsequenzen mit sich bringt. Die Forschung hat sich dabei meist auf die im Text verhandelten Glaubenszweifel konzentriert Begriff des »Genres« sinnvoller, trägt er doch weniger theoretischen und ideologischen Ballast mit sich als der der »Gattung«. 19| Hinck: Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 10. 20| Ebd., S. 11. 21| Ebd. 22| Vgl. Hildebrand: Einleitung, S. 7f. 23| Barbara Neymeyr: »Gottfried Kellers Epigonen-Gedicht: Poetologie im Kontext kritischer Epochendiagnose«, in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 144–161, hier S. 147.
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und untersucht, wie ein religiöser Text nach Aufklärung, Französischer Revolution und Säkularisierung überhaupt noch möglich ist. Das Geistliche Jahr beziehungsweise die darin formulierten Glaubenszweifel, so die aufgestellte These, sei ein Beispiel für die Glaubenskrise der Moderne und antizipiere das, was einige Jahre später Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche weiter ausführen und radikalisieren werden.24 Gefragt wurde dabei nicht nach dem poetologischen Gehalt des Zyklus. Ist aber ein unreflektiertes ›Glaubensbekenntnis‹ nicht mehr möglich, so ist auch ein religiös motiviertes Schreiben, dass sich nicht seiner eigenen Legitimation versichert, unmöglich geworden. Drostes Geistliches Jahr, so die im Folgenden vertretene These, modifiziert die Konventionen der Perikopenlyrik und überführt das Genre in die Moderne, indem religiöse Lyrik und poetologische Reflexion enggeführt werden. Der Fokus auf die Frage nach dem Glauben und dem Glaubenszweifel, den die Forschung bisher hatte, lässt sich vor allem daher erklären, dass sie den Text ausschließlich dem Genre der Perikopenlyrik zugehörig und damit als Zweckdichtung gesehen hat.25 Dass das Geistliche Jahr diese Genrezuweisung rechtfertigt, sei hier nicht in Frage gestellt, lesen ließe sich der Zyklus (und vor allen Dingen einzelne Gedichte) mit einer verschobenen Perspektive aber auch als einer, der – seiner Entstehungszeit entsprechend – intensiv damit befasst ist, poetologische Fragestellungen zu verhandeln.26 Eine Lektüre, die sich diesen Fragen widmet, folgt dann lediglich der Entscheidung, nicht dem prominentesten Zugang, dem offensichtlichsten Label des Textes zu folgen, sondern die einzelnen Lieder ›gegen den Strich‹ zu lesen.
III. Nun scheint das Genre der Perikopenlyrik poetologischen Reflexionen jedoch diametral entgegen zu stehen. Schließlich unterliegt der steigende ästhetische Anspruch, der an die Perikopenlyrik herangetragen wurde – prominentes Beispiel dafür sind die etwa Sonn- und Feiertags-Sonette Andreas Gryphius’, die »statt populärer Kirchenliedstrophen die strenge, nicht sangbare Sonettform in die Gattung« einführen27 – spätestens seit 24| Vgl. dazu Reiser: Das Herz war willig, nur der Kopf war schwach, S. 370. 25| Grundlegend für den Bezug des Geistlichen Jahres auf die Tradition der Perikopenlyrik ist immer noch Stephan Bernings Standardwerk Sinnbildsprache. Vgl. Stephan Berning: Sinnbildsprache. Zur Bildstruktur des Geistlichen Jahrs der Annette von Droste-Hülshoff. Tübingen 1975, S. 7–41. 26| Und auch weitere Zuordnungen ließen sich vornehmen: Wie Heinrich Detering aufzeigt, lassen sich die Texte des Geistlichen Jahres auch als veritable Landschaftsgedichte lesen, die in Verbindung gesetzt werden können zu den bekannten Haidebildern. Vgl. Detering: Versteinter Äther, Aschenmeer. 27| Günther Niggl: »Annette von Droste-Hülshoff. Ihre Dichtung im Spannungsfeld von Tradition und Originalität«, in: Ders.: Zeitbilder. Studien und Vorträge zur deutschen Li-
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dem Pietismus zunehmender Kritik. Die Befürchtung, dass unter der Konzentration auf die poetische Ausschmückung der Texte, über das ›Verse-Schmieden‹, über den weltlichen Schmuck der Worte, der religiöse Inhalt der Gedichte – auf den es schließlich eigentlich ankam – aus den Augen geriet, führte zu einer nicht zu unterschätzenden Skepsis gegenüber der Perikopendichtung. Dieser Trend, der einer hier thematisierten poetologischen Dimension, einer Verhandlung gerade dieser ästhetischen Fragestellung in den Gedichten selbst im Wege stehen würde, hat die Forschung zum Geistlichen Jahr beeinflusst28 und wird auch im Zyklus selbst verhandelt. So heißt es beispielsweise im Gedicht zum Dritten Sonntage in der Fasten: Mich kennen muß die Welt, ich muß Verachtung tragen, Wie ich sie stets verdient, Ich Wurm, der den, den Engel kaum zu nennen wagen, Zu preisen mich erkühnt! Laß in Zerknirschung mich, laß mich in Furcht dich singen, Mein Heiland und mein Gott! Daß nicht mein Lied entrauscht, ein kunstvoll sündlich Klingen, Ein Frevel und ein Spott.29
Und in einem Brief Drostes an Wilhelm Junkmann – der immer wieder als Argument dafür genannt wird, dass Droste der Form den Primat über den Inhalt zugestand – äußert die Autorin sich folgendermaßen: [I]ch [will] auch bis ans Ende meinen ganzen Ernst darauf wenden, und es kümmert mich wenig, daß manche der Lieder weniger wohlklingend sind als die früheren, diese ist eine Gelegenheit wo ich der Form nicht den geringsten nützlichen Gedanken aufopfern darf – dennoch weiß ich wohl daß eine schöne Form das Gemüth aufregt und empfänglich macht, und nehme soviel Rücksicht darauf als ohne Beeinträchtigung des Gegenstandes möglich ist, aber nicht mehr. –30
teratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005, S. 29–43, hier S. 38. Vgl. weiterhin: Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. München 1976. 28| So konstatiert Winfried Woesler: »Formale Gesichtspunkte sind für die von der pietistischen Kritik der Künste beeinflusste Dichterin weniger wichtig geworden«. Winfried Woesler: »Religiöses und dichterisches Selbstverständnis im ›Geistlichen Jahr‹ der Annette von Droste-Hülshoff«, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 49 (1971), S. 165–181, hier S. 168. 29| Annette von Droste-Hülshoff: Am dritten Sonntage in der Fasten, in: HKA IV,1, S. 30–32, hier S. 30. 30| Annette von Droste-Hülshoff: Brief an Wilhelm Junkmann in Coesfeld vom 17. November 1839, in: HKA IX,1, S. 86.
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Doch sowohl die Gesamtanlage des Zyklus als auch einzelne Gedichte sprechen eine andere Sprache. Perspektivieren lässt sich das Geistliche Jahr nämlich – das hat Rüdiger Nutt-Kofoth eindrücklich herausgearbeitet – auch als ein Versuchsfeld, auf dem überaus anspruchsvoll verschiedene lyrische Konzepte erprobt und ambivalent verhandelt werden.31 Versucht man sich einen Überblick über dieses ›Versuchsfeld‹ zu verschaffen, so wird deutlich, was für ein literarisch ambitioniertes Projekt das Geistliche Jahr vorstellt. Nachdem Droste-Hülshoff 1819/20 die ersten Gedichte bis zum Ostermontag geschrieben hatte, komplettierte sie den Zyklus in den Jahren 1839/40 und führte ihn 1840 zu einem vorläufigen Abschluss. In insgesamt 72 Gedichten auf alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres wird ein lyrisches Panorama entworfen, das – was Metrik, Vers- und Strophenbau betrifft – fast enzyklopädische Ausmaße annimmt.32 Denn beinahe alle 72 Gedichte unterscheiden sich in Versmaß, Strophenbau oder Strophenzahl, keines der geistlichen Lieder gleicht also dem anderen; der Form – das macht das so durchkomponierte Textkorpus sehr deutlich – muss Droste-Hülshoff wohl doch einige Aufmerksamkeit gewidmet haben. Aber auch der intertextuelle Bezug zur Heiligen Schrift, der Rekurs auf die jeweils zu lesende Perikope, den die Lieder des Geistlichen Jahres vorführen, ist bemerkenswert. In einem Brief an Christoph Bernhard Schlüter hatte Droste noch im August des Jahres 1839 erläutert, der Anschluss an die Sprache der Bibel bereite ihr einige Probleme: Die geistlichen Lieder werden, wie mich dünkt, ohngefähr den Früheren gleich, doch, glaube ich, wird es mir immer schwerer werden, einige Mannigfaltigkeit hinein zu bringen, da ich mich nur ungern und selten entschließe, Einiges aus dem Texte selbst in Verse zu bringen – er scheint mir zu heilig dazu, und es kömmt mir auch immer elend und schwülstig vor, gegen die einfache Größe der Bibelsprache. – 33
Dieses Problem wird eigensinnig gelöst: »[…] Droste behandelt die Textvorlagen […] keineswegs demütig bibeltreu, sondern durchaus eigenmächtig und nach lyrischem Gutdünken […].«34 Der Anschluss an die Perikopen 31| Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: »›ich fand des Dichtens und Corrigierens gar kein Ende‹. Über Annette von Droste-Hülshoffs dichterisches Schreiben – mit einem besonderen Blick auf das ›Geistliche Jahr‹«, in: Ortrun Niethammer (Hg.): Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Bielefeld 2002, S. 199–217. 32| Dieses enzyklopädischen Ausmaß verbindet Drostes Geistliches Jahr mit einem anderen populären (religiösen) Prätext, mit Klopstocks Messias. Vgl. zum enzyklopädischen Format des Messias: Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1700. Tübingen 2011 (im Erscheinen). 33| Annette von Droste-Hülshoff: Brief an Christoph Bernhard Schlüter vom 24. August 1839, in: HKA IX,1, S. 55–62, hier S. 58. 34| Detering: Versteinter Äther, Aschenmeer, S. 43.
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ist in mehrfacher Hinsicht ein kreativer. So wird meist nur ein Teil, ein Ausschnitt der jeweiligen Tageslesung verkürzt und ›zurechtgestutzt‹ als Motto den Gedichten vorangestellt und teilweise in die subjektive Rede des sprechenden Ichs übernommen.35 Der gewählte und zum Motto transformierte Ausschnitt bedient dabei nicht immer die prominenteste Deutung der jeweiligen Perikope. Die Auswahl, die getroffen wird, und die jeweils hergestellte Bezugsstiftung sind oft höchst subjektiv.36 Für die Gedichte des Geistlichen Jahres gewinnt diese Selektion, die ja selbst schon Ergebnis einer Lektüre, einer Interpretation, einer Aneignung des biblischen Textes ist, Bedeutung: Voraussetzung der Rezeption eines Gedichtes des Geistlichen Jahres ist stets eine bereits vorangegangene Lektüre der Heiligen Schrift durch die Verfasserin, ein Lesevorgang also, der mit einer Auswahl, einem Schwerpunktsetzen, einer Interpretation verbunden ist. Die jeweils zu lesende Perikope ist dem Leser, der Leserin – so er oder sie sie nicht als bibelfester Mensch aus dem jeweiligen Motto vollkommen aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann – nie im Ganzen zugänglich, sondern immer nur im gegebenen Ausschnitt. Fokussiert wird damit ein Aspekt der Tageslesung, der zum Ausgangspunkt des Gedichtes wird. Und dieser Anschluss an den subjektiv gewählten Ausschnitt wird auf verschiedene Weise vollzogen: Entweder in der direkten Fortführung des Bibeltextes, in der Übernahme dort gegebener Motive und Bilder, ja sogar der wörtlichen Aneignung der Bibelstelle, in einer subjektiven Reflexion des gegebenen Textes oder aber auch im offenen Widerspruch zum biblischen Text, bei dem nicht selten sogar eine Position des sprechenden Ichs entworfen wird, die der Aussage der Perikope konträr entgegen zu stehen scheint. Dieser kreative Anschluss an die Heilige Schrift, diesem »Urtext« der abendländischen Kultur und Literatur, kann als poetische Nobilitierungsstrategie gesehen werden. Diese Nobilitierung verläuft aber oft nicht ohne Provokation, sie funktioniert nicht ohne Verwerfungen. Schließlich lässt sich das Geistliche Jahr als Aktualisierung und Auseinandersetzung, vielleicht gar – greift man auf Drostes Verweis auf die Sprache der Bibel zurück – als Konkurrenzprojekt zur Heiligen Schrift perspektivieren, geht es doch auch darum, der Sprache, den Texten der Bibel, etwas Zeitgemäßes, vor allen Dingen aber etwas Eigenes entgegenzusetzen, eben die eigene Dichtung.37 35| Vgl. dazu Berning: Sinnbildsprache, S. 43–51. 36| Darin sieht Wilhelm Gößmann die Modernität der geistlichen Dichtung Annette von Droste-Hülshoffs: »Modern bedeutet hier: Entdeckung des eigenen Ich, Ausbildung der religiösen Subjektivität.« Wilhelm Gößmann: »Die Modernität der Droste. Lese-Erwartungen«, in: Monika Salmen u. Winfried Woesler (Hg.): »Zu früh, zu früh geboren…« Die Modernität der Annette von Droste-Hülshoff. Düsseldorf 2008, S. 9–17, hier S. 12. 37| Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Claudia Liebrands Deutung der Heiligen Schrift als ›Pretext‹, als Vorwand also, der das eigene Schreiben ermöglicht: »Die Perikopen fungieren als Prätext der Gedichte – und dieser Prätext ist nicht allein als
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Das Textkorpus also ist keineswegs nur fromme Bekenntnisdichtung oder reine Zweckdichtung (obwohl in vielen Passagen – dies sei hier keinesfalls bestritten – die confessio-Thematik dominant ist), sondern stellt auch ein überaus engagiertes ästhetisches Großprojekt dar, das die darin investierte Kreativität selbstbewusst widerspiegelt.
IV. Zeigt schon die gesamte Anlage des Zyklus, das ›große Ganze‹ die Ambition, die das Geistliche Jahr trägt, so lässt sich dies auch an einzelnen Gedichten, en détail nachweisen. Als Beispiel sei dafür ein Text gewählt, der explizit poetologische Fragen verhandelt und – ›trotzdem‹ ist man versucht zu sagen – vom Kommentar der Historisch-kritischen Ausgabe – freilich mit einer etwas anderen Implikation als in dieser Analyse – als »Zentralgedicht«38 des Geistlichen Jahres bezeichnet wird: Am zweyten Sonntage nach Pfingsten Der Eine sprach: »Ich habe ein Landhaus gekauft.« Der Andere sprach: »Ich habe ein Weib genommen, deshalb kann ich nicht kommen.« – »Geh auf die Straßen, und führe die Armen und Schwachen, die Blinden und Lahmen herein!«
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Ein Haus hab ich gekauft, ein Weib hab ich genommen, Drum Herr kann ich nicht kommen. Das Haus mein Erdenleib, Deß ich in Ruh muß pflegen, Die Poesie das Weib, Dem ich zu Füßen legen Will meiner Liebe Frommen Zu süßem Zeitvertreib. Gebrechlich ist mein Haus, bedarf gar sehr der Stützen, Soll es mir ferne nützen. So lieblich ist die Frau, Sie zieht mich ohne Maaßen
Text zu verstehen, der den Gedichten als Vorlage, als Bezugstext dient, sondern auch in seiner englischen Bedeutung als pretext, als ›Vorwand‹, für die eigene Produktion, die die geistliche Bekenntnisdichtung zur Lyrik der Moderne hin überschreitet«. Claudia Liebrand: »Todernstes Rollenspiel. Zur Poetik von Annette von Droste-Hülshoffs ›Geistlichem Jahr‹«, in: Claudia Liebrand, Irmtraud Hnilica u. Thomas Wortmann (Hg.): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs, Paderborn 2010, S. 93–120, hier S. 117f. 38| Winfried Woesler/Walter Gödden: »Am zweyten Sonntage nach Pfingsten« [Kommentar], in HKA IV,2, S. 457–460, hier S. 458.
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Zu ihrer Schönheit Schau. Ach, ihr mag ich wohl lassen Der lichten Stunden Blitzen, Der Träume Himmelsthau. Was fühl ich denn so heiß in meinem Busen quellen, Als möcht es ihn zerschellen? Was flüstert an mein Ohr? Mich dünkt es, eine Stimme Dringt aus dem Bau hervor Wie in verhaltnem Grimme, Wie zorngen Meeres Wellen Und spricht: o Thor! du Thor! Kein Haus hast du gekauft, es ward dir nur verpfändet Bis jener Faden endet, Deß Dauer Keiner kennt, Und Keiner mag verlängen, Die Spindel rollt und rennt. Ach! jener Schrecken Drängen Hat keiner noch gewendet So tief die Angst ihn brennt! Nicht lieblich ist die Frau, ’s ist eine strenge Norne, Erzittre ihrem Zorne; Sie schlürft dein Leben auf. Und muß es denn entrinnen, So thu den besten Kauf: Wohl magst du dir gewinnen Was aller Leiden Dorne Wiegt überschwenglich auf. Drum sorge ferner nicht um deines Hauses Wände: Des Eigenthümers Hände Sind schützend drauf gelegt, Und wie ein Wuchrer handle Um was dein Herz bewegt; Mit jener Frau verwandle In Himmelshauch die Spende, Der dich nach oben trägt!39
39| Annette von Droste-Hülshoff: Am zweyten Sonntage nach Pfingsten, in: HKA IV,1, S. 87f.
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Vorangestellt sind dem Gedicht vom Zweyten Sonntage nach Pfingsten Auszüge aus dem Gleichnis vom großen Gastmahl aus dem Lukas-Evangelium.40 Es berichtet von einem Gastherrn, der kurz vor dem Festmahl seine Diener aussendet, um an die bereits ausgesprochene Einladung zu erinnern. Alle Gäste aber sagen unter fadenscheinigen und den Gastgeber beleidigenden Ausreden ab. Daraufhin trägt der Hausherr seiner Dienerschaft auf, an ihrer statt alle Armen und Kranken von den Straßen aufzulesen und in sein Haus zu bringen. Das (›theologische‹) Setting des Gedichtes steht also fest: Es geht um die Frage, ob die Menschen dem Weg, der Einladung Gottes folgen oder den christlichen Lebensweg verlassen und sich weltlichen Dingen (beispielsweise dem Wirtschaften) hingeben.41 Übernommen werden die Worte des Bibeltextes beinahe exakt in die Rede des sprechenden Ichs: »Ein Haus hab ich gekauft, ein Weib hab ich genommen,/ Drum Herr kann ich nicht kommen« (V. 1f.). Der Bibeltext wird – dieses Verfahren findet sich im Geistlichen Jahr häufiger – »aus dem Gesamtzusammenhang des Evangeliums herausgelöst« und in »einzelne subjektive Aspekte aufgelöst, die sich nicht mehr um eine objektive Deutung des Evangeliums bemühen, sondern umgekehrt allein zu einer Deutung des […] [sprechenden] Ich führen.«42 Diese Subjektivierung, der Bezug auf die eigene und nicht mehr auf eine allgemein gültige Position, erfolgt – so muss man ergänzen – im Zweyten Sonntage nach Pfingsten ganz explizit auf die Position eines schreibenden Subjekts, wie das weitere Gedicht zeigt. Die Ausreden, die gleichzeitig für die ›falsche‹ Konzentration auf weltliche Dinge stehen, werden sogar verdoppelt, denn das sprechende Ich gibt an, sowohl ein Haus gekauft, als auch ein Weib genommen 40| Die komplette Perikope (Lk 14, 15–24) lautet: Als einer der Gäste das hörte, sagte er zu Jesus: Selig, wer im Reich Gottes am Mahl teilnehmen darf. Jesus sagte zu ihm: Ein Mann veranstaltete ein großes Festmahl und lud viele dazu ein. Als das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener und ließ den Gästen, die er eingeladen hatte, sagen: Kommt, es steht alles bereit! Aber einer nach dem andern ließ sich entschuldigen. Der erste ließ ihm sagen: Ich habe einen Acker gekauft und muß jetzt gehen und ihn besichtigen. Bitte, entschuldige mich! Eine anderer sagte: Ich habe fünf Ochsengespanne gekauft und bin auf dem Weg, sie mir genauer anzusehen. Bitte, entschuldige mich! Wieder ein anderer sagte: Ich habe geheiratet und kann deshalb nicht kommen. Der Diener kehrte zurück und berichtete alles seinem Herrn. Da wurde der Herr zornig und sagte zu seinem Diener: Geh schnell auf die Straßen und Gassen der Stadt und hol die Armen und Krüppel, die Blinden und die Lahmen herbei. Bald darauf meldete der Diener: Herr Dein Auftrag ist aufgeführt; aber es ist immer noch Platz. Da sagte der Herr zu dem Diener: Dann geh auf die Landstraßen und vor die Stadt hinaus und nötige die Leute zu kommen, damit mein Haus voll wird. Das aber sage ich euch: Keiner von denen, die eingeladen waren, wird an meinem Mahl teilnehmen. Zitiert nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Stuttgart, Klosterneuburg 1990. 41| Vgl. Karl Heinrich Rengstorf: Das neue Testament – Deutsch, Bd. 3: Das Evangelium nach Lukas. Göttingen 1969, S. 178–180. 42| Berning: Sinnbildsprache, S. 49.
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zu haben. Was im Lukasevangelium noch auf mehrere Figuren verteilt war, wird hier im Ich konzentriert: Gleichgesetzt wird das »Haus« mit dem eigenen Körper;43 die Poesie wird als Frau allegorisiert. Dies bringt die poetologische Ebene ins Spiel und markiert das Gedicht vom Zweyten Sonntage nach Pfingsten als eines, in dem Schreiblegitimationen und Textproduktion verhandelt werden.44 Denn wie diese Entscheidung für die »Frau Poesie« zu perspektivieren ist, als Widerspruch oder als Erfüllung des göttlichen Willens, damit setzt sich der Text intensiv auseinander. Die Wahl der »Poesie als Weib«45 ist emotional überaus aufgeladen: Das sprechende Ich ›vergöttert‹ die Poesie geradezu, es will ihr »zum süßem Zeitvertreib« (V. 8) alles zu Füßen legen. Dies wird in der zweiten Strophe sogar noch verstärkt. Das geistliche Lied erinnert hier fast an ein Liebesgedicht (unter anderem durch Allusionen zum Minnesang): Die Frau Poesie ist lieblich, ihre Schönheit gar so überwältigend, dass das sprechende Ich sich der Anschauung derselben alle Zeit, bei Tag (»Der lichten Stunden Blitzen«, V. 15) und bei Nacht (»Der Träume Himmelsthau«, V. 16), widmen möchte. Die ersten beiden Strophen des Gedichtes erscheinen so als überschwängliche »Ode an die Poesie«, die »Frau Poesie« wird zur Angebeteten, zur Verehrten, deren Schönheit alles andere übertrifft. Belegt wird sie gleichzeitig mit Attributen (beispielsweise dem Zu-Füße-legen), die sonst eher dem Göttlichen zuzuschreiben sind. All dies ändert sich abrupt in der dritten Strophe. Aus dem Monolog wird hier nur kurzzeitig ein Dialog, bevor das sprechende Ich verstummt.46 Eine innere Stimme meldet sich zu Wort, dringt an das Ohr des Ichs, bis es dasselbe als Klimax der Strophe in doppelter, gesteigerter Exclamatio als »Thor«, also als Narr, als verrückte Person bezeichnet. Das Haus sei nur verpfändet, also nur für eine bestimmte Dauer überlassen, der Leib sterblich, vergänglich und zudem nur gegen ein Pfand (es ließe sich spekulieren: gegen Glaubenstreue) verliehen. Die Zeit also, die das sprechende Ich dem »Erdenleib« – wie in der ersten Strophe beschrieben – widmet, ist verschwendete Zeit. Wird in der dritten Strophe der Wert des »Hauses«, des Körpers diskutiert und derselbe dabei gleichzeitig diskreditiert, so ist es in der fünften 43| Auch dies ein Verfahren, dass in Drostes Œuvre öfter zu beobachten ist. Vgl. dazu die Interpretation des Droste-Gedichtes Das öde Haus durch Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter, S. 215f. 44| Der Allegorie Frau/Poesie ist dabei eine gängige Genderkonstruktion unterlegt: Perspektiviert wird die Frau Poesie als Verführerin, als Eva, die das sprechende Ich von seinem Gott gewollten Weg ab- und in Ver suchung bringt. 45| Das ›Maskenspiel‹, die Polyphonie, die Vielstimmigkeit der Erzählerstimmen, die das Geistliche Jahr auszeichnet, wird an dieser Stelle sehr deutlich, könnte man die Erzählstimme hier doch als männlich semantisiert charakterisieren. 46| Damit erinnernd an die Leib-Seele-Dialoge und populäre Streitgespräche des Mittelalters, wie beispielsweise den Basler Dialog zwischen Seele und Leib oder die Visio Philberti. Vgl. dazu Häntzschel: Tradition und Originalität, S. 40f.
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Strophe die Poesie. Die »liebliche Frau« zeigt hier, in der Rede der inneren Stimme, die vielleicht als Stimme des Gewissens interpretiert werden kann, ihr wahres Gesicht und wird zur strengen Norne, zur Schicksalsgöttin, die vampirisch das Leben aussaugt: »Für das […] Ich« – so konstatiert Stephan Berning und ähnlich argumentiert auch der Kommentar der Historisch-kritischen Ausgabe – »ist es die Poesie, die vom Heile abhält.«47 Daran anschließend wird das Gegenprogramm entwickelt und die Alternative aufgezeigt: Das Talent, das das sprechende Ich auszeichnet, kann dazu dienen, etwas zu gewinnen, »Was aller Leiden Dorne/ wiegt überschwenglich auf« (V. 39f.): Wird die Poesie zur Stimme, die geistliche Lieder singt, so verwandelt sie sich zum »Himmelshauch« und Rettung ist gewiss. Das Programm scheint eindeutig: Der Hingabe, der Liebe zur (zwecklosen) Schönheit der Poesie, zum »süßen Zeitvertreib«, die in den ersten beiden Strophen in Worten geschildert wird, mit denen eine Vergöttlichung der Poesie einherzugehen scheint, stehen vier Strophen entgegen, die dieses Konzept kritisieren, durchkreuzen und bemüht sind, ein konträres Szenario zu entwickeln. Dabei wird das die Poesie in hohen Tönen besingende Ich selbst sprachlos: Es ist die zweite Stimme, die innere, die des Gewissens, die die Sprecherrolle übernimmt und die Stimme des sprechenden Ichs kontrafaziert, indem es sie zum »Thor« erklärt. Das »Einspannen« der Poesie zum Gotteslob, die Ablehnung der weltlichen Dichtung als Agenda des Textes, Pegasus also im religiösen Joche? Das Gedicht zum Zweyten Sonntage nach Pfingsten enthielte damit in nuce die Programmatik des Geistlichen Jahres … Doch ganz so einfach ist das nicht, schließlich muss das Ende eines Gedichts nicht zwangsläufig die Aufhebung des vorher Ausgeführten bedeuten, denn die Schlusskonfiguration – sie mag einer Genrekonvention, dem Adressatenkreis oder dem Zeitgeist geschuldet sein – vermag nicht immer all das einholen, was im Text vorher vollzogen wurde. Ein Gedicht nur von seiner Schlusskonfiguration her zu lesen, ist prekär. Speziell für das Gedicht vom Zweyten Sonntage nach Pfingsten bedeutet das: Der Verve, den eindrücklichen Bildern, die die ersten beiden Strophen in Bezug auf die Allegorie der Poesie entwickeln, wird in den folgenden Strophen nichts mit solcher Ausdruckskraft entgegen gesetzt. »Die Faszination,« so Claudia Liebrand, die von der ›lieblichen Frau‹ Poesie ausgeht, zieht das sprechende Ich geradezu magnetisch an. Und auch das eindringlichste Bild, das sich im Gedicht findet, modelliert die Poesie in ihrer Autonomie und Grandiosität, auch in ihrer Monstrosität.48
Vorgeführt wird damit das, was Hildebrand als performativen Widerspruch der poetologischen Lyrik bezeichnet:
47| Berning: Sinnbildsprache, S. 82. 48| Liebrand: Todernstes Rollenspiel, S. 114.
P OETOLOGISCHE D IMENSIONEN IN D ROSTES G EISTLICHEM J AHR [Das poetologische Gedicht] konstituiert den Gegenstand in der künstlerischen Darbietung, löst das Gesagte also immer schon affirmativ ein oder subvertiert es selbstkritisch im performativen Widerspruch. Das Verhältnis zwischen einer theoretischen Aussage und ihrer formalen Gestaltung muß im poetologischen Gedicht ja nicht immer das einer spiegelnden oder exemplifizierenden sein. 49
Beziehen lässt sich dieser ›Widerspruch‹ auch auf die ›poesie-feindlichen‹ Strophen drei bis sechs, die mit Metaphern, Motiven und Wortfeldern arbeiten, die der propagierten Ablehnung der Poesie entgegen zu laufen scheinen. Beispielhaft sei das für die vierte Strophe gezeigt: Der Faden, der jederzeit enden kann, weist auf die später im Text genannten Nornen voraus, die, als nordische Variante der antiken Parzen laut Mythos den Lebensfaden sowohl spinnen, als auch aufteilen und schließlich abschneiden. Weitergeführt wird das Bild aber mit der Spindel, die »rollt und rennt« und damit eine Tempus-fugit-Thematik einspielt.50 »Keiner« – so die Rede im Gedicht – kann diesen Faden verlängern und den Tod umgehen. Die im Text entwickelte Bildlichkeit aber verweist auf eine Alternative, die in anderen Gedichten des Geistlichen Jahres entworfen wird. Aufgerufen werden mit dem Faden, der Spindel – Parallelen ließen sich ebenfalls ziehen zum Knaben im Moor51 – Handarbeitsmetaphern, die gleichzeitig auf das Gewebe des Textes, auf die Textproduktion selbst verweisen. Und es ist diese Textproduktion, die der Endlichkeit des Lebens entgegen zu setzen ist. Das textuelle Gewebe nämlich, das formuliert das sprechende Ich an anderer Stelle des Zyklus äußerst prominent, hat die Möglichkeit, die Endlichkeit zu überwinden. So handelt das Gedicht vom Fünften Sonntage in der Fasten zwar vom Einsehen in die Notwendigkeit und die Unumgänglichkeit des Todes und der Tod wird als Voraussetzung für die Wiederauferstehung am Jüngsten Tag gerechtfertigt, trotzdem konstatiert das sprechende Ich in einer souveränen Geste:
49| Hildebrand: Einleitung, S. 5. 50| Auch das letzte, prominente Gedicht des Zyklus Am letzten Tage des Jahres (Sylvester) operiert mit dieser Thematik. So heißt es in der ersten Strophe: Das Jahr geht um,/ Der Faden rollt sich sausend ab./ Ein Stündlein noch, das letzte heut,/ Und stäubend rieselt in sein Grab/ Was einstens war lebendge Zeit./ Ich harre stumm.« Annette von Droste-Hülshoff: Am letzten Tage des Jahres (Sylvester), in: HKA IV,1, S. 165f., hier S. 166. 51| Im Knaben im Moor heißt es gleich zu Beginn: »O schaurig ist’s über’s Moor zu gehen,/ Wenn es wimmelt vom Haiderauche,/ Sich wie Phantome die Dünste drehn/ Und die Ranke häkelt am Strauche« (V. 1–4). Und weiter in der dritten Strophe: »Vom Ufer starret Gestumpf hervor,/ Unheimlich nicket die Föhre,/ Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,/ Durch Riesenhalme wie Speere;/ Und wie es rieselt und knittert darin!/ Das ist die unselige Spinnerin,/ das ist die gebannte Spinnenlenor’,/ Die den Haspel dreht im Geröhre!« (V. 17–24). Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor, in: HKA I,1, S. 67–68, hier S. 68 (Hervorh. d. Verf.).
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T HOMAS W ORTMANN Meine Lieder werden leben, Wenn ich längst entschwand, Mancher wird vor ihnen beben, Der gleich mir empfand. Ob ein Andrer sie gegeben, Oder meine Hand! Sieh, die Lieder durften leben, Aber ich entschwand!52
Dem erzwungenen, unumgänglichen Verschwinden von dieser Welt, der Endlichkeit wird ein Relikt, ein Erbe entgegengesetzt: die eigenen Lieder. Diese haben die Möglichkeit, den Tod des Ichs zu überleben, sie ermöglichen Teilhabe an der Ewigkeit. Noch deutlicher und aufregender wird diese Pose im Vergleich mit einem weiteren Gedicht des Geistlichen Jahres. Im Motto des Zweyten Sonntages im Advent heißt es: »– Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.«53 Hier sind es nicht die Worte des sprechenden Ichs, die die Zeit überdauern, sondern es ist Gottes Wort. Die Verse des Fünften Sonntages in der Fasten, die Lieder, die leben und damit die Zeit überdauern, lehnen sich aber an diese Formulierung an und evozieren das Bild einer die Zeiten überdauernden Poesie. Ausformuliert scheint hier Drostes bekanntes Diktum, in hundert Jahren gelesen werden zu wollen.54 Der ›Unsterblichkeitstopos‹ aber, die Reflexion über das ›Nachleben‹ der eigenen Werke ist, das belegt Walter Hinck eindrücklich an zahlreichen Beispielen vom Barock bis zu Brecht, eine Konstante innerhalb der poetologischen Lyrik.55 Konzentriert wird die dichterische Selbstaussage im Geistlichen Jahr schließlich im Gedicht vom Vierten Sonntage im Advent:56 Fragts du mich, wer ich bin? Ich berg es nicht: Ein Wesen bin ich sonder Farb’ und Licht. Schau mich nicht an; dann wendet sich dein Sinn, Doch höre! höre! höre! denn ich bin Des Rufers in der Wüste Stimme.57
52| Annette von Droste-Hülshoff: Am fünften Sonntage in der Fasten, in: HKA IV,1, S. 36–38, hier S. 37. 53| Annette von Droste-Hülshoff: Am zweyten Sonntage im Advent, in HKA IV,1, S. 152f., hier S. 152. 54| Annette von Droste-Hülshoff: Brief an Elise Rüdiger vom 24. Juli 1843, in: HKA X,1, S. 85–90, hier S. 89. 55| Vgl. Hinck: Magie und Tagtraum, S. 14–22. 56| Vgl. Gößmann: Das Geistliche Jahr Annette von Droste-Hülshoffs. 57| Annette von Droste-Hülshoff: Am vierten Sonntage im Advent, in: HKA IV,1, S. 156f., hier S. 156.
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Zwar wird in der dem Gedicht als Motto vorangestellten, zusammengefassten Perikope auf den Text des Evangeliums und damit auf Johannes den Täufer als Sprechenden verwiesen. Trotzdem ließe sich auch eine Lektüre vorstellen, in der es das sprechende Ich ist, das sich hier als Stimme in der Wüste, mithin als prophetische Stimme visioniert, die in dreifacher Exclamatio dazu auffordert, ihr zuzuhören.58 Verweisen können diese Verse auf das programmatische Dichtergedicht Mein Beruf. Auch dort ist es die Antwort auf die Frage nach der Legitimation des sprechenden Ichs, die mit dem mehrmaligen Imperativ »Hört!« operiert: So hört denn, hört, weil ihr gefragt: Bei der Geburt bin ich geladen, Mein Recht soweit der Himmel tagt, und meine Macht von Gottes Gnaden.59
Entgegen der Kritik der Poesie im Zweyten Sonntage nach Pfingsten ist dem Gesamtzyklus eine Argumentation eingeschrieben, die der offensichtlichen Agenda des Gedichtes widerspricht. Mit sprachlicher Finesse, mit Hilfe der Poesie, wird – auch im Zweyten Sonntage nach Pfingsten – mit ambivalenten Bildern ein mehrdeutiger Text entworfen, der der offen geäußerten Poesie-Kritik zuwiderläuft und eine souveräne Dichterposition zu entwerfen vermag. Vor diesem Hintergrund aber lässt sich auch die letzte Strophe ein wenig anders perspektivieren. Das Talent im übertragenen Sinne – darauf wird explizit angespielt60 –, soll zum wuchernden Pfund werden und reichen Ertrag bringen. Eingebunden und damit ›gebändigt‹ wird dieses Bild in und von einem religiösen Kontext. Die Poesie wird zur »dienenden […] Vermittlerin«61 des Religiösen, sie soll genutzt werden, um geistliche Lieder, den »Himmelshauch« zu produzieren. Dieser »Himmelshauch« kann allerdings auch anderes gelesen werden: Kann das Talent, die göttliche Spende zum »Himmelshauch« transformiert werden, so sind auch Assoziationen möglich, die das sprechende Ich als Alter Deus, als Altera Dea konzipieren, das, wie Gott dem Menschen, dem Werk Leben einhaucht. Die Poesie bietet damit – im Gegensatz oder eher die Ambivalenz des Bildes der Nornen betonend – auch die Gabe, Leben zu spenden. Denn die Nornen sind laut Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens nicht nur Göttinnen des Todes, sondern auch der Geburt: 58| Vgl. Meinolf Schumacher: »Ein Wüstenherold für die Noth. Zu Pragmatik und Aktualität von Annette von Droste-Hülshoffs Geistlichem Jahr«, in: Droste-Jahrbuch 6 (2005/06), S. 105–122. 59| Annette von Droste-Hülshoff: Mein Beruf, in: HKA I,1, S. 97–99, hier S. 97. 60| Vgl. Winfried Woesler u. Walter Gödden: »Am zweyten Sonntage nach Pfingsten« [Kommentar], in HKA IV,2, S. 457–460, hier S. 459. 61| Berning: Sinnbildsprache, S. 84. Vgl. auch, diese Deutung problematisierend, Liebrand: Todernstes Rollenspiel.
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T HOMAS W ORTMANN Wichtig erscheint uns hier die Befugnis der N[ornen], zu schaffen und zu urteilen. Geburt, Heirat und Sterben wird von ihnen verhängt; die Gesamtheit des Verhängten ist das Urgesetz, das alte große Gewebe, eben das Schicksal […].62
Die vampirisch anmutenden Nornen, die das Leben aussaugen, werden so zu ›Göttinnen der Geburt‹, zu Begleiterinnen der Frau Poesie, mithin zu ›Geburtshelferinnen‹ für das dichterische Werk, für den Text, der die Endlichkeit des irdischen Lebens überwinden und die Zeiten überdauern kann.
V. Deutlich wird an diesem Beispiel – es ließen sich auch zahlreiche andere Gedichte anführen63 –, wie dem Geistlichen Jahr als groß angelegtem Projekt, aber auch in seinen einzelnen Teilen poetologische Reflexionen und Verhandlungen der eigenen Dichterposition eingeschrieben sind. Zum einen werden Glaubenszweifel formuliert und radikalisiert, der Auseinandersetzung mit den als prekär und problematisch empfundenen Aspekten des Glaubens wird breiter Raum beigemessen. Thematisiert wird zur selben Zeit in der »Zweckdichtung« die Frage nach der Textproduktion selbst, nach der Legitimation des Schreibens, der eigenen schriftstellerischen Produktion und dem Nachleben derselben: Aus dem ›frommen Andachtsbuch zum Hausgebrauch‹ wird ein ambitioniertes literarisches Großprojekt, ein Versuchsfeld der eigenen Kreativität, dem die Frage nach der Angemessenheit solcher Beschäftigung stets eingeschrieben ist. Im Kontext des Gesamtzyklus zeigt sich, dass der zornig geäußerten PoesieKritik, die beispielsweise die Agenda des Gedichts vom Zweyten Sonntage nach Pfingsten zu bestimmen scheint, eine Verteidigung und Legitimierung der eigenen Position eingeschrieben ist. Perspektiviert man das Geistliche Jahr ein wenig anders, nutzt man nicht den offensichtlichsten Zugang zum Text, so zeigt sich, dass auch andere Lektüren möglich sind: Mit einer so verschobenen Perspektive wird aus der Zweckdichtung eine zweckentfremdete Dichtung, aus dem Geistlichen Jahr ein poetologischer Text.
62| »Nornen«, in: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (unveränderter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1927–1942), Bd. 6, Berlin 2000, Sp. 1121–1124, hier Sp. 1122. 63| Anführen ließen sich beispielsweise die Gedichte vom Fünften Sonntage in der Fasten, vom Vierten Sonntage nach Ostern oder vom Fünften Sonntage nach Ostern.
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L ITER ATUR Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (unveränderter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1927–1942), Bd. 6, Berlin 2000. Bankwitz, Arthur: Die religiöse Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff. Berlin 1899. Berndt, Frauke: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1700. Tübingen 2011 (im Erscheinen). Berning, Stephan: Sinnbildsprache. Zur Bildstruktur des Geistlichen Jahrs der Annette von Droste-Hülshoff. Tübingen 1975. Detering, Heinrich: »Versteinter Äther, Aschenmeer. Metaphysische Landschaften in der Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff«, in: Droste-Jahrbuch 7 (2007/08), S. 41–68. Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hg. v. Winfried Woesler. 14 Bde. (in 28 Teilbänden). Tübingen 1978–2000. Eilers, Edgar: Probleme religiöser Existenz im »Geistlichen Jahr«. Die Droste und Sören Kierkegaard. Werl 1953. Fricke, Harald: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. Gößmann, Wilhelm: »Das Geistliche Jahr Annette von Droste-Hülshoffs«, in: Hochland 55 (1963), S. 448–457. Gößmann, Wilhelm: »Die Modernität der Droste. Lese-Erwartungen«, in: Monika Salmen u. Winfried Woesler (Hg.): »Zu früh, zu früh geboren…« Die Modernität der Annette von Droste-Hülshoff. Düsseldorf 2008, S. 9–17. Grimm, Gunter E.: »Einleitung. Zwischen Beruf und Berufung – Aspekte und Aporien des modernen Dichterbildes«, in: Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1992, S. 7–15. Häntzschel, Günter: Tradition und Originalität. Allegorische Darstellung im Werk Annette von Droste-Hülshoffs. Stuttgart 1968. Hildebrand, Olaf: »Einleitung«, in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1–15. Hinck, Walter: Das Gedicht als Spiegel der Dichter. Zur Geschichte des deutschen poetologischen Gedichts. Opladen 1985. Hinck, Walter: Magie und Tagtraum. Das Selbstbild des Dichters in der deutschen Lyrik. Frankfurt/Main, Leipzig 1994. Jaeschke, Walter: »Das ›Geistliche Jahr‹ – ein Zeugnis der Frömmigkeitsgeschichte des Vormärz«, in: Ortrun Niethammer (Hg.): Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Bielefeld 2002, S. 69–85.
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Was bisher geschah Szondis Gattungstheorie und die epische Paradoxie des langen Dramas in Richard Wagners Rheingold Stefan Börnchen Fangen wir noch einmal an. Jacques Derrida1
1. W AGNERS D YSENTERIE . A USBLICK In Venedig Erdbeeren zu essen, ist riskant – jedenfalls in der heißen Jahreszeit. Das weiß man bildungsweise aus der Literatur. Gustav von Aschenbach, der Protagonist von Thomas Manns 1911 begonnener Novelle Der Tod in Venedig, holt sich diesen Tod durch verdorbene, auf der Straße erworbene Erdbeeren. Doch was für Erdbeeren in Venedig gilt, das gilt auch für Eis in Genua. Davon kann allerdings Richard Wagner, mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor, noch nicht wissen. So hat er offenbar keine hygienischen Bedenken, als er sich in den ersten September-Tagen des Jahres 1853 nicht in Venedig – wo er drei Jahrzehnte später sterben wird –, sondern in der ebenfalls verlockenden und gefährlichen Schwesterstadt Genua ein Eis kauft. Die Folge ist, auf den ersten Blick, beklagenswert und heißt in Wagners eigenen Worten: »Dysenterie«. Auf den zweiten Blick jedoch handelt es sich bei diesem Durchfall auch um einen Glücksfall: einen Glücksfall für die Musikgeschichte. Denn glaubt man Wagners Autobiografie Mein Leben, dann verdanken sich eben dieser metabolischen Verstimmung die Anfangstakte des Rheingolds und damit überhaupt der musikalische Beginn des Ring des Nibelungen, um den es im Folgenden geht. Den Ausgang bildet die gattungstheoretische Frage, warum es sich bei Richard Wagners Rheingold um einen Einakter handelt: einen Einakter, der mit zweieinhalb Stunden Spieldauer extrem lang ist – vielleicht ist 1| Jacques Derrida: Dissemination. Hg. v. Peter Engelmann. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, S. 12.
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es sogar der längste Einakter überhaupt. Wagners Gattungsentscheidung hat, so die These, mit Blick auf den diegetischen Inhalt wie die dramatische und musikalische Form des gesamten Rings mit einer rekursiven Struktur zu tun, zu deren Beschreibung sich Gérard Genettes Begriff des Para- und Jacques Derridas Begriff des Proto- anbieten. So fällt Licht auf Wagners diegetischen, dramatischen wie musikalischen Umgang mit Anfangs- oder Ursprungsszenarien. Gattungstheoretisch ergibt sich dabei eine Paradoxie, die sich im Anschluss an Peter Szondi und zugleich in Abgrenzung von ihm als die epische Paradoxie des langen Dramas bezeichnen lässt. Aus dieser Paradoxie ergibt sich ein gattungstheoretisches Verwandtschaftsverhältnis, das sich, diegetisch gewendet und pointiert, auf die Formel bringen ließe: Wotan hat einen weiteren Enkel – nämlich Jack Bauer, den Protagonisten der Hollywood-Fernsehserie 24. Ist aber Jack Bauer dramaturgisch in einem noch zu erläuternden Sinne ein Bruder Siegfrieds, dann ähneln sich diese Geschwister auch darin, dass beide zwar als Erlöser-Figuren angelegt sind, jedoch keine Erlösung bringen. Im Ring jedenfalls ist es nicht Siegfried, der Wotans – und, im musikdramaturgischen Sinne, auch Wagners – zentrales Problem löst, sondern eine kleine musikalische Phrase. Es ist diejenige musikalische Phrase, die landläufig ›Erlösungsmotiv‹ heißt. Daraus wiederum ergibt sich, warum im Finale des Rheingolds, folgt man Wagners Regie-Anweisung, ein Regenbogen steht.
2. P OË TISCHE O UVERTÜRE , FAK TISCHER PAR ATE X T ? Über das Eis in Genua schreibt Wagner in seiner Autobiografie: Endlich trat der Monat September [1853] ein, von welchem man mir gesagt hatte, daß er für den Besuch Italiens bereits empfehlenswert sei. Mit unerhörten Vorstellungen von dem, was mich erwartete und was meinem Suchen erfüllungsvoll entgegentreten sollte, begab ich mich […] auf meine Reise. […] [U]nter den seltsamsten Abenteuern gelangte ich […] nach Turin. Gänzlich ohne Befriedigung von diesem Aufenthalte, eilte ich nach zwei Tagen sofort nach Genua. […] – Da sich, namentlich infolge des unvorsichtigen Genusses von Gefrorenem, sehr bald die Dysenterie bei mir einstellte, trat in mir plötzlich auf die erste Exaltation eine vollkommen entmutigende Abspannung ein. Ich […] glaubte mich durch einen Ausflug nach Spezia retten zu müssen, wohin ich nach acht Tagen mit dem Dampfschiff abging. […] Meine Dysenterie vermehrte sich durch die Seekrankheit […]. Nach einer in Fieber und Schlaflosigkeit verbrachten Nacht zwang ich mich des andren Tages zu weiteren Fußwanderungen durch die hügelige […] Umgegend. […] Am Nachmittage heimkehrend, streck te ich mich todmüde auf ein hartes Ruhebett aus, um die langersehnte Stunde des Schlafes zu erwarten. Sie erschien nicht; dafür versank ich in eine Art von somnambulem Zustand, in welchem ich plötzlich die Empfindung als ob ich in ein stark fließendes Wasser versänke, erhielt. Das Rauschen desselben stellte sich mir bald im musikalischen Klange des Es-dur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogte; diese Brechungen zeigten sich als melodische Figu-
S ZONDIS G ATTUNGSTHEORIE UND DIE EPISCHE P ARADOXIE DES L ANGEN D RAMAS rationen von zunehmender Bewegung, nie aber veränderte sich der eine Dreiklang von Es-dur, welcher durch seine Andauer dem Elemente, darin ich versank, eine unendliche Bedeutung geben zu wollen schien. Mit der Empfindung, als ob die Wogen jetzt hoch über mich dahinbrausten, erwachte ich in jähem Schreck aus meinem Halbschlaf. Sogleich erkannte ich, daß das Orchester-Vorspiel zum »Rheingold«, wie ich es in mir herumtrug, doch aber nicht genau hatte finden können, mir aufgegangen war; und schnell begriff ich auch, welche Bewandtnis es durchaus mit mir habe: nicht von außen, sondern nur von innen sollte der Lebensstrom mir zufließen. Sogleich beschloß ich nach Zürich zurückzukehren und die Komposition meines großen Gedichtes zu beginnen.«2
Als Wagner dann bei der Abreise doch wieder Gefallen an Italien findet und mit dem Gedanken spielt, touristisch an die Riviera zu fahren, tritt »sofort der alte Zustand mit allen Symptomen der Dysenterie wieder ein«: So zwingt ihn diese Malaise zur »Aufnahme [s]einer Arbeit« am Ring.3 Keine Frage: Hier bricht sich die pathetische Selbststilisierung4 des rastlosen, zu Großem berufenen Künstlers auf kuriose Weise an einem hypochondrischen Mitteilungsbedürfnis, das auch vor der ausdrücklichen Assoziation von »Dysenterie« und »von innen« her fließendem »Lebensstrom« nicht haltmacht. Man weiß nicht recht, ob es sich bei Wagners katachrestischer Überblendung von romantisch-orgiastischer Auflösungsund Verströmungs-Metaphorik einerseits und Verdauungsbeschwerden andererseits um einen rhetorischen Ausrutscher oder um einen groben Scherz handelt – narzisstisch oder, mit Nietzsches Begriff, ›histrionisch‹ ist die zitierte Episode in jedem Fall.5 Dabei belegt sie einmal mehr, was Carl Dahlhaus Wagners »äußerste[s] Mißtrauen gegen die Reflexion als ästhetische Instanz« genannt hat:6 2| Richard Wagner: Mein Leben. 1813–1868. Vollständige, kommentierte Ausgabe. Hg. v. Martin Gregor-Dellin. München 1983, S. 511f. 3| Ebd., S. 512. 4| Als »Mystifikation«, der »zu widersprechen« sei, bezeichnet Martin Gregor-Dellin die zitierte Episode. Vgl. Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert. München 1980, S. 374–376, hier S. 375. 5| »War Wagner überhaupt ein Musiker? Jedenfalls war er etwas Anderes mehr: nämlich ein unvergleichlicher Histrio, der grösste Mime, das erstaunlichste Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben, unser Sceniker par excellence.« Das ist denunziatorisch gemeint und erfährt noch dadurch eine hämische Pointierung, dass Nietzsche Wagner als den »grösste[n] Mime[n]« oder auch »Mime« bezeichnet – ist Mime doch jener ins Lächerliche stilisierte Nibelung, den sein Ziehsohn Siegfried mit einem Handstreich erschlägt. Friedrich Nietzsche: »Der Fall Wagner«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2. Aufl. München 1988, Bd. 6, S. 9–53, hier S. 30. 6| Carl Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas. Regensburg 1971, S. 91. An anderer Stelle schreibt Dahlhaus: »Immer wieder versucht Wagner, durch Worte wie ›unbewußt‹ und ›unwillkürlich‹, den Anschein des durch Reflexion Erzwungenen und Konstruierten fernzuhalten oder zu zerstreuen.« Ebd., S. 48f.
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Denn es ist ja ausdrücklich der – wohlgemerkt: narrativ sorgfältig vorbereitete und doppelt, durch Krankheit und Wanderung motivierte – Erschöpfungszustand des ›Somnambulismus‹, in dem Wagner seine Inspiration wie eine ereignishafte Gabe erfährt. Was Wagner hier anschaulich macht, ist die Emergenz des Rheingold-Beginns und damit des gesamten Ring des Nibelungen aus dem Unbewussten. Der Übergang ins Bewusste und Reflexive vollzieht sich im »jähen Schreck« des Erwachens, darauf folgen dann die ›Erkenntnis‹ des Geschauten und der Entschluss, die Kompositionsarbeit in Angriff zu nehmen. Welchen Erkenntniswert aber haben solche Mitteilungen, und was bedeuten sie in Hinblick auf den Ring? Diese Fragen lassen sich text- und gattungstheoretisch beantworten. Denn text- und gattungstheoretisch lässt sich die zitierte Passage als kommentierender Paratext im Sinne Gérard Genettes lesen; am ehesten handelt es sich in seiner Terminologie wohl um einen »öffentliche[n] auktorialen Epitext«.7 Schenkt man Wagners Bericht Glauben und hält man damit seine »Dysenterie« für ein Faktum, dann handelt es sich möglicherweise nach Genettes Typologie sogar bei Wagners »Dysenterie« um einen Paratext des Rings: nämlich um einen im »textuellen Paratext« der Autobiografie mitgeteilten »faktischen Paratext«.8
3. V ORGESCHICHTE ZUM V ORSPIEL DES V OR ABENDS P ROTOKOLL ARISCHE R EKURSE … Paratexte und ihr kompliziertes Nachträglichkeits- und Rückkoppelungsverhältnis zu den Texten, auf die sie sich beziehen, sowie ihre Funktion als Lektürehinweise sind in der literarischen Moderne immer wieder thematisiert worden. So bezeichnet etwa Novalis in seinem Allgemeinen Brouillon »[d]ie Vorrede [als] eine poëtische Ouvertüre – oder ein Avertissement für den Leser«.9 Jacques Derrida wiederum verfolgt zu Beginn seiner Disse7| Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt/Main 2001, S. 335. 8| Ebd., S. 15. Für die »charakteristischen Selbstverständlichkeiten des faktischen Paratextes […] grundlegend ist«, so Genette, »die Existenz eines impliziten Kontextes im Umfeld des Werkes, der dessen Bedeutung präzisiert oder mehr oder weniger modifiziert […]. […] [W]ir müssen zumindest prinzipiell festhalten, daß jeder Kontext als Paratext wirkt. Die Existenz dieser Fakten kann, wie bei allen Arten des faktischen Paratextes, die Öffentlichkeit durch Erwähnung, die selbst wieder unter den textuellen Paratext fällt, zur Kenntnis gebracht werden oder nicht […].« Ebd. – Genette weicht der Frage nach der »Beschaffenheit« und Reichweite der »zum Kontext gehörenden Fakten« aus; vgl. zu diesem Problem die Ausführungen vor der Fußnote 17 sowie das Derrida-Zitat in Anm. 17. 9| »Philol[ogie]. Die Vorrede eine poëtische Ouvertüre – oder ein Avertissement für den Leser, wie für den Buchbinder. Das Motto ist das musicalische Thema. Der Gebrauch des Buches – die Phil[osophie] seiner Lektüre wird in der Vorrede gegeben.« Novalis: »Das allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik) 1798/99«, in: Ders.: Wer-
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mination die komplizierten Wechselwirkungen zwischen einem Text und jenem »Text-Außerhalb (hors-texte)«, das Derrida mit einer für ihn typischen Paläonymie als »Protokoll« bezeichnet, als eine nachträglich »über der Eröffnung – der ersten Seite – angeklebte erste Seite«.10 Als ein solches Supplement aber, wie man mit aus einem anderen Kontext geborgten Begriff Derridas sagen könnte,11 teilt und zerstört das protokollon die Anmaßung eines Anfangs der ersten Seite wie die eines jeden incipit.12 Es fängt nunmehr alles – Gesetz der Dissemination – mit einer Doublierung an.«13
Das Proto- von Derridas protokollon entspricht dem Para- von Genettes Paratext: Das protokollon setzt also dem incipit, dem Anfang (oder Text), ein weiteres incipit (oder Paratext) davor, so dass der ursprünglich erste Anfang jetzt zum zweiten wird: Er ist doubliert. Um solche Doublierungen geht es im Folgenden mit Blick auf Wagner. Ein Beispiel dafür hat ja schon seine Anekdote vom metabolisch motivierten Wasser-Rauschen geliefert, die entstehungsgeschichtlich nach der Komposition des Rheingold-Vorspiels mit seinem Dreiklang-Rauschen kommt, aber von einem Geschehen berichtet, das der Komposition – möglicherweise sogar kausal –14 vorausgegangen sein soll. Man muss sich klarmachen, dass Wagner hier den immer wieder als künstlerisch genial-zwingend gepriesenen Beginn des Rheingold-Vorspiels durch ein kontingentes biografisches Ereignis der läppischsten, ja peinlichsten Art motiviert: Eisessen und Durchfall. Dem musikalischen Ring-»incipit« wird das entstehungsgeschichtliche Eisessen-und-Durchfall-»incipit« vorne angeklebt. Dieses autobiografische protokollon überklebt so paratextuell das in der Partitur – dem eigentlichen Text – notierte incipit der ersten Takte. Dieses Verfahren heißt im Folgenden in Anlehnung an Derrida ke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. 3 Bde. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999, Bd. 2, S. 471–720, hier S. 598 (Fragment Nr. 550). 10| Derrida: Dissemination, S. 13 und 16. 11| Vgl. hierzu und zur Etymologie des ›Protokolls‹ Stefan Börnchen: Kryptenhall. Allegorien von Schrift, Stimme und Musik in Thomas Manns »Doktor Faustus«. München 2006, S. 41–43. Vgl. zum Begriff des ›Supplements‹ Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 114–123. 12| Vgl. zum »historischen Incipit[.]«, zur »praefatio« und zu der »sehr ausdrücklichen und eher biederen Grenzziehung zwischen Vorwort und Erzählung: ›Ich beginne.‹« Genette: Paratexte, S. 161. 13| Derrida: Dissemination, S. 16. 14| Erzähltheoretisch verstanden und in lockerem Anschluss an Eberhard Lämmert, Matias Martinez und Michael Scheffel, läge dann eine »konsekutive […] Form der Verknüpfung« vor, der eine »kausal[.] […] explikative Funktion zukommt.« Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005, S. 78.
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protokollarischer Rekurs;15 das Oxymoronhafte an diesem Ausdruck soll auf die hier umrissene Nachträglichkeit16 des Verfahrens verweisen – eine Nachträglichkeit, die – wie zu zeigen ist – in Wagners Leitmotivik zum Prinzip erhoben wird. Dabei liegt auf der Hand, dass Genettes Paratext – wie Derridas Protokoll-Begriff – verstanden als Intertextualitätstheorien mit einem programmatisch besonders, genau genommen: unbegrenzt weiten Begriff von Intertextualität – davon ausgehen, dass Texte keine scharf gezogenen Grenzen aufweisen, sondern unscharfe Ränder oder Schwellen, über die Texte mehr oder wenig mittelbar, aber immer kontinuierlich mit anderen Texten – gewissermaßen als einem je zusätzlichen incipit – verbunden sind. Mit dem »faktischen Paratext« wird schließlich die Vorgeschichte zum Paratext und so, soll es die gesamte sein, der ganze Weltlauf. Die Vorstellung grenzt ans Absurde. Derrida berührt sie mit seiner Vorstellung eines totalen Kontextes, den er als ›transzendentales Signifikat‹ bezeichnet.17 Interessant in Hinblick auf eine Interpretation des Rings im engeren Sinne ist der nachgezeichnete Rekurs deshalb, weil Wagner hier ein rekursives Verfahren ins Paratextuelle verlängert, das den Ring auch intratextuell charakterisiert – und zwar sowohl musikdramatisch – genauer: dramaturgisch und musikalisch – als gattungstheoretisch, das heißt in Hinblick auf eine deutlich markierte Gattungszuschreibung, und schließlich auch entstehungsgeschichtlich. Was die protokollarischen Rekurse betrifft, ist der entstehungsgeschichtliche Rekurs am schnellsten erklärt. Ursprünglich will Wagner eine »Heldenoper« mit dem Titel Siegfrieds Tod schreiben. Daraus wird schließlich die Götterdämmerung.18 Bei einer Lesung des Entwurfs kritisiert schon 1848 der von Wagner wegen seines dramaturgischen Gespürs 15| Genette argumentiert selbst mit Blick auf Derrida; so verweist er gleich zu Beginn seines Kapitels Die Instanz des Vorworts auf Derridas Dissemination; vgl. Genette: Paratexte, S. 157f. 16| Vgl. hierzu Birgit Erdle: »Traumatisierte Schrift. Nachträglichkeit bei Freud und Derrida«, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1997, S. 78–93. 17| In der Dissemination schlägt Derrida eine »philosophische Dekonstruktion« vor, die »nicht mehr die Form einer Versicherung haben dürfte: weder die eines Referenten (zumindest, wenn man ihn als reales Ding oder als reale Ursache begreift, dem System der allgemeinen Textualität vorausgehend und äußerlich)[,] noch die Gegenwärtigkeit […] noch die eines grundlegenden oder totalisierenden Prinzips, geschweige denn einer letzten Instanz: kurz, dieses gesamte Text-Außerhalb (hors-texte), das die Verkettung der Schrift (dieser Bewegung, die jedes Signifikat in die Situation differentieller Spur versetzt) zum Halten brächte und für das ich den Begriff ›transzendentales Signifikat‹ vorgeschlagen habe.« Derrida: Dissemination, S. 12f. 18| Vgl. hierzu Peter Wapnewski: Der Ring des Nibelungen. Richard Wagners Weltendrama. 5. Aufl. München 2007, S. 22, sowie ders.: »Musikdrama. Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend«, in: Ulrich Müller u.
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geschätzte Eduard Devrient, »daß die Geschichte allzuviel Vorgeschichte mit sich trage«.19 Also widmet Wagner dieser Vorgeschichte ein eigenes Drama mit dem Titel Der junge Siegfried, daraus wird später der Siegfried. Schließlich folgen noch die Walküre und das Rheingold. 1852 ist die »RingDichtung im Wesentlichen abgeschlossen, und was als Text im Krebsgang entstand, vom Finale hin zum Uranfang, wird nunmehr, seit 1853, vom Beginn zum Ende hin komponiert.«20 Formal herausgekommen ist dabei, so scheint es auf den ersten Blick und so wird der Ring häufig genannt, eine Tetralogie, also – nach der Duden-Definition – eine »Folge von vier eine Einheit bildenden Dichtwerken« oder »Kompositionen«. Genauer betrachtet, auf den zweiten Blick, handelt es sich jedoch, so Wagners Gattungsbezeichnung, um »Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend«. Das Rheingold als »Vorabend« ist also nicht nur ein Vor-Abend und insofern ein gattungsmäßiges Proto-, Para-, Peri- oder Epi-Phänomen,21 sondern das Rheingold ist auch bloß ein Vor-Abend und kein voller »Tag«, der den Abend mit einschließen würde. Wagners Gattungsbezeichnung steht damit ausdrücklich in Widerspruch zu Wotans Rekapitulation des Rheingold-Geschehens im Finale des Rheingolds: Abendlich strahlt der Sonne Auge; in prächtiger Gluth prangt glänzend die Burg. In des Morgens Scheine muthig erschimmernd, lag sie herrenlos hehr verlockend vor mir. Von Morgen bis Abend in Müh’ und Angst nicht wonnig ward sie gewonnen! Es naht die Nacht: vor ihrem Neid biete sie Bergung nun.22
Peter Wapnewski (Hg.): Richard-Wagner-Handbuch. Stuttgart 1986, S. 269–331, hier S. 269–273. 19| Vgl. ebd., S. 271. 20| Wapnewski: Der Ring des Nibelungen, S. 22. 21| Vgl. zum Verhältnis dieser Begriffe Genette: Paratexte, S. 12f. 22| Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Vollständiger Text mit Notentafeln der Leitmotive. Hg. v. Julius Burghold. 9. Aufl. Mainz 2004 (Reprint der Originalausgabe 1913), S. 78; im Klavierauszug: Richard Wagner: Rheingold. Klavierauszug mit Text von Felix Mottl. Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York [1997], S. 245f.
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Anders also als in Wotans Worten »Von Morgen bis Abend« ist in Wagners Gattungsbezeichnung vom Rheingold nur als »[A]bend« die Rede, und zudem ist dieser nachgestellt: »Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend«, heißt es gegen die logische und chronologische Ordnung der Diegese: ganz so, als solle darauf hingewiesen werden, dass es sich beim Rheingold um ein nachträglich, aber vorne angeklebtes protokollon im zitierten Sinne Derridas handelt. Darüber hinaus bilden die drei »Tage« nicht nur untereinander eine trinitarische Einheit, in der kein Platz mehr ist für einen vierten Tag, sondern sie sind auch jeweils in sich dreiteilig. Darin liegt wiederum eine spezifische Differenz zum Rheingold. Denn während die Walküre, der Siegfried und die Götterdämmerung je drei »Aufzüge« oder Akte haben, ist das Rheingold ein Einakter, der wiederum nicht aus drei, sondern aus vier Szenen besteht und auch damit in Differenz zur gattungsmäßigen Gliederung oder Form der drei »Tage« steht. Ist das Rheingold also im genannten Sinne eines protokollarischen Rekurses als »Vorgeschichte« und damit als Paratext des »Bühnenfestspiel[s] für drei Tage« markiert – in Reclams Opernführer ist der Inhaltsangabe des Rheingolds, diese Logik weitertreibend, ein »Vorgeschichte« genannter Abschnitt vorangestellt –,23 so wiederholt sich dieses protokollarisch-rekursive formale Verfahren noch ein weiteres Mal innerhalb des Rheingolds selbst, nämlich in Form des Vorspiels, das laut Regieanweisung bei geschlossenem Vorhang stattfindet. Wieder handelt es sich um einen protokollarischen Rekurs, wieder ist sein Status als nicht recht vom eigentlichen Text zu trennender, vielmehr ihn überlappender Paratext programmatisch unklar. Das Vorspiel steht zwar ausdrücklich vor der ersten Szene, geht dann aber mit Aufziehen des Vorhangs – anders etwa als die klassische Ouvertüre – ohne Unterbrechung in die erste Szene über: auch hier also ein Schwellenphänomen ganz im Sinne Genettes, heißen doch seine Paratexte im französischen Original »Seuils, wörtlich ›Schwellen‹«.24 Auch hier also das Schwellenphänomen der allmählichen »Kunst des feinsten allmählichsten Übergangs«, auf die Wagner erklärtermaßen besonders stolz war,25 auch hier also ein dem incipit der ersten Szene vorn 23| Rolf Fath: Reclams Opernführer. 34. Aufl. Stuttgart 1999, S. 307. 24| Harald Weinrich: »Vorwort«, in: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt/ Main 2001, S. 7f., hier S. 7. 25| Die berühmte Formulierung entstammt einem Brief an Mathilde Wesendonck vom 29. Oktober 1859: »Ich erkenne nun, daß das besondere Gewebe meiner Musik (natürlich immer im genauesten Zusammenhang mit der dichterischen Anlage), was meine Freunde jetzt als so neu und bedeutend betrachten, seine Fügung namentlich dem äußerst empfindlichen Gefühle verdankt, welches mich auf Vermittelung und innige Verbindung aller Momente des Überganges der äußersten Stimmungen ineinander hinweist. Meine feinste und tiefste Kunst möchte ich jetzt die Kunst des Übergangs nennen, denn mein ganzes Kunstgewebe besteht aus solchen Übergängen: das Schroffe
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»angeklebte[s]« (Derrida) weiteres incipit. Der Klavierauszug der Edition Peters reflektiert den Status des Vorspiels als Schwellenphänomen insofern, als er im Inhaltsverzeichnis das Vorspiel typografisch und hierarchisch von der folgenden ersten Szene absetzt, diesen Hiatus dann aber sofort in der parataktisch reihenden Überschrift »Vorspiel und erste Szene« zurücknimmt.26 So gesehen, ist es unklar, ob das Vorspiel ein Text-Teil der ersten Szene ist oder aber ihr vorausgeht: der Anfang ist, mit Genette, paratextuell beziehungsweise, mit Derrida, protokollarisch doubliert.
4. … AD FONTES R AUSCHEN Schließlich gibt es noch einen dritten protokollarischen Rekurs, ein weiteres incipit, das musikalisch-technischer Natur ist – und zwar, so könnte man sagen, musikalisch-technischer Natur im Wortsinne. Denn die Natur ist – auch darin folgt Tolkien in seinem Lord of the Rings dem Vorbild Wagners – der primordiale Urzustand des Rings, in dem alles noch gut war – und der, natürlich, vom Beginn der Handlung an schon verloren ist: sei es, dass schon das Spiel der Rheintöchter untereinander nicht mehr unschuldig ist, sei es, dass erst mit Alberichs erotischer Gier die erste Szene ihre Unschuld verliert. Schon ganz zu Beginn also ist der Ring des Nibelungen, wie es Peter Wapnewski ausgedrückt hat, »eine große Parabel vom Leben, das seiner Natur nach unschuldig ist und das durch seine Geschichte schuldig wird.«27 Die vorgeschichtliche Natur aber, sie ist verloren. Und doch ist sie noch, zumindest für die kurze Zeit einiger Takte, da – nämlich ganz zu Beginn des Rheingold-Vorspiels in Form eines weiteren protokollarischen Rekurses, den man nicht nur als Paratext, sondern besser noch als ParaMusik bezeichnen kann. Wie aber beginnt das Rheingold-Vorspiel? Es beginnt mit – der Stille. Es beginnt mit einigen Sekunden der Stille, und zwar unabhängig davon, ob man es live hört oder von der Schallplatte – oder genauer: einer imperfekten Stille, also mit jenem kaum wahrnehmbaren Rauschen, das Atemgeräusche, Stoffrascheln und unter Gewichtsverlagerung knarzende Holzböden erzeugen – eben die unvermeidlichen akustischen Epi-Phäund Jähe ist mir zuwider geworden; es ist oft unumgänglich und nötig, aber auch dann darf es nicht eintreten, ohne daß die Stimmung auf den plötzlichen Übergang so bestimmt vorbereitet war, daß sie diesen von selbst forderte. Mein größtes Meisterstück in der Kunst des feinsten allmählichsten Überganges ist gewiß die große Szene des zweiten Aktes von Tristan und Isolde.« Richard Wagner an Mathilde Wesendonk [sic!]. Tagebuchblätter und Briefe 1853–1871. Hg., eingel. und erläutert von Wolfgang Golther. 58. Aufl. Leipzig 1916 [sic!], S. 232–237, hier S. 232f. 26| Wagner: Rheingold. Klavierauszug, S. 4 und 5. 27| Wapnewski: Musikdrama, S. 276.
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nomene.28 Dann erst tritt im Pianissimo die auf dem Kontra-Es stehende Oktave (,Es – Es) der Kontrabässe hinzu, ohne erkennbares Metrum, ohne Rhythmus – daher ist es ohne musikalische Erfahrung nicht ganz einfach, im Klavierauszug mitzulesen –, oder genauer: ohne ein mit dem Ohr erkennbares Metrum, denn am Taktschlag des Dirigenten mag man es – entgegen Wagners Vorstellung vom unsichtbaren Orchester – erkennen. In den Fagotten tritt die Quinte vom großen Es zum großen B hinzu (Es – B), dann folgt auf dem großen Es aufbauend in den Hörnern der Es-Dur-Dreiklang Es – B – es – g – b – es’ – g’, jeweils gewissermaßen trochäisch-auftaktig mit den abwechselnden Zeitwerten fünf Achtel – ein Achtel; ein Sechs-Achtel-Takt wird jetzt erkennbar. So geht allmählich das Geräusch über in den Einzelton, dieser in die Naturtonreihe und diese schließlich in den Akkord. Dabei erscheint das Dreiklang-generierende, die bisher leere Quinte auffüllende und so das Dur markierende kleine g [g] erst in Takt 18 [!]. Die Tonfolge, das später so genannte ›Natur-Motiv‹, entwickelt sich, Stimmen treten hinzu. Dann – in Takt 49 und 50 [!] – kommen mit dem kleinen f und as (f, as) auf dem jeweils sechsten Achtel die ersten Dreiklangs-fremden Durchgangstöne hinzu;29 hier treten also unter der Vortragsbezeichnung »Immer zart« im Pianissimo die ersten Dissonanzen in Form von Sekundreibungen auf. Schließlich hat sich Es-Dur als Tonalität etabliert, der Vorhang öffnet sich, die Rheintöchter beginnen ihren alliterierenden Gesang mit Woglindes »Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege!«30 Was sich hier vor den Ohren der Zuhörer abspielt, ist die Emergenz der Musik aus dem leisesten Rauschen, aus der Beinahe-Stille – gewissermaßen aus dem kosmischen Hintergrundrauschen, aus dem sich erst allmählich ein vernehmbares Rauschen, dann der musikalische Klang mit definierter Tonhöhe entwickelt: Para-Musik, sozusagen. Dieser Übergang aber von Natur zu Kultur, von Stille und Rauschen zu Klang und Musik reflektiert eben jenen von Wagner in seiner eingangs zitierten Episode wie als Lektürehinweis beschriebenen Übergang vom »Rauschen« des »stark fließende[n] Wasser[s]«, also vom Unbewussten, zum Bewusstsein der Darstellung dieses Rauschens »im musikalischen Klange des Es-Dur-Akkordes […], welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogt[.]« In der Differenz ›Rauschen – Musik‹ spiegeln sich also die topischen Dichotomien ›unbewusst – bewusst‹, ›Natur – Kultur‹, ›flüssiges Chaos‹ – ›feste Ordnung‹ und ›weiblich – männlich‹ wider. In dieser Logik beziehungsweise Mytho-Logik liegt es, dass am Beginn der Ring-Handlung Wotans Gang zur Quelle der drei Nornen steht: 28| Natürlich geht jeder Aufführung einer Oper oder Musikstücks eine solche imperfekte Stille voraus – im Falle des Rheingolds jedoch, so die hier vorgeschlagene Interpretation, wird sie als Paratext zum Teil des Ganzen. 29| Vgl. Robert Donington: Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und Mythos. 4. Aufl. Stuttgart 1995, S. 12–20. 30| Wagner: Rheingold. Klavierauszug, S. 9.
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ein Gang zu den, mit Fausts Worten, »Quellen allen Lebens«,31 an denen zwar nicht wie in Goethes Drama ein Erdgeist »am sausenden Webstuhl der Zeit [schafft]«,32 wohl aber drei Nornen am Schicksalsfaden spinnen. Die Analogien sind frappant: bis hin zu den »Lebensfluten« des »ewige[n] Meer[s]«, in denen der Erdgeist »auf und ab [wallt]«33 und die in ihrer ausführlich entfalteten Wassermetaphorik an den Rheingold-Beginn und Wagners Inspirationsanekdote denken lassen – wie auch der RheingoldBeginn an Friedrich Kittlers Lektüre des Faust-Beginns in den Aufschreibesystemen denken lässt, in denen Kittler die Emergenz der »Deutsche[n] Dichtung« aus dem »Urseufzer« nachzeichnet. Denn wo, Kittler zufolge, die »Deutsche Dichtung in ihrem Stiftungsakt« noch »nicht so frei [ist], an der Stelle von ̳ΑȱΦΕΛϛȱϖΑȱϳȱΏϱ·ΓΖȱ[…] zu schreiben: Im Anfang war Blabla«,34 da geht – so könnte man in forcierter Lektüre sagen – Wagner zurück bis zum Rauschen: musikalisch wie metabolisch ein ›Blabla‹. So gesehen, lässt sich der Auffassung Peter Wapnewskis – eines der besten Wagner-Interpreten, dem diese Ausführungen viel verdanken – widersprechen, das Rheingold-Vorspiel beginne mit dem »statische[n] Klangbild« des »Dreiklangs (in Es-Dur)«, in dem »das Ohr die totale Konsonanz des mathematisch geordneten Weltalles« erlebe:35 Tatsächlich entsteht oder emergiert ja erst vor den Ohren der Zuhörer aus jenem kosmischen Hintergrundrauschen, das auch im Theater zu hören ist, die musikalische Ordnung, die überhaupt erst die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz ermöglicht. Und gerade in dieser Emergenz der Musik als solcher liegt die performative Pointe von Wagners Rückgang in die, so Wapnewski, »Urtiefen«.36 Anders formuliert: Wenn es, wie es in der Dekonstruktion gelegentlich heißt, vorkommt, dass ein Text etwas nicht darstellt, »ohne zugleich« das Dargestellte »zu sein«,37 also zu performieren, dann gilt das sicherlich auch hier: Denn das Rheingold-Vorspiel erzählt nicht nur vom »Anfang der Dinge«, der »[T]iefe«, dem »nahezu Unvordenkliche[n]«, dem
31| Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt/Main 2003, S. 36 (V. 456). 32| Ebd., S. 37 (V. 508). 33| Ebd. (V. 501–505). 34âÛ=ja]\ja[`Û 8Û Balld]jÛ 8m^k[`j]aZ]kqkl]e]Û ~
Û ÝÛ ~Û Û 8myÛ D1f[`]fÛ Û S. 22. 35| Wapnewski: Der Ring des Nibelungen, S. 68. 36| Ebd. 37| Ein Beispiel: »Kleists Erdbeben in Chili stellt dies Erdbeben nicht dar, ohne zugleich das Beben der Darstellung zu sein.« Werner Hamacher: »Das Beben der Darstellung«, in: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. 3. Aufl. München 1993, S. 149–173, hier S. 161.
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»Chaos«, aus dem sich die Geschichte der Welt entwickelt:38 Musikalisch ist – performiert – es diese Entwicklung auf die beschriebene Weise. Der Beginn des Rheingold-Vorspiels ist – performiert – also die Grundlegung von Musik überhaupt, von Musik als einem rhythmischen und harmonischen System, das erst die Unterscheidung von diesem oder jenem Zeitmaß, von Konsonanz und Dissonanz ermöglicht. So gesehen, ist das Rheingold-Vorspiel gleichermaßen Para-Musik wie transzendentale Musik: Es begründet die Bedingungen der Möglichkeit von Musik. Dem Dreiklang, den Wapnewski als incipit des Rheingolds beschreibt, geht ein weiteres incipit voraus: ein incipit, das diesen Es-Dur-Dreiklang ins Transzendentale doubliert. Wagners Ring ist also, wie gesehen, geprägt von einem formalen Verfahren, das sich in Anlehnung an Genette und Derrida als ein Verfahren protokollarischer Rekurse bezeichnen lässt. Auf je unterschiedlichen Ebenen etablieren die protokollarischen Rekurse ein Text-Paratext-Verhältnis: so zwischen den drei Tagen des Bühnenfestspiels und dem Vorabend, dem Rheingold und seinem Vorspiel, dessen Musik und dem vorausgehenden para-musikalischen Rauschen und schließlich zwischen diesem Rauschen und Wagners metabolischen Problemen in La Spezia. Somit stellt sich nicht allein Wagners Autobiografie als Paratext zu einem in sich geschlossenen und homogenen Text des Ring des Nibelungen dar: vielmehr durchzieht die Text-Paratext-Differenz, oder genauer: durchziehen Text-Paratext-Schwellen den Text des Rings selbst auf den genannten unterschiedlichen Ebenen. Formal lässt sich also nicht nur von protokollarischen Rekursen sprechen, sondern auch von protokollarischer Rekursivität: wiederholen sich doch die protokollarischen Rekurse auf der nächsthöheren respektive -niedrigeren Makro- respektive Mikro-Ebene und stehen somit zueinander im Verhältnis der Mise en abîme.
5. D AS D R AMA DES UNFREIEN G OT TES S ZONDI Was aber folgt aus dem Gesagten, besonders mit Blick auf die gattungstheoretische Frage, warum es sich beim Rheingold um einen Einakter handelt? Die Antwort liegt bei Peter Szondi. Denn die musikwissenschaftliche Gattungstheorie hat hier bisher mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Genau genommen treffen nämlich so gut wie alle musikwissenschaftlichen Definitionsmerkmale für den sogenannten modernen »Operneinakter« oder »musikalischen Einakter« gerade nicht auf das Rheingold zu.39 Das gilt etwa für den »Charakter einer lediglich 38| Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 21. 39| Hier ließe sich einwenden, dass das Rheingold gar nicht in die Gruppe der um und nach 1900 entstandenen modernen Einakter fällt, um die es der im Folgenden zitierten Forschung geht. Gegen diesen Einwand wiederum spricht, dass Wagner sicherlich im
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umfangmäßig reduzierten Normaloper«;40 das gilt für eine novellenhafte »Konzentration auf eine einzige Situation« und die »Tendenz zum Extrem, die dramatische Intensität«; das gilt für eine Konzentration auf die »innere Wahrhaftigkeit« oder Psychologie der Akteure;41 das gilt für den »Einakter […] als Stimmungskunst, in der eine zielstrebige Handlung ersetzt […][ist] durch lyrisch-atmosphärische, zugleich psychologisch analysierende Gestaltung von Zuständen und Situationen«;42 das gilt für den Einakter als »Komprimierungsversuch« »dramatische[r] Großformen«:43 All das mag sich mit Berechtigung sagen lassen von Mascagnis Cavalleria rusticana, Leoncavallos Pagliacci oder Schönbergs Erwartung, nicht aber vom Rheingold. Rettung aus dieser gattungstheoretischen Not verspricht Peter Szondi mit seiner Theorie des modernen Dramas 1880–1950, die in einigen Punkten auch schon für Wagners 1854 fertiggestelltes Rheingold gilt. Im Abschnitt »Einakter« schreibt Szondi: Der moderne Einakter ist kein Drama im Kleinen, sondern ein Teil des Dramas, der sich zur Ganzheit erhoben hat. Sein Modell ist die dramatische Szene. […] Weil der Einakter die Spannung nicht mehr aus dem zwischenmenschlichen Geschehen bezieht, muß sie bereits in der Situation verankert sein. […] Deshalb wählt sie der Einakter […] immer als Grenzsituation, als Situation vor der Katastrophe, die schon bevorsteht, wenn der Vorhang sich hebt, und im folgenden nicht mehr abgewendet werden kann. Die Katastrophe ist futuristische Gegebenheit: es kommt nicht mehr zum tragischen Kampf des Menschen gegen das Schicksal, dessen Objektivität er […] seine subjektive Freiheit entgegensetzen könnte. […] So bestätigt sich der Einakter […] als das Drama des unfreien Menschen. Die Zeit, in der er aufkam, war die Epoche des Determinismus […]. 44
emphatischen Sinne modern ist und sein Ring sehr wohl in die Kategorien einer Dramentheorie fällt, die eigentlich eine spätere Zeit in den Blick nimmt: nämlich, wie im Folgenden zu sehen, Szondis Theorie des modernen Dramas 1880–1950. 40| Winfried Kirsch: »Prolegomena zu einer Geschichte des Operneinakters im 20. Jahrhundert«, in: Die Musik forschung 28 (1975)‚ S. 438–442, hier S. 439. 41| Ebd., S. 439f. 42| Ulrike Kienzle: »Theorien des einaktigen Schauspiels im literaturwissenschaftlichen Schrifttum«, in: Sieghart Döhring u. Winfried Kirsch (Hg.): Geschichte und Dramaturgie des Operneinakters. Laaber 1991, S. 17–29, hier S. 19. 43| Hans-Peter Bayerdörfer: »Die neue Formel. Theatergeschichtliche Überlegungen zum Problem des Einakters«, in: Sieghart Döhring u. Winfried Kirsch (Hg.): Geschichte und Dramaturgie des Operneinakters. Laaber 1991, S. 31–46, S. 42; vgl. auch ebd., S. 45. 44| Peter Szondi: »Theorie des modernen Dramas 1880–1950«, in: Ders.: Schrif ten I. Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Versuch über das Tragische. HölderlinStudien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1978, S. 9–148, hier S. 85. Szondi spricht hier mit Bezug auf Maeterlinck und Strindberg.
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Was Szondi hier sagt, gilt – jedenfalls in Teilen – auch für das Rheingold. In der Tat ist es ja als Vorgeschichte der drei Tage des Rings ein »Teil des Dramas, der sich zur Ganzheit erhoben hat« – wenn auch nur zur eingeschränkten Ganzheit des »Vorabends«. Und tatsächlich steht die »Katastrophe« »schon bevor[…], wenn der Vorhang sich hebt« und kann »im folgenden nicht mehr abgewendet werden«: Wotan hat bei den Nornen um den Preis eines Auges aus dem Quell ewigen Wissens getrunken, seinen Speer aus der Weltesche gebrochen und ihm die Verträge mit den Naturgewalten eingeschrieben, seine epistemische Erkenntnis bei Erda um die sexuelle erweitert, die fatalen Verträge mit den Riesen geschlossen und ihnen das Rheingold versprochen, das er überhaupt nicht besitzt, sondern erst noch rauben muss. In der Tat ist Wotan also der Protagonist eines »Drama[s] des unfreien Menschen« beziehungsweise Gottes. »Was du bist, / bist du nur durch Verträge; / bedungen ist, wohl bedacht deine Macht«,45 muss sich Wotan vom Riesen Fasolt sagen lassen, kurz bevor ihn sein Bruder Fafner erschlägt. Später, in der Walküre, singt Wotan: »In eig’ner Fessel / fing ich mich: – / ich Unfreiester Aller!« – und ergänzt: »Der Traurigste bin ich von Allen!«46 Ihm ist klar, dass – mit Szondis Worten – die »Katastrophe« in Form von Götterdämmerung und Weltenbrand eine unabwendbare »futuristische Gegebenheit« ist. Und doch hegt – entgegen Szondis Verdikt über den »unfreien Menschen« in der »Epoche des Determinismus« – Wotan, jedenfalls bis zum Dritten Aufzug des Siegfried, noch Hoffnung, die Katastrophe abzuwenden – allerdings nicht, indem er dem »[o]bjektiv[en]« »Schicksal« seine eigene »subjektive Freiheit entgegen[zu]setzen« versucht, sondern auf viel raffiniertere Weise, nämlich mithilfe Siegfrieds. Dieser soll als ›freier Held‹ eben nicht weisungsgebunden, sondern aus freien Stücken das tun, was Wotan aufgrund seiner Vertragsbindung nicht selbst erledigen kann, nämlich Fafner den Hort und vor allem den Ring rauben und so sicherstellen, dass er nicht Wotans Erzfeind Alberich in die Hände fällt. Man kennt diese Situation aus Hollywood-Filmen, deren Helden auf ähnliche Weise – häufig ohne es zu wissen – von Mächten im Hintergrund ausgenutzt werden, um diesen, im rechtsfreien Raum agierend, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Man kennt sie ebenfalls aus der Serie 24 mit ihrer, so Slavoj Žižek, »›ticking bomb‹ situation«,47 die in der Tat – mit Szondis Worten – eine »Grenzsituation« ist, eine »Situation vor der Katastrophe«, die nur Jack Bauer noch abzuwenden vermag – eben durch ungesetzliche Aktionen. Wotans »Weltenrettungsplan«48 sieht nun nicht 45| Wagner: Der Ring des Nibelungen, S. 29. 46| Ebd., S. 114. 47| Slavoj Žižek: »Jack Bauer and the Ethics of Urgency«, in: In These Times (27.1.2006), online unter: http://www.inthesetimes.com/main/article/2481. Žižek übernimmt den Ausdruck von Alan Dershowitz, der ihn, so Žižek, in seinem Buch Why Terrorism Works verwende, um Folter zu rechtfertigen. 48| Wapnewski: Der Ring des Nibelungen, S. 124.
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Jack Bauer, sondern Siegfried vor, um als Ein-Mann-Counter-Terrorist-Unit gegen die Terroristen Fafner und Alberich vorzugehen: Noth thut ein Held, der, ledig göttlichen Schutzes, sich löse vom Göttergesetz: so nur taugt er zu wirken die That, die, wie noth sie den Göttern, dem Gott doch zu wirken verwehrt.«49
Nur in Ablösung vom »Göttergesetz« kann Siegfried die Katastrophe abwenden – und nur als freier Mensch kann er Brünnhilde – ein Dornröschen nicht im Glassarg, sondern im Brustpanzer, nicht bewacht von trauernden Zwergen, sondern umlodert von Loges Flammen – aus ihrem Schlaf erwecken, in den sie ihr Vater Wotan hat bannen müssen, wie Kreon durch das Gesetz tragisch in den Vater-Tochter-Konflikt getrieben: »[D]enn Einer nur freie die Braut, / der freier als ich, der Gott!«,50 singt Wotan am Ende der Walküre zum Siegfried-Motiv: Erst dieser furchtlose Held wird die Mut und Kraft haben, das Feuer zu durchschreiten und Brünnhilde zu wecken. Siegfried jedoch, der freie Held, erschlägt nicht nur – wie von Wotan gewünscht – Fafner und gelangt so in den Besitz des Rings, sondern er legt sich auch mit seinem Großvater Wotan an. Als dieser – halb widerwillig – Siegfried auf seinem Weg zu Brünnhildes Felsen aufzuhalten versucht, »haut ihm«, so die Regieanweisung, Siegfried »den Speer in Stücken«.51 Wotan »rafft« daraufhin die »[S]tücken« seiner »Herrschaft Haft« ausdrücklich »ruhig auf« – die Geste zeigt, dass er sich mit dem Ende abgefunden hat. Ja, mehr noch, jetzt »will« er es, wie er gerade in der Szene zuvor Erda gegenüber bekräftigt hat: Um der Götter Ende gräm’t mich die Angst nicht, seit mein Wunsch es – will! […] Die du mir gebar’st, Brünnhild’ weckt sich hold der Held: wachend wirkt dein wissendes Kind erlösende Weltentat. –52
49| Wagner: Der Ring des Nibelungen, S. 109. 50| Ebd., S. 163. 51| Ebd., S. 248. 52| Ebd., S. 241.
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Dieser Entschluss weist zurück in die große Szene mit Brünnhilde im zweiten Aufzug der Walküre, wo Wotan – hier allerdings noch mit »dem Ausdruck des furchtbarsten Schmerzes« und »der Verzweiflung« – ausruft: Auf geb’ ich mein Werk, Nur Eines will ich noch, das Ende – – das Ende! –53
In der Tat handelt es sich also beim Ring im Sinne Szondis um ein »Drama des unfreien Menschen« respektive Gottes – nur, dass sein Protagonist Wotan sich zunächst doch dem Schicksal widersetzt, um sich ihm dann – gewissermaßen auf Schopenhauerisch-buddhistische Weise – auf »der tragischen Höhe« durch die Entscheidung zu entziehen, »seinen Untergang – zu wollen«, so Wagner in einem Brief vom 25./26. Januar 1854 an August Röckel.54
6. E PISCHE UND DR AMATISCHE Z EIT L ÄNGE , L EITMOTIV, V ERGEGENWÄRTIGUNG Zugegeben: Das Gesagte liefert bisher keine zwingende Begründung, warum es sich beim Rheingold um einen Einakter handelt. Denn das, was Szondi vom Einakter sagt, gilt ja mehr noch für den gesamten Ring des Nibelungen als nur für das Rheingold und erweist sich damit nicht so sehr als Rüstzeug für eine konkrete Analyse, sondern eher als eine allgemeine Diagnose jener krisenhaften Moderne, die heute noch andauert – und zwar auch kunst- beziehungsweise medienästhetisch: hat doch ganz sicher »9/11«, der 11. September 2001, den Erfolg der Serie 24 mitbestimmt. Die Erfahrung der Moderne als Krise prägt auch schon Wagner, der – ein steckbrieflich gesuchter Barrikadenkämpfer von 1848 – in seiner Persönlichkeit vielleicht nicht zufällig wie eine Kreuzung aus Mörike und Bakunin wirkt – eben wie eine militarisierte Biedermeier-Figur. Als Künstler jedenfalls war Wagner, mit Szondis Worten, »die überlieferte Form des Dramas problematisch« geworden:55 daher Wagners permanente polemische Abgrenzung gegen die traditionelle Oper als überkommene Gattung, daher seine zahlreichen neuen Gattungsdefinitionen, zu denen etwa der Begriff »musikalisches Drama« zählt. Denn, so Genette, die Sorge um die Gattungsdefinition taucht in deutlich abgesteckten und kodifizierten Zonen kaum auf, etwa im klassischen Theater, wo eine bloße Beifügung (Tragödie, Ko53| Ebd., S. 120. 54| Vgl. ebd., S. 130 und 310f.; zitiert nach ebd., S. 311. 55| Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 83.
S ZONDIS G ATTUNGSTHEORIE UND DIE EPISCHE P ARADOXIE DES L ANGEN D RAMAS mödie) als ausreichend gilt, dafür eher in den unbestimmbaren Rändern, wo sich eine gewisse Innovation vollzieht, und insbesondere in »Übergangsepochen« […] in denen man derartige Abweichungen von einer früheren, aber noch als solcher empfundenen Norm zu definieren suchte.56
Genau das tut Wagner sowohl in seinen neuartigen Gattungsbezeichnungen, zu denen auch das »Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend« gehört, als auch in der musikalischen Form – und zwar mit jenen musikhistorisch in der Tat innovativen ›Leitmotiven‹, die schon Wagner selbst – wenn der Kalauer gestattet ist – zum Leidmotiv geworden waren und es der Forschung bis heute häufig noch sind.57 Dabei reagiert Wagners Form-Innovation des – der Einfachheit halber im Folgenden so genannten – musikalischen Leitmotivs, so die hier vertretene These, auf ein dramaturgisches Problem, das auch in Szondis Dramentheorie eine zentrale Rolle spielt: das Problem der Zeit und der Darstellung ihrer Dauer, das heißt ihres Vergehens. Über »[d]ie Zeit als solche«, die »erst jener nachklassischen Epoche zum Problem geworden ist, die man die bürgerliche nennt«,58 schreibt Szondi: Das Drama ist absolut. […] [R]einer Bezug, das heißt: dramatisch sein […].59 Der Zeitablauf des Dramas ist eine absolute Gegenwartsfolge.60 […] Das Wesen der Zeit aber auszudrücken, ihr Dauern, Vergehen und Wandelschaffen, […] [ermöglicht] nur eine Dichtungsform […], welche nicht nur thematisch, sondern auch formal die Zusammenschau zweier Zeitpunkte zuläßt. […] Die[se] epische Zusammenschau verschiedener Zeitpunkte wird […] erreicht […] auf Kosten der dramatischen Handlung und deren absoluter Gegenwartsfolge […]. Immer schon standen Dramatiker vor einem Stoff, dessen zeitliche Ausdehnung für das Drama ihn ungeeignet erscheinen ließ; wollten sie darauf nicht verzichten […], so konnten sie ihn für das Drama nur durch Konzentration auf die Endphase retten.61
Das beschreibt Wagners Problem. Auch er steht, als er sich an Siegfrieds Tod macht, vor einem dem Umfang nach Dramen-sprengenden Stoff. Allerdings löst er dieses Problem anders, als es die von Szondi besprochenen Dramatiker tun. Wagner entscheidet sich ja gerade nicht für die 56| Genette: Paratexte, S. 217. 57| Vgl. zum ›Leitmotiv‹ kurz: Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt/Main 2006, S. 100–109 und 427–429; überblickshaft: Joachim Veit: Artikel »Leitmotiv«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Ausg. Hg. v. Ludwig Finscher. Sachteil, Bd. 5, Kassel u.a. 1996, Sp. 1078–1095; ausführlich: Christian Thorau: Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zur Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners. Stuttgart 2003. 58| Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 134. 59| Ebd., S. 17. 60| Ebd., S. 19. 61| Ebd., S. 132f.
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»Konzentration auf die Endphase«, sondern für den mehrfachen protokollarischen Rekurs zu immer weiter zurückreichenden Vorgeschichten. Dabei wächst ihm das Drama auf eine Gesamtlänge von – ohne Pausen – knapp 15 Stunden Spielzeit. Damit ist natürlich die Fiktion einer »absoluten Gegenwartsfolge« gesprengt. 15 Stunden reine Spielzeit: Man muss sich klarmachen, dass dies ziemlich exakt die Dauer einer gesamten Season der Fernsehserie 24 ist, bei der etwa ein Drittel eines Tages hinter der Werbung verborgen ist, während die Uhr weiterläuft: Der Tag der Season 6 zum Beispiel ist 990 Minuten lang, das sind 16,5 Stunden. Wagners Ring von 15 Stunden kann man nirgendwo ohne Unterbrechung live sehen; der 2006 in Köln aufgeführte »Ring in zwei Tagen« war »Weltpremiere« und damit, wenn man so will, Aufführungsgeschwindigkeits-Weltrekord. Dramaturgisch ergibt sich, wie gesagt, aus der immensen Länge des Rings, der Vielzahl und Komplexität seiner Erzählstränge, die Notwendigkeit, vergehende Zeit darzustellen, und das heißt: die Vergangenheit immer wieder zu vergegenwärtigen. Anders gesagt: Die Dramaturgie des Rings als Drama fordert in der Praxis, was seine Theorie nicht zulässt – eben jene »Zusammenschau zweier Zeitpunkte«, die Szondi zufolge undramatisch, nämlich episch ist. Damit rekurriert Szondi auf Aristoteles, dessen berühmtes Verdikt aus der Poetik Szondi an den Beginn seiner Ausführungen stellt: Der Dichter muß […] sich daran erinnern, seine Tragödie nicht episch zu gestalten. Unter episch verstehe ich aber einen vielstoffigen Inhalt, wie wenn jemand zum Beispiel den ganzen Stoff der Ilias dramatisieren wollte.62
Genau dieses Problem der Dramatisierung eines riesigen epischen Stoffes hat auch Wagner.63 Das sich dabei ergebende dramaturgisch-technische Problem der »Zusammenschau zweier Zeitpunkte« oder Vergegenwärtigung löst er mithilfe zweier formaler Kunstgriffe: dramaturgisch mithilfe von immer wieder eingeschobenen Vergegenwärtigungs-Szenen, musikalisch mithilfe der Leitmotive. Vergegenwärtigungsszenen sind, ganz 62| Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 11. Szondi zitiert Aristoteles: Über die Dichtkunst. Hg. v. Alfred Gudemann. Leipzig 1921, S. 37. In anderer Übersetzung: Aristoteles: ̔̈̔̌ȱ̖̓̒̌̊̌̍̊̕. DIE POETIK. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 59. 63| Vgl. hierzu Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 25–32. Dahlhaus zitiert ebd., S. 25, einen am 26. Juli 1800 an Goethe adressierten Brief Schillers, in dem dieser über seine Arbeit an der Jungfrau von Orleans schreibt: »Was mich bey meinem Stücke besonders incommodiert ist, daß es sich nicht so wie ich wünsche in wenige große Massen ordnen will und daß ich es, in Absicht auf Zeit und Ort in zu viele Theile zerstückeln muß, welches, wenn auch die Handlung die gehörige Stätigkeit hat, immer der Tragödie widerstrebend ist.« Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. 30. Band: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.11.1798–31.12.1800. Hg. v. Lieselotte Blumenthal. Weimar 1961, S. 175f.
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einfach, Szenen, in denen Figuren – meist ist Wotan beteiligt – noch einmal erzählen, was schon passiert ist: so etwa die Szene zwischen dem Wanderer und Erda im Siegfried, dritter Aufzug, erste Szene.64 Die Vergegenwärtigung geschieht also in jener epischen Breite, die Szondi zufolge undramatisch ist. So sieht es auch Adorno in seinem Versuch über Wagner: Wagners Musik […] aber, die sich stets Zeit zum Ausmalen läßt, ist keineswegs dramatischen Wesens, wie denn überhaupt Wagner Theatraliker eher als Dramatiker war. Die wunderlichen Gattungsbezeichnungen der Werke seit dem Tristan […] lassen darauf schließen, daß Wagner selbst etwas davon ahnte. Fürs Drama scheint er zu ideologisch: er vermag es nicht, den Geist hinter die Sache selbst zurücktreten, einzig aus dieser sprechen zu lassen, sondern fühlt sich als Künstler stets zugleich in der Rolle des Apologeten, der es selber sagen muß.[65] Mit der romantischen Tradition teilt Wagners Musik ein episches Element: sie neigt sich der Vorwelt, indem sie von dieser berichtet. Manchmal nimmt sie selber die Diktion des berichtenden Wortes an, so etwa, wenn Siegfried im dritten Akt bei der schlafenden Brünnhilde das Fürchten lernt. […] Diese Funktion der Musik dient aber der Zurücknahme der Zeit. Die großen Erzählungen Wotans im zweiten Akt der Walküre, Siegfrieds vor seinem Tode lassen sich nicht dramaturgisch begründen. Sie bringen nichts, was in der Handlung nicht selber sich ereignet hätte. 66
Doch hier ist Adorno wohl zu widersprechen. Denn vielleicht lassen sich die hier in Rede stehenden Vergegenwärtigungsszenen dramatisch – im engen Sinne Szondis – nicht begründen, sehr wohl aber dramaturgisch: eben als von der Länge des Rings und seiner Komplexität gefordertes mnemotechnisches Mittel, dem vom Vergessen der Zusammenhänge bedrohten Verständnis der Betrachter auf die Sprünge zu helfen. Dazu dienen die Leitmotive, und zwar nicht nur in ihrer simpelsten Form, in der sie – so Adorno – »krud auf die Person bezogen [sind], die sie charakterisieren« und so »geradewegs zur Kinomusik [ führen], wo das Leitmotiv einzig noch Helden oder Situationen anmeldet, damit sich der Zuschauer rascher zurechtfindet.«67 Die Erinnerungsmotive im Lohengrin mögen noch so funktionieren – einige davon gibt es auch im Ring –, die von Wagner »plastisch[…]« genannten Leitmotive des Rings aber funktionieren anders. Wagner selbst schreibt darüber:
64| Wagner: Der Ring des Nibelungen, S. 236–242. 65| Das ist also, verstanden mit Szondi, episches Theater: »Der Vorgang ist jetzt Erzählgegenstand der Bühne«; Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 107. Es geht hier um »Brechts Versuch, der ›aristotelischen‹ Dramatik – theoretisch wie praktisch – eine ›nicht-aristotelisch‹-epische entgegenzusetzen«; vgl. ebd, S. 105–110, hier S. 106. 66| Theodor W. Adorno: »Versuch über Wagner«, in: Ders.: Die musikalischen Monographien. Frankfurt/Main 1986, S. 7–148, hier S. 56f. 67| Ebd., S. 44.
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S TEFAN B ÖRNCHEN Mit dem ›Rheingold‹ beschritt ich sofort die neue Bahn, auf welcher ich zunächst die plastischen Naturmotive zu finden hatte, welche in immer individuellerer Entwickelung zu den Trägern der Leidenschaftstendenzen der weitgegliederten Handlung und der in ihr sich aussprechenden Charaktere sich zu gestalten hatten.68
Dazu Carl Dahlhaus: Das besagt ästhetisch, daß ein Hörer immer dann, wenn Leitmotive nebeneinanderstehen, die er zunächst als musikalisch beziehungslos empfindet, versuchen muß, die musikalische Vorgeschichte, die zugleich eine dramatische ist, zu rekonstruieren, um den Punkt zu finden, an dem die Motive oder deren Prototypen auseinander hervorgegangen oder einander entgegengesetzt worden sind. Die »Entwicklung« der »Orchestermelodie«, als deren – im musikalischen Drama ins Unermeßliche gedehntes – Modell Wagner die Durchführung des Symphoniesatzes auffaßte, ist also – anders als bei Beethoven – nicht primär durch das Ziel bestimmt, dem sie zustrebt, sondern durch den Ursprung, aus dem sie stammt: Beethovens Zeitgefühl war teleologisch, in die Zukunft drängend, während es bei Wagner eine ständig wachsende Vergangenheit ist, die auf jedem gegenwärtigen Augenblick lastet.69
Anders formuliert: Die Leitmotive sind musikalische Medien des Rückgriffs auf die Vorgeschichte und durch sie hindurch auf die Vorgeschichte der Vorgeschichte – und so weiter. So gesehen, sind die Leitmotive musikalische Medien der eingangs beschriebenen protokollarischen Rekurse. Dabei zeichnet auch sie die oben erläuterte protokollarische Rekursivität aus, insofern viele der Motive aus einer geringen Zahl an Grundmotiven abgeleitet sind. Ein Beispiel: Aus dem im Dreiklang aufsteigenden ›NaturMotiv‹ wird durch melodische Füllung mit Durchgangstönen das ›RheinMotiv‹, daraus durch Moll-Trübung das ›Erda-Motiv‹, dessen Umkehrung ist das ›Untergangs-‹ oder ›Götterdämmerungsmotiv‹.70 So rekurriert dieses Motiv des Endes als vermollt-gefüllter Krebs des ›Natur-Motivs‹ immer auf dieses als seinen Ursprung oder sein incipit. Am deutlichsten wird das vielleicht in Siegfrieds Rheinfahrt in der Götterdämmerung, als deren Mittelachse die Spiegelung des ›Rhein-Motivs‹ ins ›Götterdämmerungsmotiv‹ steht. Indem also die Leitmotive aus dem Augenblick, in dem sie erklingen, in ihre Entstehungsgeschichte zurückweisen, schaffen sie jene epische Tiefe der Zeit, die als »Zusammenschau zweier Zeitpunkte« Szondi zu68| Richard Wagner: »Epilogischer Bericht über die Umstände und Schicksale, welche die Ausführung des Bühnenfestspieles ›Der Ring des Nibelungen‹ bis zur Veröffentlichung der Dichtung desselben begleiteten«, in: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Vierte Auflage. Sechster Band. Leipzig 1907, S. 257–272, hier S. 266. 69| Carl Dahlhaus: »Die Musik«, in: Ulrich Müller u. Peter Wapnewski (Hg.): RichardWagner-Handbuch. Stuttgart 1986, S. 197–221, hier S. 209. 70| Vgl. Donington: Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 265.
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folge dem dramatischen Prinzip der »absolute[n] Gegenwartsfolge« zuwiderläuft. Mit Adorno, Szondi und Dahlhaus begriffen, ist also Beethoven mit seinem »teleologisch[en], in die Zukunft drängend[en]« »Zeitgefühl« ein dramatischer Komponist, Wagner hingegen mit seinen retrospektiven Vergegenwärtigungen, den Rekursen der Leitmotive, ein epischer Komponist.71
7. R HEINGOLD ODER W AS BISHER GESCHAH P REVIOUSLY ON N ORDIC M Y TH Und es stimmt, diese Form der Vergegenwärtigung ist ein episches Formprinzip – eben jenes Formprinzip, das sich der Epiker Thomas Mann von Richard Wagner abgeschaut hat.72 So schreibt Thomas Mann in seiner Einführung in den ›Zauberberg‹: Das Buch […] strebt […] selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an durch den Versuch, der […] Gesamtwelt, die es umfaßt, in jedem Augenblick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches »nunc stans« herzustellen.73
Ein solches »nunc stans« sollen Wagners Leitmotive herstellen, indem sie im jeweiligen Augenblick der Erzählzeit die vorausliegende erzählte Zeit gegenwärtig werden lassen und dem jeweiligen Moment so größtmögliche historische Tiefenschärfe verleihen. Werden aber auf diese Weise (augenblickliche) Erzählzeit und (vergangene) erzählte Zeit überblendet – und im Falle des wiederholten Hörens auch die zukünftige erzählte
71| »Im Unterschied zur Trauermusik für Siegfried, die ein bedrückendes Übermaß an Früherem und Fernem heraufbeschwört, ist die Eroica, obwohl sie als ›Gedächtnis‹ einen Helden feiert, musikalisch-strukturell – und das heißt: in dem Zeitbewußtsein, das dem tönenden Prozeß zugrundeliegt – niemals rückwärts gewandt.« Dahlhaus: Die Musik, S. 209. 72| Dahlhaus zufolge sind Leitmotive sogar ursprünglich literarisch: »Vorgebildet […] ist die Leitmotivtechnik […] im Drama […]. Die Leitmotivtechnik ist also, obwohl der Name für Wagners Methode geprägt und erst sekundär auf die Literatur übertragen wurde, ein ursprünglich dichterisches Verfahren, das allerdings in der Musik mit einer Konsequenz entwickelt wurde, die in der Literatur, welche nur ein geringeres Ausmaß an Wiederholungen erträgt, absurde Pedanterie wäre. Wenn um 1900, vor allem bei Thomas Mann, ein Einfluß Wagners unverkennbar ist, so wurde lediglich der Literatur zurückerstattet, was die Musik von ihr empfangen hatte.« Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 20. 73| Thomas Mann: »Einführung in den ›Zauberberg‹. Für Studenten der Universität Princeton«, in: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1974, Bd. 11, S. 602–617, hier S. 612.
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Zeit! –,74 dann ermöglicht paradoxer- oder dialektischerweise gerade dieser epische Kunstgriff die Rückkehr zum Dramatischen. Das gilt jedenfalls, wenn Szondi Recht damit hat, dass das »[A]useinander[treten]« von »›Erzählzeit‹ und »erzählte[r] Zeit« als »Grundzug des Epischen gelten kann«, ihre »Identität« hingegen als »Grundzug des Dramatischen«.75 Einerseits ist also – aus Szondis geschichtsphilosophischer Perspektive betrachtet – Wagner als »bürgerliche[m]« Komponisten der »nachklassischen Epoche« die Zeit zu einem »Problem geworden«, das sich formal im Auseinanderfallen von Erzählzeit und erzählter Zeit manifestiert. Andererseits wiederum zielt gerade seine epische Leitmotivtechnik darauf ab, Erzählzeit – den dramatischen Vordergrund – und erzählte Zeit – den epischen Hintergrund – von Neuem dramatisch zur Deckung zu bringen, nämlich durch hohe Tiefenschärfe oder ›Durchhörbarkeit‹: In diesem Sinne ist Wagners episches Verfahren zugleich dramatisch. Damit aber erweist sich Wagners Leitmotiv als Inbegriff der berühmten Form-Definition Niklas Luhmanns: »Jede Form realisiert die Paradoxie der Lösung eines unlösbaren Problems.«76 Dabei liegt Wagners »unlösbares Problem«, wie gesagt, vielleicht ganz einfach in der Länge. Für diese Länge mag es historische oder medienhistorische Gründe geben, seien sie geschichtsphilosophischer Art oder nicht. Jedenfalls lässt es die Länge dramaturgisch nicht mehr zu, den »Zeitablauf des Dramas« als »absolute Gegenwartsfolge« zu gestalten. Zu groß ist die Gefahr, dass den Zuschauern mit der sich über Tage und Nächte erstreckenden Zeit die Handlungsfäden aus der Hand gleiten; daher die Leitmotive als dramaturgisch wie hermeneutisch erforderliche Rekurse. Dramentheoretisch heißt das, dass ein langes Drama, um dramatisch zu wirken – man könnte auch sagen: hohe Immersion77 zu ermöglichen –, paradoxerweise epische Elemente erfordert. 74| Aus diesem Grunde wünscht sich Thomas Mann, dass man den Zauberberg mindestens zweimal lesen möge: »Was soll ich nun über das Buch selbst sagen und darüber, wie es etwa zu lesen sei? Der Beginn ist eine sehr arrogante Forderung, nämlich die, daß man es zweimal lesen soll. […] [D]enn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik schon kennen muß, um sie richtig zu genießen. Nicht zufällig gebrauche ich das Wort ›Komposition‹, das man gewöhnlich der Musik vorbehält.« Ebd., S. 610f. 75| Peter Szondi: »Der Mythos im modernen Drama und das Epische Theater. Ein Nachtrag zur Theorie des modernen Dramas«, in: Ders.: Schriften II. Essays: Satz und Gegensatz. Lektüren und Lektionen. Celan-Studien. Anhang: Frühe Aufsätze. Frankfurt/Main 1978, S. 198–204, hier S. 199. 76| Niklas Luhmann, »Weltkunst«, in: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990, S. 7–45, hier S. 14. 77| Vgl. zu diesem Begriff Oliver Grau: »Immersion und Emotion. Zwei bildwissenschaftliche Schlüsselbegriffe«, in: Andreas Keil u. Oliver Grau (Hg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Frankfurt/Main 2005, S. 70–106.
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So verwundert also nicht, dass Fernsehserien wie 24, also in Umfang und narrativer Komplexität Wagners Ring vergleichbare, ebenfalls audiovisuelle Texte, ähnliche Vergegenwärtigungs-Strategien entwickeln: etwa die jeder Folge vorangestellte Zusammenfassung dessen, »was bisher geschah«. Unter dem Titel Previously on 24 zum Beispiel werden, meist in noch schnellerer Schnittfolge als sonst, Szenen zusammengeschnitten, die der Zuschauer schon einmal gesehen hat. Wie es scheint, hat dieses neuerdings wichtige paratextuelle Genre noch keine technische Bezeichnung; es firmiert unter der metonymischen Bezeichnung »Previously on …«. Vielleicht hat es bisher überhaupt wenig Beachtung gefunden; so geht es etwa in dem nach diesem Genre benannten Band Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen um allerlei interessante Fragen, aber an keiner Stelle um das titelgebende Phänomen des »Previously on …«.78 Jedenfalls handelt es sich auch beim »Previously on …« um protokollarische Rekurse – man könnte daher auch von einem retrospektiven Trailer oder Teaser sprechen. Szondis Dramenbegriff zufolge wären diese Trailer oder Teaser nicht dramatisch, sondern episch zu nennen – und dennoch ermöglichen sie als jeder Einzelfolge vorangestellte paratextuelle Rückblenden gerade die Fortsetzung, genauer: den Wiedereinstieg in jenen maximal beschleunigten »Zeitlauf« der »absolute[n] Gegenwartsfolge«, der 24 zum Immersions-Drama par excellence macht. Anders formuliert: Bei langen und in der Aufführung unterbrochenen, also seriellen Dramen funktioniert die dramenkonstitutive Immersion und Zeitvergessenheit nicht ohne epische Vergegenwärtigungen des Vergangenen, die den Wiedereinstieg ins Drama ermöglichen. Der Zuschauer vergisst sonst paradoxerweise eben das, wovon er dermaßen gefangengenommen sein soll, dass er ganz im Moment aufgeht und die Vergangenheit vergisst. Das ist die epische Paradoxie des langen Dramas. Sie liegt darin begründet, dass die ins extrem getriebene epische Vergegenwärtigung zu einem »magische[n] ›nunc stans‹« führt, also einer Simultaneität im Augenblick, die ihn gerade zu einem dramatischen Augenblick nach Szondis Definition macht. In diesem Sinne lassen sich vielleicht auch die split screens in 24 verstehen, die ebenfalls Simultaneität herstellen – so gesehen, wären Wagners Leitmotive gewissermaßen auditive split screens: und in der Tat spricht Wagner selbst davon, dass in der »Einheit des stets vergegenwärtigenden und den Inhalt [mithilfe von plastischen Grundmotiven] nach seinem Zusammenhange umfassenden Ausdruckes […] auch das […] Problem der Einheit des Raumes und der Zeit gelöst« sei.79
78| Sascha Seiler (Hg.): Was bisher geschah – Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen. Köln 2008. 79| Richard Wagner: Oper und Drama. Hg. u. kommentiert von Klaus Kropfinger. 2. Aufl. Stuttgart 1994, S. 363 und 361.
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Ist das Leitmotiv eine, nämlich die musikalische Form der »Lösung eines unlösbaren Problems«, so ist es nicht die einzige. Dramaturgisch entsprechen ihr die Vergegenwärtigungsszenen. Die längste, maximal in die Länge gedehnte Vergegenwärtigungsszene aber ist das Rheingold selbst, das wiederum, in Mise en abîme, Vergegenwärtigungsszenen enthält. Damit steht es formal auf der Schwelle zwischen der musikdramatischen – intendierten – Einheit jedes der drei Tage und der als Teile in ihnen enthaltenen epischen Vergegenwärtigungsszenen. Diese versucht Wagner einerseits gewissermaßen in den epischen Paratext des Rheingolds auszulagern, vielleicht sogar zu verdrängen – sozusagen als containment der epischen Anteile des Dramas; andererseits sind Vergegenwärtigungsszenen und Leitmotive natürlich dennoch konstitutive Bestandteile aller Teile des Rings. Das Rheingold soll als epischer Paratext – als Vor-Abend – die Vor-Geschichte des ›eigentlichen‹ Dramas der drei Tage liefern. Seine Funktion ist die eines epischen »Previously on Nordic Myth«, das den Zuschauern das Rheingold dennoch im dramatischen Schnelldurchlauf vor Augen stellt – durchaus vergleichbar mit der Geschichte der Welt und des Menschen im Schnelldurchlauf zu Beginn von Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey aus dem Jahr 1968. Als epischer Vorgeschichten-Container für die drei Dramen-Tage des Bühnenfestspiels aber, so könnte man sagen, muss das Rheingold ein Einakter sein: Denn es ist ein langer Augenblick, die Mise en abîme jenes »magische[n] ›nunc stans‹«, das der ganze Ring sein will.
8. PAR ADOXIE DES NUNC STANS R EGENBOGEN … So verstanden, veranschaulicht das Rheingold gattungstheoretisch die epische Paradoxie des langen beziehungsweise seriellen Dramas. Dieses Drama kommt aus dramaturgischen oder auch mnemotechnischen Gründen nicht ohne Vergegenwärtigung aus. Vergegenwärtigen aber bedeutet, im Drama epische Spuren zu legen. Solche epischen Spuren – das lässt sich im Sinne Derridas verstehen – sind Wagners Leitmotive, die die epische Nachträglichkeit zum dramatischen Prinzip erheben. Die Leitmotive legen epische Spuren, die aus dem dramatischen Augenblick in die epische Vergangenheit, den historischen Paratext, verweisen. Daraus entsteht ein hermeneutischer Verweisungszirkel aus jenen Nachträglichkeitsbeziehungen, die hier protokollarische Rekurse heißen. Indem aber die Leitmotive in Wagners Bestreben, möglichst konsequent ›motivisch‹ zu verfahren, dazu tendieren, in jedem dramatischen Augenblick eine maximale historische Tiefenschärfe epischer Bedeutung zu erzeugen, disseminieren sie diese damit gleichzeitig. Das Streben nach dem vollkommenen Verweisungssystem in die epische Tiefe erzeugt am Ende den Eindruck, dass alles mit allem zusammenhängt: Die letzte Kon-
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sequenz des Leitmotiv-Systems ist, dass alles bisher Geschehene zum incipit des aktuellen Augenblicks wird. Soll man dann – nicht beim ersten, aber beim wiederholten Nachvollziehen – auch noch den Anfang vom Schluss her verstehen – also etwa das ›Natur-Motiv‹ vom ›Götterdämmerungs-Motiv‹ her –, dann erscheint in jedem dramatischen Augenblick diejenige Gesamtheit aller epischen oder paratextuellen Bezüge, die Derrida das »gesamte Text-Außerhalb (hors-texte)« genannt hat, »das die […] Bewegung, die jedes Signifikat in die Situation differentieller Spur versetzt[,] zum Halten brächte«. Das aber ist in Derridas Terminologie das »›transzendentale Signifikat‹«80 – die zeichentheoretische Bezeichnung für das epische »nunc stans«, auf das Wagners Drama zielt. Ein transzendentales Signifikat aber gibt es nicht – und so auch kein nunc stans bei Wagner. Denn alles Vergangene und Zukünftige auf einmal in einem Augenblick zu sehen heißt: vor lauter Tiefe nicht mehr den Vordergrund, alles und nichts zu sehen. Die vollkommene epische Präsenz im dramatischen Augenblick ist gleichzeitig die völlige Dissemination aller Bedeutung. Das zeigt sich im Finale des Rheingolds darin, dass in ihm Anfang und Ende zusammenfallen – es ist ein ›Ausgang‹ in beiderlei Wortsinn. Kurz bevor sich vor der Bühne der Vorhang des Vorabends schließt, öffnet sich auf der Bühne – Theater im Theater! – der Vorhang zu den drei Tagen des Bühnenfestspiels. Donner, der Wettergott, singt, »auf den Hintergrund deutend, der noch in Nebelschleier gehüllt ist«: Schwüles Gedünst schwebt in der Luft; lästig ist mir der trübe Druck: das bleiche Gewölk samml’ ich zu blitzendem Wetter; das fegt den Himmel mir hell. 81
Darauf heißt es in der Regieanweisung: Die Nebel haben sich um ihn zusammen gezogen […]. Dann hört man seinen Hammerschlag […]: ein starker Blitz entfährt der Wolke […]. Plötzlich verzieht sich die Wolke; Donner und Froh werden sichtbar: von ihren Füssen aus zieht sich, mit blendendem Leuchten, eine Regenbogenbrücke über das Thal hinüber bis zur Burg, die jetzt, von der Abendsonne beschienen, im hellsten Glanze erstrahlt.82
80| Derrida: Dissemination, S. 13. Vgl. hierzu die Ausführungen vor Anmerkung 17 sowie in der Fußnote 17. 81| Wagner: Der Ring des Nibelungen, S. 77. 82| Ebd.
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Hier wird mit Gewalt ein Anfang gesetzt, indem die Nebel und Wolken der Vergangenheit, das undurchsichtige Dunkel der Vorgeschichte, vertrieben werden. Nebel und Wolken stehen für den Paratext der Vorgeschichte, die Loge hier mit Gewalt verdrängt, sozusagen abschneidet – so wie Wagner sie im Rheingold gewissermaßen containt. Konsequenterweise inszeniert Patrice Chereau diese Auflösung des Nebels in seinem legendären Bayreuth-Ring als fallenden und damit sich öffnenden Vorhang auf der Bühne: Vorhang auf für die folgenden drei Tage des Bühnenfestspiels. Doch dieser Beginn ist ambivalent. Er ist Anfang und Ende zugleich – Anfang des Endes. Anders als im Märchen, wo man das Ende des Regenbogens mit seinem Glücksversprechen gar nicht erst erreicht, weil es immer vor einem zurückweicht, gelangen die Götter zwar über den Regenbogen nach Walhall – aber auch hier gilt das gefürchtete Sprichwort aus den Buddenbrooks: »›Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod‹.«83 Denn die Götter, die Walhall beziehen, sind die Protagonisten eines Dramas von Unfreien. Zwar sträubt sich, wie beschrieben, Wotan dagegen: Deshalb nimmt Wotan in dieser Szene das von Fafner liegengelassene Schwert aus dem Hort an sich und »hebt es als ein Symbol seines ›großen Gedankens‹ gegen die Burg«, wozu zum ersten Mal das Schwertmotiv erklingt,84 das auf Siegmund und Siegfried vorausweist – ein leitmotivischer Cliffhanger, sozusagen (Abb. 1). Wie es um diese Erlösungsperspektive bestellt ist, zeigt sich jedoch beim Wiederauftauchen des Motivs im ersten Aufzug der Walküre (Abb. 2): Es beginnt mir der aufsteigenden Quarte, »più f [orte]« und mit Akzent auf dem eingestrichenen g’, dann folgt »p[iano] aber bestimmt« in der Trompete der Dur-Dreiklang auf dem kleinen g, der dann sofort eine Oktave höher von der Oboe übernommen wird: »più p[iano]«, dann ins Pianissimo zurückgenommen, vor allem aber: nach Moll alteriert, nämlich mit der kleinen Terz b’ statt h’ – also einer Moll-Terz, wie sie auch im harmonischen Zentrum des ›Untergangsmotivs‹ steht. Schon beim dritten Auftreten im Ring überhaupt ist das Schwert-Motiv vermollt – viel deutlicher ließe sich sein Erlösungsversprechen wohl nicht relativieren. Aber gibt es überhaupt eine Erlösung im Ring? Und, wenn ja: Wer wird erlöst – und wovon? Immerhin findet sich ja im dritten Aufzug der Walküre das sogenanntes ›Erlösungs-Motiv‹ (Abb. 3) – jener, so Peter Wapnewski, »ariose Melodiebogen«, der zu den »musikalischen Höhepunkte[n] des Rings« zählt und nach seinem Erscheinen im Dritten Aufzug der Walküre »im Gegensatz zu der Technik einer beharrlichen Wiederverwendung bezeichnender Themen nicht wieder angewandt« wird,85 bis er dann erst ganz am Ende des Rings wieder auftaucht, im Finale der Götterdämmerung, im Weltenbrand. 83| Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1974, Bd. 1, S. 430. 84| Wagner: Rheingold. Klavierauszug, S. 246. Die zitierte Regieanweisung, so eine Anmerkung ebd., ist eine »ausdrückliche Angabe des Meisters« Wagner. 85| Wapnewski: Der Ring des Nibelungen, S. 141.
Abb. 1: Das ›Schwert-Motiv‹ als »Symbol« von Wotans »großem Gedanken« im Rheingold-Finale 86
Abb. 2: Wiederauftauchen des ›Schwert-Motivs‹ im Ersten Aufzug der Walküre: in der zweiten Wiederholung Moll 87
86| Ebd. 87| Richard Wagner: Die Walküre. Vollständiger Klavier-Auszug von Karl Klindworth, Mainz u.a. 1908, S. 35.
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Abb. 3: Dritter Aufzug der Walküre: das ›Erlösungsmotiv‹88
9. … UND E RLÖSUNG VOM S YSTEM Das aber bedeutet: Es handelt sich überhaupt nicht um ein Leitmotiv im systematischen Sinne Wagners, sondern um eine ariose, opernhafte Melodie, wie sie Wagners System gerade nicht vorsieht, ja: wie sie Wagner in seinen musikdramatischen Schriften gerade bekämpft hat. Die Erlösungs-Melodie ist ›unmotiviert‹. Sie passt nicht in Wagners System – und sprengt es damit: Sie erlöst das Leitmotiv-System von außen. Deshalb Wagners Äußerung, die Cosima Wagner am 23. Juli 1872 im Tagebuch notiert hat: »[E]s gibt keinen Schluß für die Musik […]. Ich bin froh, daß ich Sieglinden’s Lob-Thema auf Brünnhilde mir reserviert habe, gleichsam als Chorgesang auf die Held[i]n«.89 Das heißt: »Es gibt keinen Schluß für die Musik«, der aus ihrem System heraus begründet wäre: Daher die melodische Erlösung von außen, die den Ring beschließt, indem sie seine über die Leitmotive organisierte Fiktion des totalen epischen nunc stans im dramatischen Augenblick aufgibt. Am Ende steht eine Melodie: eine Melodie, die sich im Augenblick frei gemacht hat von Begründung und Geschichte, die musikalisch absolut ist, die jenes System transzendiert, das selbst das anfängliche Rauschen noch motiviert – und sei es durch ein Eis in Genua.
88| Wagner: Die Walküre. Vollständiger Klavier-Auszug, S. 235. 89| Zitiert nach Wapnewski: Der Ring des Nibelungen, S. 309; vgl. zum ›Erlösungsmotiv‹ ebd., S. 141 und 308f.
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Francesco Boncianis Novellenpoetik (1574) im deutschen Kontext Das Muster der novella bei Paul Ernst und Georg Heym Rolf Füllmann Dass die Geschichte der deutschen Novelle nicht erst mit Goethe, sondern – spätestens – schon in der Renaissance anfängt, ist nicht erst seit grundlegenden Studien wie derjenigen über Boccaccio und die deutsche Novellistik von Ursula Kocher allgemein bekannt.1 Giovanni Boccaccio (1313– 1375) spielte hierzulande wie südlich der Alpen früh eine zentrale Rolle in der Geschichte dieser Gattung. Die letzte Novelle des Dekameron (X, 10), »die Geschichte von Griselidis«, wurde »schon 1432 von dem Nürnberger Kartäusermönch Erhart Grosz […] in deutsche Prosa gebracht«.2 Die deutsche Publikationsgeschichte des Dekamerons schließt sich mithin chronologisch eng an die italienische an. »Nur kurze Zeit nach dem Venezianer Druck […] des italienischen Originals (1471) erscheint im Jahre 1472 oder 1473 in Ulm die erste Gesamtübersetzung«.3 So früh die italienische Renaissancenovellistik ins deutsche Sprachgebiet kam, so spät wurde die Novellentheorie der italienischen Renaissance in Deutschland rezipiert und übersetzt. Meist gilt sie als aufs Autopoetologische – etwa die kommentierende Rahmenhandlung des Dekamerons – beschränkt. Ursula Kocher kommt daraufhin zu dem Schluss: Bezüglich der kleinen Erzählformen gab es im Mittelalter und in der Renaissance meines Erachtens kein Gattungsverständnis in unserem Sinne. […] So wie der antike Rhetorik1| Zur Auseinandersetzung um die ›Urheberschaft‹ der deutschen Novelle siehe u. a.: Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ›novelle‹ im 15. und 16. Jahrhundert. Amsterdam, New York 2005, S. 13–22. 2| Joachim Heinzle: »Vom Mittelalter zum Humanismus«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981, S. 27. Siehe zu Grosz und anderen frühen deutschen Novellisten: Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 157–242. 3| Heinzle: Vom Mittelalter zum Humanismus, S. 27.
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R OLF F ÜLLMANN lehrer seinen Schülern ein Thema für die ›narratio‹-Übung vorgibt, so gibt im Decameron der Herrscher ein Tagesthema vor. Welcher Modus des Erzählens von den Teilnehmern dazu gewählt wird, steht ihnen frei […]. Überzeitliche Gattungskriterien gibt es jedenfalls nicht.4
Es entstand jedoch in der italienischen Spätrenaissance ein Text, der sich um jene scheinbar überzeitlichen Kriterien der Novelle bemühte und der ebenfalls versuchte, die noch relativ neue Gattung der novella in das überlieferte poetologische Regelsystem einzubinden und auf diese Weise gültig zu definieren: die Lezione sopra il comporre delle novelle (1574) des Florentiners5 Francesco Bonciani (1552–1619).6 Dieser war seit 1573 Mitglied der Accademia degli Alterati, dann auch der Accademia Fiorentina,7 ab 1613 dann Erzbischof von Pisa. Der Verfasser besagter Novellenpoetik war nicht nur Gelehrter und Geistlicher, sondern auch Diplomat, u.a. im Auftrag Cosimos II., bisweilen in geheimer Mission in Frankreich, etwa in Sachen der Konversion des Königs von Navarra oder der Freiheit Maria de’ Medicis. Ja, er wirkte durch seine Beteiligung an den Untersuchungen gegen Galilei sogar mit am Ende der Renaissanceepoche, die sein Werk prägte.8 Auf eine bislang unveröffentlichte, kurz nach 1900 entstandene sowie verkürzte9 Übersetzung besagter Novellenpoetik unter dem Titel Die Composition der Novelle durch den Neuklassiker Paul Ernst (1866–1933)
4| Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 74f. 5| Walter Pabst betont eine »Sprachhegemonie des Fiorentino volgare« in der italienischen Renaissancenovellistik: Walter Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung. Heidelberg 1967, S. 92. Auch das Novellino, eine Novellensammlung vor dem Dekameron (ca. 1281–1300), entstand wohl in Florenz (Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 124). 6| Der Text ist zu finden in: Francesco Bonciani: »Lezione sopra il Comporre delle Novelle« [1574], in: Bernard Weinberg (Hg.): Trattati di Poetica e Retorica del Cinquecento. Volume Terzo. Bari 1972, S. 137–173. Dieselbe Version ist – versehen mit erläuternden Fußnoten – ebenfalls abgedruckt im Anhang von: Nuccio Ordine: Teoria della Novella e Teoria del Riso nel Cinquecento. Napoli 1996, S. 99–135. Laut Ordine basiert Weinbergs Text auf einem Manuskript in der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze (MS Magliabechi IX, 125, fogli 151–172) (ebd., S. 98). 7| In seiner Vorrede spricht Bonciani die »Accademici e uditori nobilissimi« explizit an (Bonciani: Lezione sopra il Comporre delle Novelle, S. 137). 8| Siehe u. a. die biographischen Angaben: Ordine: Teoria della Novella, S. 97f. 9| Verkürzungen des von Weinberg veröffentlichten Originals finden sich u. a. die Vorrede (151, S. 137f.) und einige Passagen (154d, S. 141; 156f., S. 144; 159f., S. 148f.; 163, S. 152; 167, S. 158) betreffend. Festzuhalten ist überdies, dass Ernst eine andere Quelle als Weinberg und Ordine angibt: Prose Fiorentine, Raccolte dello Smarrito, Tomo 3, Venedig 1735 (Vgl. Ernsts Manuskript, S. 1). Ob sich die Kürzungen aus der unterschiedlichen Quellenlage ergeben, konnte nicht ermittelt werden.
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verwies Ralf Gnosa, Archivbeauftragter der Paul-Ernst-Gesellschaft.10 Die Novellenabhandlung Boncianis selbst ist aufschlussreich wegen ihrer Parallelen zu ähnlichen Versuchen in der deutschen Novellendiskussion, v.a. des 19. Jahrhunderts. Ihre deutsche Übersetzung zur Hochzeit der Klassischen Moderne lässt wiederum Rückschlüsse auf den Willen zur Form zwischen (gegen-)moderner Neuklassik und avantgardistischem Formexperiment zu. Dass wiederum Boncianis Novellenpoetik, zumindest außerhalb der Italianistik, relativ unbekannt ist, hat poetologische wie rezeptionsgeschichtliche Gründe, die sowohl das italienische Original aus der Renaissance als auch seine deutsche Übersetzung betreffen. Carmen Rabell betont sowohl zu Boncianis als zu spanischen Versuchen (Francisco de Lugo y Davila) einer Novellenpoetik: »their efforts were isolated«. Sie unterstreicht, dass auch im zeitgenössischen Italien »a general silence towards it«11 vorherrsche. Nuccio Ordine wiederum betont in seiner Abhandlung die Dominanz des »petrarchismo« über den »boccaccismo«. Der niedrige Rang der Prosagattungen machte es auch der Poetik der Prosa schwer: Siamo di fronte ad una mancanza d’attenzione che affonda già le sue radici nella trattatistica medievale. I teoretici della poetica e della retorica, infatti, non mostrano interesse per il racconto. E continueranno a non mostrarlo anche nel Cinquecento […]. L’ unica testimonianza diretta […] resta la Lezione sopra il comporre delle novelle (1574) del Bonciani, rimasta inedita fino al 1727 e riproposta dal Weinberg nel 1972 […]. 12
Das Nichtedieren scheint somit bezüglich der Lezione sopra il comporre delle novelle eine gewisse Tradition zu haben. Wenn man berücksichtigt, dass auch die folgend behandelte Novella der Liebe von Georg Heym vom Autor selbst nicht veröffentlicht wurde, dann kann man festhalten, dass die vorliegende Abhandlung sich auch mit der Frage beschäftigt, ob nichtedierte Werke nicht bisweilen aufschlussreicher sind als solche, die forciert in die literarische Öffentlichkeit gedrängt werden. Vielleicht verbirgt sich zwischen Theorie und novellistischer Fingerübung geradezu eine Art handwerkliches Geheimwissen. Die Übertragung Boncianis ins Deut10| Die maschinenschriftlich überlieferte Übertragung befindet sich im Paul-ErnstArchiv der Universitätsbibliothek Regensburg (Signatur: 250/AM 95801 M 2–2,10/4). Paul Ernst erwähnt die Poetik des Bonciani bereits 1902 in einer Selbstanzeige zu von ihm editierten altitalienischen Novellen: Vgl. Paul Ernst: »Altitaliänische Novellen. Aus einer Selbstanzeige (1902)«, in: Ders.: Völker und Zeiten im Spiegel ihrer Dichtung. Aufsätze zur Weltliteratur. Hg. v. Karl August Kutzbach. München 1940, S. 268f., hier S. 268. 11| Carmen Rabell: Rewriting the Italian Novella in Counter-Reformation Spain. Woodbridge 2003, S. 15. Rabell sieht als Beweggrund der Novellentheorie Boncianis: »to restore the moral image of the genre and to establish its artistic value vis-à-vis classical literary theory« (Ebd., S. 16). 12| Ordine: Teoria della Novella, S. 33.
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sche wiederum blieb ungedruckt, obwohl Paul Ernst Bonciani zubilligt, im »Ganzen und Großen […] jedenfalls recht« zu haben und desweitern zu zeigen, »wie man eine ästhetische Untersuchung anstellen kann, was auch nach Lessing in Deutschland noch recht unbekannt ist«.13 Im Gegensatz dazu herrschen für Ernst in Deutschland um 1900 »über die Form der Novelle die allerunrichtigsten Vorstellungen«.14 Somit »ist es vielleicht nicht ganz unnütz, eine klassische Abhandlung über diesen Gegenstand aus einem nicht allgemein zugänglichen Ort […] nach ihren Grundzügen bei uns bekannt zu machen«.15 Wie wir wissen, entfiel auch diese Bekanntmachung. Der Vergleich der Novellenpoetik Boncianis mit der deutschen Theoriebildung seit der Goethezeit verdient dennoch ebenso Aufmerksamkeit wie das moderne Umfeld, in dem das alte Traktat durch den Novellentheoretiker Paul Ernst übertragen wurde. Dieser wiederum konnte in zeitgleich entstandenen Aufsätzen wie Zum Handwerk der Novelle (1901) auf der vorherigen deutschen Novellenreflexion des 19. Jahrhunderts aufbauen.
D IE C OMPOSITION DER N OVELLE VON F R ANCESCO B ONCIANI PAUL E RNST IM K ONTE X T DER DEUTSCHEN N OVELLENPOE TIK Bei der Lektüre der Lezione sopra il comporre delle novelle fällt eine Übereinstimmung der deutschen Novellentheoretiker, ja der ›Novellenmetaphysiker‹,16 wie der Wiener Populärphilosoph Ernst von Feuchtersleben (1806– 1849) sie scherzhaft nannte, mit wesentlichen Punkten der Theoriebildung Boncianis auf. Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass die Theoretiker in ihren jeweiligen Epochen ausgehend von gänzlich unterschiedlichen diskursiven Voraussetzungen zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang folgende Epochen übergreifende Besonderheiten der Gattung: –
Neben den antiken Vorbildern, denen eher rechtfertigende Bedeutung zukommt, die Novellistik Boccaccios als allgemein akzeptiertes Gattungsmuster.
13| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 20. 14| Ebd., S. 1. 15| Ebd. 16| Das – bis auf wenige Ausnahmen – genuin deutsche Phänomen der Novellentheorie erklärt sich Feuchtersleben wie folgt: »Nun ist es aber uns Deutschen eigen, nichts genießen zu können, was wir nicht, wenigstens nebenher, bedenken; ja, das Bedenken der Genüsse ist uns eigentlich der Genuss der Genüsse. So haben wir mit einer Metaphysik der Sitten begonnen […] und was wäre an einer Metaphysik der Novelle Gewagtes?« Ernst Freiherr von Feuchtersleben: »Die Novelle. Didaskalie« [1841], in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 106–112, hier S. 106.
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Die Bedeutung der Bildhaftigkeit der Gattung, die sich etwa im Falle des Dekamerons in entsprechenden Illustrationen, in der deutschen Novellistik aber in Bezeichnungen wie Nachtstücke (E.T.A. Hoffmann), Studie (Gerhart Hauptmann), Niederländische Gemälde (Friedrich Hebbel) etc. niederschlägt. Die Novelle gilt als »Schwester des Dramas« (Storm),17 was in der Renaissancepoetik jedoch neben bestimmten vorhandenen Gattungsspezifika v.a. der absoluten Autorität der Tragödientheorie des Aristoteles,18 die auch aus der fragmentarischen Überlieferung seiner Poetik resultiert, geschuldet ist. Daran knüpft die zentrale Stellung des Wendepunkts (Peripetie bzw. peripezia19) in der Novellenhandlung an, auch bei Bonciani schon verbunden mit dem Element des Wunderbaren. Hervorgehoben wird schon 1574 die gattungsspezifische Bedeutung eines Zeichens, das später als Zentralmotiv fungiert, wobei hier nicht – wie bei Paul Heyse – der Falke Boccaccios, sondern z.B. das Ringmotiv oder körperliche Merkmale als handlungsbestimmende Kennzeichen (segno) genannt werden. Ein weiterer Aspekt in Boncianis Traktat ist die Definition der novella als dezidiert bürgerliche Gattung mit handelnden Personen mittleren Standes. Dies gilt zunächst v.a. für ihre komische Variante. Freilich: Die novellenspezifische Konzentration auf das (Früh-) Bürgertum ist im 16. Jahrhundert eben kein Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins wie im 19. Jahrhundert.
Die inhaltlichen wie morphologischen Übereinstimmungen in der Gattungsdefinition über die Kulturgeschichte hinweg können nicht vergessen machen, dass die Novellenpoetik Boncianis eine traditionelle Verfasstheit besitzt. Gerade weil das Traktat poetologisches Neuland beschreitet, beruft es sich auf in der Antike verwurzelte Traditionen und Autoritäten. Die aristotelische Mimesis,20 »nämlich die Nachbildung 17| Im Hinblick auf Bonciani und seine ›aristotelische‹ Novellentheorie ist das bekannte Diktum Storms – zumindest bezüglich der Beschränkung auf seine Zeit – falsch: »… die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens.« Theodor Storm: »Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 119f., hier S. 119. Schon die altitalienische Novellenpoetik orientiert sich am Drama als Gattung mit hoher Dignität. 18| Eine Theorie der Komödie, der im Regelsystem für die Novelle relevanten Gattung, ist von Aristoteles bekanntlich nicht überliefert. 19| Ordine: Teoria della Novella, S. 124. 20| Rudolf Drux umreißt das mimetische Prinzip in der Poetik der Spätrenaissance anknüpfend an Scaliger wie folgt: »Mit anderen Worten: die Darstellung, die über den Bereich der Realien und Fakten hinausführt, gibt an; wie die Dinge möglich wären (aber
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menschlicher Handlungen«,21 ist – ganz traditionell – auch im Falle »der Fabeln, welche wir eigentlicher Novellen nennen«, Grundlage der Dichtung. Diese Novellendichtung kann gemäß der Überlieferung »tragisch, heroisch und komisch«22 sein. Um die von ihm behandelte ›neue‹ Gattung novella erst zu etablieren, stellt Bonciani gleich im Anschluss eine Beziehung zwischen Novellen-Figuren Boccaccios und den Helden zweier Versepen, der altgriechischen Ilias des Homer (spätestens 700 v. Chr.) und der lateinischen Aeneis des Vergil (70.v. Chr.–19.v. Chr.), her. Da wird die Ghismonda, deren eifersüchtiger Vater ihr das Herz ihres heimlichen Liebhabers servieren lässt (Dekameron IV, 1)23 mit der altphönizischen Königin Dido ebenso verbunden wie das homerische Freundesspaar Achilles und Patrokles mit Titus und Gisippus, den Helden einer Freundschaftsnovelle im Dekameron (X, 8).24 Die Belegstellen aus dem Dekameron sind auch im weiteren Verlauf des Traktats ein modellbildendes Leitmotiv. Allein 28 »jene[r] hundert Urnovellen, welchen das Programm der
noch nicht bzw. nicht mehr sind) oder wie sie sein müssten, d. h. wie sie wären, wenn das schaffende und erhaltende Prinzip vollkommen in ihnen zum Ausdruck käme. Dieses Prinzip kann aber nur anhand der Dinge selbst erkannt werden, und Dichtung als Medium der Erkenntnis hat die Gegenstände der Natur so nachzuahmen, dass die ihnen inhärente und bereits im Schöpfungsakt angelegte Ordnung sichtbar wird.« (Rudolf Drux: Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem. Bonn 1976, S. 21) Auch und gerade die literarische Mimesis ist mithin um 1600 theologisch-philosophisch konnotiert. 21| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 1. 22| Ebd. 23| Das Argumentum jener mit dem Herzmaere des Konrad von Würzburg verwandten novella lautet wie folgt: »Tancredi, Fürst von Salerno, tötet den Geliebten seiner Tochter und schickt ihr sein Herz in einer goldenen Schale; sie aber gießt vergiftetes Wasser darüber und stirbt«. Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Mit einem Nachwort von Bernhard König. Frankfurt/Main 1961, S. 216. Sowohl, was die Nobilität der handelnden Personen als auch, was die Brutalität der Handlung betrifft, fällt diese novella aus dem Rahmen der komödiantisch-bürgerlichen novella, der Boncianis Haupt augenmerk gilt. Im Erzählrahmen Boccaccios wird die Handlung durch eine Kontrastästhetik gerechtfertigt: »Vielleicht tat er es, um die Heiterkeit der vorigen Tage ein wenig auszugleichen.« (ebd.). 24| Hier sieht das Handlungsmuster der ebenfalls ernsthaften novella so aus: »Sophronia, welche die Frau des Gisippus zu sein glaubt, ist die Gattin des Titus Quinctius Fulvus und geht mit ihm nach Rom. Hier trifft Gisippus in ärmlichem Zustande ein, und da er sich von Titus verachtet glaubt, klagt er, um zu sterben, sich selbst an, einen Menschen getötet zu haben. Titus erkennt ihn wieder und gibt nun, um ihn zu retten vor, er sei es, der jenen getötet, worauf der wirkliche Mörder sich selbst angibt. Danach werden alle von Oktavian in Freiheit gesetzt.« (Boccaccio: Das Dekameron, S. 551) Wie in den Ehebruchsnovellen entfaltet die novella sich auch hier bis zum Wendepunkt als Spiel der Täuschungen.
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Novellistik gleichsam auf einem Spruchband aus dem Halse hängt«,25 werden in Boncianis knappem Text genannt, zitiert und paraphrasiert. Diese Konzentration auf dem ›Meister‹ aus Certaldo und seine »verschwenderische Fülle des Faktischen«26 haben die Ausführungen Boncianis mit den viel späteren von Friedrich und August Wilhelm Schlegel und anderen deutschen Novellentheoretikern gemein. Auch den deutschen Theoretikern ist ›Boccaz‹ (F. Schlegel) Jahrhunderte später der Leitstern der Novellistik, denn »in dem Dekamerone des Boccaccio […] nahm die Dichtart ihren eigenen Gang, worin viel Verstand und feine Ausbildung des Einzelnen ist«27 (A.W. Schlegel). Die altitalienische novella erscheint mithin historisch als das Substrat, poetologisch als das Modell, der »Typus«,28 der deutschen Novelle. Schließlich ist – so Paul Ernst 1902 über Boccaccio – »selbst der aristotelische Gesetzgeber der Novelle, Francesco Bonciani, in seiner viel späteren Zeit doch in keinem Stück theoretisch über seine Praxis«29 hinausgekommen. Noch nach der Jahrtausendwende ist für Hans-Jörg Neuschäfer Boccaccio der, »der das Genre der Novelle gleichsam erfunden hat, indem er das Geschichtenerzählen gleichsam auf eine neue Basis stellte«.30 Diesen Vorlagen- bzw. Vorbildcharakter hatte die altitalienische novella seit der Zeit des deutschen Frühhumanismus in der Literatur selbst. Seit der Goethezeit wurde diese Musterfunktion31 dann auch theoretisch, ja philosophisch untermauert, wobei stets das Problem 25| Wilhelm Heinrich Riehl: »Novelle und Sonate« [1885], in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 128–139, hier S. 131. 26| August Wilhelm Schlegel: »Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. III Teil (1803–1804)«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 16–21, hier S. 19. 27| August Wilhelm Schlegel: »Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre. [1798, Nachschrift F. Ast]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 15f., hier S. 15. 28| Friedrich Schleiermacher: »Ästhetik [Grundheft 1919, Nachschrift Bindermann 1825]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 22–26, hier S. 22. 29| Ernst: Altitaliänische Novellen. Aus einer Selbstanzeige, S. 268. 30| Hans-Jörg Neuschäfer: »Boccaccio-Cervantes-Fontane. Vom Anfang und Ende der Novellendichtung«, in: Hugo Aust u. Hubertus Fischer (Hg.): Boccaccio und die Folgen. Fontane, Storm, Keller, Ebner-Eschenbach und die Novellenkunst des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2006, S. 11–23, hier S. 11. 31| Rudolph Gottschall skizziert die bisherige deutsche Novellengeschichte 1858 wie folgt: »Aus den romanischen Literaturen, in denen der Italiener Boccaccio und der Spanier Cervantes als novellistische Muster hervorragen, wurde sie durch die romantische Schule nach Deutschland verpflanzt.« Rudolf Gottschall: »Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit« [1858], in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 125f., hier S. 125.
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aufscheint, dass es die romanische novella ebenso wenig gibt wie die deutsche Novelle. Novellentheorie bezieht sich immer mehr auf das Sollen als auf das Sein, das eben ist ihr quasi metaphysisches Spezifikum. So ist gerade im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der romantischen Märchennovelle und der gründerzeitlichen Monumentalnovelle, eher die Theorie als die Praxis der novellistischen Literaturproduktion an italischer Kürze und Klarheit orientiert. Erst zu Zeiten Paul Ernsts und Georg Heyms sollte sich dies kurzfristig ändern. Nach realen Spezifika der novella, die dann ins überlieferte Regelsystem einzuordnen waren, suchte schon Bonciani. Trotz der Erwähnung von antiken Autoritäten wie Homer und Horaz und italienischen wie Petrarca oder Dante, wird schon bei Bonciani unterstrichen, dass die Novelle »sich von anderen Arten der Dichtung unterscheidet.«32 Ihr fehlen nämlich als Prosagattung die Mittel »Rhythmus, Harmonie und Vers,33 was bedeutet, dass mittelhochdeutsche versifizierte Märendichtungen wie die des ›Strickers‹ nach Bonciani nicht unter die Novellistik zu subsummieren wären. Was die novella wiederum mit anderen Gattungen verbindet, ist das in ihr enthaltene Handlungsgerüst, das die Anglisten heute plot nennen, und »das […] etwa de[m] kurze[n] Bericht, der bei Boccaccio über den einzelnen Novellen steht«, entspricht. Diese Handlungsstruktur gleicht dem aristotelischen Mythos, »der Fabel […], welche auch hier der wichtigste Teil des Gedichtes ist«,34 mit der die novella selbst jedoch nicht verwechselt werden darf.35 Hierbei »muss die Länge der Fabel so beschaffen sein, nach den Vorschriften des Aristoteles, dass sie in ihrem völligen Umfang im Gedächtnis haften kann«.36 Wie den Dialogen des Lucian wohnt der novella überdies zumeist ein komisches Element inne, was auch etymologisch erklärbar ist:
32| Bonciani: Die Composition der Novelle, S.1. 33| Ebd., S. 2. 34| Ebd., S. 4. 35| Hannelore Schlaffer erklärt die Funktion dieser den Novellen Boccaccios vorgesetzten Handlungsgerüste mit Hilfe der Rhetorik: »Was bei Boccaccio den Erzählungen vorgelagert ist und im allgemeinen als Inhaltsangabe gelesen wird, ist das Argumentum, das diese Sequenz zusammenfasst. […] Das Argumentum nimmt nicht das Ereignis vorweg, es legt vielmehr den in der Serie notwendigen Platz dafür fest. Es sorgt dafür, dass die Handlung nicht abschweift und dass sich die Erzählung in die mathematische Reihe der Lösungen einpasst « (Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 38). Die Ästhetik einer solchen strikten Reduktion, die man in den Troubadourviten übrigens noch klarer vorfindet, als in der altitalienischen novella ist nach den naturalistischen und impressionistischen ›Abschweifungen‹ der Klassischen Moderne ein Element, das die alten Gattungsmuster für die Neuklassik attraktiv macht. 36| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 10.
D AS M USTER DER NOVELLA BEI P AUL E RNST UND G EORG H EYM So ist auch die Erklärung von Franco Sacchetti im Vorwort zu seinen Novellen wo er sagt, er schreibe Novellen, das heißt »cose nove« 37 oder neue Dinge, was so viel bedeutet wie törichte und das Ermessen übersteigende Dinge, wie auch Boccaccio von Calendrino sagt: »ein einfältiger Mensch von neuen Sitten«.38
Die neuen Dinge werden in der novella aus dem Grund erzählt, aus dem heraus schon in der Antike erzählt wurde: Man verfolgte »zwei Absichten […], über die Schwächen anderer zu spotten und durch Vergnügen Nutzen zu stiften«.39 Das delectare steht mithin in Horazischer Tradition neben dem prodesse.40 Gerade, um die Neuheit der Gattung und das teilweise Ungewöhnliche ihrer alltäglichen Handlungen in der Renaissance zu rechtfertigen, streift Bonciani – bisweilen alte Quellen paraphrasierend – altgriechische Fabeldichter,41 ja sogar Homer und Hesiod und deklariert sie als Novellisten. Näher eingegangen wird freilich dann auf den Goldenen Esel bzw. die Metamorphosen des Lucius Apuleius (ca. 170 n. Chr.), die noch heute als frühe Novellensammlung gelten:42 Letztere Meinung wird bekräftigt durch die Bemerkung des Beroaldus in einem Vorwort zum Apuleius, der »Milesisch Reden« erklärt als »leichtfertig und angenehm reden«, 43 denn die Milesier waren im Altertum durch Vergnügungssucht und Üppigkeit berühmt, sodass ihnen das Wort zugeschrieben wurde »Bei uns darf keiner gut sein, sonst wird er aus der Stadt gejagt«. 44
Schon bei Apuleius findet sich die Verbindung zwischen der Einzelnovelle und dem kommentierenden Rahmen. Die dort erwähnten (verloren gegangenen) milesischen Geschichten bzw. Märchen des Aristides von
37| Quelle nach Ordine: F. Sacchetti: Il Trecentonovelle, a cura di A. Lanza. Firenze, Sansoni, 1990, S. 1. 38| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 4. Das Boccaccio-Zitat ist der dritten Geschichte des »achten Tags« des Dekameron entnommen. 39| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 5. 40| Vgl. Drux: Martin Opitz, S. 34. Auch das Proemio des Dekamerons stellt nach Pabst die tradierte »Verbindung mit dem Belehrenden« heraus. Walter Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung. Heidelberg 1967, S. 28. 41| Ordine weist nach, dass Bonciani hier den alexandrinischen Rhetor Theon (Theonis Sophistae Primae apud rhetorem exercitationes) zitiert (Ordine: Teoria della Novella, S. 106). 42| So werden die Metamorphoses des Apuleius in Kindlers Literaturlexikon als »Ring von Novellen und Märchen« bezeichnet (Richard Mellein: »Lucius Apuleius, Metamorphoses«, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon. 22 Bde. Chefredaktion Rudolf Radler. München 1988, Bd. 1, S. 578–580, hier S. 578). 43| Quelle nach Ordine: L. Apulei Madaurensis: De asino aureo libri XI, cum eruditissimis Philippi Beroaldi Commentariis, Basileae, Per Henricum Petri, 1560. 44| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 5f.
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Milet45 wiederum werden ebenfalls bei Wieland ganz unabhängig von Bonciani in den Kontext der Novelle gestellt. Etwa, wenn »Herr M.« in der Rahmenhandlung zur unter dem Gender-Aspekt nicht uninteressanten Novelle ohne Titel (Hexameron von Rosenhain, 1804) herausstellt, dass er gerade kein »Milesisches Mährchen«, sondern eben »eine kleine Novelle«46 erzählen wolle. Auch bei Wieland wird somit – wie in den Lezione sopra il comporre delle novelle – eine gattungsgeschichtliche Brücke von der Antike bis zur Neuzeit geschlagen: Aus solchen Novellen wählte Apuleius die seinigen aus, welcher einer der nützlichsten und anmutigsten Novellisten war, die es je gegeben hat, und diesem Beispiel folgte Boccaccio […]. Denn Boccaccio begnügte sich bei seiner Geistesgröße nicht mit nichtigen und gemeinen Stoffen, sondern erhob sich außerdem zu großen und vorzüglichen Menschen […]. Und wiewohl also die Novelle ursprünglich nur niedrige Stoffe hatte, und, wie die Bedeutung des Wortes ist, nur lächerliche Handlungen nachbildete, so hat unser Boccaccio sie doch so erhöht, dass wir nun sagen können, sie bildet auch die Handlungen der Besten nach […].47
Boccaccios Dekameron wurde seinerseits schon früh in Frankreich illustriert. Im Auftrag des Burgunderherzogs Johann Ohnefurcht ist das Werk ab 1414 übersetzt und präzise bebildert worden. Eberhard König betont im Kontext jener ersten »Bilderhandschrift« des Novellenkranzes, dass »Illustration […] immer mit dem Schreiben verwandt« ist: »sie setzt Begriffe und Personen in Bildformen um und neigt dabei zur Reihung«. Wie Drama und Novelle neigt die Illustration eo ipso zur »Einheit des Bildes in Raum, Licht und Gestik«, was viel später etwa Novellen, die als »Nachtstücke« bezeichnet werden, belegen. Das Drama, aber etwa auch die Ehebruchs-Novellistik Boccaccios gewähren wie die Bilderhandschrift einen »fragmentierte[n] Blick in […] bühnenhafte Innenräume«.48 Dieses intermediale kulturgeschichtliche Faktum untermauert eine weitere Parallele zwischen der Novellentheorie Boncianis und der deutschen Novellenbetrachtung des 19. Jahrhunderts: die Bildhaftigkeit der Gattung, die mit ihrer Anschaulichkeit wie mit ihrer komprimierten Form in Einklang steht:
45| Siehe hierzu: Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 63ff. 46| Christoph Martin Wieland: »Die Novelle ohne Titel. Einleitung [in: Taschenbuch für das Jahr 1804]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 1f., hier S. 2. 47| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 6. 48| Eberhard König: Boccaccio Decameron. Alle 100 Miniaturen der ersten Bilderhandschrift. Stuttgart, Zürich 1989, S. 35. In der Form des Musikdramas betreten dann die »Novellen aus den besten Quellen« in Franz von Suppès Komischer Oper Boccaccio (UA 1879) auch die Bühnenbretter.
D AS M USTER DER NOVELLA BEI P AUL E RNST UND G EORG H EYM Was Nachbildung ist, wollen wir uns klar machen, an dem Beispiel eines Gemäldes, welches die Eroberung von Carthago darstellt. Ein solches Gemälde kann man nicht Nachbildung nennen, sondern wir müssen sagen: es existiert eine Beziehung zwischen dem Ding, das nachgebildet wird und dem Ding, das nachbildet; diese ergibt sich aus der Ähnlichkeit beider, und das ist im eigentlichen Sinne die Nachbildung […]. 49
Was bei Bonciani ein novellistisch relevantes Gemälde eines historischen Wendepunkts ist, ist für die deutsche Novellenpoetik des 19. Jahrhunderts z.B. eine »geistreiche Skizzierung«,50 ein »niederländisches Gemälde«51 oder der »echte Holzschnitt«,52 der ja auch realiter viele Novellenausgaben schmückt. Die bildlich fassbare, relativ einfache Handlung prägt die Novelle.53 Sie kann und soll erfreuen, allerdings dürfen wir nicht verbrecherische oder ganz sittlich-schlechte Handlungen nachbilden, denn wenn diese nicht nach Gebühr bestraft werden, so er wecken sie vielmehr Missvergnügen statt Vergnügen und bewirken bei den Lesern schlechte Sitten; und wenn sie selbst die ihnen zukommende Strafe erhalten, so bringen sie doch den Leser nicht zum Lachen. Deshalb darf man derartige Handlungen auf keinen Fall an-
49| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 8. 50| Wilhelm Meyer: »Drei Vorlesungen über das Wesen der epischen Poesie und über den Roman und die Novelle insbesondere [Bremen 1829–1830]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 79–82, hier S. 81. 51| Friedrich Hebbel nennt seine Novellen nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus soziologischen Gründen so: »Ich habe ihnen den Titel: niederländische Gemälde vorgesetzt. Dadurch wollte ich andeuten, dass sie aus dem Leben, und zwar großenteils aus dem Leben der niederen Stände geschöpft sind.« Friedrich Hebbel: »Vorwort, Hamburg Ostern 1841«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 96–99, hier S. 98. Die soziale Konzentration des Novellenpersonals in den bürgerlichen, ja kleinbürgerlich-grobianischen Schichten beschreibt schon Bonciani. Im Falle Hebbels kann man, was die niederdeutsche Prägung seiner Novellistik angeht, auch von Eulenspiegeleien sprechen. 52| Wilhelm Heinrich Riehl, der Verfasser der Kulturgeschichtlichen Novellen, führt dazu aus: »Wer aber wirklich erzählt, der sucht vor allem die feste, reine Linie der Handlung, deutet Licht und Schatten bloß an […]. In diesem Urbilde begegnen sich die deutsche ›Geschichte‹ und der echte Holzschnitt […].« Wilhelm Heinrich Riehl: »Vorwort [in: Ders.: Geschichten aus alter Zeit. 1. Bd., 1863]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 127. Diese Konzentration auf die Fabula als Spezifikum der novella findet sich schon bei Bonciani und wird später bei Paul Ernst wieder aufgegriffen. 53| Aus der bildenden Kunst stammende Begriffe wie Nachtstücke oder Fantasiestücke in Callot’s Manier wurden über E.T.A. Hoffmann zu literarischen Genres. Noch eine 2001 veröffentlichte Italiennovelle Josef Winklers trägt den Titel Natura morta, zu Deutsch also ›Stillleben‹.
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R OLF F ÜLLMANN wenden, sondern vielmehr die nach der lächerlichen Richtung schlechten, die nicht von Verbrechern ausgehen, sondern von Narren und Betrogenen«.54
Gerade die Anforderung des docere drängt demnach in der Renaissancepoetik die novella in die komische Richtung – unbeschadet von ernsten novellentypischen Stoffen wie der Romeo-und-Julia-Konstellation. Nicht zufällig trägt die Abhandlung Nuccio Ordines, in deren Anhang Boncianis Novellentraktat abgedruckt ist, den Titel Teoria della Novella e Teoria del Riso nel Cinquecento. Die Theorie und Praxis des Lachens vor allem unterstreicht das Spezifische der novella als Gattung der Kurzprosa, etwa im Vergleich zu den meisten Fabeln und zum biblischen Gleichnis. Das ergibt sich auch aus den Anforderungen des Alltagslebens, so können wir sagen, dass wir gewöhnlich zu viel Verdruss und Ärger haben und deshalb eine Erheiterung gebrauchen. Das bezeigt auch Boccaccio am Anfang wie am Schluss des Dekameron, wo er sagt, er habe für Menschen geschrieben, die Trost nötig hätten, und deshalb lässt er seine Geschichten auch in einem Kreis solcher Leute erzählen, die nichts weiter brauchen wie Fröhlichkeit.55
Wie die Rahmenhandlungen des Dekameron, aber auch anderer Novellensammlungen, belegen, kann dieses Bedürfnis nach Fröhlichkeit durchaus aus der Lebenstragik, ja aus regelrechten Katastrophen wie der Pest, herrühren. Die Konzentration auf die kurzweilige humoristische Novelle entspricht überdies der Einbettung der Novellenpoetik Boncianis in die poetologische Tradition seit der Antike. Schon der erwähnte Apuleius beginnt seinen Goldenen Esel mit den Worten: Ich will dir, lieber Leser, in diesem milesischen Märchen allerhand lustige Schwänke erzählen, welche deine Ohren auf das angenehmste kitzeln sollen, wo du anders ein Buch, das in dem kurzweiligen ägyptischen Tone geschrieben ist, deiner Aufmerksamkeit nicht für unwürdig achtest.56
Als neue rechtfertigungsbedürftige Gattung muss sich die novella desweitern, was die Fabelkomposition betrifft, nicht allein an der antiken komischen Erzähltradition, sondern v.a. an der Komödie, die wiederum weitaus niedriger als die Tragödie steht, orientieren. Die Komödie ist im 16. Jahrhundert das Paradigma einer niedrigen Gattung,57 nach dem sich andere im Regelsystem tiefgeordnete Textsorten auszurichten haben. Angesichts der vielen ernsthaften altitalienischen Novellen – nicht nur im Dekameron – kann man jedoch festhalten, dass schon Boncianis Novel54| Bonciani: Die Composition der Novellle, S. 9. 55| Ebd. 56| Apuleius: Der goldene Esel. Aus dem Lateinischen von August Rode. Frankfurt/ Main 1975, S. 9. 57| Drux: Martin Opitz, S. 38.
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lentheorie als Normsetzung mit der Vielfalt des novellistischen Materials kollidiert.58 Bonciani erläutert wiederum auch die differentia specifica der novella im Kontrast zur Komödie. Die noch für Theodor Storm und Paul Ernst bedeutende Verschwisterung mit dem Drama zeigt sich im Regelsystem Boncianis eben auch im Unterschied. Etwa in der Tatsache, dass Tragödie und Komödie nach poetologischer Tradition ihre Handlung auf vierundzwanzig Stunden beschränken müssen, die novella aber in ihrer Zeitgestaltung bei weitem freier ist: Denn die Komödie bildet einen bestimmten Teil der Handlung nach, der die Verwicklung und Entwicklung enthält, und das übrige erzählt sie im Prolog und den ersten Szenen; sie erzählt also erst, fängt dann die Handlung in der Mitte an, und eilt darauf mit ihr zum Ende während die Novelle von Anfang an erzählt, ordnungsmäßig zur Mitte fortfährt und bis ans Ende geht. Zum Beispiel:59 Die Frau des Arztes Mazzeo wird von ihrem Mann nicht genügend im Bett versorgt. Sie sieht sich also nach Hülfe um, wird mit Ruggieri von Jeroli bekannt, verliebt sich in ihn, und schläft oft mit ihm zusammen. Einmal, als er zu ihr gegangen ist, trinkt er unvermutet einen Schlaftrunk. Er wird betäubt, von seiner Geliebten für tot gehalten und in eine Kiste gepackt, die auf der Straße steht. Zwei Wucherer stehlen, da es Nacht ist, diese Kiste, und nehmen sie mit sich nach Hause. Ruggieri kommt wieder zu sich, wird für einen Räuber gehalten, und festgenommen. Um ihn zu retten, erklärt das Mädchen der Frau, er sei ihr eigener Liebhaber, und sie habe ihn in die von den Wucherern gestohlene Kiste gesteckt; so entgeht er dem Galgen und die Wucherer werden für den Diebstahl der Kiste bestraft. Diese Fabel kann offenbar nicht bloß von Novellisten, sondern auch vom Lustspieldichter dargestellt werden, aber mit dem Unterschied, dass der Lustspieldichter nicht von Anfang an darstellen kann, sondern etwa an der Stelle, wo die Frau den Ruggiero in die Kiste steckt, und von da an würde er dann bis zum Ende fortgehen, das frühere aber in der Exposition erzählen, weil es unwahrscheinlich ist, dass das alles an einem Tage vor sich gehen kann. Die Novelle aber, welche nicht eine solche Zeit vorgeschrieben hat, kann eine Handlung, die sich durch zwei oder drei Jahre hindurch zieht, erzählen, wie sie will. 60
Selbst die strenge ›aristotelische‹ Renaissancepoetik garantiert der novella mithin ihre Freiheiten. Dazu gehört, dass »die Novelle wunderbarere Dinge [fatti più maravigliosi61] zu erzählen wie die Komödie darzustellen
58| Schon Walter Pabst stellt – freilich anknüpfend an eine nicht unproblematische Genieästhetik – heraus, »dass die Novellistik Boccaccios und anderer bedeutender Novellenautoren unabhängig von Regeln und Gesetzen, ja meist im Kampf mit ihnen entstanden ist« (Pabst: Novellentheorie, S. 93). Die Novellenpoetik Boncianis erwähnt er freilich nicht. 59| Dekameron IV, 10. 60| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 10f. 61| Ordine: Teoria della Novella, S. 118.
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vermag«,62 was späterhin in der Romantik auch bei Tieck anklingt.63 Zumeist bleibt sie aber der Alltagswelt verhaftet und hat u.a. deswegen auch eine im Vergleich zur Tragödie modifizierte Ständeklausel:64 Bei der Erfindung der Fabel hat der Novellist, außerdem dass er eine Erzählung in eine Zeit verlagern kann, wie sie ihm passend erscheint, noch den Vorteil, dass er sie nach seiner Weise gestalten und die Namen der Personen aussuchen kann, wie er will. Das kann der tragische Erzähler nicht […]; denn da die Tragödie erhabene und sonderbare Handlungen darstellt, welche sich selten ereignen, muss er sie an jene berühmten und großen Menschen verknüpfen, welche für Halbgötter gehalten werden, damit man ihm leichter glaubt. Weil aber unsere Novellen von gewöhnlichen Handlungen reden, die an sich sehr Glauben machen, so kann man hier freier sein […]. 65
Trotz aller Gestaltungsfreiheit gibt es ein gemeinsames Strukturmerkmal zwischen Novellistik und Dramatik, die Peripetie, die späterhin in der deutschen Novellentheorie als ›Wendepunkt‹ wieder auftaucht. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts betont August Wilhelm Schlegel für die deutsche Novellenpoetik, dass »die Novelle entscheidender Wendepunkte«66 bedürfe, »so dass die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen fallen, und dies Bedürfnis hat auch das Drama.«67 Auch der Romantiker Ludwig Tieck sieht „jenen auffallenden Wendepunkt […], der sie von allen Gattungen der Erzählung unterscheidet«,68 als prägend für die Morphologie der Novelle an. Die »Handlungen«, die »für die Novelle geeignet sind«, will wiederum Bonciani in der Spätrenaissance wie Aristoteles einteilen in einfache und verwickelte. Einfache nenne ich die, bei denen der Umschlag erfolgt ohne Erkennung und jenen großen Umschwung, der Peripetie 62| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 11. 63| Tieck verbindet den novellentypischen Wendepunkt mit dem ›Wunderbaren‹ im Alltag: »Diese Wendung der Geschichte […] wird sich in der Phantasie des Lesers umso fester einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter anderen Umständen wieder alltäglich werden könnte«. Ludwig Tieck: »Schriften, Bd. 11, Berlin 1829. Vorbericht zur dritten Lieferung. S. LXXXIV«, in: Josef Kunz (Hg.): Novelle. Darmstadt 1968, S. 53. 64| Die Ständeklausel wurde »seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts« noch verschärft. Auch deshalb wurden »Tragödie und Komödie, in denen sich die gesellschaftliche Polarität am deutlichsten wiederspiegelt«, Muster der Dichtung. Drux: Martin Opitz, S. 37. 65| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 12. 66| Der Wendepunkt gilt noch für die Kurzgeschichte der Nachkriegszeit nach 1945 als prägende Konstituente. 67| August Wilhelm Schlegel: »Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. III Teil (1803–1804)«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 16–21, hier S. 18. 68| Ludwig Tieck: »Vorbericht«, in: L.T.s Schriften, XI. Bd. Schauspiele, Berlin 1829, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 74–77, hier S. 76.
D AS M USTER DER NOVELLA BEI P AUL E RNST UND G EORG H EYM heißt, und verwickelt die, welche Erkennung und Peripetie oder beides zugleich haben […].69
Diese Erkennung [riconoscenza70] ist nach Aristoteles ein Übergang vom Nichtwissen zu Wissen, der in verschiedener Weise vor sich gehen kann, weil man eine Tat, oder eine Person erkennen kann; und nicht nur Menschen, sondern auch unbelebte Dinge […].71
Dass, was heute Zentralmotiv genannt wird, klingt überdies bei Bonciani als novellentypisches Zeichen an. Zum Wendepunkt der Erkennung führt Aristoteles sechs Arten an: durch Kennzeichen [segno72], durch den Dichter selbst, durch die Erinnerung, durch den Schluss, durch den Fehlschluss, und durch den Zusammenhang der Dinge.73
Das Kennzeichen ist bei Bonciani ein die Novellenhandlung motivierendes Motiv, was an den Motivbegriff Wolfgang Kaysers erinnert: Kennzeichen gibt es verschiedene Arten, nämlich solche, die von uns getrennt werden können, wie eine Kette,74 ein Ring 75 und solche, die untrennbar mit unserer Person verbunden sind; diese letzteren sind entweder einer ganzen Familie eigentümlich, oder einem Einzelnen; und in letzterem Fall entweder angeboren oder erworben. Alle diese Kennzeichen kann der Novellist anwenden […]. Hier ist unser Boccaccio sehr zu loben, der den Theodor, wie er zum Galgen geführt wird,76 an einem Mal auf der Schulter erkannt werden lässt, und den Ambrogiuolo von der Ginevra an den Sachen, die er ihr seinerzeit genommen hatte und ihr nun verkaufen will,77 denn Ambrogiuolo hatte diese 69| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 14. 70| Ordine: Teoria della Novella, S. 125. 71| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 14. 72| Ordine: Teoria della Novella, S. 125. 73| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 14. 74| Dieses Zeichen spielt auch noch in der modernen Novellistik eine Rolle, z.B. in La Parure von Guy de Maupassant (1884). 75| Siehe zu diesem – oft symbolisch und parabolisch vertieften – Zeichen die Ringparabel (z.B. Dekameron I, 3) sowie Eberhard Hermes: Die drei Ringe. Aus der Frühzeit der Novelle. Göttingen 1964. 76| Dekameron V, 7. Das Argument der novella lautet so: »Theodor verliebt sich in Violante, die Tochter des Messer Amerigo, seines Herrn, schwängert sie und wird deshalb zum Strange verurteilt. Während er mit Geißelhieben zur Hinrichtung geführt wird, erkennt und befreit ihn sein Vater, und er vermählt sich mit Violante« (S. 305). Am Mal als Kennzeichen erkennt der Vater seinen verschollenen Sohn. 77| Dekameron II, 9. Die entlarvenden Kleider sind in folgende Geschichte eingebettet: »Bernabo von Genua verliert durch Ambrogiuolos Betrug sein Vermögen und befiehlt, dass seine unschuldige Frau getötet werde. Sie entkommt und dient in Männerkleidung
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R OLF F ÜLLMANN Sachen damals ja genommen, um den Mann der Ginevra zu überzeugen, und Theodor musste zum Galgen mit entblößtem Rücken gehen.78
Um die spekulative deutsche ›Novellen-Metaphysik‹ gleich zu zügeln: Das Zeichen in der Poetik Boncianis entbehrt – vor Goethes Symbolbegriff – der »irrationale[n] Tiefe des Symbols«,79 die z. B, Hermann Pongs beschwört. Das segno Boncianis ist erst recht zumeist kein Kollektivsymbol im Sinne Jürgen Links. Es hat zunächst eine klar umrissene handlungsprägende Funktion. Um diese semiotische Differenz zu verstehen, hilft eine Erläuterung von Hermann Pongs, den Symbolbedarf der deutschen Gattung der Novelle im Unterschied zur altitalienischen novella betreffend: Sie gibt Anlass, eine Fülle symbolischer Formen auszubreiten in der Polarität des geschlossenen und offenen Baus […]. Doch wird in der deutschen Novelle im Gegensatz zur romanischen Urform das bestimmende Dingsymbol, der Falke, mit seiner konstruktiven Klarheit mehr und mehr hineingenommen in das Ganze einer symbolisch aufgefassten Existenz…80
Doch es gibt auch schon im Dekameron Ausnahmen von der Regel: Der von Pongs ausgemachte Symbolgehalt des Falken in Boccaccios novella V, 9 wird von Tzvetan Todorov in seiner Grammaire du Décaméron unter der Überschrift Cas particuliers81 bestätigt. Entdeckt hatte den besagten Vogel bekanntlich schon Paul Heyse, der gründerzeitliche Dichterfürst des 19. Jahrhunderts. Todorov wiederum, der in einer ähnlichen Vorgehensweise wie Propp82 in seiner Morphologie des Märchens die Novellen des Dekamorone nach strukturalen Bauelementen und ihrer Variation untersucht, betont, dass der Falke mehr als ein Kennzeichen im Sinne Boncianis ist:83 dem Sultan. Dann entdeckt sie den Betrüger und veranlasst Bernabo, nach Alexandrien zu kommen. Der Betrüger wird bestraft, und sie kehrt, wieder im Frauengewand, mit ihrem Manne reich nach Genua zurück« (S. 125). 78| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 14f. 79| Hermann Pongs: Das Bild in der Dichtung. 2. Band. Voruntersuchungen zum Symbol. Marburg 1969, S. 1. 80| Vgl. ebd. 81| Tzvetan Todorov: Grammaire du Décaméron. Den Haag 1969, S. 72ff. 82| Zur Problematik der Anwendung der Morphologie Vladimir Propps auf die Novellenanalyse siehe Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 46ff. 83| Diese novella, die die Novelle als symbolisch überstrukturierten Text musterhaft vertritt, hat folgendes Handlungsschema: »Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden, und verzehrt in ritterlichem Aufwand sein eigenes Vermögen, so dass ihm nur ein einziger Falke bleibt. Den setzt er, da er nichts anderes hat, seiner Dame, die ihn zu besuchen kommt, zum Essen vor. Sie aber ändert, ob sie dies vernommen, ihre Gesinnung, nimmt ihn zum Manne und macht ihn reich« (316). Der sowohl durch
D AS M USTER DER NOVELLA BEI P AUL E RNST UND G EORG H EYM Le faucon symbolise pour Giovanna la vie de son fils; pour Fréderéric, il signifie son objet le plus précieux et en même temps, un moyen de prouver son amour pour Giovanna. [….]. Cette nouvelle nous met en face d’un type d’ écriture qu’on n‘ avait pas encore rencontré dans le Décaméron, l’écriture symbolique.84
Neben jenem unüblichen Symbolgehalt ist diese Falkennovelle (der edle Vogel prägt übrigens auch X,9)85 auch in anderer Hinsicht unpassend für Boncianis Novellenpoetik: wegen ihrer vornehmen Handlungsträger, die zu besagtem noblen Vogel passen. Die novella ist für Bonciani nämlich eine bürgerliche Gattung. Ihr Personal ist idealiter die frühbürgerliche Mittelschicht der italienischen »Stadtrepubliken«,86 was in der zeitgenössischen Poetik durchaus ungewöhnlich ist.87 So »können« nach Bonciani »zwar auch wichtige und unbedeutende Menschen derart handeln, dass wir mit Recht über ihre Handlungen zum Lachen bewegt werden könnten«.88 Respekt vor hohem Rang und göttlicher Weltordnung einerseits und Mitleid mit den Armen andererseits lassen dem Publikum bei jenen Gesellschaftsschichten jedoch das Lachen im Halse stecken. Dies geschieht im Falle der höheren Stände89 entweder weil, da das Lachen einen Tadel oder Spott des Verlachten enthält, was ein übler Gebrauch der Mächtigen wäre, die gewissermaßen von Gott an so ansehnliche Stelle gesetzt sind; oder weil sie von sich selber aus den Tadel nicht wünschen und deshalb durch ihre Macht uns zwingen, diesen natürlichen Affekt zu zügeln; oder aus beiden Gründen zusammen.90
Die mächtige Zensur ist auch im 16. Jahrhundert ein Aspekt literarischer Tradition: »Deshalb wird der Novellist sich auch scheuen, solche Personen nachzubilden«. Moralische Selbstzensur ist demgegenüber bei »den ganz Elenden« geboten, »welche eher Mitleiden als Gelächter erregen. So
das Buch über die Falknerei des letzten Stauferkaisers Friedrich II als auch durch die Heraldik veredelte Vogel fungiert hier als Liebessymbol höchster Potenz. 84| Todorov: La grammaire du Décaméron, S. 75. 85| In dieser weiteren Falkennovelle spielt nicht ein Ritter wie Federigo, sondern Sultan Saladin eine zentrale Rolle. 86| In diesen Republiken wurde auch die politische Rhetorik gepflegt, was nicht ohne Einfluss auf die (implizite) Poetik der Novelle blieb. Vgl. Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 119f. 87| So gibt es wenig später »in der humanistischen Poetik des 17. Jh.« als handelnde Figuren zwischen Göttern, Königen und Fürsten einerseits und Knechten und Hirten andererseits keinen Platz mehr für die mittleren Schichten. Vgl. Drux: Martin Opitz, S. 38. 88| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 17. 89| Ein Blick auf die vielen erotisch-humoristischen Verstrickungen auch höhergestellter Geistlicher im Dekameron zeigt, dass Bonciani hier v.a. auf weltliche Fürsten abzielt. 90| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 17.
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sind also die Menschen von mittlerem Stande die für uns geeigneten«.91 Bonciani nennt als Beispiele etwa de[n] dicke Bildschnitzer, der sich einreden lässt, er sei ein anderer, 92 oder Ferondo, dem man glauben macht, er sei tot und befinde sich im Jenseits. 93 Bei dieser Art von Menschen muss man dann also nicht ihre gewöhnlichen Handlungen nachbilden, auch wenn sie dumm sind, sondern ihre außergewöhnlichen. 94
In der Kontinuität des europäischen Novellenmusters ist der Schritt vom Außergewöhnlichen zum ›Unerhörten‹ im Sinne Goethes dann nicht weit. Dieses Außergewöhnliche, ja bisweilen Surreale, wird auf komödiantischem Niveau in der novella auch den mittleren Ständen zugestanden. Der mittlere Status, ja die realitätsnahe Mittelmäßigkeit von typischen Novellenfiguren im Sinne Boncianis wird exemplarisch deutlich am erwähnten ›dicken Bildschnitzer‹. Dieser galt für einen der besten Meister in der besagten Holzarbeit, sowohl als in der Verfertigung von Werkzeugen für die Arbeitstische der Frauen. Dabei war er ein ganz angenehmer Mensch, eher arglos als schlau, etwa achtundzwanzig Jahre alt, und weil er derb und groß gebaut war, nannte man ich den Dicken […]. 95
Er erinnert an die Handwerkerfiguren Hoffmanns und Tiecks. Weder das höfische Schönheitsideal von Hochmittelalter und Renaissance noch der Gemeinplatz grotesker, etwa zwergenhafter Hässlichkeit treten hier auf die literarische Bühne, weder das Edle noch das abgrundtief Böse. Der mittlere Stand ihres Personals hängt im poetologischen Regelsystem wiederum auch mit dem »Stil«96 der novella zusammen:
91| Ebd. 92| La novella del Grasso Legnaiolo ist die altflorentinische anekdotische Künstlernovelle eines unbekannten Autors um Brunelleschi und Donatello (ca. 1409), zu Deutsch: Die Novelle vom dicken Bild-/Holz schnitzer/Tischler. Hier wird einem Bildschnitzer von besagten noch heute bekannten Künstlerkollegen eingeredet, er sei nicht er selbst, sondern ein gewisser Matteo. Verschiedene Bürger von Florenz spielen das Spiel mit, so dass die Titelfigur selbst die andere Identität zeitweise annimmt. 93| Dekameron III, 8. Die geradezu surreale Handlung lautet wie folgt: »Ferondo wird, nachdem er ein gewisses Pulver geschluckt hat, für tot gehalten. Der Abt aber, der sich mit seiner Frau ergötzt, holt ihn aus dem Grabe, setzt ihn gefangen und macht ihm weis, er sei im Fegefeuer. Dann wird er aufgeweckt und erzieht einen Sohn, den der Abt mit seiner Frau erzeugt hat, als den seinigen.« (S. 189). 94| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 18. 95| Ungenannter Verfasser: Der dicke Tischler, in: Italienische Novellen. 3. Bde. Berlin [1941], S. 333–352, hier S. 333. 96| Ordine: Teoria della Novella, S. 134.
D AS M USTER DER NOVELLA BEI P AUL E RNST UND G EORG H EYM Nur können wir im Allgemeinen feststellen, dass für die Novellen am besten der Stil passt, welchen […] wir einfach [umile97] und niedrig [nennen]; denn da sie in Prosa geschrieben sind und lächerliche Handlungen gewöhnlicher Menschen enthalten, so wäre hier jene Erhabenheit nicht am Platze, welche Tragödie und Epos verlangen. 98
Auch die deutsche Novellenpoetik des 19. Jahrhunderts kennt eine Konzentration auf die Mittelschichten – als handelnde Figuren wie als Rezipienten. Die diskursive Situierung der Gattung ist in dieser Epoche freilich eine völlig andere. Für Theodor Mundt nistet sie sich geradezu als Haustier in der biedermeierlich-bürgerlichen Idylle ein, sitzt mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze Nation Folgen haben mag. Die Novelle ist ein herrliches Ährenfeld für die politische Allegorie […] Draußen vor dem Schauspielhause sind auch Gendarmerie und Polizei aufgestellt und behüten das Drama. Die Novelle steht sich mit der Polizei besser, und sie flüchtet sich auf die gute Stube, wo es keine Gendarmerie gibt. In seiner Stube ist der Deutsche auch ein ganz anderer Mensch, […] er glaubt an die Freiheit […].99
Die Stoßrichtung des Bürgerlichen ist hier gegenläufig zu Bonciani: es gärt in der humoristischen Kleinwelt. Im Bürgerlichen Zeitalter zwingen keine Ständeklausel und keine göttliche Weltordnung die Novelle in die Bürgerlichkeit; sie ist im Gegenteil bisweilen – etwa in den sozialkritischen Novellen Heinrich Zschokkes und Heinrich Laubes oder in Gottfried Kellers Das Fähnlein der sieben Aufrechten (1860/61) geradezu bürgerlich-revolutionär. Wie das Beispiel der Novellentheorie Mundts zeigt, kann der literarisch-soziale Diskurs der Vormärzzeit zu Ergebnissen kommen, die mit der in jeder Hinsicht autoritätshörigen Regelpoetik des ausgehenden 16. Jahrhunderts vergleichbar sind. So können gegenläufige Diskurse in der »Novelle als Interdiskurs«100 ganz ähnliche gattungsprägende Ergebnisse zeitigen. Am Muster der novella wird deutlich, dass der Novelle sicher keine platonische Idee, aber doch eine relativ stabile interdiskursive Übereinkunft 97| Ebd. 98| Bonciani: Die Composition der Novelle, S. 19. 99| Theodor Mundt: »Moderne Lebenswirren. Briefe und Zeitabenteuer eines Salzschreibers, Leipzig 1834«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 69–71, hier S. 70. 100| Ursula Kocher sieht den gattungsprägenden Boccaccio und sein interdiskursives Spiel im Kontext von Foucaults Modell des Diskursivitätsbegründers: »Meines Erachtens spielt Boccaccio im Decameron permanent mit eben dieser [….] Funktion, die es ihm erlaubt, den Rezipienten immer wieder an der Nase herumzuführen, weil er sich in Einheit und Sicherheit glaubt, ohne es zu sein« (Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 41).
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zugrunde liegt. Hierbei können je nach zeitlich-historischer Situierung die Diskurse durchaus modifiziert, ja ausgetauscht werden, und doch erstaunlich ähnliche gattungsspezifische morphologische und inhaltliche Merkmale hervorbringen. Daran haben aber andererseits auch der rhetorische und der verwandte poetologische Diskurs als Kontinuum der europäischen Kultur, in dem viele Theoretiker des 19. Jahrhunderts durchaus noch zuhause waren, ihren Anteil. Diese Kenntnis alter Regeln gilt ebenfalls für den Übersetzer Paul Ernst, für den »bekanntlich das Drama, insbesondere die Tragödie, der Gipfel der Dichtungsgattungen« war.101
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Bleibt für die Germanistik nur die Frage, weshalb Boncianis Renaissancepoetik der novella hierzulande erst zur Jahrhundertwende rezipiert und dann ihre Publikation doch wieder verworfen wurde. Der zeitbedingte Verständnishorizont einer Übersetzung ist schließlich ebenso wichtig wie ihr Inhalt. Die novella als geradezu ersehntes Muster – auch jenseits des novellentheoretischen Diskurses im 19. Jahrhundert – ist ohne die Auseinandersetzung mit der Literatur der Moderne nicht denkbar. Paul Ernst hatte um 1900, als er Bonciani, aber auch altitalienische Novellen übersetzte, einen »schroffe[n] Bruch mit Arno Holz«102 als literarischem Mitstreiter und zugleich mit seinem eigenen Schaffen gemäß den Paradigmen der Moderne hinter sich. Die Abkehr vom Naturalismus103 und auch vom zerfasernden Impressionismus104 führte zum Bedürfnis nach festen Regeln. Ernst suchte nach neuen Leitbildern und fand sie laut Karl August Kutzbach und auch seiner Selbstaussage in der bekannten Verbindung von Bild und novella: Alles, was er bis dahin geschaffen hatte, befriedigte ihn nicht, weil er es letzthin als subjektiv und zufällig empfand. […] Aus dem Bericht über seine Italienreise […] im Frühjahr 1900 geht hervor, wieviel ihm die Begegnung mit Giotto und den alten Novellen weitergeholfen hat: »Ich sah Bilder von Giotto… Das war die Welt, in die ich gehörte, diese Bilder, in denen nicht ein Strich zu viel ist […]. In Turin fand ich die Silvestrische Sammlung der altitalienischen Novellisten. Ich wusste von ihr aus Stendhal und kaufte sie sofort… 101| Karl Konrad Polheim: »Paul Ernst und die Novelle«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), S. 520–538, hier S. 526. 102| Karl August Kutzbach: Die neuklassische Bewegung um 1905. Paul Ernst in Düsseldorf. Emsdetten 1972, S. 10. 103| Ein Beispiel für Paul Ernsts naturalistische Produktion ist u. a. das ›Lustspiel in einem Aufzug‹ Lumpenbagasch v. 1896 (in: Ders.: Dramen I. München 1932, S. 7–30). 104| Dem Impressionismus ist v.a. die Lyrik Paul Ernsts zuzuordnen (Vgl. Hartmut Marhold [Hg.]: Gedichte und Prosa des Impressionismus. Stuttgart 1991, S. 228f).
D AS M USTER DER NOVELLA BEI P AUL E RNST UND G EORG H EYM Diese Novellen waren mit dasselbe wie die Bilder von Giotto. Ihre Verfasser waren bedeutende Menschen gewesen und unbedeutende, edle und gemeine, gute Dichter und mittelmäßige Dichter. Das war wie die Schule Giottos. Ich dachte mir, wenn ich in eine solche Schule hineingeboren wäre, dann könnte ich sprechen.« 105
Ernst wollte am Muster lernen. Als er zurückkehrte, »übersetzte« er »eine Auswahl dieser Novellen, solche, aus denen ich am meisten lernen konnte. Nun hatte ich Führer, denen ich folgen konnte«.106 Paul Ernst schafft durch seine Übertragungen gleichsam ein Musterbuch für und gegen die Moderne. Nicht nur der Weg zur Form, sondern auch der Wille zur Formel prägt die moderne Auseinandersetzung mit dem Muster der novella. Hierbei soll die neue, aber althergebrachte Norm letztlich durch publizierte altitalienische Novellensammlungen und eben nicht durch die nichtpublizierte Novellenpoetik Boncianis gesetzt werden. Für das neuklassische Verständnis der novella als Muster ist das zeitgenössische Rahmengespräch, das Ernst seinen Übersetzungen voranstellt, aufschlussreicher als Ernsts eigene spätere Novellentheorie und auch sein umfangreiches und vielfältiges eigenes Novellenschaffen. In seiner Rahmenhandlung zu den Altitaliänischen Novellen versucht Paul Ernst quasi die neuklassische Nobilitierung einer eigentlich nichtklassischen niederen Gattung. Dieses Bestreben mag weiterhin einer der Gründe dafür sein, dass Ernst die Novellenpoetik Boncianis nicht veröffentlichte, obwohl er sie doch in der Selbstanzeige zu den Novellenübersetzungen erwähnte (vgl. Anm. 29). Sie könnte wegen ihres regelpoetologisch bedingten Schwerpunkts auf dem Komödiantischen mit Paul Ernsts eigener Novellenkonzeption107 kollidiert haben. Die Regeln Boncianis mögen zwar klar sein, für Paul Ernst waren es aber anscheinend die falschen. Heyms Novella ist überdies ebenfalls todernst. In der fiktionalen Rahmenhandlung zu den Novellenübertragungen Paul Ernsts trifft sich in Fiesole eine Gruppe deutscher Bildungsbürger. Der Ort oberhalb von Florenz ist laut Dekameron »eine alte und sehr bedeutende Stadt«. Sein Genius Loci tritt deutlich hervor: nicht nur aufgrund der Tatsache, dass »dessen Berg«108 in Sichtweite der Rahmengesellschaft des Dekameron lag, sondern auch durch die Medici (»Diesen Ort liebte der große Cosimo«109) und ihre Akademie. Die Rahmenhandlung, »jene Form gesellschaftlicher Bukolik, der in den romanischen Ländern eine so
105| Kutzbach: Die neuklassische Bewegung, S. 20. 106| Ebd. 107| Allenfalls die späteren Komödianten- und Spitzbubengeschichten Paul Ernsts fügen sich einigermaßen in das Muster Boncianis. 108| Dekameron VIII, 4, S. 424. In dieser novella wird von den Amouren des Propstes von Fiesole berichtet. 109| Paul Ernst: Altitaliänische Novellen. Ausgewählt und übertragen von Paul Ernst. 2. Aufl. Leipzig 1907, S. 4.
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reiche Auswirkung beschieden war«,110 situiert Ernst genau im Jahr 1900, das nicht für seine künstlerische Laufbahn zum Schwellenjahr wurde. Die deutschen Gäste sehen – bevor die novella in den Blickwinkel gerät – die toskanische Landschaft durch die Brille der detaillierten Kunstbetrachtung Jacob Burckhardts: Sie freuten sich […] über die ganz kleinen und hellgrünen Blätter der zarten schlanken Bäumchen, welche alle Maler der Renaissance so gern gebildet haben […] und auch über das Silber der vielverschlungenen Oliven, deren Schönheit erst das müde Auge der heutigen Menschen aus den großen Städten empfindet.111
Müde von ›grauer Städte Mauern‹ und an der Moderne,112 finden sich auf einem »gute[n] Weg«113 – ganz der soziozentrischen und rezeptionstheoretischen Sichtweise114 Paul Ernsts folgend – prototypische Figuren zusammen: »insgesamt fünf Menschen, nämlich zwei Ehepaare und ein Fräulein: ein Philosoph und ein Dichter mit ihren Frauen, von denen die des Philosophen Malerin war, und eine Schauspielerin«. Kunstproduktion trifft hier auf Reflexion. Letztere wird von einem durchaus sozial präzise gezeichneten, assimilierten Außenseiter vertreten. Schließlich ist der Philosoph […] von Geburt Jude und hatte in merkwürdiger Weise den bestimmenden Zügen jüdischen Empfindens und Denkens einerseits […] Inhalte ganz deutscher Art einbilden lassen, andernteils Ziele des philosophischen Ideals vorgestellt, so dass er sich zu einem wunderbar vielfältigen Menschen gemacht […]. 115
Diese Figur ist wohl durch die Verbundenheit des Ehepaars Ernst mit dem Sozialphilosophen Georg Simmel und seiner Frau beeinflusst,116 viel110| Erich Auerbach: Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Zweite, durchgesehene Ausgabe. Heidelberg 1971, S. 5. 111| Ernst: Altitaliänische Novellen, S. 5. 112| Die zeitliche Definition bzw. Eingrenzung der (Klassischen) Moderne erfolgt hier trotz der Bedenken Silvio Viettas nach dem zeitgenössischen Konzept Samuel Lublinskis in Die Bilanz der Moderne (1904) und Der Ausgang der Moderne (1909). 113| Ernst: Altitaliänische Novellen, S. 6. 114| Viktor Žmega²: »Literatur und Gesellschaft aus der Sicht der Neuklassik«, in: Zagreber Germanistische Beiträge 6 (1997), S. 29–40, hier S. 32. 115| Ernst: Alitaliänische Novellen, S. 7. 116| Angela Rammstedt umreißt den biographischen Hintergrund der rahmenden Einleitung zu Ernsts Altitaliänischen Novellen folgendermaßen: »Bereits die betont emotionale Nähe zwischen jenen ›fünf Menschen‹ lässt erkennen, dass Paul Ernst sich an das klassische Vorbild Boccaccios nur anzulehnen gedachte. Denn nur locker verflochten erscheinen die Teilnehmer der geselligen Erzählrunde im Dekameron, und begegnen uns dort allenfalls Typen, so bei Paul Ernst klar umrissene Individuen […], was denn auch zeitgenössische Leser […] als realen Hintergrund erkennen konnten – und wohl auch sollten: die enge Freundschaft zwischen den Ehepaaren Paul und Lilli Ernst, Georg
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leicht auch durch Paul Ernsts beginnende Freundschaft mit Samuel Lublinski.117 Vor dem Philosophen und den anderen auch im Gender-Aspekt sehr ›modernen‹ Rezipienten, bei denen »die Männer neben den männlichen Eigenschaften einige weibliche, und die Frauen neben den weiblichen einige männliche« besitzen, »so dass sie sich der Vollkommenheit mehr nähern wie gewöhnlichen Menschen«,118 breitet nun der »Dichter« seine Novellenübertragungen aus. Die alten Texte werden durch den Paratext der Rahmenhandlung vor einem zeitgenössischen Rezeptionshorizont neu kontextualisiert, ja geradezu umfunktioniert. Nicht mehr Erfreuen und einfacher moralischer Nutzen stehen wie bei Bonciani im Mittelpunkt. Die alten Novellen stehen jetzt kulturpolitisch gegen die Topoi von moderner »Leerheit, Schwindel; Plattheit, und sogar [einem] Mangel an Wissen, darum, was Kunst überhaupt sei«, gegen das entfremdende »Zeitalter der Maschinen«.119 Obwohl die von Ernst übersetzten und veröffentlichten altitalienischen Novellen morphologisch und thematisch sehr unterschiedlich120 sind, haben sie durch den Paratext des Rahmens eine klar zugewiesene gemeinsame neue Funktion als Gegenentwurf zur modernen Literaturwelt. Es handelt sich mithin jeweils um Morphome, worunter Günter Blamberger und Dietrich Boschung den historisch bedingten Gehaltwandel ein und derselben Struktur verstehen.121 Die soziale Bedingtheit des städtischen Kunsthandwerks steht für den Übersetzer und Kulturvermittler von 1900 außer Frage: so waren die alten florentinischen, sanesischen und anderen Künstler nach ihrer ganzen Lebensart Handwerker, wie anmutig geschildert wird in der alten Novelle vom dicken Bildschnitzer, welche der wackere Bülow122 in seinem Novellenbuch trefflich übersetzt hat.123
Das ganzheitliche Handwerk der novella soll als Leitbild gegen die moderne, etwa naturalistische Literatur (z.B. den »Experimentalroman«124) und Gertrud Simmel und der Schauspielerin Louise Dumont.« Angela Rammstedt: »Paul Ernsts Freundschaft mit Georg und Gertrud Simmel im Spiegel der überlieferten Korrespondenz«, in: Georg Thomé (Hg.): Paul Ernst – Außenseiter und Zeitgenosse. Würzburg 2002, S. 187–205, hier S.187. 117| Kutzbach: Die neuklassische Bewegung, S. 23. 118| Ernst: Altitaliänische Novellen, S. 15. 119| Ebd., S. 32. 120| Die Texte nähern sich u.a. der Tierfabel (Bd. 1, S. 158–165), der Heiligenlegende (Bd. 1, S. 79–91) oder der historischen Anekdote (Bd. 1., S. 224–237 u. 238–262, Bd. 2, S. 24–23, 95–106). 121| Weitere Informationen unter: http://www.ik-morphomata.uni-koeln.de. 122| Ernst meint hier Karl Eduard von Bülow (1803–1853), aus dessen Übersetzung des Dicken Tischlers oben auch zitiert wurde. 123| Ernst: Altitaliänische Novellen, S. 21. 124| Ebd., S. 29.
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mit ihrer »Vererbungstheorie und Milieutheorie«125 gestellt werden. Dabei leitet der marxistisch geschulte Paul Ernst in Gestalt seiner Dichterfigur die novella paradoxerweise aus dem sozialen Milieu der Renaissancestädte her: Nie war, wie heute, das Einzelne Selbstzweck, Schilderung, Charakteristik oder Stimmung; vielmehr war es immer dem ganzen Plan weise untergeordnet, welches eine große Selbstverleugnung und sicheres Kunstgefühl voraussetzt. So wirkten diese Novellen, bei der allergründlichsten Verschiedenheit, wie die schönen Bilder der gleichzeitigen Maler, kindlich und doch zugleich kunstvoll: und das ist das herrlichste, was ein Künstler erreichen kann. Der letzte Grund aber schien, dass diese Erzähler alle vornehme Leute waren, welche auf der Höhe der Gesellschaft lebten, und eine große Masse unter sich verachten durften […]. 126
Dieses Ideal des Adels der novella kollidiert mit Ernsts Ideal des Handwerks. Es ist desweitern wohl auch ein Grund, weshalb die Novelle als streng-musterhafte Lehrmeisterin zu Beginn des 20. Jahrhunderts als konservativ galt.127 In diesem Zusammenhang muss jedoch festgehalten werden, dass »Paul Ernst als Verfechter und [gleichzeitig als] Überwinder der strengen Novellentheorie«128 gilt. Das spätere Scheitern seiner eigenen ›Novellenmetaphysik‹ hatte letzten Endes zur Folge, »dass Ernst die Bezeichnung ›Novelle‹ für sein erzählerisches Werk erbarmungslos ausgemerzt und dafür die Bezeichnung ›Geschichte‹ eingeführt hat«.129 Seine Bücher sollten keine Musterbücher mehr sein. Das Muster der altitalienischen novella reizte um 1900 jedoch auch den Frühexpressionisten130 Georg Heym zur Varianz – dies verbindet ihn übrigens mit anderen Avantgardeautoren wie Lion Feuchtwanger (Der Karneval von Ferrara, 1908) oder Heinrich Mann (Pippo Spano, 1904). Georg Heyms zu Lebzeiten unveröffentlichtes Nebenwerk, gleichsam eine Fingerübung am alten Muster, hat den Titel Novella der Liebe und nimmt damit die ursprüngliche italienische Gattungsbezeichnung wie das ursprüngliche Grundthema der Novelle prototypisch und autopoeto125| Ebd., S. 28. 126| Ebd., S. 34. 127| Vgl. zum prägenden Einfluss der neuklassischen Novellenkonzeption Paul Ernsts auf eine ganze Novellistengeneration (»Josef Ponten, Rudolf G. Binding, […] Hans Franck […] Werner Bergengruen.«, S. 93): Sascha Kiefer: »Novellenbegriff und Zeitbezug. Bruno Franks Politische Novelle und Thomas Manns Mario und der Zauberer«, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9 (2004), S. 89–128, hier S. 89ff. 128| Polheim: Paul Ernst und die Novelle, S. 530. 129| Ebd., S. 538. 130| Siehe zur literaturhistorischen Einordnung der Novellen Heyms: Inge Jens: Die expressionistische Novelle. Studien zu ihrer Entwicklung. Tübingen 1997 [zugl. Diss. Univ. Tübingen 1953], S. 84ff.
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logisch auf. Schließlich muss schon nach Friedrich Schlegel die »Novelle […] durch und durch erotisch sein.«131 Eine der Inspirationsquellen Georg Heyms ist die eng an alten Dokumenten orientierte Chroniknovelle Die Cenci (1837) von Stendhal, über dessen ›Musterbücher‹ ja auch Paul Ernst zuerst die altitalienische Novellistik kennengelernt hatte. In der französischen Vorlage wird schon in der Einleitung großes Gewicht auf die Authentizität der Quellenübertragung aus dem 16. Jahrhundert gelegt:132 Heym hat sie wahrscheinlich schon 1907 gekannt. Die damals entstandene Novella der Liebe […], die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Bologna spielt, aber keinen historischen Stoff behandelt, weist eine starke formale und stilistische Ähnlichkeit zu Stendhals Novellen auf.133
In Heyms Text wird novellentypisch durch eine traditionelle Einleitung wie durch eine geradezu zeitungsmäßige zeitliche Fixierung ein starrer Handlungsrahmen gesetzt: In der Stadt Bologna lebte zur Zeit des letzten Bentivoglio, ehe der kriegerische Papst Julius II. della Rovere ihrer Selbstständigkeit ein Ende machte, ein Mädchen namens Serafina da Frenta, die durch ihre Schönheit in der ganzen Emilia berühmt war. 134
Im Gegensatz zur realitätsheischenden historischen Situierung rankt sich um jene Serafina, die Tochter des Gefängnisaufsehers, dann aber eine unerhörte, ja psychologisch bis ins Irreale extreme Liebesgeschichte. Klar und eindeutig datiert wie etwa auch die novella vom Dicken Tischler – näm-
131| Friedrich Schlegel: »Fragmente zur Literatur und Poesie [Notizheft 1797–1798]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 4. 132| Stendhals Erzähler schlüpft gleich zu Beginn in die Rolle des peniblen Chronisten: »Hier folgt nun die Übersetzung des zeitgenössischen Berichts; sie ist in römischem Italienisch verfasst und wurde am 14. September 1599 geschrieben: Wahrheitsgetreuer Bericht vom Tode des Giacomo und der Beatrice Cenci sowie ihrer Stiefmutter Lucrezia Petroni Cenci, die am vergangenen Sonnabend, dem 11. September, unter der Regierung unseres Heiligen Vaters, des Papstes Clemens VIII, Aldobrandini, für das Verbrechen des Verwandtenmordes hingerichtet werden.« (Stendhal: »Die Cenci«, in: ders: Novellen, Leipzig 1954, S. 158.) Auch in der Fiktion übernimmt Heym das enge Muster der Novelle als neuester Nachricht, fixiert und determiniert durch präzise Zeit-, Ortsund Personenangaben. 133| Bernd W. Seiler: Die historischen Dichtungen Georg Heyms. Analyse und Kommentar. München 1972, S. 246. 134| Georg Heym: »Die Novella der Liebe. Gewidmet der Schönen mit den schwarzen Locken und dem süßen Mund«, in: Ders.: Dichtungen und Schriften, Bd. II: Prosa und Dramen. Hg. v. Karl Ludwig Schneider. Osnabrück 1962, S. 100–105, hier S. 100. Auch »die Schöne«, der die Novella gewidmet ist, ist nur ein Topos.
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lich »im Sommer 1503«135 – sieht der junge Julio Lanza besagte schöne Serafina das erste Mal. Dies wird mit expressionistisch forcierten Bildern beschrieben, denn »wie ein das lachende Meer jäh verdunkelnder und aufwühlender Sturm war die Liebe in sein Herz gezogen«.136 Er folgt der Schönen und rettet sie vor Studenten, die sie belästigen wollten, indem er ihrem sie bewachenden Bruder, der sie ebenfalls verteidigen will, beispringt. Von nun an treffen sie sich die beiden heimlich »am Brunnen des Giovanni Fiammingo«.137 Julio schreibt für Serafina Gedichte und sucht – zur Tarnung – die Freundschaft des wachsamen Bruders seiner Geliebten. Während der Bruder verspricht, sich beim Vater für eine Ehe der Liebenden zu verwenden, muss Julio schwören, Serafina unberührt zu lassen. Er hält sein Wort nicht und indem er sie im biblischen Sinne ›erkennt‹, markiert Julio den Wendepunkt der Handlung. Unglücklich und schwanger sitzt Serafina bald im offenen »Kerker des armen Königs Enzio« und schreit »laut in die einsamen unterirdischen Gewölbe: ›Wie glücklich warst du, der du die Liebe nicht kanntest, Toter‹«.138 Alle novellentypischen Emotionen kehren sich von nun an in ihr Gegenteil: Sie gebar zur Nacht einen Knaben, erdrosselte ihn mit ihren Halsketten und warf die Leiche in den Brunnen des Fiammingo. Dann verließen sie ihre Kräfte und sie lag bis zum Morgen auf den Steinen der Piazza Nettuno in ihrem Blut. [….] Nach wenigen Stunden starb sie, ohne der Wohltat der letzten Ölung teilhaftig geworden zu sein. Und auf allen Gesichtern war Freude und Gelächter. Den Leichnam des Kindes hatten Studenten […] aus dem Wasser gezogen und an der Spitze des Brunnens aufgehängt, und dort hing die kleine Leiche zur Freude der Stadt […].139
Diese groteske Perversion der kodierten Emotionen, jene Freude am falschen Ort, ist hier gravierender als die Perversion der Gewalt. Diese steht durchaus mit der Novellentradition in Einklang, wie die Variante des grausamen Herzmaere im Dekameron (IV, 1) zeigt, in der ein Vater seiner Tochter das Herz ihres Liebsten in »eine[r] große[n] und schöne[n] goldene[n] Schale«140 servieren lässt. In besagter novella herrscht jedoch nicht Freude, sondern letzten Endes Scham über die Brutalität vor. In Heyms Novella wiederum will der Bruder der Serafina die Familienschande rächen und duelliert sich mit Julio in einer Kirche; dieser tötet ihn. Anschließend war Julio durch »die Entweihung des Heiligen vollends sinnlos geworden«. Er sprang »auf den Altar, zertrat die heiligen Hostienbehälter und zer-
135| Ebd. 136| Ebd. 137| Ebd., S. 102. Bei diesem Brunnen handelt es sich um eine touristische Sehenswürdigkeit Bolognas, die aber erst zwischen 1563 und 1566 errichtet wurde. 138| Ebd., S. 104. 139| Ebd., S. 104f. 140| Boccaccio: Dekameron, S. 222.
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schmetterte den Leib des Herren unter seinen Füssen«.141 Dem Extrem der grenzüberschreitenden Liebe entspricht das Extreme der normwidrignihilistischen Blasphemie. Der Vater der Toten verfolgt Julio nun mit anderen auf den Kirchturm. Sie werfen ihn hinunter: »Und im Fallen hörte in der Luft er das unbekannte und gewaltige Lied der großen – herzbezwingenden vernichtenden Liebe.«142 Das statisch-rhetorische Fabula docet, das das Titelthema der Liebe abschließend aufgreift, wird hier im freien Fall dynamisiert; die vernichtende Gewalt der übersteigerten Emotion sprengt das Bleibende. Die pathetische Kunst überwältigt im »Lied« das Leben. Heym bevorzugt – wie in seiner übrigen Novellistik – einen »euphorisierten Sprachstil« zwischen »Schrecken und Schöpfung«143 sowie »Extremtypen«,144 die für den Expressionismus kennzeichnend sind. Durch seine Ästhetik des Extremen verweigert sich der Text dem sinnstiftenden Nutzen im Sinne Boncianis, aber auch Paul Ernsts, ebenso wie den Paradigmen der Historiennovelle des Realismus. Und doch erfüllt die alte Form der novella ihren Sinn: Je starrer das Muster, der Rahmen, desto mehr Druck baut sich auf, um ihn expressiv zu sprengen. Im Grunde jedoch ist auch Georg Heyms Modifikation, ja Kontrafaktur des Musters145 der novella nichts anderes als ein Extremfall der grundlegenden und gattungstypischen Destruktion einer Erzählung durch die andere, die Tzvetan Todorov in seiner Grammatik des Dekamerons wie folgt umreißt: Tout récit porte en lui sa propre mort, il est son plus grand adversaire: la seule menace sérieuse pour le récit vient du récit. La même contradiction réapparaît au niveau de la nouvelle entière […]. L’existence d’une nouvelle ne se justifie que si elle contient un bouleversement de l’ancien système, que si elle a un caractère destructif. En même temps, par son existence même de texte écrit, la nouvelle apporte une nouvelle norme; tout en en détruisant une autre […]. 146
Der Wille zur (allzu) strengen Gattungsform muss scheitern, weil die Modifikation im gattungsspezifischen Wesen des Erzählens selbst liegt. Auf141| Heym: Novella der Liebe, S. 105. 142| Ebd. 143| Ingo Breuer: »Die Sprachgebärde des expressionistischen Genies. Über Georg Heyms Inszenierung der ›Revolution‹«, in: Isolde Schiffermüller (Hg.): Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne. Bozen 2001, S. 66–88, hier S. 74f. 144| Jens: Die expressionistische Novelle, S. 87. 145| Kontrafakturen, die weit über die ironische Parodie hinausgehen, sind gerade in der expressionistischen Novellistik häufig vertreten. So ist Alfred Döblins Linie BerlinBukarest (1917) ein Gegenstück zur realistischen Eisenbahn- und Reisenovelle (z.B. Die Reisegefährten von Marie von Ebner-Eschenbach). 146| Tzvetan Todorov: »Grammaire du ›Décaméron‹. Études de séquences«, in: Wolfgang Eitel (Hg.): Die romanische Novelle. Darmstadt 1977, S. 78–110, hier S. 110.
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grund ihres Innovationspotentials (realiter wegen ihrer Produzenten) wird die Novelle, auch als novella, nie einem dem Sonett vergleichbaren Muster gehorchen. Neue Novellen lösen stets alte ab, sprengen hergebrachte Modelle. Dies geschieht freilich, ohne die Vorläufer ganz zu ignorieren – und sei es unter einem Blickwinkel ex negativo. Die expressionistische Destruktion unterscheidet sich von der allgemeinen gattungsspezifischen allein durch die forcierte Expressivität, die ihr durch ihr poetologisches Programm innewohnt.
L ITER ATUR Apuleius: Der goldene Esel. Aus dem Lateinischen von August Rode. Frankfur/Main 1975. Auerbach, Erich: Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Zweite, durchgesehene Ausgabe. Heidelberg 1971. Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. Mit einem Nachwort von Bernhard König. Frankfurt/Main 1961. Bonciani, Francesco: »Lezione sopra il Comporre delle Novelle« [1574], in: Bernard Weinberg (Hg.), Trattati di Poetica e Retorica del Cinquecento. Volume Terzo. Bari 1972, S. 137–173. Bonciani, Francesco: Die Composition der Novelle. Übers. von Paul Ernst. Paul-Ernst-Archiv der Universitätsbibliothek Regensburg (Signatur: 250/AM 95801 M 2–2,10/4). Breuer, Ingo: »Die Sprachgebärde des expressionistischen Genies. Über Georg Heyms Inszenierung der ›Revolution‹«, in: Isolde Schiffermüller (Hg.): Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne. Bozen 2001, S. 66–88. Drux, Rudolf: Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem. Bonn 1976. Ernst, Paul: Altitaliänische Novellen. Ausgewählt und übertragen von Paul Ernst. 2. Aufl. Leipzig 1907. – »Altitaliänische Novellen. Aus einer Selbstanzeige (1902)«, in: Ders.: Völker und Zeiten im Spiegel ihrer Dichtung. Aufsätze zur Weltliteratur. Hg. v. Karl August Kutzbach. München 1940, S. 268f. – Lumpenbagasch. Lustspiel in einem Aufzug, in: Ders.: Dramen I. München 1932, S. 7–30. Feuchtersleben, Ernst Freiherr von: »Die Novelle. Didaskalie« [1841], in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 106–112. Gottschall, Rudolf: »Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit [1858]«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 125f. Hebbel, Friedrich: »Vorwort, Hamburg Ostern 1841«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Tübingen 1970, S. 96–99.
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III. Medientheoretische Perspektiven
Casino Royale Genre-Fragen und James-Bond-Filme Claudia Liebrand Als 2006 Casino Royale1 in die Kinos kam, überschlug sich die Kritik vor Begeisterung. Gedreht worden sei ein Bond, der aus den diversen Sackgassen herausführe, in die sich die film series hineinmanövriert habe. Die James-Bond-Reihe sei aus ihrer Selbstpetrifikation, aus ihrem Gefangensein in den immer gleichen Inszenierungen von Gimmicks, Gadgets, Bond-Girls und ironisch-elegantem male chauvinism durch einen kleinen Geniestreich befreit worden, genauer: einem kombinierten Geniestreich 1| Casino Royale (GB/USA/D/Tschechien 2006); Regie: Martin Campbell; Produktion: Barbara Broccoli und Michael G. Wilson; Drehbuch: Neal Purvis, Robert Wade und Paul Haggis, nach dem gleichnamigen Roman von Ian Fleming; Darsteller: Daniel Craig, Eva Green, Judi Dench, Jeffrey Wright, Giancarlo Giannini, Mads Mikkelsen, Caterina Murino; Kamera: Phil Meheux; Schnitt: Stuart Baird; Musik: David Arnold; Kostüme: Lindy Hemming; Studio: MGM. Als weitere Aufsätze und Rezensionen zu Casino Royale seien aufgeführt: James Berardinelli: Rez.: Casino Royale, in: reelviews, online unter: http://www.reelviews.net/ movies/c/casino_royale2006.html; Jeffrey Bunzendahl/Robert von Dassanowsky: You Know My Name: On Beginnings and Replications in the New Bond, in: Senses of Cinema, online unter: http://archive.sensesofcinema.com/contents/08/47/james-bond. html; Walter Chaw: Rez.: Casino Royale, in: filmfreakcentral, onöine unter: http://www. filmfreakcentral.net/dvdreviews/casinoroyale.htm; Roger Ebert: Rez.: Casino Royale (17.08.07), in: Chicago Sun-Times, online unter: http://rogerebert.suntimes.com/ apps/pbcs.dll/article?AID=/20070816/REVIEWS/708160301/1023; Fritz Güttler: Rez.: Casino Royale, in: filmzentrale, online unter: http://www.filmzentrale.com/rezis/ casinoroyale06fg.htm; Keith Uhlich: Rez.: Casino Royale (15.11.2006), in: slant, online unter: http://www.slantmagazine.com/film/film_review.asp?ID=265; Stephanie Zacharek: Rez.: Casino Royale (17.11.2006), in: Salon, online unter: http://www.salon. com/ent/movies/review/2006/11/17/casino. Großen Dank habe ich Gereon Blaseio und Peter Scheinpflug abzustatten. Ohne sie als Pfadfinder im Universum der Bond-series hätte dieser Aufsatz nicht geschrieben werden können.
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bestehend aus dem Casting Daniel Craigs als neuem 0072 und der Entscheidung, einen Beginn der series zu konstruieren.3 Eine der Taglines für Casino Royale lautet: »Everyone has a past. Every legend has a beginning. On November 17th, discover how James… became Bond.« Der Verfilmung zugrunde liegt der erste, gleichnamige Bond-Roman Ian Flemings aus dem Jahr 1953. In Bezug auf die Filmreihe handelt es sich bei Martin Campbells Casino Royale um ein Prequel, ein in der zeitgenössischen Kinolandschaft populäres Phänomen. Während Sequels Fortsetzungsfilme sind, die die Handlung eines Films wieder aufnehmen, nehmen Prequels den narrativen Faden vor dem zeitlichen Rahmen des Bezugsfilms, in diesem Fall der Bezugsfilmreihe auf, erzählen eine, erzählen die Vorgeschichte: »discover how James… became Bond«. Rezente Beispiele dafür sind etwa Batman Begins (2005)4 oder Star Trek (2009).5 In den Blick genommen wird im Folgenden die Frage, wie Martin Campbells Prequel mit den Genre-Vorgaben der James-Bond-Filme6 um2| Daniel Craig ist der sechste ›offizielle‹ Bond-Darsteller (nach Sean Connery, George Lazenby, Roger Moore, Timothy Dalton und Pierce Brosnan). Jede Umbesetzung der Reihe bedeutet immer auch ihren ›Restart‹, der mit Konventionen bricht, neue Muster einführt. Das Moment des Restarts findet sich bei Casino Royale deshalb potenziert, weil der Film zugleich als Prequel angelegt ist. Martin Campbell, der Regisseur dieses Prequels, war auch für den letzten Neubeginn, den letzten Restart der Reihe, GoldenEye (GB/USA 1995) mit Pierce Brosnan, verantwortlich. Auch dieses »Rebooting« der BondSerie gestaltete sich als schwieriges Unterfangen, ist GoldenEye doch der erste BondFilm nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, nach Ende des Kalten Krieges, der bis dahin die politische und die Handlungsmatrix für alle Bond-Filme darstellte. (Noch in Casino Royale ist eine gewisse Melancholie über das Ende des Kalten Krieges spürbar, etwa wenn M über Kritik an ihrem Geheimdienst beklagt: »Who the hell do they think they are? I report to the Prime Minister and even he’s smart enough not to ask me what we do. Have you ever seen such a bunch of self-righteous, ass-covering prigs? They don’t care what we do; they care what we get photographed doing. And how the hell could Bond be so stupid? I give him double-0 status and he celebrates by shooting up an embassy. Is the man deranged? And where the hell is he? In the old days if an agent did something that embarrassing he’d have a good sense to defect. Christ, I miss the Cold War.«). 3| Ein solcher eigentlicher ›Beginn‹ der series lag bis dahin nicht vor. Der erste offizielle Bond-Film Dr. No (GB 1962, R: Terence Young) präsentiert sich als ein Sprung ins kalte Wasser mit allen fertigen Figuren – dies entspricht der Inszenierung von Fernsehserien in dieser Zeit, in deren Pilotfilmen bereits alle Serienelemente als gegeben ausgestellt werden (statt eine spezifische Einführung der Figuren und der Serienkonstellation zu präsentieren, wie es heute üblich wäre). 4| Batman Begins, USA 2005, R: Christopher Nolan. 5| Star Trek, USA 2009, R: J. J. Abrams. Genannt werden muss auch Star Wars: Episode I – The Phantom Menace (USA 1999, R: George Lucas) aus der Star Wars-Reihe. 6| Als weitere Monographien und Sammelbände zur Bond-series seien aufgeführt: Jeremy Black: The Politics of James Bond. Westport 2001; James Chapman: Licence
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geht, welche Genre-Verhandlungen es inszeniert. Zunächst aber seien einige Bemerkungen zum Konzept Genre-Film und zur Figur des Prequels angestellt. Genre-Filme, »genre movies«, schreibt Barry Keith Grant, are those commercial feature films which, through repetition and variation, tell familiar stories with familiar characters in familiar situations. […] They have been exceptionally significant […] in establishing the popular sense of cinema as a cultural and economic institution, particularly in the United States, where Hollywood studios early on adopted an industrial model based on mass production.7
Mit dieser Beschreibung von Genre im Film greift Grant auf Kategorien zurück, die man auch im Kontext literarischer Genre-Kritik findet, etwa bei John A. Sutherland: »Genre incorporates a high ration of familiar to strange elements. If, as Ezra Pound says, the modernist’s motto is ›make it new‹, then the genre author’s motto is ›make it the same‹.«8 Was hier in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft bei Sutherland mit Genre bezeichnet wird, führte in neugermanistischer Terminologie zu einem Begriffsproblem: Wäre doch die Entscheidung zu treffen, ob von Genre oder von Gattung zu sprechen ist. Diese Unterscheidung zwischen Genre und Gattung lässt sich schwer trennscharf vornehmen, ersteres bezeichne – so eine von vielen Differenzierungen – eher ›niedere‹ Gattungen (die Gothic Novel, den Kriminalroman), letztere eher ›höhere‹ (das Versepos, das Trauerspiel), weniger kommerziell ausgerichtete und mehr Reputation genießende. Andere Vorschläge, beide Begriffe zu differenzieren, sind u.a. von Harald Fricke (Fricke plädiert für einen systematischen Ordnungsbegriff, Gattung, den er der historisch begrenzten literarischen Institution Genre entgegensetzt)9 oder auch vom Medienwissenschaftler Knut Hickethier (Hickethier unterscheidet zwischen inhaltlicher Struktur, Genre, und darstellerischem Modus, Gattung)10 gemacht worden. Im to Thrill: A Cultural History of the James Bond Films. London, New York 2007; Oresto del Buono u. Umberto Eco (Hg.): Der Fall James Bond. 007 – ein Phänomen unserer Zeit. München 1966; Christoph Lindner (Hg.): The James Bond Phenomenon: A Critical Reader. Manchester 2003; James B. South u. Jacob M. Held (Hg.): James Bond and Philosophy. Questions Are Forever. Illinois 1996; Andreas Rauscher u.a. (Hg.): Mythos 007: Die James-Bond-Filme im Fokus der Popkultur. Mainz 2007; Glenn Yeffeth (Hg.): James Bond in the 21st Century. Why We Still Need 007. Dallas/Tx 2006. 7| Barry Keith Grant: »Introduction«, in: Ders. (Hg.): Film Genre Reader II. Austin 1995, S. xv-xx, hier S. xv. 8| John A. Sutherland: Fiction and the Fiction Industry. London 1978, S. 192–194. 9| Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. 10| Für Hickethier sind Genres durch ein Storyschema (Krimi, Bildungsroman etc.) bestimmt. Gattungen dagegen würden in medienwissenschaftlicher Perspektive, wie Knut Hickethier sie modelliert, »nicht durch eine inhaltliche Struktur, sondern durch den
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Folgenden werden ›Gattung‹ und Genre‹ nicht gegeneinander geführt, sondern eher synonym gebraucht – mit allerdings leichten Bedeutungsnuancen. Zielt doch die Beschäftigung mit Gattungen eher auf deren Poetiken, mithin auf normative Setzungen, während die Auseinandersetzung mit Genres meist deskriptiver angelegt ist, ohne deshalb allerdings theoriefern sein zu müssen. Gattungen gehen also mit einem größeren Voraussetzungsapparat einher, sie rekurrieren auf kanonische Regelpoetiken.11 Die Auseinandersetzung mit Genres – auch mit Filmgenres –, die auf solche Regelpoetiken nicht rekurrieren kann, muss dagegen den je einzelnen Text, den je einzelnen Film, in seiner Historizität und Hybridität in den Blick nehmen, in seinem Vernetzt-Sein mit anderen Genre-Filmen, in seinen Genre-Verhandlungsfiguren. Aus dem Verzicht auf den Rückgriff auf Regelpoetiken, aus der Unmöglichkeit, auf Regelpoetiken zurückzugreifen, resultiert im besten Falle ein überzeugend idiographischer Zugriff auf den je einzelnen Genre-Film und seine auf andere Filme bezogenen Verhandlungsfiguren. In der anglo-amerikanischen Filmwissenschaft hat die genre theory in den späten 1960er Jahren den Platz der auteur theory übernommen. Orientierte sich letztere in ihrer Ausrichtung auf den auteur, den Regisseur, den Filmemacher als genialem Schöpfer des filmischen Kunstwerks an literaturwissenschaftlichen Kriterien und Modellierungen (die ausgerichtet waren an Konzepten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom Originalgenie und dem Dichter als Alter Deus), versuchte die genre theory, an die Stelle des auteurs den Genre-Begriff zu setzen. Die zeitgenössische filmwissenschaftliche Genre-Theorie, die im Folgenden modelliert wird, darstellerischen Modus (z.B. Spiel-, Dokumentarfilm) und durch die Verwendung (z.B. Werbe-, Lehr-, Experimentalfilme) [definiert]. Der filmische Genrebegriff lehnt sich in seiner Differenz zum Gattungsbegriff an analoge Begriffsverwendungen in der Literatur, im Theater und in anderen kulturellen Medien an […]. Der Unterschied zwischen ›Genre‹ und ›Gattung‹ läßt sich leicht an einem Beispiel veranschaulichen: Das Krimigenre wird durch das Vorhandensein wesentlicher Handlungskonstellationen (Verbrechen und Aufklärung des Verbrechens) definiert. Dieses Genre kann in unterschiedlichen Filmgattungen (Spielfilm-, Animationsfilm) vertreten sein. Es durchdringt darüber hinaus auch Gattungsformen in anderen Medien; der Krimi ist als Genre z.B. im Roman und in der Erzählung, im Hörspiel und Fernsehspiel, im Drama und als Bühnenaufführung vertreten.« (Knut Hickethier: »Genretheorie und Genreanalyse«, in: Jürgen Felix [Hg.]: Moderne Film Theorie. 2. Aufl. Mainz 2003, S. 62–96, hier S. 63). In der Literaturwissenschaft ist Hickethiers Kategorisierungsversuch, auch wegen seiner etwas rüden InhaltForm-Ent gegensetzung nicht besonders populär. 11| Genres dagegen werden allenfalls auf Merkmallisten bezogen. In diesen »Listen« werden konstitutive, immer aber historisch variable Elemente, die das Genre definieren sollen, zu fixieren versucht (ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, weil die Elemente in einem stetigen proteischen Veränderungsprozess befindlich sind – und sich auch deshalb der Festsetzung entziehen).
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geht von der konstitutiven Historizität und von der konstitutiven Hybridität von Genres aus, begreift Genres als Prozesse, für die ständige Entwicklung und Veränderung konstitutiv sind. So komplex Genre-Fragen verfasst sind, so komplex stellen sich series, Sequels und Prequels dar. Film- und Fernsehwissenschaft unterscheiden in der Regel zwischen Serien und Sequels (und grenzen überdies Serials davon ab). Während Sequels, davon war die Rede, als Fortsetzungsfilme definiert werden, die die Handlung eines Films wieder aufnehmen, basieren Film-Serien, zu denen die James-Bond-Filme gehören, »auf dem Thema oder den Figuren eines früheren Films, weisen aber zumeist keine narrative Kontinuität jenseits dieser Faktoren auf«.12 James-Bond-Filme wären dieser Kategorisierung nach als series in den Blick zu nehmen, nicht als Sequels. Allerdings sind die Grenzen zwischen Sequels und Serien fließend – und zumindest Quantum of Solace,13 der Nachfolgefilm zu Casino Royale, erfüllt auch die klassischen Kriterien eines Sequels, beginnt da, wo der Vorgängerfilm aufhört. Als Prequel der Bond-Reihe – genauer: zu jeder einzelnen Produktion in dieser Bond-Reihe – lässt sich Casino Royale in den Blick nehmen, weil Martin Campbells Film die Geschichte erzählt (und am Endpunkt dieser Geschichte setzen die Filme der Bond-Reihe allesamt an), wie James Bond seinen Doppelnullstatuts (›the licence to kill‹) erhält, warum er einen Aston Martin fährt, elegante Dinnerjackets trägt, wie er zu seinem Lieblingsdrink kommt (›Martini shaken, not stirred‹) und wieso er, statt mit einer Frau glücklich zu werden, Film für Film immer neue Bond-Girls ›vernascht‹. Die Geschichte, die Casino Royale erzählt – auf dieses Zeitparadoxon ist hinzuweisen –, ist nach 9/11 situiert, während die Bond-Filme der 1960er bis 80er Jahre, als deren Prequel sich Casino Royale verstehen lässt, in einer Welt spielen, die noch durch den Eisernen Vorhang getrennt ist. Was diesen logisch herausfordernden Umgang mit der Zeit angeht, unterscheidet sich das Prequel Casino Royale von den Prequels etwa zu Batman,14 Star Wars15 oder Star Trek.16 Nun sind Prequels in verschiedener Hinsicht ein bemerkenswertes Phänomen.17 Das Prequel, das nach dem Bezugsfilm gedreht wird, geht ihm gleichzeitig zeitlich voraus (»die lineare Zeitdimension [wird also] als zirkulär und dialogisch rekonzeptualisiert«,18 umzugehen ist mit der Paradoxie der nachgeholten Vorgeschichte in der Jetztzeit). Das Prequel 12| Katrin Oltmann: Remake | Premake. Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930–1960. Bielefeld 2008, S. 24. 13| Quantum of Solace, USA/GB 2008, R: Marc Forster. 14| Batman, USA 1989, R: Tim Burton. 15| Star Wars, USA 1977, R: George Lucas. 16| Star Trek: The Motion Picture, USA 1979, R: Robert Wise. 17| Ich orientiere mich bei meinen Ausführungen zum Prequel vor allem an Überlegungen Katrin Oltmanns zur Konfiguration Premake-Remake, die sich zum Teil auf PrequelSequel-Konfigurationen abbilden lassen. 18| Oltmann: Premake, S. 32.
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ist auf den Bezugsfilm, seinen Prätext bezogen – und dieser Prätext ist nicht allein als Text zu verstehen, der dem anderen Text – in beiden Fällen haben wir es mit filmischen Texten zu tun – als Vorlage dient, sondern »auch in seiner englischen Bedeutung als pretext, als ›Vorwand‹, die im früheren Text verhandelten Topoi und Thematiken einer Relektüre zu unterziehen«,19 sie neu zu konfigurieren und zu positionieren. Das Prequel erfordert einen doppelten Lektüreprozess; in den Blick zu nehmen ist einerseits, wie das Prequel auf seinen Bezugsfilm referiert, wie es Vorgaben aufgreift und transponiert, andererseits hat das Prequel auch Rückwirkungen auf den Bezugsfilm, die Bezugsfilme, erfordert deren Relektüre. Diese zirkuläre Austauschbewegung zwischen Prequel und Bezugsfilm lässt sich als »Rückkopplung (feedback) beschreiben, als ›Beeinflussung eines Geschehens durch die Rückwirkung der Folgen auf seinen weiteren Verlauf‹«.20 Zu konzipieren ist diese Rückkopplung auch als konstitutive Nachträglichkeit (der »Konstruktion und Definition eines zeitlich früheren Ereignisses durch ein zeitlich späteres«21). Das Prequel Casino Royale transponiert Themen und Topoi der Bond-Reihe – eine Transposition, die ihrerseits Rückwirkungen auf die Bond-series hat und deren Relektüre erfordert. Zwei Beispiele seien angeführt: Der charmante Playboy und formvollendete Gentleman der Bond-series erscheint mit den Vorgaben von Casino Royale gelesen als traumatisiert. Er will sich nicht nur nicht binden, er kann es aufgrund seiner seelischen Versehrung schlicht nicht, hat er doch seine große Liebe, Vesper Lynd,22 auf zweifache Weise verloren: durch Betrug und Tod. Der strahlende womanizer entpuppt sich als verwirrter psycho. Auf den ersten Blick liegt es nahe, in der Terminologie filmischer Dramaturgie, wie sie Michaela Krützen etwa aus den Drehbuchratgebern Syd Fields – Handreichungen zum Verfassen erfolgreicher Filmskripte – destilliert hat, davon zu sprechen, dass Bond in Casino Royale mit einer backstory wound ausgestattet wird. Diese, so erläutert Michaela Krützen am Beispiel von The Silence of the Lambs,23 ziele nicht auf die Entfaltung einer komplexen Psychologie des Helden, sondern erfülle die narrative Funktion, das Verhalten eines filmischen Protagonisten verständlicher zu machen, mit einer Motivation zu versehen.24 Vor allem Hollywoodfilme seit den 1980er Jahren operieren mit dieser Drehbuch-Finesse. Casino Royale schließt zweifellos an die Konfiguration backstory wound an, wie sie in Drehbuchratgebern entfaltet wird. Allerdings ist die Ge19| Ebd. 20| Ebd., S. 28. 21| Ebd. 22| Bevor Bond auf seine ›große Liebe‹ trifft, agiert er – wie wir es aus den Bond-Filmen kennen: In der Karibik präsentiert er sich als Ladykiller. Wir haben es im ersten Teil des Films mit dem typischen Bond-Girl-Plot zu tun. 23| The Silence of the Lambs, USA 1991, R: Jonathan Demme. 24| Vgl. Michaela Krützen: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt/ Main 2006, S. 25–62.
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schichte von der psychischen Wunde, die Bond zugefügt wird, nicht ›hinter‹ der Story des Films angesiedelt. In Casino Royale (wie auch in allen anderen Prequels, das ist sowohl ihr Prinzip als auch ihre Vermarktungsidee) wird die Backstory ausgeschrieben, die Backstory wird zur Story, das Field’sche Drehbuchkonzept wird rekonfiguriert. Und das Prequel Casino Royale stattet den Protagonisten nicht nur mit der einen seelischen Verletzung aus, versieht ihn mit dem Liebeskummer, an dessen Folgen er die series hindurch leiden wird, dazu verteufelt, als rastloser Schürzenjäger durch die Welt zu ziehen. Bond wird einer weiteren Traumatisierung ausgesetzt. Die intensivste, am schwersten zu ertragende, die aufgeladenste Szene von Casino Royale ist eine Folterszene, in der der – an Frauen gänzlich desinteressierte – Bösewicht Le Chiffre die Genitalien des nackten, schwitzenden Bond mit einem geknoteten Seil malträtiert: LE CHIFFRE [nachdem er Bond mit einem geknoteten Seil geschlagen hat]: You know, I never understood all these elaborate tortures. It’s the simplest thing… to cause more pain than a man can possibly endure. [Er schlägt Bond noch einmal, diesmal härter.] And of course, it’s not only the immediate agony, but the knowledge… that if you do not yield soon enough… there will be little left to identify you as a man. [Er zieht einen Stuhl zu sich, setzt sich neben Bond und schlägt ihm ins Gesicht.] The only question remains: will you yield, in time? BOND [fleht seinen Peiniger nicht an, aufzuhören, sondern fordert ihn auf, weiterzumachen]: I got a little itch…down there. Would you mind? […] Now the whole world’s gonna know that you died scratching my balls.
Das energetische Zentrum, die emotional dichteste Szene in Casino Royale ist also ein intimes, hoch sexuell aufgeladenes, sadomasochistisches Têteà-Tête zwischen zwei Männern. Die Szene lässt sich in unterschiedlichste Kontexte einordnen, auf verschiedene Weisen lesen, etwa als populärkulturelle Negotiation der Folterfotografien und -videos aus Abu-Ghraib, sie verhandelt aber auch Gender-Konfigurationen, indem sie den heterosexuellen Posterboy in eine homosexuell lesbare Positionierung rückt. Der Kamera wird erlaubt – damit übernimmt Casino Royale Konventionen der Darstellung männlicher Körper, die aus anderen Genres, etwa dem Western oder dem Actionfilm bekannt sind – die männliche Physis zu fokussieren, wenn es sich um Kampf-, Duell- oder Folterszenen handelt. Diese strukturelle Verknüpfung mit dem Moment der Gewalt erlaubt einerseits eine diegetische Motivierung des Blickes auf den männlichen Körper, andererseits bieten Kampf- oder Folterszenen die Möglichkeit der Bestrafung des sich präsentierenden Mannes, seines Gegners und – je nach Härtegrad der physischen Auseinandersetzung – sogar des Zuschauers. Das Prequel Casino Royale stellt der Bond-Reihe also eine Lektüreanweisung voran, die Bonds Auseinandersetzung mit seinen Widersachern nicht nur homosozial, sondern homosexuell markiert. In der Perspektive der – beispielhaft ein homosexuelles Blickdispositiv etablierenden –
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Abb. 1: Le Chiffres Phallus
Abb. 2: Tête-à-tête
Abb. 3: Extraheterosexual affair
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Folterszene von Casino Royale werden die Folterszenen oder finalen Kämpfe zwischen Bond und seinen Gegnern (erwähnt sei etwa die bekannte Laserszene in Goldfinger) als extraheterosexual affairs lesbar. Das Prequel transponiert den womanizer der Bond-series also nicht nur in einen psycho, sondern stellt ihn auch in eine homosexuelle Konfiguration, in eine homosexuelle Begehrensordnung – nicht nur in der Folterszene,25 sondern auch in den beiden Szenen, in denen Bond als männliche Ursula Andress (das Bond-Girl, das in Dr. No26 im Jahr 1962 im Bikini dem Meer entstieg) figuriert. In dieser Perspektive wäre der sich so lärmend heterosexuell und ›donjuanesk‹ gebende Plot der Bond-series ein DeckPlot, ein Schirm, der verbirgt, dass das, worum es eigentlich geht, agonal strukturierte Beziehungen zwischen Männern sind, die sich wechselseitig ihre Spielzeuge präsentieren, rassige Sportwagen, attraktive Geliebte und kleine oder große Phalloi in Gestalt von Waffen – seien es Qs Gadgets oder die Atomraketen der Bösewichter. Abb. 4: Der Schaumgeborene
Casino Royale destabilisiert aber nicht nur in Jahrzehnten eingeübte Lektüren der Bond-Reihe als Hommage an einen Ladykiller, der Film erzählt auch eine Geschichte über das Genre ›Agentenfilm‹, als dessen Musterbeispiel die Bond-Reihe gilt. Agentenfilme finden sich seit den 1950er 25| Umberto Eco schreibt, dass die Folter im Roman Casino Royale als erotische Beziehung »explizit erläutert« werde (vgl. Umberto Eco: »Die erzählerischen Strukturen in Flemings Werk«, in: Ders. u. Oresto del Buono (Hg.): Der Fall James Bond. 007 – ein Phänomen unserer Zeit. München 1966, S. 68–119, hier S. 85). Diese Figurenrede ist zumindest teilweise im Film bewahrt. Nach Eco konstituiert das Ende von Casino Royale die Bond-Filme als der »formalistischen« statt der »psychologischen Methode« gehorchend. Casino Royale gebe die Grundstruktur aller weiteren Romane vor. Dieses Grundmuster werde in den folgenden Bond-Romanen aufgefüllt durch high- und low-cultureVersatzstücke aus anderen literarischen Quellen (vgl. S. 71). Der Held Bond sei schon in Casino Royale modelliert nach Mike-Hammer-Vorgaben, präsentiere sich parodistisch gebrochen als zynischer und sadistischer Antiheld der hard-boiled fiction (vgl. S. 68). 26| Dr. No, GB 1962, R: Terence Young.
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Jahren, verwiesen sei etwa auf Henry Hathaways Diplomatic Courier27 aus dem Jahr 1952 oder Alfred Hitchcocks North by Northwest28 aus dem Jahr 1959. Was die Bondfilme von diesen – Action und Spionage verbindenden – Agentenfilmen unterscheidet, ist zum einen die Anlage als series (der Geheimagent wird zur Serienfigur), zum anderen der Aspekt des travelogue, des Reisefilms. Überdies setzt die Bond-series sehr viel deutlicher als vorherige Agentenfilme auf cinema as spectacle. Das Prequel zur Bond-Serie inszeniert nun die Genese, die Geburt des Agentenfilms aus dem male melo – das ist der metareflexive Kommentar, den Casino Royale liefert; es handelt sich hier also um ein Prequel, das eine Genre-Gründungsgeschichte erzählt. Das Melodrama, mit seiner Inklination zu gesteigerter Emotionalität, den Strukturen des Zu-Viel und des Zu-Spät, ist in der filmwissenschaftlichen Debatte meist als Weepie, als Woman’s Film konzeptualisiert worden, als »movie that places at the center of its universe a female who is trying to deal with emotional, social, and psychological problems that are specially connected to the fact that she is a woman«.29 Ben Singer30 und Steve Neale haben aber in den letzten Jahren überzeugend herausgearbeitet, dass das, was die Filmwissenschaft als Melodrama – nach Linda Williams »the original american style of narrating« – verhandelt, sich nicht mit dem deckt, was die Filmindustrie und die Filmpromotion bis in die 1950er Jahre unter die GenreRubrik Melodrama fasste: Action-orientierte Filme, zum Beispiel Thriller. Neale konstatiert: »the film industry and most contemporary reviewers tended to equate melodrama with the genres of action rather than passion, probably because they contain more of melodrama’s traditional – and ›popular‹ – ingredients«.31 Im Vorgriff auf Singer und Neale schlug Walker bereits 1982 vor, zwischen ›männlich semantisierten‹ Action-Melodramas (Swashbucklers, War Stories, Western, Crime Thrillers, Adventure Stories) und eher weiblich semantisierten »Melodramas of passion, in which the concern is not with the external dynamic of action but with the internal traumas of passion«32 zu unterscheiden. Casino Royale nun blendet action und passion übereinander – um beides als ›männlich‹ zu semantisieren. Im letzten Drittel des Films, das in Venedig spielt (ein Beispiel sei her27| Diplomatic Courier, USA 1952, R: Henry Hathaway. 28| North by Northwest, USA 1959, R: Alfred Hitchcock. 29| Jeanine Basinger: A Woman’s View. How Hollywood Spoke to Women 1930–1960. London 1993, S. 20. Basinger weist auf das Problem hin, das sich ergibt, wenn man Melodrama und Woman’s Film gleichsetzt: »[it would] eliminate more than half of the films that are concerned with women and their fates, among them Rosalind Russell’s career comedies, musical biographies of real-life women, combat films featuring brave nurses on Bataan, and western in which women drive cattle west and men over the brink« (S. 7). 30| Vgl. dazu: Ben Singer: »Female Power in the Serial-Queen Melodrama: The Etiology of an Anomaly«, in: Camera Obscura 22 (Januar 1990), S. 90–129. 31| Steve Neale: Genre and Hollywood. London, New York 2002, S. 202. 32| Zitiert nach ebd.
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ausgegriffen), versucht Bond seine Geliebte Vesper aus einem Fahrstuhl, der im Wasser versinkt, zu retten. Er springt in die Fluten, taucht mehrere Minuten, ihm gelingt das schier Übermenschliche, den Käfig aufzubrechen und – die allerdings bereits ertrunkene – Vesper an die Oberfläche zu bringen. Die Sequenz birst also vor action, der Protagonist, der sich so heldenhaft geriert, ist aber, als solcher präsentiert er sich ja bereits in der Folterszene, ein weinender und schreiender, ein leidender Held par excellence. Und es ist ein Held, der immer wieder in Rollenmodi, wie sie Verhaltenslehren der Kälte33 vorgeben, schalten kann. In der letzten Episode des Films, Bond hat einen der Drahtzieher im Hintergrund, Mr. White, ausfindig gemacht, lauert er ihm auf, schießt ihm ins Knie – und entgegnet auf Whites Frage, wer er denn sei: »The name is Bond. James Bond«. Während er das sagt, wird extradiegetisch die Bond-Melodie, das Bond-Thema eingespielt. Damit ist die Formel, die akustische Visitenkarte gefunden, so die Suggestion des Prequels, mit der der Geheimagent sich künftigen Widersachern, künftigen Geliebten – und immer wieder den Kinogängern präsentieren wird. Das Kind hat seinen Namen, der Agent ist geboren, am Ende von Casino Royale haben wir, um noch einmal die Tagline zu bemühen, »discover[ed] how James… became Bond«.34 Casino Royale erzählt aber nicht nur die Genre-Gründungsgeschichte von der Geburt des Agentenfilms aus dem male melo. Dem Vorspann35 vorangestellt36 ist – die Vorspanne der Bond-Folgen orientieren sich, auch nach 1991, dem Todesjahr des Vorspann- und Trailerdesigners Maurice Binder, an dessen Handschrift (er kreierte auch das berühmte Logo des Pistolenlaufs, der Bond auf der Leinwand verfolgt, bevor sich Bond umdreht,
33| Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/Main 1994. 34| Entdeckt hat der Zuschauer aber nicht nur, »how James … became Bond«. Aufgespannt wird auch die Matrix, in der sich Bond in jedem weiteren Film bewegen wird. In Casino Royale kann die ›Klärung‹ des Falles nicht zu Ende geführt werden. Die Aufgabe, den Bösewicht zu finden und dingfest zu machen, ist also eine, an der sich alle weiteren Filme der series erfolgreich abarbeiten können. 35| Zum Bond-Vorspann vgl. Sabine Planka: Der Vorspann stirbt nie: Der James BondFilm und seine Eröffnungssequenzen. Berlin 2009. 36| An den Vorspann angeschlossen ist eine längere Stuntsequenz, mit der Casino Royale auf das Muster der Bond-Filme seit From Russia with Love (GB 1963, R: Terence Young) rekurriert, die Bond-Produktionen mit einer Actionsequenz, einer Verfolgungsjagd beginnen zu lassen. Die anfängliche Stuntsequenz verweist überdies auf die jüngere ›Freizeitsportmode‹ des Parkour, die auf virtuose Weise die Stadt zum Hindernisparcours macht. Zur Popularisierung – inzwischen liegen auch Computerspiele vor – haben Action-Filme wie Banlieue 13 (F 2004, R: Pierre Morel) oder jüngst Punisher: War Zone (USA/D/Kanada 2008, R: Lexi Alexander) beigetragen.
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um zu schießen) – eine in schwarz-weiß gedrehte Episode, die die beiden Morde zeigt, mit denen Bond sich seinen Doppelnull-Status ›verdient‹.37 Abb. 5: Melodrama of passion meets melodrama of action
Abb. 6: »The name is Bond. James Bond.«
Abb. 7: Durch die Mitte
37| Allerdings orientiert sich der Vorspann von Casino Royale nicht ganz so deutlich an der Binder-Handschrift wie die Vorspanne der anderen Bond-Filme nach 1991.
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Präsentiert wird eine nächtliche Szenerie. Eine Einblendung informiert uns, dass Ort des Geschehens Prag ist. Der britische Sektionschef, ein Doppelagent, betritt sein Büro und wird nach einem Wortwechsel von Bond erschossen. Stilistisch ruft diese Sequenz den Film noir auf, visuell gearbeitet wird mit einer stark kontrastiven Ausleuchtung, dem Wechsel von Licht und Schatten (chiaroscuro), mit low-key-lighting, einer Mise en Scène, die den filmischen Raum durch die Licht- und Schatteneffekte gewissermaßen zerschneidet und Schrägsichten, niedrige Kameraperspektiven und Weitwinkel präferiert. Beim Film noir (zu situieren in den 1940er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, zeitgenössisch wurden Film-noir-Filme als Melodramen vermarktet) handelt es sich um nicht nur optisch dunkle, sondern auch metaphorisch düstere crime thrillers, in deren Zentrum eine verführerische und geheimnisvolle Protagonistin steht. Wenn diese im klassischen Film noir auftritt, ist für den männlichen Helden, der meist als ›private eye‹ (nicht selten im Auftrag der Schönen) arbeitet, eine Rätselkonfiguration konstelliert, mit deren Lösung er den Film hindurch befasst ist. Die genretypische Schließungsfigur des Film noir verlangt die Aufdeckung des Geheimnisses der für den detektivischen Helden so faszinierenden wie gefährlichen Femme fatale: Der Protagonist wird zum Ödipus, der das Rätsel der Sphinx löst. Durchsetzt ist die Episode – wie chiaroscuro und low-key-lighting gehört die Rückblende zu den stilistischen Merkmalen des Film noir – mit cutbacks, deren Sujet der erste von Bond vollzogene Mord ist. Die Szenerie gibt sich betont ›realistisch‹ – wir befinden uns in einer Männertoilette –, der Kampf zwischen Bond und seinem Gegner präsentiert sich als besonders brutal, im Stile der (ebenfalls den Agentenfilm fortführenden) Bourne-Filmreihe,38 die mit Handkamera operiert und auf ›handfeste‹ Nahkampfszenen setzt.39 Die Rückblenden in der Sequenz von Casino Royale, die dem Vorspann vorangestellt ist, nehmen also Bezug auf den zeitgenössischen Agenten-Thriller à la The Bourne Identity,40 dessen Fak-
38| The Bourne Identity/Supremacy/Ultimatum, USA 2002/04/07, R: Doug Liman/Paul Greengrass. 39| Der Nahkampf, der etwa in den Bourne-Filmen zelebriert wird, zeichnet sich z.B. dadurch aus, dass dicht am Gegner gekämpft wird, dass durch gezielte und koordinierte Schlag-und-Tritt-Kombinationen der Feind möglichst schnell unschädlich gemacht wird. Die Kämpfe sind ›dreckiger‹ und härter, da ›tabuierte‹ Körperzonen direkt angegriffen werden und die Umgebung in den Kampf ›einbezogen‹ wird – wie etwa in Würfen durch Glasscheiben, gegen Wände oder Ertränken. Filmisch wird dies durch Hand-Kamera und sehr nahe Einstellungen – zumeist ohne establishing shots realisiert, so dass der Zuschauer die Hektik dieser Kämpfe nachempfinden kann. (Perspektiviert wird dieser Stil im Sequel zu Casino Royale, in Quantum of Solace.) 40| The Bourne Identity, USA/D/Tschechien 2002, R: Doug Liman.
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tur sich auch aus dem Bemühen erklärt, sich von der Bond-Serie (oder auch der Mission: Impossible-Reihe41) abzusetzen. Abb. 8: Bond goes noir: Licht- und Schatteneffekte im Prolog
Fasst man diese Anfangssequenzen als Lektüreanweisung für Casino Royale auf, dann schreibt sich Michael Campbells Regiearbeit aus dem Jahr 2006 auch in die Traditionslinie ein, für die The Bourne Identity steht (der Ausreißer wird also wieder eingefangen, die Bond-Reihe eignet sich die stilistischen Mittel an, mit denen der neue, der andere Agentenfilm sich von ihr absetzen wollte). Aufgerufen wird mit den – sicher auch als Nobilitierungsstrategie zu lesenden – Film-noir-Verweisen aber, neben der zeitgenössischen Agentenfilm-Variante, auch der 1940er-Jahre-Kontext der hard-boiled thrillers. Diese geben auch das Gender-Narrativ vor, dem der Bond von Casino Royale folgt: Vesper Lynd agiert als geheimnisbeladene Frau, deren Rätsel Bond zu spät auf die Spur kommt. Ihm bleibt nur zu kommentieren: »The bitch is dead«. Abb. 9: Bond goes noir: Schrägsichten und Weitwinkel
41| Mission Impossible I/II/III, USA 1996/2000/2006, R: Brian De Palma/John Woo/ J.J. Abrams.
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Abb. 10: Bond goes noir: Bond als hard-boiled hero
Casino Royale bezieht sich also auf filmische Kontexte, die fast ein Dreivierteljahrhundert auseinander liegen: den Film noir einerseits und den zeitgenössischen actionorientierten Agentenfilm andererseits. Beiden fehlt das Parodistisch-Ironische, Elegant-Selbstpersiflierende, das SpielerischUnernste, das für die Bond-series nicht erst seit den 1970ern kennzeichnend ist42 (in den 1980ern dann infiziert dieser Modus selbstreflexiver, auch parodistischer Genre-Inszenierung unter anderem den Actionfilm, genannt sei nur die Die Hard-Reihe43). Das Relaunching der Bond-Serie, das Casino Royale unternimmt – und das von den Kritikern hymnisch gefeiert wurde als gelungener Versuch, Bond zu entstereotypisieren, physischer, echter, psychologisch glaubwürdiger und erwachsener zu machen –, spannt sich zwischen Genres ein,44 die diese Ernsthaftigkeit zu gewährleisten scheinen. Dieses Relaunching ist aber auch mit Blick auf die James-Bond-Serie nicht voraussetzungslos. Im Universum der James-Bond-Filme und der James-Bond-Darsteller findet sich bereits der psychologisch ausdifferenzierte, verwundbare Bond, wie ihn der Shakespeare-Darsteller Timothy Dalton gab. Es findet sich der Bond mit dem Stallgeruch der Arbeiterklasse, Sean Connery, der die leicht proletarisch konnotierte, physisch angelegte Virilität, auf die Daniel Craig setzt, präfiguriert. Auch das Genre sprengende, weil den Nimbus des Ladykillers und Agenten zerstörende Konzept ›wahre Liebe‹, das einhergeht mit dem Aufgeben des Agenten-Daseins, mit dem Einreichen der Kündigung mit sofortiger Wirkung, ist kein neues Phänomen der Serie. 42| Ein wichtiger Film in diesem Kontext ist Roger Moores zweiter Bond-Film The Man with the Golden Gun (GB 1974, R: Guy Hamilton). 43| Die Hard I/II/III/IV, USA 1988/90/95/2007, R: John McTiernan/Renny Harlin/Len Wiseman. 44| Ich begreife – in Kenntnis der ausdifferenzierten Diskussion – in diesem Zusammenhang auch den Film noir als Genre. Vgl. dazu Raymond Borde u. Etienne Chaumeton: A Panorama of American Film Noir, 1941–1953. Übers. von Paul Hammond. San Francisco 2002, S. 2.
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George Lazenby, der Ein-Film-Bond, trifft in On Her Majesty’s Secret Service45 aus dem Jahr 1969 auf Diana Rigg, die Liebe seines Lebens, liquidiert seinen Dienst und heiratet sie. Auf dem Weg in die Flitterwochen wird Mrs. James Bond erschossen.46 Casino Royale, das als Prequel eine ›neue Geschichte‹ erzählen will über den Geheimagenten 007, entkommt also den Fallstricken der Serialität nicht.47 Die 20 offiziellen James-BondFilme, die vor Casino Royale gedreht wurden, von Dr. No mit Sean Connery aus dem Jahr 1962 bis Die Another Day48 mit Pierce Brosnan aus dem Jahr 2002, versammeln schlicht so viel an Handlung, an Erzählmustern, an Material, dass es schwer, um nicht zu sagen: Unmöglich ist, etwas ganz Neues im Kontext des Bond-Universums zu sagen – der Weg ganz zurück an den Anfang ist immer schon verstellt. Auch die Neujustierung, die Casino Royale vornimmt, schließt also an bereits Vorgegebenes an: Das vorgeblich Neue verweist auf das Alte. Wenn Casino Royale versucht, einen Gründungsmythos zu stiften, die zentralen Sätze und Gesten der Figur Bond zu setzen, dann geschieht das vor dem Hintergrund der hundertfach wiederholten Sätze und Gesten der Bondseries. Wie sehr sich Daniel Craig auch bemüht, einen authentischen, nicht ironisch-parodistisch angelegten Bond zu geben,49 auch seine Sätze und seine Gesten iterieren den etablierten Zitatenschatz. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass das Drehbuch von Quantum of Solace, das Sequel 45| On Her Majesty’s Secret Service, GB 1969, R: Peter R. Hunt. 46| Nach dem Tod seiner Frau verfällt der Lazenby-Bond nicht in einen Modus von Zynismus und verfolgt kein ›Racheprogramm‹. Als eine Polizeistreife vorbeifährt (er sitzt mit seiner erschossenen Frau in seinem Sportwagen) und ihn fragt, ob alles in Ordnung sei, bejaht er das, den Tod seiner Frau vor sich selbst verleugnend: Sie müsse sich nur ausruhen. Der die Leiche im Arm habende und küssende Bond erinnert an die gebrochenen Helden des Melodramas. Dass dieser Bond sich je wieder von seinem Schmerz erholen wird, dass er wieder als »Bond« agieren wird, ist kaum vorstellbar – auch das wohl ein Grund für den Rückgriff des nächsten Bond-Films auf einen anderen Bond-Darsteller, auf Sean Connery (in Diamonds are Forever, GB 1971, R: Guy Hamilton). Inszenierungen des Motivs ›Tod der geliebten Frau‹ finden sich auch in den Bond-Filmen mit Pierce Brosnan. Brosnan wird ständig traumatisiert, seine Geliebten sterben, er ist psychisch versehrt, Alkoholiker: Bereits in GoldenEye, dem ersten der Bond-Filme mit Brosnan, wird Brosnans/Bonds Coolness – M nennt den Agenten einen »chauvinistischen Dinosaurier« – demaskiert als emotionale Kälte und zynische Gewalt. Demgegenüber erscheint die Reinszenierung des »klassischen« Bond in Die Another Day als Beinahe-Parodie der series. 47| Eco argumentiert, dass moderne Mythen wie Superman oder Bond keiner Wandlung unterzogen sein dürfen (vgl. Eco: Flemings Werk, S. 100f.). Daraus resultiert, dass ein Ereignis wie ›wahre Liebe‹, das sich in den Mythos einschreiben müsste, nicht in der Serie, sondern nur in einem Prequel zur Serie verhandelt werden kann. 48| Die Another Day, GB/USA 2002, R: Lee Tamahori. 49| Wenn man so will, markiert dieser Ironie-Verzicht die Post-Postmoderne: der Mythos wird (neu konfiguriert) wieder hergestellt.
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von Casino Royale, darauf verzichtet, Bond ›den‹ Satz sagen zu lassen. Die Vorstellungsfloskel: »The name is Bond. James Bond« fehlt im Bond aus dem Jahr 2008.50 Auch, indem jeder James-Bond-Film, auch Casino Royale, sich auf diesen Zitatenschatz bezieht, bedient er und rekurriert er auf GenreKonventionen. Diese werden aufgerufen – und sie werden immer auch, mehr oder weniger, umgeschrieben, modifiziert. Jeder Film ist durch das Prinzip der Iteration, das dem populären Genre-Konstitutionsmodell qua Wiederholung und Variation entgegengesetzt sei, am Genre-Konstruktionsprozess beteiligt (das poststrukturalistisch inspirierte Konzept der Iteration verweist auf die, wenn auch minimalen Ent-Stellungen, Ver-Rückungen, die mit jedem Wieder-Aufrufen eines Musters verbunden sind). Aber mit welchem Genre-Konstitutionsmodell auch operiert wird, ob mit dem der Iteration oder mit der Doppelfigur Repetition und Variation: Hinzuweisen ist darauf, dass das Genre (von dem angenommen wird, dass es dem Film vorgängig ist) ein Effekt jener Filme ist, in denen es sich ausdrückt/konkretisiert/dokumentiert. Wir haben es also mit der Schwierigkeit zu tun, dass das Genre nicht Film ist, aber nur im Film begegnet: Das Genre geht dem Film (logisch) voraus und ist doch (faktisch) sein Effekt. Anders formuliert: In Filmen konkretisieren sich Genres und die Filme gestalten, modifizieren diese Genres, setzen sie in Szene. Das Verhältnis von Einzelfilm und Genre ist also kompliziert – auch deshalb, weil die Genre-Filme, die Genres in Szene setzen, nie mit den Konventionen eines einzelnen Genres (des Agentenfilms, des Actionfilms, des Melodramas etc.) operieren, sondern immer mit einem (kleineren oder größeren) Bündel von Mustern diverser Genres. Nicht das Genre geht also der Genre-Hybridisierung voraus; vorgängig ist vielmehr die Genre-Hybride – und die Fixierung einzelner Genres setzt eine simplifizierende Lektüre einer Konstellation voraus, die immer schon die Einzelgenres transgrediert. Dieser Befund, der sich also keineswegs nur für das postmodern inspirierte Kino konstatieren lässt, hat bereits für das frühe Kino der 1910er und 20er Jahre des letzten Jahrhunderts Geltung.51 Gerade mit Blick auf die Bond-series lässt sich diese Konfiguration konstitutiver Hybridität (die mit konstitutiver Historizität einhergeht) besonders eindrücklich zeigen. In Moonraker 52 mit Roger Moore aus dem Jahr 1979 findet sich beispielsweise action-adventure, Agentenfilm und Science-Fiction-Film amalgamiert (befindet man sich doch im Star-WarsJahrzehnt), Live and Let Die aus den frühen 1970ern ruft unter anderem
50| Auch sonst benutzt Quantum of Solace die Kodizes und Muster der Serie kaum, bemüht sich ostentativ um eine Rekonfiguration der series innerhalb der Konventionen des aktuellen Agenten-Actionfilms. Zwar war dieser Versuch kommerziell überaus erfolgreich, die Fans aber waren ›not amused‹. 51| Neale: Genre and Hollywood, S. 248ff. 52| Moonraker, GB/F 1979, R: Lewis Gilbert.
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Konventionen der Blaxploitation auf.53 Alle Bond-Filme mit Roger Moore als Hauptdarsteller sind komödiantisch eingefärbt, Licence to Kill54 mit Timothy Dalton aus dem Jahr 1989 integriert Genre-Elemente des in den 1980er populären, zynisch und brutal angelegten Rache-Thrillers: Für jeden Bond-Film seit Dr. No im Jahre 1962 wäre die genaue Rezeptur des Genre-Cocktails – selbstverständlich shaken, not stirred55 – zu ermitteln, wären die Verhandlungsfiguren zu rekonstruieren, mit denen der Film sich in Genre-Kontexte, in Genre-Texturen einschreibt.56 Die James-Bond-Filme ist oft als Konfiguration beschrieben worden, in der ein immer gleiches Muster mit jeweils neuen – zum Beispiel politischen – Aktualisierungen ›upgedatet‹ wird. Eingespeist werde in Casino Royale etwa im Anschlag auf Skyfleet die Berichterstattung über den A380, den neu konstruierten größten Passagierjet der Welt. Die Erschütterung durch 9/11 lasse sich unter anderem im Finanz- und Folterdiskurs des Films, von letzterem war bereits die Rede, wiederfinden. Der auf Madagaskar spielende erste Teil des Films beschäftige sich mit den aus den aktuellen Medien bekannten Aktivitäten afrikanischer Warlords. Gelesen werden könne Casino Royale aber auch als seismographischer Reflex, der die globale Finanzkrise antizipiere. Und selbst die medienwirksame, vieldiskutierte Körperwelten-Ausstellung Gunther von Hagens’ werde in Casino Royale zur Darstellung gebracht. Die Liste ließe sich selbstverständlich verlängern und ist nicht uninteressant. Das Konzept vom Genre, von der Bond-series als immergleiches Gefäß, in das aktuelle Ingredienzen geschüttet werden, wird der komplexen Verhandlungsfigur von Genre und
53| Unter ›Blaxploitation‹ fasst man Filme vor allem der 1970er Jahre. Der Name ist eine Wortkreuzung aus black, dem englischen Wort für ›schwarz‹ und Exploitation, die Bezeichnung für ein Filmgenre mit Billigproduktion und expliziten Darstellungen. Der Begriff bezieht sich also auf Exploitationfilme, die mit Afroamerikanern gedreht wurden (z.B. Shaft, USA 1971, R: Gordon Parks oder Coffy, USA 1973, R: Jack Hill). 54| Licence to Kill, GB/USA 1989, R: John Glen. 55| Eines der Internet-Foren zu James Bond erklärt, warum diese Zubereitung von Cocktails die geratene ist: »Warum geschüttelt und nicht gerührt? Das Schütteln des Martinis bringt zusätzlich Sauerstoff ins Glas und damit auch in den Körper, wo er bei der Beseitigung der so genannten Radikale hilft. Diese ungesättigten Moleküle schwächen das Immunsystem und gelten als Ursache vorzeitigen Alterns« (http://www.jamesBond-Filme.de/wodka.htm). In der Re-Inszenierung, die jeder Bond-Film darstellt, werden also bekannte Ingredienzien gemischt, aber durch deren gehöriges Durchschütteln, das den Drink mit frischem Sauerstoff versieht, wird vorzeitiges Altern – oder gar ›Versterben‹ – der Ikone Bond verhindert. 56| Um nur zwei weitere Genre-Bezüge des Films zu nennen: Casino Royale ruft auch die Hitchcock-Thriller auf. Wäre Eva Green eine Blondine, könnte die Szene im Zug einem seiner Filme entstammen. Sie erinnert an eine Episode in Alfred Hitchcocks North by Northwest (USA 1959). Die umfänglich dargestellte Pokerpartie im Casino dagegen evoziert ›Spielerfilme‹ wie The Cincinnati Kid (USA 1965; R: Norman Jewison).
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Geschichte aber nicht gerecht.57 Beide Kategorien sind nicht als voneinander unabhängige, sondern nur als immer schon interdependente zu denken. Das Genre, das ohnehin immer nur vermittelt greifbar ist, als Effekt aufscheint, sich in Einzelfilmen konkretisieren muss, verhält sich zur Geschichte nicht als zu etwas anderem, es ist selbst von konstitutiver Historizität.
57| Vgl. zum Problem von James-Bond-Filmen und Geschichte auch Tony Bennetts und Janet Woollacotts Monographie Bond and Beyond: The Political Career of a Popular Hero (Basingstoke 1987). Bennett und Woollacott setzen sich differenziert mit dem Befund auseinander, dass es sich bei James-Bond-Filmen um Produkte der ›Kulturindustrie‹ handele (deren akademische Rezeption zumindest bis in die Achtziger durch das Bestreben bestimmt war, die in den Filmen transportierten Ideologien zu kritisieren und die kulturindustrielle Manipulation des Zuschauers zu beklagen – so der Impetus der durch die Frankfurter Schule beeinflussten deutschen Kulturtheoretiker, aber auch der der [post-]marxistischen angelsächsischen Cultural-Theory-Fraktion). Bennett und Woollacott, die die verschiedenen und sich ändernden medialen Repräsentationen der Figur James Bond in den Bond-Filmen, aber auch in Büchern, Fanmagazine, Journalismus, Werbung und Interview analysieren, wenden sich gegen die Konzeptualisierung von popular fiction als Transportmittel privilegierter Ideologeme, mit denen die Kulturindustrie eine einheitliche Konsumentenmasse manipuliere. Sie definieren popular fiction als Feld komplexer ideologischer Konfigurationen, gekennzeichnet durch eine Vielzahl historisch wandelbarer, sich auch widersprechender ideologischer Diskurse und Gegendiskurse. Natürlich sei es möglich, Bond-Filme als sexistisch, rassistisch und reaktionär zu beschreiben. Aber damit habe man noch nicht erklärt, warum das Massenpublikum eben diese Filme gerne sehe (es sei denn, man behaupte, das Massenpublikum möge eben sexistische, rassistische und reaktionäre Filme). Bennett und Woollacott stellen die These auf, dass die Figur James Bond deshalb Akzeptanz beim Publikum finde, deshalb populär sei, weil sie den Zuschauern die Auseinandersetzung mit einer ganzen Reihe von kulturellen und politischen Konfigurationen ermögliche: die politischen Zustände im Kalten Krieg und danach, das Verhältnis von Kapitalismus und Kommunismus, aber auch Gender-Konfigurationen. Vergleicht man etwa die einzelnen James-Bond-Filme miteinander, dann lässt sich zwar konstatieren, dass die Figur ›James Bond‹ zwar immer ›James Bond‹ bleibt, dennoch unterscheidet sich die Art und Weise, in der dominante Diskurse in den Protagonisten eingespielt werden resp. sich durchkreuzen. Bond ist also nicht nur ein Zeichen seiner Zeit, sondern ein sich in der Zeit bewegendes (und veränderndes, durchaus unterschiedliche kulturelle Werte verkörperndes) Zeichen. Wenn man es mit popular fiction, mit popular film zu tun hat – nicht nur das machen Bennett und Woollacott schlagend deutlich – macht es Sinn, die kulturellen Objektivationen, mit denen man befasst ist, nicht immer schon als ideologisch und kulturindustriell zu stigmatisieren (und zu ignorieren), sondern äußerst präzise zu rekonstruieren, welche Ideologeme in die Filme inskribiert sind – und wie die Filme diese Ideologeme prozessieren.
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Fantasy und Ritterroman – ein ›Sitz im Leben‹? Heiko Christians Der Ritter ist vielleicht die eigentümlichste Figur der sozialen Kategorien, die Europa hervorgebracht hat, das macht das Interesse an ihm verständlich. Der Ritter ist eine Ansammlung von Paradoxa: Er ist vornehmer Abkunft, kampfgeübt, stark, aber zum Dienst an den Armen, Kranken und Verlassenen verpflichtet. Er steht in einer strengen Hierarchie und schwört seinem Herrn einen Treueeid, aber er ist zugleich Nomade, nur dem Ehrengesetz unterworfen, ungebunden umherschweifend. Er ist aufgrund all seiner Gaben zum Gewinnen angelegt, aber er ist meistens der Verlierer. Sein Kampf richtet sich gegen den Teufel zur Verteidigung Gottes und ist zugleich nur ein Spiel. Martin Mosebach1
Welche Dienste habe ich zu leisten?‹, fragte ich, und ich entsinne mich, daß ich sehr stolz bei diesen Worten war. ›Ritterdienste, mein Junge, Ritterdienste‹, erwiderte er und hüpfte auf einem Fuße um sein Pferd herum. Rudyard Kipling2
1. ›S IT Z IM L EBEN ‹ Die längst geflügelte Formulierung vom ›Sitz im Leben‹ geht zurück auf Notizen Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers aus dem Jahr 1805 zu einer lateinisch verfassten Auslegungshilfe zum Neuen Testament Johann 1| Martin Mosebach: »Im Auge des Drachens. ›Letztes Abenteuer‹: Romantischer Ausritt mit Heimito von Doderer in die Reviere der Zweckfreiheit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4. November 2000, Beilage Bilder und Zeiten, S. II. 2| Rudyard Kipling: Puck vom Buchsberg [1906]. Übers. von E. Hardt. Leipzig o.J., S. 47.
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August Ernestis von 1761: »Das Ganze wird ursprünglich verstanden als Gattung – auch neue Gattungen entwickeln sich nur aus einer größeren Sphäre, zuletzt aus dem Leben.«3 Dieser Aphorismus wird zwischen 1906 und 1925 von formgeschichtlichen Untersuchungen zum Neuen und Alten Testament bei Rudolf Bultmann, Otto Dibelius und Hermann Gunkel aufgegriffen.4 Der Ausdruck meint den institutionellen Gebrauchsort einer Textgattung: etwa die Gemeinde, die Schule oder ganz pauschal den Alltag. Ein Blick in den Anmerkungsapparat von Carl Schmitts Buch vom Nomos der Erde zeigt allerdings, dass sich diese Suche nur an ein deutlich älteres Programm der abendländischen Geistesgeschichte anschließt: Die Lehre von den ›Topoi‹ ist von Aristoteles entwickelt worden, und zwar als Teil der Rhetorik. Sie ist die Dialektik des öffentlichen Platzes, der Agora, zum Unterschied von der Dialektik des Lyceums und der Akademie. Was ein Mensch dem andern sagen kann, ist diskutabel, plausibel oder überzeugend nur im rechten Rahmen und am rechten Ort. So gibt es auch heute noch unentbehrliche ›Topoi‹ der Kanzel und des Katheders, des Richterstuhls und der Wahlver sammlung, der Konferenzen und Kongresse, des Kinos und des Rundfunks. Jede soziologische Analyse dieser verschiedenen Orte müßte mit einer Dar stellung ihrer verschiedenen ›Topoi‹ beginnen.5
Auch konkrete Orte erschließen sich nur über oder sogar als ›Topoi‹, hieße das, folgte man Carl Schmitts Hinweis. Die landläufige Reihenfolge von Ort und Topos lässt sich möglicherweise umkehren. Was also Hermann Gunkel 1906 im Rückgriff auf die romantische Philologie für bestimmte (mündliche) Gattungszugehörigkeiten biblischer Textteile zuerst ausgemacht haben wollte, entpuppte sich seinerseits als ein Topos – ein bloß metaphorischer Sitz der Literatur im Leben. Dennoch wird dieser Vorschlag von den Romanisten Hans Robert Jauss und Erich Köhler zu Beginn der 1970er Jahre wieder aufgenommen. Erich Köhler schreibt 1978 den Aufsatz Gattungssystem und Gesellschaftssystem und beginnt ihn mit der Forderung, »den Ort einer Gattung im dynamischen System der Gattungen in einer bestimmten bzw. jeweils erst zu bestimmenden Beziehung zu einem spezifischen ›Sitz im Leben‹ der Gattung zu analysieren.6
3| F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. und eingeleitet von H. Kimmerle. 2. verbesserte u. erweiterte Ausgabe. Heidelberg 1974, S. 47. 4| Vgl. H.W. Bartsch: »›Sitz im Leben‹«, in: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt o.J., Bd. 9, Sp. 937f. 5| Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum [1950]. 2. Aufl. Berlin 1974, S. 20f. (= Anm. 1). 6| Erich Köhler: »Gattungssystem und Gesellschaftssystem« [1977, in: Ders.: Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. H. Krauss. Heidelberg 1982, S. 11–25.
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Für Köhler kann die Stellung einer Gattung im hierarchischen System der Gattungen ›korreliert‹, wohlgemerkt nicht gleichgesetzt werden mit den Stellungen sozialer Gruppen im Gattungssystem. Er prägt deshalb das merkwürdige Bild des ›Seismographen‹ für den Funktionsort des Höfischen Romans: »An den Höfen, an diesem ›Sitz im Leben‹ des höfischen Romans sind die Seismographen der politisch-sozialen Entwicklung installiert.« In der Zeitschrift für Evangelische Theologie resümiert Gerhard Sellin diese anfänglich unter Theologen geführte Debatte 1990 mit einer lapidaren Bemerkung: »Der Begriff ›Sitz im Leben‹, der die Brücke schlagen soll, ist leider außerordentlich unscharf. Die Hauptschwierigkeit liegt dabei in dem ungeklärten Verhältnis von Text und Leben.«7 Dass das Verhältnis von Literatur und Leben sich komplizierter gestaltet als es das Bild vom ›Sitz‹ suggeriert, gehört unterdessen also zu den wenigen, allen Kulturwissenschaften gemeinsamen Überzeugungen. Heute geht man gemeinhin von einem Wechselspiel von Literatur und Leben aus, ohne allerdings Start und Ziel oder Strukturen und Regeln dieses Spiels befriedigend analysiert zu haben. Ein weiterer Topos – der von der ›anbrechenden Moderne‹ – ließ neben den Philologen und Theologen auch die Juristen zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ruhen, über den ursprünglichen Sitz und Ausgangsort der Modernität (als Literatur) nachzudenken. Immer wieder stoßen die verschiedenen Disziplinen auf einen Ritter, genauer: einen nicht mehr ganz so edlen Leser von Ritterromanen, dessen Leben und Taten Miguel de Cervantes 1605 und 1615 in zwei Bänden veröffentlicht hatte. Der schon erwähnte Staatsrechtslehrer Carl Schmitt widmet einen ganzen Aufsatz der Frage, ob Cervantes Roman vom traurigen Landedelmann Don Quijote nun der mit seinem hemmungslosen Konsum der Amadis-Ritter-Romane anbrechenden Modernität oder vielmehr gerade einer gegen sie ins Feld zu führenden besonderen Volkstümlichkeit zuzurechnen sei.8 Dass bei Schmitt das Volk (der Leser) als eigentlicher Sitz dieses Romanwerks obsiegte, muss nicht eigens betont werden. Schmitt war die Vorstellung, dass die Moderne ihren Ausgangssitz (wenn man so in Abwandlung des wörtlichen Topos sagen darf) gerade in diesem Romanwerk eingenommen hatte, ein furchtbarer Gedanke. Eine ganz ähnliche Pointe produzierte der klassische Philologe Rudolf Borchardt 1926 in seiner Ortsbestimmung des Don Quijote: Cervantes lokalisierte einen an sich schon längst blutleeren konventionellen Ritterroman in einer konkreten Landschaft – der Mancha. Daraus resultierte das Neue, daran starb der Ritterroman. Denn, so Borchardt, das alte leblose 7| Gerhard Sellin: »›Gattung‹ und ›Sitz im Leben‹ auf dem Hintergrund der Problematik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit synoptischer Er zählungen«, in: Evangelische Theologie. Zweimonatsschrift 50 (= 45 N.F.) (1990), S. 311–331, hier: S. 312. 8| Carl Schmitt: »Don Quijote und das Publikum«, in: Die Rheinlande 22 (1912), S. 348–350.
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und körperlose Genre des Ritterromans ließ sich nicht parodieren, wohl aber ließ sich ein gewissenhafter Leser fingieren. Nicht der Versuch, Literatur zu leben, sei die Pointe des Romans, sondern die Lektüre eines industriellen Moderomans als wiederauferstandener körperhafter Kunst. Die im Kern landschaftlich inspirierte, ernste Lektüre einer billigen Fiktion, die den Leser zum Anwalt unverdrehter Ideale des Mittelalters macht, bewirkt erst eine neue Qualität des Romans.9 Die Reihe der prominenten Leser wäre mit Ortega y Gasset oder Georg Lukács problemlos fortzusetzen,10 doch möchte ich nun ohne Umwege in die Gegenwart und jüngere Vergangenheit des Ritterromans gelangen. Als Höhepunkt der Frankfurter Buchmesse 2007 wurde von vielen Beobachtern und Kommentatoren die vollständige Neuübersetzung von Joanet Martorells (1410–1465) Roman vom Weißen Ritter. Tirant lo Blanc (1490) aus dem Katalanischen durch Fritz Vogelsang gefeiert. Die Rezensionen in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen schwankten zwischen den Urteilen »erster moderner Roman 100 Jahre vor Cervantes’ ›Don Quijote‹« (Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung) und »Geistige Rüstung eines fundamentalistischen Rittertums« (Martin Zähringer in der Frankfurter Rundschau). Thomas Steinfelds Besprechung verdankt sich auch folgende Passage, die am 9. Oktober 2007 erschien: Zu keiner Zeit, nicht im Spätmittelalter, nicht während der Renaissance und erst recht nicht danach, hatte der Ritterroman, rein quantitativ betrachtet, so viele Leser wie in unseren Jahren – wobei der Glaube, wir lebten auch literarisch in modernen Zeiten, sich als Vorurteil der Aufklärung vor die tatsächlichen Verhältnisse zu stellen scheint und den meisten Menschen offenbar gar nicht bewusst ist, dass sie ihr Leben mit Ritterromanen verbringen. Nur zum Schein ist der Ritterroman im späten achtzehnten Jahrhundert der vermeintlich realistischen, prinzipiell forschenden und zumindest latent stets tragischen Kunstdichtung ausgewichen, und er tat es nur, um im Trivialen, in der Massenkultur neue Kraft zu schöpfen und um dann zweihundert Jahre später um so triumphaler zurückzukehren.11
9| Rudolf Borchardt: »Der ›Don Quijote‹ des Cervantes« (1926), in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Hg. v. Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1992, S. 418–423. 10| Vgl. d. Verf.: »Gattungspoetik und Gemeinschaftsbildung. Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Literatur«, in: Matthias Schöning u. Stefan Seidendorf (Hg.): Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa. Heidelberg 2006, S. 91–110. 11| Thomas Steinfeld: »Das Schwert wird es richten. Der Weiße Ritter Tirant Lo Blanc, das späte Mittelalter und die unglaubliche Karriere des Ritterromans in unseren Zeiten«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 232, 9. Oktober 2007‚ Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse, S. 1.
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Meine Ausführungen sind als ausführliche Erläuterungen zu Steinfelds bemerkenswerter Einschätzung und Herleitung der Aktualität dieses dreibändigen faszinierenden Ungetüms der katalanischen Literatur zu verstehen.
2. TOLKIENS E RFOLG Die etwas fantasielos Fantasy genannte Unterhaltung in Buch-, Film- und Spielform wird in der Regel auf einen Ursprung, genau genommen auf ein Buch zurückgeführt – auf Tolkiens Herr der Ringe von 1955. Erst danach werden weitere Konjunkturschübe der Fantasy bei der in der Tat Die unendliche Geschichte von Michael Ende (1979), bei den Otherland-Romanen Tad Williams (1996–2001), bei den Nebeln von Avalon von Marion Zimmer Bradley (1982) oder bei den Fantasy-nahen Geschichten von Cornelia Funke oder Joanne K. Rowling festgestellt, welche seit Jahren unvorstellbar erfolgreich die Alterssegmente der Leserschaft durchkreuzen.12 Wenn doch einmal jemand tiefer gräbt, stößt dieser jemand unfehlbar auf E.T.A. Hoffmanns fantastische Erzählungen und der leichte Drang in die Tiefe ist damit meistens auch befriedigt. Irgendwie fängt ja alles »um 1800« an – wie schon Georg Stanitzek festhielt.13 Ich möchte im Folgenden die Fantasy-Literatur etwas anders herleiten, einige Beweggründe für ihren anhaltenden Erfolg liefern und schließlich Denkanstöße zum Thema Computerspiel-Kultur, Fantasy-Literatur und Verbrechen geben. In Bezug auf die Urheberschaft von John Ronald Reuel Tolkien in Sachen Fantasy treten erste Irritationen auf, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der spätere Oxford-Professor für Ältere englische Literatur den Grundstein zu seinem Epos schon 1918 mit einem Book of Lost Tales legte. Zwischen 1918 und 1955 aber liegt ein ereignisreicher langer Weg. Tolkiens Projekt sah schon damals nichts Geringeres vor, als eine neue alte Mythologie für England zu entwerfen, eine neue alte Götter- und Menschenwelt. Diese hatte in seinem postum veröffentlichten Buch Silmarillion aus den 1920er Jahren schon Formen angenommen und hatte 1937 mit The Hobbit. There and back again deutlich unterhaltsamere Konturen gewonnen. An diesem Projekt arbeitete aber – das könnte die zweite Irritation sein – Tolkien zu dieser Zeit nicht allein: In den USA bemühte sich Howard Phillips Lovecraft 1927 mit einer History of the Necronomicon ebenfalls um einen neuen fantastischen Mythos namens »Cthulhu«. Schließlich hob der schon 1936 verstorbene Robert E. Howard 1932 einen mythischen 12| Auch hier gibt es natürlich feine Unterschiede. Vgl. Michael Maar: »Das Muster des Phönix. Was trennt den Potterianer vom Tolkienisten?«, in: Frank furter Allgemeine Zeitung, 24. September 2005, Nr. 223, S. 43. 13| Vgl. Georg Stanitzek: »Brutale Lektüre, ›Um 1800‹ (heute)«, in: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 249–265.
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Barbaren namens »Conan« aus der Taufe, den wir heute noch in der Verkörperung von Arnold Schwarzenegger ständig vor uns sehen. Dieser Barbar trat allerdings in den 1920er Jahren mit einem ganzen Kontinent voller Figuren auf den Plan: das fiktive »Hyboria«, das uns noch beschäftigen wird. Hal Foster schließlich schuf 1937 den bis heute populären Prinz Eisenherz und seine Welt.14 Nachgewiesen hat man diesen Autoren natürlich einzelne zentrale und marginale Bezüge und Zitate: Tolkien ›klaute‹ Mittelerde beim angelsächsischen Heldenlied Cynewulf aus dem 8. Jahrhundert, Lovecraft bezieht sich explizit auf die Fabelwelten eines gewissen Lord Dunsanys, der um 1900 fabelhafte Romangötterwelten wie etwa The Gods of Pegana und ähnliches veröffentlichte. Doch der Nachweis einzelner Diebstähle, Bezüge oder Zitate hilft hier nicht weiter, um etwas Generalisierbares über Fantasy zu erfahren, da alle Literatur sich bekanntlich so verhält. Fragen wir uns also, worum es in diesen Texten auf welche Weise geht. Zuerst kann man sagen, dass das Fantasy-Figuren- und Motivreservoir so alt ist wie die Literatur selbst: Wenn man sich die ersten, eindeutig als Fantasy identifizierten Titel der Texte anschaut, wird schon einiges klarer: Der erste Conan-Roman von 1932 hieß The Phoenix on the Sword, Lord Dunsanys bekannteste Kurzgeschichte von 1908 hatte den Titel The Sword of Welleran usw. Außer solchen mythischen Schwertern bevölkern vor allem Feen, Elfen, Krieger, Barden oder Sänger, gute oder böse Magier und Drachen diese Welten.15 Historische Romane ohne Historie hat Henning Ahrens das einmal genannt, aber das wäre vom historischen Roman aus gedacht, den es erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gibt.16 Der Ritter erlebt eine christliche Odyssee – und ist damit an und in den Fundamenten der abendländischen Literatur zu finden. Eine andere Frage ist, welcher spezifische Kontext regte Tolkien an, diese Motivik weiter auszubauen: Der entscheidende Transmitter für die pseudomittelalterlich-märchenhaften Welten dieser allesamt aus dem Angelsächsischen stammenden Autoren war eine der uns unterdessen wohlbekannten Kon14| Dass sich schon die mittelalterlichen Artusromane sehr schnell ver mehr ten, dokumentiert reichhaltig Tilman Spreckelsen: Gralswunder und Drachentraum. Ein Streifzug durch die Artuswelt. Frankfurt/Main 2007. Die Fort setzung der klassischen mittelalterlichen Ritterepen als Ritterroman dokumentieren und analysieren Karlheinz Stierle und Reinhold R. Grimm ausführlich: vgl. Karlheinz Stierle: »Die Verwilderung des Romans als Ur sprung seiner Möglichkeit«, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters, Vol. 1), S. 253–313; Reinhold R. Grimm: »Rezeptionsweisen des Ritterrromans in der Neuzeit«, ebd., S. 315–334; Volker Mertens: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 1998. 15| Vgl. Jacques Le Goff: Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des Mittelalters. München 2005. 16| Vgl. Henning Ahrens: »Die erfundene Historie. Zum Phänomen der Fantasy-Literatur«, in: Neue Rundschau 118 (2007), H. 1, S. 70–77.
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junkturen des Mittelalterlich-Romantisch-Märchenhaften. Sie ereignet sich allerdings nicht nach Tolkien, sondern eine Generation vor Tolkien: Es war die sogenannte Arts-and-Crafts-Bewegung im viktorianischen England. Es war dies ein ziemlich unsozialistischer utopischer Sozialismus, der seine Ideale von der intakten Gemeinschaft den Bildern mittelalterlicher Handwerksgilden entnahm – und nicht den marxistischen Entwürfen eines globalisierten brüderlichen Weltproletariats. Seine Vordenker hießen John Ruskin und William Morris. Was ihn aber vor allem auszeichnete, war ein fundamentaler Affekt gegen die Industriegesellschaft im Namen der Kunst. Man wollte nicht – wie bei Marx – als revolutionäre Unterklasse die Produktionsmaschinerie in die Hand bekommen, man wollte kleine, auf Sorgfalt bedachte Herstellungsgemeinschaften schöner Dinge gründen. Manufactum heißt nicht umsonst ein später Ausläufer dieser Bewegung.17 Es war auch nicht zufällig der Buchdruck, den Marshall McLuhan ironischerweise in den Worten John Ruskins (1819–1900) als Initialzündung moderner Fertigungstechniken analysierte,18 der – neben der Malerei – diese Versprechen einer besseren Welt einlösen sollte. So wurde der längst massenwirksame Buchdruck konsequent re-idyllisiert: Ein wichtiges Vorbild war hierbei der erste englische Drucker, William Caxton, der 1485 mit dem berühmten Buch Thomas Malorys Der Tod des König Arthur von 1469 einen großen Erfolg landete. Dieses Buch wurde 1893/94 in England in drei aufwendigen Bänden neu ediert. Aubrey Beardsley lieferte die Illustrationen dazu und schuf mit ihnen bis heute einen der berühmtesten Bezugspunkte der idyllennahen Jugendstilkunst. John Ruskins Einfluss ist nicht zu überschätzen: Er hatte mit seinem Buch Seven Lamps of Architecture von 1849 u. a. eine wichtige Anregung für T.E. Lawrences Seven Pillars of Wisdom gegeben. Lawrence pflegte intensive Freundschaften mit Buchgestaltern wie Bruce Rogers und war – ganz im Banne von Ruskins und Morris’ Schriften – lebenslang mit Plänen befasst, in einer eigenen, gediegenen Druckwerkstatt mittelalterliche Epen herauszubringen.19 Ende des 19. Jahrhunderts wurde also das Mittelalter in England als wertvolle Gebrauchskunst gegen das Bestehende in Stellung gebracht. Dieses Bestehende war als Industrialisierung und Märkte erobernder Staat für jeden längst erkennbar. So konnten die Resultate dieser Gegenbewe17| Vgl. Ijoma Mangold: »Manufactum. Ein Katalog, der zur Bibel der Neuen Bürgerlichkeit wurde«, in: Die Zeit, 30. Dezember 2009, Nr. 1, S. 43. 18| »I begin to think that abominable art of printing is the root of all the mischief – it makes people used to have everything the same shape.« Virginia Surtees (Hg.): Reflections of a Friendship: John Ruskins Letters to Pauline Trevelyan 1848–1866. London 1979, S. 88. 19| Vgl. Jeremy Wilson: Lawrence von Arabien. Die Biographie [1992]. Übers. von Suzanne Gangloff. München 1999, S. 70f. u. 91.
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gung – anders als die aufwendigen philosophischen Erzählungen der deutschen Romantik – populär in einem massenwirksamen Sinne werden. Das Mittelalter wurde erstmals industriell verbreitet als Gegenentwurf zur Industriegesellschaft. Dieser bemerkenswerte Tatbestand wird schnell wiederum ein Thema der Literatur: In John Cowper Powys Riesenroman Glastonbury Romance von 1932, der ebenfalls vor kurzem – genau wie der Weiße Ritter Tirant Blanc – eine deutsche Neuausgabe erlebte, wird die fabrikmäßige Herstellung von Artus-Artikeln Thema des Artus-Romans selbst.20 Lovecraft, Tolkien oder Howard sind allesamt Verkörperungen des hier auf hohem, aber eben nicht zu hohem Niveau gepflegten antiindustriellen Affekts, der sich ein idealisiertes Mittelalter und eine von der Spätromantik längst wissenschaftlich inventarisierte nordische Götterwelt zum Gegenreservoir der Industriekultur erkor. Wieland Freund schreibt dazu: Tolkiens »Herr der Ringe« ist nur die Fortsetzung des Projekts der Brüder Grimm mit anderen Mitteln. Nichts weniger als eine »Mythologie für England« wollte Tolkien erfinden; schon Jacob Grimm, Verfasser einer »Deutschen Mythologie«, spekulierte lustvoll über Dunkel-, Licht- und Schwarzelben. 21
In mindestens einem Punkt hat Freund recht: Es ist die Fortsetzung mit anderen Mitteln. Aber dieses Andere ist entscheidend. Es sind nicht mehr die Mittel der Wissenschaft wie im Falle Grimms, es sind die Mittel der populären, massenwirksamen Unterhaltung, die genutzt werden, um ihr Gegenteil zu suggerieren. Nun, mächtige und schöne Ritter, sagenhafte Schwerter, holde Königinnen, Elfen, Feen oder Jungfrauen, Magier, Sänger und Drachen gab es seit fast tausend Jahren.22 Ihr Erfolg im Handschriftenverkehr oder auf dem Buchmarkt war und ist nichts Neues. Neu sind auch nicht die Stellvertreter von Himmel und Hölle oder die vergangenen und noch kommenden Weltalter, neu ist an der Fantasy-Literatur vielmehr, dass neben den klassischen Vorstellungen vom Nebel durchzogenen Garten Eden, vom Paradies, vom Reich der Seligen, von magischen Verstecken verschwundener Könige, massenhaft »Hyborias«, massenhaft neue Erdteile produziert werden. Neu ist die Inflation von Kontinenten, Meeren, Gebirgen, Flüssen und Wäldern in dieser Literatur. Das hat der Germanist
20| Vgl. Tilman Spreckelsen: »Wer dieses Schwert aus dem Amboß zieht, ist der rechtmäßige König. Und wer die Feder für Artus ins Tintenfaß taucht, kann auf Millionen Leser hoffen: Nachdichtungen der Tafelrundensaga, eine Erfolgsgeschichte«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. April 2001, Nr. 91, S. 58. 21| Wieland Freund: »Wir werden uns noch wundern«, in: Die Welt, 21. September 2007. 22| Vgl. Jochen Hörisch: »Das Tier, das es nicht gibt«, in: Die Literarische Welt 36 vom 10. September 2005, S. 1.
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Niels Werber unlängst in seinem Buch Die Geopolitik der Literatur nachgewiesen.23 Die Frage ist nun, warum erst diese Kombination ein Genre hervorbrachte, dessen immer neue Rekombinationen heute jede noch so optimistische Marktkalkulation spielend übertreffen. Es muss damit zusammenhängen, dass hier auf dem Papier oder auf den Bildschirmen immer neue Reiche erstehen oder untergehen, deren Qualitäten in einem entscheidenden und äußerst unterhaltsam-attraktiven Punkt nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.24 Das altbekannt-ritterlichmärchenhafte Inventar bewegt sich in einer neuen Umgebung, die mit ihren Eigenschaften den Wert dieser Fantasy genannten Mixtur in den Augen der Leser, Zuschauer und Nutzer noch einmal unermesslich steigert. Was aber sind diese Eigenschaften, die eine solche Potenzierung garantieren? Des Rätsels Lösung liegt in der erwähnten Inflation der Kontinente. Was ermöglicht nämlich diese Inflation immer neuer »Hyborias« im Gegensatz zum Bestehenden? – muss man nun fragen. Sie ermöglicht einen Blick auf das Politische, der es dem wohlig-entspannten Leser, Nutzer oder Zuschauer von Fantasy im Lese- oder Kinosessel ermöglicht, die tatsächlichen Probleme des Politischen zu vergessen. Die Fantasy-Inflation gibt dem global verstrickten Politischen seine überschaubaren Orte oder Topoi zurück. Die schon genannte Arts-and-Crafts-Bewegung, die Tolkien nachhaltig und marktförmig mit dem Elfisch-Ritterlichen in Kontakt brachte, war auch eine Reaktion auf das Errichten und Festigen des Britischen Empires. Das kolonial ausgerichtete 19. Jahrhundert schuf zwar – ganz ähnlich wie die spätere Fantasy-Literatur – Weltreiche wie das Empire, aber es schuf es nach einer kalten Logik der Märkte und Interessen- oder Einflusssphären. Wenn man sich die im 19. Jahrhundert festgelegten Grenzverläufe der jeweiligen kolonialen Machtansprüche in Afrika oder die des Versailler Vertrages im Nahen Osten anschaut, sieht man vor allem gerade Linien und rechte Winkel – ein Umstand, der sich bekanntlich bis heute blutig rächt. Nun sind zwar auch alle Fantasy-Romane Weltalter- und Weltreichsphantasien (republikanisch gesinnt sind sie allesamt nicht) – allerdings, wie Werber nachgewiesen hat, mit dem Unterschied, dass diese Reiche nicht Märkte, sondern Landschaften oder natürliche Großräume markieren. Die Politik – und vor allem das Erkennen der Gegner und Allianzpartner – ergibt sich in der Fantasy nicht mehr aus befristeten und komplizierten Kalkülen, Verhandlungen oder Interessenausgleichen, sondern aus natürlichen (d.h. geographischen) Gegebenheiten: Die Gu23| Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München 2007. 24| Vgl. Julia Voss: »Das Mythenrad dreht sich weiter. Vampir, Werwolf, Alien: Seit ›New Moon‹ und ›Avatar‹ haben Männer die Wahl, welche Monster sie sein wollen. Und Frauen, ob sie sich fürchten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Januar 2010, S. 24.
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ten hausen meistens im Wald, am besten im Auenwald, die Feen auf Inseln, die Bösen kommen aus der Wüste oder dem Gebirge, aus möglichst lebensfeindlichen Wüsten, möglichst steilen und finsteren Gebirgen. Dazwischen liegen in der Regel Flüsse, die man nicht überqueren sollte, weil sie selbst Stellung beziehen, indem sie als aktive Grenze des Reiches Feinde durch Flutwellen zurückschlagen. Bei Tolkien sieht das alles ein bisschen wie ›England gegen Schottland‹ aus, genaugenommen Mittelengland gegen Nordschottland, aber dieses Modell natürlicher, unkomplizierter Politik, mit dem sich das Artsand-Crafts-Romantikinventar bei Tolkien verbindet, ist keine provinzielle englische Spezialität. Ein breiter Diskurs steht hinter dieser Idee. Die Literatur mit dem alten Bild vom Staatskörper, der sich von sich aus erstreckt und ausstreckt – und dadurch seine Grenzen auf natürliche Weise selbst bestimmt, hilft dabei. Die Fantasy-Literatur setzt das Bild konsequent um. Die Geographie nimmt der Politik die Entscheidung ab, was das Ziel von Verhandlungen sein könnte. Länder oder Reiche sind durch Flüsse, Meere und Gebirgszüge voneinander getrennt, nicht durch Schlagbäume oder schnurgerade Linealgrenzen.25 Die Bevölkerungen dieser Landschaften kann man an Haarfarbe, Körpergröße oder Hautfarbe immer problemlos erkennen. Falsche Bevölkerungen, Okkupanten, gehen in der Fantasy-Welt immer so falsch mit der ihnen eben nicht auf natürliche Weise angestammten Landschaft um, dass man sie auch noch Jahrhunderte später problemlos vertreiben kann, um das alte Recht wieder geltend zu machen. Bei Tolkien sind es gerne auch ganze Wälder, die den Eindringlingen zeigen, wo’s langgeht (immer zurück! natürlich). Wer sich bei soviel Natürlichkeit – das heißt in erster Linie Erkennbarkeit – der Länder, Kämpfe und Freundschaften nicht wohlig im Sessel vergräbt und entspannt, ist selber schuld.
3. R IT TER VON DER BRUTALEN G ESTALT Allerdings gibt es Leser, Zuschauer und Nutzer, die dabei tendenziell verkrampfen und diese Verhältnisse auch in komplexe Umwelten einschreiben wollen. Was wir nur als Unterhaltung kennenlernen sollten, vollziehen sie mitten in unserem Alltag als furchterregende Tat. Die Ritter, die ich jetzt meine, die wir meistens zuerst in den Abendnachrichten als top news erleben dürfen, folgen bei ihren Heldentaten oft dem, was die Literatur längst ausgearbeitet hat und was die konkurrierenden
25| Vgl. auch Torsten Hahn: »Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs. Populäre Kommunikation in der modernen Raumrevolution«, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographie der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposion 2004. Stuttgart, Weimar 2005, S. 479–500.
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Bildmedien weiter ausarbeiten und verteilen.26 Die modernen Sprösslinge dieser Ritter- und Fabelwelt führen unterhalb der Wahrnehmung von Kunst ein massenhaftes und nur ungenügend ausgeleuchtetes Dasein in einer World of warcraft – so der Titel einer der erfolgreichsten, computerbasierten Rollenspiele der Gegenwart. Hier findet man eine Grauzone von extensiven, organisierten Rollenspielen, die zwar keinerlei Kausalitäten und Wahrscheinlichkeiten im Hinblick auf Amokläufe und andere Mordtaten produziert, die einem Beobachter aber die Logik solcher Ersatzidentitäten schon ein wenig näher bringen könnte. Die Forschung zu den Offline- und Online-Rollenspielen geht von Realweltdefiziten bei Viel- und Hardcorespielern aus. Durch Befragungen werden immer wieder Prozentsätze solcher Spielerprofile ermittelt, die in der Regel eine Kulturkluft konstatieren. Diese Kluft hebt auf die Zugänglichkeit von Geräten allgemein und auf die von Anschlüssen mit höheren Datentransferraten im Besonderen (in verschiedenen Milieus) ab. Diese Prozentrechnungen und -erhebungen, die die durchschnittliche wöchentliche Spielzeit der genannten Durchschnittsspielertypen statistisch erfassen, besagen allerdings wenig bis nichts über die Qualität und das Zustandekommen von Identifikationsprozessen. Die Gestalt, in der sich hier die Nachfolger der Ritter a la Chrétien, Malory oder Scott tummeln, heißt eben Fantasy. Das Begehren, das sich hier formiert, beschreibt erneut Henning Ahrens: Der Boom der Fantasy-Literatur, die eng mit den virtuellen Welten von Computer-, Playstation- und Gameboy-Spielen verwandt ist, hält sich hartnäckig seit den achtziger Jahren. Es ist das Begehren, von der Welt anerkannt zu werden, am besten durch eine unerwartete Großtat.27
Diese Tagträume von Heldentaten durchwehen die Fantasy – in welcher medialen Aufbereitung wir auch immer auf sie treffen – auf nahezu jeder Seite. Die dort beschriebenen Welten sind dichotomisch strukturiert und liefern die romantischen Kulissen für einen bedingungslosen Kampf mit allen Mitteln gegen ein jederzeit identifizierbares Böses. Ahrens empfiehlt deshalb, »wenn man wissen will, warum ein junger Mann Amok läuft«, nach einer Untersuchung der familiären Verhältnisse, auch einen Blick auf Desktop und Nachttisch zu werfen: »Der Fantasy-Roman offenbart all das, was wir an uns nicht wahrhaben wollen oder fälschlicherweise für überwunden halten.«28 Hätte man den Schreibtisch des 17-jährigen Felix D. aus dem mecklenburgischen Tessin früher untersucht, wären einem Computerspiele wie 26| Vgl. Alexander Kluge: ›Junge Männer wollen Helden sein‹ (Interview), in: Der Tagesspiegel, 5. Mai 2002. 27| Ahrens: Die erfundene Historie, S. 70f. 28| Ebd., S. 76.
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Doom 3 oder Prey in die Hände gefallen, aber auch Aufzeichnungen unter dem falschen lateinischen Titel Opus magnus oder ein Film mit dem Titel Final Fantasy VII, dessen Erscheinen der spätere Doppelmörder sehnsüchtig erwartet hatte. Alle diese Aufzeichnungen, Spiele und computergenerierten Animationen der Heldenepen steuerten langfristig auf ein Ziel zu – auf die »Abenteuerrolle eines Kriegers, zu der es irgendwann auch gehört, einen Menschen zu töten.«29 Felix, der aus einem längst bürgerlichen, 1968er-bewegten westdeutschen Elternhaus stammte, wollte nicht musizieren, sondern herrschen, nicht demonstrieren, sondern kämpfen. Er war ein Krieger, der alles allein erledigen musste und mit dem niemand in die Schlacht zog – außer Torben, dem getreuen Vasallen30
– es handelt sich um den ebenfalls verurteilten Nachbarssohn. Der in seiner Selbstwahrnehmung durch Elternhaus und Statur gehandicapte Schüler kidnappte eine Freundin und tötete eine benachbarte Familie mit den Messertechniken und nach den Anweisungen und Sprechakten seiner brutalen und martialischen Fantasy-Spiele und -Filme, nachdem er sich kurz zuvor noch einmal mit einer zweifachen Dosis Final Fantasy auf Touren gebracht hatte. Er konnte die zu einer unfassbar grausamen Tat gehörige mentale Trance offenbar nach Jahren medialen Konsums und medialer Produktion jederzeit abrufen, da die Tat über einen langen Zeitraum ruhig und konzentriert von ihm geplant wurde. Das Ergebnis sollte, so Felix in den Verhören, eine exemplarische Ausmerzung der Schwachen mit den Mitteln der Fantasy und ein Aufbruch der sich streng nach Final Fantasy VII nun mit »Lionhart« und »Frionel« anredenden Täter zu neuen, fer-nen ritterlichen Ufern sein: »In einer ›Nacht-und-Nebel‹-Aktion in Richtung Südjapan ausbrechen, um dort das Leben eines Ninja-Kriegers zu führen«31 – ein Plan einer lontaine voyage, eine Reise in »ferne Gegenden«, streng nach den Regeln und Gebräuchen der hochmittelalterlichen Ritterschaft.32 Tatsächlich endete der Versuch im ebenfalls herbeigesehnten Scheinwerferlicht der Polizei in einem alten Kleinwagen vor dem Haus der Opfer. Die polnische Soziologin Maria Ossowska hat 1973 ein ganzes Buch über Das ritterliche Ethos und seine Spielarten geschrieben. Ihrer brillanten kulturhistorischen Rekonstruktion ist ein Kapitel grundsätzlicher Natur vorangestellt: Der Begriff des Vorbilds und der Begriff der Nachahmung. Sie entscheidet sich schließlich für den Begriff und das Konzept des »Musters«, das die für ihre Belange interessanten Nachahmungsprozesse 29| Sabine Rückert: »Felix D. Wie das Böse nach Tessin kam«, in: Zeit-Magazin, Nr. 26, 21. Juni 2007, S. 14–30, hier S. 28. 30| Ebd. 31| Ebd., S. 27. 32| Vgl. Joachim Ehlers: Die Ritter. Geschichte und Kultur. München 2006, S. 39.
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in Gang setzt: »Ein persönliches Muster für ein Individuum oder eine Gruppe ist, genauer gesagt, eine menschliche Gestalt, die für dieses Individuum oder diese Gruppe Gegenstand des Nacheiferns sein soll oder faktisch ist.«33 Auf die technische Seite der Musterverteilung kommt sie schnell zu sprechen: In Gesellschaften, die sich des gedruckten Wortes bedienen, ist es möglich, die Muster ausfindig zu machen, die von Presse, Rundfunk, Fernsehen, Strafgesetzen und den sich mit jedem Wechsel der Ideologie ändernden Lebensläufen von Politikern propagiert werden.34
Dass die offiziell propagierten Muster aber nicht die eigentlich interessanten sind, ist ihr völlig klar: Die persönlichen Muster entzogen sich lange der Aufmerksamkeit, weil sie durch eine täuschende Terminologie verdeckt wurden. Sie verbargen sich in Diskussionen über die menschliche Natur, in denen es zumeist darum ging, wie der Mensch sein soll, Diskussionen, die den Anschein erweckten, von Tat sachen zu handeln.35
Klarer kann man es nicht formulieren. Natürlich hat es jedoch nichts Ritterliches, unschuldige Frauen und Kinder hinzumetzeln. Daß ein Mensch einen leichten Klaps auf die Wange als eine große Beleidigung auf faßte und den, der ihn beleidigt hatte, im Duell töten mußte, hat etwas Willkürliches. Daß er aber auf die kleinste Kränkung reagieren mußte, entsprang den Notwendigkeiten der militärischen Aristokratie.36
Die Brutalität entspringt wiederum einem Aspekt des Rittertums: Wer dem eigenen elitären Verband nicht angehört, wird auch nicht nach seinen Regeln traktiert. Das Ethos der Ritter, das die Selbstopferung, einen hohen Blutzoll im Kampf, die behelmte Maskierung, die schwere, eine übermenschliche Kraft annoncierende Panzerung und den Kult der Waffen empfiehlt, wird beispielsweise von den Amokläufern recht präzise umgesetzt. Und nur diese extreme Ansicht zeigt, wie das Verhalten des Amokläufers als Muster, das unter anderem der Ritterroman bereithält, in die moderne Gesellschaft ragt. Dort wird das literarische Genre von den Konkurrenzmedien popularisiert, umgeschrieben, verschärft und in eine noch dichtere Zirkulation getrieben. Statt der Reue des religiös-empfindsamen 33| Maria Ossowska: Das ritterliche Ethos und seine Spielarten [1973]. Frank furt/Main 2007, S. 15. 34| Ebd., S. 18. 35| Ebd., S. 19. 36| Ebd., S. 203.
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Memoirenwerks oder der Einsicht des Bildungsromans regiert hier die Rache. Amok-Biographien sind auf diesem Markt Antimuster, sind Antibildungsromane. Der Ritter ist bereit, mit Blut zu bezahlen, wenn er für seinen Namen in den Kampf zieht. Und so füllt sich ein beliebiger Name mit Blut. Plötzlich ist der Name wahrheitsfähig geworden: So installiert der Ritterroman einen eigentümlichen Wahrheitsbegriff: Wahr ist, wofür einer zu sterben bereit ist. Ein außerordentlich verführerischer Wahrheitsbegriff, insofern darin abstrakte Ideen mit der Poesie von Heldentaten zusammengeschlossen werden können.37
Das unzeitgemäße, nur aus Sicht des klassikzentrierten Literaturwissenschaftlers triviale Schema des Ritterromans taucht mitten in der modernen Gesellschaft wieder auf. »Vom Ritter wird erwartet, daß er sich unablässig mit seinem Ruhm beschäftigt. Der Ruhm bedarf der ständigen« – oder ultimativen – »Bestätigung«,38 schreibt Maria Ossowska. Der in diese Richtung auch nur oberflächlich Suchende trifft auf ein Konglomerat aus Beiträgen in Chat-Foren, Einträgen in eigens zu bestimmten Taten geführten und gefertigten Blogs. Es sind Textunterzeilen von eingestellten Privatvideos oder uferlose, von Polizeibehörden zur Abschreckung als Pdfs hochgeladene Tagebuchaufzeichnungen, die den (sub-)literarischen Kosmos der Täter wie vor allem ihrer redseligen Kommentatoren täglich anschwellen lassen. Es ist also kein wirklicher Registerwechsel, wenn immer wieder die Kunst, die Literatur, der Film in anspruchsvollen und trivialen Spielarten zu Wort kommt. Die Welten des Amok und die Welten der Unterhaltung sind untrennbar verschränkt.39 Die Durchmischung ist unablässig am Werk und in ihrer Anteiligkeit, in ihrer Reihenfolge oder gar in ihrer Kausalität niemals zu durchschauen.
37| Vgl. Michael Rutschky: Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren. Göttingen 1998, S. 139–170. 38| Ossowska: Das ritterliche Ethos, S. 87. 39| Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld 2008.
Abbildung 1: Graffitis (Namen und Wappen) aus der Geburtskirche Jesu in Betlehem
Abbildung 2: Der 17-jährige Gymnasiast Felix D. ermordete im mecklenburgischen Tessin mit einem Freund das Nachbarehepaar (Zeichnungen aus seinem Tagebuch)
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L ITER ATUR Ahrens, Henning: »Die erfundene Historie. Zum Phänomen der FantasyLiteratur«, in: Neue Rundschau 118 (2007), H. 1, S. 70–77. Bartsch, H. W.: »›Sitz im Leben‹«, in: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt o.J., Bd. 9, Sp. 937f. Borchardt, Rudolf: »Der ›Don Quijote‹ des Cervantes« (1926), in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. g. v. Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1992, S. 418–423. Christians, Heiko: »Gattungspoetik und Gemeinschaftsbildung. Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Literatur«, in: Matthias Schöning u. Stefan Seidendorf (Hg.): Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg 2006, S. 91–110. Christians, Heiko: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld 2008. Ehlers, Joachim: Die Ritter. Geschichte und Kultur. München 2006. Freund, Wieland: »Wir werden uns noch wundern«, in: Die Welt, 21. September 2007. Grimm, Reinhold R.: »Rezeptionsweisen des Ritterrromans in der Neuzeit«, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters, Vol. 1), S. 315–334. Hahn, Torsten: »Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs. Populäre Kommunikation in der modernen Raumrevolution«, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographie der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposion 2004. Stuttgart, Weimar 2005, S. 479–500. Hörisch, Jochen: »Das Tier, das es nicht gibt«, in: Die Literarische Welt 36 vom 10. September 2005, S. 1. Kipling, Rudyard: Puck vom Buchsberg [1906]. Übers. von E. Hardt. Leipzig o.J. Kluge, Alexander: ›Junge Männer wollen Helden sein‹ (Interview), in: Der Tagesspiegel, 5. Mai 2002. Köhler, Erich: »Gattungssystem und Gesellschaftssystem« (1977), in: Ders., Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. H. Krauss. Heidelberg 1982, S. 11–25. Le Goff, Jacques: Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des Mittelalters. München 2005. Maar, Michael: »Das Muster des Phönix. Was trennt den Potterianer vom Tolkienisten?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2005, Nr. 223, S. 43. Mangold, Ijoma: »Manufactum. Ein Katalog, der zur Bibel der Neuen Bürgerlichkeit wurde«, in: Die Zeit, 30. Dezember 2009, Nr. 1, S. 43. Mertens, Volker: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 1998.
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Kristalle Gattung und Ausdruck in medientheoretischer Sicht Hanjo Berressem
G ENESE | G ENEALOGIE | G ENUS | G AT TUNG | G ESCHICHTE Gattung und Geschichte, der Titel der diesem Band zugrundeliegenden Tagung, könnte Biologen problemlos als Beschreibung der Evolution dienen; der zeitlichen und räumlichen Ausdifferenzierung von Gattungen. Gruppen von Individuen mit ähnlichen und daher vergleichbaren Eigenschaften verändern sich in der Zeit.1 Evolutionsgeschichte ist dementsprechend das abstrahierende Narrativ dieser unendlich komplexen, oft unwahrnehmbaren Ausdifferenzierungsbewegungen. Nun ist der Rekurs auf Biologie und Evolution auch kurz nach dem Darwinjahr in den Literatur- und Kulturwissenschaften ein immer noch eher risikoreiches Unterfangen, auch wenn die Gattungstheorie selbst des Öfteren auf die Evolutionstheorie zurückgegriffen hat.2 Doch gerade deshalb werde ich versuchen, die Beziehung von Gattung und Geschichte anhand von evolutionstheoretischen sowie, damit in Zusammenhang stehenden, systemtheoretischen Aspekten zu skizzieren, die der Gattungstheorie auch nicht ganz fremd sind.3 1| Für Amerikanisten ist es schwierig, über Gattungen zu schreiben, da man im Englischen nicht von Genres und über diesen gelagerten Gattungen spricht, sondern von Genres und darunter liegenden, ausdifferenzierten ›subgenres.‹ Diese Sprachverwirrung faltet sich auf eine schon bestehende ter minologische Unsicherheit im Deutschen. So befand Klaus Hempfer schon 1973 die Terminologie zu Gattungsfragen als in einem »desolaten Zustand« (Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 14). 2| Vgl. Alastair Fowler: Kinds of Literature: An Introduction to the Theory of Genres and Modes. Oxford 1982, S. 166; Karl Viëtor: »Probleme der literarischen Gattungsgeschichte«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931), S. 425–447, hier S. 447. 3| Vgl. Hempfers »konstruktivistisches Gattungsverständnis« (Hempfer: Gat tungstheorie, S. 11) sowie seinen Verweis auf den »konstruktiven Konzeptualismus« (ebd., S. 36).
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Von den zwei Fragen die ich aufwerfen möchte, ist die erste zentrifugal: ›Wie weit greift der Begriff der Gattung über die Künste hinaus?‹, die zweite zentripetal: ›Wie verhält sich ein ausgeweiteter Gattungsbegriff zur Problematik des künstlerischen Ausdrucks?‹ Um diese Fragen anzugehen, werde ich die innerhalb der Gattungstheorie gängige Binnendifferenzierung von Form ‹—› Inhalt durch die Differenzierung Form ‹—› Medium ersetzen. Danach werde ich versuchen, die Ergebnisse dieser Ersetzung an Werner Herzogs Film Fitzcarraldo zu exemplifizieren. Zunächst jedoch zur Differenzierung Form ‹—› Inhalt.
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I NHALT
Gattungsdiskussionen spielen sich zumeist auf der Ebene der Interferenzen und Reibungen zwischen Form und Inhalt ab. In diesem Kontext sind Fragen wie ›Kann man einen Inhalt aus seiner spezifischen Form herauspräparieren und dementsprechend ohne Verlust von einer Gattung oder einem Genre in ein anderes übertragen?‹ seit geraumer Zeit dekonstruktiveren Fragen gewichen, deren Augenmerk hauptsächlich auf Fragen der Vermischung und der sowohl bewussten als auch unbewussten Aufweichung von Genres liegt: ›Wie spielt ein Text mit Genre- und Gattungskonventionen?‹ Hier siedeln sich literarische Texte wie Vladimir Nabokovs Pale Fire an, ein Text, der einen Roman als Gedicht mit Fußnotenapparat verkleidet, der fiktionale ›Auktionskatalog‹ Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Leonore Doolan and Harold Mortris, Including Books, Street Fashion, and Jewelry von Leanne Shapton, oder auch Bret Easton Ellis’ Lunar Park, eine als Horrorroman verkleidete Autobiographie beziehungsweise ein als Autobiographie verkleideter Horrorroman. Quentin Tarantinos Werk spielt in diese Fragestellung ebenso hinein wie generell die künstlerische Strategie des Samplings von Genrekonventionen und -versatzstücken. Im Zentrum des Interesses liegt die Problematik der Subversion, der Variation, der Maskerade, der Hybridität und der Performanz. Genres und Gattungen werden sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene als Modulationen verhandelt; als Hybride, die komplexe, ineinandergeschachtelte und sich stets verändernde Architekturen bilden.4 Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum von einer kulturwissenschaftlichen Warte aus gesehen das Konzept des Genres über die Künste hinaus ausgeweitet werden konnte. So ist es heute ohne weiteres möglich, Heterosexualität als ein spezifisches Genre innerhalb der Gattung menschlicher Sexualität zu verstehen; als eine Form beziehungsweise eine Formierung der Sexualität, innerhalb derer sexuelle Inhalte konstituiert werden; was nichts anderes heißt, als dass die Beziehungen von Form und Inhalt nicht nur die Kunst, sondern die Kultur insgesamt 4| Vgl. Fowler: Kinds of Literature, S. 191.
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durchdringen. Nicht umsonst evoziert der Begriff der Gattung aufgrund semantischer Nähe unvermeidlich den Begriff ›Gender.‹ Wie Jacques Derrida in seinem Text »Das Gesetz der Gattung« anmerkt, »[d]ie Frage der literarischen Gattung ist keine formale Frage: sie verschränkt sich sowohl mit dem Motiv des Gesetzes überhaupt« als auch mit »der sexuellen Differenz zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht (genre)«,5 wobei »das Gesetz des Gesetzes der Gattung« auch ein »Teilhaben ohne Zugehörigkeit« und somit eine »Ökonomie des Parasitären«6 denkbar macht. Ähnlich ist es in Bezug auf die Gattungsgeschichte, die, kulturwissenschaftlich gesehen, über den eng literarischen Kontext hinweg Michel Foucaults geschichtliche Abgelagerungen von Diskursformationen als Geschichte diskursiver Gattungen versteht. Wie Wilhelm Voßkamp anmerkt, »[d]ie Herausbildung literarischer Gattungen kann als Folge eines Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens dominanter Strukturen beschrieben werden.«7 Ebenso wie diskursive Formationen und Dispositive sind Gattungen »institutionalisierte Organisationsformen, in denen spezifische Welterfahrungen sedimentiert sind.«8 Gattungstheorie und -geschichte haben sich in der Vergangenheit an diesen Fragestellungen abgearbeitet. Wenn ich im Folgenden den Blickwinkel etwas verschieben möchte, dann nicht um diese Arbeit, die in letzter Zeit unweigerlich die Dekonstruktion mit einbezieht, in Frage zu stellen. Soweit mein Ausgangspunkt.
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Trotz aller konzeptuellen Dynamisierungen und begrifflichen Ausdifferenzierungen orientieren sich die gerade angesprochenen Fragestellungen zumeist an der Unterscheidung von Form und Inhalt, wobei auf der Ebene der Form auch der des individuellen künstlerischen Stils mit verhandelt wird. Die interne Aufteilung der Begriffe ist so, dass es innerhalb der unterschiedlichen künstlerischen Medien jeweils eher dem Formkomplex zugehörige ›Gattungen‹ und eher dem Inhaltskomplex zugehörige ›Genres‹ gibt. Was aber wäre, wenn man den heutigen Medienbegriff, d.h. den Medienbegriff, den man meint, wenn man ihn nicht genauer spezifiziert, durch einen strukturellen Medienbegriff ersetzen würde, so wie dies unter anderem Marshall McLuhan und Niklas Luhmann vorschlagen, wobei sich Luhmann sowohl von Fritz Heider als auch vom radikalen 5| Jacques Derrida: »Das Gesetz der Gattung«, in: Ders.: Gestade. Wien 1994, S. 245–284, hier S. 273. 6| Ebd., S. 252. 7| Wilhelm Voßkamp: »Gattungen«, in: Helmut Brackert u. Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 253–269, hier S. 259. 8| Ebd., S. 265.
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Konstruktivismus inspirieren lässt; insbesondere von seiner biologischen Variante, d.h. dem Werk von Humberto Maturana und Francisco Varela? Medien wären dann nicht mehr lediglich spezifische technologische Arrangements und Apparaturen, an die künstlerische Gattungen angelagert sind, beziehungsweise aus denen diese erst entstehen – zum Beispiel Literatur, Photographie, Malerei, Skulptur, Musik oder Film –, sondern ganz allgemein Gruppen ›lose gekoppelter Elemente‹, die zu größeren Ensembles geformt werden können bzw. sich selbst zu solchen Ensembles formieren. Von dieser Warte aus gesehen, stehen nicht mehr so sehr die Beziehungen von Form ‹—› Inhalt im Mittelpunkt, sondern die von Form ‹—› Medium; d.h. die unterschiedlichen Formierungen der immateriellen als auch der materiellen Träger; die mediale Ebene lose gekoppelter Elemente und die formale Ebene spezifischer Ensembles. Eine solche medientheoretische Änderung vorzuschlagen, ist zweifellos erst einmal legitim, ist es aber auch für die Gattungstheorie sinnvoll? Mit anderen Worten, was passiert, wenn man diese strukturelle Veränderung auf die Frage der Gattungen reflektiert? Als erstes verschiebt sich das theoretische Interesse vom Spiel innerhalb der Gattungsgeschichte und der Gattungsvielfalt, d.h. vom Spiel innerhalb immer schon ›gegebener‹ Gattungen hin auf die Emergenz von Gattungen; d.h. auf die Momente der ›Entstehung der Arten‹ innerhalb einer Multiplizität reiner Differenzen. War die Form vormals das Gegebene – die Gattung beziehungsweise das Genre –, innerhalb dessen sich Inhalte konstituieren, so ist sie nun selbst das Ergebnis eines Prozesses der Organisation innerhalb eines lose gekoppelten Mediums. Als zweites verschiebt sich das Interesse von der Konstituierung von Inhalten ›innerhalb‹ spezifischer Ausdrucksformen und im Vergleich zwischen Ausdrucksformen – wie zum Beispiel die Verhandlung der Liebe im Roman im Vergleich zur Verhandlung der Liebe in der Lyrik – auf die Tatsache, dass jede Form selbst schon Ausdruck ist; d.h. dass sich etwas – und die Frage ist natürlich nach diesem ›etwas‹ – immer schon in einer Form ausdrückt. ›Ausdruck‹ ist demnach nicht mehr formierter Inhalt, sondern formiertes Medium. Nun könnte man einwenden, diese Verschiebungen wären noch keine starken Argumente für den von mir vorgeschlagenen Wechsel des Medienbegriffs, denn all das könnte man auch mit Hilfe des technologischen Medienbegriffs verhandeln, und zweifellos hätte man Recht mit dieser Anmerkung. Ein weiterer, meines Erachtens weitreichenderer Vorteil des Wechsels kann jedoch nicht so leicht aus der technologischen Perspek tive heraus konturiert werden. Mittels der neuen Unterscheidung können künstlerische Gattungen und Genres an eine ›assemblage theory‹ angedockt werden, die es der Gattungstheorie und -logik erlaubt, nicht nur über die Künste hinaus zu greifen – dies wird ja, wie gezeigt, schon von der Dekonstruktion geleistet – sondern auch über die menschliche Kultur hinaus. Denn: Sind Gattungen im ersten Fall unweigerlich Formen ›menschlichen‹ Ausdrucks, so sind im zweiten Fall Menschen selbst Ausdruck einer erst einmal ›nicht-menschlichen‹ Medienmultiplizität. So
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gab es für eine gewisse Zeit die Angewohnheit eines Teils der gegebenen Molekülmultiplizität, sich zur Gattung der Dinosaurier zu formieren beziehungsweise sich als Dinosaurier auszudrücken; analog zur Angewohnheit von Buchstaben, sich über eine gewisse Zeit zu Briefromanen zu formieren, beziehungsweise sich als Briefroman auszudrücken. Analog dazu gibt es die Angewohnheit der Materie, von Masse angezogen zu werden. Man nennt das Naturgesetz, aber schon Charles Sanders Peirce hat betont, dass selbst Naturgesetze – und erst ›Recht‹ kulturelle Gesetze – keine Gesetze im strengen Sinne sind, sondern lediglich besonders hartnäckige, d.h. besonders stabile Angewohnheiten. Der Titel von Derridas Aufsatz wäre dementsprechend zu ändern in: ›Die Angewohnheit der Gattung‹. Die nächste Frage ist dann natürlich: ›Was ist eine Angewohnheit?‹ und ›Was verbindet eine Angewohnheit mit einer Gattung?‹ Der radikale Konstruktivismus, der sich sehr intensiv mit Angewohnheiten auseinandergesetzt hat, versteht Angewohnheiten als rekursive, systemschaffende und -erhaltende Operationen; d.h. als Operationen, die ein bestimmtes Eigenverhalten hervorrufen. Wobei es noch nicht einmal nur so ist, dass Systeme Eigenverhalten entwickeln, sondern dass von ›außen‹ kommende, rekurrente Irritationen von Systemen beziehungsweise von ›Beobachtern‹ als systemisches Eigenverhalten identifiziert werden; als eine Ansammlung von Eigenschaften beziehungsweise Angewohnheiten. Wäre der Systemtheoretiker Heinz von Foerster Gattungstheoretiker gewesen, so hätte er wahrscheinlich gesagt, dass jede Gattung das ist, was Beobachter aus einer Ökologie rekursiv ineinandergeschachtelter und vernetzter Angewohnheiten beziehungsweise Eigenverhalten zu einem größeren System abstrahieren; zum Beispiel zum System des Romans. Wenn Johann Wolfgang von Goethe in den Noten zum West-östlichen Divan notiert, dass »die Dichtarten bis ins Unendliche mannigfaltig«9 sind, so bildet diese Multiplizität die Voraussetzung für jede Art von Generalisierung – und damit auch ›Genrealisierung‹ – denn, wie Karl Viëtor anmerkt, gewinnt man den literarischen Gattungstypus durch Zusammenschau sämtlicher zur Gattung gehörigen Einzelwerke, er ist Abstraktion, d.h. begrifflich-schematische Bestimmung dessen, was sozusagen die nur in lauter Besonderungen wirkliche Grundstruktur, das ›Allgemeine‹ der Gattung ist. 10
9| Johann Wolfgang von Goethe: »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans«, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. München 1988, Bd. 2, S. 126–267, hier S. 188. 10| Viëtor: Probleme der literarischen Gattungsgeschichte, S. 432.
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Allgemein: Die Gattung ist ›abstrakt,‹ das Einzelwerk ist ›wirklich.‹ In den Worten von Gregory Bateson, der seinerseits Alfred Korzybski zitiert: »die Karte [ist] nicht das Territorium«.11 Gattungen sind aus dieser Perspektive lediglich Bezeichnungen für Ansammlungen von ›Besonderungen‹, d.h. von Angewohnheiten, durch die eine Multiplizität reduziert wird, da sie innerhalb der Multiplizität spezifische Formen medialen Ausdrucks identifizieren beziehungsweise erstellen. Dies geschieht dadurch, dass sie singuläre Kräfte und die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten und Potenzialitäten zu größeren Arrangements organisieren. Neue Gattungen ergeben sich innerhalb neuer Produktionsbedingungen oder neuer Ökologien; gattungsgeschichtliche Bifurkationspunkte sind solche, an denen das sichtbar, weil differenzierbar wird, was man in Analogie zur Evolutionstheorie als allgemeine ›Gattungsdrift‹ beschreiben könnte. Aus systemtheoretischer Sicht könnte man eine Gattung daher etwa so beschreiben: Die abstrahierende Zusammenfassung der Beobachtung, dass sich bei bestimmten Elementen, über das Einzelsystem innerhalb dessen diese Elemente als Teile fungieren hinaus, für eine bestimmte Dauer spezifische Angewohnheiten erkennen lassen, sich ähnlich zu formieren. Man braucht demnach, um von einer Gattung sprechen zu können, lediglich die Grundangewohnheit, sich zu formieren, sowie die darüber gelagerte Angewohnheit, sich in einer bestimmten und von Beobachtern erkennbaren Form zu formieren. All dies läuft streng parallel zur Evolutionstheorie. Analog zu biologischen Gattungen als konzeptuellen Begriffen, anhand derer man die reine Multiplizität biologischen Lebens reduziert, sind künstlerische Gattungen die konzeptuellen Begriffe, anhand derer man die reine Multiplizität der Kunst reduziert. Gattungen sind die Werkzeuge der Konzeptualisierung und der Typisierung künstlerischen Ausdrucks. Und da man in Begriffen denkt, sind Gattungen und Genres im Endeffekt die lose gekoppelten Elemente – d.h. die Begriffe – sowohl einer Philosophie als auch einer Theorie der Kunst. Als solche sind Gattungs- und Genreunterscheidungen unumgänglich, und ohne sie ist sowohl Kunstwissenschaft als auch Kunstschaffen nicht denkbar. Trotzdem eröffnet dies einen Streit, der vielleicht noch zugespitzter ist als der zwischen Deduktion und Induktion, und der sich an den Streit zwischen Universalisten und Nominalisten anschließt, welcher sich durch die gesamte abendländische Philosophie und Ästhetik zieht.12 Und weil dieser Streit so ungeheuerlich ist, ist es opportun, sich erst ein-
11| Gregory Bateson: »Form, Substanz und Differenz«, in: Ders.: Ökologie des Geistes. Frankfurt/Main 1985, S. 576–598, hier S. 577. Zuerst in: Alfred Kor zybski: »A Non-Aristotelian System and its Necessity for Rigour in Mathematics and Physics«, in: Science and Sanity 1933, S. 747–761. Siehe dazu auch Jorge Luis Borges: »Von der Strenge der Wissenschaft«, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen. München 1970, S. 346. 12| Vgl. Hempfer: Gattungstheorie, S. 31 und S. 128.
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mal hinter einem Schriftsteller, Witold Gombrowicz, und einem Philosophen, dem Pastor Søren Kierkegaard, zu verstecken: Der deutsche Philosoph Hegel schuf Anfang des vorigen Jahrhunderts sein berühmtes metaphysisches System, ein Meisterwerk seiner Art. Hegels Zeit genos se, der dänische Pastor Kirkegaard, eine leidenschaftliche Natur, war ein Ver ehrer des Philosophen, ein so radikaler Verehrer, daß er eines Morgens ungefähr folgendes enthüllte: »Hegels Ausführungen«, sagte Kirkegaard, »sind herrlich und ohne logischen Makel; trotzdem ist diese ganze Philosophie keinen Deut wert und kann uns gar nichts nützen!« »Warum?« fragten Kirkegaards Zuhörer erstaunt über dieses ebenso uner war tete wie vernichtende Urteil. »Weil«, antwortete Kirkegaard, »Hegel mit Begriffen operiert. Was aber ist ein Begriff? Wenn ich viele Pferde sehe, wenn ich sehe, daß sie alle bestimmte gemeinsame Kennzeichen haben, sage ich: Das Pferd ist ein Tier mit vier Beinen und einem Schwanz, es frißt Gras usw. – ich formuliere den abstrakten Begriff Pferd. Nur… ein abstraktes Pferd ist genau das, was es nicht gibt! Dieses abstrakte Pferd wurde nur in unserem Geist geboren. Im Leben, in der Existenz, begegnen wir allein konkreten Pferden aus Fleisch und Blut, individuellen Pferden, von denen jedes ein bißchen anders ist und einzig in seiner Art. Deshalb eignet sich Hegels Philosophie, ähnlich früheren Philosophien, nicht für das Leben, sie ist nur ein Aufstellen von Formeln, mehr nicht. Denn das Leben ist konkret und die Philosophie nur eine logische Zusammenstellung von Begriffen. Das Leben entrinnt den Begriffen wie Wasser den Fingern.« 13
Auf die Gattungstheorie übertragen hieße dies, dass die konkrete Multiplizität von Kunstwerken, und damit ihre spezifischen Intensitäten und Affektivitäten, der Gattungstheorie entrinnt wie Wasser den Fingern: Der abstrakte Begriff verfehlt stets, mehr oder weniger grandios, das konkrete Leben. Ich möchte dies nun auf keinen Fall als Kampfansage gegen Begriffe verstanden wissen. Das wäre nicht nur verwegen, sondern, und dies ist wichtiger, es wäre zu einfach. Die Kunst und das Denken insgesamt können den Gattungen und Genres schon daher nicht entkommen, da diese eine systemische Geschichte und ein sowohl bewusstes als auch unbewusstes systemisches Gedächtnis haben. Man kann sich weder aus Gattungs- und Genrenormen noch aus Gattungs- und Genregeschichten lösen, denn diese bilden nicht nur die begriffliche Umwelt eines jeden Kunstwerks, sondern auch seine künstlerische Umwelt, wobei der erste Kontext überwiegend die Ebene der Rezeption, der zweite die Ebene der Produktion adressiert. Dennoch ergibt sich an dieser Stelle eine grundsätzliche Frage: ›Wenn es so ist, dass Gattungsbegriffe konkrete Kunstwerke unweigerlich reduzieren, weil sie sie verallgemeinern, wie könnte man dann eine Gattungs- und Genretheorie von der Medienmultiplizität, und nicht vom Begriff und von der Form her, theoretisieren beziehungsweise 13| Witold Gombrowicz: Argentinische Streifzüge und andere Schriften. Hg. v. Rolf Fieguth u. Fritz Arnold. München 1991, S. 98f.
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denken?‹ In anderen Worten: ›Kann man den Gattungsbegriff unendlich nach unten skalieren?‹14 Und: ›Gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen einer Kunst, die zu einer Gattung emergiert, in dem Sinne, dass sie sich aus einer konkreten Lokalität und Singularität heraus an etwas Abstrakt-Globales ankoppelt, und einer Kunst, die aus einer Gattung emergiert, indem sie etwas abstrakt-globales in eine konkrete Lokalität und Singularität gießt?‹ Die erste Art Kunst entwickelt sich immer aus einer Eigenart heraus, d.h. sie ist die Modulation von etwas Eigentlichem, das zweite ist die Variation eines vorgegebenen Musters, d.h. sie ist die Variation einer abstrakten Form. Die erste beginnt als Singularität innerhalb einer Medienmultiplizität, die zweite beginnt innerhalb eines Gattungsbegriffs: Die erste beginnt im Leben und faltet sich in die Kunst, die zweite beginnt in der Kunst. Die erste ist eher expressiv (›ausdrücklich‹), die zweite ist eher repräsentativ (›mimetisch‹).
EIGENARTIGE FILME
| ALLES GEFILMTE IST VON JEMANDEM GEFILMT
Ich werde dieses Verhältnis an einem filmischen Beispiel illustrieren. Meine These ist folgende: Viele Filme – und, daran angeschlossen, ein großer Bereich der zeitgenössischen, meist in irgendeiner Weise dem Genre der Dekonstruktion nahestehenden, Filmtheorie – figurieren das interne Spiel von Begriffen|Gattungen. Weniger Filme figurieren die Emergenz von Begriffen|Gattungen, und nur ganz wenige verkörpern die reine Emergenz. Solche Filme verweisen weder auf bestehende Begriffe, noch auf die Emergenz als Prozess der Verhärtung und Konsolidierung einer Multiplizität in Begriffe. Sie sind nicht ›begrifflich‹ und daher können sie schlecht ›auf den Begriff‹ gebracht werden. Sie erwecken den Anschein reiner Solitäre bzw. Kristalle. Es fällt genauso schwer, sie einzuordnen, wie aus ihnen heraus Muster zu abstrahieren. Sie fallen auf eine reine Singularität zurück, d.h. sie haben eine Tendenz zur Implosion. Natürlich sind sie keine echten Solitäre, denn jede Singularität ist evolviert und hat eine spezifische Position und ein spezifisches systemisches Gedächtnis. 14| Die Bewegung ist vergleichbar mit der von Bateson beschriebenen unendlichen Verfeinerung bzw. ›Molekularisierung‹ der Karten: »Wir sagen, daß sich die Karte von dem Territorium unterscheidet. Aber was ist das Ter ritorium? Technisch gesehen ist jemand mit einer Retina oder mit einer Meßlatte ausgezogen und hat Abbildungen gemacht, die dann auf Papier über tragen wurden. Was sich auf der Papierkarte findet, ist eine Abbildung des sen, was in der Netzhaut-Abbildung desjenigen war, der die Kar te gemacht hat; und wenn man die Frage weiter nach hinten verlegt, gelangt man zu einem unendlichen Regreß, einer unendlichen Reihe von Kar ten. Das Territorium selbst kommt nie ins Spiel. Das Territorium ist Ding an sich, und man kann nichts damit anfangen. Der Prozeß der Abbildung wird es immer herausfiltern, so daß die geistige Welt nur aus Karten von Karten von Kar ten ad infinitum besteht« Bateson: Form, Substanz und Differenz, S. 584.
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Dennoch sind sie in ihrer Isolation innerhalb der Gattungs- bzw. Begriffslandschaft merkwürdig ›anonym.‹ Man könnte sie als das bezeichnen, was Deleuze und Guattari im Kapitel »Tier Werden« von Tausend Plateaus ›Anomale‹ nennen.15 Diese sind weder als Teil einer Gattung noch als Individuum denkbar. Sie haben nichts mit dem bevorzugten, domestizierten und psychoanalytischen Individuum zu tun. Und das Anomale ist erst recht kein Gattungsträger, der art spezifische und gattungsgemäße Eigenschaften im Reinzustand aufweist […]. Das Anomale ist weder Individuum noch Gattung, es ist nur ein Träger von Affekten und umfaßt weder […] artspezifische oder signifikative Eigenschaften.16
Anomale verkörpern eine sowohl unter der Gattung als auch unter dem Individuum her laufende Mannigfaltigkeit, aus der sowohl Individuen als auch Gattungen entstehen. Wenn man das Konzept des Anomal aus den biologischen Registern herauslöst, dann sind Anomale Inkarnationen einer reinen, anonymen Affektlandschaft bzw. -ökonomie; d.h. einer gegebenen, konkreten Multiplizität. Diese wird weder durch die Elemente [definiert], die sie in extenso zusammensetzen, noch durch Eigenschaften, die sie im Auffassungsvermögen [compréhension] zusammensetzen, sondern durch die Linien und Dimensionen, die sie in ›intensio‹ enthält.17
Baruch de Spinozas Affekttheorie beschreibt Tiere ganz ähnlich als nicht ›generierbar‹, denn sie werden weniger durch abstrakte Begriffe wie Art und Gattung definiert, als durch eine Macht, affiziert zu werden, durch die Affektionen, deren sie ›fähig‹ sind, und durch die Reize, auf die sie in den Grenzen ihres Vermögens reagieren. 18
Deleuze verweist in diesem Zusammenhang auf Spinozas Definition des Körpers als eine Singularität beziehungsweise eine Multiplizität von Affekten; als »einzelne Wesenheit«,19 die weder Teil eines Genus noch eines Genre ist, sondern eine singuläre Mixtur beziehungsweise eine Menge lose gekoppelter, ungeformter Elemente; ein Feld virtueller Potentialitäten das stets neu und stets anders aktualisiert wird.
15| Moby Dick ist solch ein Anomal; nicht umsonst eine Figur aus einem genretheoretisch notorisch ungreifbaren Text. 16| Gilles Deleuze u. Felix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie: Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 333f. 17| Ebd., S. 334. 18| Gilles Deleuze: Spinoza: Praktische Philosophie. Berlin 1988, S. 38f. 19| Ebd., S. 38.
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H ANJO B ERRESSEM Wir nennen die Länge eines Körpers die Gesamtheit der Verhältnisse von Schnelligkeit und Langsamkeit, Ruhe und Bewegung zwischen Teilchen, die ihn unter diesem Gesichtspunkt zusammensetzen, d.h. zwischen nicht geformten Elementen. Weiter nennen wir die Gesamtheit der Affekte, die einen Körper in jedem Augenblick ausfüllen, d.h. die intensiven Zustände einer anonymen Kraft (Existenzkraft, Macht, affiziert zu werden).20
In Bezug auf die Körper genreloser Filme macht Spinozas Körperkonzept sinnfällig, in welcher Hinsicht eine ›Genrealisierung‹ stets die abstrahierende Reduktion einer Multiplizität impliziert. So enthält »ein Körper, so klein er auch sei, immer unendlich viele Teilchen«21 In erster Instanz wird er durch »seine Verhältnisse von Bewegung und Ruhe, von Langsamkeit und Schnelligkeit«22 zwischen diesen Teilchen definiert. Diese bilden die Grundlage für jedwede Evolution: Das heißt, daß er nicht durch eine Form oder durch Funktionen definiert wird. Globale Form, spezifische Form und der Entwicklungsverlauf einer Form hängen von diesen Verhältnissen ab, nicht umgekehrt.23
Darum muss es in einer Evolutionstheorie, und auch in einer Gattungstheorie darum gehen, das Leben, jede Individualität des Lebens, nicht als eine Form oder Forment wicklung zu begreifen, sondern als komplexes Verhältnis zwischen Dif ferentialgeschwindigkeiten, zwischen Verlangsamung und Beschleunigung von Teilchen. Eine Zusammensetzung von Schnelligkeit und Langsamkeit auf einem Immanenzplan.24
Das, was ich ›eigenartige‹ Filme nennen möchte, d.h. Filme, die scheinbar ihre eigene Gattung beziehungsweise ihre eigene Art sind, drücken keinen Inhalt aus; sie sind selbst Ausdruck. Im Extremfall: Ausdruck reiner Multiplizität. Bei solchen Filmen geht es weder darum, einen Inhalt in eine gegebene Form zu gießen und sich somit einer gegebenen Formierung zu unterwerfen, noch darum, eine gegebene Form zu variieren oder zu subvertieren; d.h. es geht weder um Präformation noch um Deformation. Jeder kennt Beispiele hierfür. Manche Filme – man nennt diese Filme dann gerne Genrefilme – verlieren sich in Vorgaben, rekapitulieren Muster, folgen kulturellen Angaben und Routinen, verlieren dabei jedoch ihre Eigenheit, ihren Eigenwert beziehungsweise ihre Eigentlichkeit. Es sei denn, man sagt, diese Filme machen diesen Verlust wiederum 20| Ebd., S. 165. Siehe auch: Deleuze u. Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie, S. 354. 21| Deleuze: Spinoza, S. 159. 22| Ebd., S. 160. 23| Ebd. 24| Ebd.
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zu ihrer spezifischen Eigenart, oder auch: solche Filme seien postmodern. Die meisten dieser Filme sind, wie Roland Barthes sagen würde, voller Studium, aber ohne Punktum, denn auch das Punktum ist eine atopische Singularität ohne Genre. Beide dieser Modi funktionieren sehr gut innerhalb einer gegebenen Medienökologie, weil sie auf ›pattern recognition‹ d.h. auf Mustererkennung und damit auf Wiedererkennung basieren. Sie funktionieren innerhalb einer Logik der Generalisierung und dienen daher immer auch der Genrealisierung. Selbst wenn sie Begriffe|Gattungen dekonstruieren, tun sie dies aus einer gegebenen Begriffs- beziehungsweise Gattungslandschaft heraus. Ihr Typus beziehungsweise ihr Modus ist zumeist die Repräsentation, d.h. sie operieren auf dem, was Deleuze ›Transzendenzebene‹ nennt. Im zweiten Fall geht es darum, dass sich eine gegebene, anonyme Medienvielfalt beziehungsweise Medienumwelt eine singuläre Form beziehungsweise eine Systemökologie schafft, um ›sich‹ innerhalb dieses Prozesses der Morphogenese beziehungsweise der Autopoiese auszudrücken. Von dieser Warte aus ist ein Film eine zeit- und ortspezifische Reaktion auf die Problematik der radikalen Beziehung zwischen Kunst und Leben. Es handelt sich nicht so sehr um die künstlerische Darstellung eines Inhalts, sondern darum, wie sich ein filmischer ›Affektblock‹ aus der Multiplizität des Lebens heraus in die Multiplizität eines künstlerischen Ausdrucksmediums einfaltet und innerhalb dessen ausdrückt. Spinozas Definition des Affekts vermittelt genau zwischen diesen Serien; einer Serie körperlicher und einer Serie geistiger Multiplizität: Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen […].25
Für meine weiteren Überlegungen ist wichtig, dass diese beiden Serien radikal unabhängig, aber gerade in ihrer Unvereinbarkeit beziehungsweise Inkompatibilität verbunden sind: »Der Körper kann die Seele nicht zum Denken, und die Seele den Körper nicht zur Bewegung oder zur Ruhe […] bestimmen«,26 notiert Spinoza. Deleuze verhandelt diese Serien als virtuell-intensive Serie und aktuell-extensive Serie; wobei er ihre Beziehung als »reziproke Voraussetzung«27 konzeptualisiert: Die virtuelle, relationale Serie ist immer aktualisiert, d.h. verräumlicht und verkörpert, und umgekehrt. Diese Gegenseitigkeit ist wörtlich zu nehmen, als räumliche Abbildung der zwei Serien aufeinander: »[W]ir haben es hier mit voll25| Benedictus de Spinoza: Sämtliche Werke. In 7 Bänden und 1 Ergänzungsband. Bd. 2: Die Ethik nach geometrischer Methode vorgestellt. Übers. von Otto Baensch. Hg. v. Carl Gebhardt. Hamburg 1989, S. 110. 26| Ebd., S. 113. 27| Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild: Kino 2. Übers. von K. Englert. Frankfurt/Main 1991, S. 96f.
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ständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten zu tun;«28 d.h. topologisch, mit einer projektiven Fläche. Das Kino bringt die beiden Serien in eine affektive Resonanz. Da es in Affekten und Perzepten ›denkt‹,29 schafft es aus »Empfindungen Monumente.«30 Wie ist die ›reziproke Voraussetzung‹ der Serien in den Registern des Kinos zu denken? In Werner Herzogs Kino tritt das Leben nicht innerhalb der Kategorien des Kinos auf. Vielmehr wird das Kino in die Kategorien des Lebens geworfen, von wo aus es die beiden Serien, innerhalb eines spezifisch kinematographischen Empfindungsblocks, aufeinander abbildet. In anderen Worten: Das Kino extrahiert ein immaterielles, virtuelles Ereignis aus den materiellen, aktuellen Sachverhalten. Es virtualisiert, d.h. es ›spiritualisiert‹ das Aktuelle aus dem immer schon aktualisierten, menschlichen Leben heraus und dreht so die unweigerliche Aktualisierung des Virtuellen innerhalb der bio-physischen Erstellung menschlichen Lebens um. In dieser kinematographischen Gegenaktualisierung wird ein metaphysisches Ereignis in einen physischen Sachverhalt eingespeist und gleichzeitig filmisch aus dem Sachverhalt extrahiert. Die Filmproduktion ist die materialisierende Aktualisierung der virtuellen Vision – des kinematographischen concetto –, während die Komposition die immaterialisierende Gegenaktualisierung der aktualisierten Sachverhalte ist. Wenn die Aktualisierung das Virtuelle extensiviert, dann virtualisiert die Gegenaktualisierung das Extensive. In Deleuzes zeitlichen Registern: Wird das virtuelle, aionische Ereignis in chronischen Sachverhalten aktualisiert, dann extrahiert die Gegenaktualisierung ein aionisches Konzept beziehungsweise einen Begriff aus dem Reich des Chronischen: Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann wenn man es […] auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegen-verwirklicht es immer dann, wenn man von den Sachverhalten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen.31
Es geht um die Freisetzung visionärer Energie – den Film – aus der Schwere der aktuellen Welt heraus; philosophisch: um die Emergenz von Begriffen|Gattungen, filmisch: um die Erstellung eines Empfindungs- beziehungsweise eines Ausdrucksblocks. Bei Fitzcarraldo wird dieses Ineinandergreifen von Produktions- und Kompositionslogik anhand einer Spiritualisierung, d.h. einer Gegenaktualisierung eines ›unfertigen‹ Urwalds durchgespielt: Die Eroberung des Nutzlosen, Herzogs Tagebuch der Produktion von Fitzcarraldo, ist ein trotziges Anschreiben gegen diesen aktuellen, ›tatsächlichen‹ Urwald aus 28| Ebd., S. 97. 29| Ebd., S. 75. 30| Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Was ist Philosophie? Übers. von B. Schwibs und J. Vogl. Frankfurt/Main 2000, S. 236. 31| Ebd., S. 186. ›Gegenaktualisierung‹ wäre eine terminologisch genauere Übersetzung als ›Gegenverwirklichung‹.
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dem Urwald heraus: »Die Flüsse haben Nachts Fieber,«32 schreibt Herzog, »[e]ine junge Frau säugte ein neugeborenes Schwein«.33 »Gegen den Urwald sind die Mächte des Himmels machtlos.«34 Herzog ist »[z]utiefst unversöhnt mit der Natur,«35 denn diese ist ein »Streik gegen menschliches Mühen, in Permanenz.«36 Über dem Urwald »siedet ein Haß. Wo in den Tiefen der Geschichte ist uns das Wort ruchlos abhanden gekommen«?37 Der Urwald ist ein Triebtäter. »[O]bszön. Alles ist Sünde, deshalb fällt die Sünde als Sünde nicht auf.«38 »Den Urwald freut jede Unzucht.«39 Der Fluss ist »wie immer gewissenlos schön«40 und strömt »planlos vor sich hin.«41 »Der Wald war von süßlicher, schöner Fäulnis erfüllt.«42 Man ist »an den Fundamenten der dinglichen Welt.«43 Die Pflanzenvielfalt ist eine Überlagerung von Schmarotzern. Das »majestätische[ ] Elend des Urwalds«44 ist umfassend und riesenhaft. Alles ist voller »Grotesken«45 und Schimmel.46 Truthähne kopulieren mit sterbenden Enten: »Schweiß, Gewitterbrüten, schlafende Hunde. Es riecht nach alterndem Urin. In meiner Suppe schwammen Ameisen und Käfer als Geleitzug der Fettaugen. Allmächtiger, schick uns ein Erdbeben.«47 Der Urwald ist dem Menschen jedoch nicht nur aufgrund seines zügellosen und ungerichteten ›all-over‹ Wucherns unzugänglich, sondern mehr noch, weil seine Zeit die pure Gegenwart ist. Der chronische Puls der Zeit. Alles lebt »ausschließlich in der Gegenwart«.48 Nur manchmal erhebt sich, unendlich träge, ein Ereignis aus den chronischen Sachverhalten; ein Werden löst sich zäh aus dem Sein. Der Urwald ist nicht einmal ungezähmt und ›ferus‹, sondern lediglich stumpf, blöde, und schwerfällig: brutal im Sinne von ›gravis‹. In Francis Bacon: Die Logik der Sensation beschreibt Deleuze eine Produktionsstrategie, die der von Herzog ähnlich ist. Wie sich Bacon durch zu Anfang des Malprozesses auf die Leinwand hingeschmierte Farbland32| Werner Herzog: Eroberung des Nutzlosen. München 2004. S. 19. 33| Ebd., S. 87. 34| Ebd. 35| Ebd., S. 83. 36| Ebd., S. 97. 37| Ebd., S. 113. 38| Ebd., S. 119. 39| Ebd., S. 168. 40| Ebd., S. 135. 41| Ebd., S. 149. 42| Ebd., S. 182. 43| Ebd., S. 228. 44| Ebd., S. 279. 45| Ebd., S. 294. 46| Vgl. ebd., S. 259. 47| Ebd., S. 58. 48| Ebd., S. 192.
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schaften der Welt kultureller und begrifflicher Clichés entzieht, die eine weiße Leinwand unweigerlich hervorrufen würde, da sie lediglich als Untergrund für die Projektion von Formen dient, so entzieht sich Herzog den Clichés der Gattungslandschaft durch sein Eintauchen in die Urwelt ungeformter, schwerer Medien. Der von der Natur hingeschmierte Urwald bildet – wie der Dschungel der anonymen Schmierereien, der farblichen Affekte und der zufälligen formalen Relationen bei Bacon – das Diagramm einer unfertigen Schöpfung, aus dem heraus sich die filmische Komposition entwickelt. Bei Bacon ist die Aufgabe des hingeschmierten Diagramms, eine erste, leichte Verlangsamung der unendlich schnellen Bewegungen innerhalb der Immanenzebene herbeizuführen. Aber auch wenn das Diagramm »ein Halte- oder Ruhepunkt« in Bacons Bildern ist, so ist es dennoch »ein Ruhepol, der von der größten Unruhe umschlossen wird oder umgekehrt selbst das aufgewühlteste Leben umschließt.«49 Inmitten der »höchsten Unruhe der Materie«50 operiert das Diagramm als analoger »Modulator«,51 aus dem »in einem Präsenzfeld oder auf einer begrenzten Ebene, deren Momente allesamt aktuell und sinnlich wahrnehmbar sind«,52 Figuren entstehen, wenn der schöpferische Akt gelingt: Das Wesentliche am Diagramm liegt darin, daß es dafür gemacht ist, daß etwas aus ihm her vorgeht, [genauer: ›emergiert‹] und die Schöpfung mißlingt, wenn nichts aus ihm hervorgeht.53
Das Diagramm vermittelt somit in der Frage an die Malerei: wie »von der faktischen Möglichkeit zum Faktum gelangen«?54 So wie die Elemente der vorphilosophischen Immanenzebene »diagrammatische Merkmale«55 sind, sind die diagrammatischen Schmierereien vormalerisch beziehungsweise vorfilmisch.56 Das Diagramm – bei Bacon die hingeschmierte Farbe, bei Herzog der hingeschmierte Urwald – ist vorbegrifflich und liegt somit vor jedem Genre und jeder Gattung. Vielmehr bildet es das Feld, aus dem Begriffe und Gattungen emergieren.
49| Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation. Übers. von Joseph Vogl. München 1995, S. 84. 50| Ebd. 51| Ebd. 52| Ebd., S. 72. 53| Ebd., S. 97. 54| Ebd. 55| Deleuze u. Guattari: Was ist Philosophie, S. 47. 56| Ich schlage vor, das vormalerische von dem abzugrenzen, was Deleuze »präpikturales Figuratives« (Deleuze: Bacon, S. 60) nennt. Das vormalerische ist aktuell, während sich das präpikturale »im Kopf des Malers« (Deleuze: Bacon, S. 60) befindet, und somit eher dem concetto zugeordnet ist. Das vormalerische ist aktuell, das präpikturale virtuell.
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Für Herzog liegt die Aufgabe des Kinos dementsprechend nicht darin, von außen eine visuelle Vision in die Sachverhalte zu projizieren. Es muss eine visuelle Vision beziehungsweise ein Ereignis aus den Sachverhalten heraus komponieren und sie – in kinematographische Bilder transsubstantiiert und transmutiert – an diese Sachverhalte zurückzugeben: Man muss den Urwald virtualisieren und diese Virtualisierung gleichzeitig aus dem Urwald heraus filmisch komponieren. Wenn bei Fitzcarraldo die Figur des rein Aktuellen der Urwald ist, so ist die Figur des rein Virtuellen die Oper: So wahr ich vor Ihnen stehe, werde ich eines Tages große Oper in den Urwald bringen! Ich bin … in der Überzahl! Ich bin die Milliarden! Ich bin das Schauspiel im Wald!« 57
Das Zitat ist Eroberung des Nutzlosen vorangestellt. Im Film schleudert Fitzcarraldo es einem Kautschuk-Baron ins Gesicht, der seine Vorführung der Musik Carusos auf einem Fest unterbricht. Zum Inhalt: Die Urszene von Herzogs Projekt ist eine reale Begebenheit: Um 1890 transportiert der Kautschuk-Baron Carlos Fermín Fitzcarrald mitten im Urwald ein Dampfschiff über einen Isthmus von einem Fluss zum anderen. Herzog ändert jedoch die Vorzeichen. Waren bei Fitzcarrald die Beweggründe für den Kraftakt ökonomisch, so ist Geld – das er sich bei seiner Freundin Molly, gespielt von Claudia Cardinale, leiht – bei Fitzcarraldo nur Mittel zum Zweck, denn sein Ziel ist, im peruanischen Iquitos eine Oper zu errichten. Herzog ist von diesem visionären Bild, in dem die Erhabenheit der Oper mit der Erhabenheit der Vision und der Niedertracht der unfertigen Natur kurzgeschlossen wird, fasziniert. Als wenn die Vision der Oper den Urwald mit Erhabenheit infizieren könnte, wird Fitzcarraldo zu Anfang des Films bei einer Opernvorführung im Teatro Amazonas in Manaus erst »Zeuge des Erhabenen«,58 dann sieht er, aus der Oper herauskommend, die ›Antwort‹ der Natur: »In spektakulärer Verzückung verbrennt sich der Himmel.«59 Gegeben sind für Herzog, symptomatisch, ein singuläres Bild und ein singulärer Affekt: Wie bei der irrwitzigen Wut eines Hundes, der sich in das Bein eines bereits toten Rehs verbissen hat […], hatte sich in mir eine Vision festgekrallt, das Bild von einem großen Dampfschiff über einen Berg – das Schiff sich aus eigener Kraft einen steilen Hang im 57| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 5. 58| Werner Herzog: Fitzcarraldo / Wo die grünen Ameisen träumen: Filmerzählungen. Berlin 1987, S. 14. 59| Ebd., S. 82.
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Dementsprechend ist die Erstellung des Filmskripts nicht an ein Genre oder eine Gattung angeschlossen. Herzog inszeniert sie als reinen Ausdruck eines intensiven Affekts; oder: als Ausdruck eines reinen Affekts: Fenster voll wahnsinnig gewordenen Lichts, und an der Wand habe ich mit Lineal und scharfem Bleistift ein mathematisch genaues Fadenkreuz angebracht. Das ist alles, was ich sehe, der Punkt an dem sich die Linien schneiden. Die Arbeit an dem Drehbuch in großer Wut und Dringlichkeit. Es wird nur etwas mehr als eine Woche an besinnungslosem Starren auf den einen Punkt sein.61
Fitzcarraldo entsteht aus dieser Kreuzung des Urwalds und der Oper im Fadenkreuz des Kinos. In Herzogs Einbildung wird Fitzcarralds »Herausforderung des Unmöglichen«62 jedoch sowohl ins Maßlose und scheinbar Wahnsinnige, als auch ins ›Nutzlose‹ verstärkt: Ging es bei Aguirre: der Zorn Gottes um koloniale Eroberung, so geht es bei Fitzcarraldo wirklich um ›die Eroberung des Nutzlosen‹. Das Schiff ist zehnmal schwerer. Und während Fitzcarrald es auseinanderbauen lässt, muss es bei Herzog an einem Stück transportiert werden, damit das visionäre Bild sich aktualisieren kann. Nie jedoch steht lediglich die rein athletische Aktion im Mittelpunkt. Das Schiff muss »nicht um des Realismus willen, sondern wegen der Stilisierung eines großen Opernereignisses«63 über den Berg gezogen werden. Es geht um die gleichzeitige Spiritualisierung des Aktuellen und die Aktualisierung der Vision. Schon bevor er die Oper in den Urwald bringen will, wollte Fitzcarraldo mittels einer Eismaschine kristalline Kälte in den permanent überhitzten Urwald bringen; coincidentia oppositorum. Um ein solches Filmprojekt zu realisieren, muss die Produktion ganz empirisch und pragmatisch in den Urwald getränkt werden. Die Ebene der filmischen Komposition liefert dabei zwar eine Übersicht über ihre Komponenten, sie löst sich jedoch nie von deren Ebene: Sie durchkreuzt die Elemente, ohne je eine Distanz zu ihnen aufzubauen. Deleuzes Kurzschrift für diese Art der Erstellung einer Übersicht mittels der Durchkreuzung eines Milieus ist der von Raymond Ruyer inspirierte Begriff des »distanzlosen Überfliegens […] unabhängig von jeder zusätzlichen 60| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 7. 61| Ebd., S. 8. 62| Herzog: Fitzcarraldo / Wo die grünen Ameisen träumen, S. 86. 63| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 10.
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Dimension.«64 Trotz dieser Distanzlosigkeit ist sie jedoch von den Elementen kategorisch getrennt, da sie im Gegensatz zu diesen unkörperlich ist. Wiewohl sie in Körpern inkarniert ist, ›mischt‹ sie sich nie mit den 64| Deleuze u. Guattari: Was ist Philosophie, S. 250. (Raymond Ruyer: Néofinalisme. Paris 1952). In Kapitalismus und Schizophrenie: Tausend Plateaus bezeichnen Deleuze und Guattari diese Distanzlosigkeit als Kennzeichen von Rhizomen als »lineare Mannigfaltigkeiten mit n Dimensionen […] die auf einer Konsistenzebene verteilt werden können und von denen das Eine immer abgezogen wird (n–1)« (Deleuze u. Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie, S. 36).
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Sachverhalten, in denen sie sich aktualisiert. Es handelt sich immer noch um zwei inkompatible Ebenen, die attributiert werden sollen. Aus den Sachverhalten heraus erstellt Herzog Blöcke affektiver Bilder und Bewegungen, deren Konsistenz durch die visuell-filmischen Komposition getragen wird. Der Film bildet somit das, was Deleuze eine Kompositionsbeziehungsweise eine Konsistenzebene nennt. Dies ist, folgerichtig, der Grund für Herzogs erbitterten Kampf gegen Spezialeffekte. »Es gilt,« so schreibt er, in Hollywood als nicht diskutierte Selbst verständlichkeit, ein Modellschiff aus Plastik über einen Studiohügel zu ziehen, möglicherweise sogar in einem botanischen Gar ten […], und ich sagte, die nicht diskutierbare Selbstverständlichkeit müsse ein wirklicher Dampfer über einen wirklichen Berg sein […].65
Zieht die Philosophie Konzepte und Begriffe aus den Sachverhalten, so zieht das Kino künstlerische Monumente aus den Sachverhalten, indem es Affekte aus ihnen zieht. Auf der Ebene der Gegenaktualisierung impliziert dies, dass, genauso wie ein Ereignis in einem Sachverhalt aktualisiert wird, ein Ereignis aus einem Sachverhalt extrahiert werden kann; d.h. aus einem materiellen Sachverhalt wird ein immaterielles Ereignis abstrahiert. Es geht um »[d]as Einfangen von Kräften«66 und Affekten. Die Imponderabilien des Aktuellen drängen die Produktion dabei in eine ausgeweitete Improvisation, die den Film insgesamt figürlich und affektiv macht und jedes vorgegebene Narrativ unterläuft: »Ungeprobt sehen die Dinge immer besser aus, sowie ich wiederhole, kommt eine Mechanik in die Abläufe, die ohne wirkliches Leben ist«,67 sagt Herzog. Katastrophen schreiben das Drehbuch. Es geht weniger um Erzählung als um das Einfangen von Kräften. Ausdrucksträger dieser Affekte innerhalb der spezifischen Kompositionsebene sind – sowohl menschliche als auch nicht-menschliche – ästhetische Figuren, welche die projektive Ebene des filmischen Ereignis bilden: »In jedem Ereignis gibt es den gegenwärtigen Augenblick der Verwirklichung, jenen, in dem das Ereignis sich in einem Dingzustand, einem Individuum, einer Person verkörpert.«68 65| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 10. 66| Deleuze: Bacon, S. 39. 67| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 208. 68| Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Übers. von B. Dieckmann. Frankfurt/Main 1993, S. 189. »Andererseits aber gibt es die Zukunft und Vergangenheit des Ereignisses an sich, das jeder Gegenwart ausweicht, weil es von den Begrenzungen eines Dingzustandes frei, weil es unpersönlich und präindividuell, neutral, weder allgemein noch besonders ist, eventum…; oder, vielmehr, das keine andere Gegenwart als die des beweglichen Augenblicks kennt, der es repräsentiert und der stets in Vergangenheit-Zukunft verdoppelt ist und dem Gestalt verleiht, was Gegen-Verwirklichung genannt wer den muß.«
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Ein Hauptagent der kinematographischen Gegenverwirklichung ist der Schauspieler. Da die ›Rolle‹ aus dem Diagramm entsteht und ihm immanent bleibt, ist die Person des Schauspielers jedoch »nicht mehr Wesen, sie ist Akzidenz geworden.«69 Kinski/Fitzcarraldos Spiel ist daher weder einer meist melodramatischen Genrevorgaben verpflichteten ›Affektenlehre,‹ noch des der Psychoanalyse verpflichteten ›method acting‹ geschuldet. Vielmehr entsteht es direkt aus und in Resonanz mit dem Diagramm des Schauplatzes als gegebenem, nichtfiguralem Feld. Wie in den Gemälden Bacons werden die Ausdehnungen, Kontraktionen, Abspaltungen und Streckungen des Diagramms von Kinski zu einer Figur komponiert, die virtuelle Kräfte verkörpert und so sicht- und wahrnehmbar macht. Er extrahiert aus den Sachverhalten ›ihr‹ virtuelles Konzept beziehungsweise eine abstrakte Linie und verwirklicht demnach das Ereignis, jedoch ganz anders, als das Ereignis sich in der Tiefe der Dinge verwirklicht. Oder er verdoppelt vielmehr diese kosmische physische Verwirklichung durch eine weitere, auf ihre Weise eine einzigartig oberflächliche […].70
Die Herausforderung der Gegenaktualisierung liegt darin, aus einem Körper ›sein‹ Konzept zu isolieren, dies zu aktualisieren und so die extensive Welt der Körper zu virtualisieren: »das virtuelle Bild der Rolle wandelt er zu einem aktuellen, das daraufhin sichtbar und leuchtend wird.«71 Wenn Deleuze bemerkt, dass der Schauspieler ein »›Monstrum‹«72 ist, dann nicht im Sinne einer angsteinflößenden physischen oder psychischen Deformierung, sondern in dem Sinne, dass er Wahrzeichen ist. Es ist keine Frage des ›demonstrare‹ sondern des ›monstrare;‹ nicht der Repräsentation sondern eines Ausdrucks, innerhalb dessen die zwei Serien in ihrer radikalen Unterschiedlichkeit attributiert werden.73 Der Schauspieler wird zu einem Medium|Form-Modulator, der ›fremde‹ Ereignisse abspielt und gegenaktualisiert. Kinski bildet daher selbst, genau wie der Urwald, ein sensationelles, empfindliches Diagramm, aus dem heraus komponiert werden muss. Man müsse lediglich Kinskis frei flottierende Intensität in einen künstlerischen Rahmen einpassen, notiert Herzog: »Was an Raserei in ihm steckt« muss »in eine Form«74 gebracht werden. Wenn in dieser Maschine Herzog der Metaphysiker ist, der die Natur nur in direkter materieller 69| Deleuze: Bacon, S. 82. 70| Deleuze: Logik des Sinns, S. 188. 71| Deleuze: Kino 2, S. 99. 72| Ebd. 73| Siehe hier auch den religiösen Begriff der Monstranz; einem kostbar gestalteten liturgischen Schaugerät mit einem Fensterbereich, in dem eine konsekrierte Hostie zur Schau gestellt wird. Die Hostie stellt die ›Vereinigung‹ von Aktuellem und Virtuellem innerhalb des religiösen Diskurses dar. 74| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 265.
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Auseinandersetzung erfahren kann, dann ist Kinski der Physiker, der die Natur phantasmatisiert. Herzogs Metaphysik ist stets rückgekoppelt an die materielle Welt, Kinskis Physik stets an das metaphysische Phantasma. Während Herzog, unversöhnt mit dem Urwald, mit Spinnen kämpft und Maden isst, kopuliert Kinski mit einem Baum.75 Schnell ist es unentscheidbar, ob man Kinski oder Fitzcarraldo vor sich hat. Die expressiven Kräfte sind Kinski attributiert, der die Figuren nicht nur im Film spielt, sondern in den Schauplatz der Produktion trägt. »Er war indes beim Drehen zum Fürchten gut«,76 sagt Herzog. Das Ergebnis von Kinskis doppelt geformten Spiel sind ›kristalline‹ Bilder zwischen vollem materiellem Sein (Aktualität) und leerem Werden (Virtualität); die kleinsten Module innerhalb der Komposition des Films. Was sind diese Kristallbilder und warum sind sie so wichtig? Warum liegt in ihnen der ›Grund‹ für die Genre- und Gattungslosigkeit des Films? In der internen Architektur der Kinobücher stellt das Kristallbild die Verbindung zwischen Kino 1: Das Bewegungsbild und Kino 2: Das Zeitbild her, wobei in der projektiven Topologie der beiden Bücher Kino 1 die aktuelle Serie und Kino 2 die virtuelle Serie figuriert. Ihre reale Trennung in zwei Bände aktualisiert vor diesem Hintergrund die Unmöglichkeit, die zwei Serien zur vollständigen Konvergenz zu bringen. Daher ist es völlig folgerichtig, das Kristallbild, als den »kleinsten inneren Kreislauf«77 zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen und als Punkt der »Ununterscheidbarkeit von Aktuellem und Virtuellem«78 strukturell am Ende von Kino 1 und am Anfang von Kino 2 zu platzieren. Deleuze beschreibt diese sowohl trennenden als auch verbindenden Kristallbilder fast so, als würde er Fitzcarraldo beschreiben, denn sie zeigen »das Leben als Schauspiel, und dennoch in seiner Spontaneität.«79 Als ›Drehmoment‹ zwischen den beiden Serien bilden Kristallbilder einen Raum mit »vollständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten«;80 d.h. sie erstellen eine projektive Topologie, in der »Materie und […] Geist«81 aufeinandergefaltet werden. Auf einer projektiven Fläche bezeichnen sie den Punkt der Unendlichkeit, an dem das Aktuelle und das Virtuelle identisch werden; den Punkt, an dem das Bewegungsbild mit dem Zeitbild identisch wird und aktuelle Wahrnehmung in virtuelle Imagination umschlägt. Herzogs filmische Dokumentation Mein liebster Feind – Klaus Kinski endet mit einem solchen Kristallbild; dem Bild einer sanften, zärtlichen Symbiose, passend zu Fitzcarraldo, der insgesamt ein unendlich zärtlicher Film ist. Kinski spielt am Set mit einem Schmetterling, und der 75| Vgl. ebd., S. 231. 76| Ebd., S. 246. 77| Deleuze: Kino 2, S. 98. 78| Ebd., S. 119. 79| Ebd., S. 122. 80| Ebd., S. 97. 81| Ebd., S. 104.
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Schmetterling spielt mit Kinski. Die beiden werden zum gegenseitigen Milieu im Sinne einer ›gegenseitigen Voraussetzung.‹ Herzogs Voice-over zu diesem Bild: »Und dann sehe ich ihn mit einem Schmetterling, ganz sachte, ganz leicht. Das kleine Wesen will nicht fort von ihm und ist so zutraulich, daß mir manchmal scheint, Klaus selbst wird zum Schmetterling.« Innerhalb des Urwalddiagramms bilden Kinski und Schmetterling eine Figur reinen Affekts und reiner Resonanz. Die Selbstvergessenheit des Megalomanen, das Licht in Kinskis Haar. Die Szene macht die ›direkte‹ Übertragung der Intensität dieser ›vorfilmischen‹ Resonanz in den Film spürbar. So ergibt sich zum Beispiel die Szene, in der die Indios
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Fitzcarraldo so anfassen, als wäre er der Schmetterling aus genau solchen vorfilmischen Kristallen. In diesen komplexen medialen und diagrammatischen Übertragungen, sowie in dem erhabenen Wahnsinn des Projekts innerhalb dessen sie funktionieren, werden reales Modell, eingebildete Figur, Schauspieler, Schiff, Kameramann, Helfer und Regisseur zu einer umfassenden Begierdemaschine. Die Dreharbeiten im Urwald gestalteten sich so schwierig, dass »meine Aufgabe und die der Figur identisch geworden ist«,82 notiert Herzog. Deleuze sieht in Herzog den Regisseur eines ›kristallinen Kinos‹, so wie er selber der Philosoph einer ›kristallinen Philosophie‹ ist. Herzogs Filme, so mein Argument, sind nicht genrealisierbar, weil sie allesamt in verschiedener Ausprägung kristallin sind. So könnte man Fitzcarraldo aufgrund seiner narrativen Struktur einen Abenteuerfilm nennen. Aber dann fehlen die Abenteuer im genrespezifischen Sinn, und in der Mitte mutiert er zu einer Dokumentation. Dann ist er ein Liebesfilm? Auch hier fehlt die genrespezifische Zentrierung. Ein Musikfilm? Nicht richtig. Ein Actionfilm? Ja, aber nur im physikalischen Sinn. Vielleicht liegt im Kristallinen der Grund dafür, dass die faszinierendsten Kunstwerke jene sind, die scheinbar ohne Genre und ohne Gattung sind. Die einzigartigen und eigenartigen Kunstwerke. In der mathematischen Mengenlehre bilden sie Gruppen mit nur einem Element. So wie insgesamt die Einzigartigkeit, die Eigenheit, die Eigentümlichkeit und die Eigenart Begriffe sind, um Objekte, beziehungsweise Singularitäten ohne Genre zu bezeichnen. Wie Wilhelm Dilthey schon früh angemerkt hat, Aus den einzelnen Worten und deren Verbindung soll das Ganze eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des Einzelnen schon das des Ganzen voraus. Dieser Zirkel wiederholt sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zu Geistesart und Entwicklung des Urhebers, und er kehrt ebenso zurück im Verhältnis dieses Einzelwerks zu seiner Literaturgattung […]. Individuum est ineffabile. 83
Ich komme auf meine anfänglichen Fragen zurück: ›Wie weit greift der Begriff der Gattung über die Künste hinaus?‹ Diese Frage kann man dahingehend beantworten, dass Gattungstheorie erst spannend wird, wenn sie die Kunst mit dem Leben verbindet. Die zweite Frage: ›Wie verhält sich ein ausgeweiteter Gattungsbegriff zur Problematik des künstlerischen Ausdrucks?‹ kann man dahingehend beantworten, dass aus einem erweiterten Gattungsbegriff heraus Kunst nicht Repräsentation und Formierung eines Inhalts ist, sondern Ausdruck und Formierung eines spezifischen Arrangements affektiver Medienmultiplizitäten: Urwald und Oper. 82| Herzog: Eroberung des Nutzlosen, S. 158. 83| Wilhelm Dilthey: »Die Entstehung der Hermeneutik«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hg. v. Karlfried Gründer. Göttingen 2006, S. 317–338, hier S. 330.
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Am Ende des Films ist Fitzcarraldo grandios gescheitert. Ironischerweise kann er alle materiellen Unmöglichkeiten besiegen, nur um am Ende von der Vision der Indios besiegt zu werden, die das Schiff, von dem sie sich von Anfang an »so etwas wie eine Erlösung«84 erwartet hatten, nachdem der Kraftakt gelungen ist, losbinden, so dass es durch genau die Stromschnellen, die Fitzcarraldo durch das Unterfangen umgehen wollte, zurück an eine Stelle noch unterhalb des Ausgangspunkts getrieben wird. Der Grund dafür liegt in einer Fitzcarraldos Vision ebenbürtigen, ebenso wahnsinnigen Vorstellung der Indios, dies sei notwendig, »um die bösen Geister der Stromschnellen zu besänftigen«.85 Fitzcarraldo ist genauso zerfleddert wie sein Schiff, er ist jedoch keineswegs entmutigt. Er nimmt das Geld vom Verkauf des Schiffs, um die Oper zumindest für eine Aufführung nach Iquitos zu bringen. Er heuert ein Orchester, Opernsänger und einen Chor an, die schon auf dem Schiff singen, das sie nach Iquitos bringt. Symptomatisch macht er das nicht so sehr für die Menschen, sondern direkt für den Urwald selbst. Genauer: für die in ihm keimende Potenzialität für das Virtuelle; »für ein Schwein, daß die Oper so gerne mag.« Am Ende von Fitzcarraldo sind Musiktheater und Urwaldfabrik einander vollkommen attributiert. Wie auf einer projektiven Ebene durchdringen sich die aktuelle und die virtuelle Serie: »Sie haben einen Wald aus Pappmaché aufgebaut, ihre Theaterkulissen und der Theaterwald ziehen am wirklichen Urwald vorüber. Was für ein Anblick!«86 Das Kino verdoppelt diese gegenseitige Immersion wiederum auf der ›projektiven Fläche‹ der Leinwand. In dieser Abbildung werden die Gesichter und die Körper von Kinski und Cardinale zum künstlerischen Ausdruck davon, dass man lange Monate im Urwald war, dass man dabei war, als das wirkliche Schiff über den wirklichen Berg gezogen wurde, und dass man es geschafft hat, dieses zu filmen. Dass man zu viel geschwitzt hat, und dass man zu viel schlechtes Essen gegessen hat. Dass man dieses ›grandios nutzlose‹ Projekt gegen alle Widrigkeiten durchgeführt hat. Dass man die metaphysische Vision aktualisiert hat. Dass man es geschafft hat, die unfertige Schöpfung des Urwalds und die Erhabenheit der Oper auf der Kinoleinwand aufeinander abzubilden; dass man ihre Trennung auf der projektiven Fläche der Filmleinwand zusammengebracht hat. Was bleibt, ist am Ende, obwohl – oder gerade weil? – Kinski sich genau an dem Tag ›unsäglich fürchterlich‹ aufführte, der einzigartige, reine Affekt dieser Eroberung, ausgedrückt in Kinski und Cardinale: ihr Charme, ihre Grazie, die Musik.
84| Herzog: Fitzcarraldo / Wo die grünen Ameisen träumen, S. 83. 85| Ebd., S. 116. 86| Ebd., S. 119.
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Ich ende mit einer provokanten These: Zu den wunderbarsten Filmen gehören die, die nicht auf ein Genre verweisen und die nie zu einem Genre werden. Man könnte sie Eigenfilme nennen. Sie bilden eine Klasse an und für sich, d.h. sie sind einzigartig. Wenn die Geschichte von Gattungen und Genres die Geschichte von Gattungs- und Genredrift ist, dann driften manche Filme ins Nichts. Niemand kann sie aufnehmen. Als kristalline Solitäre verweisen sie lediglich auf pure Eigennamen als Ansammlung und Bündelung nicht von Subjekten oder gar Gattungen, sondern von anonymen, affektiven Multiplizitäten.
L ITER ATUR Bateson, Gregory: »Form, Substanz und Differenz«, in: Ders.: Ökologie des Geistes. Frankfurt/Main 1985, S. 576–598. Borges, Jorge Luis: »Von der Strenge der Wissenschaft«, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen. München 1970. Deleuze, Gilles: Spinoza: Praktische Philosophie. Berlin 1988. – Das Zeit-Bild: Kino 2. Übers. von K. Englert. Frankfurt/Main 1991. – Logik des Sinns. Übers. von B. Dieckmann. Frankfurt/Main 1993. – Francis Bacon – Logik der Sensation. Übers. von Joseph Vogl. München 1995. – u. Felix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie: Tausend Plateaus. Berlin 1992. – Was ist Philosophie? Übers. von B. Schwibs und J. Vogl. Frankfurt/ Main 2000.
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Derrida, Jacques: »Das Gesetz der Gattung«, in: Ders.: Gestade. Wien 1994, S. 245–284. Dilthey, Wilhelm: »Die Entstehung der Hermeneutik«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hg. v. Karlfried Gründer. Göttingen 2006, S. 317–338. Fowler, Alastair: Kinds of Literature: An Introduction to the Theory of Genres and Modes. Oxford 1982. Goethe, Johann Wolfgang von: »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans«, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. München 1988, Bd. 2, S. 126–267. Gombrowicz, Witold: Argentinische Streifzüge und andere Schriften. Hg. v. Rolf Fieguth u. Fritz Arnold. München 1991. Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973. Herzog, Werner: Fitzcarraldo / Wo die grünen Ameisen träumen: Filmerzählungen. Berlin 1987. – Eroberung des Nutzlosen. München 2004. Korzybski, Alfred: »A Non-Aristotelian System and its Necessity for Rigour in Mathematics and Physics«, in: Science and Sanity 1933, S. 747–761. Spinoza, Benedictus de: Sämtliche Werke. In 7 Bänden und 1 Ergänzungsband. Bd. 2: Die Ethik nach geometrischer Methode vorgestellt. Übers. von Otto Baensch. Hg. v. Carl Gebhardt. Hamburg 1989. Viëtor, Karl: »Probleme der literarischen Gattungsgeschichte«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931), S. 425–447. Voßkamp, Wilhelm: »Gattungen«, in: Helmut Brackert u. Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 253–269.
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»the bitch is back!« Alien 3 und die Wiederkehr des Weiblichen in den ›Männergenres‹ des Hollywoodfilms Asokan Nirmalarajah Als 19921 mit David Finchers Alien³ der mit Spannung erwartete, vorläufig letzte Teil einer populären Science-Fiction-Horror-Filmserie der späten 1970er und 80er Jahre in die Kinos kam, wurde er mit einem Trailer beworben, in dem über einer Montage von besonders dynamischen Filmszenen ein männlicher Sprecher zu hören ist, der in einer unheimlichen Stimmlage die folgenden Sätze intoniert: »The suspense… is back! The fear… is back! And most of all… the bitch is back!« Bereits damals äußerte die Hauptdarstellerin und Co-Produzentin des Films, Sigourney Weaver, ein leichtes Unbehagen über die Möglichkeit, die Ankündigung »the bitch is back!« nicht nur auf das außerirdische Monster des Films zu beziehen, sondern auch auf die von ihr verkörperte Hauptfigur2 – ist der Satz im Trailer doch über einer Nahaufnahme der zwei kahlen, feuchten Köpfe des Aliens und der Protagonistin Lt. Ellen Ripley zu hören. Die MarketingAbteilung des Filmstudios 20th Century Fox hielt Weavers Bedenken die Überzeugung entgegen, dass die Zuschauer, die sich noch an den vorangegangenen Teil der Reihe, James Cameron Aliens von 1986,3 erinnerten, eigentlich wüssten, dass es sich bei der »bitch« im Bild nur um das Alien handeln könne4 – ist doch einer der berühmtesten, meistzitierten Sätze aus dem Vorgängerfilm derjenige, den Ripley ihrer Erzrivalin, der gigantischen Alien-Mutter entgegenschmettert, als diese das Leben des kleinen Waisenmädchens Newt im spektakulären Action-Finale des Films bedroht: »Get away from her, you bitch!« Allerdings handelt es sich bei 1| Alien³, USA 1992, R: David Fincher. – Für Diskussionen, Anregungen und konstruktive Kritik danke ich Claudia Liebrand und Peter Scheinpflug. 2| Vgl. James Kaplan: »Last in Space«, in: Entertainment Weekly (29.5.1992), online unter: http://www.ew.com/ew/article/0,,310615,00.html. 3| Aliens, USA 1986, R: James Cameron. 4| Vgl. Kaplan: Last in Space.
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dem Monster in der Szene aus dem Trailer gerade nicht um die deutlich weiblich konnotierte Alien-Mutter, sondern um eines ihrer geschlechtlich nicht eindeutig zu bestimmenden Alien-Sprösslinge. Die Ambiguität in der bedrohlich klingenden Ankündigung »the bitch is back!« – hat man sich nun vor der Rückkehr des Aliens, der Rückkehr der Frau oder vielleicht sogar vor der Rückkehr beider Figuren zu fürchten? – bleibt also weiter bestehen. Für die genre- und genderorientierte Filmwissenschaft ist diese Ambiguität deshalb so interessant, weil der Werbeslogan zu Alien³, der dem Publikum die konventionellen Genre-Vergnügen eines Alien-Films – wie eben »suspense« und »fear« – versprechen soll, mit seinem letzten Satz implizit auch auf die prekäre Rolle verweist, die die weibliche Hauptfigur nicht nur innerhalb der Alien-Reihe spielt, sondern die prominente Frauenfiguren in den sogenannten ›Männergenres‹ des amerikanischen Mainstreamfilms immer schon gespielt haben. Zu den zahlreichen Hollywoodgenres, in denen die Hauptfigur traditionell männlich kodiert ist und Frauen wenn überhaupt nur als attraktive, exotische Rand- und Kontrastfiguren oder als unberechenbare, gefährliche Antagonistinnen in Erscheinung treten, kann man neben dem Western, dem Kriegsfilm, dem Abenteuerfilm, dem Crime-Film und dem Film Noir auch den ScienceFiction- und Horrorfilm zählen. Lassen sich doch auch Exemplare dieser letzten beiden Genres – denen in der Forschung schon oft eine besondere Nähe zueinander beschienen wurde, ob nun als sich einander ähnelnde, gegenseitig bedingende Subgenres des phantastischen Films oder als ein Subgenre des jeweils anderen5 – auf geschlechtlich semantisierte Erzählmuster und Figurenkonstellationen zurückführen. So handeln nicht wenige Science-Fiction-Filme von einem gleichermaßen Kühnheit wie Rationalität verkörpernden Raumfahrer oder Wissenschaftler, dessen gefährliches Vordringen in die dunklen Tiefen des Weltalls als aktive, männliche Exploration eines passiven, weiblich kodierten Raums gelesen werden kann,6 wo er dann auf fremde Lebensformen trifft, deren Alterität sich mitunter auch über konventionell weibliche Attribute ausdrückt.7 Dagegen erzählen zahlreiche Beispiele des Horrorfilms von der sexuell konnotierten Bedrohung jungfräulich-unschuldiger, konventionell weiblicher Figuren durch einen geschlechtlich monströ-
5| Vgl. Susan Hayward: Cinema Studies. The Key Concepts. 3. Aufl. London, New York 2007, S. 336. 6| Vgl. Ximena Gallardo C. u. C. Jason Smith: Alien Woman. The Making of Lt. Ellen Ripley. London, New York 2004, S. 5. 7| Zu diesen Genrefilmen gehören etwa Planet of the Apes (USA 1968, R: Franklin J. Schaffner), Star Trek – The Motion Picture (USA 1979, R: Robert Wise), The Abyss (USA 1989, R: James Cameron), The Fifth Element (USA/F 1997, R: Luc Besson), Stargate (USA 1994, R: Roland Emmerich), Starship Troopers (USA 1997, R: Paul Verhoeven) und aus jüngerer Zeit: James Camerons Avatar (USA 2009).
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sen Aggressor mit auffallend phallischen Attributen.8 Beide Genres rekurrieren also in der Regel auf ein prominentes Gender-Narrativ: die Bedrohung einer patriarchalen Gesellschaftsordnung und vor allem einer heterosexuellen Begehrensordnung durch ein übernatürliches, mysteriöses Wesen, dessen Fremdheit anhand von körperlicher Ambiguität und sexuellem Exzess in Szene gesetzt wird.9 Das Happyending dieser Filme ist dementsprechend auch immer erst dann erreicht, wenn die sexuell konnotierte Gefahr, die von dem fremden Lebewesen, dem ›Anderen‹ ausging, neutralisiert werden konnte, das heterosexuelle Liebespaar im Zentrum der Geschichte endlich zueinander gefunden hat und sich damit auch die patriarchale Kulturordnung – in der psychoanalytischen Terminologie Jacques Lacans: die symbolische Ordnung – in ihrer heteronormativen Idealvorstellung wiederherstellen konnte. Nun handelt es sich bei der mittlerweile vier Teile10 umfassenden Alien-Reihe aber um eine Kinoserie, in der kein Mann, sondern eine Frau, also das traditionell ›Andere‹ der symbolischen Ordnung die Hauptrolle spielt und die Menschheit vor einer noch mysteriöseren Form des ›Anderen‹, einem Außerirdischen retten soll. Dieser damals revolutionäre Clou von Ridley Scotts erstem Alien-Film aus dem Jahr 1979,11 die produktive Überblendung der oben erwähnten Erzählmuster des Science-Fiction- und Horrorfilms, war für die feministisch-psychoanalytische Filmwissenschaft der letzten drei Jahrzehnte Grund genug, Ripleys verstörende Konfrontationen mit dem Alien einer Fülle an unterschiedlichen Gender-Lektüren zu unterziehen.12 So wurde Ripley – als eine Filmheldin, die sich souverän 8| Vgl. Barry K. Grant: »Introduction«, in: Ders. (Hg.): The Dread of Dif ference. Gender and the Horror Film. Austin/Tx 1996, S. 1–12, hier S. 4. Wie etwa in Dr. Jekyll and Mr. Hyde (USA 1932, R: Rouben Mamoulian), Dracula (USA 1931, R: Tod Browning), Frankenstein (USA 1931, R: James Whale), The Mummy (USA 1932, R: Karl Freund), Halloween (USA 1978, R: John Carpenter), A Nightmare on Elm Street (USA 1984, R: Wes Craven). 9| Vgl. Grant: Introduction, S. 4. 10| Mit Jean-Pierre Jeunets Alien: Resurrection (USA 1997) erschien der bislang letzte Teil der Alien-Reihe. Die Crossover-Filme der Alien vs. Predator-Reihe (USA 2004–2007, R: Paul W.S. Anderson, Colin Strause und Greg Strause) werden hier bewusst nicht mitgezählt, da sie nicht der Ellen-Ripley-storyline angehören. 11| Alien, GB/USA 1979, R: Ridley Scott. 12| Vgl. u.a. Barbara Creed: »Horror and the Monstrous-Feminine: An Imaginary Abjection«, in: Barry K. Grant (Hg.): The Dread of Difference. Gender and the Horror Film. Austin/Tx 1996, S. 35–65; Carol J. Clover: Men, Women and Chain Saws: Gender in the Modern Horror Film. Princeton/Nj 1992; Thomas Doherty: »Genre, Gender and the Aliens Trilogy«, in: Barry K. Grant (Hg.): The Dread of Difference. Gender and the Horror Film. Austin/Tx 1996, S. 181–199; Martina Döscher: »Die fremde Mutter. Zwischen Fas zination und Grauen von Medea bis Alien«, in: Kurt Röttgers u. Monika Schmitz-Emans (Hg.): Die Fremde. Essen 2007, S. 84–96; Verena-Susanna Nungesser: »Die Alien-Tetralogie als Abbild zeitgenössischer Geschlechterkonfusion«, in: Thomas Le Blanc (Hg.): Von
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innerhalb konventionell männlicher Domänen wie der Industrie, dem Militär, der Religion und der Wissenschaft behauptet – mal als eine feministische Lichtgestalt gefeiert, die konventionelle Gender-Stereotypen unterläuft, mal als eine vermännlichte Alibi-Heldin kritisiert, die letztlich nicht gegen das Patriarchat rebelliert, sondern es genau vor dem bewahrt, was es am meisten fürchtet und in ihrer symbolischen Ordnung verdrängt und dämonisiert: der Wiederkehr einer exzessiven Weiblichkeit in Form des sexuell ambigen Aliens und seines mit ebenso vielen Gebärmetaphern wie Phallusobjekten gefüllten Lebensraums. Das für den Horrorfilm als konstitutiv zu wertende return of the repressed13 äußert sich in der Alien-Reihe also in Gestalt des äußerlich phallisch geformten Aliens, aus dessen länglichem Maul eine weitere, kleinere bezahnte Öffnung ragt, die von Teilen der Forschung als Konkretisierung einer männlichen Urangst nach Freud gelesen wurde: der Vagina dentata, der bezahnten Vagina, ein vielzitierter Mythos altertümlicher Legenden, der im männlichen Betrachter die Kastrationsangst wecke, die er mit der phallischen Mutter beziehungsweise mit dem alles verschlingenden Uterus der monströsen Urmutter verbindet.14 Darüber hinaus negiert das Alien als ein phallischer Aggressor, der die Serie hindurch seine Opfer nur selten tötet, sondern bevorzugt einfängt, vergewaltigt, schwängert und zu einer unfreiwilligen, tödlichen ›Geburt‹ weiterer Aliens durch den Brustkorb zwingt, auch den biologisch begründeten Geschlechterunterschied zwischen Mann und Frau, indem er nicht nur Frauen, sondern auch Männer als Wirtskörper missbraucht. So gesehen wären die Alien-Filme, in denen das Alien die für die symbolische Ordnung konstitutive Geschlechterdifferenz wiederholt durchkreuzt, in erster Linie Ausdruck einer männlichen Angst vor Effeminierung, eine Reaktion patriarchaler Bedeutungssstrukturen auf den wieder erstarkenden Feminismus der 1960er und 70er Jahre.15 Schließlich steht in der Alien-Reihe nicht mehr – wie noch in den amerikanischen Science-Fiction- und Horror-Filmen der 50er Jahre, als die überdimensionalen Monster, die damals über die Leinwand stampften, die Angst der Amerikaner vor dem Kommunismus allegorisierten – das politische System der USA zur Disposition, sondern die heteronormative Geschlechterordnung der westlichen Welt.16 Doch nicht nur das abstoßend gestaltete Alien, auch die mitunter attraktiv inszenierte Protagonistin der Kinoreihe unterläuft heteronormative Rollenbilder. So begriff man Ripley in den 70ern, zur Hochzeit des secondwave feminism als das kluge, fähige, fast jungfräulich anmutende »final
Mittelerde bis in die Weiten des Alls. Fantasy und Science Fiction in Literatur und Film. Wetzlar 2006, S. 173–193. 13| Vgl. Grant: Introduction, S. 4. 14| Vgl. Gallardo u. Smith: Alien Woman, S. 6f. 15| Vgl. ebd, S. 7. 16| Vgl. Hayward: Cinema Studies, S. 339.
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girl« eines Weltraum-Slasherfilms,17 dessen finaler Triumph darin bestand, dass sie den phallischen Aggressor, ihren möglichen ›Vergewaltiger‹ aus ihrem persönlichen Lebensraum, aus dem Raumschiff schießen konnte. In den 80ern, im Kontext der aggressiven Außenpolitik und konservativen Familienpolitik Ronald Reagans wurde Ripley dann nicht nur zur brachialen Kampfamazone eines Weltraum-Kriegsfilms, sondern auch zu einer positiv konnotierten Mutterfigur erklärt, die im Film für den Erhalt einer Ersatzfamilie und gegen die drachengleiche Alien-Mutter kämpfte. In Alien³, dem ersten Alien-Film der 90er Jahre, der zu einer Zeit in die Kinos kam, als die Themen AIDS und Homosexualität erstmals eine größere Aufmerksamkeit in den westlichen Medien erfuhren, landet die nach dem Tod ihrer Ersatzfamilie wieder auf sich allein gestellte Ripley schließlich zusammen mit einem Alien, das beim Kinostart als eine Allegorie auf den HIV-Virus gelesen wurde,18 auf einem nur von Männern bewohnten Gefängnisplaneten. Damit findet sie sich einmal mehr in einem auf dem ersten Blick streng regulierten homosozialen Lebensraum und zwischen mehreren klassischen ›Männergernes‹ (neben dem Science-Fiction- und Horrorfilm auch im Gefängnisfilm) wieder, in denen die Protagonistin des Films kurioserweise noch weniger erwünscht ist als das Alien. Bei Alien³ handelt es sich also um ein Sequel, das wie schon die zwei Vorgängerfilme klassische ›Männergenres‹ hybridisiert, die sich ideologisch über die Angst vor dem Weiblichen und dem Ausschluss der Frau konstituieren, und dann ausgerechnet eine Frau ins Zentrum der Geschichte stellt. Doch dieser als Abschluss einer Trilogie geplante Film setzt die Wiederkehr des Weiblichen noch weit radikaler in Szene, indem er die kulturell konstruierte Alterität sowohl des sexuell ambigen Aliens als auch der auf ihre beunruhigende Sexualität reduzierte Frau überblendet und damit die dieser Konstruktion zugrunde liegende patriarchale Ideologie genauer benennt und konkreter thematisiert. Auf einer metatextuellen Ebene benennt der augenscheinlich missglückte Werbeslogan »the bitch is back!« also doch sehr genau das eigentliche Programm von Alien³ und verweist damit indirekt auch auf die geschlechtlich konnotierten Inszenierungskonventionen von Hollywoods ›Männergenres‹. So schreibt Barbara Creed in ihrem vielzitierten Aufsatz Horror and the Monstrous-Feminine über das patriarchal strukturierte Hollywoodgenre des Horrorfilms: We can see its ideological project as an attempt to shore up the symbolic order by constructing the feminine as an imaginary other that must be repres sed and controlled in order to secure and protect the social order. […] But the feminine is not a monstrous sign per se; rather, it is constructed as such within a patriarchal discourse that reveals a great deal about male desires and fears […].19 17| Vgl. Clover: Men, Women and Chain Saws, S. 46. 18| Vgl. Amy Taubin: »Invading Bodies«, in: Sight and Sound 2/3 (Juli 1992), S. 8–10, hier S. 9f. 19| Creed: Horror and the Monstrous-Feminine, S. 63.
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In Alien³ wird nun das implizite ›ideologische Projekt‹ des Horrorfilms zum ›Motor‹ der Handlung, der geschlechtlich konnotierte Subtext im Grunde aller patriarchal strukturierter ›Männergenres‹ zum Text, und die gefürchtete »bitch«20 tritt nicht mehr nur metaphorisch-kuvriert als Alien-Ungeheuer auf, sondern auch als eigentliche Protagonistin des Films. Indem Alien³ die impliziten Mechanismen seiner Vorgängerfilme derart offen legt, setzt er aber auch eine Fülle an Ambivalenzen und Widersprüchen frei, die eine unreflektierte Rezeption des Films als einen konventionellen Unterhaltungsfilm erschwert.21 Entsprechend wurde Alien³ – im Unterschied zu den ersten beiden Teilen der Alien-Reihe, die damals von Kritik und Publikum gleichermaßen begeistert aufgenommen wurden und heute als Klassiker des Science-Fiction- und Horror-Genres gelten – bei Kinostart nicht nur von einem Großteil der Kritiker negativ besprochen, sondern auch vom Regisseur als ein missglücktes Projekt
20| Das englische Wort ›bitch‹ diente ursprünglich als Bezeichnung für eine ›läufige Hündin‹: »a bitch in heat«. Die abwertende Verwendung als ein vulgäres Wort für besonders sinnliche oder promiskuitive Frauen er fuhr der Begriff erst ab dem 14. Jahrhundert, als Frauen, die sexuelle Lust signalisierten, als moralisch verwerflich galten. In der heutigen Alltags sprache trägt ›bitch‹ immer noch negativ besetzte Bedeutungen wie ›Luder‹, ›Schlampe‹ oder ›Miststück‹. Als ›bitch‹ werden in der Regel Personen bezeichnet, die die heteronormative Geschlechterordnung unterlaufen, indem sie entweder als Frau zu dominant oder als Mann zu passiv agieren. Doch wie es mit ähnlich negativ besetzten Bezeichnungen wie ›nigger‹ oder ›queer‹ seit der Identitätspolitik sexueller und ethnischer Minoritäten in den 1960er und 70er Jahren der Fall ist, hat auch ›bitch‹ innerhalb eines feministischen Kontextes eine positive Umdeutung erfahren. Als ›bitches‹ bezeichnen sich heute souveräne, durchsetzungsfähige Frauen, die sich patriarchalen Strukturen ent weder widersetzen oder diese für ihre Ziele manipulieren. Wenn sich eine Frau also als ›bitch‹ bezeichnet, dann kann es sich dabei durchaus auch um ein reflektiertes Spiel mit den reduktiven Zuschreibungen ihrer Umwelt handeln. – In der AlienSerie gibt es im Grunde zwei Ar ten von ›bitches‹: gute und böse, wobei das Geschlecht der ›bitch‹ keine Rolle spielt. Gute ›bitches‹ sind Figuren wie Ripley oder die Elitesoldatin Vasquez aus Aliens, die beide selbstlos für das Überleben ihres Teams, ihrer ›Familie‹ kämpfen und sich dabei gegen jede Fremdbestimmung durch ihr vornehmlich männliches Umfeld wehren. Böse ›bitches‹ sind dagegen der dem Patriarchat zuarbeitende Bordcomputer »Mother« aus Alien, die destruktive Alien-Mutter aus Aliens, aber auch die männlichen Kollaborateure und Verräter, die Ripley das Leben schwer machen, wie die zwielichtigen Angestellten der ominösen Weyland-Yutani-Company. 21| Der Trailer zu Alien³ ist dabei auch ein Beispiel dafür, wie die Genrelek türe eines Films durch die impliziten Lektüreanweisungen des Wer bematerials irregeführt werden kann. Die Enttäuschung der Kinozuschauer über Alien³ ließe sich so zum Teil darauf zurückführen, dass man auf Grundlage des Trailers einen atmosphärisch dichten Horrorfilm mit vielen Actionszenen, gewissermaßen eine Neuauflage von Camerons Aliens erwartet hatte, aber stattdessen die sperrige, düstere Charakter studie einer tragischen Frauenfigur zu sehen bekam.
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gewertet.22 Im Folgenden soll es aber nicht darum gehen, dem Konsens der Filmkritik zu widersprechen oder die Selbstkritik David Finchers zu widerlegen, der mit Alien³ sein Spielfilmdebüt gab und sich später mit Filmen wie Se7en (1995), Fight Club (1999) und Zodiac (2007) profilieren konnte. Von größerem Interesse ist die Frage, welche kulturellen Bedeutungs- und Wissenskontexte, wozu auch tradierte Genres des amerikanischen Mainstreamfilms zu zählen sind, von Alien³ aufgerufen werden, um seine ungewöhnliche ›Frauengeschichte‹ im unorthodoxen Rahmen eines ›Männerfilms‹ zu erzählen. Auf welche Genre- und Gender-Konventionen – nicht nur des Science-Fiction- und Horror-Films, sondern zum Beispiel auch des Gefängnisfilms und des Woman’s Films – rekurriert der Film, um sie in Szene zu setzen, zu hybridisieren oder zu verwerfen, und dadurch sowohl mit den Genre-Erwartungen des Publikums zu spielen, als auch der Serienhandlung der Alien-Reihe neue Impulse zu geben? Der vorliegende Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt kommt auf den im Folgenden zur Anwendung kommenden, dynamischen Genrebegriff zu sprechen und skizziert, inwieweit Gender, vor allem in Beziehung zu der etymologisch verwandten Filmkategorie des Genres – Genre und Gender leiten sich her vom lateinischen Begriff des »genus«, also Gattung, Geschlecht23 – Einzug in die Filmwissenschaft gehalten hat und die Forschung mit wertvollen Impulsen für eine kulturwissenschaftlich orientierte Filmlektüre bereichert hat (1.). Im Anschluss daran wird Alien³ als eine Genre-Hybride in den Blick genommen, in der sich die Genres gegenseitig dergestalt durchkreuzen, dass ein nur schwer fassbares, beständig zwischen den Genre-Kontexten oszillierendes ›Genre-Vakuum‹ entsteht (2.). Als Auslöser dieser Genre-Irritiationen wird abschließend Ellen Ripley, die vielleicht populärste weibliche Filmfigur des amerikanischen Kinos, positioniert, deren Oszillieren zwischen konventionellen Frauen- und Männerrollen innerhalb der Alien-Reihe zu Gender-Verwerfungen führt, die mitunter verheerende Folgen für sie und ihr heteronormatives Umfeld mit sich bringen (3.).24
22| Vgl. Mark Burman: »A real horror show«, in: The Independent (21.8.1992), online unter: http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/interview--a-real-horror-showthe-filming-of-alien–3-was-a-nightmare-for-its-director-david-fincher-mark-burmanreports–1541578.html. 23| Vgl. Claudia Liebrand u. Ines Steiner: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Holly wood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film. Marburg 2004, S. 7–15, hier S. 7. 24| Als Beispiele, in denen eine weibliche Hauptfigur nicht zwingend auch zur Destabilisierung konventioneller ›Männergenres‹ führt, ließen sich populäre Hollywoodfilme wie Shadow of a Doubt (USA 1943, R: Alfred Hitchcock), The Silence of the Lambs (USA 1991, R: Jonathan Demme) und The Long Good Kissnight (USA 1996, R: Renny Harlin) und Fernsehserien wie Alias (USA 2001–2006, Series Creator: J.J. Abrams, ABC) und Veronica Mars (USA 2004–2007, Series Creator: Rob Thomas, UPN, The CW) anführen.
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1. H ISTORIZITÄT UND H YBRIDITÄT G ENRE UND G ENDER ALS DYNAMISCHE B EDEUTUNGSKONTE X TE Wie in der Einleitung des vorliegenden Bandes zu lesen ist, handelt es sich beim Genrebegriff wie bei dem oft synonym gebrauchten Gattungsbegriff um einen Begriff zur Klassifikation von Texten. Wenn man aber als genreorientierter Filmwissenschaftler von Texten spricht, dann nicht nur von literarischen, sondern auch von filmischen Texten. Die Auffassung von ›lesbaren‹ Filmen geht zurück auf den erweiterten, zeichentheoretisch begründeten Textbegriff der Cultural Studies. Dort wird jede Art von Repräsentation als eine kulturelle Objektivation aufgefasst, die sich lesen und deuten lässt. Es werden also nicht nur Texte kanonisierter Hochkultur, sondern auch Exemplare der heutigen Alltags- und Populärkultur – wie zum Beispiel Filme, Fernsehsendungen, Musikvideos, Kleidermode usw. – als kulturelle Texte ernst genommen, an denen man Verhandlungen kultureller Matrices wie Gender, Class und Ethnicity aufzeigen kann.25 Auf den Begriff der Interpretation wird bei diesem Forschungsansatz bewusst verzichtet, da es – um die theoretischen Ausführungen Claudia Liebrands aus ihrer Studie zeitgenössischer Hollywoodfilme, Gender-Topographien, zu paraphrasieren – bei kulturwissenschaftlichen Lektüren dieser Art eben nicht darum geht, »den ›Sinnhorizont‹ eines filmischen ›Werkes‹ hermeneutisch aus[zu]leuchten«, sondern um »dekonstruktiv informierte«, also Bedeutung erst generierende Lesarten »einzelne[r] Problemkonfigurationen, [die] in ihren Auffächerungen und Aporien verfolgt« und erörtert werden.26 So handelt es sich auch bei den Lektüren, die im Folgenden vorgestellt werden, nur um einige von mehreren möglichen, historisch und kontextuell unterschiedlich situierten Lesarten, die einem bestimmten Erkenntnisgewinn dienen, in diesem Fall der Frage nach den Verhandlungen von Genre und Gender in Alien³. Die Geschichte der filmwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Identitätskategorie Gender im Sinne einer kulturell konstruierten Geschlechtlichkeit teilt sich in eine Zeit vor und in eine Zeit nach Laura Mulveys wirkmächtigen Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema,27 ursprünglich 1975 im britischen Filmjournal Screen erschienen. Zwar gab es schon vor Mulveys feministisch motiviertem Aufsatz zu den geschlechtlich determinierten Blickdispositionen im klassischen Hollywoodfilm Analysen zu den klischeehaften, stereotypen Darstellungen von Weiblichkeit im Film, aber erst Mulvey führte die ungleichen Geschlechterinszenierungen des Classical Hollywood Cinemas auf eine Hie25| Vgl. Claudia Liebrand: Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lek türen von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende. Köln 2003, S. 10. 26| Ebd., S. 11. 27| Vgl. Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: dies.: Visual and Other Pleasures. London 1989, S. 14–26.
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rarchie der Blicke zurück, die die Ungleichheit der Geschlechter in der außerfilmischen Welt reflektiert. Mit einem produktiven Rückgriff auf Freud’sche und Lacan’sche Psychoanalyse konnte Mulvey zeigen, wie die patriarchalen Inszenierungsstrategien des Mainstreamfilms in der Regel einen männlichen Zuschauer adressieren und ihm dabei zwei Möglichkeiten der Schaulust offerieren: Identifikation und Voyeurismus. Zum einen kann sich der Zuschauer also mit dem dynamischen, kompetenten Filmhelden identifizieren und dabei den aufregenden Moment des noch motorisch unausgereiften Kleinkindes wiedererleben, wenn es sich zum ersten Mal in seiner Ganzheit im Spiegel erkennt und sich mit seinem vollkommeneren Ideal-Ich im Spiegel identifiziert – jenen Moment also, den Jacques Lacan als »Spiegelstadium« in der Entwicklung des Subjekts bezeichnet hat.28 Zum anderen hat der Zuschauer – im Publikum wie im Film – Lustgewinn an dem in der filmischen Diegese ausgestellten, erotisch inszenierten Frauenkörper, der in seiner sexuellen Differenz zum männlichen Helden aber auch die ursprüngliche Kastrationsgefahr birgt. Um diesen zu bannen, macht der konventionell männliche Betrachter die Frau entweder zum Fetischobjekt oder versucht, ihr Mysterium zu entschlüsseln, so wie man es am deutlichsten in der Figurenkonstellation des Film noirs findet, wo der Protagonist meist vergeblich eine rätselhafte, gefährliche Femme fatale zu entziffern versucht. Diese aktiv/passiv-Dynamik zwischen dem penetrierenden männlichen Blick und dem den Blicken ausgesetzten weiblichen Körper wurde seit den 1970er Jahren intensiv diskutiert und hatte auch zur Folge, dass verstärkt ein Genre analysiert wurde, das maßgeblich von Frauen handle und vor allem weibliche Zuschauer adressiere: das Melodram. Heute noch gilt das frauenzentrierte Melodram, der zu seiner Blütezeit in den 1930er und 40er Jahren noch als »Woman’s Film« beworben wurde, mit seinen still leidenden, passiven Frauenfiguren als das ›Frauengenre‹ schlechthin, während es eine Vielzahl von – als solche in der Regel unmarkierten29 – ›Männergenres‹ gibt.
28| Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: Ders.: Schriften I. Übers. von Norbert Haas. Frankfurt/Main 1975, S. 61–70. 29| »[W]hy does the women’s picture exist? There is no such thing as ›the men’s picture‹, specifically addressed to men; there is only ›cinema,‹ and ›the women’s picture‹, a sub-group or category specially for women […]« (Pam Cook: »Melodrama and the Women’s Picture«, in: Marcia Landy [Hg.]: Imitations of Life. A Reader on Film & Television Melodrama. Detroit 1991, S. 248–262, hier S. 252).
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Doch ebenso wenig wie die Gender Studies seit Judith Butler30 und dem »performative turn« Anfang der 1990er Jahre an der Essentialität der Identitätskategorie Gender und dem traditionellen Geschlechterbinarismus festhalten, gibt es auch in der Genreforschung seit den 80ern und vermehrt seit den 90ern eine ähnlich antiessentialistische, eine derart klare Trennung zwischen ›Männerfilmen‹ und ›Frauenfilmen‹ problematisierende Tendenz in der Diskussion von Genrefilmen. Steve Neale hat in diesem Zusammenhang auf die konstitutive Hybridität und Historizität von Genres als dynamische, unabgeschlossene Prozesse hingewiesen, deren Gender-Markierungen ebenfalls einem historischen Wandel unterliegen.31 Das bedeutet zum einen, dass wie sich im menschlichen Subjekt soziokulturell determinierte Subjektkategorien wie Gender erst in einem bewussten oder unbewussten performativen Akt konkretisieren, auch Genres sich erst in ihrer eigentlichen Umsetzung im einzelnen Film präsentieren. Jeder Film bezieht sich also auf Konventionen verschiedener Genres und konstruiert sie, modifiziert sie oder schreibt sie um. Kein Film lässt sich nur auf ein einziges Genre zurückführen, jeder Film ist eine Genre-Hybride. Zum anderen bedeutet das aber auch, dass dabei stets diskursive Traditionslinien vorliegen, anhand derer sich die Filme eines Genres intertextuell verbinden und historisieren lassen. Folglich sind Genreanalysen stets historisch anzulegen, verweisen doch Strukturveränderungen innerhalb der intertextuellen Reihe auch auf die sich verändernden Wissensbestände und Er fahrungshintergründe des Publikums und erbringen [so] Aufschluß über eine kulturelle Lerngeschichte […].32
Die Bedeutungen, die Alien³ als ein komplexer kultureller Text generiert, ergeben sich also aus seiner zwischentextlichen Beziehung zu anderen Texten und den kulturellen Wissenskontexten, die er beim jeweiligen Zuschauer aufruft. Mit anderen Worten: Genreforschung ist immer auch Kultur- und Intertextualitätsforschung. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass die konstitutive Hybridität und Historizität von Genres nicht bedeutet, dass man Genrekategorisierungen als alltägliche und wissenschaftliche Orientierungseinheiten für obsolet erklärt. Stattdessen stehen wie bei der Frage nach der soziokulturellen Konstruktion des Subjekts durch sich historisch wandelnde Gender-Diffe-
30| Vgl. Judith Butler: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990, und dies.: Bodies That Matter: On the Discur sive Limits of »Sex«. New York 1993. 31| Steve Neale: »Questions of Genre«, in: Barry K. Grant (Hg.): Film Genre Reader II. Austin/Tx 1995, S. 159–183, hier S. 170. 32| Britta Hartmann: »Topographische Ordnung und narrative Struktur im klassischen Gangsterfilm«, online unter: http://home.snafu.de/britta.hart/gang.html.
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renzen33 die Erörterung des stets kulturhistorisch zu situierenden Zusammenspiels von Genre-Konventionen, ihrer gegenseitigen Verwerfungen und Interdependenzen innerhalb einzelner Texte im Mittelpunkt aktueller Genrestudien. Folglich liegt der Erkenntniswert in der Zuordnung eines Films zu einem bestimmten Genre, so Thomas Leitch, […] neither [in] its narrowness nor its inclusiveness; it [lies in] its ability to raise questions that illuminate its members in ways existing modes of thinking about [genre] films do not. [Hence] the question they raise is not whether or not a particular film is a member of a given genre, but how rewarding it is to discuss it as if it were.34
2. G ENRE -V ERWERFUNGEN : A LIEN 3 ALS G ENRE -V AKUUM Für die Frage nach den Verhandlungen von Genres sind der Vorspann und die Anfangsszenen eines Films stets von besonderer Bedeutung, geben Sie dem Zuschauer doch die ersten Indizien dafür, um was für eine Geschichte es sich im Folgenden handeln wird, auf welche(s) Genre(s) man sich einzustellen hat. So schreibt sich auch der dritte Teil der AlienReihe gleich zu Anfang in die Genre-Tradition seiner Vorgängerfilme ein, indem er zunächst auf der auditiven Ebene an die beunruhigende, ominöse Grundstimmung der Science-Fiction-Horror-Serie anschließt. Alien³ beginnt mit einer Verzerrung der berühmten »Fox-Fanfare«, die über dem 20th Century Fox-Studio-Logo ertönt, und leitet über in eine Unheimlichkeit evozierende orchestrale Musik und die erste Einstellung des Films, die wie die Anfangsszenen der zwei Vorgängerfilme die unendliche Tiefe des Weltraums zeigt. Die elegisch-melancholische Chormusik und der rostfarbene, Verfall und Tod suggerierende Braunton, der sich hier statt des positiv konnotierten Blautons von James Camerons Aliens durchs Bild schlängelt, stimmt den Zuschauer aber bereits darauf ein, dass es sich um ein besonders schwermütiges Kapitel der Alien-Saga handeln wird. Statt der langsamen, bedächtigen Eingangssequenzen der Serie folgt darauf eine schnelle, beunruhigende Montage dramatischer Szenen, die sich auf dem Raumschiff ereignen, auf dem sich Ripley nach den turbulenten Ereignissen von Aliens zusammen mit ihrer Ziehtochter Newt, ihrem möglichen love interest Hicks und dem schwer demolierten Androiden Bishop auf dem Weg zur Erde befindet. Die berühmte Ikonografie der Alien-Reihe wird dabei in rascher Abfolge zitiert und die Herstellung einer Kausalität zwischen den Handlungsfragmenten dem Zuschauer überlassen: Ripley im künstlichen Tiefschlaf, das offene Alien-Ei, der sich zur Attacke stre33| »To claim that the subject is itself produced in and as a gendered matrix of relations is not to do away with the subject, but only to ask after the conditions of its emerge and operation.« Butler: Bodies That Matter, S. 7. 34| Thomas M. Leitch: Crime Films. Cambridge 2002, S. 17.
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ckende Facehugger, das säurehaltige Alien-Blut, das sich durch den Boden des Raumschiffs frisst, automatisch angehende Computerbildschirme und Spritzer von Menschenblut. Schließlich werden die Passagiere aufgrund eines sich auf dem Schiff verbreitenden Feuers vom Bordcomputer in einem Rettungsschiff evakuiert und auf einem nahe liegenden Gefängnisplaneten zur Notlandung gebracht. In dieser Anfangssequenz werden also die prominenten Sci-Fi- und Horror-Motive der Serie – die einzelnen Stadien der Alien-Metamorphose und der Alien-Attacke, die unschuldig schlummernden menschlichen Opfer, und die ›hysterische‹ Reaktion der sie umgebenden Raumfahrttechnologie – erst knapp zusammengefasst und dann sogleich verabschiedet, um im Anschluss daran zunächst eine etwas andere Geschichte zu erzählen. Die vertrauten Kontexte des Sci-Fi- und Horrorfilms und der AlienPrätexte bleiben dabei zwar weiter erhalten in Form eines Aliens, das sich langsam seinen bewährten Weg zu neuen Menschenopfern bahnt, aber dieser Handlungsstrang bleibt erst einmal nur im Hintergrund: Alien³ rekurriert anfangs, wie sich bald zeigt, auf die Genre-Konventionen des Gefängnisfilms. Im Unterschied zu populären Hollywoodgenres wie dem Western, dem Musical und dem Gangsterfilm, denen in der angloamerikanischen Genreforschung bereits viel Beachtung zuteil wurde, handelt es sich beim ›Gefängnisfilm‹ um ein noch relativ unerschlossenes Genre mit bislang nur wenigen Definitionsansätzen.35 Dennoch kann man konstatieren, dass die Forschung in der Regel von einem engeren und einem weiteren Genrebegriff ausgeht: So werden als Gefängnisfilme zum einen CrimeFilme bezeichnet, in denen ein Großteil der Handlung in einem Gefängnis spielt, und zum anderen aber auch Filme, in denen das Thema der Gefangenschaft eine bedeutende Rolle spielt. Frank Darabonts populäre Stephen-King-Adaptionen The Shawshank Redemption (1994)36 und The Green Mile (1999)37 wären demnach klassische Gefängnisfilme, erzählen sie doch vom tragisch-komischen Gefängnisalltag und von den psychischen und physischen Folgen einer längeren Gefangenschaft sowohl für die Inhaftierten als auch für ihre Wärter. Während in so unterschiedlichen Filmen wie Vincenzo Natalis Science-Fiction-Kammerspiel Cube (1997),38 James Wans Psychothriller Saw (2002),39 und James Ivorys historischem Liebesdrama The Remains of the Day (1993)40 zwar kein Gefängnisgebäude als Haupthandlungsort dient, aber doch die unfreiwillige Gefangenschaft der Protagonisten innerhalb fremder Räume bzw. repressiver sozialer 35| Vgl. Paul Mason: »Men, Machines and the Miner: The Prison Movie«, online unter: http://www.usfca.edu/pj/articles/Prison.htm. 36| The Shawshank Redemption, USA 1994, R: Frank Darabont. 37| the Green Mile, USA 1999, R: Frank Darabont. 38| Cube, CAN 1997, R: Vincenzo Natali. 39| Saw, USA 2002, R: James Wan. 40| The Remains of the Day, UK 1993, R: James Ivory.
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Strukturen die Handlung bestimmt und man diese Filme somit als metaphorisch versetzte Gefängnisfilme auslegen könnte. Entscheidend für das Genre ist dabei, dass es stets eine Gesellschaftskritik formuliert, indem es den Fokus auf das unmittelbare Leiden der Gefangenen legt, die ihre Freiheit und Individualität nach und nach an den gesichtslosen, unmenschlichen Gefängnisapparat verlieren.41 Alien³ präsentiert sich zunächst als ein relativ konventioneller Gefängnisfilm, der sich schnell vom futuristischen setting der Alien-Serie verabschiedet, indem er seine Handlung in einem verwahrlosten, technologisch rückständigen Hochsicherheitsgefängnis mit industrieller Architektur und düsteren Gängen verortet. Mit seinem klaustrophobischen Gefängnis-Setting konkretisiert der Film nicht nur die Konvention der bereits sehr kammerspielartigen Alien-Filme, ihre Handlung bevorzugt in klaustrophobischen Räumen spielen zu lassen, er rekurriert auch auf Hauptmuster des Gefängnisfilms. So beginnt Alien³ wie die meisten Gefängnisfilme mit der Ankunft der Hauptfigur im Gefängnis, und auch wenn es sich bei Ripley um keine Verurteilte handelt, so muss auch sie sich die rituelle Einweisungsprozedur über ihren Körper ergehen lassen, durch die ein Verurteilter zum Teil der Gefängnisbevölkerung wird: auf die vereinheitlichende Kopfrasur folgt die Gefängnisdusche und die identische Gefängnismontur, mit der der Gefangene auch die Insignien seiner Individualität und Persönlichkeit verliert.42 In Alien³ ist es sogar so, dass die glatzköpfigen, optisch nur schwer voneinander zu unterscheidenden Insassen allesamt Barkodes zur besseren Identifikation auf ihrem Hinterkopf tragen. Und als das Alien dann einem von Ihnen später den Kopf abreißt, kann das Opfer auch nur anhand seiner Schuhgröße identifiziert werden. Auf dem zweiten Blick ist aber festzustellen, dass es sich hier nicht um ein Gefängnis mit einer klar strukturierten Hierarchie zwischen Wärtern und Gefangenen und einem strikten Tagesablauf handelt, sondern um ein zum großen Teil verlassenes, früheres Arbeitsgefängnis, das nur noch als ein sich selbst erhaltender Lebensraum von einigen wenigen Gefangenen, dem Wärter, seinem Assistenten und dem Gefängnisarzt bewohnt wird. Die Insassen stehen unter keinerlei Bewachung und können sich frei auf dem Planeten bewegen, es gibt dort keine Waffen und weder die Möglichkeit, noch der Wunsch nach einer Flucht. Stattdessen haben sich die in neumodischen Mönchskutten kleidenden Insassen zu einem nicht näher definierten religiösen Orden zusammengeschlossen, sich aus freien Stücken für ein anderes, spirituelles ›Gefängnis‹ entschieden. So erinnert das futuristische Mittelaltersetting des Films, das von der menschlichen Zivilisation der Zukunft weit abgelegene Mönchskloster voller verurteilter Massenmörder, Triebtäter und Kinderschänder nicht selten an die ominöse Abtei aus Jean-Jacques Annauds gleichnamiger Verfilmung von Um41| Vgl. Mason: Men, Machines and the Miner. 42| Vgl. Gallardo u. Smith: Alien Woman, S. 125.
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berto Ecos Mittelalterroman Der Name der Rose (1986).43 Hier wie dort beginnen die zunehmend hysterischen Glaubensbrüder aufgrund sich mehrender Todesfälle in ihrer Mitte durch einen geheimnisvollen Serienmörder an den Untergang ihrer hermetisch abgeschlossenen Welt zu glauben. Und auch in Alien³ ist es wieder einmal der ›sündige‹ Leib der Frau, in dem sie zugleich die Ursache und die Lösung erkannt zu haben glauben. Als dann noch der Rationalität verkörpernde Gefängnisarzt und der Autorität repräsentierende Aufseher sterben, stehen die plötzlich hilflosen Männer vor der Frau, die sie zuvor noch für ihre Warnungen vor dem Alien für verrückt erklärt haben, und fordern sie in ihrer Stellung als Offizierin auf, sie im Kampf gegen das Alien anzuführen. Alien³ zitiert und verwirft also nicht nur die Konventionen des Science-Fiction- und Horrorfilms, sondern im Laufe des Films auch diejenigen des Gefängnisfilms. Der Film wird so zu einem desorientierenden Genre-Vakuum, das zahlreiche Genre-Konventionen anzitiert, aber sie nicht umsetzt. Die einzige Konstante des Films bildet das tragische Frauenschicksal der melancholischen Hauptfigur, die zwischen den misogynen Strukturen der verschiedenen ›Männergenres‹ allmählich zerrieben wird. So gehört es auch zu der schizophrenen Natur des Films, dass Alien³ zum Ende hin, nach knapp anderthalb Stunden introspektivem Identitäts- und Seelendrama um die Figur der Ellen Ripley versucht, wieder an den klaustrophobischen Horror von Alien und die temporeichen Actionszenen von Aliens anzuschließen, als die letzten Überlebenden das Monster durch die labyrinthischen Korridore des Gefängnis jagen, um es zu töten. Und ganz zum Schluss meldet sich sogar noch das Science-Fiction-Genre wieder zu Wort, als mysteriöse Männer in Raumfahrtanzügen auftauchen, um Ripley und das Alien für die zwielichtigen Pläne der mächtigen WeylandYutani-Company mit zurück auf die Erde zu nehmen. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es bereits zu spät. Die zentrale Frauenfigur hat bereits alle anzitierten patriarchalen Genre-Narrative durch ihre Rückkehr destabilisiert und durch ihre irritierenden Gender-Verwerfungen zum Einsturz gebracht.
3. G ENDER -V ERWERFUNGEN D IE F R AU IM V ERLIES DES ›M ÄNNERFILMS ‹ Als die Gefängnisinsassen zum ersten Mal von der Ankunft einer Frau auf ihrem Planeten erfahren, ist es vor allem ihre Sexualität, die den Männern zu schaffen macht. So stellt der geistige Führer der Gruppe gleich zu Beginn besorgt fest: »We view the presence of any outsider, especially a woman, as a violation of the harmony, a potential break in the spiritual
43| Der Name der Rose, BRD 1986, R: Jean-Jacques Annaud.
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unity«.44 Haben sie doch alle zusammen das Gelübde des Zölibats abgelegt, »[and] that«, wie einer der aggressiveren Glaubensbrüder hinzufügt, »also includes women«. Die Betonung, ihr Schwur schließe auch den körperlichen Kontakt mit Frauen aus, macht deutlich, dass es sich hier um einen nach außen hin hypervirilen, homosozialen Männerbund handelt, der in der ortsgebundenen Abwesenheit von Frauen eine derart große Panik vor gleichgeschlechtlicher Intimität entwickelt hat, dass die Männer sich in einen körperfeindlichen Glauben flüchten, der dafür sorgt, dass sie stets eine gewisse körperliche Distanz zueinander bewahren. So kann Ripleys weiblicher Körper in der ihren Alltag regulierenden, patriarchalen Glaubensordnung nur die Sexualität, die teuflische Versuchung bedeuten, die sie aus ihrem Leben gebannt zu haben glaubten. Bereits der Eintritt, die gewaltsame Penetration von Ripleys Raumschiff in die Stratosphäre des Planeten, das als glühender Feuerball durch die graudüstere Atmosphäre streift, versinnbildlicht die den Männern so fremde weibliche Wärme, die sie zu dem kalten Planeten bringt. Und auch später hält sich Ripley meist in warmen, in sanften Brauntönen fotografierten Räumen auf, während sich das durch die Anwesenheit der Frau verunsicherte männliche Kollektiv in den kalten, mal düsteren, mal grellen Gefängnissälen verschanzt. So wird auch recht schnell deutlich, dass die einzige Gefangene dieses Gefängnisfilms Ripley ist, ihr ›Verbrechen‹ ist ihre Sexualität. Während sich die Männer frei in den Räumen bewegen dürfen, ist es Ripley, die vom Gefängnisaufseher beordert wird, auf der örtlichen Krankenstation unter Quarantäne zu bleiben – nicht so sehr um sie vor den brutalen Männern zu beschützen, sondern die Köpfe der gläubigen Männer von der ›gefährlichen‹ Option ihrer Sexualität fernzuhalten. Der Gefängnisfilm erfährt hier also eine Umkodierung zum Woman’s Film: Wenn Ripley aufgrund ihrer Weiblichkeit als Kranke, als Gefangene eines patriarchalen Systems positioniert wird, dann fällt auf sie ein asexueller, medizinischer Blick, wie ihn Mary Ann Doane für zahlreiche Beispiele des Woman’s Films als konstitutiv bezeichnet hat.45 Doch Ripley war noch nie eine Frauenfigur, die untätig daheim blieb, und macht sich entgegen der Anweisungen der sie umgebenden Männer auf, um Beweise für ihre Vermutung zu finden, dass mit ihr auch ein Alien auf dem Planeten gelandet ist. Wie in den 44| Die Außenseiterrolle Ripleys wird auch in der Besetzung deutlich: Neben der amerikanischen Schauspielerin Sigourney Weaver in der Hauptrolle werden die Insassen fast nur von britischen Darsteller verkörpert. 45| »[In films that] mobilize a medical discourse […], where blindness and muteness are habitually attributed to the woman, she can only pas sively give witness as the signs of her own body are transformed by the […] desexualized medical gaze, the ›speaking eye,‹ into elements of discourse. The dominance of the bed in the mise-en-scène […] is the explicit mark of the displacement/replacement of sexuality by illness.« Mary Ann Doane: The Desire to Desire. The Woman’s Film of the 1940s. Bloomington, Indianapolis 1987, S. 19.
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Vorgängerfilmen stößt Ripley dabei in traditionell männliche Lebens- und Arbeitsräume vor und verunsichert die dortigen Männer mit einer die Geschlechterdifferenz destabilisierenden Gender-Performanz, hier: indem sie sich als einzige Frau des Films wie ein androgynes Chamäleon das männlich-raue Aussehen und die souverän-aggressive Körpersprache der Insassen problemlos aneignet. In der psychoanalytischen Terminologie Julia Kristevas nimmt sie so die Rolle des Abjekten ein, das von der symbolischen Ordnung Ausgeschlossene, das von seiner Position aus diese Ordnung in Frage stellt. »[The abject]«, so Kristeva, »[disturbs] identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The inbetween, the ambiguous, the composite«.46 Alien³ bricht so auch mit der bisherigen Darstellung von Ripleys Körper in der Serie. Obwohl Ripley in der Regel als besonders dynamische Actionheldin inszeniert wurde, gab es doch immer auch wieder Momente, in denen ihr Körper dem erotisierenden Blick der Kamera dargeboten wurde, in denen Ripley die konventionelle Rolle der Frau als erotischer Blickfang des Films erfüllte.47 In Alien³ aber ist nichts mehr von dieser Erotik übrig geblieben. So spielt der Film nicht nur auf einem Planeten, der als Mülldepot dient, Ripley steht auch im Zentrum einer Geschichte, in der die prominentesten Versatzstücke fortwährend das Abjekte evozieren, wie zum Beispiel Schmutz, Leichen, Blut, Läuse, Schweiß, Schleim und Krankheiten. Auch Ripleys Körper ist voller Wunden, von Krankheiten geschwächt und wie der Planet, auf dem sie sich befindet, ›infiziert‹ mit einem Alien, das ihr Immunsystem von innen angreift. Einige verurteilte Triebtäter sind von der Anwesenheit einer Frau in ihrer Mitte sogar so irritiert, dass sie zur Gewalt greifen, zum tätlichen Übergriff übergehen. Man könnte meinen, dass es sich bei dieser Vergewaltigung um den letzten möglichen Versuch der in ihrer Männlichkeit gekränkten Männer handelt, sich wieder ein Stück Souveränität über die Frau zu verschaffen und die starren Geschlechtergrenzen zwischen dem penetrierenden Mann und der von ihm penetrierten Frau wieder zu bestärken. Doch zum einen ist der Missbrauch des neuen Häftlings eine prominente Genre-Konvention des Gefängnisfilms, bei dem ein neuer Häftling zur »prison bitch« eines stärkeren Gefangenen wird, indem er in einem homosexuellen Akt anal penetriert und gefügig gemacht wird. Und zum anderen erfährt Ripley in dieser Sequenz keine Erotisierung als Frau, sondern lässt sich eher als ein fremdes Terrain für diese Männer beschreiben, um das zu betreten sich der erste Angreifer auch erst eine Schutzbrille anzieht. Diese letztlich durch den Glaubensführer verhinderte Vergewaltigung spiegelt sich in Alien³ in einer späteren Szene, als sich ein anderer phallischer Aggressor der Frau in einer ähnlichen Form nähert. Das Alien kommt Ripley – nachdem es den Gefängnisarzt getö46| Julia Kristeva: Powers of Horror: An Essay on Abjection. Übers. von Leon S. Roudiez. New York 1982, S 4. 47| Vgl. Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema, S. 750.
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tet hat, mit dem Ripley kurz nach ihrer Ankunft schläft – besonders nah, lässt sie aber dann doch am Leben, weil es etwas in ihr spürt, wovon sie noch nichts weiß: Es hat sie bereits auf dem Raumschiff vergewaltigt, als Ripley sich im Tiefschlaf befand und sie mit einem Alien geschwängert. Alien³, das mit dem Bild einer schlafenden Ripley und mit einem Vorspann beginnt, dessen Montage fragmenthaft wahrgenommener Ereignisse den Eindruck erweckt, als würde der Film zwischen den Stadien von Traum und Realität pendeln, gestattet auch eine Lektüre des Films als einen Alptraum, den Ripley im Anschluss an die Ereignisse von Aliens hat und in dem die impliziten Gender-Dynamiken von Aliens ausbuchstabiert und zugespitzt werden. Das über den Vorspann zu vernehmende Musikstück »Agnus dei«, das rot glühende Raumschiff am Himmel, das wie der Weihnachtsstern den Weg zum Heiland leitet, und die ersten Worte, die ein Insasse spricht, als er Ripley als einzige Überlebende aus dem Raumschiff holt (»Jesus Christ«) laden ein zu einer Lektüre Ripleys als weiblicher Messiasfigur, die durch den finalen Märtyrertod später auch den Glaubensorden vor dem dämonischen Alien in ihrem Leib retten wird. Doch Ripley erfüllt auch die Bedingungen einer modernen Eva-Figur, ist sie doch diejenige, die ungewollt die Schlange, das Alien in das perfide homosoziale Paradies des Männerbundes einführt.48 Offen bleibt, wer hier das Problem, also den das System zerstörenden Virus darstellt, und wer die Lösung verspricht: In den bisherigen AlienFilmen war es stets Ripley, die das Patriarchat vor dem Alien beschützte, doch in Alien³ ›erlöst‹ auch das Alien das Patriarchat von der Frau, von der »bitch«, die auch nur eine ist, weil sie sich den Rollenangeboten des Patriarchats widersetzt. So wird ihr bereits früh von einem verurteilten Triebtäter geraten, sie solle heiraten und Kinder kriegen, während ihr der Gesandte der Weyland-Yutani-Company, der sie zum Schluss um das Alien in ihrem Leib als spätere Biowaffe bittet, verspricht: »You still can have a life. Children.« Doch mit einem deutlichen »No« und dem Freitod entzieht sie sich der Company, dem Patriarchat, und der einzigen Position, die sie innerhalb des Systems ausfüllen darf, der Mutterrolle. Die Sonne, die zu Beginn des Films unterging und mit dem Planeten auch den Film in eine ewige Dunkelheit hüllte, geht wieder auf, das ›Andere‹ (das Alien und die Frau) ist aus dem nun leer stehenden, aber klinisch sauberen Gefängnis gebannt und die symbolische Ordnung ist wieder hergestellt. Auf der Strecke bleibt dabei die »bitch«, deren unbeugsamer Geist in dem einzigen Überlebenden, dem Gefangenen Morse weiterlebt, der auf die gesichtslosen Repräsentanten des Patriarchats, die ihn zum Ende in Handschellen abführen, mit Worten antwortet, die von Ripley hätten stammen können: »Ah, fuck you!«
48| Vgl. Gallardo u. Smith: Alien Woman, S. 125.
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Autorenverzeichnis
Dr. phil. Stefan Börnchen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Literatur vom 18. bis 21. Jahrhundert, Literatur- und Zeichentheorie, Musik und Literatur, Psychoanalyse, Gender Studies. Dr. phil. Heiko Christians, Professor für Medienkulturgeschichte an der Universität Potsdam seit 2008. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Film und Literatur, Mediengeschichte der Gattungen, Medienpathologien, Medientheorien der Gemeinschaft. Dr. phil. Lutz Ellrich, Professor für Medienwissenschaft an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: u.a. allgemeine Kommunikations- und Medientheorie, politisches und experimentelles Theater, Verstehen fremder Kulturen, Konfliktpotentiale moderner Gesellschaften. Dr. phil. Rolf Füllmann, Assistent der Geschäftsführung des Zentrums für Moderneforschung der Universität zu Köln, I. und II. Staatsexamen. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Komparatistische Novellenforschung (u.a. Thomas Mann), Literatur-, Kultur- und Modegeschichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dr. phil. Angelika Jacobs, Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg und Lehrbeauftragte für Interkulturalität an der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Ästhetiken der Stimmung seit 1800, ästhetische Formen des Geschichtsbewusstseins, Exotismus und Ethnopoesie. Dr. phil. Oliver Kohns, ATTRACT Fellow an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Politische Philosophie, Kultur- und Medientheorie, Europäische Literatur vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
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A UTORENVERZEICHNIS
Dr. phil. Claudia Liebrand, Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Literatur des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne, Mainstream-Film. Dr. phil. Asokan Nirmalarajah hat eine Doktorarbeit über Gangster Melodrama. »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms geschrieben. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Amerikanische Populärkultur, Genre- und Gender-Theorie. Dr. phil. Bart Philipsen, Professor für deutsche Literatur und Theaterwissenschaften an der Universität Leuven, Belgien. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Literatur, Philosophie und Theologie, Theater, Tragödie und Kulturkritik, Ästhetik und Politik. Dr. phil. Martin Roussel, Akademischer Rat am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Internationalen Kollegs »Morphomata: Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen«. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert (u.a. Kleist, Nietzsche, Musil, R. Walser), Literatur und Philosophie, Schriftkulturen, Schnee-Literatur. Dr. phil. Monika Schmitz-Emans, Professorin für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Literaturtheorie und Poetik, komparatistische Stoff-, Motiv- und Einflussforschung in der europäischen und amerikanischen Literatur, Intermedialitätsforschung, Reflexion von Geschichte und Geschichtlichkeit in der Literatur. Dr. phil. Ralf Simon, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Literatur um 1800 (Herder, Jean Paul, Lessing, Goethe u.a.), Romantik (Brentano, Achim von Arnim), Realismus (Raabe), literaturwissenschaftliche Bildkritik, Lyrik und Lyriktheorie, Narrationstheorie, Strukturalismus, Arno Schmidt. Thomas Wortmann M.A., Lehrbeauftragter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln, dort auch Arbeit an einer von der Studienstiftung des deutschen Volkes geförderten Dissertation zu Annette von Droste-Hülshoffs Geistlichem Jahr. Arbeitsschwerpunkte: u.a. Literatur des 19. Jahrhunderts, Literatur und Ordnung, Gender Studies, Film.
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Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8
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Thomas Ernst Literatur und Subversion Politisches Schreiben in der Gegenwart Juli 2012, ca. 490 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1484-8
Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift
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Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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